Von Newton zu Haller: Studien zum Naturbegriff zwischen Empirismus und deduktiver Methode in der Schweizer Frühaufklärung [Reprint 2015 ed.] 9783110940565, 9783484365742

These studies investigate the concept of nature and science in early Enlightenment thinking on natural law and the contr

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Table of contents :
Vorwort
Einleitung
ERSTER TEIL
Einleitung zum ersten Teil
1. Wissenschaftshistorischer Problemrahmen
2. »L’avancement des Sciences« und die Medien der wissenschaftlichen Kommunikation im frühen 18. Jahrhundert: Die Rezeption der italienischen Newton-Debatte in der Bibliothèque Italique
3. »Atomisierung des Wissens« und wissenschaftshistorische Rekonstruktion – Überlegungen zur methodischen Problemstellung
Erstes Kapitel: Die Diskussion um die Inkompatibilität der Tourbillontheorie mit den Keplerschen Gesetzen
1. Die Kritik der Turiner Newtonianer an der Planetenbewegungstheorie des Tourbillonsystems Descartes’
2. Die Auseinandersetzung des Genfer Cartesianers mit der Première Objection gegen die Planetenbewegungstheorie des Tourbillonsystems
2.1. Die Darstellung und Kommentierung des 52. Lehrsatzes des zweiten Buches von Newtons Principia mathematica
2.2. Die Kritik an Newtons Annahmen zu den konstruktiven Voraussetzungen des Tourbillon und die Absetzung des Genfer Cartesianers von dem Problemlösungsansatz Johann (I) Bernoullis
2.3. Die Revidierung der Argumentation Newtons und die Hypothese zur Verknüpfung des Tourbiilonsystems mit dem dritten Keplerschen Gesetz
3. Die problematischen Annahmen Newtons und die in Maupertuis’ Discours sur les différentes figures des astres (1732) festgelegte Inkompatibilität des Tourbiilonsystems mit den Keplerschen Gesetzen
Zweites Kapitel: Kometentheorien und die Konkurrenz des cartesianischen und des Newtonschen Methodenmodells um 1730
1. Die Kritik der Turiner Newtonianer an der Kometentheorie des Tourbiilonsystems Descartes’
2. Strategien der Verteidigung im Kommentar des Genfer Cartesianers zu dem Kometenargument:
2.1. Problemsituation
2.2. Das erste Gegenargument als Problemreduktion
2.3. Die Relevanz des Kometenproblems für das Tourbillonsystem und die argumentative Strategie zu dessen Verteidigung
3. Der Vergleich der Methodenmodelle im Bereich der Kometentheorien
3.1. Die Darstellung des cartesianischen Methodenmodells
3.2. Die Darstellung des Newtonschen Methodenmodells
3.3. Die Interpretation des Newtonschen Methodenmodells und die problematische ›Gleichsetzung‹ der Erklärungsmodelle
3.4. Der problematische Vergleich zwischen den Probeverfahren Tycho de Brahes und Newtons und die Kommensurabilität von Erfahrungsdaten
4. Die AbleTinung der Kometentheorie Descartes’ und die Verknüpfung der cartesianischen Kometentheorie mit der Newtonschen
4.1. Die Hypothese der relativen Erdnähe von Kometen
4.2. Die Verknüpfung der Systeme auf der Basis des ›widerstandslosen‹ Äthers
5. Exkurs: Zum Reflex der Newton-Debatte des frühen 18. Jahrhunderts im kosmologischen Lehrgedicht der deutschen Frühaufklärung – Aspekte und Probleme der Forschung
Drittes Kapitel: Der Übergang zu der dynamischen Theorie der Materie im Prozeß der Theoriendebatte
1. Die Kritik der Newtonianer an der Gravitationstheorie des Tourbillonsystems Descartes’
2. Der Kommentar des Genfer Cartesianers zu dem Schwerkraftargument
2.1. Das Beurteilungskriterium der Tourbillontheorie
2.2. Die Schwierigkeiten der ersten Gegenargumentation
3. Die Auseinandersetzung mit den Grundannahmen der Newtonschen Gravitationstheorie
3.1. Die Problematisierung des Newtonschen Kraftbegriffs
3.2. Die naturphilosophischen Voraussetzungen des Newtonschen Kraftbegriffs
3.3. Die Problematisierung des Newtonschen Ätherbegriffs
3.4. Newtons Ätherbegriff in den Principia von 1687, die Ätherhypothese von 1717 und die Konsequenzen des Wandels des Ätherbegriffs bei Newton für die Grundthesen der Tourbillontheorie
4. Die anticartesianische Bedeutung der Uminterpretation des »mathematischen« Verständnisses der Anziehungskraft und des erkenntniskritischen Ansatzes Newtons
5. Die problematischen Hypothesen der zweiten Gegenargumentation und die Absetzung des Genfer Cartesianers von den traditionellen cartesianischen Gravitationstheorien
6. Der Anschluß des Genfer Cartesianers an die Ätherhypothese Newtons: Eine Exemplifikation des Übergangs zu der dynamischen Theorie der Materie
7. Der Abschluß der Newton-Debatte in der Bibliothèque Italique
8. Naturwissenschaftliches Denken und poet(olog)ische Reflexion: Die italienische Newton-Debatte der Frühaufklärung als Quelle der Newton-Rezeption Albrecht von Hallers
ZWEITER TEIL
Erstes Kapitel: Wissenschaftsbegriff und ›Evidenz‹ um 1750: Die Selbstdefinition der Naturwissenschaft gegenüber der Philosophie
1. Von der Begriffslogik einer möglichen Wissenschaft der Natur zu der naturwissenschaftlichen Erkenntnis auf der empirischen Basis des menschlichen Körpers
2. ›Evidenz‹, ›Gewißheit‹, ›Hypothese‹: cartesianische und baconianische Wissenschaftskonzepte der Naturerklärung in Deutschland um 1750. – Eulers Kritik an der Monadenlehre und die Kontinuität des newtonianischen Natur- und Kraftbegriffs bei Haller und De Felice
3. Die Voraussetzungen des Naturbegriffs von 1750 (I): Von dem essentialistischen Substanzbegriff Descartes’ zu Spinozas Substanzenmonismus
4. Die Voraussetzungen des Naturbegriffs von 1750 (II): Das Problem des Widerspruchs von ›Norm‹ und ›Kontingenz‹ in der menschlichen Erkenntnis
Zweites Kapitel: Die Kategorie der ›Gewißheit‹ in Philosophie und Naturwissenschaft als anthropologisches Problem
1. Zwei Modelle der Objekt-Identifikation: interne logische Eindeutigkeit der Identifikation von Gegenständen vs. indizierende ›Psycho-Logik‹ des externen Gegenstandes
2. Giambattista Vicos Konzeption einer scientia humana
3. Das Verhältnis von ›Wissenschaft vom Menschen« und Naturwissenschaft in der Frühaufklärung: Zur Bedeutung der Anthropologie des Naturrechts für die Grundlegung einer empiristisch-wissenschaftlichen Methodologie
4. Der historische Wandel des Verhältnisses von ›Norm‹ und ›Kontingenz‹ im Spannungsfeld von Philosophie, Theologie und Naturwissenschaft und dessen Bedeutung für die Entwicklung von Naturbegriff und Erkenntnismethode im Rahmen neuer anthropologischer Konzepte nach 1700
5. Das Problem der Evidenz bei Willem Jacob ’sGravesande
6. Naturgeschichte und Naturforschung um 1750: Der anthropologische Typus Hallers
Drittes Kapitel: Albrecht von Hallers Wissenschaftsbegriff im Rahmen der Anthropologie des Naturrechts
1. Religionssoziologische und wissenschaftstheoretische Problemstellung
2. Das Begründungsproblem von Hallers Irritabilitätslehre im Rahmen des naturrechtlichen Rationalitäts- und Evidenztypus’
3. Die Überwindung der Kontingenz in der ›moralischen‹ Welt im Naturrecht: Pufendorfs und Cumberlands Reaktion gegen den Pessimismus Hobbes’ und das ›Recht der Natur‹ als physisches Gesetz des Individuums bei Spinoza. – Die Rezeption naturrechtlicher Thesen bei Haller
4. Gott – Mensch – Natur. Von der naturrechtlichen Konzeption des Menschen zu der konjektural-induktiven Methode in der Naturforschung: die religiös-moralphilosophischen Wurzeln der Aufwertung des Erfahrungsbereichs und die Herausbildung der empirischen Erkenntnismethode
5. Buffons Erdentstehungshypothese: Die Aufwertung der Wahrscheinlichkeit und der deduktiven Methode in der Naturgeschichte
6. Realitätsstrukturierung und Rationalitätsbegriff: Die Konkurrenz des naturrechtlich-empiristischen und des mechanistischrationalistischen Wissenschaftsmodell der Naturerkenntnis
7. Ursprungsproblem und Welterklärung im Spannungsfeld der Transzendenz und Immanenz Gottes: Von Descartes und Spinoza zum ›Neospinozismus‹ um 1750
8. Das ›intermediäre‹ Modell zwischen Transzendentalisierung und innerweltlichem Wirken Gottes: Religion, sozialer Wandel und Empirismus als Grundlagen des newtonianischen Naturbegriffs der Frühaufklärung
9. Die ontologische Theorie der ›synchronen‹ Kontingenz als Voraussetzung des Realitätsverständnisses konjektural-induktiver Naturforschungskonzepte
10. Sinnesphysiologie der Erkenntnis und Methodologie der empirischen Naturwissenschaften – die Rückkehr der Hypothesen im Rahmen der naturrechtlichen Konzeption der ›Natur‹ des Menschen: ’sGravesande und Haller
11. Generationstheorien und die Krise des newtonianischen Naturbegriffs in den ›Wissenschaften des Lebens‹ um 1750 – die ›neospinozistischen‹ Implikationen der Epigenese und deren Aufgabe durch Haller als Folge der problematischen Konsequenzen für den ›moralischen‹ Menschen und sein Verhältnis zu Religion, Staat und Gesellschaft
Literaturverzeichnis
Namenregister
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Von Newton zu Haller: Studien zum Naturbegriff zwischen Empirismus und deduktiver Methode in der Schweizer Frühaufklärung [Reprint 2015 ed.]
 9783110940565, 9783484365742

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Frühe Neuzeit Band 74 Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext In Verbindung mit der Forschungsstelle „Literatur der Frühen Neuzeit" an der Universität Osnabrück Herausgegeben von Jörg Jochen Berns, Klaus Garber, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller und Friedrich Vollhardt

Simone De Angelis

Von Newton zu Haller Studien zum Naturbegriff zwischen Empirismus und deduktiver Methode in der Schweizer Frühaufklärung

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2003

Gedruckt mit Unterstützung der Albrecht von Haller-Stiftung

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-36574-9

ISSN 0934-5531

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2003 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Buchbinderei Heinr. Koch, Tübingen

Vorwort Das Vorwort ist all denjenigen gewidmet, die zum Gelingen des vorliegenden Buches beigetragen haben. In ihrem historischen Interesse sind diese Studien entstanden in der Auseinandersetzung mit Wolfgang Proß. Ohne seine interdisziplinären Seminare am Berner Institut für Germanistik wären sie nicht denkbar. Ihm danke ich ganz besonders für Förderung, Diskussion, Humor und Freundschaft. Meinem Freund Lutz Danneberg danke ich für Diskussion und manchen kritischen Hinweis. Die Zeit seines Aufenthaltes in Bern werde ich nicht vergessen. Mein Dank geht auch an Gerd Grasshoff für sein Interesse und die kritische Lektüre der Manuskriptfassung. Gesine Lenore Schiewer danke ich herzlich für ihre ständige Diskussionsbereitschaft und die überaus geschätzten Korrekturen. Erna Anthea Waibel, Barbara Braun-Bucher und meinem »caro amico« Max Waibel danke ich für die freundliche Unterstützung. Der Albrecht von Haller-Stiftung und ihren Mitgliedern danke ich ganz herzlich für die Gewährung eines großzügigen Zuschusses für die Kosten der Drucklegung dieser Arbeit. Für die Aufnahme des Titels in die Reihe »Frühe Neuzeit« des Max Niemeyer Verlages danke ich schließlich den Herausgebern, im speziellen Friedrich Vollhardt. S. De A.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

V

Einleitung

1

ERSTER TEIL

Einleitung zum ersten Teil

15

1. Wissenschaftshistorischer Problemrahmen

15

2. »L'avancement des Sciences« und die Medien der wissenschaftlichen Kommunikation im frühen 18. Jahrhundert: Die Rezeption der italienischen Newton-Debatte in der Bibliothèque Italique

21

3. »Atomisierung des Wissens« und wissenschaftshistorische Rekonstruktion - Überlegungen zur methodischen Problemstellung

28

Erstes Kapitel:

40

Die Diskussion um die Inkompatibilität der Tourbillontheorie mit den Keplerschen Gesetzen

40

1. Die Kritik der Hiriner Newtonianer an der Planetenbewegungstheorie des Tourbillonsystems Descartes' . . .

40

2. Die Auseinandersetzung des Genfer Cartesianers mit der Première Objection gegen die Planetenbewegungstheorie des Tourbillonsystems 2.1. Die Darstellung und Kommentierung des 52. Lehrsatzes des zweiten Buches von Newtons Principia mathematica 2.2. Die Kritik an Newtons Annahmen zu den konstruktiven Voraussetzungen des Tourbillon und die Absetzung des Genfer Cartesianers von dem Problemlösungsansatz Johann (I) Bernoullis

46 46

50

Vili 2.3. Die Revidierung der Argumentation Newtons und die Hypothese zur Verknüpfung des Tourbillonsystems mit dem dritten Keplerschen Gesetz

56

3. Die problematischen Annahmen Newtons und die in Maupertuis' Discours sur les différentes figures des astres (1732) festgelegte Inkompatibilität des Tourbillonsystems mit den Keplerschen Gesetzen

61

Zweites Kapitel:

70

Kometentheorien und die Konkurrenz des cartesianischen und des Newtonschen Methodenmodells um 1730

70

1. Die Kritik der Hiriner Newtonianer an der Kometentheorie des Tourbillonsystems Descartes'

70

2. Strategien der Verteidigung im Kommentar des Genfer Cartesianers zu dem Kometenargument: 2.1. Problemsituation 2.2. Das erste Gegenargument als Problemreduktion 2.3. Die Relevanz des Kometenproblems für das Tourbillonsystem und die argumentative Strategie zu dessen Verteidigung 3. Der Vergleich der Methodenmodelle im Bereich der Kometentheorien 3.1. Die Darstellung des cartesianischen Methodenmodells . . . . 3.2. Die Darstellung des Newtonschen Methodenmodells 3.3. Die Interpretation des Newtonschen Methodenmodells und die problematische >Gleichsetzung< der Erklärungsmodelle 3.4. Der problematische Vergleich zwischen den Probeverfahren Tycho de Brahes und Newtons und die Kommensurabilität von Erfahrungsdaten

73 73 74

75 77 77 85 92

100

4. Die AbleTinung der Kometentheorie Descartes' und die Verknüpfung der cartesianischen Kometentheorie mit der Newtonschen 4.1. Die Hypothese der relativen Erdnähe von Kometen 4.2. Die Verknüpfung der Systeme auf der Basis des >widerstandslosen< Äthers

104

5. Exkurs: Zum Reflex der Newton-Debatte des frühen 18. Jahrhunderts im kosmologischen Lehrgedicht der deutschen Frühaufklärung - Aspekte und Probleme der Forschung

109

102 102

IX

Drittes Kapitel:

114

Der Übergang zu der dynamischen Theorie der Materie im Prozeß der Theoriendebatte

114

1. Die Kritik der Newtonianer an der Gravitationstheorie des Tourbillonsystems Descartes'

114

2. Der Kommentar des Genfer Cartesianers zu dem Schwerkraftargument 2.1. Das Beurteilungskriterium der Tourbillontheorie 2.2. Die Schwierigkeiten der ersten Gegenargumentation

117 117 118

3. Die Auseinandersetzung mit den Grundannahmen der Newtonschen Gravitationstheorie 3.1. Die Problematisierung des Newtonschen Kraftbegriffs . . . . 3.2. Die naturphilosophischen Voraussetzungen des Newtonschen Kraftbegriffs 3.3. Die Problematisierung des Newtonschen Ätherbegriffs . . . . 3.4. Newtons Ätherbegriff in den Principia von 1687, die Ätherhypothese von 1717 und die Konsequenzen des Wandels des Ätherbegriffs bei Newton für die Grundthesen der Tourbillontheorie

121 121 127 138

143

4. Die anticartesianische Bedeutung der Uminterpretation des >mathematischen< Verständnisses der Anziehungskraft und des erkenntniskritischen Ansatzes Newtons

155

5. Die problematischen Hypothesen der zweiten Gegenargumentation und die Absetzung des Genfer Cartesianers von den traditionellen cartesianischen Gravitationstheorien . . . .

161

6. Der Anschluß des Genfer Cartesianers an die Ätherhypothese Newtons: Eine Exemplifikation des Übergangs zu der dynamischen Theorie der Materie

168

7. Der Abschluß der Newton-Debatte in der Bibliothèque Italique

175

8. Naturwissenschaftliches Denken und poet(olog)ische Reflexion: Die italienische Newton-Debatte der Frühaufklärung als Quelle der Newton-Rezeption Albrecht von Hallers

177

χ ZWEITER TEIL

Erstes Kapitel:

189

Wissenschaftsbegriff und >Evidenz< um 1750: Die Selbstdefinition der Naturwissenschaft gegenüber der Philosophie

189

1. Von der Begriffslogik einer möglichen Wissenschaft der Natur zu der naturwissenschaftlichen Erkenntnis auf der empirischen Basis des menschlichen Körpers

189

2. >EvidenzGewißheitHypotheseRecht der Natur< als physisches Gesetz des Individuums bei Spinoza. - Die Rezeption naturrechtlicher Thesen bei Haller

342

4. Gott - Mensch - Natur. Von der naturrechtlichen Konzeption des Menschen zu der konjektural-induktiven Methode in der Naturforschung: die religiös-moralphilosophischen Wurzeln der Aufwertung des Erfahrungsbereichs und die Herausbildung der empirischen Erkenntnismethode

358

5. Buffons Erdentstehungshypothese: Die Aufwertung der Wahrscheinlichkeit und der deduktiven Methode in der Naturgeschichte

372

6. Realitätsstrukturierung und Rationalitätsbegriff: Die Konkurrenz des naturrechtlich-empiristischen und des mechanistischrationalistischen Wissenschaftsmodell der Naturerkenntnis . . . .

377

7. Ursprungsproblem und Welterklärung im Spannungsfeld der Transzendenz und Immanenz Gottes: Von Descartes und Spinoza zum >Neospinozismus< um 1750

385

8. Das >intermediäre< Modell zwischen Transzendentalisierung und innerweltlichem Wirken Gottes: Religion, sozialer Wandel und Empirismus als Grundlagen des newtonianischen Naturbegriffs der Frühaufklärung

387

9. Die ontologische Theorie der >synchronen< Kontingenz als Voraussetzung des Realitätsverständnisses konjektural-induktiver Naturforschungskonzepte

407

10. Sinnesphysiologie der Erkenntnis und Methodologie der empirischen Naturwissenschaften - die Rückkehr der Hypothesen im Rahmen der naturrechtlichen Konzeption der >Natur< des Menschen: 'sGravesande und Haller

417

XII 11. Generationstheorien und die Krise des newtonianischen Naturbegriffs in den >Wissenschaften des Lebens< um 1750 - die >neospinozistischen< Implikationen der Epigenese und deren Aufgabe durch Haller als Folge der problematischen Konsequenzen für den >moralischen< Menschen und sein Verhältnis zu Religion, Staat und Gesellschaft

439

Literaturverzeichnis

479

Namenregister

497

Einleitung Dubitationes etiam quae NEWTONUM quaestiones sunt (part. I. Opticorum L. III.) primus introduxit, novorum Inventorum futura semina. Albrecht von Haller

Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist der Wandel von Naturkonzepten in der Frühaufklärung, der zu der Analyse der wissenschaftstheoretischen Position des Schweizer Physiologen Albrecht von Haller um 1750 führen soll. Dabei bildet den ersten Teil der Arbeit eine wissenschaftshistorische Darstellung der Dynamik und der Probleme eines Theorienwandels im Rahmen der Auseinandersetzung zwischen cartesianischen und newtonianischen Wissenschaftlern um die Vorherrschaft ihres kosmologischen Weltbildes. Anhand einer Fallstudie wird in der Nachzeichnung des Wandels des cartesianischen Begriffssystems das Scheitern der Akkomodationsversuche der cartesianischen Kosmologie an die Resultate der Newtonschen Weltmechanik aufgezeigt. Relevanz erhält diese Theoriendebatte aufgrund der durch sie vermittelten hohen Spezialisierung von theoretischem Wissen auf naturwissenschaftlichem Gebiet sowie durch die transnationale und interkulturelle Situation, in der sie entstand.1 Für die Beschreibung dieser Theoriendebatte unter Bezugnahme auf die Mannheimsche Kategorie der >Konkurrenz auf dem Gebiet geistiger Gebilde< wird ein wissenssoziologischer Ansatz ge1

Die Internationalisierung der Diskussion und Rezeption von theoretischem Wissen, Methoden und Forschungsergebnissen, die auf naturwissenschaftlichem Gebiet eine Selbstverständlichkeit darstellt und in der hier dargelegten Theoriendebatte in historischer Perspektive exemplifiziert ist, wird nun in der neueren Methodendebatte der Geisteswissenschaften im Hinblick auf ihre Relevanz u. a. in der Disziplin der Literaturwissenschaft diskutiert; vgl. Lutz Danneberg/Jörg Schönert: Zur Transnationalität und Internationalisierung von Wissenschaft. In: Wie international ist die Literaturwissenschaft? Methoden- und Theoriediskussion in den Literaturwissenschaften: kulturelle Besonderheiten und interkultureller Austausch am Beispiel des Interpretationsproblems (1950-1990), hg. von Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt in Zusammenarbeit mit Hartmut Böhme und Jörg Schönert, Stuttgart, Weimar 1996, S. 7-85, bes. S. 44-46. Als eine Folge der verspäteten Internationalisierung geisteswissenschaftlicher Diszplinen ist daher auch die verspätete Aufarbeitung der Wissenschaftsgeschichte bzw. der Geschichte der Naturwissenschaften in der deutschen Literaturwissenschaft zu betrachten; vgl. Wolfgang Proß: Die Verspätung der wissenschaftsgeschichtlichen Debatte in der deutschen Literaturwissenschaft. In: L. Danneberg u. F. Vollhardt (1996), S. 145-167.

2 wählt, der im Einleitungskapitel zum ersten Teil der Arbeit dargelegt ist.2 Der methodische Forschungsansatz der Wissenssoziologie als eine »Theorie der Seinsverbundenheit des Wissens«3 ist im zweiten Teil der Studie, die als ein Beitrag zu der Genese des Natur- und Wissenschaftsbegriffs sowie der naturwissenschaftlichen Methode Albrecht von Hallers verstanden wird, fortgeführt. Die Analyse gilt hier insbesondere dem komplexen Gefüge der inner- und außerwissenschaftlichen Komponenten, die den »historischen Erfahrungsraum« Hallers konstituiert haben.4 Bereits im frühen 18. Jahrhundert kam dem durch sprachlich-kulturelle Vielfalt gekennzeichneten >Raum Schweiz< im Aufbau von interliterarischen und interkulturellen Beziehungen eine zentrale Rolle zu. Ein wichtiges Merkmal dieser Interkulturalität war ihre Vermittlungsfunktion, welche für die Ausdifferenzierung eines eigenen Kulturraumes bestimmend wurde, da die Prädisposition für die Rezeption von Elementen fremder Kulturen Kulturwandel und Entwicklung aufklärerischer Tendenzen erst ermöglichte. Gerade in der Vermeidung der Abhängigkeit von den national unterschiedlichen Ausprägungen der Aufklärung in den verschiedenen europäischen Intellektuellenkreisen (v. a. Frankreichs und Deutschlands) nahmen die Schweizer Intellektuellen und Wissenschaftler - u.a. Albrecht von Haller, Leonhard Euler, Johann Georg Sulzer und Johann Heinrich Lambert - eine besondere Stellung ein, die sie befähigte, (auch in anderen kulturellen Kontexten)5 differenzierte Positionen zu beziehen. Insbesondere gehören die Kontakte der Schweiz zu dem Nachbarland Italien zu den bislang wenig erforschten Gebieten. Die interkulturell-literarischen Beziehungen erfolgten in der Schweizer Frühaufklärung u. a. durch das Medium der Zeitschriften. Die Rezeption der italienischen Newton-Debatte im Genfer Periodikum Bibliothèque Italique um 1730 machte beispielsweise das Schweizer Gelehrtenpublikum mit der frühen Rezeption des Newtonianismus in Italien, insbesondere in Neapel, Rom und Turin bekannt. Im vorwiegend cartesianisch geprägten Kontext der Genfer Akademie waren v. a. der junge Mathematiker 2

3 4

5

Vgl. Teil I, Einleitung, 3. Eine knappe Darstellung der Wissenssoziologie gibt Karl Mannheim im 5. Kap. der bei Vittorio Klostermann in Frankfurt/M. erschienenen 7. Aufl. von Ideologie und Utopie 1985 (>1929), S. 227 -267. Vgl. auch die Beiträge in dem Sammelband: Der Streit um die Wissenssoziologie, hg. von Volker Meja und Nico Stehr, 2 Bde., Frankfurt/M. 1982. Zum Gegenstand der Ideengeschichte als »Einzelproblem der Wissenssoziologie« vgl. Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt/M. 1998 01969), S. 15f. Vgl. Mannheim (71985), S. 229. Zum wissenschaftstheoretischen Konzept des »historischen Erfahrungsraumes« vgl. Fritz Krafft: Das Selbstverständnis der Physik im Wandel der Zeit. Vorlesungen zum Historischen Erfahrungsraum physikalischen Erkennens, Weinheim 1982, bes. Kap. 1 (Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte), S. 1-36, hier S. 25-32. Vgl. z.B. den Sammelband: Schweizer im Berlin des 18. Jahrhunderts, hg. von Martin Fontius und Helmut Holzhey, Berlin 1996.

3

und Lehrstuhlinhaber für Mathematik und Philosophie sowie Principia mathematica-Kommentator Jean-Louis Calandrini und der Johann BernoulliSchtiler Gabriel Cramer an der Rezeption Newtons interessiert. An der Auseinandersetzung um die Inhalte und Probleme der kosmologischen Theorien René Descartes' (Tourbillontheorie) und Isaac Newtons (Theorie der Attraktionskraft), die mitunter auch in den Organen der Gelehrtenpublizistik ausgetragen wurde, ist in wissenschaftshistorischer Perspektive der komplexe Vorgang zu verfolgen, der im Spannungsfeld von Cartesianismus, Leibnizianismus und Newtonianismus zu der Revolution des wissenschaftlichen Weltbildes, zu dem Eindringen der Empirie in die naturwissenschaftliche Theorienbildung sowie zu der Entwicklung und Durchsetzung experimenteller Forschungsmethoden geführt hat. Die Leistungen der nächstfolgenden Generation von Intellektuellen und Naturforschern, zu denen in der Schweiz u.a. Albrecht von Haller, Leonhard Euler, Charles Bonnet und Abraham Trembley gehörten, war auf naturwissenschaftlichem Terrain ohne die Durchsetzung der dynamischen Materietheorien von Newton und Leibniz kaum denkbar. Außerdem bereitete die Rezeption der Leibnizschen Philosophie in Genf das Feld vor, auf dem Charles Bonnet und Abraham Trembley, zu deren Lehrern auch Calandrini und Cramer gehörten, in den 1740er Jahren ihre Studien zu der Reproduktion von Organismen durchführten. 6 Bei Bonnet geschah dies vor dem Hintergrund der Präformationstheorie, die in den >biologischen< Schriften von Leibniz eine neue Formulierung erfahren hatte und Bonnets Theorie der Organismen und der Entfaltung der Natur in ein Mineralien-, Pflanzen- und Tierreich in der Contemplation de la nature von 1764 als philosophische Annahme zugrundelag. Mit Bonnets und Trembleys bahnbrechenden Entdeckungen zu der Parthenogenese und der Regeneration von Süßwasserpolypen wurde in den >Wissenschaften des Lebens< des 18. Jahrhunderts eine neue Phase eingeleitet, die das Vorfeld (17461754) von Hallers erster Phase der eigenen embryologischen Studien (17551757) entscheidend prägte: An bebrüteten Hühnereiern überprüfte Haller in diesen Studien experimentell u. a. die wissenschaftliche Hypothese der epigenetischen Neoformation von Lebewesen. Mit dem naturwissenschaftlich-intellektuellen und von »vernünftige[r] Orthodoxie«7 geprägten theologisch-konfessionellen Milieu der calvinistischen Stadt Genf konstituierte sich somit ein relevanter Einflußkontext für 6

7

Vgl. Renato G. Mazzolini/Shirley A. Roe: Science against the unbelievers: the correspondence of Bonnet and Needham, 1760-1780, Oxford 1986, bes. die biographischen Daten zu Bonnet S. XIII-XV und die Einleitung, S. 3-76. Vgl. zu Bonnet auch die Beiträge in dem Sammelband: Charles Bonnet, Savant et Philosophe (1720-1793). Actes du Colloque international de Genève (25-27 novembre 1993), hg. von Marino Buscaglia et al., Mémoire de la Société de Physique et d'Histoire Naturelle de Genève, Bd. 47 (1994). Vgl. Ulrich Im Hof: Aufklärung in der Schweiz, Bern 1970, bes. S. 14-17.

4 den jungen Haller, dessen Bedeutung in der Haller-Forschung bislang unberücksichtigt geblieben ist und der durch das europäische Beziehungs- und Korrespondenzennetz, das sich zwischen italienischen, holländischen und schweizerischen Wissenschaftlerkreisen herstellte, eine weitere Dimension erhielt. In dieses Beziehungsnetz waren in den 1720er und 1730er Jahren ζ. B. Celestino Galiani, Antonio Genovesi (Neapel), Willem Jacob 'sGravesande (Leiden) sowie Gabriel Cramer und Jean-Louis Calandrini (Genf) eingespannt. Auch der junge Haller wurde bereits in der Zeit seines Aufenthalts in Leiden (1725-1727), wo er u. a. bei dem Newtonianer 'sGravesande Vorlesungen besuchte, in dasselbe interkulturelle Milieu integriert. 'sGravesande war zu diesem Zeitpunkt der wichtigste Exponent des kontinentalen Newtonianismus und der Hauptakteur in der experimentalistischen Uminterpretation der Newtonschen Wissenschaft und Methode. In dem Leidener Kontext und dessen historischen Bedingungen spielte sich somit derjenige Abschnitt von Hallers »histoire intellectuelle« ab, in dem sich sein Natur- und Wissenschaftsbegriff sowie - u. a. beeinflußt von 'sGravesandes methodologischen Lehren - die Prinzipien seiner naturwissenschaftlichen Methode herausbildeten. Mit der Übertragung der vis attractiva auf den Bereich der organischen Materie durch Haller avancierte der Newtonsche Kraftbegriff - in Verbindung mit der empiristischen Umdeutung des Begriffspaares vis vivalvis mortila aus der Leibnizschen Dynamik - zu einem zentralen Element der Hallerschen Physiologie. Zu den wichtigen Beiträgen, die Haller wenige Jahre vor seinem Tod (1777) in Fortunato Bartolomeo De Felices Yverdoner Encyclopédie zu dem Gebiet der Physiologie veröffentlicht hat, gehört insbesondere der Artikel Irritabilité (1773) - der zentrale Begriff seiner Organismustheorie (in Ergänzung zu der Sensibilität der Nerven) - , in dem der Physiologe nochmals wichtige Aspekte des Newtonschen Kraftbegriffs aufgreift und u. a. hypothetische Überlegungen zu einem einheitlichen Kraftprinzip im menschlichen Körper anstellt: In Abhängigkeit von der chemisch-materiellen Zusammensetzung eines Körperteils (z.B. Gewebe, Muskelfibern, Nerven) kommen diesem unterschiedliche dynamische Eigenschaften zu, so daß die vis attractiva, die in einem elastischen Gewebe eine force morte ist, in einer anderen körperlichen Struktur zu einer kontraktiven und daher lebendigen Kraft< wird, wie die irritabilité oder force inné und die force nerveuse in der Muskelfiber. Dies zeigt die Kontinuität des Newtonschen Natur- und Kraftbegriffs in Hallers mechanistischer Physiologie, die bereits mit der 1752 an 8

Zu D e Felices Herausgebertätigkeit in der Schweiz und seinem Kontakt mit Schweizer Intellektuellen vgl. den Katalog: Fortunato Bartolomeo D e Felice. Editore illuminista (1723-1789). Una mostra da Yverdon a Milano, hg. von der Biblioteca nazionale Braidense di Milano, Yverdon 1983. Zu Leben und Werk De Felices vgl. den Art. von Giulietta Pejrone Chiabrotti. In: Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 33 (1987), S. 682b-686b.

5 der Göttinger Akademie der Wissenschaften vorgelegten und 1753 veröffentlichten Irritabilitätslehre ein erstes bedeutendes Resultat erzielte. Aus den in der Irritabilitätslehre Hallers dargelegten bahnbrechenden physiologischen Untersuchungen resultierte eine neue Organismustheorie, die sich von allen bisherigen Ansätzen in dieser medizinischen Disziplin absetzte. Mit der Kritik an dem mathematischen Erklärungsmodell in der Physiologie (Iatromathematik, Iatromechanik), dem Erkennen der Unzulänglichkeit der allgemeinen Bewegungsgesetze der Mechanik in physiologischen Prozessen und der gleichzeitigen Bekämpfung animistischer Organismuskonzepte (anima rationalis) in der Nachfolge Georg Ernst Stahls9 sowie deren Erneuerung in der vitalistischen Physiologie Robert Whytts (active sentient principle) ist die wissenschaftshistorische Stellung der Hallerschen Irritabilitätslehre definiert. Die Konstituierung einer empirischen Wissenschaft der Physiologie, die auf traditionelle theoretische Begründungsmodelle verzichtete, war aber grundsätzlich mit einem Begründungsproblem konfrontiert, das wichtige ontologische, methodologische und erkenntnistheoretische Fragen betraf. Die Übertragung der Attraktionskraft auf die Sphäre des Lebendigen warf beispielsweise bei Haller - im Rahmen seiner Diskussion der epigenetischen Generationstheorie von George Louis Leclerc Comte de Buffon - die Frage nach den Grenzen der Wirkung allgemeiner Gesetze im Bereich der belebten Natur auf, die der Schweizer Physiologe auf methodologischer Ebene mit der Frage nach dem »Nutzen von Hypothesen« für die naturwissenschaftliche Forschung koppelte. Diese methodologische Fragestellung erörtert Haller in seiner Vorrede zum ersten Band der deutschen Übersetzung der Histoire naturelle (1749) von Buffon. Vor dem Hintergrund der scharfen Kritik Newtons an Descartes und der Ablehnung der Verwendung von Hypothesen in der Naturwissenschaft, die Newton durch den berühmten Satz hypotheses non fingo in der zweiten Ausgabe der Philosophiae naturalis principia mathematica (1713) formuliert hat, stellt sich aber in Hinblick auf Hallers positive Einstellung gegenüber den Hypothesen ein wissenschaftsgeschichtliches Problem, dessen Erklärung durch die Unterscheidung von >explikativen< und >operativen< Hypothesen nicht hinreichend ist.10 In Anbetracht der komplexen historischen Situation, in der Hallers wissenschaftliche Forschungsarbeit sowie seine theoretische Reflexion über diese in der Mitte des 18. Jahrhunderts einen Höhepunkt erreichten, kann 9

10

Haller hat bereits in seiner Tübinger Disputation von 1725 sowie in seiner medizinischen Dissertation (Leiden 1727) die Wissenschaftlichkeit der Lehren des Nachfolgers Stahls in Halle Georg Daniel Coschwitz in Frage gestellt; vgl. Wolfgang Proß: »Meine einzige Absicht ist, etwas mehr Licht über die Physik der Seele zu verbreiten«. Johann Georg Sulzer (1720-1779). In: Helvetien und Deutschland. Kulturelle Beziehungen zwischen der Schweiz und Deutschland in der Zeit von 1770-1830, hg. von Hellmut Thomke, Martin Bircher und Wolfgang Proß, Amsterdam, Atlanta 1994, S. 133-148, bes. S. 143-148. Vgl. hierzu Teil I, Kap. 2, 3.3, S. 96.

6 zu heuristischen Zwecken der Versuch unternommen werden, Hallers Wissenschaftskonzeption mit dem modernen (auch wenn nicht unproblematisch zu diskutierenden) wissenschaftstheoretischen Begriff des >Paradigmas< strukturell zu erfassen. Um Thomas S. Kuhns problematischer Definition des Begriffs mit einer konstruktiven Kritik zu begegnen, schlägt Helmut Pulte vor, Kuhns Paradigmabegriff zunächst »auf seinen philosophischen >KernKernpositives< Wissenschaftsprogramm für die Physiologie auch im Hinblick auf dessen Absetzung von den alternativen, gleichzeitig vorhandenen und mit seinem Ansatz konkurrierenden Programmen für diese Disziplin zu beschreiben. Eine Konkurrenzsituation ergab sich insofern, als um 1750 die Physiologie qua »Physik der Lebensphänomene« noch keine komplett eigenständige Disziplin im modernen Sinne darstellte. Ihr Begriffssystem und ihre Methodik verfügten zu diesem historischen Zeitpunkt über keinen autonomen wissenschaftlichen Status, der sie befähigte, sich von dem dominanten wissenschaftlichen Denkmodell der Mechanik vollends abzulösen; im Gegenteil, solange die Wissenschaften von den lebenden Organismen (>Biologiehin und her pendeln< zwischen diesen beiden Extremlagen gekennzeichnet waren und demnach ihre eindeutige Zuweisung zu einem dieser idealtypisch definierten Interpretationsschemata nicht ohne weiteres zulassen. Die resultierende Schwierigkeit, zwischen den Denkpositionen einzelner Forscher klare Trennungslinien zu ziehen, macht sich auch im Hinblick auf die Bestimmung ihrer wissenschaftlichen Programme bemerkbar. So zeigt Helmut Pulte, daß von Forschern des 18. Jahrhunderts - ζ. B. Euler, dessen Publikationen Haller intensiv verfolgt hat, - »ein Programm akzeptiert werden kann und dennoch eine dauerhafte Arbeit am empirischen Teil eines anderen Programms möglich ist«. Dies geschieht jedoch aus Gründen, die von einem Konzept von Wissenschaftstheorie, das eine >rationaleIose< verbunden. Er gewährt einer geeigneten Wissenschaftstheorie die Möglichkeit der Anpassung an den empirischen Teil eines andern Programms (und zwar gerade, weil er metaphysisch ist). Aus den Spannungen, die mit solchen >Anpassungsleistungen< verbunden sind, kann sogar eine empirisch äußerst erfolgreiche Arbeit entstehen.13

Damit berührt Pulte in systematischer Hinsicht einen entscheidenden Punkt, der im Hinblick auf die Deskription der historischen Stellung von Hallers wissenschaftlicher Physiologie, seinem Naturbegriff und seiner Wissenschaftstheorie relevant wird. Hallers >Anpassungsleistungen< an den empirischen Teil eines anderen Wissenschaftsparadigmas, die bei ihm treffender als >Annäherung< an andere Naturinterpretationsmodelle verstanden werden können, erfolgen auf der Basis eines geregelten konzeptuellen Instrumentariums und im Rahmen metaphysischer Annahmen. Ihnen kommt in wissenschaftstheoretischer Hinsicht der Status von Hypothesen zu, die als mentale Konstrukte zum Zwecke von Ursachenerklärungen eine wissenschaftliche Verwendung finden. Einen solchen Erklärungsstatus erhält beispielsweise die Attraktionskraft als vermittelnder ursächlicher Faktor eines - nach göttlichen Gesetzen ablaufenden - embryogenetischen Prozesses. Hallers Hypo13

Vgl. Pulte (1989), Zitate S. 25.

8 thesenverwendung ist somit die methodologische Seite eines Wissenschaftsbegriffs, der auf einer anthropologischen Konzeption begründet ist. Diese beinhaltet auch erkenntnistheoretische Annahmen. Haller ist aufgrund der Übertragung der Newtonschen Attraktionskraft auf die Materialität lebendiger Phänomene mit der Aufgabe konfrontiert, die konkreten sedes physicas, mit denen die vis attractiva im Innern dieser Körper verbunden ist, zu erforschen. Diese Aufgabe wird dadurch erschwert, daß Haller wissenschaftliche Erkenntnis in dem Bewußtsein aufbauen muß, praktisch nur auf der Basis sinnlicher Wahrnehmungen, d. h. konkret ausgehend von den Irritationen an der Oberfläche seiner Sinnesorgane, Aussagen über einen Naturprozeß machen zu können. Das Problem der Analyse des materiellen Substrats physiologischer Prozesse verbindet sich mit einem komplexen Wahrnehmungsvorgang, bei dem die Begriffe (Perzeptionen) von dem analysierten Gegenstand erst gebildet werden müssen: Der Naturforscher sieht beispielsweise bezüglich der Irritabilität des animalischen Körpers >WirkungenUrsachen< in den organisierten submikroskopischen Materiestrukturen sich jedoch seinem experimentellen Eingriff entziehen. Dies bedeutet, daß bei Haller die Basis der wissenschaftlichen Erkenntnis - die sinnliche Wahrnehmung - selbst ein neurophysiologischer Prozeß ist, dessen Verständnis eine naturwissenschaftliche Theorie voraussetzt. Eine anatomisch- und sinnesphysiologisch basierte sensualistische Erkenntnistheorie ist damit ein weiteres Element von Hallers anthropologischer Begründung der empirischen Wissenschaft der Physiologie. In der neueren Haller-Forschung wird Hallers Programm als eine Adaption des »Newtonianischen Programms« verstanden, auf dessen Richtlinien er seine Physiologie konstruiert haben soll.14 Die Hinweise auf >biologische Analoga Newtonscher Paradigmata< bei Haller werden dabei oft auf die Analogie der Explikationsmodelle Attraktion bzw. Irritabilität als jeweils nicht-reduktionistische Erklärungsmodelle bezogen, obwohl auf grundsätzliche Schwierigkeiten einer solchen Parallele bereits Thomas S. Hall hingewiesen hat.15 Die Aussagen über solche >Korrespondenzen< mit dem Newtonschen Wissenschaftsmodell, das seinerseits in wesentlichen Aspekten noch dem mechanistischen Weltbild des 17. Jahrhunderts verpflichtet war, sind oft allgemein und oberflächlich und laufen Gefahr, falsifiziert zu werden, wenn man die unterschiedlichen epistemologischen Voraussetzungen bei Haller und Newton nicht berücksichtigt. François Duchesneau - in dem Abschnitt über Haller in seinem Buch La Physiologie des Lumières (1982) - und Maria 14

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Vgl. z.B. Shirley A. Roe: Anatomia animata. The Newtonian physiology of Albrecht von Haller. In: Transformation and Tradition in the Sciences. Essays in honor of I. Bernard Cohen, hg. von Everett Mendelsohn, Cambridge, London, New York, New Rochelle, Melbourne, Sydney 1984, S. 273 - 300. Vgl. Thomas S. Hall: On Biological Analogs of Newtonian Paradigms. In: Philosophy of Science, 35 (1968), S. 6-27.

9 Teresa Monti - in ihrer Arbeit Congettura ed esperienza nella fisiologia di Haller (1990), der wohl bislang sorgfältigsten Studie über Hallers Physiologie, in der zahlreiches Quellenmaterial wie Handschriften und Forschungsprotokolle aus dem Haller-Nachlaß aufgearbeitet ist, - sind diesbezüglich problembewußter.16 Jedoch werden die relevanten Berührungspunkte von Hallers Wissenschaftsbegriff mit der Newtonschen Methodologie übersehen, weil nirgends die Bezüge zum historisch wichtigsten newtonianischen Einflußkontext für Haller in Leiden konkret erforscht worden sind. Oft wird in der Literatur auf die Lektüre der Darstellungen des Newtonschen Systems von 'sGravesande (Physices elementa, 1720/21) und von Henry Pemberton (View of Sir Isaac Newton's Philosophy von 1728) hingewiesen.17 Außerdem enthält der Haller-Nachlaß ein Exemplar der Ausgabe der Opticks von 172118 sowie ein Exemplar der Philosophiae naturalis principia mathematica (Amsterdam 1723), das Haller aber später aus seiner Bibliothek wieder ausgeschieden haben soll.19 Es mangelt jedoch an einer genauen Analyse der Bedeutung der Schriften von Willem Jacob 'sGravesande (1688-1742) für Hallers Wissenschaftsbegriff. Die Lektüre der zweiten Ausgabe der Physices elementa mathematica, experimentis confermata sive Introductio ad philosophiam newtonianam (21725) hat der junge Schweizer Student in den Tagebüchern zu seinem Aufenthalt in Leiden selbst belegt. Haller, der den juristischen Studienhintergrund seines Lehrers kannte und in seinem Tagebuch für erwähnenswert hielt,20 hat 'sGravesandes spätere Veröffentlichungen auch in seiner Forscherlaufbahn weiterhin berücksichtigt. Die zentrale Bedeutung von 'sGravesande für die Herausbildung einer wissenschaftlichen Epistemologie nach den methodologischen Prinzipien Newtons und seinen Einfluß auf den jungen Haller hat die wissenschaftshistorisch orientierte Haller-Forschung jedoch nicht berücksichtigt und Maria Teresa Monti weist explizit auf das Fehlen einer Studie in dieser Hinsicht hin.21 Eine Autopsie der wichtigsten methodologischen Schriften 'sGravesandes, deren Titel in der Haller-Literatur nicht einmal bekannt sind, ist aber bisher nicht geleistet worden. Um die historisch-genetische Entwicklung von 16

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Vgl. François Duchesneau: La Physiologie des Lumières. Empirisme, Modèles et Théories, Den Haag, Boston, London 1982. Maria Teresa Monti: Congettura ed esperienza nella fisiologia di Haller. La riforma dell'anatome animata e il sistema della generazione, Firenze 1990. Vgl. z.B. Roe (1984), Monti (1990). Vgl. Catalogo del Fondo Haller della Biblioteca nazionale Braidense di Milano, hg. von M. T. Monti, Milano 1984, Teil I (Bücher), Bd. 2, S. 605. Vgl. Urs Böschung: »Mein Vergnügen ... bey den Büchern«: Albrecht von Hallers Bibliothek - von den Anfängen bis 1736. In: Librarium, Jg. 38 (1995), H. 3, S. 154174, bes. S. 171. Vgl. hierzu Teil II, Kap. 2, 6, S. 382. Vgl. Monti (1990), S. 105: »Ancora più interessante sarebbe poter chiarire, [...], quali siano effettivamente stati per Haller modi e tempi nella conoscenza dell'opera di Newton.«

10 Hallers Natur- und Wissenschaftsbegriff sowie die geistesgeschichtliche und systematische Stellung von Hallers Schrift Vom Nutzen der Hypothesen im Rahmen derselben zu verstehen, ist es deshalb unerläßlich, einige bedeutende Texte 'sGravesandes heranzuziehen, die sich grundlegend mit dem Problem der Gewißheit in der Erkenntnis des Faktischen auseinandersetzen. Es sind dies vor allem die Praefatio zu der Erstausgabe der Physices elementa von 1720/21, die Oratio de Evidentia mathematica et Morali von 1724 (publiziert auf französisch unter dem Titel Discours sur l'Evidence) und die 1736 erschienene Introducilo ad Philosophiam, die bereits 1736 (21747) ebenfalls in französischer Sprache übersetzt wird und u. a. eine systematische Erörterung des Hypothesenbegriffs enthält. Beginnend mit der dritten Ausgabe der Physices elemento ( 3 1742, 4 1748) - also im unmittelbaren Vorfeld des Hallerschen Hypothesenaufsatzes - ist die lateinische Version von 'sGravesandes Evidenzschrift außerdem unmittelbar nach den Praefationes abgedruckt worden. 22 Der eigentliche zentrale Punkt in 'sGravesandes Ansatz ist die Ablehnung der mathematischen Evidenz als gültige gesetzliche Grundlage, um in der realen Welt Wahrheiten (Tatsachenwahrheiten) aufzustellen, woraus die Herausarbeitung der epistemologischen Basis der neuen experimentellen Wissenschaft durch die Formulierung des Begriffs der >moralischen Evidenz< folgt. Die Bestandteile dieses Begriffs sind bei 'sGravesande >SinnlichkeitAnalogie< und >ZeugenaussageNa22

Haller erwähnt in einer Huldigung an seinen Lehrer die dritte Ausg. der Physices elementa ζ. Β. in seinem Kommentar zu Hermann Boerhaave: Methodus studii medid, Amsterdam 1751, S. 82: »'sGravesande Physices Elementa, Leidae 1721, 2 vol. & multo auctius an. 1742 a morte Auctoris recusa. Plenissimus congenerum, olim etiam meus PRAECEPTOR.«

11 tur< des Menschen selbst gegründet und dies durchaus im anatomisch-physiologischen Sinne. Die Begründung der menschlichen Erkenntnis und ihrer Geltung auf Naturrechtstheoremen enthält somit eine sozialethische Dimension. So hat der Naturrechtslehrer Richard Cumberland in seiner gegen Thomas Hobbes gerichteten Schrift De legibus naturae (1672) die Soziabilität des Menschen, die zur Entstehung von Gesellschaft führe, auf dessen natürlichen Anlagen zurückgeführt. Basierend auf den medizinischen Theorien seiner Zeit, u. a. auf Thomas Willis' De cerebri anatome (1664) und Richard Lowers Tractatus de corde (1669), hat er die These vertreten, daß in dem körperlichen Bau des Menschen, der sich von demjenigen des Tieres, speziell des Affen, unterscheide, der Grund liege, weshalb der Mensch gesellschaftsfähig sei. Im juristisch-ethischen Kontext des Naturrechts, in dem durch rationale Konstruktion >Wissenschaften vom Menschen< und Naturwissenschaften analog in Beziehung gesetzt werden, vermag 'sGravesande also das erste zentrale Element der moralischen Evidenz, die Sinnlichkeit, zu begründen. Der italienische Philosophie- und Wissenschaftshistoriker Giambattista Gori hat bereits in seiner Arbeit von 1972 sehr sorgfältig den naturrechtlichen Problemhorizont bei 'sGravesande aufgearbeitet und bei diesem eine genaue Lektüre der Schriften Samuel Pufendorfs sowie der Pufendorf-Kommentare von Jean Barbeyrac nachgewiesen. 23 Es muß somit im Hinblick auf das Verständnis von Hallers Natur- und Wissenschaftsbegriff, die beide sowohl physische als auch sozialethische Bedeutungskomponenten aufweisen, von der Kenntnis und Lektüre von 'sGravesandes evidenztheoretischen Schriften durch Haller ausgegangen werden. Auf die sozialpolitische Dimension von Hallers Naturverständnis, die insbesondere in der Phase seiner embryologischen Studien ins Gewicht fällt, hat bereits Renato G. Mazzolini aufmerksam gemacht, u.a. mit dem Hinweis auf Hallers Widmung der Schrift über die Embryologie Sur la formation du coeur dans le poulet (1758), die seine Zustimmung an das System der Präformation enthält, an das Berner Patriziat, ganz besonders an Gottlieb von Diesbach, 24 ohne jedoch den naturrechtstheoretischen Problemhintergrund zu erläutern. Dies soll nun durch die vorliegende Studie geleistet werden. Auf der Basis der bisher skizzierten Elemente, die bei der Rekonstruktion von Hallers Natur- und Wissenschaftskonzeption berücksichtigt werden sollten, ergeben sich eine Reihe neuer »thematischer Relevanzen« 25 und Bedeu23

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Vgl. Giambattista Gori: La fondazione dell'esperienza in 'sGravesande, Firenze 1972. Vgl. Renato G. Mazzolini: Sugli studi embriologici di Albrecht von Haller negli anni 1755-1758. In: Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento, III (1977), S. 183-242, bes. S. 192 u. 212£: »[...] il destinatario della dedica è Gottlieb von Diesbach; antico amico dello Haller, una delle più insigni personalità della Repubblica bernese e, dal 1755, Deutsch-Seckelmeister« (S. 192). Vgl. zu diesem Begriff Alfred Schütz: Das Problem der Relevanz, Frankfurt/M. 1971; vgl. auch die Diskussion des Begriffs »Relevanz« in der Aufsatzsammlung

12 tungssubstrate, die aufgrund der Konzentration der neueren Forschung auf die wertvolle Aufarbeitung des - z.T. noch unveröffentlichten - wissenschaftshistorischen Quellenmaterials zu der Experimentalphysiologie Hallers26 bisher verschüttet geblieben sind. Auf der Grundlage dieser thematischen Relevanzen konstituiert sich somit im Hinblick auf Haller ein anthropologischer TypusNatur< des Menschen, die mit einer Idee von Gesellschaft, Moral (>ziviles Ethos< und »christliche Moralkosmologische Systeme« oder Vorstellungen von Weltsystem« voraussetzen. Vgl. Dictionary of Scientific Biography, Bd. 3, S. 467-483, bes. S. 468. Vgl. hierzu Guicciardini (1999), bes. S. 247-249: »The process of translation of the Principia into the language of calculus initiated by Varignon, Hermann and Johann Bernoulli was concluded only in the late 1730s by Leonhard Euler. In the Mechanica published in 1736 the talented former pupil of Johann Bernoulli was able to offer a general, uniform and well-regulated analytical method for approaching most of the problems faced by Newton in the Principia« (S. 247).

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desjahr Newtons verfaßte Eloge de Newton bekannt,10 in welcher der Cartesianer Fontenelle die naturwissenschaftlichen Systeme Newtons und Descartes' nebeneinander stellt und dabei die Kritik an Newtons System mit der Wertschätzung der Theorien des englischen Mathematikers und Physikers, speziell der optischen Theorien sowie der Leistungen im Bereich der Experimentalphilosophie, geschickt zu verbinden wußte. Der in dieser Periode vielleicht wichtigste Text, der einen Theorienvergleich enthält, war Maupertuis' Discours sur les différentes figures des astres von 1732.11 Im Abschnitt seines Discours, in dem er sich über den Begriff der Attraktion äußert, wird gesagt: »ce n'est pas à moi à prononcer sur une question [sc. die Inhärenzthese in bezug auf die Schwere von Körpern] qui partage les plus grands Philosophes, mais il m'est permis de comparer leurs idées.«12 Obwohl Maupertuis hier angibt, sich hinsichtlich der Inhärenzthese nicht festlegen zu wollen, hinterläßt die Art und Weise, wie er das cartesische und das Newtonsche System vergleicht, keinen Zweifel in bezug auf seine Präferenz für das Newtonsche. Für Fontenelle war klar, daß Maupertuis Newton den Vorrang gab.13 Maupertuis' Discours nimmt im Hinblick auf die Entwicklung der Rezeption und Etablierung der Theorien Newtons in Frankreich eine relevante Stellung ein. Im Jahre 1728 unternahm Maupertuis eine Reise nach England, wo er von den Newtonianern beeinflußt wurde, und ein Jahr später besuchte er den wohl einflußreichsten cartesianischen Mathematiker Johann (I) Bernoulli in Basel. Bernoullis Preisschrift für die Académie des Sciences aus dem Jahre 1734, den Essai d'une nouvelle physique céleste, kennzeichnete im Vergleich zu der Preisschrift von 1730, die Nouvelles pensées sur le système de Descartes, die eindeutig noch einer orthodox cartesischen Konzeption verpflichtet war, einen wichtigen Fortschritt im Denken des Schweizer Mathematikers über die Theorien Newtons, indem er die Relevanz der Einwände gegen das System Descartes' anerkannte und sich in der letzteren Arbeit in Richtung einer Verknüpfung der Systeme Descartes' und Newtons zu orientieren begann; diese Entwicklung in Bernoullis Denken wird auf den Einfluß von Maupertuis' Discours zurückgeführt.14 10

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Vgl. Bernard Le Bovier de Fontenelle: Eloge de Newton. In: Histoire de l'Académie Royale des Sciences (1727). Vgl. Pierre Louis Moreau de Maupertuis: Discours sur les différentes figures des astres, Paris 1732. In: Œuvres de Maupertuis. Nouvelle Édition corrigée & augmentée, Bd. 1, Lyon 1768, S. 81-170. Vgl. Maupertuis (1732), § II. Discussion métaphysique sur l'attraction, S. 90. Maupertuis' Schrift enthält u. a. die Darstellung des Tourbillonsystems (§ III. Système des tourbillons, pour expliquer le mouvement des planetes, & la pesanteur des corps vers la Terre, S. 104-118) und die Darstellung der Newtonschen Attraktionstheorie (§ III. Système de l'attraction, pour expliquer les mêmes phénomènes, S. 133-141). Vgl. Fontenelle: Histoire de l'Académie Royale des Sciences (1732), S. 93. Vgl. Eric J. Aiton: The Vortex Theory of Planetary Motions, London, New York 1972, S. 228: »It seems likely that his change of attitude was in some measure due to the influence of Maupertuis, [...]; Bernoulli's evident admiration of Maupertuis' Discours

18 Ferner ist Maupertuis' Position im Discours von 1732 im Hinblick auf die Entwicklung seines Verhältnisses zu Voltaire von Bedeutung. Maupertuis' Newtonianismus hatte eine Zeitlang die Sympathien und die Freundschaft Voltaires erobern können, die sogar so weit gingen, daß Voltaire bezüglich der Fragen, welche die Newtonsche Attraktion betrafen, Maupertuis' Ansicht herbeizog.15 Ihr Verhältnis sollte sich jedoch Jahre später vollständig verändern. Maupertuis zog 1744 nach Berlin, um das Amt des Präsidenten der Akademie der Wissenschaften zu übernehmen. Im Zusammenhang mit der an der Berliner Akademie entstandenen Kontroverse zwischen Maupertuis und dem Genfer Mathematiker Samuel König, die das >Prinzip der geringsten Wirkung< betraf, griff Voltaire, der sich zu derselben Zeit zusammen mit Francesco Algarotti in Berlin befand und sich auf die Seite von König stellte, Maupertuis mit Schärfe an; es entstand daraus einen Streit, der über Jahre andauern sollte. Maupertuis hatte als erster dieses Prinzip in der Anwendung auf optische Probleme formuliert und es in einer Abhandlung, die er 1744 der Académie Royale des Sciences vorlegte, festgehalten; es bildete später u. a. den Gegenstand des von Maupertuis 1750 veröffentlichten Essai de cosmologie}6 Samuel König kritisierte jedoch Maupertuis' Prinzip und behauptete außerdem, daß es Leibniz in einem Brief an den Mathematiker Jakob Hermann bereits festgestellt hat.17 Voltaire schrieb infolge dieser Episode die Diatribe d'Akakia, in der Maupertuis und die Akademie beißendem Spott ausgesetzt wurden. Der preußische König Friedrich II ließ die Schrift Voltaires verbrennen, woraufhin Voltaire Berlin verließ.18

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seems to confirm such an influence. Without accepting Maupertuis' conclusions, Bernoulli recognized the force of the objections to the Cartesian system and attempted to form a new one by taking from the Cartesian and Newtonian systems that which was more natural and simple while rejecting that which was contrary to reason or common sense. Bernoulli found more difficulty than Maupertuis in the principle of attraction, which he described as incomprehensible. Bernoulli admitted the attraction as a fact, but could not accept it as a physical principle or cause.« Vgl. Aitón (1972), S. 201. Vgl. hierzu grundlegend Pulte (1989). Vgl. Aiton (1972), S. 201, Anm. 35: »Leibniz had used the principle, in application to optics, in an article published in the Acta Eruditorum in 1682.« Vgl. auch die Darstellung dieser Kontroverse, die Jean-Antoine-Nicolas Caritat Marquis de Condorcet gegeben hat: »Koënig non seulement le combattit [sc. Maupertuis' Prinzip], mais il prétendait de plus qu'il n'était pas nouveau, et cita un fragment d'une lettre de Leibnitz, où ce principe se trouvait indiqué. Maupertuis, instruit par Koënig même qu'il n'a qu'une copie de la lettre de Leibnitz, imagine de le faire sommer juridiquement, par l'académie de Berlin, de produire l'original. Koënig mande qu'il tient sa copie du malheureux Hienzi, décapité long-temps auparavant pour avoir voulu délivrer les habitants du canton de Beme de la tyrannie du sénat. La lettre ne se trouva plus dans ce qui pouvait rester de ses papier, et l'académie, moitié crainte, moitié bassesse, déclara Koënig indigne du titre d'académicien, et le fit rayer de la liste.« Vgl. Vie de Voltaire par M. Le Marquis de Condorcet. In: Œuvres complètes de Voltaire, Bd. 1, Paris 1820, S. 181. Vgl. Condorcet in Voltaire (1820), S. 182f.

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Es stellt sich ferner in diesem Zusammenhang - und zwar auch unabhängig von der Kontroverse zwischen Maupertuis und König - die Frage, in welcher Beziehung Voltaires Schrift Eléments de la philosophie de Newton, die 1738 in Paris veröffentlicht wurde und die öffentliche Meinung der Gebildeten hinsichtlich der Theorien Newtons beeinflußte,19 zu Maupertuis' Discours steht: Voltaires Eléments und Algarottis Schrift Newtonianesimo per le dame, ovvero dialoghi sopra la luce e i colori, die 1737 in Mailand erschien, waren diejenigen Texte, die zu der Durchsetzung und Popularisierung der Newtonschen Theorien auf dem Kontinent bedeutend beigetragen haben.20 Maupertuis hat sich seinerseits in der Jahre später verfaßten Lettre Sur l'Attraction bezugnehmend auf seinen Discours von 1732 nicht zu Unrecht gerühmt, der erste gewesen zu sein, der es »wagte«, in Frankreich von Anziehungskraft zu sprechen: Il a fallu plus d'un demi-siècle pour apprivoisier les Académies du continent avec l'attraction. [...]. Ce n'étoit pas une grande gloire de venir présenter à ses compatriotes une découverte faite par d'autres depuis 50 ans: ainsi je puis dire que je fus le premier qui osai en France proposer l'attraction, du moins comme un principe à examiner; ce fut dans le Discours sur la figure des astres. On y peut voir avec quelle circonspection je présentais ce principe, la timidité avec laquelle j'osois à peine le comparer à l'impulsion, la crainte où j'étois en faisant sentir les raisons qui avoient porté les Anglois à abondonner le Cartésianisme. Tout cela fut inutile; & si ce Discours fit quelque fortune dans les pays étrangers, il me fit des ennemis personnels dans ma patrie. J'entrepris cependant de donner dans l'Académie même l'analyse des propositions de M. Newton qui concernent l'attraction; mais sans m'écarter du respect que je devois aux anciennes opinions, protestant toujours que je ne traitais cette matière qu'hypothétiquement & en Géomètre. 21

Damit wollte Maupertuis offensichtlich wenigstens einen Teil des Voltaire zugeschriebenen Verdienstes für sich in Anspruch nehmen. Darüber hinaus drängt sich die weitere Frage auf, in welcher Beziehung Algarottis Schrift, die im Kontext der italienischen Newton-Debatte am Ende der zwanziger Jahre konzipiert wurde und deren Fertigstellung aber erst nach 1732 in Paris erfolgte, zu Maupertuis' Discours steht und welcher Art die Kontakte Algarottis zu Maupertuis und Voltaire waren. Auch wenn die Erforschung des Verhältnisses zwischen diesen Autoren und ihren Schriften nicht Thema dieser Arbeit ist, dienen diese Überlegungen dazu, die historische Situation zu illustrieren, in welche die wissenschaftliche Diskussion der kosmologischen 19

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Vgl. Voltaire: Elemente der Philosophie Newtons. Verteidigung des Newtonianismus. Die Metaphysik des Neuton. Hg. von Renate Wahsner und Horst-Heino v. Borzeszkowski, Berlin, New York 1997 (Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte). Den Hinweis auf die Bedeutung der Präsenz Algarottis in Deutschland zu dieser Zeit und den von ihm ausgeübten Einfluß in den Bereichen der Naturwissenschaften, Ästhetik und Musiktheorie verdanke ich Professor Wolfgang Proß. Vgl. Maupertuis: Lettre XII. In: Œuvres de Maupertuis, Bd. 2, Lyon 1768, S. 284289, Zitat S. 284f.

20 Theorien Descartes' und Newtons im Genfer Periodikum fällt, und ferner dienen sie auch dazu, die Relevanz dieser Diskussion auch im Hinblick auf den nach 1732 sich abzeichnenden wissenschaftshistorischen Prozeß zu verdeutlichen: In dieser Periode der wissenschaftlichen Revolution steht Maupertuis Discours am Beginn einer neuen Entwicklung. Das besondere Merkmal der in der Bibliothèque Italique stattgefundenen Theoriendebatte ist aber das folgende: Aufgrund der Spezialisierung und Ausrichtung der Zeitschrift auf den literarischen Buchmarkt Italiens, mit denen die Konzentration auf die dort stattfindenden aktuellen wissenschaftlichen Diskussionen einherging, enstand die Theoriendebatte in der Auseinandersetzung mit Positionen, die in diesen Diskussionen formuliert und in wissenschaftlichen Publikationen festgehalten wurden und daher die Spezifika der italienischen Newton-Rezeption aufwiesen. Vor dem Hintergrund dieser interkulturellen Situation nahmen die Gelehrten des Genfer Periodikums, die den Wissenschaftlerkreisen der Stadt Genf angehörten, gerade in der Vermeidung der Abhängigkeit von den national unterschiedlichen Ausprägungen der Newton-Debatte in den verschiedenen Wissenschaftszentren Italiens (u.a. Padua, Bologna, Rom u. Neapel) und Frankreichs (v.a. an der Académie Royale des Sciences), eine besondere Stellung ein, die sie befähigte, durch ein Publikationsmedium der modernen wissenschaftlichen Kommunikation differenzierte Positionen zu vertreten und auf den Adressatenkreis eventuell Einfluß zu nehmen. Die besondere Stellung der Genfer Gelehrten (und des Genfer Periodikums) war daher durch eine wichtige Vermittlungsfunktion gekennzeichnet, welche die Wissenschaftlergruppen der italienischen und der französischen Newton-Debatte sowie der Schweizer Newton-Rezeption miteinander verband. Auch im Hinblick auf die Auseinandersetzung des berühmten Schweizer Physiologen, Naturforschers und Dichters Albrecht von Haller (1707-1777) mit den Schriften und Theorien Isaac Newtons dürfte u. a. die in der Bibliothèque Italique in den Jahren 1731 und 1732 festgehaltene Newton-Debatte, die spätestens seit Ende 1728 von den Journalisten des Genfer Periodikums in Italien verfolgt und dokumentiert wurde, ein neues Licht auf die Hallersche Newton-Rezeption werfen.22

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Vgl. zu diesem in der Haller-Forschung bislang unberücksichtigt gebliebenen italienischen Einflußkontext die wissenschaftshistorische Problemskizze in Teil I, Kap. 3, 8 dieser Studie.

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2. »L'avancement des Sciences« und die Medien der wissenschaftlichen Kommunikation im frühen 18. Jahrhundert: Die Rezeption der italienischen Newton-Debatte in der Bibliothèque Italique Es sind im wesentlichen die Kriterien der Konkurrenz und der Spezialisierung, die nach 1700 den Zeitschriftenmarkt und die gelehrte Publizistik charakterisieren und die Herausbildung neuer Zeitschriftentypen sowie Publikationsgenres und Modelle des aufklärerischen literarkritischen Journalismus begünstigen. 23 Es waren dieselben Kriterien, die eine Gruppe von Gelehrten motivierten, in Genf das Periodikum Bibliothèque Italique (1728-1734) 2 4 herauszugeben, dessen spezifische thematische Ausrichtung in dem sich expandierenden Zeitschriftenmarkt eine Lücke füllen und die ökonomische Existenz des Periodikums garantieren sollte. 25 D i e Orientierung des Interesses von der Seite des Genfer Journalistenkollektivs bestand darin, die vom europäischen Buch- und Zeitschriftenmarkt wenig berücksichtigte italienische Histoire littéraire in den Geistes-, Geschichts- und Naturwissenschaften einem größeren Publikum bekannt zu machen. 2 6 Gegenstand der Rezensionen, Übersetzungen, Auszüge sowie der kritischen Kommentare der von der Ars critica eines Jean Le Clerc 27 und der Methodik eines Pierre Bayle 2 8 23

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Vgl. z.B. Rudolf Noack: Journalismus und Literaturkritik. In: Neue Beiträge zur Literatur der Aufklärung, hg. von Werner Krauss und Walter Dietze, Berlin 1964, S. 37-58; Hans Mattauch: Die literarische Kritik der frühen französischen Zeitschriften (1665-1748), München 1968; Herbert Jaumann: Das Modell der Literaturkritik in der frühen Neuzeit: Zu seiner Etablierung und Legitimation. In: Literaturkritik - Anspruch und Wirklichkeit. DFG-Symposion 1989, hg. von Wilfried Barner, Stuttgart 1990, S. 8-23. Zur Entwicklung wissenschaftlicher Zeitschriften im Zusammenhang mit der Veränderung des Kommunikationssystems moderner Wissenschaft im 18. Jahrhundert vgl. Rudolf Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740-1890, Frankfurt/M. 1984, bes. S. 394ff. Zur Relevanz dieses Periodikums für die italienische Kultur des frühen 18. Jahrhunderts vgl. die monographische Studie von Francesca Bianca Crucitti-Ullrich: La »Bibliothèque Italique« cultura »italianisante« e giornalismo letterario, Milano, Napoli 1974. Vgl. Bibliothèque Italique, Préface, Tome I (1728), S. XV. Vgl. ebd., S. XII f.: »Qui ne sait en effet, que l'Italie depuis le renouvellement des Sciences arrivé dans le XV me Siècle, a eu un grand nombre de Savans, je dis des Savans du Premier Ordre? Et que c'est à plusieurs d'entr'eux, qu'on est redevable d'un bon nombre de découvertes, qui ont contribué à perfectionner les Sciences? Il faudroit n'avoir aucune idée de l'Histoire Littéraire pour douter de ces Faits.« Entsprechend wird in der Zeitschrift ein allgemeiner Abriß der Literar- und Wissenschaftsgeschichte Italiens seit dem 15. Jahrhundert dem Lesepublikum vorgestellt: Idée Générale de L'Etat des Sciences en Italie, depuis le XV me Siècle, Tome II (1728), S. 14-49. Vgl. Jean Le Clerc (Clericus): Ars critica, in qua ad studia linguarum Latinae, Graecae et Hebraicae via munitur; veterumque emendandorum, spuriorum scriptorum a genuinis dignoscendorum et judicandi ed eorum librorum ratio traditur, Amster-

22 durchaus beeinflußten Genfer Journalisten waren jedoch nicht nur die Werke der älteren italienischen Autoren. Indem sie - gemäß den Maßstäben der neueren Literarkritik - der Aktualität 29 Priorität einräumten und diese mit Blick auf die italienische Literarproduktion als ein weiteres Spezifikum ihres Unternehmens betrachteten, besprachen sie auch die bedeutenden Schriften der >modernen< italienischen Gelehrten und Wissenschaftler: Il n'est pas moins certain, que les Savans de ce Païs-là, ont publié dans les trois Siècles qui ont précédé le nôtre, des Ouvrages très-dignes d'être lûs; mais dont les noms sont à peine connus des Gens de Lettres les plus curieux du reste de l'Europe. On peut en dire autant de la plûpart des Ouvrages des Savans Italiens Modernes. Si l'on doit regréter de n'avoir pas profité des lumières des prémiers, que ne doiton pas faire pour réparer cette perte, & en prévenir une plus grande qu'on feroit, en négligeant de profiter des productions des Modernes, dont le goût est plus exquis, l'exactitude plus grande, la dépréocupation plus marquée, l'érudition plus étendue, le raisonnement plus précis & plus juste? 30 D i e Publikation dieses Periodikums fällt darüber hinaus in einen Zeitraum, in dem die interkulturellen Beziehungen zwischen italienischen und Schweizer Intellektuellen sowie die Auseinandersetzung mit Neuerscheinungen auf allen Gebieten der italienischen Res publica litteraria besonders intensiv waren; gerade in dieser Phase des regen Kontakts stossen die Veröffentlichungen aus dem Bereich der Sciences, insbesondere der Naturwissenschaften, in der Schweizer Italien-Rezeption auf großes Interesse. 31 Spätestens mit dem

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dam 1697. Zum Kritikbegriff und der »rationalen Methode< Le Clercs vgl. Jaumann (1990), S. 10f.: »[...] Le Clerc [versucht] zu zeigen, daß die cartesianische Methode auch auf historische Gegenstände übertragen werden kann« (S. 10). Vgl. hierzu Pierre Bayles geäußerte Wahrheitskriterien bezüglich der Darstellung historischer Gegenstände in seiner Vorrede zur ersten Ausgabe des Dictionnaire historique et critique vom 23. Oktober 1696: »Von den zwei unverbrüchlichen Gesetzen der Geschichte, [...], habe ich dasjenige aufs heiligste beobachtet, welches befiehlt, nichts falsches zu sagen: allein ich kann mich nicht rühmen, dem andern beständig gefolget zu seyn, welches befiehlt, alles zu sagen, was wahr ist; ich halte dasselbe zuweilen nicht allein der Klugheit, sondern auch der Vernunft zuwider.« Zit. nach der Übers, von Johann Christoph Gottsched: Herrn Peter Baylens, Historisches und Critisches Wörterbuch, Leipzig 1741, S. VI. Vgl. hierzu Jaumann (1990), S. 12-18. Vgl. Bibliothèque Italique, Préface, Tome I (1728), S. XIII f. Die Materialsammlung, die im Rahmen eines von Professor Wolfgang Proß geleiteten Schweizer Nationalfonds-Projekts erstellt wurde und die auf der Grundlage von Quellen aus wichtigen Schweizer Zeitschriften des 18. und 19. Jahrhunderts zustande gekommen ist, bestätigt für den hier in Betracht gezogenen Zeitraum die intensive Rezeption italienischer Autoren und Schriften u. a. auf dem Gebiet der Naturwissenschaften, der Medizin und der exakten Wissenschaften. Die Veröffentlichung der Evaluation dieser Materialsammlung steht noch bevor und wird gerade im Hinblick auf die genannten Wissensbereiche die interkulturellen Beziehungen zwischen Italien und der Schweiz in dieser Phase der Frühaufklärung erhellen. Der Titel des SNF-Projekts lautet: Die Schweiz und Italien: Interliterarische und interkulturelle Beziehungen (vom Ende des Barock bis zum Beginn des ersten Weltkrieges), Bern 1989-1992. Der vorliegende erste Teil dieser Studie liefert diesbezüglich einen ersten Beitrag.

23 Eintritt des jungen Mathematikers und Philosophen Jean-Louis Calandrini (1703-1758) 32 in die Redaktion der Bibliothèque Italique im Jahr 1729 deutete sich für das Genfer Periodikum der Beginn einer Krise an, die wesentlich zu der Einstellung des Periodikums im Jahre 1734 beigetragen hat.33 Calandrini, ein enthusiastischer Anhänger der Theorien Newtons, war seit 1724 Professor für Mathematik an der Genfer Akademie 34 und war Jahre später an der von den Jesuiten Thomas Le Seur und François Jacquier herausgegebenen Genfer-Edition der Principia mathematica von 1739 maßgeblich beteiligt.35 Die Aufnahme Calandrinis in die Redaktion des Periodikums bewirkte, daß ab 1730 nicht zuletzt durch das Hinzukommen weiterer qualifizierter Mitarbeiter - u. a. der junge Mathematiker und spätere Herausgeber der Werke von Johann (I) Bernoulli, Gabriel Cramer (1704-1752) 36 - sich das kulturelle Interesse der Zeitschrift vermehrt naturwissenschaftlichmathematischen Themen zuwandte. Dabei galt die Aufmerksamkeit insbesondere den Theorien, den Forschungsergebnissen und den Experimenten Isaac Newtons. Dies geschah jedoch weniger auf direktem Wege aufgrund von Beiträgen zu den Schriften Newtons als vielmehr durch das Medium der Rezensionen und der kritischen Kommentare zu den Veröffentlichungen der italienischen Autoren auf den Gebieten der Mathematik, Physik und Astronomie. Besonders Calandrini verheimlichte seine Präferenz für Newton nicht und trat offen für dessen Theorien ein, was angesichts der europäischen Debatte um Newton, in der um 1730 dessen Theorien immer noch umstritten 32

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Zu der wissenschaftshistorischen Bedeutung Calandrinis vgl. Gino Arrighi: Jean Louis Calandrini (1703-58) e il suo Commento ai »Principia« di Newton. In: Physis (rivista internazionale di storia della scienza), 17 (1975), S. 129-137. Albrecht von Haller rezensiert die von Calandrini kommentierte Genfer Principia-Ausg. von 1739-42 in der Bibliothèque Raisonnée, T. 37 (1746), Première Partie, Art. IV, S. 54-61: »Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, Auetore Isaaco Newtono, &c., C'est à dire: Principes Mathématiques de la Philosophie Naturelle, par le Chevalier Isaac Newton, expliqués & commentés par les P. P. Thomas Le Seur & François Jacquier, Minimes & Professeurs en Mathématique à Rome. A Genève, chez Barillot & Fils, en grand IV. Tome I, 1739, de 548 pages, sans les Préfaces. Tome II, 1740, de 423 pages, Tome III, 1742, de 703 pages.« Vgl. dazu Crucitti-Ullrich (1974), S. 191ff. u. 199ff. Vgl. Charles Borgeaud: Histoire de l'Université de Genève, Bd. 1: L'Académie de Calvin 1559-1798, Genève 1900, bes. S. 500-504 u. S. 562ff. Vgl. Philosophiae Naturalis Principia Mathematica. Auctore Isaaco Newtono, Eq. Aurato. Perpetuis Commentariis illustrata, communi studio PP. Thomae Le Seur & Francisci Jacquier Ex Gallicanâ Minimorum Familia, Matheseos Professoroni. Tomus Primus, Genevae, MDCCXXXIX. Die Herausgeber dieser Principia-Edition würdigen den Mathematiker Calandrini und dessen Leistung - Korrekturen, Kommentare, Anmerkungen sowie ein Traktat über die Kegelschnitte im ersten Tome in dem Monitum zum ersten Band, S. VIII. Vgl. zu der wissenschaftshistorischen Bedeutung von Gabriel Cramer, bes. zu seinem Beitrag zur mathematischen Analysis von Kurvenstücken: Introduction à l'analyse des lignes courbes algébriques, Genève 1750, den Art. von Phillip S. Jones im Dictionary of Scientific Biography, Bd. 3, S. 459-462.

24 waren, und angesichts des traditionell cartesianischen Kontextes der Genfer Akademie 3 7 als eine bemerkenswerte Haltung zu betrachten ist. Calandrini hielt sich in seinen Kommentaren hinsichtlich der Bezugnahmen auf die Newtonsche Theorie und Mathematik nicht zurück und kritisierte die mathematischen Unzulänglichkeiten in den Publikationen der italienischen Mathematiker und Gelehrten. 3 8 Dies war auch der Moment, in dem in der Redaktion der Bibliothèque Italique die Probleme an die Oberfläche traten, die Divergenzen zwischen Calandrini und der älteren Cartesianer-Generation der Journalisten, insbesondere dem Naturalisten und Leibnizianer Louis Bourguet, deutlicht wurden und die Krise vollends ausbrach. 39 E s wurde von der Seite der Cartesianer befürchtet, daß eine allzu deutliche Stellungnahme für Newton eine Abnahme der Leserzahlen bewirken könne, speziell auch des italienischen Publikums, 40 das u. a. dank der neutralen Einstellung des Periodikums gegenüber religiös-konfessioneller Fragen zum Adressatenkreis gehörte und das der Verleger Marc-Michel Bousquet aus wirtschaftlichen Gründen nicht vertreiben wollte. 41 Calandrini war nunmehr gezwungen, seine Stellungnahmen zugunsten von N e w t o n in seinen Beiträgen zu mäßigen. 4 2 Durch die Öffnung 37

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Vgl. Michael Heyd: Between Orthodoxy and the Enligthenment. Jean-Robert Chouet and the Introduction of Cartesian Science in the Academy of Geneva, The Hague, Boston, London 1982; zu Calandrinis Lehrstuhlbesetzung bes. S. 226. Vgl. beispielsweise Calandrinis Rezension der Schrift von Andrea Piovani: Demonstrationes Geometricae, Roma 1728, im IV. Tome der Bibliothèque Italique von 1729, S. 66-76. Vgl. dazu Crucitti-Ullrich (1974), S. 192-195. Vgl. dazu ebd., S. 194. Vgl. Bibliothèque Italique, Préface, Tome I (1728), S. XXIII t Der Verleger und Buchhändler Bousquet wird sich nach 1730 vermehrt auf die Seite Calandrinis stellen und diesen in seinen Interessen für eine mathematisch-naturwissenschaftliche Ausrichtung des Periodikums durch die gezielte Koordination der besprochenen Werke in der Zeitschrift, deren Ankündigungen in den Nouvelles Littéraires und dem eigenen Bücherverkauf in Genf unterstützen. Diese Neuorientierung Bousquets war offensichtlich von ökonomischen und religiös-konfessionellen Kriterien (Calvinismus in Genf!) geleitet. Vgl. dazu Crucitti-Ullrich (1974), S. 201ff. Calandrinis Rezension der Schrift von Giovanni Crivelli: Elementi di Fisica, Venezia 1731, exemplifiziert die Zurückhaltung, mit welcher der Genfer Newtonianer den Schriften italienischer Autoren nun begegnen mußte, zumal Crivellis Kompendium im Teil über die Optik die von Giovanni Rizzetti formulierten Einwände gegen die optischen Theorien und Experimente Newtons enthielt. Vgl. Bibliothèque Italique, Tome XIII (1732), S. 160-169 und Crucitti-Ullrich (1974), S. 209-213. Zur Abhandlung von Giovanni Rizzetti: De luminibus affectionibus specimen physico-mathematicum, Treviso 1727, die in der Bibliothèque Italique ebenfalls berücksichtigt wurde, sowie zu der >querelle< Rizzetti-Newton, die in ganz Europa aufsehen erregte, vgl. Vincenzo Ferrone: Scienza Natura Religione. Mondo Newtoniano e Cultura Italiana nel Primo Settecento, Napoli 1982, bes. S. 250-255; zu Crivellis genannter Abhandlung vgl. Ferrone (1982), S. 257 -260. Eine differenzierte historisch-genetische und argumentative Rekonstruktion des in Rizzettis Abhandlung enthaltenen (und auf einer Annahme von Thomas Hobbes basierenden) Brechungsgesetzes findet sich jetzt bei Franco Giudice: Giovanni Rizzetti, l'ottica new-

25 des Periodikums zu Italien hin konnte jedoch Calandrini die Aufmerksamkeit auf die dort stattfindende Newton-Debatte lenken und sich dabei u.a. durch die Vermittlung des Journalisten der Bibliothèque Italique und Genfer Theologieprofessors Jacob Vernet (1698-1789) vergewissern, daß in bestimmten Wissenschaftlerkreisen - wie es beispielsweise im Umkreis des Naturalisten Antonio Vallisnieri und der Gräfin Clelia Grillo Borromeo in Mailand der Fall war - die Theorien und die Methode Newtons zustimmend rezipiert wurden. Die Zeitschriften erwiesen sich somit im Europa des frühen 18. Jahrhunderts als ein wichtiges Medium der öffentlichen Diskussion des theoretischen Denkens und der wissenschaftlichen Probleme und übten zudem einen entscheidenden Einfluß auf die Verbreitung und Durchsetzung von neuem Wissen aus.43 So machte beispielsweise Jean Le Clerc, der zwischen 1686 und 1729 drei große Zeitschriften herausgab, durch seine journalistischen Arbeiten als erster die sensualistischen Theorien John Lockes in Frankreich bekannt.44 Die Bibliothèque Italique entwickelte sich ihrerseits nach 1730 zunehmend zu einem Austragungsfeld der Debatte zwischen den beiden konkurrierenden kosmologischen Theorien Descartes' und Newtons und den mit diesen Theorien verbundenen naturwissenschaftlichen Methoden. Die Tatsache, daß Calandrini in seinem Bestreben, die Newtonschen Theorien zu verbreiten, zurückgedrängt werden mußte, weist auf die grundsätzlich cartesianische Denkhaltung der Genfer Journalisten und - zumindest in der ersten Publikationsphase - auf die cartesianische Programmatik und Gesamtausrichtung des Periodikums hin. Die Aufspaltung der Redaktion in Cartesianer und Newtonianer, die aufgrund der unterschiedlichen wissenschaftlichen Sozialisation der Gelehrten zugleich den Generationenwechsel markierte, war dabei unvermeidlich. Es lassen sich somit für das Genfer Periodikum zwei

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toniana e la legge di rifrazione. In: Studi Settecenteschi 18 (1998), S. 45-63: »Si trattava infatti di una dimostrazione geometricamente corretta, come quella di Newton, ma basata su un presupposto diverso, ossia che la velocità della luce è maggiore nell'aria piuttosto che nell'acqua« (S. 63). Es mag sein, daß die Ächtung von Thomas Hobbes durch die Royal Society in der Zeit seiner naturphilosophischen Kontroversen mit dem >Helden< des experimentalistischen Programms Robert Boyle, die Hobbes als mechanistischer Philosoph in historiographischer Perspektive durch die »whig-history« nach 1800 lange in Vergessenheit geraten ließ, sich noch auf die Beurteilung von Rizzettis Theorien niederschlug; vgl. hierzu Steven Shapin/Simon Schaffer: Leviathan and the Air-Pump. Hobbes, Boyle, and the Experimental Life, Princeton 1985, bes. Kap. I. Vgl. auch Teil I, Kap. 3, 8 dieser Studie. Dieses Bewußtsein wird durch die hier in der Überschrift dieses Abschnittes angeführte Rede »l'avancement des Sciences« zum Ausdruck gebracht, die dem Vorwort zu dem ersten Band der Bibliothèque Italique entnommen ist. Dort betonen die Genfer Journalisten, daß das Zeitschriftenwesen in dessen bald achzigjährigen Geschichte gemeinhin als nützlich für den »Fortschritt der Wissenschaften« betrachtet worden sei. Vgl. Bibliothèque Italique, Préface, Tome I (1728), S. IX. Vgl. Noack (1964), S. 47.

26 hauptsächliche Einflußsphären bestimmen: zum einen der orthodoxe Cartesianismus der Wissenschaftlerkreise um die Pariser Académie Royale des Sciences und zum anderen die heterogenen wissenschaftlichen Gruppierungen in und um die Akademien und Universitäten Italiens (u. a. in T\irin, Mailand, Padua, Florenz, Bologna, Rom und Neapel), in denen die naturwissenschaftlichen Traditionen Italiens des 16. und 17. Jahrhunderts, insbesondere die Galileische, aber auch die Aristotelische, präsent waren. Dabei wurde speziell die Galileische Methode - u. a. in der Accademia del Cimento (gegründet 1657) in Florenz - fortgeführt und mit den neueren cartesianischen Theorien (Mechanizismus) verknüpft.45 Die Anhänger Galileis wurden jedoch in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts durch die Inquisition verfolgt und die Lehren Galileis von den Universitäten lange ferngehalten; der Cartesianismus war seinerseits durch den andauernden Aristotelismus in Verbindung mit den Interessen der Theologie lange an seiner Verbreitung und Durchsetzung gehindert worden.46 Diese komplexe Situation hat also dazu beigetragen, daß die Theorien Newtons in Anbetracht dessen, daß sie sich dem Cartesianismus entgegensetzten und eine scheinbar unproblematische Akkomodation von Theologie und Wissenschaft zuließen, dennoch in Italien eindringen und Fuß fassen konnten.47 Die diplomatischen Beziehungen des Vatikans zu England begünstigten darüber hinaus den interkulturellen Austausch zwischen den italienischen Gelehrten und den Engländern (u.a. mit der Royal Society und Newton) sowie die Einführung in Italien (u. a. in Rom, Genua und Florenz) von Texten der Opticks und der Principia mathematica zu Beginn des 18. Jahrhunderts.48 Die positive Rezeption der Principia mathematica durch den Mathematiker, Philosophen und Celestiner Mönch Celestino Galiani im zweiten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts in Rom ist bekannt, wobei die newtonianischen Studien Galianis eine Reihe von Gelehrten und Wissenschaftlern beeinflussen konnten, die seine Lehren weiterführten und Newtons Theorien in den Wissenschaftszentren Italiens vermittelten.49 45

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Vgl. Clelia Pighetti: Scienza e tecnica nel settecento italiano. In: Nuove Questioni di Storia del Risorgimento e dell'Unità d'Italia, Milano 1969, S. 279-309, bes. S. 279-287. Vgl. Pighetti (1969), S. 280ff. und Ferrone (1982), S. 3 - 1 1 . Vgl. zur Rolle der neuen Wissenschaften in der italienischen Geisteswelt des 17. Jahrhunderts und zur kontroversen Rezeption der cartesischen Philosophie in Italien um 1700 die Beiträge in: Die Philosophie des 17. Jahrhunderts, Bd. 1, Zweiter Halbbd., hg. von Jean-Pierre Schobinger, Basel 1998, bes. Kap. 3 u. 4, S. 773-970 bzw. S. 973-1009. Vgl. Pighetti (1969), S. 282f£ Vgl. Ferrone (1982), S. 24ff. u. S. 48£ sowie Paolo Casini: Les Débuts du Newtonianisme en Italie, 1700-1740. In: Dix-Huitième Siècle, 10 (1978), S. 85-100, bes. S. 87f. Vgl. ζ. Β. die Studie von Galiani: Osservazioni sopra il libro del Newton intitolato Principia mathematica. Die größtenteils unveröffentlichten Schriften Galianis dienten oft als Grundlage für seine Mathematik- und Physikvorlesungen in Rom. Galia-

27 D i e diskutablen kosmologischen Thesen Descartes' und die ersten Ansätze der sich nur allmählich durchsetzenden Theorien Newtons auf dem Kontinent spiegelten sich somit um 1730 in der besonderen Situation des Genfer Periodikums wieder. Der im Jahre 1731 in der Bibliothèque Italique erscheinende Article, der eine Kritik an der Wirbeltheorie Descartes' enthielt, war aus der Rezension einer Abhandlung (Lettre) hervorgegangen, die im Umkreis des Turiner Athenäums entstanden war. 50 D i e Autorschaft der Turiner Lettre wird in der Forschung den beiden Professoren Bernardo Andrea Lama und Joseph Roma zugeschrieben, die in Tlirin die Lehrstühle für Rhetorik bzw. Experimentelle Philosophie innehatten. 51 Beide waren in R o m Schüler von Celestino Galiani gewesen. 5 2 Giuseppe Ricuperati stützt seine These von der Präsenz einer »>scuola< newtoniana a Torino« unter der Leitung des Physikers Roma und von Francesco Garro durch die Auffindung eines Dokuments, das Ricuperati zufolge die Gewißheit seiner These bezeugt; es handelt sich dabei um eine Abschrift der in der Bibliothèque Italique rezensierten Lettre der beiden Turiner Professoren, die Ricuperati in dem Turiner Nachlaß von Pietro Giannone gefunden hat: Quanto poi all'identificazione dei personaggi, in via di pura ipotesi, verrebbe fatto di pensare al padre Roma, professore di fisica e al nostro Lama. Ma la cosa perde il carattere di ipotesi e si trasforma in una prova dal momento che fra le carte torinesi di Pietro Giannone ho trovato una copia in latino di questa lettera. Questi non poteva averla avuta che dal Lama stesso a Vienna fra il 1730 e il 1734; attraverso questa scrittura: Agger obiectus cartesianorum vorticum eluvionibus si convertì, dal cartesianesimo, al newtonianesimo.53

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nis Osservazioni enthalten detaillierte Erklärungen zu den wichtigsten Lehrsätzen aus dem ersten Buch der Principia mathematica (zu den Zentralkräften und den Kegelschnitten), zu deren Bedeutung und deren Beweis sowie zu Newtons Gebrauch derselben im dritten Buch der Principia: De mundi systemate (Planetenbewegung). Vgl. Ferrone (1982), S. 47-57 sowie sein Kapitel über Galiani S. 317-454. Vgl. Bibliothèque Italique, Tome XI, Art. I (1731), S. 1-42: Extrait d'une Lettre sur les Objections que font les Newtoniens contre le Système des Tourbillons de Descartes. Vgl. zu den Beziehungen zwischen den Türmer Gelehrtenkreisen und den Journalisten der Bibliothèque Italique, zu der vermuteten Autorschaft und Vermittlung des Article von T\irin nach Genf Crucitti-Ullrich (1974), S. 211, Anm. 1. Da die Artikel der Bibliothèque Italique nicht signiert sind und der Autor des Article von 1731 in den Forschungen von Crucitti-Ullrich nicht eindeutig ermittelt wurde, wird dieser in der vorliegenden Arbeit mit einer stellvertretenden Bezeichnung angeführt. Die Ermittlung einer Autorschaft ist hinsichtlich der Diskussion und Evaluation prinzipieller Fragestellungen und Probleme der Genfer NewtonDebatte nicht unbedingt erforderlich. Sollte die Autorschaft des Article jedoch in Zukunft nachgewiesen werden, müßten einige Überlegungen dieses ersten Teils der Studie erneut überprüft werden. Vgl. Giuseppe Ricuperati: Bernardo Andrea Lama Professore e Storiografo nel Piemonte di Vittorio Amedeo II. In: Bollettino storico-bibliografico subalpino, Anno LXVI (1968), S. 11-101, bes. S. 76-79. Vgl. ebd., S. 19 u. S. 76. Vgl. ebd., S. 77. Die im Turmer Staatsarchiv aufbewahrte Abschrift (vgl. Ms. del Giannone: Agger obiectus Cartesianorum vorticum eluvionibus, mazzo η. 1, inserto

28 Die Rekonstruktion der Wiener Episode zwischen Lama und Giannone habe ergeben, daß Bernardo Andrea Lama der einzige Hiriner Professor gewesen sein könne, den Giannone in Wien getroffen habe, und Ricuperati schließt daraus, daß Lama in seinem Aufenthalt in Wien das Original der Lettre bei sich gehabt und es Giannone gezeigt haben mußte, woraufhin dieser die Lettre abschrieb.54 Die Journalisten der Bibliothèque Italique hatten also nicht nur dieselbe Lettre rezensiert, von der sich Giannone eine handschriftliche Kopie angefertigt hatte, sondern kannten auch Giannones eigene Schriften. 1730 wurde die Istoria civile del Regno di Napoli (Napoli 1723) rezensiert und kommentiert.55 Außerdem fand der >Häretiker< Giannone nach seiner Vertreibung aus Venedig, wo er sich bei seiner Rückkehr nach Italien zuerst aufgehalten hatte und den Fallen der römischen Kurie entwischen konnte, in der toleranten calvinistischen Stadt Genf von Jacob Vernet und Jean Alphons Turrettini vorübergehend Zuflucht, »where a Swiss publisher, Marc Michel Bousquet, was organizing a French translation of his Istoria civile«.56 Bousquet, der in Genf und später in Lausanne Buchdrucker war und in dieser Zeit die Bibliothèque Italique verlegte, ist später zeitweilig auch Hallers Verleger gewesen.57

3. »Atomisierung des Wissens« und wissenschaftshistorische Rekonstruktion - Überlegungen zur methodischen Problemstellung Zu Beginn der 1730er Jahre des 18. Jahrhunderts standen die Cartesianer der Pariser Académie Royale des Sciences in einem ambivalenten Verhältnis zu den Theorien Newtons. In der Zeit nach dem Erscheinen von Newtons Philo-

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n. 19) ist von mir überprüft worden, wobei ich die materielle Identität zwischen dem Article von 1731, der die Argumente der T\iriner Newtonianer darstellt, und der Lettre bzw. ihrer lateinischen Abschrift feststellen konnte. Vgl. Giuseppe Ricuperati: L'Università di Torino e le polemiche contro i professori in una relazione di parte curialista del 1731. In: Bollettino storico-bibliografico subalpino, Anno LXIV (1966), S. 341-374, bes. S. 352. Vgl. Bibliothèque Italique, Tome IX (1730), S. 231-271 und Tome X, S. 1-39. Vgl. Giuseppe Ricuperati: Pietro Giannone: an itinerary in European freethinking. In: Aufklärung als praktische Philosophie, hg. von Frank Grunert und Friedrich Vollhardt, Tübingen 1998, S. 449-458, Zitat S. 454; zum Beitrag von Giannones im Wiener Exil begonnenen antikurialistischen Schrift Triregno zur ersten radikalen Aufklärung< vgl. Ricuperati (1998), bes. S. 450-452. Bousquet wird u. a. in dem Brief Hallers an Marc-Antonio Caldani vom 28. Januar 1758 erwähnt. Vgl. A. v. Haller - M. A. Caldani: Briefwechsel 1756-1776, hg. von Erich Hintzsche, Stuttgart, Bern 1966, bes. S. 36 u. S. 234. Zu den Kontakten Bousquets mit Haller (u. a. Briefwechsel) vgl. Antoinette Dufour: Marc-Michel Bousquet Libraire-Imprimeur 1696-1762, Extrait du Musée Gutenberg N°4, 1939, Bern 1940, bes. S. 9ff.

29 sophiae Naturalis Principia Mathematica im Jahre 1687 in London kamen an den größeren Wissenschaftszentren Europas (Akademien, Universitäten) sowie auch in kleineren an mathematischen und naturphilosophischen Fragestellungen interessierten Gelehrtenkreisen Debatten zustande, deren Gegenstand die Theorien des Mathematikers, Physikers und Naturphilosophen Isaac Newton (1643-1727) bildeten. Das in Newtons Principia mathematica errichtete System der Naturanschauung stellte aufgrund der darin vertretenen erkenntnistheoretischen und naturphilosophischen Grundannahmen die in der cartesianischen Wissenschaft als gültig erachteten Grundannahmen des kosmologischen Systems René Descartes', die dieser in den Principia Philosophiae von 1644 aufgestellt hatte, in Frage. Im Hinblick auf die Erklärung und Lösung kosmologischer Probleme entstand ein Konkurrenzverhältnis, das bis weit ins 18. Jahrhundert hinein andauern sollte. Eric J. Aiton bezeichnet in seinem Buch über die Wirbeltheorie die wissenschaftshistorische Phase zwischen 1728 und 1734 als die Zeit der Versuche der Cartesianer »to Reconcile the Cartesian and Newtonian Theories«.58 Im Rahmen einer wissensoziologischen Fragestellung hat Karl Mannheim (1893-1947) in seinem Beitrag zum 6. Deutschen Soziologentag von 1928 Die Bedeutung der Konkurrenz im Gebiete des Geistigen (publiziert 1929) der Konkurrenz als eine »allgemeine soziale Beziehung« für das »seinsverbundene Denken«, worunter Mannheim u. a. auch das »historische Denken« und das »theoretische Denken« versteht, eine relevante Rolle zugewiesen.59 Der von Mannheim in einer spezifisch soziologischen Perspektive verwendete Konkurrenzbegriff, aufgrund von dem jedes historische, weltanschauliche sowie theoretische Wissen »eingebettet und getragen [ist] vom Machtund Geltungsbetrieb bestimmter konkreter Gruppen, die ihre Weltauslegung zur öffentlichen Weltauslegung machen wollen«,60 läßt sich auch in den wissenschaftshistorischen Kontext der Diskussionen um die Geltung und Suprematie naturwissenschaftlicher Theorien übertragen, die mit den von Mannheim herausgearbeiteten allgemein typischen Merkmalen, welche die Konkurrenz charakterisieren, durchaus strukturelle Ähnlichkeiten aufweisen.61 Die Wissenschaftlergruppen der Cartesianer und der Newtonianer, die gemeinsam mit den den Wissenschaftsbetrieb weitgehend bestimmenden Institutionen als Träger des Konkurrenzverhältnisses fungieren und den Konkurrenzkampf um die Vorherrschaft ihres jeweiligen naturphilosophischen Weltbildes bestreiten, sind demnach die konkreten Protagonisten der NewtonDebatten der Frühaufklärung.

58 59

60 61

Vgl. Aiton (1972), S. 209. Vgl. Karl Mannheim: Die Bedeutung der Konkurrenz im Gebiete des Geistigen. In: V. Meja u. N. Stehr (1982), S. 325-370, bes. S. 330ff. Vgl. Mannheim (1982, '1929), S. 334 u. S. 336. Vgl. ebd., S. 333£

30 In seiner Erörterung des methodischen Problems der Interpretation der geistes- und wissenschaftsgeschichtlichen Situation der Goethezeit (17701830) formuliert Wolfgang Proß die These, daß, »um die Relevanz des naturwissenschaftlichen Materials für die gesamte Epoche festhalten zu können, zunächst einmal nicht von der Opposition von Geistes- und Naturwissenschaften« ausgegangen werden dürfe, sondern stattdessen davon auszugehen sei, daß für diese Epoche »bestimmte Prozesse der Entwicklung des Wissens im Gange« seien, die Proß unter der Herbeiziehung der oben erwähnten Studie von Karl Mannheim mit der von diesem formulierten Wissenstypologie kennzeichnet.62 In der Charakterisierung des Zeitraums, in den auch die hier diskutierte Newton-Debatte fällt, spricht Proß davon, daß das 17. und 18. Jahrhundert »als der Prozeß der Auflösung fester dogmatischer Standorte« begriffen werden könne, »die bis zur Reformation existiert haben« und die Mannheim »als Prozeß der kontinuierlichen >Atomisierung des Wissensinkommensurabel< und das Paradigmamodell für die Darstellung der aus dieser historischen Problemlage resultierenden wissenschaftstheoretischen Fragestellung ungeeignet. Die Cartesianer gingen das Problem erst um 1700 systematisch an.77 Da es Newton selbst gewesen war, der sie in einem Abschnitt des zweiten Buches der Principia mathematica auf das Problem aufmerksam gemacht hatte, kommt man dem wissenschaftshistorischen Geschehen bestimmt näher, wenn folgendes Urteilskriterium berücksichtigt wird: »In judging the Cartesian treatment of the vortex, a comparison should be made, not with 74 75 76 77

Vgl. ebd., S. 192. Vgl. ebd., S. 178, Anm. 1. Vgl. ebd. Vgl. Aiton (1972), S. 260: »Descartes himself did not know Kepler's laws and his earliest disciples, if aware of them, had failed to recognize that these were important details which the vortex theory should attempt to explain.« Baigries Ansatz erklärt allerdings problembewußter, warum Keplers Gesetze vor Newtons Principia für die Cartesianer kein relevantes Problem darstellen konnten.

33

Newton's particle dynamics, but with Newton's own treatment of vortex motion.«78 Und diese Behandlung war, wie später auch der Enzyklopädist und Mathematiker Jean Le Rond d'Alembert feststellen sollte, nicht unproblematisch.79 Aber auf dieser Theoriebene war wenigstens die Möglichkeit des Vergleichs gegeben. Außerdem beanspruchte Newton im Lehrsatz 52 des zweiten Buches der Principia keineswegs, alle Wirbeltheorien widerlegt zu haben und Schloß andere Formen nicht aus: Im Scholium desselben Lehrsatzes äußert er sich über die Bedingungen, die ein Tourbillon erfüllen müßte, um mit dem dritten Keplerschen Gesetz übereinzustimmen. Zudem waren die Cartesianer, v. a. diejenigen, die wie Johann (I) Bernoulli auch die mathematische Kompetenz besassen, um Newtons Principia mathematica zu verstehen, im ersten und zweiten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts primär an der kritischen Auseinandersetzung mit den in den Principia dargestellten mathematischen Methoden und Beweisverfahren interessiert, welche die Basiskonzepte der Naturphilosophie Newtons betrafen. 80 Um die Probleme der Wirbeltheorie im Anschluß an Newtons Kritik kümmerte sich z.B. Johann Bernoulli erst viel später. Es ist - in Ergänzung zu Baigries Überlegungen auch wichtig zu verstehen, warum die Cartesianer, trotz der Relevanz der Probleme, an der Tourbillontheorie festhalten konnten und welches die Argumente waren, die sie bei ihrem Versuch, die Tourbillontheorie in formaler Hinsicht zu verteidigen, leiteten und sie schließlich dazu brachte, die beiden kosmologischen Systeme zu verknüpfen.81 Es ist u. a. Newtons Theorie selbst, die den Cartesianern Argumente geliefert hat: zum einen Newtons problematische Behandlung der Wirbeltheorie in den Principia mathematica, zum 78 79 80

81

Vgl. Aiton (1972), ebd. Vgl. hierzu Teil I, Kap. 1, 3 dieser Studie. Vgl. Guicciardini (1999), S. 216: »It seems that Johann, during the last decade of the seventeenth century, did not devote much attention to the Principia, probably because Newton's natural philosophy was too distant from his Cartesian cosmology. When the priority dispute with Leibniz startet, however, Johann begann a campaign of demolition of Newton's magnum opus. He directed his criticisms towards the basic structure of Book 1: that is, he maintained that Newton had not solved the inverse problem of central forces.« Zu der Analyse dieses bislang wenig berücksichtigten Aspektes der Newton-Debatte vgl. Guicciardini (1999), S. 216-233. In Baigries Ansatz ist die Möglichkeit, die den Cartesianern gegeben war, in der Newton-Debatte sich nicht für Alternativen entscheiden zu müssen, sondern auch >Zwischenpositionen< einzunehmen, nicht weiter erörtert, auch wenn das Problem indirekt angesprochen wird: »It [the problemshift] presented scientist with an option: aligning themselves with the received view of Descartes or adopting the dynamical conception proposed in the Principia. The law of Kepler became the fulcrum of this decision. [...]. That the failure to deal with important problems contributes to the downfall of scientific programmes of research is beyond reproach. But vexing difficulties do not necessitate the abandonement of the theory which cannot disarm them. Each case, I suspect, has to be dealt with in a piecemeal fashion in order to analyze why the objections brought against it proved to be decisive.« Vgl. Baigrie (1987), S. 205f. Über die Bedeutung von >Zwischenpositionen< für die Dynamik des Theorienwandels reflektiert Baigrie aber nicht weiter.

34 andern der Erklärungsbedarf in Newtons Theorie im Hinblick auf die mechanische Ursache der Gravitationskraft, der noch zu leisten war und dem sich bereits der Cartesianer Christiaan Huygens in seinem Discours sur la cause de la pesanteur (Leiden 1690) sowie auch Newton in seinem Œuvre, ζ. Β. in der Ätherhypothese der Opticks, gestellt hatten. D i e Attraktion konnte im Wissenschaftsverständnis der Cartesianer als empirisches Faktum akzeptiert werden, nicht aber als Prinzip oder physikalische Ursache. Dies hielt die Wirbeltheorie als mögliche und sogar als plausible Ursache astronomischphysikalischer Phänomene im Spiel; sie konnte in der Konkurrenz von Ideen und dem Austausch von Argumenten im Kampf um die vom Newtonismus offengelassene >Lücke< ihren Platz halten. Ein solches Bewußtsein drückt sich beispielsweise in Johann Bernoullis an die Adresse der »savante Compagnie« der Pariser Akademie gerichteten einleitenden Bemerkungen zu seiner Schrift Nouvelles pensées sur le système de Descartes et la manière d'en déduire les orbites et les aphélies des planètes von 1730 aus, die im selben Jahr auch den Preis erhielt; insbesondere weist Bernoulli darauf hin, daß er über die Mittel verfüge, um zu zeigen, daß man durch eine adäquate Behandlung des cartesischen Systems in der Lage sei, nicht nur dieselben Phänomene, die Newtons Theorie erklärt habe, ebenfalls zu erklären, sondern auch auf die stärksten Einwände gegen die Tourbillontheorie zu antworten: On sera peut-être surpris, [...], de voir que j'ose reproduire sur la scène les tourbillons célestes, dans un temps où plusieurs philosophes, particulièrement des Anglais, les regardent comme de pures chimères, et n'en parlent qu'avec le dernier mépris; mais la savante Compagnie, à l'examen de laquelle je soumets mes pensées, jugera si on a raison de condamner un système bâti sur des principes clairs et intelligibles, et de lui en substituer un autre fondé sur des principes dont on ne peut se former aucune idée, ce qui en matière de physique me paraît une raison suffisante pour rejeter un tel système, quand il serait au reste le plus heureusement inventé pour l'explication de tous les phénomènes, surtout si on a les moyens en main de faire voir que, par le premier système bien ménagé, on est en état, non seulement de rendre raison de ces mêmes phénomènes, mais aussi de répondre aux objections les plus fortes qu'on a voulu fair valoire en Angleterre comme des armes invincibles contre les tourbillons.82 82

Vgl. Jean Bernoulli: Opera omnia, 4 Bde., Lausanne, Genève 1742, Bd. 3, S. 134. (Zit. nach Brunet (1931), S. 187). Dem jungen Genfer Mathematiker und Journalist der Bibliothèque Italique Gabriel Cramer, der mit seiner Schrift Mémoire sur le Système de Des Cartes, & sur le moyen d'en déduire les orbites & les aphélies des Planètes auch an der Preisfrage von 1730 teilgenommen hatte, verlieh die Akademie 1731 den proxime accessit. Um die wissenschaftshistorische Bedeutung der von der Pariser Akademie preisgekrönten Abhandlung Bernoullis zu verdeutlichen, ist auch Jean Bernoullis eigenes Urteil über seinen jüngeren Konkurrenten zu erwähnen, das der Genfer Naturgelehrte und Bibliothekar Jean Senébier in dem 1786 veröffentlichten dritten Bd. der Literargeschichte der Republik Genf so festgehalten hat: »II [sc.: Cramer] travaille; il se mésure avec Jean Bernouilly, & l'Académie royale des Sciences de Paris lui donna en 1731 le proxime accessit du prix que Jean Bernouilly remporta par un Mémoire sur les orbites des planetes. Mais ne cachons pas le jugement que Bernouilly porta de son Concurrent; je le crois plus glorieux pour lui que le prix qu'il obtint. Bernouilly convint qu'il ne devoit sa couronne

35

Die Position der Cartesianer wird somit im theoretischen Rahmen eines solchen >Lückenfüllproblems< nachvollziehbar und führt auf wissenschaftshistorischer Ebene dazu, zu verstehen und zu rekonstruieren, welche Argumente sie gegen Newtons Kritik anbringen konnten, d. h. in welchem Maße ζ. B. die modifizierten Versionen der Wirbeltheorie mit den Keplerschen Gesetzen in Übereinstimmung gebracht werden konnten und inwiefern dies nicht möglich war.83 Gerade die tragende Rolle, die besonders das dritte Keplersche Gesetz (das sogenannte Abstandsgesetz) bei der Kritik an der cartesianischen Theorie spielte, stellt deshalb ein spezifisches wissenschaftshistorisches und methodologisches Problem dar, da Newtons Theorie und Keplers Gesetze (ebenfalls) nicht vereinbar sind - und gerade dies, also der Übergang von zwei unvereinbaren Theorien, gehört in der modernen Wissenschaftstheorie zu den ersten der Wissenschaftsgeschichte entlehnten Hinweisen, welche die Kritik an einfachen (Deduktions-)Modellen der Theorie-Reduktion und der Theorie-Kumulation untermauerte, und den Versuch der Rekonstruktion dessen initiierte, was I. Bernard Cohen so beschreibt: »[Newton's] law of universal gravitation explains why the planets follow Kepler's laws approximately and why they depart from the laws in the way they do.«84 In Cohens detaillierter Analyse wird der Theorienübergang folgendermaßen rekonstruiert: In der Sektion 11 des ersten Buches der Principia modifiziert Newton das einfache originäre Konstrukt eines Ein-Körper-Systems, in dem Keplers Gesetze gültig sind. Hier illustriert Newton welche Modifikationen bei dem Übergang von einem EinKörper-System zu einem Zwei-Körper-System angebracht werden müssen. Zum Beispiel zeigt er in der Prop. 60, Sekt. 11, daß in einem Zwei-Körper-System mit den Massen S und Ρ das urspüngliche oder einfache harmonische Gesetz a3/!"2 = k komplexer wird, weil in die Gleichung die Planetenmassen eingeführt werden müssen. [...]. Am Ende der Sekt. 11 berücksichtigt Newton das Faktum, daß es nicht nur ein einziges Kraftzentrum (die einzige mögliche Bedingung für die Gültigkeit des Flächengesetzes) für alle Körper in einem Mehr-Körper-System wie das Sonnensystem gibt, und deshalb (Koroll. zur Prop. 68) >werden sich< die Planetenbahnen >Ellipsen annähern< und >die Beschreibungen der Flächen [...] werden einheitlicher seinGravitation< (in Realität, der Masse) des Systems betrachtet wird, das den zentralen Körper (die Sonne) umfaßt plus alle Planeten innerhalb der Umlaufbahn des betrachteten Planeten. 85

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85

qu'aux ménagemens qu'il avoit gardés pour les tourbillons de Des Cartes.« Vgl. Histoire Littéraire de Genève. Par Jean Senébier, Bd. 3, Genève 1786, S. 105. Vgl. Aitón (1972), S. 260: »Newton's arguments against the vortex theory were certainly not conclusive and in the absence of a satisfactory theory of fluid motion, some of the Cartesian attempts to resolve the problems concerning Kepler's laws and the motion of comets were quite plausible.« Vgl. I. Bernard Cohen: Revolution In Science, Cambridge, Massachusetts, London 1985, S. 169. Vgl. I. Bernhard Cohen: The Newtonian Revolution. With illustration of the transformation of scientific ideas, Cambridge 1980; ital. Ausg. Milano 1982, S. 232-296, Zitat S. 292 (meine dt. Übersetzung). Vgl. auch Curtis Α. Wilson: From Kepler's Laws, So-called, to Universal Gravitation: Empirical Factors. In: Archive for History of Exact Sciences, Bd. 6, Ν. 1(1969), S. 89-170.

36 Mit der Formulierung einer alternativen Lösung in Newtons Theorie wurde zwar der Druck auf die Cartesianer erhöht, die Plausibilität ihrer Lösungsansätze blieb jedoch einstweilig erhalten. E s entstand ein Prozeß der Bewahrung alter Vorstellungen und deren Verknüpfung mit der Anpassung an neue Argumente und Entwicklungen. Dies führt die einführenden Überlegungen dieses Abschnittes zu einem letzten Punkt, der grundsätzlich die Interpretationskonzeption des vorliegenden wissenschaftshistorischen Materials reflektieren soll. Anhand des Argumentationsverfahrens der Cartesianer in dieser Newton-Debatte läßt sich der Zusammenhang des aus wissenssoziologischer Perspektive beschriebenen >Atomisierungsprozesses des Wissens< und dem für die wissenschaftstheoretische Fragestellung zugrundegelegten >Lückenmodell< verdeutlichen. Im Prozeß der Auflösung des >festen Standorts Wirbeltheorie< führt das argumentative Verfahren der Cartesianer - im Extremfall - zu der Behauptung der Gleichwertigkeit der theoretischen und methodischen Erklärungsmodelle. Wie die Analyse zeigen wird, vermochten die Genfer Cartesianer die neue Theorie und die auf ihr gebauten Einwände nicht nur zu verstehen, sondern auch aufzunehmen und für den Konflikt unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten anzubieten - so ζ. B. die alte Vorstellung, im theoretischen Teil könnte es sich um divergierende, im empirischen Teil hingegen um äquivalente Theorien handeln. 86 D e r Verfasser des Article von 1731 gibt gleich zu Beginn bezüglich der von ihm verlangten Kommentierung die folgende Redeposition bekannt: Cette Lettre nous vient de Turin; & c'est le résultat de quelques conférences, que deux Savans de cette Université ont eues entr'eux sur le système de Mr. Newton: Elle contient les principales objections que font les Newtoniens contre les Tourbillons de Descartes. Le Public aurait, sans doute, raison de se plaindre de nous, si nous ne lui communiquions pas un Mémoire qui nous vient de si bon lieu. Nous y joindrons nos refléxions, parce que ces Messieurs l'ont exigé de nous; mais il est à propos d'avertir, que malgré ce que nous allons dire en faveur du Système de Mr. Descartes, nous croyons cependant que celui de Mr. Newton lui est préférable à plusieurs égards. (Bibliothèque Italique, Tome XI (1731), Article I, S. If.). 86

Vgl. Lutz Danneberg/Jörg Schönert: Belehrt und verführt durch Wissenschaftsgeschichte. In: Atta Troll tanzt noch. Selbstbesichtigungen der literaturwissenschaftlichen Germanistik im 20. Jahrhundert, hg. v. Petra Imboden u. Holger Dainat unter Mitarbeit von Ursula Menzel, Berlin 1997,13-57, bes. S. 50-52. Diese Feststellung zum (physikalischen) Theorienvergleich führen Danneberg/Schönert auf Vorstellungen Thomas von Aquins zurück, »wenn er einräumt, daß die ptolemäische nicht die einzig mögliche Theorie sei und daß sie durch eine andere ersetzt werden könne«; sie erhält in den Überlegungen Pierre Duhems einen prominenten Platz und wird später »im Anschluß an ihre Radikalisierung durch Willard Van Orman Quine als These der >Unterdeterminiertheit< wissenschaftlicher Theorien in der Wissenschaftsphilosophie erörtert« (S. 50f.). Im Beitrag von Danneberg/Schönert, in dem die Probleme des Verhältnisses von Wissenschaftsgeschichtsschreibung und Wissenschaftsphilosophie erhellend dargelegt werden, ist auch die kritische Diskussion eines Teils der äußerst umfangreichen Literatur zu der genuin wissenschaftshistorischen Theoriedebatte zu verfolgen, wie sie in den beiden letzten Jahrzehnten v.a. in den angloamerikanischen Zeitschriften geführt worden ist.

37

Am Beispiel des Kometenarguments läßt sich das sich hiermit stellende Interpretationsproblem verdeutlichen. Im Kommentar zu dem Einwand der Newtonianer gegen die Kometentheorie des Tourbillonsystems behauptet der Genfer Rezensent die äquivalente Erklärungsfähigkeit der mathematischen Hypothesen der Cartesianer im Vergleich zu den mathematischen Hypothesen Newtons und führt als Beleg seiner Behauptung empirisches Datenmaterial an. Damit stellt der Cartesianer die Behauptung auf, daß zwei Theorien und ihre Methoden, obwohl diese von vollkommen verschiedenen Prinzipien oder Basisannahmen ausgehen, die Erfahrung, d. h. die Kometenphänomene, mit >gleichwertigen< Erklärungsmodellen beschreiben können. 87 Dies bedeutet, daß die Gültigkeit der Forschungsergebnisse der Newtonschen Kometentheorie und die Erklärungsfähigkeit des Newtonschen Methodenmodells zwar anerkannt werden, jedoch wird gleichzeitig dasselbe von der cartesianischen Theorie und Methode behauptet und von da aus auf die Plausibilität des Tourbillonsystems geschlossen.88 Die hier geäußerte Redeposition exemplifiziert gewißermassen die wissenschaftsphilosophische Seite des in historischer Langzeitperspektive verlaufenden Prozesses der >Atomisierung des Wissensunferdeterminiert< nicht >undeterminiertWissenschaften des Lebens< (z. B. in der Fibertheorie Hallers) zukommt. Auch läßt sich anhand dieses Ergebnisses zeigen, daß gegenüber den Versuchen, aus einer Wissen90

Insofern ist der erste Teil dieser Arbeit auch ein Beitrag zur Geschichte der Darstellungsformen naturwissenschaftlicher Theorien und deren Vermittlung im spezialisierten Publikationsmedium der Zeitschriften. Zu diesem bislang wenig erforschten Bereich (natur)wissenschaftlicher Kommunikation und Vermittlung vgl. Lutz Danneberg: Darstellungsformen in Geistes- und Naturwissenschaften. In: Geist, Geld und Wissenschaft, hg. von Peter J. Brenner, Frankfurt/M. 1993, S. 99-137, bes. S. 103ff. u. 112ff.

39 schaftsepisode (evtl. nur für diese gültige) methodologische Kriterien abzuleiten, um mit ihnen dann in wissenschaftsphilosophischer Perspektive normative Äußerungen über »Merkmale von Wissenschaftsentwicklung« im allgemeinen zu machen,91 Skepsis durchaus angebracht ist. Die Konzentration auf die Herausarbeitung methodologischer Normen trifft (implizit oder explizit) immer auch Entscheidungen über den exemplarischen Wert von Wissenschaftsepisoden oder legt die Hierarchie debattierter (relevanter) Probleme von Theorien fest und grenzt (implizit oder explizit)92 damit verknüpfte kontextuelle den Wissenschaftsentwicklungsprozeß ebenso bedingende Faktoren aus oder verstellt von vornherein den Blick auf sie. Denn: Um so detaillierter der wissenschaftshistorische Zugriff wird, desto stärker individualisieren sich die Umstände, desto geringer erscheint die Möglichkeit, die Vergangenheit mit der Gegenwart (oder Zukunft) zu verknüpfen und zu übergreifenden Aussagen zu gelangen. Einmal fixierte Muster verflüchtigen sich mit zunehmender Detailkenntnis. Was vermag eine Wissenschaftsgeschichtsschreibung dann noch anzubieten, um von ihr zur Gegenwartsdiagnose oder zur anzustrebenden Zukunft einer Disziplin zu lernen? Aus Wissenschaftsgeschichte lernt man eben doch nur WissenschaftsgescWc/ife.93

In einem posthum erschienenen Aufsatz hat der französische Wissenschaftshistoriker Jacques Roger für eine aus dieser Feststellung resultierende historiographische Konzeption plädiert; sie lautet schlicht: »Pour une histoire historienne des sciences«.94

91

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93 94

Vgl. Baigrie (1987), S. 202: »We can always be wise after the fact and attribute an inherent significance to Kepler's laws. In so doing, however, we would unwittingly strip this historical episode of its philosophical interest. To submit a >failure< as the reason why an entire group of scholars elected to remain indifferent to Kepler's laws is surely to latch on to a contingent factor, not a feature of the development of science.« Vgl. ebd., S. 206: »However, my concern here is with the transformation of scientific problems, and not with the related but distinct phenomenon of conceptual upheaval.« Vgl. Danneberg/Schönert (1997), S. 55f. Vgl. Jacques Roger: Pour une histoire historienne des sciences. In: Pour une histoire des sciences à part entière, hg. von Claude Blanckaert, Paris 1995, S. 45 - 7 3 .

Erstes Kapitel: Die Diskussion um die Inkompatibilität der Tourbillontheorie mit den Keplerschen Gesetzen

1. Die Kritik der Turiner Newtonianer an der Planetenbewegungstheorie des Tourbillonsystems Descartes' Im Anschluß an die dem Artide von 1731 vorangestellten einleitenden Sätze, in denen die Türiner Lettre vorgestellt und ihre Kommentierung dem Lesepublikum angekündigt werden, behandelt der anonyme Genfer Cartesianer die Einwände (Objections) gegen das Tourbillonsystem Descartes', die von den Newtonianern des Iliriner Athäneums formuliert worden waren. Da er der Darstellung dieser Einwände die Turiner Abhandlung zugrunde legt, beziehen sich seine Ausführungen im Abschnitt des Article, der die materielle Rezeption der Lettre enthält, auf den zuerst angeführten Komplex von Argumenten, der die Planetenbewegung zum Gegenstand hat. Die Argumente der Newtonianer zu diesem Problemgegenstand werden in vier Punkte gegliedert, die den Einwänden I—III und VI entsprechen. Ihre Argumentation, die der Genfer Autor nach seiner Vorlage in paraphrasierender Übersetzung wiedergibt, gründet auf dem Vergleich der Bewegungen, welche die Planeten in Wirklichkeit beschreiben, mit den möglichen oder hypothetischen Bewegungen, die sie gemäß den Annahmen der Planetenbewegungstheorie des Tourbillonsystems ausführen sollen. Die aus dem Vergleich resultierenden Einwände stellen die Newtonianer durch die folgenden Argumente dar: (i)

Der erste Einwand betrifft die bei der Annahme des Tourbillonsystems resultierende Proportionalität zwischen den Umlaufzeiten der Planeten um die Sonne (Revolutionen) und deren Abständen vom Sonnenmittelpunkt. [1731, R (= I. Object.), 2 - 5 ] 1

1

Die hier zur Bezeichnung und Lokalisierung der Textstellen des Article verwendete Sigle setzt sich aus dem Erscheinungsjahr des Artide in dem Periodikum, der jeweiligen Argumentationszone und der Seitenzahl(en) zusammen. Der Artide enthält zwei Argumentationszonen, wobei die erste Textzone, die mit dem Buchstaben »R« bezeichnet ist, die materielle Rezeption der Hiriner Lettre enthält, während die zweite Textzone, die mit dem Buchstaben »K« bezeichnet ist, sich auf den Kommentar des Genfer Cartesianers bezieht.

41 (ii)

Der zweite Einwand steht in direktem Zusammenhang mit dem ersten und richtet sich gegen die Annahme Descartes', derzufolge die größten Materieteile des Tourbillon die größte Entfernung von dessen Zentrum haben sollen;2 diese Annahme hätte eine Verzögerung der Revolutionen der entferntesten Planeten zur Folge. [1731, R (= II. Object.), 10]

(iii) Der dritte Einwand geht von der Feststellung aus, daß die Planeten in ihrer Bewegung keinen regelmäßigen Kreis beschreiben und daß sie einen Punkt der größten (Aphel) sowie einen Punkt der kleinsten (Perihel) Entfernung von der Sonne aufweisen. Die dabei entstehende Schwierigkeit für die Tourbillontheorie bestehe darin, daß diese Eigenschaft der Planetenlaufbahnen nicht erklärt werden könne, zumal in der cartesischen Theorie angenommen werde, daß eine Flüssigkeit die Bewegung der Planeten verursache, wohingegen diese Unregelmäßigkeit der Planetenbewegung in jeder Hinsicht gegen die einfachsten Gesetze der Bewegung von Flüssigkeiten Verstösse. [1731, R (= III. Object.) 11-13] (iv) Der letzte Einwand dieses Problemgegenstandes richtet sich gegen die Implikationen der konstruktiven Voraussetzungen des Tourbillonsystems, die den Bewegungsgesetzen von Flüssigkeiten vollkommen entgegengesetzt seien, wobei die Schwierigkeit für das Tourbillonsystem sinngemäß so formuliert wird: Wie ist es möglich, daß aufgrund der angenommenen Einverleibung einer Reihe von kleineren Wirbeln in einen großen Tourbillon und der in diesem stattfindenden Bewegungen der kleineren Wirbel um einen in deren Zentrum liegenden Planeten das Tourbillonsystem nicht zerstört werde, da die kleineren Wirbel hinsichtlich von Materiemenge, Geschwindigkeiten, Kräfteverhältnisse und Bewegungsgrößen unterschiedlich dimensioniert seien? [1731, R (= VI. Object.), 31-33] (ν)

Der sechste Einwand enthält die Formulierung einer zusätzlichen Schwierigkeit, die sich auf die unterschiedlichen Einfallswinkel (Inklinationen) der Planeten zur Erdbahnebene (Ekliptik) bezieht: Die Schwierigkeit für die Tourbillontheorie ergebe sich dadurch, daß, wenn davon ausgegangen werde, daß die ganze Tourbillonmaterie sich von Westen nach Osten bewege, indem diese zu der Erdbahnebene parallele Kreise beschreibe, die starke Neigung der Planetenbahnen zu der Erdbahnebene nicht erklärt werden könne. Es gebe keine mechanische Ursache, welche die verschiedenen Einfallswinkel hervorbringen könne, denn wenn sich die Planetenbahnen schneiden, bleibe bei der Annahme der Tourbillon ungeklärt, weshalb die Tourbillonmaterie, deren Bewegung durch die verschiedenen Richtungen der Planetenbahnen bestimmt sei, diese unterschiedlichen Bewegungen beibehalten könne, ohne sie zu beeinträchtigen. [1731, R (= VI. Object.), 34f.]

Im weiteren Verfahren soll nun anhand der I. Objection, in der die Inkompatibilität des Tourbillonsystems mit dem dritten Keplerschen Gesetz dargestellt werden soll, die Transformation dieses zentralen Problems des cartesischen Systems in den einzelnen Argumentationsschritten aufgezeigt werden. Der Gegenstand des ersten Einwandes bildet also das aus den Gesetzen des Tourbillonsystems resultierende Verhältnis zwischen den Umlaufzeiten der Planeten um die Sonne und deren Abständen vom Sonnenmittelpunkt. D i e Argumentation der Turiner Newtonianer gründet im wesentlichen auf den Erklärungen, die Newton im 52. Lehrsatz des zweiten Buches der Principia

2

Der Rezensent weist in einer Fußnote auf den entsprechenden Teil der Principia Philosophiae Descartes' hin, der diese Annahme enthält, wobei die Fußnote den Hinweis »Princip. Philos. Part. III.« gibt.

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mathematica gegeben hat.3 Newton hat in diesem Buch generell die in Widerstand leistenden Medien stattfindende Rotationsbewegung von Körpern mathematisch analysiert und im erwähnten Lehrsatz speziell die dynamischen Bedingungen der Bewegung von Wirbeln erforscht.4 Im Anschluß an die Thematisierung des Problems formulieren die Newtonianer das dritte Keplersche Gesetz, wobei der Name Kepler - anders als in Giannones Abschrift der Lettre - im Artide des Genfer Cartesianers nicht explizit erwähnt wird: On convient que les quarrés des nombres qui expriment les tems pendant lesquels les Planetes font leurs révolutions, ont entr'eux le même rapport que les Cubes des nombres qui désignent les distances de ces Planetes au Soleil [...]. (1731, R, 2)

In dem dritten Keplerschen Gesetz werden die Bewegungen der verschiedenen Planeten des Sonnensystems verglichen. Es besagt, daß, wenn r die mittlere Distanz eines Planeten von der Sonne ist, und Τ dessen Umlaufzeit um die Sonne, so ist der Quotient r 3 geteilt durch T2 für alle Planeten gleich. Aus diesem Gesetz hat Newton (in der Form, in der er es in den Principia mathematica modifiziert hat,5) - in bezug auf das Sonnensystem - das Gravitationsgesetz abgeleitet, das eine umgekehrte Proportionalität gravitierender Massen zum Abstandsquadrat festsetzt. Aus der Verwendung der verbalen Form »on convient«, mit welcher der Genfer Cartesianer die Formulierung des erwähnten Keplerschen Gesetzes einleitet, geht hervor, daß die Keplerschen Gesetze in der zeitlichen Situation dieser Theoriendebatte längst als akzeptiert und etabliert galten und von der wissenschaftlichen Gemeinschaft, zu der sich sowohl die Autoren der Lettre als auch der Genfer Autor zählten, als gemeinsame Basis für Problemlösungen im Bereich der Planetenbewegung vorausgesetzt wurden.6 Im Anschluß an die Formulierung des Abstandsgesetzes wird zu seiner Veranschaulichung ein konkretes Zahlenbeispiel für die Planeten Erde und 3

4

5 6

Vgl. Principia (1726), Lib. II, Sect. IX (= De motu circulan fluidorum), Prop. LH, S. 377ff. Newtons Text wird nach der folgenden historisch-kritischen Ausg. zitiert: Isaac Newton: Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, 2 Bde., The Third Edition (1726), hg. von Alexandre Koyré und I. Bernard Cohen, in Zusammenarbeit mit Anne Whitman, Cambridge 1972. Ergänzend hierzu wird auch die folgende Ausg. der Principia zitiert: Isaac Newton: Die mathematischen Prinzipien der Physik. Übers, u. hg. von Volkmar Schüller, Berlin, New York 1999. Zur Bedeutung der in den Propositiones LI-LH des zweiten Buches der Principia mathematica vorgenommenen Kritik Newtons an dem Tourbillonsystem vgl. Aiton (1972), S. 110-113. Vgl. hierzu die Einleitung zum ersten Teil, 3 dieser Studie. Im Anschluß an die Formulierung der 4. Naturerscheinung im 3. Buch der Principia gibt Newton selbst den Hinweis auf diesen Konsens unter den Astronomen; vgl. Principia (1726), Lib. III, Phaenomenon IV (u. Kommentar), S. 393: »Haec a Keplero inventa ratio in confesso est apud omnes. Eadem utique sunt tempora periodica, eaedemque orbium dimensiones, sive sol circa terram, sive terra circa solem revolvatur. Ac de mensura quidem temporum periodicum convenit inter astrónomos universos.«

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Venus gegeben. Dabei wird auf der Basis von empirischen Daten - die Umlaufzeiten um die Sonne von Erde und Venus sowie die mittleren Distanzen dieser Planeten von der Sonne - unter der Anwendung des genannten Gesetzes eine mathematische Proportion aufgestellt, die den Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen bildet: Par exemple la distance du Soleil à la Terre étant exprimée par le nombre 10., celle du Soleil à Venus sera un plus de 7. * [in einer Randbemerkung wird die Zahl 7,4 genannt], & les Cubes de ces deux nombres, savoir 1000. & 390. seront entr'eux comme les quarrés des tems que ces Planetes employent à faire leurs révolutions; car la Terre employe douze mois, Venus sept mois & demi. Les quarrés de ces nombres sont 144. & 56., or on trouveroit par la régie de trois, que 1000. est à 390. comme 144. est à 56. (1731, R, 2f.)

Die Beschreibung dieser mathematischen Proportion wird im folgenden mit dem Zahlenverhältnis verglichen, das aus der Proportionalität von Umlaufzeiten der Planetenrevolutionen zu den mittleren Distanzen der Planeten von der Sonne resultiert, wenn die konstruktiven Voraussetzungen und die Gesetzmäßigkeiten des Tourbillonsystems berücksichtigt werden. Dies geschieht u. a. durch eine direkte Bezugnahme auf eine Textstelle der Propositio LH, in der sich Newton über eine solche Proportionalität äußert, wobei Newtons Aussagen paraphrasiert und mit einer weiteren mathematischen Proportion ergänzt werden, deren Auflösung eine >falsche< Umlaufzeit für den Planeten Venus ergibt: [...] Mr. Newton prétend que si les Planetes étoient entraînées par un Tourbillon, les tems des révolutions des Planetes & leurs distances du Soleil auroient eu des rapports tout différens de ceux-ci; que les tems des révolutions des Planetes auraient dû avoir entr'eux le même rapport que les quarrés de leurs distances du Soleil:7 Par exemple, le tems que la Terre employe à faire son tour, aurait dû être au tems d'une révolution de Venus comme 100. à 52. qui sont les quarrés de leurs distances du Soleil; & quainsi cette révolution de Venus n'auroit dû être que d'un peu plus de six mois, au lieu de sept & demi. (1731, R, 3)

In der Divergenz zwischen dem dritten Keplerschen Gesetz und der Proportionalität der periodischen Umlaufzeiten von Planeten zu deren Abständen vom Sonnenmittelpunkt, die aus den Voraussetzungen des Tourbillonsystems entsteht, liegt somit nach Newton eine der Hauptschwierigkeiten für die Planetenbewegung in einem Tourbillon. Demzufolge lehnen sich die Türiner Newtonianer in ihrer Schlußfolgerung eng an die im Lehrsatz 52 getroffenen Feststellungen Newtons an: D'où on conclut qu'il n'est pas vrai que les Planetes se meuvent dans des Tourbillons, puisque les tems qu'elles employent réellement à faire leurs révolutions, sont

7

Vgl. Principia (1726), Lib. II, Sect. IX, Prop. LU, Theor. XL, S. 378: »Est igitur tempus periodicum orbis cujusvis DIO [= 3 Punkte auf der Planetenlaufbahn] reciproce ut area Dd2, [= Fläche], hoc est, per notas curvarum quadratures, directe ut quadratum distantiae SD [= Abstand Planet-Sonne], Id quod volui primo dimonstrare.«

44 si différens de ceux qu'elles auraient employés si elles se fussent mues dans des Tourbillons. (1731, R, 3f.) D i e in der Argumentation der Newtonianer mitunter auftretende Unterstreichung der Gegenüberstellung >reale< Umlaufzeiten der Planeten um die Sonne vs. >hypothetische< weist auf ein grundsätzliches Argumentationsprinzip der Newtonianer hin, bei dem es darum geht, bezüglich der Lösungsmethoden kosmologischer Probleme den Unterschied zwischen >realenhypothetischenQue nous abusons des termes de NEWTON, qui par ce frottement, n'a jamais prétendu, que les fluides fussent des Corps rabotteux, mais n'a entendu autre chose qu'une forte compression, comme il paroît par la Proposit. LU. & mille autres endroits de son Livre, & comme il est évident par les Ouvrages des célebres Newtoniens, qui expliquants Newton, ont toûjours supposé avec lui, que les fluides étoient parfaitement polis, sans s'être crus obligés de l'abandonner en ce cas, entre autres CHEYNES & WHISTON, qui tous deux mettent entre les qualités essentielles des Corps fluides, qu'ils ayent une surface parfaitement polieKonkurrenztheorie< - dem Wirbelkosmos Descartes' - Absurdität nachzuweisen. Dieses Ziel hat Newton u. a. im letzten Abschnitt des zweiten Buches sowie in Teilen des dritten, dem die Konstruktion des neuen Weltsystems vorbehalten war, verfolgt, wobei sein Verfahren darin bestand, die Voraussetzungen dieses Kernstücks cartesischer cartes was arguably ignorant of Kepler's laws, the same cannot be said of his followers, a group which included the prominent astronomer, Giovanni Cassini.« Baigrie zufolge, der sich hier in der Terminologie Thomas S. Kuhns ausdrückt, betrachteten die Cartesianer des 17. Jahrhunderts die Keplerschen Gesetze höchstens als »puzzles«, d.h. nach Baigries methodologischer Unterscheidung zwischen >inaktiven< und relevanten naturwissenschaftlichen Problemen, daß »no member of the Cartesian camp regarded Castelet's objection as posing a genuine threat to the core doctrines of Cartesian science; i. e. this anomaly was not treated as the product of a clash between Keplerian astronomy and vortex theory of planetary motions. Provided with the opportunity to examine the many difficulties concerning vortex motion - problems that a consideration of Kepler's laws would have highlighted - the Cartesians elected to remain indifferent towards Kepler's laws« (ebd.). Auf den von Baigrie genannten »clash« sollten die Cartesianer erst durch Newtons Principia (1687) aufmerksam werden.

62 Welterklärung als mit der Wirklichkeit nicht vereinbar zu entlarven. Gernot Böhme hat im Hinblick auf die Auseinandersetzung Newtons mit der cartesischen Naturphilosophie eine grundlegendere These formuliert: Aber Newton [...] betrachtete Descartes' Principia Philosophiae als die eigentliche Konkurrenz. Es ging ihm nicht um eine Mechanik, sondern es ging ihm, wie Descartes, um das Ganze. [...]. Dieser Beitrag [...] tritt damit in Gegensatz zu einer landläufigen Meinung über den Ursprung der Principia, nach der sie ihre Entstehung Newtons Berechnung der Mondbahn und der Bahn anderer Planeten aus dem Abstandsquadratgesetz, also dem Gravitationsgesetz, verdanken. Freilich, diese Auffassung ist auch richtig. Genauer besehen müssen wir für die Entstehung von Newtons Mechanik zwei Quellen nennen. Die eine ist durch die Namen Galilei, Kepler, Huygens, Wallis, Wren, Hooke, bezeichnet. Es ist diese Linie, auf der mathematisch fassbare Erkenntnisse mechanischer Phänomene gewonnen wurden, die dann in allgemeine Gesetze zusammengefasst werden konnten. Dies ist der Weg des induktiven Verfahrens. Aber um überhaupt Phänomene mathematisch fassen zu können und empirisch gehaltvolle Gesetze formulieren zu können, muß man bereits bestimmte Grundbegriffe haben und über Grundgesetze verfügen. Kein wissenschaftliches Phänomen ohne zuvor mathematisierte Begriffe, keine Induktion ohne vorausgesetztes Induktionsprinzip. Das weist auf die andere Quelle für die Entstehung der Newtonschen Mechanik. Sie ist aufs engste mit dem Namen Descartes verknüpft. Newtons Grundbegriffe und Axiome entstammen einem philosophischen Diskurs. Die Schrift De Gravitatione zeigt, daß er sie in argumentativer Auseinandersetzung mit Descartes' >Prinzipien der Philosophie< entwickelt hat. 35

Seine argumentative Auseinandersetzung mit den naturphilosophischen Prinzipien Descates' hat Newton in der Propositio LH des zweites Buches der Principia insofern weiterentwickelt, als er aufgrund der Voraussetzungen der Tourbillontheorie quantitative Aussagen herleitete, die mit dem als erwiesen geltenden Gesetz Keplers, welches (approximativ) das Verhältnis der periodischen Umlaufzeiten der Planeten um die Sonne zu deren Abstand vom Sonnenmittelpunkt beschreibt, im Widerspruch war. Dasselbe Verfahren haben dann auch die Turiner Newtonianer angewendet, deren Argumentation auf Newtons Propositio LII gründete. Im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit diesem Lehrsatz kommt der Genfer Cartesianer aber zum Schluß, daß Newtons Räsonnement über kein solides Fundament verfüge: genaugenommen wird gesagt, daß, wenn Newtons Argumentation solide gewesen wäre, diese das Tourbillonsystem gänzlich unterminiert hätte (1731, K, 9). Damit gesteht der Genfer Autor dem Argument Newtons zwar das Potential einer definitiven Widerlegung des Tourbillonsystems zu, er erkennt aber gleichzeitig auch die Unzulänglichkeit von Newtons Argumentdarstellung. Dieser Umstand war ihm zufolge ein hinreichender Grund, um die Kritik Newtons und den Einwand der Turiner Newtonianer zurückzuwei35

Vgl. Gemot Böhme: Philosophische Grundlagen der Newtonschen Mechanik, bes. Kap. 4. III.: Newtons Entwicklung der Grundlagen der Principia Mathematica in der Auseinandersetzung mit den Prinzipien der Philosophie Descartes. In: Ders.: Am Ende des Baconschen Zeitalters. Studien zur Wissenschaftsentwicklung, Frankfurt/M. 1993, S. 278-295, bes. S. 285-295, Zitate S. 287 u. 294f.

63 sen. Ferner hatte Johann Bernoulli einen beträchtlichen Teil seiner Preisschrift von 1730 dazu verwendet, der Kritik Newtons im 52. Lehrsatz zu widersprechen, indem er als erster N e w t o n s Mathematik in Frage stellte. 3 6 Bernoulli bezeichnete Newtons Räsonnement als ein »>manifest sophism, being based on two propositions equally falseTheorie wissenschaftlicher Rationalität voraussetzt; derzufolge wird alles dies, was von den in ihr ausgedrückten methodologischen Vorstellungen abweicht, also nach der angenommenen Theorie nicht »logisch-argumentativ« ist, zum Residuum erklärt (Residualerklärung). Dies entspricht weitgehend der Auffassung, die Imre Lakatos mit seiner Unterscheidung zwischen >externen< und >internen< Faktoren bei der Erklärung von Wissenschaftsepisoden im Rahmen seiner »Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme« vorgelegt hat und die vielfach, auch im Rahmen des sogenannten »strong programm« der Wissenschaftssoziologie auf Kritik gestoßen ist, (die man nicht teilen muß). Vgl. hierzu Danneberg/Schönert (1997), bes. S. 38f. Nicht geht es aber (für den Wissenschaftshistoriker) darum, dem Genfer Cartesianer Logik oder Unlogik vorzuwerfen, sondern den historisch bedingten Erklärungsgrund (hier im Rahmen der Newton-Rezeption im frühen 18. Jahrhundert) für seine Argumentation deutlich zu machen. Newton hatte im De mundi systemate zur Überprüfung seiner mathematischen Berechnungen der Kometenbewegungen u.a. Halleys Tafeln benutzt; vgl. Principia (1726), Lib. III, Prop. XLI, Probi. XXI, S. 495ff.

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leitung zum ersten Teil dargelegten) >Lückentheorie< erklärbar: Die Gewißheit der Basisannahmen der Newtonschen Theorie wird problematisiert, so daß gemessen am Gewißheitskriterium - in der Perspektive des Genfer Autors auch die Hypothesen zur Erklärung von Kometenphänomenen im Rahmen eines cartesianischen Methodenmodells in argumentativer Hinsicht berechtigt erscheinen, womit die Diskussion auf die Ebene des Vergleichs der Methodenmodelle naturwissenschaftlicher Theorien verlagert wird.

3.

Der Vergleich der Methodenmodelle im Bereich der Kometentheorien

3.1. Die Darstellung des cartesianischen Methodenmodells Der Genfer Cartesianer hatte also im einzelnen eine Argumentation vorzulegen, in der gezeigt werden sollte, daß das Tourbillonsystem und im speziellen die Kometentheorie trotz der relevanten Probleme konkurrenzfähig bleiben konnten. Dies konnte aber nur dann gelingen, wenn er in der Lage war, ein Erklärungsmodell zu liefern, das auf der formalen Ebene die Kriterien einer naturwissenschaftlichen Theorie dahingehend erfüllte, daß es dem empirischen Teil der Kometentheorie Newtons gleichgestellt werden konnte. Zu diesem Zweck greift der Genfer Autor im folgenden auf Forschungsresultate zurück, die im Rahmen eines Erklärungsmodells zustande gekommen waren, das auf einer cartesianischen Methodenkonzeption der Naturwissenschaften gründete. Die Voraussetzung dafür, daß der Genfer Autor dieses Erklärungsmodell zumindest gleichberechtigt neben das Newtonsche Erklärungsmodell stellen konnte, war seine Überzeugung, daß die Grundvorstellung des Newtonschen Systems - und damit meint er die Attraktionstheorie, d. h. die fernwirkenden Kräfte als letztes Erklärungsprinzip, - nicht mehr Gewißheit habe als eine cartesianische Hypothese: Cependant à examiner le fondement de ce Système de Mr. Newton il n'a pas plus de certitude que n'en avoit la supposition qu'avoit fait Mr. Cassini, que les Cometes se mouvoient autour du Soleil dans des routes à peu près circulaires comme les Planetes, puisque cette supposition a pû expliquer aussi-bien que celle de Mr. Newton, les mouvemens apparens des Cometes, & même qu'elle a été assez juste pour les faire prédire à l'avance sans aucune erreur sensible. (1731, K, 19f.)

Die in der Newton-Debatte wohl umstrittenste Frage nach dem certum der Grundannahmen des Newtonschen Systems,17 welche die Cartesianer um 1731 17

Zur Bedeutung der Grundannahmen von Newtons Attraktionstheorie vgl. u.a. Koyré (1965), S. 3-24; ders.: Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum, Frankfurt/M. 1980 (Ί957), S. 147-164 u. S. 186-198; Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Stuttgart 21986, S. 213226; Ed Dellian, Einleitung. In: Isaac Newton: Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie. Ausgew., übers., eingel. u. hg. von Ed Dellian, Hamburg 1988, S. VII-XXXIII; I. Bernard Cohen: A Guide to Newton's Principia. In Isaac New-

78 immer noch als inakzeptabel betrachteten und deshalb zum Gegenstand einer typisierten Kritik an N e w t o n gemacht worden waren, gab d e m Genfer Autor die Möglichkeit, die Theoriendebatte auf das Feld der naturwissenschaftlichen Methoden zu verlagern, von dem aus die Verteidigung des Tourbillonsystems plausibler erscheinen durfte. D i e s e Situation bildete also den neuen Ausgangspunkt der Gegenargumentation. D e r Genfer Gelehrte führt in der oben zitierten Stellungnahme eine v o m Cartesianer Cassini 18 aufgestellte Hypothese über die Kometenbewegung in die Diskussion ein. Er beansprucht für diese, indem er sie mit einer Erklärung Newtons vergleicht und für letztere ebenfalls den Terminus >Hypothese< 19 verwendet, eine im Rahmen einer Theorie der Scheinbewegung 2 0

18

19

20

ton: The Principia. Mathematical Principles of Natural Philosophy, übers, von I. B. Cohen und Anne Withman, in Zusammenarbeit mit Julia Budenz, Berkeley, Los Angeles, London 1999, bes. S. 60-64. Es handelt sich um den prominenten Astronomen Giovanni Domenico Cassini (1625-1712), einer der wichtigsten Theoretiker der Tourbillontheorie in Frankreich. Vgl. Baigrie (1987), S. 198: »Among these astronomers north of the Alps, it is not unreasonable to suppose that many were at least familiar with Cartesian science, if not commited to some versions of the vortex theory. After all, the Paris Observatory was the envy of Europe. Constructed in 1669, it was responsible for the enormous strides made by astronomers in France - by Giovanni Cassini, Jean Picard and Jean Richer, to name just a few.« Der Terminus >supposition< wird hier im modernen Sinne von >Hypothese< verwendet, wobei im Hinblick auf die bekannte Polemik Newtons gegen die Hypothesen der Cartesianer der Suspekt entsteht, daß es sich um eine undifferenzierte Verwendung dieses Begriffs handelt, was auf die terminologische Unschärfe in den methodologischen Diskussionen um die Rolle der Hypothesen in den Wissenschaften des 17. und 18. Jahrhunderts zurückzuführen ist. Dabei hat man oft die Hypothesen in mathematische, physikalisch-astronomische und philosophische eingeteilt, obwohl mehrere Autoren diese Unterscheidung nicht berücksichtigten. Vgl. hierzu N. Rescher: »Hypothese«, »Hypothesis«. In: HWPh, Bd. 3, S. 1261ff. Rescher weist darauf hin, daß sehr umfassende, unterschiedliche Wissensbereiche einschließende >Hypothesen< auch >Systeme< genannt und oft, besonders im 18. Jahrhundert, >Hypothese< und >System< als Synonyma verwendet wurden. Der Genfer Autor unterscheidet selbst zwischen den Begriffen >supposition< und >hypothèsehypothèse< als Synonym von >System< verwendet wird und sich insofern auf die seit dem Ende des 17. Jahrhunderts typisch entgegengesetzten physikalischastronomischen Hypothesen der cartesianischen Tourbillontheorie und der Attraktionstheorie Newtons bezieht, ist im oben zitierten Textabschnitt >supposition< qua >Hypothese< im Sinne eines methodischen Teilschrittes eines naturwissenschaftlichen Erklärungsmodells zu verstehen. Der Terminus >supposition< ist aber aufgrund der unterschiedlichen erkenntnistheoretischen und methodologischen Voraussetzungen der Hypothesenbildung bei Cassini und Newton in den jeweiligen Erklärungsmodellen offensichtlich nicht bedeutungsäquivalent und weist dadurch unterschiedliche, dem Erklärungsmodell entsprechende Wahrheitswerte auf. Der vom Genfer Autor verwendete Terminus >mouvemens apparens< oder >Scheinbewegungen< (in Ergänzung zum Terminus >reale< Bewegung oder Erstbewegung) meint diejenige Bewegung, die von der Erde aus beobachtet wird und mit Bezug auf die reale Bewegung oder Erstbewegung eines Himmelgestirns zu verstehen ist. Die Scheinbewegung ist also nicht diejenige Bewegung, die real geschieht, weil die Erde bei der Beobachtung einer Planetenbewegung stets mitdreht.

79 von Kometen äquivalente Erklärungsfähigkeit. Cassinis Hypothese wird ferner in ihren wesentlichen Elementen expliziert, wobei zugleich die zugrundeliegende Methodenkonzeption des Cartesianers angegeben wird. D i e Hypothese und die von Cassini verwendete M e t h o d e lassen sich demnach in den folgenden Punkten darstellen: (i) D i e Kometen bewegen sich in annähernd kreisförmigen Bahnen um die Sonne; (ii) diese Bewegung verhält sich im wesentlichen wie diejenige der Planeten; (iii) diese Hypothese liefert eine Erklärung für die Scheinbewegung von Kometen; (iv) die hinreichende Genauigkeit dieser Hypothese (»assez juste«) hat die Kometen (als Wirkungen der Hypothese) vorhersagen können, wobei die Fehlerquote (Unregelmäßigkeiten) der Voraussage die Schwelle der Wahrnehmbarkeit nicht überschritten hat. 21 Mithin fußt die in 21

Zur methodologischen Tradition der »Rettung der Phänomene«, zu ihrem Ursprung in den Methodenfragen der antiken Astronomie und ihrem Einfluß auf die neuzeitliche Naturwissenschaft vgl. Jürgen Mittelstraß: Neuzeit und Aufklärung. Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie, Berlin 1970, bes. S. 236-264. Mittelstraß' Beschreibung des griechischen Programms des σώζειν τα φαινόμενα deckt sich in den wesentlichen Punkten mit der vom Genfer Cartesianer skizzierten Forschungskonzeption Cassinis: »Die Unterscheidung zwischen einer wahren und einer scheinbaren Bewegung (a), die Identifikation der wahren Bewegung mit einer konstanten und kreisförmigen Bewegung (b), sowie schließlich die Deutung der scheinbaren Bewegung, eben jener Unregelmässigkeiten, als der wahren Bewegung, wie sie einem Beobachter auf der Erde nur eben erscheint (c), - das sind die drei entscheidenden Bestandteile, die das griechische Programm einer Rettung der Phänomene ausmachen. >Gerettet< sind in diesem Sinne die Phänomene dann, wenn jene Deutung mit Hilfe einer auf konstanten und kreisförmigen Bewegung beruhenden mathematischen Theorie, eines kinematischen Modells nach Art etwa der Eudoxischen Astronomie, gelingt; d.h. mit den Worten des Aristoteles, wenn ein solches Modell >die Phänomene liefertSaving the Appearances< to the Mechanisation of the World-Picture. In: Classical Influences on Western Thought A. D. 1650-1870, hg. von R. R. Bolgar, Cambridge 1979, S. 39-59. Dabei weist Mittelstraß (1979), S. 52ff. auf die verschiedenen Modifikationen des Prinzips der »Rettung der Phänomene« in den methodologischen Ansätzen der neuzeitlichen Naturwissenschaften hin. Er knüpft seine Ausführungen zu den methodologischen Überlegungen in Descartes' naturwissenschaftlichen Schriften unmittelbar an eine von Galilei hinsichtlich der Methoden der Astronomen vorgenommenen Differenzierung an: »Galileo, for instance, always recalls the distinction between pure astronomers, who are dealing with the requirement that appearences be saved, and philosophical astronomers, who >seek to investigate the true constitution of the universes the method of this investigation consisting in the establishment of kinematical models combined with dynamical considerations, i.e. in the application of a modified principle of saving the appearences. Descartes explicitly points to the similarity of such a procedure to the methods of the astronomers.« In der angefügten Fußnote verweist Mittelstraß auf einen Abschnitt aus Descartes' Dioptrik: »La dioptrique. Discours I, in Oeuvres, vol. VI, S. 83: >il n'est pas besoin que i'entreprene de dire au vray quelle est sa nature [sc. of light], & ie croy qu'il suffira que ie me serue de deus ou trois comparaisons, qui aydent a la conceuoir en la façon qui me semble la plus commode, pour expliquer toutes celles de ses propriétés que l'expérience nous fait connoistre, & pour déduire en suite toutes les autres qui ne

80 den Punkten (i) und (ii) dargestellte Hypothesenbildung Cassinis a) auf der Annahme der Kongruenz von kosmologischen Bewegungen und geometrischen Figuren, auf der ein kinematisches Erklärungsmodell auf der Basis von geometrischen Lehrsätzen und mathematischen Konstruktionen für das Phänomen der Kometenbewegung axiomatisch-deduktiv hergeleitet wird, und b) auf dem Vergleich und der Identifikation der unter (i) und (ii) angenommenen kosmologischen Bewegungen. Punkt (iii) gibt den Geltungsbereich des Erklärungsmodells an und die Überlegungen in Punkt (iv) gelten der Überprüfung des Erklärungsmodells (Hypothese) an den Naturphänomenen, die damit eine Kontrollfunktion übernehmen. D i e s war also das Erklärungsmodell, das der Auffassung des Genfer Cartesianers zufolge fähig sein sollte, den Forschungsergebnissen der Newtonschen Kometentheorie gegenübergestellt zu werden, zumal es im Kontext des fortschrittlichen Observatoriums der Pariser Académie des Sciences, w o es konzipiert worden war, dem Kriterium der empirischen Überprüfbarkeit genügen konnte. Der Geltungsanspruch im Hinblick auf das cartesianische Erklärungsmodell kann jedoch nur dann verstanden werden, wenn man das Substrat der Descartesschen Methodologie 2 2 in der naturwissenschaftlichen

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peuuent pas si aysement estre remarquées; imitant en cecy les Astronomes, qui, bien que leurs suppositions soyent presque toutes fausses ou incertaines, toutefois, a cause qu'elles se rapportent a diuerses obseruations qu'ils ont faites, ne laissent pas d'en tirer plusieurs consequences tres vrayes & tres assuréesganz im Gegenteil sind es die Ursachen, die durch die Wirkungen bewiesen werdenwahren Antwort< gelangen zu können,« - ist Engfer zufolge nicht nur im Discours und in den Regulae gegeben, »sondern noch in den Principia, deren programmatische Absicht die Deduktion auch der Naturwissenschaften aus sicheren Prinzipien ist. [...]. Damit scheint hier [sc. in den Principia] wie in den Regulae der Anspruch der Wissenschaft auf sichere Erkenntnis im Descartesschen Sinne für den Bereich der Naturwissenschaften aufgegeben; Descartes ist hier wie dort zufrieden, wenn die von ihm ermittelten Ursachen solche Wirkungen hervorzubringen vermögen, die denen gleich sind, die wir in der Welt beobachten, ohne daß er dann noch weiter fragen könnte, ob sie durch diese oder durch andere Ursachen hervorgebracht sind. [Principes IV 204; AT IX 2, 322]. Damit bezieht Descartes an diesen Stellen die Position eines extremen Empirismus, der noch hinter den bei Zabarella vertretenen Wissenschaftsanspruch des Methodenmodells C zurückfällt [...]: wenn sie [sc. die Hypothesen] die Phänomene richtig voraussagen, dann genügt dies für die Zwecke des Lebens, eben deshalb haben diese Erklärungen für Descartes eine bloß moralische Gewißheit, die für die Praxis hinreicht, aber keinen Anspruch auf unbedingte Wahrheit.« [Principia IV 205; AT VIII1, 327]; alle Zitate nach Engfer (1982), S. 147t

82 sinis enthält unter den Punkten ( i ) - ( i v ) wichtige Präzisierungen, die auf eine solche methodologische Konzeption hinweisen, so daß die vom Genfer Cartesianer vertretene Redeposition aufgrund der methodologischen Tradition der »Rettung der Phänomene« erklärt werden kann. Auch unabhängig von dieser Tradition besteht eine solche methodologische Konzeption im Kern darin, daß eine Theorie die empirischen Daten wiederzugeben hat. Das aus der antiken griechischen Astronomie stammende Prinzip des σωζειν τα φαινόμενα avancierte somit im Laufe des 17. Jahrhunderts unter der Berücksichtigung von dessen Modifikationen in Descartes' naturphilosophischen Schriften zum Basiselement des naturwissenschaftlichen Forschungsprogramms der Cartesianer. Dabei waren zwei weitere Schriften, die Descartes' Methodologie der Naturwissenschaften auch in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts überliefert und weiterentwickelt haben und welche die Cartesianer-Generation, zu der auch der Genfer Gelehrte gehörte, auch noch im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts beeinflußten, von grundlegender Bedeutung. Es war dies zunächst Jacques Rohaults 1671 in erster Auflage erschienener Traité de Physique, der 1674, durch Théophile Bonet ins Lateinische übersetzt, in Genf erscheint und der 1682, also noch vor der Veröffentlichung von Newtons Principia mathematica, auf der Vorlage Bonets in lateinischer Übersetzung auch in London veröffentlicht wird und als erstes systematisches Lehrbuch der cartesischen Philosophie gilt. 25 Das

25

Vgl. Traité de Physique. Par Jacques Rohault. Troisième Edition, revue & corrigé. A Paris. Chez Guillaume Desprez, 31676. Rohaults überaus erfolgreiches Lehrbuch zur Propagierung der cartesianischen Physik (so wie sie sich dem Verständnis Rohaults anbietet, der neuere Entwicklungen im Feld der Experimentalphilosophie berücksichtigt,) gehört zu den zeitgenössischen Schriften - wie etwa die Schrift von Jean de Raey: Clavis philosophiae aristotelico-cartesiana [1654], Editio secunda aucta opusculis philosophicis varii argumenti, Amsterdam 1677 - , die über die Angleichung von aristotelischer Schulphilosophie und Cartesianismus die Akzeptanz des letzteren zu erhöhen versuchen. Eine Pointe für unseren Argumentationszusammenhang könnte nun darin bestehen - und die ähnliche Entwicklung wäre eventuell als Ergänzung, als Parallele zu dem in dieser Theoriendebatte untersuchten Auflösungsprozeß der cartesianischen Naturphilosophie heranzuziehen - , daß Rohaults Werk seine eigentliche Karriere erst später macht: als englische Übersetzung, der Ergänzungen und Erläuterungen beigegeben sind. Das Werk erfährt durch Samuel Clarke gleichsam eine zweifache Übersetzung: in die englische Sprache und in die physikalischen Vorstellungen und Begriffe Newtons: vgl. Jacques Rohault: A System of Natural Philosophy. Translated by John Clarke [1723], New York 1969; vgl. hierzu Michael A. Hoskin: »Mining all within«: Clarkes Notes to Rohault's Traité de physique. In: The Thomist 24 (1951), S. 353-363; Paolo Casini: L'universo-macchina. Origini della filosofia newtoniana, Bari 1969, bes. 112-136. Da Rohaults Buch in England sehr bekannt war - 1735 erschien Clarkes lateinische Version, in den Fußnoten gegenüber derjenigen von 1697 stark modifiziert, in der 3. Aufl. - wurde der Newtonianismus aufgrund der Hinweise Clarkes auf die Newtonsche Physik paradoxerweise in einem cartesianischen Lehrbuch propagiert und die Physik Newtons vielfach auf diesem Wege erlernt. In Clarkes zweiter lateinischer Edition von 1702 »[...] il suo dissenso da Rohault su punti cruciali diventa

83 zweite einflußreiche Werk war Pierre Sylvain Régis' Système de

Philosophie,

das 1690, erst nach zehnjähriger Wartezeit, die Erlaubnis zur Veröffentlichung erhielt. 26 In Paris hatte Régis Jahre zuvor seine cartesianischen Vorlesungen auf B e f e h l des Erzbischofs unterbrechen müssen und konnte seine Schrift nur unter der Auflage veröffentlichen, den N a m e n >Descartes< aus d e m Titel zu entfernen. 2 7 In ihren methodologischen Ansätzen vertraten diese Cartesianer die Auffassung, daß es in d e n empirischen Wissenschaften unvermeidlich sei, Hypothesen zu verwenden. 2 8 Dafür wurde die Ausarbeitung einer Wahrscheinlichkeitstheorie für erforderlich gehalten, die auf der in Descartes' naturwissenschaftlichen Schriften bereits vorhandenen Distinktion zwischen >wahrer< und >gewisser< Erkenntnis in der Mathematik auf der einen Seite und >ungewisser< bzw. wahrscheinlichen Erkenntnis in den Naturwissenschaften auf der andern gründete; denn die Erlangung von >wahrer< und >gewisser< Erkenntnis in den Gegenständen der physischen Welt war für die Cartesianer grundsätzlich problematisch. 2 9

26

27 28

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reciso [...]; i rinvìi a testi newtoniani sono ormai capillari e sistematici.« Vgl. Casini (1969), S. 118. Vgl. Pierre Sylvain Régis: Système de Philosophie, contenant la Logique, la Métaphysique, la Physique et la Morale, Paris 1690. Vgl. Kurd Laßwitz: Geschichte der Atomistik, Bd. 2, Hamburg, Leipzig 1890, S. 409. Vgl. Rohault (31676), S. 20ff.: »L'Obervation que nous venons de faire est de telle importance, qu'elle establit elle seule la vraye methode de philosopher sur les choses particulières. Par là nous apprenons que pour découvrir quelle peut estre la nature d'un sujet, il faut simplement se proposer de trouver en luy une chose qui puisse servir à rendre raison de tous les effets dont l'experience nous fait voir qu'il est capable. [...]. Et ce nous doit estre une regle à observer dans la suite, que si ce que nous avons supposé ou estably pour expliquer la nature particulière d'un Estre, ne satisfait pas à tout ce qui nous en paroist, ou mesme se trouve évidemment contraire à une seule experience, nous devons estimer notre conjecture ou nostre pensée absolument fausse; & au contraire nous devons tenir nostre conjecture pour bien établie, & elle doit passer chez nous pour vray-semblable, si elle s'accorde parfaitement avec tout ce qui nous paroist de cet Etre. [...]. Ainsi, nous nous contenterons pour l'ordinaire de rechercher comment les choses peuvent estre, sans prétendre d'aller jusqu'à connoistre & determiner ce qu'elles sont en effet; aussibien ne voyons-nous pas de repugnance qu'il puisse y avoir plus de diverses causes capables de produire un mesme effet, que nous ne sçaurions trouver de moyens pour l'expliquer.« Vgl. auch Régis (1690), S. 276: »II n'y a rien de plus commun que les hypothèses arbitraires, chacun a droit d'en faire à sa fantaisie: on croît même qu'il est permis d'y employer les imaginations les plus bizarres, pourvû qu'elles servent à expliquer quelques Phénomènes. Un Auteur moderne en a fait cinq pour expliquer un seul phénomène; il est aisé de juger combien il en eût inventé, s'il eût entrepris d'expliquer un corps entier de Physique. [...]. Nous nous servirons donc comme les autres, du droit de faire des hypothèses; Nous prendrons même la liberté de corriger celles qui sont faites, quand nous le jugerons nécessaire: Mais pour n'en établir que d'exactes, nous ferons ensorte qu'elles dépendent absolument des premieres vérités.« Vgl. Régis (1690), S. 275: »Bien que la Physique spéculative ne se puisse traiter que d'une manière problématique, & que tout ce qui est démonstratif ne luy appartienne pas; il faut avoüer pourtant que cette partie de physique, toute incertaine

84 Im Anschluß an die Gleichsetzung der beiden Erklärungsmodelle hinsichtlich der Übereinstimmung von Erfahrungsdaten und der Kometenbewegung setzt der Genfer Cartesianer in einem weiteren Schritt die beiden Systeme der Naturerklärung einander gleich, denn - so kann sein Gedankengang wiedergeben werden - wenn ein Modell hinsichtlich seines Erklärungswertes gegenüber den Fakten mit einer >Konkurrenztheorie< gleichgesetzt werden kann, so können auch die zugrundeliegenden Systeme, die das Erklärungsmodell bzw. die Theorie generiert haben, einander gleichgesetzt werden: Ces deux Systèmes n'ayant donc aucun avantage l'un sur l'autre, & celui de Mr. Newton n'étant pas démontré quoiqu'il ait pû s'accorder avec quelques Observations, puisque l'autre Système a eu ce même bonheur, on n'en peut pas tirer des conséquences démonstratives contre le Système des Tourbillons. (1731, K, 20)

Man könnte nun einwenden, daß diese Aussagen in logischer und methodologischer Hinsicht problematisch sind, da eine >Gleichsetzung< der Systeme die Annahme impliziert, daß wenn eine Theorie mit unterschiedlichen Erfahrungsdaten oder voneinander verschiedene Theorien mit den gleichen Erfahrungsdaten in Übereinstimmung gebracht werden können, dies zugleich auch immer ein Beweis für die Richtigkeit dieser Theorie(n) ist. Dieser Einwand verweist nun aber wieder auf eine methodologische Hintergrundannahme des Genfer Cartesianers, die eine Theorie der möglichen Ursachen einer Wirkung voraussetzt: Für ihn wird eine naturwissenschaftliche Theorie oder eine Hypothese dann >erklärungsfähigsaveGleichsetzung der Erklärungsmodelle< war für den Genfer Autor somit folgendes Anliegen entscheidend: Er wollte auf argumentativem Wege zeigen, daß es grundsätzlich nicht einfach war, gegen das Tourbillonsystem zwingende Argumente und Beweise zu erbringen, wonach dieses durch die Erfahrung widerlegt werden konnte. Dies war eine Hauptmotivation seiner Gegenargumentation zu den Einwänden der Newtonianer.

3.2. Die Darstellung des Newtonschen Methodenmodells Bevor der Genfer Cartesianer auf das Methodenmodell Newtons zu sprechen kommt, schickt er an die Adresse des Lesepublikums eine Bemerkung voraus, in der er über seine zuletzt geäußerte Redeposition reflektiert: Cette Réponse, qui paroitra sans doute singulière à nos Lecteurs, mérite bien que nous la développions un peu plus au long. (1731, K, 20)

Hiermit stellt der Genfer Autor die Frage nach der Glaubwürdigkeit seiner Redeposition und sieht sich durch die Vermutung, daß seine Ausführungen den Leser »sans doute« befremdet haben mögen, in die Lage gezwungen, seine Position gegenüber dem Lesepublikum weiter zu rechtfertigen. Und dies vor dem Hintergrund des anerkannten Faktums, daß Newtons System, trotz unbewiesener Grundannahmen, in der Kometenbewegungstheorie über eine große Problemlösungsfähigkeit verfügte. Seine Argumentation erfolgt auch dadurch, daß eine Reihe von Beobachtungsdaten berühmter Astronomen herangezogen und in quantitativer Hinsicht mit Beobachtungsdaten und Forschungsergebnissen der Kometentheorie Newtons verglichen werden, um dann aufgrund der Konsequenzen dieses Vergleichs die Plausibilität des Arguments der Konkurrenzfähigkeit der neueren cartesianischen Kometentheorien aufrechterhalten zu können. In der weiteren Explizierung seiner Redeposition erachtet er es jedoch zunächst als notwendig, dem Leser darzulegen, wie Newton bei der Entwicklung seiner Kometentheorie methodisch vorgegangen ist. Zu diesem Zweck stellt er im weiteren Verfahren kompetent äußerst differenzierte wissenschaftstheoretische Reflexionen über Newtons naturwissenschaftliche Methodenkonzeption an. Die Überlegungen zu Newtons Methode erfolgen in zwei Teilschritten, wobei der erste eine allgemeine Aussage über seine naturwissenschaftliche Methodologie enthält, während der zweite Teilschritt darstellt, wie der englische Mathematiker sein Verfahren anhand der Erklärung der Kometenbewe-

30

Vgl. Alistair C. Crombie: Medieval and Early Modern Science, Bd. 2, New York 1959, S. 208. Vgl. auch Danneberg/Schönert (1997), S. 51, Anm. 141.

86 gung exemplifiziert. Die Überlegung des ersten Teilschrittes nimmt insofern indirekt auf das Beweisverfahren Newtons Bezug, als dieses von apriorischen Beweis verfahren abgesetzt wird, deren Hauptmerkmal kurz beschrieben wird: Et I o . il ne faut pas s'imaginer que Mr. Newton prouve son Système à priori, c'està-dire, par des principes indépendans de ce Système même; point du tout, [...]. (1731, K, 20)

Diese Aussage des Genfer Cartesianers knüpft an einen zentralen Aspekt des naturwissenschaftlichen Methodenmodells Newtons an und gibt implizit einen klaren und zunächst ex negativo formulierten Hinweis auf das Newtonsche Beweisverfahren: Newton beweise sein System nicht nach einem apriorischen Verfahren. Die Stellungnahme expliziert ferner das wesentliche Merkmal des apriorischen Beweisverfahrens: Ein Verfahren, das ein System apriorisch beweist, gehe notwendig von Prinzipien aus, die vom System selbst unabhängig seien. Aus dieser Aussage geht weiterhin die ihr zugrundeliegende Annahme hervor, daß ein apriorisches Verfahren den Anspruch habe, alle Sätze eines physikalischen Systems apriorisch-deduktiv aus ersten physikalischen Prinzipien abzuleiten und damit gleichzeitig zu beweisen. 31 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen schließt der Genfer Autor, daß es falsch sei, zu glauben, Newton habe ein derartiges Beweisverfahren angewendet. Es soll nun die Aussage des Cartesianers positiv umformuliert und ergänzt werden: Newton beweist sein System aufgrund (mathematischer) Prinzipien, die durch eine dem System zugrundeliegende Methode, nach der Erfahrung analysiert wird, erst entdeckt werden, so daß diese Prinzipien nicht unabhängig vom System sind, sondern das System erst konstituieren. Diese Umformulierung weist somit in nuce auf die induktive Beweisart des naturwissenschaftlichen Methodenmodells Newtons hin. 32 31

Die Verbindungen des »Beweises a priori« mit dem Anspruch Descartes', die Naturwissenschaften »im Sinne seines wissenschaftlichen Ideals der unbedingten Gewissheit« (vgl. Engter (1982), S. 148) zu begründen, ist damit hergestellt. Dadurch nämlich, daß der Genfer Cartesianer das Beweisverfahren Newtons von einem apriorischen Beweis absetzt, weist er implizit darauf hin, daß Descartes und die Cartesianer einen derartigen Beweis für ihre physikalischen Theorien in Anspruch genommen haben. Vgl. Engfer (1982), S. 149f.: »In den Meditationen nämlich werden nach der Erkenntnis Gottes nicht nur die Sätze der Mathematik als klar und deutlich erkennbare Wahrheiten erwiesen, sondern auch Grundsätze der Physik wie der von der Existenz der Körper und der von ihrem Ausgedehntsein. Und dies führt dazu, daß Descartes in den Principia den Anspruch erhebt, ausgehend von solchen als unbedingt wahr erkannten Grundsätzen die Physik als deduktiv aufgebaute Wissenschaft zu entwickeln, in der [...] Wirkungen aus den Ursachen und also [...] durch >Beweise a priori< erkannt werden. [...]. In diesem Sinne erheben die Principia den Anspruch, vollkommenes Wissen, und das heißt, Ableitungen aus ersten Ursachen und Prinzipien, zu bieten. [Principes Préf.; AT IX 2,2]; zit. nach Engfer (1982), S. 149, Anm. 26.

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Vgl. Newtons IV. Regula philosophandi in dem Regelkorpus zur Erforschung der Natur, den er dem dritten Buch der Principia mathematica vorangestellt hat. In

87 Diese sowohl expliziten als auch impliziten methodentheoretischen Aussagen des Genfer Cartesianers sind wissenschaftshistorisch insofern relevant, als sie diese Theoriendebatte um eine wichtige Dimension erweitern: Sie weisen den Leser auf die Existenz unterschiedlicher Methodenmodelle der naturwissenschaftlichen Forschung hin sowie auf deren Konkurrenz untereinander. Damit knüpft die Thematisierung des »Beweises a priori« zum einen an Descartes' Konzept der »Metaphysik der Natur«33 an und weist auf die diesem Leitsatz erklärt Newton, daß man »in der experimentellen Physik [...] die durch Induktion aus den Naturerscheinungen erschlossenen Sätze, trotz widersprechender Hypothesen, solange entweder für vollkommen oder annähernd wahr halten [muß], bis einem andere Naturerscheinungen begegnet sind, durch welche sie entweder noch genauer werden oder durch welche sie Einschränkungen unterworfen werden.« Dies müsse so sein, »damit ein Induktionsschluß nicht durch Hypothesen entkräftet werden kann.« Vgl. Principia (1726), Lib. III, Regula IV, S. 389; Ausg. Schüller (1999), S. 381. Engter (1982), S. 89-102 verbindet die von Newton in den verschiedenen Ausgaben der Principia und der Opticks vorgelegten methodologischen Reflexionen zu einem naturwissenschaftlichen Forschungsprogramm mit der Tradition des regressus-Modells der empirischen Naturwissenschaften. Engter zufolge trete das regressus-Modell aufgrund der Ähnlichkeit der äußeren Struktur mit dem Papposschen analytischen Methodenmodell der antiken Geometrie mit diesem in Konkurrenz und werde häufig damit verwechselt und identifiziert. Ferner bilde sich das regressus-Modell heraus, »wenn die für die Naturwissenschaften ursprünglich angenommene Methodenvielfalt auf die beiden bei Aristoteles unterschiedenen Beweisgänge der demonstratio quia [...] und der demonstratio propter quid [...] reduziert wird, und wenn diese beiden Beweisgänge mit den ersten beiden von Galen angegebenen Lehrarten identifiziert und als doctrina resolutiva und doctrina compositiva bezeichnet werden.« Über die methodologischen Reflexionen des Renaissance-Aristotelikers der Paduaner Schule Iacopo Zabarella, auf den das regressus-Modell zurückgeht, und Galileis, durch dessen Modifikationen einzelne Teilschritte des Modells inhaltlich unterschiedlich interpretiert wurden, avanciere das resolutiv-kompositive Methodenmodell nach Newton zum vorherrschenden Programm der neuzeitlichen empirischen Wissenschaft. Vgl. ebd. 33

Vgl. Mittelstraß (1970), S. 335ff. Engfer (1982), S. 1481 weist darauf hin, daß sich das rationalistische Verständnis Descartes' gegenüber den Naturwissenschaften sich tendenziell bereits in den Regulae findet, »wo Descartes sich auch gegenüber den unvollständig verstandenen Problemen der Naturwissenschaft auf die Erkenntnis der einfachen und an sich selbst bekannten Naturen und also auf die irrtumsfreie Erkenntnis des intuitus« beruft [Regulae XII; AT X, 427; zit. nach Engfer (1982), S. 148, Anm. 23]. Einen ähnlichen Anspruch erhebt Engfer zufolge Descartes im Discours: »zwar habe er in seinen physikalischen Schriften bestimmte Sätze bloß als Hypothesen eingeführt und nicht bewiesen, aber dies sei nur aus pädagogischer Absicht gegenüber seinen Lesern und insbesondere gegenüber seinen ihn oft vorschnell verstehenden Anhängern geschehen: in Wirklichkeit glaube er, seine Hypothesen nicht bloß an den Wirkungen zu bestätigen, sondern sie aus den ersten Wahrheiten, die er vorher erklärt habe, ableiten zu können.« [Discours VI; AT VI, 76; zit. nach Engfer (1982), S. 149, Anm. 24]. Vgl. auch ebd., S. 150: »Diesen Anspruch auf einen deduktiven Aufbau der Physik aus metaphysischen Prinzipien aber kann Descartes bei der wirklichen Durchführung in den Teilen II bis IV der Principia natürlich nicht durchhalten; er muß ständig auf empirische Tatbestände und auf unausgewiesene Hypothesen zurückgreifen, wenn er Phänomene wie die Planeten, die Gezeiten oder sogar Salzlager erklären will.«

88 metaphysische Basis der Descartesschen Physik und Kosmologie hin, 3 4 zum andern dient sie als Einstieg in die Darstellung des naturwissenschaftlichen Methodenmodells Newtons, das von d e m einflußreichen Methodenmodell der Cartesianer, die der einen oder der anderen modifizierten Version der Tourbillontheorie verpflichtet waren, 35 deutlich unterschieden wird und zu diesem in ein Konkurrenzverhältnis gesetzt wird. D i e Überlegungen des zweiten Teilschrittes bilden ferner eine skizzenhafte Darstellung des resolutiv-kompositiven Methodenmodells Newtons, 3 6 das in seinen verschiedenen Phasen und Teilschritten sorgfältig expliziert wird. D e m Genfer Cartesianer zufolge beginnt N e w t o n damit, daß er sein System als wahr setze: 3 7 34

Vgl. Mittelstraß (1970), S. 327ff.: »Die Grenzen methodischer Klarheit schon wieder überschreitend versteht Descartes unter einer vernünftigen Begründung der Physik ihre erneute Fundierung durch Metaphysik, während Galilei sich mit einem einsichtigen Zusammenhang seiner Sätze zufriedengibt« (S. 328). Vgl. auch Engfer (1982), S. 150t; Mittelstraß (1979), S. 45f. führt Descartes' Annahme, daß die Natur selbst durch die geometrische Eigenschaft der Ausdehnung hinreichend bestimmt sei auf dessen Konfundierung bzw. Identifikation der Galileischen Beschreibung der Methode der Physik mit Eigenschaften von Dingen, die Gegenstand dieser Methode sind, zurück: »According to Descartes, nature itself is defined by the property of extension [...]. Descartes knows that in Galilean physics statements about nature rest upon the measurement of geometrical quantities. Those quantities determine what a »physical entity< is. From this Descartes concludes that nature itself is adequately determined by the geometrical property of extension; the description of a method is identified with a statement about the structure of its objects.«

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Aiton weist darauf hin, daß »the metaphysical basis of Descartes' cosmology, however, was generally relegated to a subordinate place by his followers. But the idea of the vortices caught the imagination and the Cartesian explanation of the planetary motion soon became widely accepted.« Vgl. Eric J. Aiton: Newton and the Cartesians. In: School science review, 40 (1959), S. 406 -413, bes. S. 407. Engfer (1982), S. 100 führt aus, daß zum einen Newton »seine Principia mathematica nach dem Vorbild der Galileischen Mechanik als axiomatisches System mit vorangestellten Definitionen und Axiomen« baue, »aus denen mit Hilfe mathematischer Ableitungen Theoreme ermittelt wurden«, zum andern aber sieht Engfer die »durch Axiomatisierung und Mathematisierung bestimmte Entwicklung der neuzeitlichen nachgalileischen Physik »[...] von einer empiristischen Methodendoktrin begleitet, in der das theoretische Moment weitgehend übersehen oder sogar ausdrücklich geleugnet« werde. Dafür sei das wissenschaftliche Methodenmodell Newtons das beste Beispiel: »In der Vorrede zur ersten Auflage eben dieses durch seinen axiomatischen Aufbau bestimmten Werkes beschreibt Newton die benutzte Methode ganz im Sinne Zabarellas bloß als resolutiven Aufstieg von den Phänomenen zu den Kräften der Natur und als demonstrativen Abstieg von diesen Kräften zu den übrigen Phänomenen und läßt den axiomatischen Aufbau seines Werkes und seine mathematischen Ableitungen völlig unerwähnt.« Vgl. Principia (1726), Auctoris Praefatio ad lectorem (1686), unpag.: »Omnis enim philosophiae difficultas in eo versari videtur, ut a phaenomenis motuum investigemus vires naturae, deinde ab his viribus demonstremus phaenomena reliqua.«

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Zur Bedeutung der Identifikation von >wahr< mit >mathematisch< in Newtons Principia vgl. Koyré (1957), dt. Übers. (1980), S. 147f£ Gernot Böhme zufolge hat Newton »objektiv [...] die Basis dafür gelegt, wahr mit mathematisch zu identifizieren. [...]. Traditionell waren alle Phänomene bloß apparens, bloß Erscheinungen der

89 [...] il commence par poser son Système pour vrai; il examine ensuite comment on pourroit par ce Système fixer la route d'une Comete en conséquence de trois Observations que l'on en feroit; & et la preuve unique que son Système est vrai, c'est qu'il fait voir qu'en quelques occasions la route que la Comete a suivie, a été conforme à celle qu'il lui avoit tracée en vertu de ce Système. (1731, K, 20f.) U m verstehen zu können, wie der Genfer Autor das Methodenmodell N e w tons zur Bestimmung von Kometenbahnen interpretiert, ist es zunächst nützlich, den Gehalt des soeben zitierten Textabschnitts mit Hilfe einer paraphrasierenden Übersetzung zu verdeutlichen. D e r Cartesianer unterscheidet generell zwei Phasen: N e w t o n prüft in einer ersten Phase ( A ) , wie man aufgrund seines Systems (oder seiner mathematischen Theorie) die Bahn eines Kometen im Anschluß an drei Beobachtungen der Kometenbewegung bestimmen kann. N e w t o n zeigt ferner in einer zweiten Phase (B), daß in mehreren Fällen die v o m Kometen (in Wirklichkeit) durchlaufene Bahn mit derjenigen übereinstimmt, die er aufgrund seines Systems (mathematisch) entworfen hat. D i e s sei der einzige Beweis, daß sein System wahr, d.h. mathematisch »wahr«, sei. 3 8 D i e Phase ( A ) des Newtonschen Modells wird vom Genfer Gelehrten als Analyse von Beobachtungsdaten aufgrund eines mathematischen Systems interpretiert. 39 In diesem System werden die beobachteten Längen (Raum) des

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dahinterliegenden wahren Ursache. Die Mathematik hatte die Aufgabe, die Phänomene zu retten, d.h. von ihrer Faktizität konsistent Rechenschaft zu geben. Bei Newton erstmals erhält die mathematische Wissenschaft die Rolle, in der Menge der möglichen Ansichten der Welt die wahre auszuwählen. Was überhaupt Phänomen ist, legt die mathematische Wissenschaft fest und zwar dadurch, daß sie, was erscheint, mit Hilfe der Begriffe des absoluten Raumes, der absoluten Zeit und der absoluten Bewegung bestimmt [...]«. Vgl. G. Böhme: Die kognitive Ausdifferenzierung der Naturwissenschaft - Newtons mathematische Naturphilosophie. In: Gernot Böhme/Wolfgang van den Daele/Wolfgang Krohn: Experimentelle Philosophie. Ursprünge autonomer Wissenschaftsentwicklung, Frankfurt/M. 1977, S. 237-263, Zitat S. 252. Die Aussage des Genfer Cartesianers nimmt explizit auf eine Stelle der Principia Bezug, in der Newton seine mathematische Methode anhand der Bestimmung von Kometenbahnen exemplifiziert. Vgl. Principia (1726), Lib. III, Prop. XLI, Probi. XXI, S. 492f. Das im 41. Lehrsatz gestellte Problem wird von Newton folgendermaßen formuliert: »Aus drei gegebenen Beobachtungen bestimme man die Bahnkurve eines auf einer Parabel bewegten Kometen. Als ich mich diesem außerordentlich schwierigen Problem auf verschiedene Weisen zu nähern versuchte, habe ich im ersten Buch einige Probleme formuliert, die sich auf seine Lösung beziehen. Später habe ich mir die folgende ein wenig einfachere Lösung einfallen lassen. Man wähle drei Beobachtungen, die voneinander durch annähernd gleich große Zeitintervalle entfernt sind. Jenes Zeitintervall aber, in welchem sich der Komet langsamer bewegt, sei ein wenig größer als das andere, nämlich so, daß sich die Differenz der Zeiten zur Summe der Zeiten wie die Summe der Zeiten zu ungefähr sechshundert Tagen verhält [...].« Zit. nach der Ausg. Schüller (1999), S. 477. Zum mathematischen Ansatz Newtons vgl. Kondylis (21986), S. 227: »[...] Newton macht den ersten Versuch, die zeitgenössischen Theorien von der Korpuskularbewegung mathematisch zu behandeln, die von Nicht-Mathematikern wie Gassendi und Boyle - und zwar im Rahmen einer gegen den cartesianischen Mathematizis-

90 Kometen, die zwischen diesen Beobachtungen verflossene Zeit und die Abstände des Kometen zu Erde, Sonne und anderen Fixsternen usw. durch Buchstaben und Zahlen mit mathematisch-geometrischer Symbolik ausgedrückt. Die methodischen Teilschritte dieser Phase lassen sich folgendermaßen darstellen: (i) Anhand einer graphischen Darstellung werden die mathematischen und geometrischen Relationen dieser Beobachtungsdaten untersucht und in die algebraische Sprache übersetzt, wodurch sich durch Berechnung und Konstruktion Kometenorte in der Ebene der Ekliptik bestimmen lassen.40 (ii) Der Beweis dieser Konstruktion ergibt sich aus den vorangehenden Lehrsätzen desselben Abschnitts, in denen Newton a) die parabolische Bewegung von Kometen graphisch dargestellt und mathematisch beschrieben hat (Lemmata VII-X) und b) mit Verweis auf die im ersten Buch der Principia mathematica durchgeführte Transformation der Keplerschen Gesetze41 und das aus ihnen abgeleitete universale Gravitationsgesetz die dynamischen Bedingungen (die mathematischen Massenpunkte und Kräfte) der parabolischen Bewegung angegeben hat (Lemmata I V - V I u. X-XI). 4 2 Die Phase (B) wird vom Genfer Autor als die experimentelle Phase des Newtonschen Methodenmodells interpretiert, in der die Ergebnisse der mathematischen Analyse der Beobachtungsdaten mit den Naturerscheinungen selbst verglichen werden. Aufgrund einer gründlichen Kenntnis der Beispiele des Newtonschen Kometenkapitels werden zudem die geringen Abweichungen der Berechnungen von den tatsächlichen Beobachtungen in der Natur unterstrichen: C'est ce qu'il a fait voir par ses calculs sur la Comete de 1680 dont il donne une vingtaine d'Observations, qui véritablement s'écartent peu de son calcul, celle qui s'en écarte le plus n'allant pas à demi degré d'erreur. (1731, K, 21)

Die methodischen Teilschritte dieser Phase lassen sich demnach folgendermaßen darstellen: (i) Newton nimmt auf den Kometen von 1680 Bezug, dessen Bewegung er anhand der Halleyschen und der von ihm selbst erstellten Tafeln beschreibt; die Bewegung wurde aufgrund von Beobachtungen bestimmt, d. h.

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mus gerichteten empiristischen Korpuskularphysik - entworfen und trotz der vorangegangenen Mathematisierung der Bewegung durch Galilei noch nicht mathematisch formuliert worden waren.« Vgl. Principia (1726), Lib. III, Prop. XLI, Probi. XXI, S. 492-495; Ausg. Schüller (1999), S. 477-480. Zur Bedeutung der demonstratio geometrica< bei Johannes Kepler vgl. Hermann Schüling: Die Geschichte der Axiomatischen Methode im 16. und 17. Jahrhundert, New York, Hildesheim 1969, S. lOlf. Schüling weist darauf hin, daß Kepler in dauernder Überprüfung der hypothetischen Formen an den Beobachtungen die Ellipsenform der Planetenbahnen erkannt habe. Zu den Bezugnahmen Newtons auf die Berechnungen der Kegelschnitte (Ellipsen, Parabeln usw.) unter Berücksichtigung dynamischer Verhältnisse von sich bewegender Körper (z. B. die Zentripetalkraft) im ersten Buch vgl. Principia (1726), Lib. III, Prop. XL, Theor. XX, S. 485f.

91 durch Messungen berechnet.43 (ii) Die auf Tafeln festgehaltenen Orte der Fixsterne und der Kometen werden mit Buchstaben benannt und, nachdem sie durch einen gesetzten Maßstab in ihrer gegenseitigen Lage bestimmt worden sind, graphisch dargestellt.44 (iii) In Abhängigkeit von dem gegebenen Maßstab definiert Newton die durch eigene Beobachtung ermittelten Kometenorte und bestimmt gleichermaßen ihre Abstände von den jeweils naheliegenden Fixsternen 45 (iv) Aus den in (i) erwähnten Beobachtungen werden durch Konstruktion und Kalkül die Längen und Breiten des Kometen bestimmt 46 (v) Newton legt nun die Bahn des Kometen fest, indem er drei Beobachtungen von John Flamsteed und Halley auswählt und dadurch für die in Punkt (i) der Phase A theoretisch bestimmten Relationen Werte erhält; durch die Anwendung dieser Werte findet er die astronomischen Daten der Kometenbahn.47 (vi) Um schließlich zu erfahren, ob der Komet wirklich die auf diese Weise gefundene Bahn durchläuft, bestimmt Newton teils durch arithmetische teils durch graphische Operationen einige Kometenorte auf dieser Bahn und zwar für die Zeitpunkte einiger der angestellten Beobachtungen; die numerischen Ergebnisse des Vergleichs zwischen den berechneten und den beobachteten (= gemessenen) Daten der Kometenbewegung und ihren Differenzen werden ferner detailliert kommentiert und auf Tafeln festgehalten.48 Newton schließt die Darstellung seiner Methode mit der folgenden Bilanz: Die Beobachtungen dieses Kometen stimmen von Anfang bis Ende mit der Bewegung des Kometen auf der soeben beschriebenen Umlaufbahn ebenso gut überein, wie die Bewegungen der Planeten für gewöhnlich mit ihren Theorien übereinstimmen, und durch diese Übereinstimmung beweisen sie, daß es ein und derselbe Ko43

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Vgl. Principia (1726), Lib. III, Prop. XLI, S. 495; Ausg. Schüller (1999), S. 480-482: »Der Komet aus dem Jahre 1680 soll nun betrachtet werden. Seine von Flamsteed beobachtete und aus den Beobachtungen berechnete Bewegung, die von Halley aufgrund der gleichen Beobachtungen verbessert wurde, wird in der folgenden Tabelle dargestellt. [...]. Zu diesen Beobachtungen seien noch einige von unseren hinzugefügt. [...]. Diese Beobachtungen wurden mit einem fünf Fuß langen Fernrohr ausgeführt und einem Mikrometer, dessen Fäden sich im Brennpunkt des Fernrohres befanden. Mit Hilfe dieser Instrumente haben wir die gegenseitigen Stellungen der Fixsterne und die Stellungen der Kometen zu den Fixsternen bestimmt.« Vgl. Principia (1726), Lib. III, Prop. XLI, S. 496f.; Ausg. Schüller (1999), S. 480-482. Vgl. Principia (1726), Lib. III, Prop. XLI, S. 496-499; Ausg. Schüller (1999), S. 482486. Vgl. Principia (1726), Lib. III, Prop. XLI, S. 499; Ausg. Schüller (1999), S. 484: »Aus solchen Beobachtungen leitete ich mit Hilfe von Konstruktionen der Figuren und Rechnungen die Längen und Breiten des Kometen her. Unser Landsmann Pound verbesserte die Orte des Kometen aufgrund verbesserter Orte der Fixsterne, und so erhielt man die obigen verbesserten Orte. Ich benutzte ein recht unvollkommen gebautes Mikrometer, aber trotzdem überschreiten die Fehler der Längen und der Breiten kaum eine Minute, soweit sie von unseren Beobachtungen herrühren.« Vgl. Principia (1726), Lib. III, Prop. XLI, S. 499f.; Ausg. Schüller (1999), S. 485-489. Vgl. Principia (1726), Lib. III, Prop. XLI, S. 500-502; Ausg. Schüller (1999), S. 489494.

92 met gewesen ist, der in dieser ganzen Zeit erschienen ist, und daß seine Umlaufbahn hier richtig bestimmt worden ist.49

Der Genfer Cartesianer verfolgt das methodische Verfahren Newtons auch im darauffolgenden Lehrsatz des Kometenabschnitts der Principia, in dem Newton versucht, die gefundene Bahn eines Kometen zu verbessern, und in dem er zudem die Berechnungsergebnisse für die Kometen aus den Jahren 1664, 1682 und 1683 angibt, für die er parabolische Bahnen angenommen hatte.50 Aufgrund seiner Ausführungen gelange Newton folglich zum Schluß »qu'un accord si juste entre le Fait & sa Supposition, doit mettre sa Supposition hors de doute« (1731, K, 21).51 3.3. Die Interpretation des Newtonschen Methodenmodells und die problematische >Gleichsetzung< der Erklärungsmodelle Unter dem Terminus supposition, der in der oben zitierten Textstelle der Lettre durchaus im modernen Sinne von >Hypothese< verwendet wird, versteht der Genfer Autor somit Newtons Erklärungsmodell und identifiziert dieses mit der mathematischen Analyse der Phase (A) des oben dargestellten Newtonschen Methodenmodells. Dies bedeutet, daß Newtons Erklärungsmodell primär als mathematisches Erklärungsmodell (oder als mathematische Hypothese) interpretiert wird. Diese Auffassung des Begriffs supposition dürfte somit auch die vom Genfer Autor geäußerte Behauptung von der äquivalenten Erklärungsfähigkeit< des cartesianischen Erklärungsmodells im Vergleich zu der Newtonschen Kometentheorie aufschlüsseln: Im Anschluß an die Stellungnahme des Cartesianers, in der referiert wird, daß Newton die Übereinstimmung zwischen den mathematischen Voraussagen (oder mathematischen Hypothesen) seines Systems und dem effektiven Datenmaterial der Erfahrung konstatiere und daraus schließe, daß seine Theorie außer jedem Zweifel stehe, wird bemerkt: Mais pareil bonheur est arrivé à Mr. Cassini, comme nous l'avons dit, en suivant un principe tout différent, & précisément pour les mêmes Cometes; [...] n'y en a-t-il point assez pour rendre l'une & l'autre des suppositions douteuses? (1731, K, 21)52 49 50 51

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Vgl. Principia (1726), Lib. III, LXI, Prop. XLI, S. 502; Ausg. Schüller (1999), S. 490. Vgl. Principia (1726), Lib. III, Prop. XLII, S. 518ff.; Ausg. Schüller (1999), S. 505ff. Vgl. Principia (1726), Lib. III, Prop. XLII, S. 524; Ausg. Schüller (1999), S. 511: »Durch diese Beispiele ist es vollkommen offensichtlich, daß die Kometenbewegungen durch die von uns dargelegte Theorie ebenso genau dargestellt werden wie für gewöhnlich die Planetenbewegungen durch deren Theorien. Deshalb kann man die Umlaufbahnen der Kometen mit Hilfe dieser Theorie berechnen und die Umlaufzeit eines Kometen, der auf einer beliebigen Umlaufbahn umläuft, kennenlernen, und dann endlich wird man die großen Achsen der elliptischen Umlaufbahnen und die Apheldistanzen kennen.« Die Argumentation zur Rechtfertigung seiner Aussagen basiert der Genfer Autor auf den Schriften von Giovanni Domenico Cassini, die in den Jahren 1699 und 1709 in den Mémoires de l'Académie des Sciences in Paris publiziert wurden. An dieser Stelle des Textes wird auf eine Fußnote verwiesen, die dem Leser durch die Angabe

93 Indem der Genfer Autor Newtons Principia mathematica - unter der Ausblendung der Grundannahmen des Newtonschen Systems - berechtigterweise primär als mathematische Physik interpretiert, welche die reinen Massen unter Abstraktion von den realen Körpern behandelt, 53 meint er das cartesianische Erklärungsmodell Cassinis in methodischer Hinsicht insofern gleichberechtigt neben Newtons Kometentheorie stellen zu können, als ersteres ebenfalls mit mathematischen Hypothesen operiert, die in der Lage sind, die Daten der Erfahrung sicher vorauszusagen. Daß der Cartesianer Cassini bei seiner Hypothesenbildung jedoch, wie explizit gesagt wird, »einem vollkommen verschiedenen Prinzip« gefolgt sei, scheint vor dem Hintergrund des rein formalen Aspektes dieses methodischen Verfahrens - die Ableitung der Naturphänomene aus mathematischen Hypothesen - eine sekundäre Rolle zu spielen. Die in der Schlußfolgerung des Genfer Autors beinhalteten Annahmen bedürfen einer Erklärung. Diesen Annahmen liegt der folgende Gedankengang zugrunde: Wenn das Erklärungsmodell A der Cartesianer und das Erklärungsmodell Β Newtons hinsichtlich der Übereinstimmung mit denselben Erfahrungsdaten C (Phänomenen) gleichwertig sind, dann sind die Erklärungsmodelle A und Β gleichwertig. Oder: Wenn zwei voneinander verschiedene Theorien (bzw. mathematische Hypothesen) mit den gleichen Erfahrungsdaten in Übereinstimmung gebracht werden können, dann sind die beiden Theorien (bzw. mathematischen Hypothesen) hinsichtlich ihrer Erklärungsfähigkeit gleichwertig. Dies bedeutet, daß obwohl die Methodenkonzeption Cassinis von derjenigen Newtons unterschieden wird, die mathematischen Hypothesen Cassinis und Newtons gleichgesetzt werden. Diese Annahme ist aber insofern problematisch, als die Verschiedenheit der Prinzipien, nach denen Cassini und Newton die Hypothesen bilden, für den Wahrheitswert der entsprechenden Hypothesen relevant ist. Die mathematischen Hypothesen Newtons und Cassinis haben somit unterschiedliche Wahrheitswerte und sind demnach keineswegs äquivalent. Der Erörterung der problematischen Annahmen des Genfer Cartesianers dienen die folgenden Überlegungen: Ein wichtiges Kriterium für die Beurteilung der cartesianischen Forschungsbeiträge war die mathematische Kompetenz der Cartesianer, wobei den meisten Forschungsbeiträgen zu den Problemlösungen der Tourbillontheorie im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts (auch nach 1730) das Merkmal gemeinsam war, daß sie über keine adäquate mathematische Fundierung verfügten. 54 Es kann somit grundsätzlich festgehalten werden, daß die Qualität der Forschungsbeiträge der Cartesianer von den folgenden beiden Faktoren abhängig war: a) von der Kompetenz des

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der Publikationsjahre der Schriften Cassinis in den Mémoires de l'Académie das Quellenmaterial der Argumentation mitteilt. Vgl. Kondylis ( 2 1986), S. 229. Vgl. Aiton (1972), S. 188.

94 Forschers auf dem Gebiet der mathematischen Methoden der Principia,55 wobei dies noch nicht die Akzeptanz der mathematischen Darstellungsformen Newtons bedeutete und b) von seinen Kenntnissen der Newtonschen Mechanik. Wie Niccolò Guicciardini gezeigt hat, war die Frage nach der Wahl der mathematischen Methoden und Darstellungsformen in der physikalischen Bewegungs- und Kräftelehre zu Beginn des 18. Jahrhunderts alles andere als geklärt: Firstly, a plurality of geometrical methods had to be compared not with a calculus, but with a plurality of calculi. Calculus came in at least two forms: it could be based either on infinitesimal concepts or on limits. Furthermore, there were several competing notations broadly speaking falling in two groups, the fluxional and the differential/integral notation. Secondly the way in which dynamical concepts should be represented was not (and is not) obvious. Thirdly, the calculus (at least up to Euler) was never thought of a completely independent from geometrical representation. Calculus was far from being understood as an abstract uninterpreted formalism: there were geometric >equivalents< of the algorithm (Archimedes exhaustion methods, the geometry of fluent and fluxional quantities, the geometry of the infinitely smalls) which were deployed in different ways and for different purposes. Early-eighteenth-century mathematicians debated such issues.56 Newton hatte sich in den 1670er Jahren von seiner frühen analytischen Methode - ein auf dem Infinitesimalkalkül basierender Algorithmus - distanziert, um eine auf dem Limesbegriff basierende geometrische Methode zu entwickeln, die er dann in den meisten Beweisen der Principia angewendet hat (und mit der er das alte mathematische Wissen der antiken Geometer wiederzuentdecken glaubte). 57 Das Verstehen der Infinitesimalrechnung durch die Mathematiker 5 8 war damit noch keine hinreichende Bedingung für 55

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Vgl. die Erklärung Newtons zu der Verwendung der Grenzwerte (Limes) von Summen und Verhältnissen bei der Analyse von Kurvenstücken in den Principia (1726), Lib. I (De motu corporum), Sect. I, L. XI, Scholium, S. 37f. Vgl. zur Fluxionsmethode und zum Limesbegriff Newtons u. a. Oskar Becker: Grundlagen der Mathematik in geschichtlicher Entwicklung, Frankfurt/M. 1975, S. 148ff.; zu Newtons mathematischen Methoden vgl. Guicciardini (1999), Teil I. Vgl. Guicciardini (1999), S. 5. Vgl. ebd., S. 6 u. S. 8: »It is well known that Newton believed in the prisca sapientia of the Ancients: gravitation, the Copernican system and atoms were known to the priests of Israel, Egypt and Mesopotamia. These priests were also in possession of a hidden analysis which they did not reveal outside a circle of initiates. Newton thought of himself as a rediscover of this lost mathematical wisdom (may we call it a prisca geometria!).« Als eine frühe Rezeption des Newtonschen Infinitesimalkalküls, die auf der Lektüre der Principia mathematica gründete, sowie als das erste verständliche Buch über den Calculus gilt die Schrift des niederländischen Mathematikers, Arztes und Philosophen Bernard Nieuwentijt (1654-1718): Analysis infinitimorum seu curvilineorum proprietates ex polygonorum natura deductae, Amsterdam 1695. Diese Schrift erschien bereits ein Jahr vor dem Traktat des Marquis G. De L'Hôpital: Analyse des infiniment petits, Paris 1696. Vgl. zu Nieuwentijts zustimmende Newton-Rezeption Emil A. Fellmann: Newtons »Principia« und die Zeitgenössischen Mathematiker auf dem Kontinent. In: Die Anfänge der Mechanik. Newtons Princi-

95 deren Verwendung in mathematisch-physikalischen Abhandlungen,59 zumindest solange nicht diese Kalkülart von der scientific community der Cartesianer und Leibnizianer zur privilegierten Darstellungsform mathematischer Problemlösungen gemacht worden war. Zudem war die Verwendung der neueren analytischen Methoden durch die (mathematisch kompetenten) Cartesianer auch unabhängig von der Akzeptierung der Grundannahmen der Newtonschen Mechanik60 oder von Fragen der Metaphysik, Ontologie und Kosmologie möglich.61

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pia gedeutet aus ihrer Zeit und in ihrer Wirkung auf die Physik, hg. von K. Hutter, Berlin, Heidelberg, New York, London, Paris, Tokyo 1989, S. 75-98, bes. S. 88f. Brunet (1931), S. 30-33 erwähnt zu den unterschiedlichen mathematischen Verfahren bei Cassini und Newton im Zusammenhang mit einer Problemlösung im Bereich der Kometenbewegung ein Beispiel. Fontenelle zufolge, dessen Histoire de l'Académie des Sciences aus den Jahren 1699-1708 Brunet für die Darstellung der Theorien Cassinis heranzieht, sei Cassini mit Newtons Periodizitätsgesetz von Kometen durchaus einig gewesen, habe es aber nur auf Kometen angewendet, deren Bewegung sich mit ebenso einfachen (mathematischen) Hypothesen erklären ließ wie die Bewegung der Planeten. Diese Hypothesen erhoben nicht den Anspruch, größeren Unregelmäßigkeiten gerecht zu werden, obwohl Cassini die Unregelmäßigkeiten des Mondes noch knapp darunter zu subsumieren wußte. Trotz der grundsätzlichen Zustimmung zum Periodizitätsgesetz Newtons und der ansatzweisen Abkehr von der im Tourbillonsystem getroffenen Annahme, Kometen seien hinsichtlich ihrer Stellung einem Planeten prinzipiell gleichzusetzen, unterschied sich Cassinis Ansatz jedoch gerade in der mathematischen Bestimmung der Kometenbahn von dem Newtonschen. Vgl. Brunet (1931), S. 31f.: »Nous pouvons nous rendre compte par ces remarques de la réserve et de la timidité mises par Cassini à rejoindre la théorie newtonienne. D'ailleurs, s'il se rencontrait sur ce point avec Newton, il s'en séparait bien vite dans la façon de déterminer la marche de ces astres soumis à des retours périodiques« (S. 31). Dadurch aber, daß sich Cassini in der mathematischen Bestimmung der Kometenbahnen von Newton absetzte, gefährdete er paradoxerweise die Tourbillontheorie: »Mais, autant qu'il se séparait de Newton par cette façon de calculer, Cassini risquait de faire échec par sa théorie au système tourbillonnaire« (S. 32).

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Die Forschungsbeiträge von Johann (I) Bernoulli (um 1730 und später) erfüllten beispielsweise die oben erwähnten Kriterien, obwohl sich Bernoulli - die Schwierigkeiten der Tourbillontheorie zwar anerkennend - in seinen Schriften konsequent als überzeugter Befürworter der Tourbillontheorie dargestellt hat. Erst sein Sohn Daniel sowie sein Schüler Euler akzeptierten die Newtonschen Theorien grundsätzlich. Vgl. dazu u. a. Fellmann (1989), bes. S. 92t Sein analytisches Verständnis der Mathematik hat Euler in der Schrift: Mechanica, sive motus scientia analytice exposita (1736) sowie in seinem Lehrbuch zum Infinitesimalkalkül: Introducilo ad analysin infinitesimorum (1748) dargelegt, wobei Euler der neuen Analysis gerade dort einen Ausschließlichkeitsanspruch zugewiesen hat, wo sie auf die empirische Naturwissenschaft angewendet wurde und schrieb der mathematischen Analysis unendlich kleiner Größen das entscheidende Verdienst für die damals erreichten Fortschritte der Physik zu. Vgl. Engter (1982), S. 110t

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Vgl. Guicciardini (1999), S. 253 -256, bes. S. 254: »The Continentals were investing more enthusiasm in the heuristic possibilities afforded by the mechanical manipulation of symbols. They admitted that calculation could be divorced from interpretability. The Newtonians insisted in considering rigorous those reasonings which could have an interpretation. As Newton said, his concepts of fluent and fluxion >take

96 Das entscheidende Kriterium für die Beurteilung der problematischen >Gleichstellung< der beiden Hypothesen sind jedoch die unterschiedlichen Prinzipien der Hypothesenbildung bei Cassini und Newton. Dieses Kriterium gründet auf der Unterscheidung zwischen dem explikativen und dem operativen Hypothesenbegriff,62 wobei ersterer grundsätzlich auf das cartesianische und der zweite auf das Newtonsche Erklärungsmodell zutrifft. Die Hypothese Cassinis ist damit insofern explikativ, als mit ihr beansprucht wird, a) die Ursache des untersuchten Gegenstandes (Phänomen) anzugeben, b) die Naturphänomene, in diesem Fall die Kometenbewegung, aufgrund einer apriorisch-deduktiven Methode aus ersten allgemeinen und als gewiß erkannten Prinzipien abzuleiten und c) die Erfahrung einzuschränken, indem angenommen wird, daß der untersuchte Gegenstand (die Kometen und ihre Bewegung) eine bestimmte >Natur< habe.63 Die Hypothese Cassinis ist ferner deswegen explikativ, weil sie das Weltbild des cartesianischen Mechanizismus repräsentiert und von den Grundannahmen der Tourbillontheorie bedingt ist. Mit seiner Aussage »hypotheses non fingo« wendet sich Newton gegen diesen Hypothesentypus. Er macht dahingegen einen operativen Gebrauch von Hypothesen: Seine Hypothesen sind Lehrsätze (Propositiones), mit denen er Teilaspekte eines Problems untersucht, wobei diese Hypothesen, selbst wenn es sich um allgemeine Hypothesen wie die I. und II. Regula philosophandi handelt, 64 immer mit voraussehbaren Vorgängen der physischen Welt und des Kosmos (Erde, Sonne, Planeten, Kometen) zu tun haben.65 Diesbezüglich betont Newton im dritten Buch der Erstausgabe der Principia von 1687, in der er im Zusammenhang mit der Bestimmung von Kometenbahnen über seine Methode reflektiert, die Abhängigkeit der Problemlösung von Beobachtungen und Erfahrungsdaten und weist auf die Unzulänglichkeit der Schlüsse hin, die aus »falschen Hypothesen« gezogen werden.66 Die methodentheoretische Reflexion, die Newton hiermit anstellt, be-

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place in the reality of physical nature< [...]. The algorithm of the analytical method was thus to be seen, according to the Newtonians, as embedded into geometric context of the synthetic method. It is this embedding which guarantees continuity with ancient tradition as well as ontological content.« Eine solche Unterscheidung zwischen den beiden Hypothesentypen findet sich bei Antonio Pala: La controversia newtoniana sulle ipotesi. In: Rivista di Filosofia, 56 (1965), S. 19-46, bes. S. 33ff. u. 40f. Vgl. Pala (1965), S. 40f. In der Erstausg. der Principia (1687) spricht Newton von (allgemeinen) >HypothesenRegulae philosophandk Vgl. Pala (1965), S. 41. Vgl. Isaac Newton: Mathematische Prinzipien der Naturlehre, Ausg. Wolfers, Darmstadt 1963 01872); Über das Weltsystem, § 78, S. 571: »Wenn diese Aufgabe gelöst ist, so erhält man endlich eine Methode, nach welcher man die Bahnen der Kometen aufs Genaueste bestimmen kann. Wird nämlich jenes Verhältnis zweimal angenommen und daraus jedesmal die Bahn bestimmt; wird hierauf aus den Beobachtungen der Fehler beider so gefundenen Bahnen gesucht, so kann die Annahme nach der regula falsi verbessert und so eine dritte Bahn gefunden werden, welche

97 trifft die Relation zwischen der Hypothesenbildung und der Erfahrung, die für den Wahrheitswert einer Theorie bestimmend ist. Die Prinzipien der Hypothesenbildung unterliegen bei den Cartesianern nicht in erster Linie empirischen Kriterien. Die Hypothesen werden nicht von der Erfahrung deduziert, sondern werden von abstrakten metaphysischen und methodologischen Grundannahmen abhängig gemacht, die vor der Herausbildung des naturwissenschaftlichen Systems existieren; folglich hängen sie nicht allein von diesem System ab. Die Erfahrung wird erst in einem zweiten Moment herangezogen, wenn es darum geht, die aufgestellten mathematischen Hypothesen mit den Phänomenen zu konfrontieren und an diesen in quantitativer Hinsicht zu überprüfen. Dadurch ergibt sich im Grunde eine klare Trennung zwischen dem Moment der Hypothesenbildung und demjenigen der Einbeziehung der Erfahrung. Wie verhält es sich nun aber mit dem Argument des Genfer Cartesianers, demzufolge die Hypothese Cassinis mit den Erfahrungsdaten übereinstimmt? Es stellt sich hier die Frage, ob es richtig ist, die Hypothese und die Erfahrung zueinander in ein relevantes Verhältnis zu stellen, wie es der Genfer Autor tut, oder ob Theorie und Erfahrung effektiv ausschließlich voneinander abhängen. Die Erfahrung, die einer von der Theorie verschiedenen ontologischen Ordnung angehört, ist im wesentlichen stabil, sie garantiert Kontinuität und ist nicht vollkommen theorieabhängig. 67 Cassini war in der Lage, aufgrund der fortschrittlichen Meßinstrumente (Fernrohre), die ihm im Pariser Observatorium zur Verfügung standen, präzise Beobachtungsdaten zu ermitteln und auf dem Gebiet der empirischen Erforschung des Sonnensystems (Planeten-, Mond- und Kometenbewegungen, Distanzen, Parallaxen, Formen, Größe der Himmelskörper, Fixsterne, usw.) bedeutende Resultate zu erzielen. Da nun aber diese Präzisionsbeobachtungen, die der Genfer Cartesianer, um die Wahrscheinlichkeit der Hypothese zu erweisen, als für diese relevant anerkennt, nicht in direkter Abhängigkeit von der Hypothese Cassinis stehen, kann der Schluß der Übereinstimmung zwischen Hypothese und Erfahrungsdaten nicht gezogen werden: Denn die präzisen Erfahrungsdaten Cassinis sind insofern als neutral zu betrachten, als sie einer

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genau mit den Beobachtungen übereinstimmt. [...]. Die Aufgabe wird aber gelöst, indem man zuerst aus 3 oder mehreren Beobachtungen die stündliche Bewegung zu einer gegebenen Zeit ableitet und hierauf durch diese Bewegung die Bahn bestimmt. So ist die Auffindung der Bahn von der einzigen Beobachtung und der stündlichen Bewegung zur Zeit derselben abhängig, und wird daher sich selbst entweder bestätigen oder widerlegen; denn der Schluss, welchen man aus der Bewegung zu der einen oder anderen Stunde und einer falschen Hypothese zieht, wird nie mit den Bewegungen des Kometen von Anfang bis zu Ende übereinstimmen. [...]«. In der Principia-Ausg. von 1726 habe ich diese Stelle nicht ausfindig machen können. Vgl. Lorenz Krüger: Wissenschaftliche Revolutionen und Kontinuität der Erfahrung. In: Neue Hefte für Philosophie 6/7 (1974), S. 1-26.

98 Hilfstheorie oder Bezugstheorie 68 (wie beispielsweise die Theorie des Fernrohrs) angehören bzw. eine solche voraussetzen, 69 die hinsichtlich der cartesianischen Hypothese Cassinis neutral ist. Die Beschreibung dieser Daten in den Begriffen der Tourbillontheorie ist zwar nicht theoriefrei, aber doch neutral hinsichtlich der Hypothese Cassinis, die zu der Erklärung der Daten herangezogen wird. 70 Aus diesen Überlegungen folgt ferner, daß die Meßdaten Cassinis, da sie nicht ausschließlich von seiner Hypothese abhängen, sondern eine Bezugstheorie voraussetzen, die hinsichtlich von konkurrierenden Theorien neutral ist, mit den gemessenen Beobachtungsdaten Newtons verglichen werden können, d. h. daß die Beobachtungsdaten Newtons und Cassinis, trotz unterschiedlicher Forschungskonzeptionen, kommensurabel sind.71 Dies aber bedeutet wiederum nicht, daß ihre Theorien oder Hypothesen, die diese stabilen Beobachtungsdaten systematisieren und erklären, gleichwertig sind bzw. dieselben Wahrheitswerte haben müssen. 72 Anders verhält es sich mit den Prinzipien der Hypothesenbildung Newtons, die primär empirischen Kriterien unterliegen. Seine Hypothesenbildung geht prinzipiell von der Erfahrung aus. Newtons Erkenntnistheorie ist in der Forschung als »transzendenter Realismus« bezeichnet worden, d.h. »die Lehre von der die sinnliche Erfahrung übersteigenden und insofern transzendenten Natur der Realität.« 73 Im Kapitel 2, 3.2 dieses ersten Teils (S. 85-92) ist am Beispiel der Kometenbewegung im einzelnen nachgezeichnet worden, wie Newton einen Entdeckungsprozeß in den Principia (1726) dargestellt hat. In der Phase (A) des dargestellten Methodenmodells bestimmt Newton die Kometenbahnen insofern durch Abstraktion von der sinnlichen Erfahrung, als er aus der Erfahrung, d. h. aus den drei vorgenommenen Beobachtungen der stündlichen Bewegung eines Kometen zu einer gegebenen Zeit und dem damit erhaltenen Kurvenstück, die Kometenbahn mathematisch ableitet bzw. konstruiert. Wie Ed Dellian hervorgehoben hat, bedeutet dies, daß Newton a) Erfahrung analysiert und b) (die Kometenbahnen) aus der

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Vgl. Krüger (1974), S. 13. Vgl. ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 13. Zum Begriff der >Kommensurabilität< von Erfahrungsdaten unterschiedlicher naturwissenschaftlicher Theorien und zu demjenigen der >Stabilität der Erfahrung< in Zeiten wissenschaftlicher Revolutionen vgl. Krüger (1974). Vgl. von Kutschera (2000), S. 310: »Theorien, die einen empirischen Gehalt haben, also etwas über die Welt besagen, können also nicht mit allen möglichen Erfahrungen verträglich sein, und damit kann man bei ihnen auch von Bewährung sprechen.« Vgl. Ed Dellian: Neues über die Erkenntnistheorie Isaac Newtons. In: Zeitschrift für philosophische Forschung, 46 (1992), I, S. 89-100, bes. S. 90. Vgl. auch Dellian (1988), S. XII: »Zugrunde lag dem ein [...] Verständnis von Natur, die nicht als Summe der empirisch erfaßbaren Welt, sondern als in ihren Strukturen einfache transzendentale Realität verstanden wird.«

99 Erfahrung deduziert.74 Das Beschreibungssystem, mit dessen Hilfe Erfahrung analysiert und exakt dargestellt wird, ist ein mathematisches. Die Analyse der Phänomene ist also der erste und wichtigste Schritt in Newtons Forschungsmethode.75 Im Scholium Generale der zweiten Ausgabe der Principia (1713) hat er im Anschluß an den Satz »hypotheses non fìngo« auf diesen methodischen Schritt hingewiesen.76 Newtons Hypothesenbildungsverfahren ist also induktiv im Sinne Bacons: Auf der Basis einer (korrekten) Phänomenbeobachtung werden deduktiv Hypothesen, d.h. wahre Sätze oder Gesetze (z. B. der Kometenbewegung), abgeleitet, die bezüglich dieser Beobachtungen uneingeschränkt richtig und gültig sind, wobei der gesamte Prozeß als Induktion zu verstehen ist. >Induktion< ist also von >Verallgemeinerung< von Sätzen, die durch Analyse einzelner Beobachtungen von Phänomenen gewonnen worden sind, zu unterscheiden.77 Daraus erhellt, warum Newton, wenn er mathematische Hypothesen formuliert, die Welt nicht a priori deduziert und daher auch nicht nur zu wahrscheinlichen Erklärungen der Phänomene kommt, denn seine Hypothesen sind das Endprodukt eines Entdekkungsprozesses, dem die (systematische) Analyse von Erfahrung vorausgeht: Die Eingabe des Wahrheitswertes in sein Methodenmodell erfolgt, ganz im Sinne Iacopo Zabarellas, auf der Seite des faktisch Beobachteten. 78 Die Relation der mathematischen Hypothesen Newtons zu der Erfahrung ist daher relevant und macht die Hypothesen sowie die in der Bestimmung der Kometenbahnen geschlossenen Sätze wahr.

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Vgl. Dellian (1992), S. 95f. Im Gegensatz dazu wurde im aristotelischen Verständnis von »scientia« nur aus evident vorausgesetzten Sätzen deduziert; vgl. Charles H. Lohr: Metaphysics and natural philosophy as sciences: the Catholic and the Protestant views in the sixteenth and seventeenth centuries. In: Philosophy in the Sixteenth and Seventeenth Centuries. Conversations with Aristotle, hg. von Constance Blackwell und Sachiko Kusukawa, Aldershot u.a. 1999, S.280-295, bes. S.280: »Metaphysics and natural philosophy were thought of as sciences. But sciences did not mean - as it does for us - research or discovery. It meant rather the systematic presentation of a structured body of certain conclusions, derived syllogistically from first principles, that is, propositions that are evident and indemonstrable.« Vgl. Dellian (1992), S. 96. Vgl. Principia (1726), Lib. III, Scholium Generale, S. 530: »Quicquid enim ex phaenomenis non deducitur, hypothesis vocanda est; & hypotheses seu metaphysicae, seu physicae, seu qualitatum occultarum, seu mechanicae, in philosophia experimental! non locum habent. In hac philosophia propositiones deducuntur ex phaenomenis, & redduntur generales per inductionem.« Dies im Gegensatz zur modernen Lesart bei Dellian (1992), der >Induktion< bei Newton so verstehen will: »>Induktion< nennt Newton erst den weiteren Schritt, mit dem z.B. der durch Analyse erfahrbarer Phänomene gewonnene Satz, daß der Mond zur Erde hin schwer ist, auf alle Himmelskörper so ausgedehnt wird, daß alle Himmelskörper wechselseitig schwer gegeneinander sind« (S. 96). Vgl. Engter (1982), S. 101.

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3.4. Der problematische Vergleich zwischen den Probeverfahren Tycho de Brahes und Newtons und die Kommensurabilität von Erfahrungsdaten Auch im weiteren Argumentationsverfahren insistiert der Genfer Cartesianer auf seiner Position zugunsten des cartesianischen Erklärungsmodells, dessen Gültigkeit durch das Argument der Übereinstimmung von theoretischen Voraussagen und beobachteten Erfahrungsdaten beansprucht wird. Zur Erklärung dieser Redeposition zieht er die Beobachtungsergebnisse des berühmten Astronomen des 16. Jahrhunderts Tycho de Brahe heran. Dabei wird das Probeverfahren des Braheschen Erklärungsmodells, das dieser für die Etablierung seines Systems angewendet habe, mit dem Newtonschen verglichen: Tycho Brahé s'est servi de cette même preuve pour établir un Système qui est peut être préférable à celui de Mr. Newton. (1731, K, 22)

Die Verwendung des Prädikats préférable in bezug auf das Brahesche System bezieht sich offenbar weniger auf das von Brahe vertretene geozentrische Weltbild als vielmehr auf den Exaktheitsgrad seiner Beobachtungsergebnisse.79 Im folgenden werden die aus dem Braheschen Probeverfahren ermittelten Forschungsergebnisse, d. h. die Berechnungen der durch Messung hervorgebrachten Beobachtungsdaten, mit den aus dem Probeverfahren Newtons ermittelten Forschungsergebnissen verglichen: [...] & cela [sc. Brahes Beobachtungsergebnisse] avec tant d'exactitude que tout s'accorde si bien qu'il n'y a pas de différence plus considérable d'une minute entre le fait & le calcul, au lieu que dans les Calculs de Mr. Newton la différence va au demi degré. (1731, K, 22)

Der Genfer Autor weist somit ausdrücklich auf die geringe quantitative Abweichung des Braheschen Kalküls von den Beobachtungsdaten hin und stellt dieses Resultat in Gegensatz zu den Abweichungen der Berechnungen Newtons: Diesem Vergleich zufolge bewegen sich die Abweichungen Newtons in der astronomischen Größenordnung von Graden, während diejenigen von Brahe die Größenordnung von Minuten nicht überschreiten. Auf die proble79

Der Genfer Autor hebt nicht nur die Qualität der Braheschen Beobachtungsergebnisse hervor, sondern expliziert diese aus argumentativen Gründen auch quantitativ: »II observa avec son exactitude ordinaire la Comete de 1577. & il trouva par les Observations qu'il fit en 32. jours différens, depuis le 13. Novembre 1577. au 26. Janvier 1578. que la Comète décrivit un Cercle incliné à l'écliptique de 29. degrés & 13. minutes, & qu'il la coupoit au vingtième degré 58. minutes du Sagitaire, [...]« (1731, K, 22). Schüling (1969) weist darauf hin, daß von den Erkenntnismethoden die Empirie des 16. Jahrhunderts sicher noch wenig ausgebildet gewesen sei, u. a. weil das Denken des humanistischen Zeitalters noch zu sehr mit den Lehren der Antike beschäftigt gewesen sei: »Und doch gewinnt diese Zeit eine Fülle neuer Beobachtungen, in der Astronomie (Tycho de Brahe), [...] und in anderen Wissenschaften - längst bevor Francis Bacon die Erfahrung programmatisch zur wesentlichen Methode der Wissenschaften erhebt« (S. 82).

101 matischen Implikationen der Argumentation des Genfer Cartesianers bezüglich der hier hergestellten relevanten Beziehung zwischen Theorie und Erfahrungsdaten ist im Abschnitt 3.3 dieses Kapitels ausführlich hingewiesen worden. Dasselbe gilt nun auch für Brahes Beobachtungsdaten. Aufgrund der Tatsache, daß die Astronomen des 16. Jahrhunderts über ungenügende mathematische Kenntnisse verfügten und deshalb die Erfahrung nur inadäquat in ihre Theorien einbezogen werden konnte, ist es sinnlos, die exakten Beobachtungsdaten Brahes mit seinen Berechnungen in eine relevante Relation zu setzen und folglich die Ergebnisse des Braheschen Probeverfahrens mit den Ergebnissen des Probeverfahrens Newtons zu vergleichen. Die Argumentation des Genfer Autors ist damit offenbar primär von der Intention geleitet, dem cartesianischen Erklärungsmodell und dessen methodologischer Konzeption Geltung und Plausibilität zu verschaffen. Da die Erfahrungsdaten Tycho de Brahes hinsichtlich seiner Theorien neutral sind, ist es jedoch nicht sinnlos, allein die Erfahrungsdaten Brahes und Newtons zu vergleichen. Die in den Ausführungen des Cartesianers implizit vorhandene Annahme, daß es möglich ist, Erfahrungsdaten in quantitativer Hinsicht zu vergleichen, verfügt durchaus über eine wissenschaftshistorische Fundierung und bestätigt die oben im Abschnitt 3.3 ausgeführten methodologischen Überlegungen zu der Kommensurabilität von Erfahrungsdaten, die vor dem Hintergrund unterschiedlicher Systeme der Naturanschauung hervorgebracht werden. Die Auffassung des Genfer Autors von der prinzipiellen Vergleichbarkeit von Beobachtungsdaten stützt eine Reihe von Beispielen aus der Wissenschaftsgeschichte, aufgrund von denen die radikale These Thomas S. Kuhns von der paradigma- oder theoriebedingten Abhängigkeit aller Erfahrung 80 widerlegt werden kann. 81 Von der Annahme der Stabilität und Kontinuität der Erfahrung war auch Newton ausgegangen, der in den Principia die stabilen Beobachtungsergebnisse u.a. von Tycho de Brahe und des Cartesianers Giovanni Domenico Cassini unverändert verwendet 82 und sie auf der neuen mathematischen Basis seiner kosmologischen Theorie uminterpretiert hat. 83

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Vgl. Kuhn (1962), dt. Übers. (1989) S. 133-135. Vgl. hierzu u.a. Bayertz (1981), S. 77-105, bes. S. 84 u. von Kutschera (2000), S. 310: »Es ist also höchst unplausibel, daß die Theoriebeladenheit unserer Erfahrungen derart stark sein soll, daß es keine Beobachtungen gibt, in denen Vertreter konkurrierender Theorien übereinstimmen.« Zur Verwendung von Beobachtungsdaten u.a. von Borelli, Townley, Cassini und Kepler durch Newton vgl. Principia (1726), Lib. III, Phaenomena, S. 390ff. Vgl. auch Krüger (1974), S. 13: »Sternpositionen am Himmel können im Prinzip (und konnten zu einem Teil de facto) sowohl von Ptolemäischen Astronomen wie von Tycho Brahe wie von Kepler und schließlich von Newton und allen seinen Nachfolgern verwendet werden.« Vgl. auch Krüger (1974), S. 13-22.

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4.

Die Ablehnung der Kometentheorie Descartes' und die Verknüpfung der cartesianischen Kometentheorie mit der Newtonschen

4.1. Die Hypothese der relativen Erdnähe von Kometen Das Argument der Exaktheit von Brahes Beobachtungsergebnissen wird im weiteren Verfahren, in dem Brahes Daten für die Hypothese der relativen Erdnähe von Kometen als relevant erkannt werden, gegen Newtons Kometentheorie verwendet. Tycho de Brahe hatte aufgrund von Beobachtungen zum Kometen des Jahres 1577 auf die relative Erdnähe dieses Kometen geschlossen.84 In der von Brahe formulierten Hypothese der relativen Erdnähe von Kometen wurden jedoch alle Phänomene, in denen der Komet nicht mehr deutlich sichtbar blieb, zu einem Problem. Brahe führte diesbezüglich die Hilfshypothese von der relativ geringen Größe des Kometen ein, um dessen zeitweiliges Verschwinden plausibel erklären zu können, wobei er zur Veranschaulichung seiner Annahmen sich auf die Dimensionen des Mondes als Vergleichsgröße stützte.85 Der Genfer Gelehrte interpretiert also die Braheschen Erfahrungsdaten aufgrund eines Anschaulichkeitskriteriums, das er nun gegen Newtons Theorie der Komentendistanz wendet: Je vais présentement plus loin, & je dis, que le Système de Mr. Newton manque dans son unique preuve, & qu'il ne s'accorde pas parfaitement avec les Observations, puisqu'il établit que nous voyons souvent les Cometes à une fort grande distance de la Terre, comme par example au-delà du Soleil. Or la petitesse des Cometes est une preuve certaine que cela ne peut jamais être; car on peut aisément faire voir que toutes les Cometes un peu connues ont été considérablement plus petites que la Lune, & qu'ainsi il auroit été impossible de les découvrir à des distances auxquelles Mercure, qui surpasse de beaucoup la Lune, est à peine visible. (1731, K, 231)

In seinen Äußerungen unterscheidet der Genfer Autor bezüglich von Kometentheorien grundsätzlich zwei Teiltheorien - die Theorie der Bewegung und die Theorie der Distanz bzw. die Theorie der Größe von Kometen - , die im Hinblick auf Newton jeweils unterschiedlich beurteilt werden. In der Diskussion der Bewegungstheorie von Kometen, in der es v. a. um den methodi84

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»II [sc. Brahe] observa de plus que dans les commencemens de l'apparition de cette Comete, elle ne devoit pas être plus éloignée de la terre que de 211. de ses demi Diamètres, ensorte qu'à peine étoit-elle quatre fois plus éloignée de nous que n'est la Lune. Peut-être même avoit-elle été plus près dans le tems de sa conjonction avec le Soleil, pendant lequel on ne l'avoit pas vûë« (1731, K, 22f.). »II [sc. Brahe] suppose donc que le cours de cette Comete embrassoit l'Orbe de Vénus, mais qu'on ne pouvait la voir à cause de sa petitesse, à moins qu'elle ne fût fort près de sa conjonction, parce que son vrai Diamètre n'est que les trois quarts de celui de la Lune, & même sans doute beaucoup moindre; car il est indubitable que les faux rayons augmentaient considérablement son Diamètre apparent, & et l'on n'avoit pas encore le secret de les écarter« (1731, K, 23).

103 sehen Aspekt des Probeverfahrens von Erklärungsmodellen ging, hatte der Genfer Autor die Forschungsergebnisse Brahes und Newtons hinsichtlich der Relation zwischen Kalkül und Beobachtungsdaten verglichen und dabei die inhaltlichen Komponenten der Kometentheorien der beiden Forscher unberücksichtigt gelassen. In diesem Argumentationsschritt wird dagegen Newtons Kometentheorie mit den Braheschen Hypothesen verglichen. Dabei wird die Theorie der großen Erddistanz von Kometen mit dem Argument kritisiert, nicht vollkommen mit der Erfahrung übereinzustimmen, da Newton die Position der Kometen bei deren Verschwinden jenseits der Sonne festgelegt habe. 86 Zur Unterstützung der Kritik an Newtons Theorie der Kometendistanz führt der Genfer Cartesianer eine Reihe von bekannten Beobachtungsdaten aus dem späten 15., 16. und 17. Jahrhundert an. Auf der Basis ihrer quantitativen Explizierung wird geschlossen, daß die Erdnähe der Kometen kaum in Zweifel zu ziehen sei und daß selbst die von Astronomen gemachten Fehlmessungen zu den Kometenparallaxen - die durch Winkelmessung (parallaktische Winkel) bestimmte Entfernung von Kometen - zugunsten seiner Annahmen interpretiert werden könne. 87 Die besondere Gewichtung der Beobachtungsdaten Brahes und anderer berühmter Astronomen 88 sowie deren Interpretation zugunsten der Hypothesen der relativen Erdnähe und der relativ geringen Größe von Kometen richtet sich im Grunde gegen eine zentrale Implikation der dynamischen Kosmologie Newtons: die actio in distans oder die in alle Entfernungen wir86

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Da die Hiriner Newtonianer Newtons Kometentheorie primär als eine Theorie der Bewegung von Kometen verstehen (vgl. oben Kap. 2, 1), haben sie der von ihr implizierten großen Kometendistanz und dem Verschwinden der Kometen hinter der Sonne keine besondere Relevanz zugemessen. »On ne sauroit douter, par example, que les Cometes de 1472. & de 1664. qui on parcouru quarante degrés par jour, & celles de 1556. qui en décrivoient trente ne fussent fort près de la Terre. Quelques Astronomes leur donnent jusqu'à 6. degrés de Paralaxe, c'est-à-dire, qu'elles auroient été six fois plus près de nous que la Lune; je sais bien qu'ils se trompent, cela prouve pourtant qu'elles avoient une Paralaxe très-sensible. Cependant leur grandeur apparente ne surpassoit point celle des Planetes, ainsi elles auroient été incomparablement plus petites que la Lune« (1731, K, 24). Zu den Beobachtungsergebnissen des bereits erwähnten lycho de Brahe treten diejenigen von Giacomo Filippo Maraldi, Francesco Bianchini und Giovanni Domenico Cassini zu einigen Kometenparallaxen hinzu, wobei ein Beobachtungsdatum Brahes wiederum als relevanter Beleg zugunsten der Theorie der relativen Erdnähe von Kometen angeführt wird: »La Comete de 1702. avoit 13. minutes de Paralaxe; Mr. Maraldi l'a observée exactement, & Mr. Bianchini confirme son témoignage, c'est-à-dire, qu'elle n'étoit que quatre fois plus éloignée que la Lune; cependant son Diamètre apparant étoit plus petit que celui de quelque Planete que ce fût. Tycho Brahé, dont l'intention étoit de reculer les Cometes autant qu'il pouvoit, n'a pas pû placer la sienne plus loin qu'à un peu plus de trois fois la distance d'ici à la Lune. Mr. Cassini assûre en plus d'un endroit, que toutes les fois qu'il a eu la commodité de prendre les Paralaxes des Cometes, il les a trouvé plus près de nous que Mars ou Vénus; [...]« (1731, K, 24f.).

104 kenden Kräfte, die am Phänomen der Kometen besonders gut gezeigt werden konnten. Dieser für die Cartesianer absolut inakzeptablen Grundannahme des Newtonschen Systems stellt der Genfer Autor eine Kometentheorie entgegen, die dem Kriterium der Anschaulichkeit genügen und deshalb als wahrscheinlich gelten soll. Die Erwähnung und Interpretation einer Reihe wissenschaftlich relevanter Beobachtungsergebnisse berühmter Forscherautoritäten, die von cartesianischen oder anderen Wissenschaftsmodellen ausgegangen waren, dienten somit als legitimierender Beleg dafür, daß eine Kometentheorie, in der sich die Kometen in Erdnähe befinden und eine relativ geringe Größe aufweisen, möglich und sogar wahrscheinlich war. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen werden in der Form einer rhetorischen Frage die wesentlichen Elemente einer solchen Kometentheorie formuliert: [...] or tout cela ne prouve-t-il pas que les Cometes ne sont que des Planetes trèspetites, qu'on ne sauroit voir que lors qu'elles sont bien près de nous, qu'elles sont peut-être des Satellites de Mars ou de Vénus, & et que nous ne les voyons que dans des circonstances rares à cause de leur petitesse? (1731, K, 25)

Die inhaltlichen Elemente einer wahrscheinlichen Kometentheorie sind damit die folgenden: (i) Die Kometen sind sehr kleine Planeten, die nur in unmittelbarer Erdnähe sichtbar werden, (ii) Die Kometen sind vermutlich Satelliten der Planeten Mars oder Venus, (iii) Die Kometen sind wegen ihrer geringen Größe nur in seltenen Fällen sichtbar. 4.2. Die Verknüpfung der Systeme auf der Basis des >widerstandslosen< Äthers Seine abschließenden Bemerkungen zum Kometenargument leitet der Genfer Cartesianer mit einer Beurteilung der Kometentheorie des Newtonschen Systems ein, die hinsichtlich der in Kap. 2, 4.1 unterschiedenen Teiltheorien verschieden bewertet wird. Dabei bilden die Erscheinungen als zentrale Kategorie der cartesianischen Methodologie das grundlegende Kriterium der Beurteilung: Ainsi si le Système de Mr. Newton satisfait bien aux apparences du mouvement, il ne satisfait nullement aux apparences des grandeurs de la Comete, il pèche par le côté le plus considérable; [...]. (1731, K, 25)

Als Gründe für die Akzeptierung oder Ablehnung der Kometentheorie Newtons führt der Genfer Autor somit die folgenden Punkte an: (i) Newtons Kometentheorie genügt hinsichtlich der Bewegung von Kometen den Erscheinungen, so daß diese Teiltheorie akzeptiert wird und die daraus entstandenen Problemlösungen als gültig anerkannt werden, (ii) Die Teiltheorien der Kometengröße bzw. der großen Erddistanz von Kometen genügen dahingegen keineswegs den Erscheinungen und werden somit nicht akzeptiert, (iii)

105 Die in Punkt (ii) genannten Teiltheorien werden als den bedeutenderen Teil einer Kometentheorie betrachtet, (iv) Die von Newtons Kometentheorie implizierten Teiltheorien in Punkt (ii) widersprechen also den Anforderungen einer Wahrscheinlichkeitstheorie, die im cartesianischen Wissenschaftsmodell der Naturerklärung ein zentrales Beurteilungskriterium bildet. Die partielle Akzeptierung der Newtonschen Kometentheorie (zumindest wird sie hier nicht in toto abgelehnt) bedarf auch angesichts der zeitlichen Phase, in die diese Theoriendebatte fällt, einiger ergänzender Bemerkungen, die an den oben im Kap. 1 dargestellten Fragehintergrund zu den Keplerschen Gesetzen anknüpfen. Ein großer Teil der zwischen 1728 und 1734 erschienenen cartesianischen Abhandlungen widmeten sich speziell dem (relevanten) Problem der Keplerschen Gesetze. 89 Diese wissenschaftshistorische Entwicklung hat zur Herausbildung von Gruppierungen innerhalb des cartesianischen Lagers geführt, die entweder der orthodoxen Tourbillontheorie Descartes' verpflichtet waren oder eine modifizierte Version der Tourbillontheorie vertraten. Die Exponenten der letzteren Gruppierung waren dementsprechend auch bereit, Bestandteile der ursprünglichen Theorien Descartes' zu verändern, speziell auch im Bereich der Elementenlehre. 90 Wie aus dem folgenden hervorgeht, orientiert sich die Position des Genfer Autors an denjenigen Wissenschaftlerkreisen der Pariser Akademie, in denen bereits Ansätze zu einer Reform der Tourbillontheorie formuliert worden waren und diese mit dem Newtonschen System zu verknüpfen versuchten. Die in den Schriften von Joseph Privat de Molières vorgeschlagenen Lösungen versuchten beispielsweise den Einwänden Newtons gegen die Bewegungstheorie 89

Vgl. hierzu die Darstellungen in Aiton (1972), S. 209-243 und Brunet (1931), S. 153-298. U.a. hatte loseph Privat de Molières in seinen zwischen 1728 und 1733 für die Académie des Sciences verfaßten Abhandlungen den Versuch unternommen, das Newtonsche und das cartesianische System mit den Keplerschen Gesetzen zu vereinbaren. Vgl. Aiton (1972), S. 209f.: «Molières, a disciple of Malebranche, proposed an explanation of the elliptical orbit in terms of an aether composed of small elastic vortices. The planet, he supposed, moved exactly as the fluid surrounding it, in a vortex distorted into an elliptical shape by the unequal pressures of the neighbouring vortices. Owing to their elasticity, Molières believed, the small elastic, by contracting in the narrower parts of the vortex and expanding in the wider parts, could each describe an ellipse. Since the whole of the planetary orbit was situated in the same elliptical layer, the variation in speed, in accordance with Kepler's area law, was not inconsistent with the variation in mean speed of different layers, in accordance with Kepler's law of periodic times. Molières argument thus removed one of the principal objections to the vortex theory.«

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Die Aufspaltung des cartesianischen Lagers in Gruppierungen widerspiegelt zugleich den direkten oder den indirekten Einfluß der Theorien Descartes' auf die cartesianischen Forscher. Aiton (1972), S. 228 weist darauf hin, daß Johann (I) Bernoullis Cartesianismus einen direkten Einfluß Descartes' aufwies und daß dessen Position von derjenigen von Nicolas Malebranche und Joseph Privat de Molières und deren modifizierten Versionen der Tourbillontheorie abwich. Mit seiner Distanzierung von Bernoullis Abhandlung von 1730 rückt der Genfer Cartesianer also ins Lager der Reformer der Tourbillontheorie.

106 von Kometen im Tourbillonsystem zu begegnen. Molières' Theorien machten durch die vorgenommenen Modifikationen an der Tourbillontheorie zwangsläufig Konzessionen an das Newtonsche System, die aber auf problematischen Annahmen zum Äther beruhten. Aiton beschreibt die Problemlage so: Another major difficulty was presented by the motion of the comets through the solar vortex. For Newton had claimed to show that a sphere cannot move in a stationary fluid of the same density more than diameters without losing half its speed. This demonstration, Fontenelle remarked, had never been questioned. Although Descartes had supposed the comets to move through the celestial matter without resistance, the quasi-Aristotelian theory of motion on which he had based his explanation was no longer acceptable and the principle now known as D'Alembert's paradox had not yet been stated by Euler. Molières solution depended on the argument that, because the aether did not weigh towards the sun, it did not offer sensible resistance to bodies moving through it. The error in Molières' argument, as in de Mairan's theory of the diurnal motion, lay in the identification of mass and weight. Yet the idea enabled Molières to identify the celestial matter with Newton's void. As Fontenelle and others had already assimilated the >weight of the planets< into the Cartesian system, the step taken by Molières effectively reconciled the two systems. In his Leçons de physique, Molières claimed to establish in the Cartesian system, >even the void of Newton, or that non-resisting-space, of which this philosopher has so invincibly established the presences [...]. Despite the laudatory tone of his remarks and his evident willingness to take Newton's side in the priority dispute concerning the calculus, Molières was not a Newtonian. [...]. For while the facts of the void and the attraction were no longer in question, the causes of these phenomena, in Molières view, still constituted the basic problem for physics.91 D e r Genfer Gelehrte erkannte seinerseits die Schwierigkeiten der cartesischen Bewegungstheorie von Kometen und setzte sich explizit von der Erklärung Descartes' ab: [...] & un Cartésien est en droit de nier ce Fait. Que les Cometes traversent les Tourbillons en s'approchant des extrémités vers le centre, & et en retournant du centre vers les extrémités. (1731, K, 25f.) Der mit kursivem Schrifttyp hervorgehobene Textteil ist ein Zitat aus der Erklärung, die Descartes in den Abschnitten 119 und 120 des dritten Teils der Principia Philosophiae zur Kometenbewegung formuliert hat: In diesen Abschnitten beschreibt der Philosoph u. a. den Vorgang der Entstehung eines Kometen aus der flüssigen Tourbillonmaterie sowie dessen unregelmäßige Durchquerung der benachbarten Tourbillonmassen. 92 D i e Ablehnung der 91

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Vgl. Aiton (1972), S. 210. Aiton weist mit Bezug auf Fontenelles Histoire de l'Académie des Sciences im Jahr 1731 (S. 70) darauf hin, daß dieser von Molières' Argumentation überzeugt gewesen zu sein schien und daß er bemerkt habe, daß Newton nicht einmal an eine solche Lösung gedacht habe, überzeugt wie er war, daß alle Körper schwer seien. Vgl. Aiton (1972), S. 239, Anm. 4. Vgl. Principia Philosophiae, III, 119f (= Ed. Adam & Tannery, VIII, S. 168-170: »Et quia omnes partes ejusdem vorticis non eâdem celeritate moventur, nec sunt ejusdem magnitudinis; sed à circumferentiâ usque ad certum terminum earum motus gradatim fit tardior, ac deinde ab isto termino usque ad centrum gradatim fit celerior, & ipsae sunt minutiores, ut suprà dictum est: si globus in ilio vortice descendens adeò sit solidus, ut priusquam pervenerit ad terminum in quo partes vorti-

107 cartesischen Bewegungstheorie von Kometen als Teiltheorie des Tourbillonsystems hat für den Genfer Autor jedoch nicht die Ablehnung des ganzen Tourbillonsystems zur Folge, innerhalb von dem die Geltung einer modifizierten Version der Kometentheorie angenommen wird: J'avoue bien qu'on ne sauroit soûtenir le sentiment de Descartes sur les Cometes tel qu'il est, mais en l'abandonnant on n'est point obligé d'abandonner le Système des Tourbillons dans lequel les Cometes sont placées comme d'autres Planetes, ou comme des Satellites d'autres Planetes; [...]. (1731, K, 26)

In einer solchen modifizierten Kometentheorie werden die Kometen hinsichtlich ihrer Konstellation in den Himmelsräumen den Planeten oder den Satelliten von Planeten ähnlich gestellt. Newton hatte seinerseits in den Principia im Abschnitt über die Kometen Planeten und Kometen insofern in ein Ähnlichkeitsverhältnis gesetzt, als sie dieselben Bewegungsgesetze, d.h. die Keplerschen Gesetze, befolgen, wies j edoch ausdrücklich auf die Exzentrizität der Kometenbahnen sowie auf die Unmöglichkeit einer solchen exzentrischen Bewegung im Tourbillonsystem hin.93 Der Genfer Autor leitet nun aber aus diesem Ähnlichkeitsverhältnis zugleich eine Ähnlichkeit in bezug auf die gegenseitige Lage der Kometen in den Himmelsräumen ab. Diese Hypothese ist vor dem Hintergrund der oben erwähnten Theorie der relativen Erdnähe von Kometen zu verstehen und stellt gewissermaßen einen Gegenentwurf zu Newtons Theorie der großen Erddistanz von Kometen dar, die, so wie Roger Cotes schreibt, »aus ungeheuer großen Entfernungen kommend bis in die Nähe der Sonne getragen werden und sich ihr manchmal so sehr nähern, daß sie deren Kugel beinahe zu berühren scheinen, wenn sie sich in ihren Perihelen befinden.«94 Der Genfer Autor hatte diesen ihm zufolge »unwahrscheinlichen« Bestandteil der Kometentheorie Newtons nicht akzeptieren wollen. Die Theorie der Erdnähe von Kometen wird ferner auch dazu benutzt, um Phänomene »bizzarrer« Kometenbewegungen zu erklären, die auf die Überlagerung zweier Bewegungen zurückgeführt werden: die Erdbewegung und die (reale) Eigenbewegung von Kometen.95 Demnach lassen sich die Eigenarten der Kometenbewegung aus der Perspektive einer cartesianischen Kometentheorie auf einfache Erscheinungen zurückführen, vorausgesetzt, daß sich die Kometen in Erdnähe befinden, was dem Genfer Cartesianer zufolge auch tatsächlich zutrifft.96

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cis omnium tardissimè moventur, acquirat agitationem aequalem agitationi earum partium, inter quas versatur, non ulteriùs descendit, sed ex ilio vortice in alios transit, & est Cometa, f...], intelligetur istum motum sideris N, alteriusve cujusvis corporis, versus centrum vorticis in quo versatur, dici posse ejus descensum.« Vgl. hierzu Teil I, Kap. 2.1 dieser Studie. Vgl. Principia (1726), Editoris Praefatio in Editionem Secundam; Ausg. Schüller (1999), S. 11. »[...] & si elles paraissent avoir des mouvemens bizarres, cela vient de leur proximité & du mouvement de la Terre qui se mêle avec leur mouvement vrai« (1731, K, 26).

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»Quand une Comete seroit immobile, mais cent fois plus près de nous que le Soleil, elle nous paroitroit décrire 100. degrés par jour, & quand son Orbite ne seroit

108 Wie den Ausführungen Eric J. Aitons zu entnehmen ist, setzte die Verknüpfung der Tourbillontheorie mit der Newtonschen Theorie, mit der eine Bewegungstheorie von Kometen in den mit Materie gefüllten Himmelsräumen ermöglicht werden sollte, eine Reihe von Annahmen über die Beschaffenheit und die physikalische Struktur einer solchen Materie voraus. Dabei mußten die Bedingungen a) für eine regelmäßige Bewegung von Kometen und b) für ihr >ungehindertes< Durchlaufen des materiegefüllten Himmelsraumes erfüllt werden. Die Basis einer solchen Systemverknüpfung bildete somit der cartesianische Ätherbegriff, der es ermöglichen sollte, die Himmelsmaterie und das Newtonsche Vakuum zu identifizieren. Die im Rahmen einer modifizierten Tourbillontheorie getroffenen Annahmen über die Himmelsmaterie, die den Aussagen des Genfer Cartesianers implizit zugrundeliegen, können folgendermaßen verdeutlicht werden: (i) die Himmelsräume sind überall mit Äther gefüllt, (ii) Der Äther hat die Eigenschaft, nicht gegen die Sonne schwer zu sein.97 (iii) Der Äther leistet den Körpern, die ihn durchqueren, keinen wahrnehmbaren Widerstand.98 Offensichtlich waren diese Annahmen über die Beschaffenheit der Himmelsmaterie, die mit einem praktisch »widerstandslosen« Äther identifiziert wurde, problematisch. Wie im folgenden Kapitel 3 zu zeigen sein wird, hat jedoch auch die in seinen publizierten Schriften teilweise uneinheitliche Position Newtons zum Äther (und zu der Frage nach der Materialität oder Immaterialität des Äthers, in der es u.a. auch um die religiösen Folgen seiner Physik ging,)99 für die Genese dieser Annahmen der Cartesianer eine Rolle gespielt.100 Un-

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inclinée que d'un seul Degré à l'Ecliptique, elle nous paroitroit avoir 60. degrés d'élévation sur l'Ecliptique, c'est-à-dire, on la verroit tout près du Pole, & si en même tems elle étoit près de son noeud avec l'Ecliptique, on la verroit descendre quasi en droite ligne du Pole à l'Ecliptique: toutes ces singularités des mouvemens des Cometes se réduisent donc à des simples apparences quand on les suppose voisine de la Terre, comme elles le sont effectivement« (1731, K, 26). Diese Annahme ist dem Genfer Autor insofern zuzuschreiben, als er in der Argumentation zum Schwereproblem im Tourbillonsystem, das im folgenden Kap. erörtert wird, folgende Position vertritt: »Que s'ils [sc. die Newtonianer] veulent assûrer avec leur Maître, qu'il n'y a point de partie de la matière qui n'ait de la pesanteur, pas même ce qu'on appelle Mther, ensorte qu'il n'y ait aucune cause physique de ce Phénomene; nous croyons que les difficultés du Système des Tourbillons ne devroit pas arrêter des gens qui peuvent digerer de pareilles idées« (1731, K, 30f.). Aiton (1972) hat auf die logischen Fehler - die Identifikation von Masse und Gewicht und die Identifikation von Himmelsmaterie und Newtons Vakuum - , die beispielsweise in Joseph Privat de Molières' modifizierter Tourbillontheorie enthalten sind, hingewiesen. Vgl. dazu Koyré (1957), dt. Übers. (1980), S. 186£ u. 196-199f£ u. Kondylis (21986), S. 219£; Kondylis weist (S. 219) darauf hin, daß die Widerlegung der cartesianischen Gleichsetzung von Materie und Ausdehnung bei Newton, wie ebenso vorher bei Henry More, die Wiedereinführung des Vakuums nach sich gezogen hat, den More »substantiam immaterialem« apostrophiert habe. Demzufolge entsprächen bei Newton die Termini >VakuumKometenode< Abraham Gotthelf Kästners Philosophisches Gedichte über die Kometen von 1744, die beide am Beginn der naturwissenschaftlichen und dichterischen Karriere der jungen Gelehrten stehen. Rainer Baasner faßt in seiner Studie über Kästner: Abraham Gotthelf Kästner, Aufklärer (17191800), Tübingen 1991, die Forschungslage zum >iypus< Lehrgedicht folgendermaßen zusammen: Die Forschung berücksichtigte bislang kaum einzelne Lehrdichter des 18. Jahrhunderts, sie legte statt dessen zu einem Zeitraum von ungefähr fünfzig Jahren (etwa 1720 bis 1770) Pauschalurteile über >Strukturgesetzlichkeiten der Spezies' vor. Die Unterstellung eines weitgehend undifferenzierten Typus von Lehrgedicht kann dieser vielfältigen und blühenden Gattung der Aufklärung jedoch nicht gerecht werden. Die Untersuchung der Kästnerschen Lehrgedichte bietet hier Ansätze zur Differenzierung. Ihre Ergebnisse figurieren als Korrektur gewisser verallgemeinernder Aussagen. 103

Neben den Ansätzen zur (konzeptional-thematischen und poetologischfunktionalen) Differenzierung innerhalb des >Typus Lehrgedicht< bedarf es zusätzlich - zumindest hinsichtlich von kosmologischen Lehrgedichten, in denen auf naturwissenschaftliche Theorien Bezug genommen wird, - auch einer detaillierten Erörterung des als Sub- oder Intertext zugrundeliegenden wissenschaftshistorischen Materials und der Rekonstruktion des zeitgenössischen (natur)wissenschaftlichen Diskussionskontextes und zwar durchaus im Sinne eines philologischen Kommentars, das ein angemessenes historisches Verständnis des dichterischen Textes ermöglichen soll. Oft fallen nämlich in der Forschung zum frühaufklärerischen Lehrgedicht Bemerkungen zur Wissenschaftsgeschichte oder zum Inhalt einer naturwissenschaftlichen Theorie, auf die das Gedicht anspielt, sehr allgemein und vage aus. Vielleicht ist dies u.a. so aus (meist unausgesprochenen) Gründen eines nicht zumutbar geglaubten Kompetenzerwerbs von primär geisteswissenschaftlich gebildeten 103

Vgl. Baasner (1991), S. 169 mit Bezug u.a. auf folgende Studien: Georg Willy Vontobel: A. G. Kästner. In: Ders.: Von Brockes bis Herder, Studien über die Lehrdichtung des 18. Jahrhunderts, Diss. Bern 1942; Leif Ludwig Albertsen: Das Lehrgedicht eine Geschichte der antikisierenden Sachepik in der neueren deutschen Literatur mit einem unbekannten Gedicht Albrecht von Hallers, Aarhus, 1967; Christoph Siegrist: Das Lehrgedicht der Aufklärung, Stuttgart 1974; Gunter E. Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung, Tübingen 1983. Vgl. speziell auch zu den naturwissenschaftlich-astronomischen Themen im frühaufklärerischen Lehrgedicht Karl Richter: Literatur und Naturwissenschaft. Eine Studie zur Lyrik der Aufklärung, München 1972; Uwe-K. Ketelsen: Die Naturpoesie der norddeutschen Frühaufklärung. Poesie als Sprache der Versöhnung: alter Universalismus und neues Weltbild, Stuttgart 1974; Hans-Wolf Jäger: Lehrdichtung. In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 3: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680-1789, hg. v. Rolf Grimminger, München 1980, bes. S. 518-520. Vgl. auch Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 5/II (Frühaufklärung), Tübingen 1991.

Ill Forschern in naturwissenschaft(sgeschicht)lichen Sachfragen, was oft von d e r (inzwischen obsolet g e w o r d e n e n ) Vorstellung einer prinzipiellen disziplinar e n Trennung von Geistes- u n d Naturwissenschaften herrührt. Wissenschaftliche Kenntnisse des Autors k ö n n e n beispielsweise - getrennt von der A n a lyse des literarischen Werks - mit B e z u g n a h m e auf sein (späteres) eigenes naturwissenschaftliches O e u v r e diskutiert w e r d e n , wie dies R a i n e r Baasner in einem gesonderten Kapitel zu Kästners Physikbegriff in seiner A r b e i t tut. 1 0 4 A b e r bereits die metapoetisch vermittelte Gedichtskonzeption - (»O N e w t o n ! m ö c h t e doch, erfüllt von deinen S ä t z e n / M e i n Lied der D e u t s c h e n Geist belehren und ergötzen« ( w . 81f.) 105 - , das Vokabular und die Textkomposition verraten z.B. in Kästners Gedicht einen h o h e n G r a d der konzeptuellen Durchdringung der Theorien N e w t o n s durch den Autor, der ζ. B. das Gravitationsgesetz, die Halleyschen Tafeln f ü r d e n K o m e t e n von 1682, die Kometentheorie, die Äthertheorie, die wissenschaftliche M e t h o d e , die Frage d e r Hypothesen, die Empirie usw. thematisch werden läßt. 1 0 6 Einige Gedichtverse verweisen somit auf d e n wissenschaftshistorischen Kontext der kontinentalen N e w t o n - D e b a t t e und N e w t o n - R e z e p t i o n des ersten Jahrhundertdrittels, in d e m in fachspezifischen Wissenschaftlerkreisen kosmologische T h e m e n u n d Fragen der naturwissenschaftlichen Forschung diskutiert wurden, die n u n Kästner in Deutschland aufgreift. D i e Auseinandersetzung von A u t o r e n wie Haller und Kästner mit d e m naturwissenschaftlichen G e d a n kensystems N e w t o n s war ja eine zentrale Voraussetzung für die gedankliche Innovation ihrer (philosophischen) Dichtung gewesen, die u. a. den Stil- und Funktionswandel des kosmologischen Lehrgedichts der F r ü h a u f k l ä r u n g erst erklärt. So ist in H a n s - G e o r g K e m p e r s Darstellung des Nexus' Poesie->Natur< in der Frühaufklärungsepoche die kosmologische Themenstellung u n d die naturwissenschaftliche Wissensvermittlung - im Kontext der Fragen der natürlichen Religion (Deismus) und des Naturrechts - eine K o m p o n e n t e des zugleich poetologisch und geistesgeschichtlich zu verstehenden Begriffs der imitatio naturae, mit d e m der Stil- u n d Funktionswandel der (früh)aufklärerischen Lyrik im R a h m e n des (freilich nicht unproblematisch zu diskutierenden) >Säkularisierungstheorems< beschrieben 1 0 7 und a n h a n d einer R e i h e von A u t o r e n und P r o b l e m e n erläutert wird. E s sind dies u . a . J o h a n n Sigmund Leiner, A b r a h a m Gotthelf Kästner, B e r n a r d L e Bovier de Fontenelle, Joh a n n J a k o b Scheuchzer, Albrecht von Haller, G o t t h o l d E p h r a i m Lessing, Christiaan Huygens, William D e r h a m , J o h a n n Christoph Gottsched, Alexander Pope, H e r m a n n Samuel Reimarus, B a r t h o l d Hinrich Brockes. 1 0 8 In kosmologischen L e h r o d e n u n d Lehrgedichten spielen dabei A s t r o n o m e n , Physi104 105 106 107 108

Vgl. Baasner (1991), S. 531-558. Zit. nach ebd., S. 245. Vgl. hierzu die Gedichtanalyse bei Baasner (1991), S. 253-260. Vgl. Kemper (1991), Einleitung, S. 3f. Vgl. ebd., bes. S. 40-75.

112 ker und Mathematiker wie Isaac Newton, Giovanni Domenico Cassini, John Flamsteed und Johann Georg Liebknecht109 eine herausragende Rolle. Wie sich gerade die Astronomie auch in Deutschland zwischen 1740 und 1770 zu einem bedeutenden Wissens- und Forschungsbereich konstituiert, von dem auch die Lehrdichtung beeinflußt wird (z.B. Christlob Mylius' Lehrgedicht von den Bewohnern der Cometen von 1744), geht aus einem weiteren Buch von Rainer Baasner: Das Lob der Sternkunst, Astronomie in der deutschen Aufklärung, Göttingen 1987, hervor. Dabei zeigt Baasner, wie auch die deutschen Naturforscher (und Dichter) an die Problembereiche der europäischen Newton-Debatte im Rahmen von Cartesianismus, Newtonianismus und Wolffianismus anknüpfen. 110 In methodischer Hinsicht nützlich ist ferner im Hinblick auf das Verständnis der Spezifizität von Stil- und Funktion des kosmologischen Lehrgedichts der Frühaufklärung, das als poetische Form in historischer Perspektive im deutschsprachigen Raum mindestens seit der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine Kontinuität aufweist, ein systematischer Vergleich mit den Lehrgedichten früherer Epochen, etwa mit den kosmologischen Gedichten Philipp Melanchthons111 und später mit den Gedichten der barocken »Contemplatio coeli«, z.B. bei Andreas Gryphius.112 Melanchthon hat beispielsweise sein theologisch motiviertes Studium und Beobachtung astronomischer Phänomene (u.a. Mond- und Sonnenfinsternisse, Kometen) zwischen 1530 und 1550 auch zum Verfassen astrologischer Gedichte (Epigramme, Elegien) in lateinischer Sprache benutzt. Obwohl er sich in seinem wichtigsten theoretischen Werk, den Initia doctrinae physicae (1550), u.a. mit Copernicus' Hauptwerk De revolutionibus orbium coelestium (1543) kompetent auseinandergesetzt hat, tritt in seinen Gedichten die natur- und himmelskundliche Wissensvermittlung in den Hintergrund gegenüber der allegorisch-mythologischen und historischen Deutung der astronomischen Phänomene; die Gestirnkonstellationen und -bewegungen werden als (vorausdeutende) Zeichen der Macht Gottes auf die Ereignisse in der Welt und auf das persönliche Schicksal des Menschen interpretiert: »Das gelehrte Spiel mit numina, fata 109

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Vgl. hierzu Jäger (1980), S. 513 im Zusammenhang mit den (mit Fußnoten versehenen) Lehrgedichten astronomischen Inhalts von Friedrich von Hagedorn. Vgl. z. B. in Baasner (1987) das Kap. »Himmelsphysik: Die Debatte um die causa gravitatis«, S. 7 8 - 1 0 4 (auch mit Hinweisen auf die dichterischen Texte). Vgl. Barbara Bauer: Philipp Melanchthons Gedichte astronomischen Inhalts im Kontext der natur- und himmelskundlichen Lehrbücher. In: Melanchthon und die Naturwissenschaften seiner Zeit, hg. von Günther Frank und Stefan Rhein (Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten, hg. von Stefan Rhein und Heinz Scheible, Bd. 4), Sigmaringen 1998, S. 137-181. Vgl. Bruno Rieder: Contemplatio coeli stellati. Sternhimmelbetrachtung in der geistlichen Lyrik des 17. Jahrhunderts. Interpretationen zur neulateinischen Jesuitenlyrik, zu Andreas Gryphius und zu Catharina Regina von Greiffenberg, Bern u.a. 1991.

113 und den Planetengöttern wird didaktisch gerechtfertigt durch die moralische Ausdeutung und die Mahnung der Frommen zur Reue und Umkehr.« 113 Darüber hinaus dient die Einbeziehung von historischen Vergleichsmomenten und von wissenschaftsgeschichtlichem Wissen in die Lehrgedichtsanalyse auch dazu, in der Forschung vorhandene Interpretationen an dem historischen Material zu überprüfen und, wo dies durch Detailstudien zu einzelnen Autoren und Gedichten gezeigt werden kann, auch zu korrigieren, wie dies z. B. Rieder (1991) bezüglich der Einschätzung von Gryphius' Stellung gegenüber menschlichem Erkenntnisinteresse und dem Fortgang neuzeitlicher Wissenschaft tut. 114 Gryphius geht es im Copernicus-Epigramm Uber Nicolai Copernici Bildt (in den beiden Fassungen von 1643 und 1663) nicht primär um astronomische oder wissenschaftsspezifische Fragen, so wie ihn nicht in erster Linie fachtechnische Aspekte des neuen Weltbildes interessieren: In der letzten Zeile des Gedichts: »Soll dein Lob unbewegt mit seiner Sonnen stehn« (Fassung 1663)115 »wird [Kopernikus] vom Gelobten zum selber Lobenden, womit auch seine Erkenntnis ihren tiefsten Sinn gefunden hat. Die Wendung vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild soll Vorbild sein für die spirituelle Wendung des Menschen zur göttlichen Sonne, zu Christus. Die Mittelpunktsfrage ist so nicht eine astronomische, sondern eine theologische Frage.« 116 Aus der vergleichenden Analyse solcher Beispiele läßt sich die Abkehr der Autoren der frühaufklärerischen Periode von traditionellen Mustern der dichterischen Motivierung und ihre Bemühung um eine Neuorientierung des kosmologischen Lehrgedichts an einem komplex strukturierten Naturbegriff eventuell genauer erklären. In den poetologischen Ansätzen dieser Autoren werden im Hinblick auf die Frage nach der (vernünftigen) Natur des Menschen, seiner Stellung in der Welt und im Kosmos so wie auch nach seinem Verhältnis gegenüber Gott und den andern Menschen in der Gesellschaft die Resultate der naturwissenschaftlichen Forschung - insbesondere diejenigen der Medizin und der Himmelsphysik - in ihrem objektiven Gehalt wahrgenommen und rücken in den Mittelpunkt der dichterischen Reflexion. 117

1,3

Vgl. hierzu Bauer (1998), S. 137-150, Zitat S. 146. Vgl. Rieder (1991), bes. S. 12-23. 115 Zit. nach ebd., S. 14. 116 Vgl. ebd., S. 19. 117 V g l z u r Lehrdichtung Hallers auch Teil I, Kap. 3.8 u. Teil II, Kap. 3.3 u. 4 dieser Studie. 114

Drittes Kapitel: Der Übergang zu der dynamischen Theorie der Materie im Prozeß der Theoriendebatte 1. D i e Kritik d e r N e w t o n i a n e r a n d e r G r a v i t a t i o n s t h e o r i e des Tourbillonsystems Descartes'1 D e r dritte Argumentkomplex thematisiert das Problem der Schwere oder Schwerkraft im Tourbillonsystem und umfaßt den fünften und siebten Einwand. D i e Darstellung der Argumentation der Newtonianer führt der Genfer Autor mit einer grundsätzlichen methodischen Frage ein, die das Kriterium betrifft, demzufolge das Problem der Schwere im Tourbillonsystem zu beurteilen sei: On a souvent attaqué Mr. Descartes sur cet Article; & il faut avouer que c'est un de ceux où ses Sectateurs mêmes l'ont abandonné. Mais la question n'est pas de savoir si Mr. Descartes a bien ou mal espliqué la cause de ce Phénomene; il s'agit de savoir si ce Phénomene détruit ou ne détruit point la supposition des Tourbillons: Voici le tour que donnent nos Messieurs à cette Objection. (1731, R, 27) Zur Illustration ihres Einwandes wählen die Newtionaner ein hypothetisches Argumentationsverfahren, in d e m eine Problemstellung formuliert wird, deren Lösung von der Annahme des Tourbillon ausgehen soll. D i e s e s Verfahren geht von einem konkreten mathematisch-physikalischen

Problem

aus - die Berechnung des Weges eines in einem Tourbillon fallenden Kör-

1

Die T\iriner Newtonianer orientierten ihre Argumentation an der ca. 1714 in Rom verfaßten und unveröffentlicht gebliebenen Abhandlung von Celestino Galiani: Epistola de gravitate et cartesianis vorticibus. Die Wirkung dieses Manuskripts, dessen Kopien u. a. nach Neapel verschickt wurden, konnte in Florenz, Pisa und Rimini ermittelt werden; vgl. Ferrane (1982), S. 85£ Pietro Giannone erwähnt Galianis vernichtende Kritik an der Gravitationstheorie des Tourbillonsystems, die der italienische Mathematiker aus Newtons Lehrsätzen herausgearbeitet habe, in seiner Abschrift der Türiner Lettre am Beginn des fünften Einwandes: »V.° Quod attinet ad terrenorum corporum gravitatem, quae ex coelestis quoque materiae vertigine quibusdam nosci videtur, quod illa ingenti vi ac mobilitate proeditam è medio vortice recedat, eoque inertia corpora deturbet, haec afferri potest argumentatio ad ejusmodi opinionem labefactaneam, ex Newtonianis Theorematis deductam ab acutissimo Coelestino Galliano, quem honoris causa nomino.« Vgl. Ms. del Giannone: Agger obiectus Cartesianorum vorticum eluvionibus, mazzo η. 1, inserto 19.

115 pers - und verfolgt das Ziel, die Absurdität der Tourbillontheorie an dem Schwereargument zu exemplifizieren. Im folgenden werden anhand der Argumentkonstruktion die Schritte verdeutlicht, die zur Widerlegung der cartesischen Gravitationstheorie führen sollen. Der erste Schritt besteht in der Annahme von Wirbeln bei der Erklärung der Erddrehung um die eigene Achse: (ii) S'il étoit vrai, disent-ils, que la Terre fît sa révolution sur son Axe, à cause du mouvement du Tourbillon dans lequel elle est plongée: on pourroit trouver le chemin que parcourroit dans une seconde, une partie de cette matière fluide qui l'entraîne, [...]. (1731, R, 27)

Aufgrund dieser Annahme ist es möglich, den zurückgelegten Weg eines Teils der flüssigen Tourbillonmaterie in einer Sekunde zu berechnen und zwar aus dem bekannten Wert für den Raum, den ein Erdpunkt in einer Sekunde durchläuft: (ii) »[...] puisqu'on sait l'espace que chaque point de la Terre parcourt dans une seconde, [...]« (1731, R, 27f.). Dies ist der zweite Schritt des Arguments. Aus diesen beiden Schritten folgt der dritte: (iii) [ . . . ] & par conséquent on trouverait le chemin qu'un Corps pesant décriroit en tombant pendant une seconde, s'il étoit poussé en bas, par la circulation de cette matière fluide, [...]. (1731, R, 28)

Es läßt sich also der Weg berechnen, den ein schwerer Körper in einem Tourbillon beschreibt, wenn er während einer Sekunde fällt, wobei die fallende Bewegung des Körpers vermöge der kreisförmigen Bewegung der flüssigen Tourbillonmaterie zustande kommt, wodurch der Körper einen vertikalen Stoß erfährt. Zur Veranschaulichung des quantitativen Ergebnisses der Teilschritte (i) und (ii) verwenden die Newtonianer eine Metapher: (iv) [...] parce que ce seroit précisément la fleche de l'Arc [sc. der Pfeil des Bogens] que cette matière fluide auroit décrit pendant une seconde. (1731, R, 28)

Das Argument der Newtonianer läuft darauf hinaus, in quantitativer Hinsicht die Diskrepanz aufzuzeigen zwischen dem Ergebnis, der aufgrund der Tourbillonhypothese zustande kommt, und den Werten, die nach dem Gravitationsgesetz Newtons resultieren: (v) Or cette fleche ne se trouve que d'un peu plus de demi pouce [sc. halber Daumen], & cependant les Corps parcourent en tombant plus de 15. pieds par seconde; [...]. (1731, R , 2 8 ) 2

Aus den divergierenden Lösungen in (ν) leiten die Newtonianer ihre Schlußfolgerung ab, in der die Tourbillonhypothese und die dieser inhärenten Erklärung der Ursache der Schwere verworfen wird: (vi) [...] donc ce n'est pas la révolution de cette matière fluide mue en Tourbillon qui est la cause de la chûte des Corps. (1731, R, 28) 2

Vgl. zu dem nach dem Gravitationsgesetz Newtons resultierenden Wert Principia (1726), Lib. III, Prop. IV, Theor. IV, S. 397: »Unde cum vis illa accedendo ad terram augeatur in duplicata distantiae ratione inversa, ideoque ad superficiem terrae ma-

116 Das Problem der Erklärung der Schwere im Tourbillonsystem wird im siebten Einwand erneut aufgegriffen und aus einer anderen Perspektive beleuchtet. Gegenstand der Kritik bilden diesmal die sich aufgrund der Tourbillonhypothese ergebenden Schwereverhältnisse am Äquator und an den Polen. Die Kritik wird außerdem durch die Heranziehung von empirischem Datenmaterial unterstützt, das mit der Newtonschen Gravitationstheorie in Übereinstimmung gebracht werden konnte. Diese Erfahrungsdaten werden in Wissenschaftlerkreisen nicht angezweifelt und gelten als empirisch abgesichert und überprüfbar. Dieser Umstand kommt in der Formulierung des Genfer Cartesianers, mit welcher der siebte Einwand der Newtonianer eingeführt wird, klar zum Ausdruck: Nos Auteurs reviennent encore à la Pesanteur. On sait que la force de la gravité est moindre sous l'Equateur que vers le Pole; les expériences que Mr. Richer3 a faites à la Cayenne ne permettent pas d'en douter; [...]. (1731, R, 37)

Der siebte Einwand der Newtonianer basiert somit auf der Gewißheit, daß die von Jean Richer durchgeführten Experimente nicht nur mit der Gravitationstheorie Newtons in Übereinstimmung gebracht werden können, sondern daß sie darüber hinaus die Tourbillontheorie in Frage stellen, da die nach dieser Theorie resultierenden Schwereverhältnisse am Äquator und zu den Polen den Experimenten Richers deutlich widersprechen: [...] or si c'étoit la matière céleste qui fût la cause de la pesanteur, la chose devroit être tout autrement, car elle auroit sous l'Equateur beaucoup plus de force centrifuge que vers les Poles. Les Corps qui se trouvent sous l'Equateur devroit donc être poussés en bas avec plus de force que ceux qui sont près des Poles. (1731, R, 37)

Um den Beweis zu erbringen, daß die matière céleste unterhalb des Äquators eine größere Schwerkraft ausübt als an den Polen, gehen die Turiner Newtonianer von der Annahme aus, daß im Tourbillonsystem die gesamte flüssige Materie ihre Revolution im selben Zeitraum vollzieht, in dem die Erdteile sich vermöge einer solchen Materiebewegung drehen. Aus dieser Voraussetzung schließen sie, daß die sich unterhalb des Äquators befindenden Materieteile, die infolgedessen die größte kreisförmige Bewegung vollziehen, auch die größte Schwerkraft ausüben (1731, R, 37f.). Solche Schwe-

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jor sit partibus [...] quam ad lunam; corpus vi illa in regionibus nostris cadendo, describere deberet spatio minuti unius primi pedes Parisienses [...],& spatio minuti unius secundi pedes 15 [...], vel magis accurate pedes 15. dig. I. & lin. I [...].« Es handelt sich bei diesem Forscher um den einflußreichen Cartesianer und Mitglied der Pariser Akademie Jean Richer, der u. a. mit Giovanni Domenico Cassini am großen Observatorium der Akademie in Paris tätig war und sich mit wichtigen Forschungsbeiträgen zu der Schwerkraft - v. a. mit den 1672 in Cayenne (Äquator) durchgeführten Pendelexperimenten - in ganz Europa bekannt gemacht hat. Beispielsweise werden Richers Experimente von Maupertuis in seinem Discours von 1732, S. 82ff. im Zusammenhang mit Problemen zu der Form von Himmelskörpern und zu der Gravitation erwähnt.

117 reverhältnisse widersprechen aber den Erfahrungsdaten. Mit diesem Einwand referiert der Genfer Journalist den letzten Kritikpunkt der Newtonianer an der cartesischen Tourbillontheorie. Mit dem hier diskutierten Aspekt des Schwereproblems haben die Newtonianer ihre grundlegende Kritik - das Nicht-Übereinstimmen der cartesianischen Hypothesen mit den experimentell ermittelten Erfahrungswerten - anhand einer nachvollziehbaren argumentativen Beweisführung exemplifiziert, bei der sie auf die Gesetze der Tourbillontheorie selbst zurückgriffen. Nach ihrer Auffassung hat somit die größere Fähigkeit des Newtonschen Gravitationsgesetzes, physikalische und kosmologische Phänomene sowie Erfahrungsdaten zu erklären, den Verlust an der Erklärungsfähigkeit und Plausibilität der konkurrierenden Theorie zur Folge.

2.

Der Kommentar des Genfer Cartesianers zu dem Schwerkraftargument

2.1. Das Beurteilungskriterium der Tourbillontheorie Analog zu der Darstellung der Einwände der Newtonianer ist die Antwort des Genfer Cartesianers in zwei Teile gegliedert. Unsere Darstellung des ersten Teils der Antwort möchte an das oben bereits erwähnte Kriterium der Beurteilung des Schwereproblems im Tourbillonsystem anknüpfen und es der Klarheit halber noch einmal in Erinnerung rufen: Mais la question n'est pas de savoir si Mr. Descartes a bien ou mal espliqué la cause de ce Phénomene [sc. die Schwere]; il s'agit de savoir si ce Phénomene détruit ou ne détruit point la supposition des Tourbillons: [...]. (1731, R, 27)

Der Genfer Autor unterscheidet somit hinsichtlich des Phänomens der Schwere zwei grundsätzlich mögliche Problemstellungen: (i) Ist eine aufgrund des Tourbillonsystems angenommene Ursache χ eine gute oder eine schlechte Erklärung des Phänomens der Schwere? (ii) Wird die Tourbillonhypothese durch das Phänomen der Schwere unterminiert? Aus (i) folgt (iii), daß die Gültigkeit der Tourbillontheorie grundsätzlich nicht in Frage gestellt wird und daß eine adäquate Ursachenerklärung des Schwerephänomens jedoch ein ungelöstes Problem dieser Theorie darstellt. Aus (ii) folgt (iv), daß die Gravitation ein in der Natur gegebenes Phänomen ist, das die Tourbillontheorie (potentiell) widerlegen kann. Es folgt weiter, daß zur Beurteilung der Tourbillontheorie der in (i) und (iii) dargestellte Problemtypus irrelevant, der in (ii) (iv) dargestellte Problemtypus hingegen relevant ist. Durch diese expliziten und impliziten Aussagen des Genfer Autors wird somit ein Kriterium deutlich, nach dem die Tourbillontheorie generell zu beurteilen ist. Dieses läßt sich verallgemeinernd in die folgende programmatische Fragestellung formulieren: (v) Kann ein physikalisches (oder astronomisches)

118 Phänomen y die Tourbillonhypothese widerlegen, wenn die Frage nach der Adäquatheit der Erklärung der Ursache χ des Phänomens y als irrelevant betrachtet wird? Diese Fragestellung bildet somit den Ausgangspunkt der Diskussion um das von den Newtonianern aufgeworfene Problem der Schwere im Tourbillonsystem. 2.2. Die Schwierigkeiten der ersten Gegenargumentation Vor dem Hintergrund der aus den Punkten (i) und (iii) des vorangehenden Abschnitts 2.1 gefolgerten Problemsituation weist der Genfer Cartesianer zunächst auf die resiorf-Hypothese hin, die sich auf eine Eigenschaft der >dünnsten Fluidumteilchen< bezieht4 und die eine zum Tourbillon alternative mechanische Ursachenerklärung der Schwere darstellt: Nous répondons en premier lieu, qu'il n'est pas nécessaire d'expliquer la pesanteur des Corps par les Tourbillons, elle peut avoir une cause différante, comme par exemple, si l'on suppose que les parties les plus subtiles du fluide qui circule, soient à ressort; le ressort de celles qui se trouveront près de la Terre, sera affoibli, & perdra même de son mouvement en rencontrant les parties de la Terre: Donc l'effort des parties qui sont les plus éloignées de la Terre, sera supérieur à l'effort de celles qui lui sont voisines, & c'en est peut-être assez pour expliquer la pesanteur des Corps d'ici bas. (1731, K, 28f.)

Den in den Himmelsräumen angenommenen >dünnsten Fluidumteilchen< oder der matière subtile, wobei mit diesem Terminus der (cartesianische) Äther bezeichnet wird, wird also im Rahmen der ressort-Hypothese Elastizität oder elastische Kraft als eine physikalische Eigenschaft zugewiesen. Die Stellungnahmen des Genfer Autors zu dieser Hypothese beschränken sich jedoch im Article von 1731 auf den zitierten Textpassus, wobei die Elastizitätshypothese im Article von 1732 im Rahmen der Diskussion des Schwerkraftproblems noch einmal aufgegriffen wird.5 Der eigenen programmatischen Problemstellung folgend, konzentrieren sich die Stellungnahmen des Genfer Autors vielmehr auf die von den Turiner Newtonianern geäußerten Einwände (vgl. oben Kap. 3, 1). Wie im folgenden zu zeigen sein wird, weist seine Gegenargumentation erhebliche Schwierigkeiten auf, die in der Stringenz der Einwände der Newtonianer ihren Grund haben und den Cartesianer zur Revidierung seiner Aussagen zwingen werden. Konkret bestreitet der Genfer Autor zunächst die im hypotheti-

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5

In der Encyclopédie wird im Art. »ressort« die physikalische Bedeutung dieses Begriffs wie folgt beschrieben: »[...] signifie l'effort que font certains corps pour se rétablir dans leur état naturel, après qu'on les en a tirés avec violance en les comprimant ou en les étendant. Les Philosophes appellent cette faculté force élastique ou élasticité.« Vgl. Encyclopédie; ou Dictionnaire Universel raisonné des Sciences Humaines. Mis en ordre par M. D e Felice, Bd. 35, Yverdon 1774, S. 624b. Vgl. hierzu Teil I, Kap. 3, 7 dieser Studie.

119 sehen Argumentationsverfahren der Newtonianer hergeleitete Lösung zur Berechnung des Weges, den ein schwerer, in einem Tourbillon fallender Körper innerhalb einer Sekunde zurücklegt: Mais en second lieu, sans vouloir soûtenir ce Système, ni aucun autre, nous osons assûrer que l'on se trompe quand on dit que le chemin que parcourroit un Corps pesant pendant une seconde, seroit égal à la fleche de l'Arc que la Terre décrit pendant une seconde. (1731, K, 29)

Der Genfer Cartesianer behauptet weiterhin, daß der zurückgelegte Weg viel länger sein müsse und begründet seine Behauptung mit zwei Argumenten. Das erste Argument lautet wie folgt: I o . La vitesse de tout Corps qui tombe, s'accelére continuellement pendant la chûte, mais la fleche de l'Arc d'une seconde seroit tout au plus ce que le Corps auroit parcouru sans accélération; elle n'indique donc en aucune manière l'espace qui auroit été parcouru pendant une seconde. (1731, K, 29f.)

Die Lösung der Newtonianer wird damit hinsichtlich der implizit angenommenen konstanten Geschwindigkeit des in einem Tourbillon fallenden Körpers beanstandet, wobei stattdessen behauptet wird, daß die Geschwindigkeit eines solchen Körpers zunehmend beschleunigt werde: On nous relève là-dessus fort à propos, & on dit que l'accélération ne sauroit faire que cet Espace qu'un corps pesant doit parcourir dans une seconde, qui n'est que d'un demi pouce, allat à quinze pieds; ce qui est vrai; & même ayant pensé là-dessus plus mûrement, nous avons trouvé que si le fluide se mouvoit avec la même vitesse que les points de la Terre, cette flèche de demi pouce est tout ce que les corps pesant pourroient décrire même avec accélération. (Vgl. Bibliothèque Italique, Tome XIV (1732), S. 179f.)

Die Argumentation der Newtonianer wird damit als gültig anerkannt, so daß ihr Einwand gegen die Schwereerklärung im Tourbillonsystem bestehen bleibt. Das zweite Argument bezieht sich auf die Geschwindigkeiten der Tourbillonteile oder Tourbillonschichten (couches). Aus der Argumentation der Turiner Newtonianer geht implizit hervor, daß die Geschwindigkeit der sich an der Erdoberfläche drehenden Tourbillonteile mit der Geschwindigkeit von Punkten an der Erdoberfläche gleichgesetzt wird. Gegen diese Vorstellung formuliert der Genfer Autor die Hypothese von den unterschiedlichen Geschwindigkeiten der Tourbillonschichten, die in Abhängigkeit von deren Distanz vom Tourbillonzentrum, wo die Geschwindigkeit am kleinsten sei, zunehmen sollen: Mais, 2°. on se trompe quand on assûre que les parties du Tourbillon qui sont à la surface de la Terre ne tournent pas plus vite que les points de la Terre: Les parties du Tourbillon ont des vitesses différentes entr'elles; elles tournent moins vite au centre du Tourbillon qu'à quelque distance de là. La vitesse de la Terre n'est donc qu'une vitesse moyenne entre la plus grande & la plus petite vitesse de la portion du Tourbillon qu'elle renferme, ainsi la vitesse du Tourbillon qui est à la surface de la Terre, est beaucoup plus grande que celle de la surface de la Terre même; ce calcule manque donc par son principe. (1731, K, 30)

120 In einem Tourbillon soll somit die Erdgeschwindigkeit im Verhältnis zu den minimalen und den maximalen Geschwindigkeiten, welche die Tourbillonteilchen in dem von der Erde eingeschlossenen Tourbillonausschnitt haben, einen mittleren Wert einnehmen. Die Geschwindigkeit eines Tourbillonteilchens an der Erdoberfläche müßte infolgedessen größer sein als diejenige eines Punktes auf der Erdoberfläche selbst. Das zweite Gegenargument enthält jedoch eine weitere Schwierigkeit, die sich auf die Aussagen über die Geschwindigkeitsverhältnisse in den Tourbillonschichten bezieht. Der Genfer Cartesianer behauptet im oben zitierten Textabschnitt, daß sich die Rotationsgeschwindigkeiten der Tourbillonschichten proportional zu deren Abstand vom Zentrum verhalten, während er in vorangehenden Aussagen den Überlegungen Newtons gefolgt war, der festgestellt hatte, daß sich die Geschwindigkeiten der Tourbillonschichten umgekehrt proportional zu deren Abstand vom Zentrum verhalten müßten. 6 Es ist der italienische Gelehrte, der in seinem Antwortbrief von 1732 auf die Inkonsistenz der Aussagen des Cartesianers aufmerksam gemacht hat, worauf dieser seine widersprüchlichen Aussagen eingesteht, umgehend korrigiert und sich beim Lesepublikum auch dafür entschuldigt: Nous avions dit 3°. que les Newtoniens se trompent, quand ils établissent que les parties du Tourbillon qui sont à la surface de la Terre ne tournent pas plus vite que les points de la surface de la Terre; en cela nous n'avions pas tort, mais la raison que nous en donnions a choqué nôtre Auteur très justement, & nous devons au Public l'aveu de nôtre faute; il nous étoit échappé de dire que les parties du Tourbillon tournent moins vite au Centre qu'à quelque distance de là; ces paroles sont contraires au Système des Tourbillons tel que nous l'établissons par tout: [...]. Nôtre Auteur dit, qu'il ne croit pas avoir aucune réponse à nous donner là-dessus, puisque nous ne donnons point de preuves, mais qu 'il en peut conclure avec raison l'absurdité des Tourbillons, puisque ces différentes vitesses dans les parties du Tourbillon doivent nécessairement reduire l'Univers dans son prémier Cahos. (Bibliothèque Italique, Tome XIV (1732), S. 180f.)

In diesem Abschnitt der Debatte zeichnet sich die Redeposition des Genfer Gelehrten durch eine bemerkenswerte Korrektheit aus, die nicht zuletzt auch durch das öffentliche Medium der Zeitschrift bedingt ist, in dem seine Aussagen (so wie die seiner wissenschaftlichen Gegner) beurteilbar sind. Relevant ist zudem im Hinblick auf den größeren Argumentationszusammenhang in diesem Teil der Arbeit zum einen das aufmerksame Interesse, das seine Zeitschriftenartikel bei den naturwissenschaftlich gebildeten und kompetenten Lesern finden (auch außerhalb von Genf), und zum anderen das kritische Verantwortungsbewußtsein des Journalisten gegenüber dem Lesepublikum der Bibliothèque Italique, dem er mit seiner Redeposition signalisiert, daß es 6

Vgl. hierzu etwa die Stelle 1731, K, 8: »II faut donc de nécessité, suivant Mr. Newton, afin que les Tourbillons puissent subsister sans altération, que les vitesses des parties des Tourbillons décroissent à mesure que ces parties sont plus éloignées du centre.«

121 ihm bei der Auseinandersetzung mit den Problemen der Tourbillontheorie um argumentative Kohärenz und Transparenz geht (und nicht etwa um Polemik).

3.

Die Auseinandersetzung mit den Grundannahmen der Newtonschen Gravitationstheorie

3.1. Die Problematisierung des Newtonschen Kraftbegriffs Die weitere Entwicklung der Debatte läßt sich aufgrund des im Abschnitt 3. der Einleitung zum ersten Teil dieser Studie dargelegten >Lückenmodells< erklären. Einen Ausweg aus der zuletzt erörterten problematischen Argumentationsposition findet der Genfer Autor - wie dies bereits mit dem Vergleich der Methodenmodelle geschehen war (vgl. oben Teil I, Kap. 2, 3) durch die Verlagerung der Diskussion auf Grundsatzfragen, die dieses Mal die naturphilosophischen Basisannahmen der beiden Systeme der Naturanschauung betreffen und die divergierenden Positionen von Newtonianern und Cartesianern bezüglich der Erklärung des Phänomens der Schwere um so deutlicher hervortreten lassen. Auf dieser Diskussionsebene wird nun versucht, die Schwierigkeiten des Tourbillonsystems zu relativieren, indem auf die Untragbarkeit der Konsequenzen hingewiesen wird, die sich aus den Newtonschen Grundannahmen zu der Gravitation ergeben. Zu diesem Zweck greift der Genfer Cartesianer auf die Aussagen Newtons und auf diejenigen seiner Anhänger über Äther und Gravitation zurück, um damit zwei neuralgische Begriffe des Newtonschen Systems zu problematisieren: Es sind dies zum einen der Kraftbegriff und zum andern der Ätherbegriff, die im anticartesischen Ansatz Newtons, dessen zentraler inhaltlicher Bestandteil die »Entkoppelung von Materie und Ausdehnung« 7 ist, betroffen sind: Enfin qu'est-ce que les Newtoniens ont à reprocher aux Cartésiens, au sujet de la gravité? S'il prétendent qu'elle a une cause mécanique, il faut qu'ils avouent qu'ils l'ignorent profondement aussi-bien qu'eux. Que s'il veulent assûrer avec leur Maître, qu'il n'y a point de partie de la matière qui n'ait de la pesanteur, * pas même ce qu'on appelle ALther, ensorte qu'il n'y ait aucune cause Physique de ce Phénomène; nous croyons que les difficultés du Système des Tourbillons ne devroient pas arrêter des gens qui peuvent digerer de pareilles idées. (1731, K, 30f.)

Der dritte Satz des zitierten Textabschnitts enthält bezüglich der erwähnten Begriffsproblematisierung die relevante Aussage, die in die folgenden Teilaussagen zerlegt und expliziert werden kann: (i) Es gibt keinen Teil der Materie, dem nicht zugleich Schwere zukommt, (ii) Dem sogenannten Äther kommt ebenfalls Schwere zu. Daraus folgt: (iii) Das Phänomen der Schwere hat keine physikalische (= rein mechanische) Ursache, (iv) Die Schwierigkei7

Vgl. Kondylis ( 2 1986), S. 213.

122 ten des Tourbillonsystems sind vor dem Hintergrund der Teilaussagen ( i ) (iii) kein Grund, um dieses Erklärungsmodell aufzugeben. D i e Teilaussagen (i) und (ii) gehören explizit den Theorien Newtons an, während die Teilaussage (iii) zwar aus diesen gefolgert werden kann, jedoch in dieser Ausdrucksform eher den Positionen der Newtonianer zuzuschreiben ist. Die Teilaussage (iii) wird folglich als logische Schlußfolgerung der Newtonianer aus den Teilaussagen (i) und (ii) dargestellt, während die Teilaussage (iv) die vom Genfer Autor hinsichtüch der Teilaussagen ( i ) - ( i i i ) eingenommene Redeposition zum Ausdruck bringt. U m die textuellen Bezugnahmen derjenigen Teilaussagen explizit herauszustellen, die der Genfer Gelehrte dem Newtonschen Werk zuschreibt, fügt er den Teilaussagen (i) und (ii) eine Fußnote hinzu, in der auf den fünften Lehrsatz und folgende des dritten Buches der Principia mathematica sowie auf die 21. Frage der Opticks verwiesen wird. D i e Fußnote, auf die der Genfer Cartesianer mit einem Asterisk verweist, enthält die folgenden mit einer Bemerkung versehenen Hinweise: * Princ. Phil. Mathem. pag. 368. L. 5. & suiv. Edition d'Amsterdam. 1714.8 Mr. Newton s'en dédit dans ses questions d'Optique Quœst. 21. & même dans la dernière Edition de ses Principes, mais on ne doit pas juger de ce qu'il pensoit sur cette matière par ce qu'il a dit, ou écrit trente ans après avoir composé son Ouvrage. (1731, K, 31)9·10 8

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10

Die explizite Bezugnahme auf die Textstelle der Principia ist folgendermaßen zu übersetzen: Princ.[ipia] Phil.[osophiae] [Naturalis] Mathematica], pag.[e] 368, L.[emma] 5. & suiv.[antes]. Edition d'Amsterdam. 1714. Es handelt sich bei dem vom Genfer Autor zitierten Principia-Text um ein Exemplar der 1714 in Amsterdam erschienenen Neuaufl. der zweiten von Roger Cotes hg. Edition von 1713. Bei der zusätzlich erwähnten »letzten« Principia-Edition wird hingegen nicht genauer spezifiziert, um welche Edition es sich handelt. Theoretisch betrachtet, kämen die dritte lateinische von Newton autorisierte und von Henry Pemberton hg. Edition von 1726 oder die von Andrew Motte besorgte englische Übersetzung der Principia von 1729 in Frage, die in den Forscherkreisen des Kontinents zu dem Zeitpunkt dieser Debatte durchaus bekannt sein dürfte. Jedoch ist es plausibler, daß sich der Genfer Gelehrte auf die dritte lateinische Edition des Principia-Textes bezieht. Angesichts der Tatsache, daß die genannten Principia-Texte hinsichtlich des problematisierten Aspektes des Newtonschen Ätherbegriffs Abweichungen aufweisen, sind im weiteren Analyseverfahren sowohl die lateinischen Editionen als auch die englische Übersetzung der Principia zu berücksichtigen. Vgl. Philosophiae Naturalis Principia Mathematica. Auctore Isaaco Newtono. Eq. Aur. Editio tertia aucta & emendata. Londini: Apud Guil. & Joh. Innys, Regiae Societatis typographos. MDCCXXVI sowie The mathematical principles of natural philosophy. Translated into English by Andrew Motte. To which are added, The laws of the moon's motion, according to gravity. By John Machin. In two volumes. London: printed by Benjamin Motte, 1729. (Diese Angabe zit. nach I. Bernard Cohen: Introduction to Newton's >PrincipiaGeist< und Materie zu der zentralen Grundvorstellung des newtonianischen Weltbildes des 18. Jahrhunderts avancieren ließ. Diese Komponente des sich vollziehenden Weltbildwandels war ferner insofern von Bedeutung, als das Reziprozitätsverhältnis zwischen 43 44 45

46 47

Vgl. Kondylis ( 2 1986), S. 217. Vgl. Principia (1726), Defin. III, S. 2. Vgl. Le monde, Chap. VI u. Chap. VII. (Zit. nach der Ausg.: René Descartes: Le monde ou Traité de la lumière/Die Welt oder die Abhandlung über das Licht, übers, und mit einem Nachwort versehen von G. Matthias Tripp, Berlin 1989, bes. S. 4 2 44 u. S. 52). Vgl. Le monde, Chap. VII, in: Descartes (1989), S. 48. Vgl. Principia (1726), Defin. III, S. 2. Zum Status dieser Kraft, die Newton »Impetus« nennt, vgl. Michael Wolff: Geschichte der Impetustheorie. Untersuchungen zum Ursprung der klassischen Mechanik, Frankfurt/M. 1979, S. 313ff.

131 >Geist< und Materie weitgehend die zentrale Grundannahme der (sensualistischen) Erkenntnistheorien des 18. Jahrhunderts konstituierte. Zu Beginn des dritten Buches der Principia, in dem Newton sein Weltsystem entwirft, zählt er die Dichte und die Widerstandskraft von Körpern sowie den leeren Raum und die Bewegung des Lichts und des Schalls zu den Grundelementen der Naturphilosophie. 48 Im Kommentar zu der dritten Regula philosophandi, in der Newton die Bestimmung der allen Körpern zukommenden Eigenschaften aufgrund empirischer Kriterien fordert, legt er im Anschluß an die Aufzählung dieser wesentlichen Eigenschaften (Ausdehnung, Härte, Undurchdringlichkeit, Beweglichkeit, Trägheitskraft) die theoretische Basis für die Formulierung des allgemeinen Gravitationsgesetzes. Newton rekurriert diesbezüglich auf seine Definition von Masse und legt fest, daß alle Körper gegeneinander schwer seien und zwar im Verhältnis ihrer jeweiligen Masse, 49 wobei er sich auf astronomische Beobachtungen stützt und somit die genannte Regel befolgt. Es ist darauf hinzuweisen, daß Newton zwischen allgemeinen und wesentlichen Eigenschaften der Materie genau unterscheidet. Obwohl er erklärt, daß für die Schwere von Körpern ein viel strengerer Beweis als für deren Undurchdringlichkeit vorliege, behauptet er, daß die Schwere den Körpern nicht als wesentliche Eigenschaft zukomme, sondern als allgemeine; nur die Kraft der Trägheit (vis inertiae) begreift er als wesentliche Eigenschaft, da sie in jedem Körper unveränderlich sei, wohingegen die Schwere von Körpern mit der Distanz von der Erde abnehme. 50 Im Licht dieser Ausführungen kann nun der Status der Schwere bzw. der Schwerkraft innerhalb des Newtonschen Systems genauer festgehalten werden, wobei die Hintergründe und die Schwierigkeiten des vom Genfer Autor problematisierten Aspektes dieses Begriffs verdeutlicht werden sollen. Die dynamische Konzeption des Newtonschen Weltsystems nimmt in bezug auf die Form der in der Natur existierenden Kräfte eine genaue Differenzierung vor, die mit dem oben bereits genannten zweifachen Kraftprinzip identisch ist: das passive Kraftprinzip, aufgrund von dem Körper Widerstand leisten, d.h. entweder ruhen oder sich geradlinig-gleichförmig bewegen, ist die Trägheitskraft (vis inertiae),51 das aktive Kraftprinzip, aufgrund von dem Materie

48 49

50 51

Vgl. Principia (1726), Lib. III, ( D e mundi systemate), S. 386. Vgl. Principia 1726, Regula III und Kommentar, S. 387-389. Newton sagt an dieser Stelle u. a. ausdrücklich, daß a) alle Körper in der Umgebung der Erde gegen diese schwer sind, b) der Mond gegen die Erde schwer ist und umgekehrt das Meer gegen den Mond schwer ist, c) alle Planeten wechselseitig gegeneinander schwer sind und daß d) die Kometen gegen die Sonne schwer sind. Vgl. Principia (1726), Regula III und Kommentar, S. 389. Vgl. Opticks (1718), Qu. 31, S. 372f.: »The Vii inertiae is a passive Principle by which Bodies persist in their Motion or Rest, receive Motion in proportion to the Force impressing it, and resist as much as they are resisted.«

132 bewegt oder beschleunigt wird, ist die Schwerkraft (»Gravity«).52 Diese wichtige Distinktion Newtons, die der Genfer Cartesianer zu übersehen oder nicht zu verstehen scheint, wird, wie zu zeigen sein wird, den Schwierigkeiten seiner Aussagen zu der Schwere und zum Äther zugrundeliegen. Newtons aktives Kraftprinzip ist das neue Element, das er in sein atomistisches Weltsystem des Vakuums und der Korpuskeln einführt, wobei die sich im Vakuum entfaltenden aktiven immateriellen Kräfte aus der Entfernung wirken und die Korpuskeln in Bewegung versetzen. In der orthodoxen mechanizistischen Naturphilosophie galt das bewegte Teilchen als letztes Erklärungsprinzip, wohingegen im Newtonschen System diese Funktion der Anziehungskraft (vis attractivä) zukommt; 5 3 in diesem System wird diese, sei es nun im mikroskopischen Bereich der kleinsten Materieteilchen oder im makroskopischen Bereich der Himmelskörper, zu dem allgemeinen und letzten Erklärungsprinzip erhoben. D i e Schwere von Körpern als Wirkung des universellen Prinzips der Attraktion ist somit durch ein den leeren Raum ausfüllendes Netz von immateriellen Kräften, aufgrund von denen sich die Körper anziehen oder abstoßen, bedingt. 54 Was die Natur der Attraktionskraft genau ist, führt N e w t o n nicht aus, weder in den Principia noch in den Opticks. Eindeutig ist jedoch, daß die Theorie, die Newton über das Wesen seines Gravitationsgesetzes liefert, nicht physikalischer Natur ist. 55 In den Principia präzisiert N e w t o n dennoch, daß sein Kraftbegriff ein mathematischer ist; über die

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Vgl. Opticks (1718), Qu. 31, S. 376: »It seems to me farther, that these Particles have not only a Vis inertiae, accompanied with such passive Laws of Motion as naturally result from that Force, but also that they are moved by certain active Principles, such as is that of Gravity, [...].« Zur terminologischen Bestimmung der Schwere vgl. Principia (1726), Lib. III, Prop. V, Scholium, S. 399: »Hactenus vim illa qua corpora coelestia in orbibus suis retinentur centripetam appellavimus. Eandem jam gravitatem esse constat, & propterea gravitatem in posterum vocabimus. Nam causa vis illius centripetae, qua luna retinetur in orbe, extendi debet ad omnes planetas per reg. I., II. & IV.« Vgl. Richard Westfall: Force in Newton's Physics. The Science of Dynamics in Seventeenth Century, London, New York 1971, S. 377f. Vgl. Opticks (1718), Qu. 31, S. 350: »Have not the small Particles of Bodies certain Powers, Virtues or Forces, by which they act at a distance, not only upon the Rays of Light for reflecting, refracting and inflecting them, but also upon one another for producing a great part of the Phaenomena of Nature? For it's well known that Bodies act one upon another by the Attraction of Gravity, Magnetism and Electricity; and these Instances shew the Tenor of Course of Nature, and make it not improbable but that there may be more attractive Powers than these. For Nature is very consonant and conformable to her self.« Vgl. Opticks (1718), Qu. 31, p. 351: »What I call Attraction may be perform'd by impulse, or by some other means unknown to me. I use that Word here to signify only in general any Force by which Bodies tend towards one another, whatsoever be the Cause. For we must learn from the Phaenomena of Nature what Bodies attract one another, and what are the Laws and Properties of the Attraction, before we enquire the Cause by which the Attraction is perform'd.«

133 physikalischen Ursachen und die Sitze der Kräfte befinde er nicht. 56 Trotzdem erhält Newtons Kraftbegriff - zumindest im Rahmen der in seinen publizierten Schriften entworfenen Naturphilosophie - einen ontologischen Status, indem er die Kräfte als real existierende Entitäten behandelt. 57 Diese in der Naturkonzeption Newtons vorhandene Vorstellung wird angesichts der Tatsache verständlich, daß die orthodoxe mechanizistische Naturphilosophie des 17. Jahrhunderts darauf insistierte, daß die physikalische Realität ausschließlich aus sich bewegenden bloß durch Größe, Form und Härte charakterisierten Materieteilchen bestehe, so daß Newton gerade in Absetzung von dieser Vorstellung die attraktiven und repulsiven Kräfte als (allgemeine) Eigenschaften der Materieteilchen betrachtete, wobei er diese Eigenschaftszuweisung als eine Erweiterung der Ontologie der Natur intendierte. 58 Hierin dürfte auch der springende Punkt bei dem Übergang von der traditionellen kinetischen zu der dynamischen Atomistik Newtons liegen, die sich gerade durch die Einführung des Prinzips der fernwirkenden Kräfte in die Welt des Vakuums und der Korpuskeln auszeichnet.59 Newton bleibt Mechanizist, insofern er auf seine Dynamik eine mathematisch-quantitative Methodik appliziert, in anderer Hinsicht aber trägt die Tatsache, daß er die Attraktionskraft, d. h. sein letztes physikalisches Prinzip, nicht aufgrund einer physikalischen Theorie erklärt und sie insofern mechanizistischer Erklärung entzieht, zu der Unterminierung der Grundannahmen des cartesianischen Mechanizismus wesentlich bei. 60 In der vom Genfer Cartesianer eingenommenen Redeposition gegenüber den Newton und den Newtonianern zugeschriebenen Aussagen über die Ursachenerklärung der Schwere drückt sich somit eine typisierte Kritik der Cartesianer an der Newtonschen Attraktionstheorie aus, die den konkreten Vorwurf enthält, Newtons Ansichten über Äther und Gravitation seien noch in den hermetisch-okkulten Vorstellungen des prämechanizistischen Zeitalters behaftet. 61 Die Kritik erklärt sich dadurch, daß die Attraktionstheorie 56

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Vgl. Principia (1726), Defin. VIII und Kommentar, S. 5. Bezeichnend ist in Newtons Formulierung die Betonung der Kraft als Verstandesbegriff: »Mathematicus duntaxat est hic conceptus: Nam virium causas & sedes physicas jam non expendo.« Vgl. Westfall (1971), S. 377. Vgl. ebd. Westfall weist auf das Problem der Festlegung der genauen Bedeutung des Kraftbegriffs in der Naturkonzeption Newtons hin und fügt hinzu: »[...], the ultimate ontological status of forces in Newton's conception of nature is a complex and involved question. In his published writings, he chose to refer to his true opinion, as I understand it, only obliquely, and we must consult unpublished manuscripts to seize his meaning. As far as the works he published are concerned, and above all, as far as the conceptual tools he employed in scientific discussion are concerned, he treated forces as entities that really exist« (S. 377). Vgl. Laßwitz (1890), Bd. 2, S. 555 u. 571. Vgl. Kondylis ( 2 1986), S. 218. Vgl. Aitón (1972), S. 109: »Newton's claim that the attraction, though unexplained, was deduced from phenomena, failed to convince the Cartesians. Fontenelle's rhe-

134 »durch die implizite Erneuerung der hermetischen, in der Naturphilosophie der Renaissance geläufigen Lehre von der Sympathie und Antipathie der Körper« 62 den Mechanizismus gefährdete. Zudem war es nicht einfach, die Attraktionskraft von den Vorstellungen der Aristoteliker abzusetzen, die, so wie Newton sagt, diejenigen Eigenschaften als >okkult< bezeichneten, die sie in den Körpern verborgen vermuteten und für unbekannte Ursachen von manifesten Wirkungen hielten. 63 Newton hingegen versteht die in seiner dynamischen Konzeption festgesetzten Kraftprinzipien nicht als »occult Qualities«., sondern als »general Laws of Nature«, durch welche die Dinge geformt würden und deren Wahrheit durch die Phänomene manifest werde, obwohl ihre Ursachen noch nicht entdeckt seien; denn diese Kraftprinzipien seien manifeste Eigenschaften, deren Ursachen allein verborgen seien. 64 Gerade in kritischer Auseinandersetzung mit den »verborgenen Eigenschaften« der Aristoteliker betont Newton mit anderen Worten, was bereits im Vorwort vom 8. Mai 1686 zu der ersten Ausgabe der Principia das Ziel seines naturwissenschaftlichen Forschungsprogrammes gewesen war: aus den Bewegungsphänomenen die Kräfte der Natur zu erschließen und dann von diesen Kräften ausgehend die übrigen Phänomene genau bestimmen, wobei er die Kräfte den allgemeinen Prinzipien der Bewegung gleichsetzt. 65 Das von Newton vertretene Forschungsprogramm ist von einem zentralen Gedanken geleitet, dessen naturphilosophisches Substrat der Theorie und der Methode Newtons zugrundeliegt und die Begriffe des Newtonschen Systems bedingt. Da die naturphilosophischen Implikationen der Newtonschen Lehre besonders den Kraftbegriff betreffen, können sie zu-

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65

torical question - were not the occult qualities of the scholastics also causes whose effects could be seen? - typifies the Cartesian viewpoint.« Vgl. Kondylis ( 2 1986), S. 218. Vgl. Opticks (1718), Qu. 31, S. 377. Newton will seine Kraftprinzipien sehr wohl von der spätscholastischen Vorstellung der »verborgenen Eigenschaften« der Aristoteliker, deren Begriff von Ursache und Wirkung er deutlich ablehnt, unterschieden wissen. Vgl. Opticks (1718), Qu. 31, S. 376f.: »And the Aristotelians gave the Name of occult Qualities not to manifest Qualities, but to such Qualities only as they supposed to lie hid in Bodies, and to be the unknown Causes of manifest Effects: Such as would be the Causes of Gravity, and of magnetick an electrick Attractions, and of Fermentations, if we should suppose that these Forces or Actions arose from Qualities unknown to us, and incapable of being discovered and made manifest. Such occult Qualities put a stop to the Improvement of natural Philosophy, and therefore of late Years have been rejected. To tell us that every Species of Things is endow'd with an occult specifick Quality by which it acts and produces manifest Effects, is to tell us nothing: [...].« Vgl. auch Opticks (1718), Qu. 31, S. 377: »But to derive two or three general Principles of Motion from Phaenomena, and afterwards to tell us how the Properties and Actions of all corporeal Things follow from those manifest Principles, would be a very great step in Philosophy, though the Causes of those Principles were not yet discover'd: And therefore I scruple not to propose the Principles of Motion above mention'd, they being of very general Extent, and leave their Causes to be found out.«

135 gleich als Voraussetzung für die Problematisierung der Grundbegriffe der Newtonschen Gravitationstheorie durch den Genfer Cartesianer betrachtet werden. Es handelt sich um das Verhältnis von Ursache und Wirkung in der Naturphilosophie Isaac Newtons. In dem von Newton angegebenen Forschungsprogramm sind die Begriffe Bewegung und Kraft grundlegend, wobei die Kraft gleichbedeutend ist mit Ursache (causa), die Bewegung mit Wirkung (effectus). Johannes Kepler hatte es in seiner Schrift Astronomia nova von 1609 unternommen, die Bewegungsursachen durch das Wort Kraft (vis) zu bezeichnen, indem er die Bewegungen der Himmelskörper in dem als leer erkannten Raum durch immaterielle äußere Ursachen (Kräfte) zu erklären begann und dieses Erklärungsprinzip damit in die experimentelle Philosophie des 17. Jahrhunderts einführte. 66 Die Innovation bestand darin, daß die Kräfte qua immaterielle Entitäten quantifiziert, d.h. daß sie durch die Formulierung mathematischer Formeln gemessen und festgehalten werden konnten, um dann, im Sinne des Newtonschen Forschungsprogrammes, zur Erklärung weiterer Bewegungserscheinungen verwendet zu werden. 67 Quantifizierung, die Messung des Meßbaren, stellte auch in Galileis Programm einer scienza nuova den Hauptpunkt dar, mit dem er sich am radikalsten von der zeitgenössischen spätscholastischen Philosophie absetzte. 68 Wenn also die Bewegungsursachen nicht durch (verborgene) Eigenschaften der Körper, sondern durch immaterielle äußere Ursachen erklärt sein sollten, so mußte es möglich sein, die Messung der Kräfte mit Hilfe der von diesen erzeugten Bewegungen zu quantifizieren. So wurde die Bewegung (quantitas motus) von Körpern durch das Produkt aus der Masse des Körpers (diese verstanden als quantitas materiae, d.h. die im Körper vorhandene Menge materieller gleichartiger Elementarteilchen), und seiner Bewegungsgeschwindigkeit gemessen. 69 Die Art des Zusammenhangs von Bewegung und Kraft, von Wirkung und Ursache, beruht nun bei Newton auf dem Prinzip der Proportionalität von erzeugender Kraft und erzeugter Wirkung; die Proportionalitätsanalogie als Ausdruck der platonischen Denkfigur der Analogie war als Axiom der

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Vgl. Dellian (1988), S. X. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. Principia (1726), Defin. II, S. 1. Eduard Jan Dijksterhuis: Die Mechanisierung des Weltbildes, Berlin, Heidelberg, New York 1983 (1961) weist (S. 205) auf die enge Verwandtschaft dieser Erklärung mit der Impetustheorie hin, deren scholastischen Ursprung neben den in historischer Perspektive zu berücksichtigenden Umformulierungen bei Descartes (quantité de mouvement), Galilei (momento) und Newton (quantitas motus) unter der Berufung auf Pierre Duhem auf Jean Buridan zurückgeführt wird. Zu Buridans Impetusbegriff und zu dem ontologischen Unterschied zur Definitio II in Newtons Principia, in der »der Impuls [...] als quantitative Eigenschaft einer Bewegung angesehen [wird]«, vgl. Wolff (1978), S. 218ff., bes. S. 221.

136 neuen Philosophie um die Mitte des 17. Jahrhunderts wissenschaftliches Allgemeingut. 7 0 Zumindest sind Newtons enge Beziehungen zu den Cambridger Neuplatonikern Ralph Cudworth und Henry More bekannt; 7 1 gerade N e w t o n s Raumauffassung soll unter d e m Einfluß der Divini

Dialogi

Henry Mores gestanden haben. 7 2 Im Gegensatz zum Aristotelismus, der eine mathematische Behandlung der Natur u.a. w e g e n ihrer Komplexität schlicht für unmöglich hielt und deshalb die Natur als Summe der empirisch erfaßbaren Welt verstand, gab die Wiederaufnahme der Philosophie Piatons in Humanismus und Renaissance den Schlüssel zur Mathematisierung der analogia

entis,73

die von den Naturphilosophen als Verhältnis

zwischen den schöpferischen immateriellen Ursachen und ihren materiellen Wirkungen begriffen wurde. 74 D i e hier zugrundeliegende Naturauffassung begreift die Phänomene nicht als identisch mit der Natur, sondern als zu ihr analog, d.h. die Phänomene stehen zu der Natur in einem bestimmten Verhältnis. Ganz in diesem Sinne betont N e w t o n in der 3. Regula phandi

philoso-

das Prinzip der Analogie der Natur, von d e m man sich bei der

Bestimmung der allgemeinen Eigenschaften der Körper aufgrund empirischer Kriterien nicht zu entfernen habe, da die Natur einfach und mit sich selbst übereinstimmend sei. 75 D a N e w t o n in der ersten Regula 70

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philoso-

Vgl. Dellian (1988), S. XI. Dellian weist darauf hin, daß in Jacques Rohaults Traité de Physique (1671) dieses Prinzip unter den ersten Axiomen der Naturphilosophie angeführt wurde, und dies in nahezu wörtlicher Übereinstimmung mit Newtons Axiomen von 1687. Auf die Beeinflussung der gedanklichen Entwicklung der englischen Philosophie des 17. Jahrhunderts durch die Schule von Cambridge und deren Nachwirkung auf das Denken Newtons weist bereits Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 2, Darmstadt 1991 (New Haven 31922), S. 215ff. hin. Vgl. Kondylis (21986), S. 219. Vgl. auch J. E. Mc Guire: Body and Void in Newton's De Mundi Systemate: Some New Sources. In: Archive for History of Exact Sciences 3 (1966), S. 206-248, der Mores Einfluß auf Newtons Entwurf De Gravitatione vermutet. Casini (1969) weist (S. 9) darauf hin, daß aus der Einbeziehung von theoretischen Elementen Descartes' (Geometrisierung des Raumes, quantitative Behandlung der Bewegung, Trägheitsprinzip), Henry Mores (Kritik an Descartes' extensio-Begriff und an der Relativität der Bewegung) sowie aus Newtons eigener Ablehnung des cartesischen Substanzen-Dualismus, der >ideae clarae et distinctae< und der cartesischen Erklärungen >per causas< durch die Anbindung an den mathematischen Empirismus Galileis sich die komplexen Voraussetzungen der Newtonschen Gravitationstheorie ergeben, ohne welche die >actio in distansanalogia entis< als Ausdruck für das Verhältnis des ewigen Sein Gottes zum vergänglichen Sein der Schöpfung wurde auf dem 4. Laterankonzil 1215 formuliert. Die platonische Herkunft des Begriffs und seine Erneuerung in der modernen Religionsphilosophie analysiert außerdem Erich Przywara: Analogia Entis, München 1932. Vgl. Dellian (1988), S. XII, Anm. 16. Vgl. Dellian (1988), S. XII. Vgl. Principia (1726), Regula III, S. 387f. Dellian (1988), S. XII weist auf die Ent-

137 phandi von der Natur sagt, daß sie semper simplex sei und nie vergebens handle, d.h. daß in der Natur nichts durch mehr Aufwand geschehe, was durch weniger ausgeführt werden könne, 76 so kann sie nicht identisch sein mit der Fülle der Phänomene, sondern muß ihr analog zugrundeliegen. Deshalb kann man die Natur nach Newton auf einfache Strukturen zurückführen, ihre mathematischen Prinzipien beschreiben, sie durch die Naturgesetze 77 mathematisch erfassen und erklären. Eine letzte Voraussetzung der Newtonschen Gravitationstheorie ist von grundlegender Bedeutung: Newtons Annahme des Prinzips der Proportionalität von Wirkungen zu ihren Ursachen liegt zum einen seiner mathematischen Behandlung der Physik zugrunde und bestimmt zum andern auch seine Überlegungen zu der Quantifizierung des Kraftbegriffs. Newton operierte in seiner mathematisch fundierten Physik bei der Behandlung der in der Objektwelt gemessenen Phänomene mit Quantitäten, die aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen ontologischen Ordnungen in quantitativ-physikalischen Theorien unterschiedlich bestimmt wurden und sich folglich als inkommensurabel erwiesen hatten; die Dreidimensionalität des Raumes (eindimensional: Länge), die Zeit, die Materiemenge (Masse) und die Kraft sind wesensverschiedene physikalische Entitäten, deren gegenseitigen Beziehungen nur aufgrund des Proportionalitätsprinzips mathematisch gefaßt werden konnten. 78 In Newtons Theorie mußte das Maß der Kraft, also Newtons äußere Kraft, die dem Körper eingedrückte bewegende Kraft, da sie von der Bewegung, die sie erzeugt, wesensverschieden ist, von dem Maß der Bewegung unterschieden werden. Somit greift auch Newton auf die Proportionenlehre zurück, wenn er bei der Vergleichung von Quantitäten verschiedener Arten (Entitäten) deren gegenseitigen Beziehungen mit den zwischen den wesensverschiedenen Quantitäten existierenden Verhältnissen

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sprechung hin zwischen dem Newtonschen Begriff der >analogia naturae< und der Lehrunterscheidung Thomas von Aquins von matura naturata< (die Schöpfung) und >natura naturans< (das schöpferische Prinzip). Vgl. hierzu auch J. E. Mc Guire: Atoms and the Analogy of Nature: Newton's Third Rule of Philosophizing. In: Studies in History and Philosophy of Science I (1970) S. 3-58. Vgl. Principia (1726), Regula I, S. 387. Newton bezeichnet die Naturgesetze als >leges naturaeBegriffsanpassung< mindestens zwei mögliche Auswirkungen auf die Theorie unterscheiden: (a) die Veränderung eines Begriffsinhalts hat für die Grundannahmen der Theorie keine wesentlichen Konsequenzen; (b) die Veränderung eines Begriffsinhalts impliziert eine Veränderung der Grundannahmen der Theorie und stellt somit ein Vorstadium zu dem endgültigen Theorienwandel dar. Den Ausgangspunkt der Diskussion bildet die Kritik des Genfer Gelehrten an dem Newtonschen Ätherbegriff, den sich Newton »korpuskular konstituiert dachte«. 81 Wie aus den Ausführungen des vorangehenden Abschnitts 3.2 dieses Kapitels hervorgeht, konnte im Newtonschen System der Äther qua Körper aufgrund seines Bedingtseins durch das Kräfteprinzip nicht ganz frei von Schwere gedacht werden. Die Kritik des Newtonschen Ätherbegriffs läßt somit den logischen Schluß zu, daß der Genfer Cartesianer bezüglich der Schwere des Äthers die gegenteilige Auffassung vertrat, nämlich daß dem Äther der matière subtile - dies entspricht dem cartesianischen

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Vgl. Principia (1926), Lib. I, Sect. I, Lemma X, Scholium, S. 34: »Si quantitates indeterminatae diversorum generum conferantur inter se, & earum aliqua dicatur esse ut est alia quaevis directe vel inverse: sensus est, quod prior augetur vel diminuitur in eadem ratione [Verhältnis] cum posteriore, vel cum ejus reciproca.« Vgl. hierzu auch Bayertz (1981), S. 78 sowie von Kutschera (2000), S. 311: »Bei wissenschaftlichen Revolutionen handelt es sich ferner in der Regel nicht um eine vollständige Aufgabe des alten Paradigmas, sondern nur um eine Veränderung zentraler Teile.« Vgl. Laßwitz (1890), Bd. 2, S. 560.

139 Terminus für den Äther - keine Schwere (pesanteur) zugeschrieben wurde. Aus der Perspektive der Newtonschen Dynamik hieße dies, daß die matière subtile weder dem aktiven noch dem passiven Kraftprinzip unterstellt wäre, d.h. ein praktisch >widerstandsloses< Medium darstellen würde. Zudem impliziert die cartesianische Äthervorstellung die Annahme, daß der Äther die Poren aller Körper durchdringt und die interstellaren Himmelsräume lückenlos ausfüllt, jedoch den Himmelskörpern keinerlei Widerstand leistet. In der Newtonschen Dynamik hingegen wäre der Äther im Verhältnis seiner Materiemenge (Masse) schwer und infolgedessen, wie jeder andere Körper auch, zumindest dem passiven Kraftprinzip, d.h. der vis inertiae, unterstellt, wodurch der Äther, wie auch immer, materiellen Widerstand leisten müßte; denn in Newtons Theorie ist >widerstandslose< Materie, also Materie, die keine vis inertiae besitzt, undenkbar. Die Kritik des Genfer Autors unterliegt somit einer grundsätzlichen Schwierigkeit, deren Ursprung auf einer paradoxen Vorstellung beruht. Aus der Perspektive der Newtonschen Mechanik heraus beinhalten die Annahmen des Genfer Cartesianers einen logischen Fehler, der auf der Konfusion der Begriffe von Masse und Gewicht, bzw. ihrer Identifikation basiert. 82 Die aus einer solchen Perspektive enstehende paradoxe Vorstellung äußert sich darin, daß der Äther zwar materiell (Masse), aber nicht schwer (Gewicht) sein sollte. Diese Vorstellung aktualisierte sich im Rahmen der Debattenphase zwischen 1728 und 1734, in der die Cartesianer zahlreiche Versuche unternahmen, modifizierte Versionen der Tourbillontheorie mit dem Newtonschen System zu vereinbaren. 83 Wie bereits im Kometen-Kapitel gezeigt wurde, lag die Vorstellung, daß der Äther den Körpern beim Durchqueren der Himmelsräume keinen wahrnehmbaren Widerstand leiste, da dieser nicht gegen die Sonne schwer sei, den neueren cartesianischen Kometentheorien zugrunde und diente damit als Voraussetzung für eine in den mit matière subtile gefüllten Himmelsräumen stattfindende >hindernislose< Kometenbewegung. 84 Die in den physikalisch-astronomischen Abhandlungen der Cartesianer mitunter vorhandene Identifikation der Begriffe von Masse und Gewicht befähigte somit eine Reihe von Forschern die in den Himmelsräumen angenommene matière subtile mit dem Newtonschen Vakuum zu identifizieren, um dadurch eine Verknüpfung der beiden Systeme zu ermöglichen, ohne jedoch auf die Tourbillontheorie als Grundlage der physikalischen Ursachenerklärung zu verzichten. 85 In diesen Abhandlungen wurden die Newtonschen Begriffe des Vakuums qua »non82 83 84

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Vgl. Aiton (1972), S. 210. Vgl. ebd., S. 209f. Vgl. hierzu Teil I, Kap. 2, 4.2, aber auch die Ausführungen zum sogenannten >d'Alembertschen Paradox< in Teil I, Kap. 1, 3. Vgl. dazu die detaillierten Ausführungen zu den Abhandlungen von Joseph Privat de Molières, Jean Bernoulli sowie den teilweise von Newton inspirierten Preisschriften von Daniel Bernoulli in Aiton (1972), S. 211-239.

140 resisting space« und der Attraktion als Fakten - die Attraktion wohlgemerkt nicht als Erklärungsprinzip - nicht länger in Frage gestellt, jedoch bestand das Basisproblem in der Physik für die Cartesianer nach wie vor in der Frage nach den physikalischen Ursachen dieser Phänomene.86 Der Newtonsche Ätherbegriff der späteren Ausgaben der Principia sowie derjenige der neuen Queries der Opticks von 1717/18,87 in denen dem ätherischen Medium explizit das aktive Kraftprinzip der Abstoßung als Eigenschaft zugewiesen wird, widerspricht somit eigentlich der Äthervorstellung der Cartesianer und entlarvt implizit den in dieser Vorstellung vorhandenen logischen Fehler. Es ist also naheliegend, daß die Kritik des Genfer Autors in erster Linie durch die Aussagen in den Principia (1713/1726) und den Opticks (1717) motiviert gewesen war, welche die cartesianischen Äthervorstellung unterminierten, während der Newtonsche Ätherbegriff der Principia von 1687, wie es scheint, noch mit den physikalischen Eigenschaften des cartesianischen Äthers vereinbart werden konnte. Die Kritik des Genfer Gelehrten wäre somit von der Veränderung in der Auffassung des Ätherbegriffs bei Newton bedingt gewesen. Diese Vermutung läßt sich leicht in eine plausible These umwandeln, wenn man den oben im Abschnitt 3.1 dieses Kapitels zitierten Fußnotentext des Cartesianers heranzieht. Dieser läßt sich folgendermaßen paraphrasieren: Man solle aber nicht über Newtons Ansichten zu der Schwere des Äthers aufgrund dessen urteilen, was er dreißig Jahre nach der Niederschrift seines Werkes gesagt oder geschrieben habe. Dies heißt konkret, daß der Genfer Autor im Œuvre Newtons eine Veränderung in der Vorstellung des Ätherbegriffs feststellte. Die damit vorgenommene Historisierung dieses Begriffs innerhalb von Newtons Œuvre äußert sich dadurch, daß im genannten Fußnotentext mindestens drei verschiedene Phasen der Entwicklung des Newtonschen Theoriensystems unterschieden werden, in denen sich eine solche Veränderung vollzogen haben soll: Eine erste frühe Phase des Entwurfs und der Ausformulierung der Theorien, die in der Erstpublikation der Principia mathematica von 1687 ihren Endpunkt findet, dann eine spätere Phase der Überarbeitung und Weiterentwicklung, die zu der Principia-Edition von 1713 geführt hat und die verschiedenen Publikationen der Opticks bis hin zu der zweiten (englischen) Edition von 1717 (1718) miteinschließt. Eine dritte Phase schließlich, in der eine erneute Überarbeitung des Principia-Textes stattfindet, ergibt sich aus der Periode zwischen der zweiten (englischen) Edition der Opticks und der dritten lateinischen Edition der Principia von 1726. Der Genfer Cartesianer unterstellt Newton somit, die Auffassung des Ätherbegriffs im Übergang von der ersten zu der zweiten Phase der Theorieentwicklung verändert zu haben.88 86

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Vgl. Aiton (1972), S. 210f. u. 228f. sowie Abschn. 3. der Einleitung zum ersten Teil dieser Studie. Vgl. Opticks (1718), Qu. 1 7 - 2 4 , bes. Qu. 21, S. 322ff. Das Auftreten eines veränderten Ätherbegriffs in den in der zweiten Phase der

141 Mit der Beobachtung dieser tatsächlich mehrmals stattgefundenen Veränderung der Auffassung des Ätherbegriffs bei Newton weist der Genfer Gelehrte auf die ambivalente Haltung hin, die Newton in allen Phasen der Entwicklung seiner Gravitationstheorie gegenüber der Ätherfrage hatte. Die Behandlung der Ätherfrage bei Newton erfordert die Unterscheidung zweier getrennter Fragestellungen: Es sind dies die Frage nach der Existenz bzw. nicht-Existenz eines Äthers und die Frage nach der Natur des Äthers bzw. die Frage nach dessen materieller oder immaterieller Beschaffenheit. Diese beiden Fragen stehen ihrerseits mit einem übergeordneten Problem der Newtonschen Gravitationstheorie in einem kausalen Zusammenhang: Es ist dies die Frage nach der Inhärenz der Schwerkraft in der Materie oder auch Inhärenzthese. Die Inhärenzthese wurde wegen ihrer materialistischen Implikationen immer wieder als Kritik an der Newtonschen Gravitationstheorie formuliert, indem man Newton unterstellte, er fasse die Schwerkraft als eine wesentliche Eigenschaft der Materie auf. Gegen diesen Vorwurf hat sich Newton aber immer heftig gewehrt und lehnte diesen, wie dies aus seinen Briefen an Richard Bentley aus dem Jahre 1693 hervorgeht, als eine vollkommen absurde Unterstellung ab. 89 Die Herausarbeitung einer Ätherhypothese zur Erklärung der Ursache der Schwere in der Qu. 21 der zweiten (englischen) Ausgabe der Opticks wurde von Newton somit als Widerlegung der ihm vorgeworfenen Inhärenzthese intendiert. 90 Damit gibt Newton deutlich zu erkennen, daß die Frage, wie eine Eigenschaft einem Körper zukommt, d.h. die Frage, wie er sich die Schwerkraft im Sinne von Anziehungskraft konkret mit der Materie vereint dachte, für ihn durchaus ein Problem darstellte. Denn dadurch kann man sich die Herausbildung der Äthertheorie in der zweiten Phase der Newtonschen Theorieentwicklung und die in den publizierten Schriften dieser Phase stattgefundene Veränderung in der Auffassung des Ätherbegriffs plausibel erklären. Die Einführung eines ätheri-

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Theorieentwicklung publizierten Schriften Newtons bestätigt auch Westfall (1971), S. 391ff. Vgl. The correspondence of Isaac Newton, Bd. 3, S. 240: »You sometimes speak of gravity as essential and inherent to matter: pray do not ascribe that mention to me, for the cause of gravity is what I do not pretend to know.« Und S. 254: »That gravity should be innate, inherent to matter so that one body may act upon another at a distance through a vacuum without the mediation of any thing else by through which their action or force may be conveyed from one to another is to me so great an absurdity that I believe no man who has in philosophical matters any competent faculty of thinking can ever fall into it. Gravity must be caused by an agent acting constantly according to certain laws, but whether this agent be material or immaterial is a question I have left to the consideration of my readers« (zit. nach Aitón (1972), S. 107). Eine solche Absicht hatte Newton auch im Vorwort zu der zweiten (englischen) Ausg. der Opticks im Juli 1717 ausgedrückt: »And to shew that I do not take Gravity for an essential Property of Bodies, I have added one Question concerning its Cause, chusing to propose it by way of a Question, because I am not yet satisfied about it for want of Experiments.«

142 sehen Mediums in den neuen Queries der Opticks von 1717 hatte zudem wie Alexandre Koyré in den Newtonian Studies gezeigt hat - unmittelbare Konsequenzen auf den Inhalt und die Darstellungsform des Optik-Textes der zweiten (englischen) Ausgabe gehabt, in dem nun Newton die Prinzipien des Vakuums und der Attraktion möglichst ohne Widerspruch mit der Ätherhypothese zu vereinbaren hatte. 91 Es ist somit zu der Ätherhypothese eine grundsätzliche Überlegung anzustellen. Newtons hypothetische Annahme von der Existenz eines die Himmelsräume ausfüllenden ätherischen Mediums erweist sich zum einen aus der Perspektive des passiven Kraftprinzips (vis inertiae) der Materie und zum andern im Hinblick auf die vor allem in den Queries der Opticks unmißverständlich formulierten Aussagen zum Vakuum in den Himmelsräumen sowie der damit implizierten actio in distans als problematisch. So erklärt Newton, daß »the Heavens are void of all sensible Resistance, and by consequence of all sensible Matter«. 92 Diese Aussage formuliert Newton in einem Kontext, in dem er die mechanischen Lichttheorien Huygens' und Descartes', welche die Lichtausbreitung in einem die Himmelsräume lückenlos füllenden ätherischen Medium (Fluidum) erklärten, liquidiert, 93 sie unterstreicht jedoch über diesen polemischen Kontext hinaus eine zentrale Grundannahme seiner Theorie. Wenn Newton sagt, daß die Himmelsräume frei von jedem Widerstand seien, mithin frei von jeder vis inertiae, so folgt von einem logischen Standpunkt seiner Theorie aus, daß in den Himmelsräumen keine Materie vorhanden sein kann und also auch die Existenz eines materiellen Äthers eigentlich ausgeschlossen sein müßte. Vor dem Hintergrund dieser Annahmen ergeben sich die problematischen Aussagen Newtons, wenn er im Argument gegen die gefüllten Räume der Cartesianer, den Freiraum für die zuvor formulierte Ätherhypothese gewähren muß. 94 Somit verwickelt sich Newton bei seinem Bemühen, Vakuum und ätherisches Medium in Einklang zu bringen, in nicht unerhebliche Schwierigkeiten, und am Ende verleiht er letzterem »a most improbable structure«. 95

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95

Vgl. Koyré (1965), S. 161: »Furthermore, in order to make his new aethereal more acceptable and to reduce the glaring contradictions between them and the assertion of the Queries that postulate action at a distance, Newton suppressed part [Optice, pp. 320sq.] of Query XXII in the Latin Optice (Qu. X X X of the English), where he asserted that attraction between light particles and gross matter is 10' 5 times stronger than terrestrial gravity, and added at the end of Query XXIX: >What I mean in this question by vacuum and by Attraction of the Rays of Light towards glass or crystal may be understood< as meaning aether and action of the aether.« Vgl. Opticks (1718), Qu. 28, S. 339. Vgl. ebd., S. 338t Vgl. Opticks (1718), Qu. 28, S. 339: »And against filling the Heavens with fluid Mediums, unless they be exceeding rare, a great Objection arises from the regular and very lasting Motions of the Planets and Comets in all manner of Courses through the Heavens.« Vgl. Koyré (1965), S. 161. Vgl. hierzu auch Kondylis ( 2 1986), S. 220.

143 Durch die Thematisierung der Ätherfrage und der damit implizierten Problematik des Status' der Schwerkraft als essentielle oder nicht-essentielle Eigenschaft der Materie weist der Genfer Cartesianer somit auf ein zentrales Problem der Newton-Debatte des ersten Drittels des 18. Jahrhunderts hin, das sich zugleich im Hinblick auf die Bedeutung des Hypothesenbegriffs für das wissenschaftliche Denken Newtons als wichtiges Interpretationsproblem der Newton-Forschung herausstellen sollte.96 Außerdem wird sich die Ätherhypothese der Opticks, wie im folgenden zu zeigen sein wird, als entscheidender Entwicklungsfaktor der Debatte um die Newtonsche Gravitationstheorie in der Bibliothèque Italique erweisen. 3.4. Newtons Ätherbegriff in den Principia von 1687, die Ätherhypothese von 1717 und die Konsequenzen des Wandels des Ätherbegriffs bei Newton für die Grundthesen der Tourbillontheorie Die Überlegungen dieses Abschnitts gelten der Erörterung der oben bereits skizzierten These, daß der Wandel in der Auffassung des Ätherbegriffs bei Newton die Unterminierung der cartesianischen Äthervorstellung und der von ihr abhängigen auf der Tourbillontheorie basierenden physikalischen Ursachenerklärung der Schwere bedeutete. Während der Ätherbegriff der Principia von 1687 hinsichtlich der ihm dort zugeschriebenen physikalischen Eigenschaften der cartesianischen Vorstellung der matière subtile im wesentlichen nicht widersprach und folglich für die cartesianischen Erklärungsansätze kein besonderes Problem darstellte, gefährdeten die späteren Aussagen Newtons zum Äther die rein mechanische Ursachenerklärung der Schwere in verschiedener Hinsicht. Diese These berücksichtigt die Tatsache, daß Newton im Übergang von der ersten zu der zweiten Phase seiner Theorieentwicklung die Einstellung zu der Ätherfrage in seinen publizierten Schriften verdeutlichte. 97 In den vom Genfer Autor herangezogenen Textstellen der zweiten und dritten lateinischen Ausgabe der Principia erklärt Newton, daß der Äther - falls ein solcher existiere - im Verhältnis seiner Materiemenge gravitieren müßte, mithin nicht frei von Schwere wäre. Dies aber widersprach der von den Cartesianern angenommenen Schwerelosigkeit des Äthers. Ferner hatte Newton in der Ätherhypothese von 1717 mit der Elastizität des Äthers ein Erklärungsprinzip eingeführt, dessen Implikationen die Grundvoraussetzungen des traditionellen cartesianischen Mechanizismus allmäh96

97

Vgl. Koyré (1965), bes. Kap. II (Concept and Experience in Newton's Scientific Thought), S. 2 5 - 5 2 sowie Appendix C (Gravity an essential property of matter?), S. 149-163. Vgl. Aitón (1972), S. 108: »It was only in the Latin and second English editions of the Opticks [...] and the second edition of the Principia [...] that Newton publicly clarified his position.«

144 lieh demontierten. Die als radikale Infragestellung der eigenen Überzeugungen interpretierten Textstellen der Principia und der Opticks führten deshalb den Genfer Autor dazu, die Grundthesen der konkurrierenden Theorie zu kritisieren und zu verwerfen und die Tourbillontheorie in der Schwerefrage, trotz der relevanten Schwierigkeiten, zu verteidigen. Ausgehend von dem Pendelversuch zum Äther im zweiten Buch der Principia von 1687 soll im weiteren Verfahren die Bedeutung der Diskussion um die Ätherfrage für die Entwicklung der Theoriendebatte in der Bibliothèque Italique in den wesentlichen Merkmalen rekonstruiert werden. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich zunächst auf die Darstellung des Pendelexperiments, das Newton am Ende des VI. Abschnitts des zweiten Buches der Principia von 1687 beschrieben hat und in den späteren Ausgaben wichtige textuelle Abweichungen inhaltlicher Art aufweist. 98 Newton erklärt am Ende der Experimentbeschreibung, daß er diesen Versuch aus dem Gedächtnis mitgeteilt habe, da das Papier, worauf er diesen entworfen hatte, verloren gegangen sei." Mit diesem Pendelversuch wollte sich Newton der Existenz bzw. der nicht-Existenz eines die Himmelsräume ausfüllenden Äthers vergewissern und wollte die Entscheidung anhand der Klärung der an bewegten Körpern beobachteten und gemessenen Widerstandsverhältnisse herbeiführen. 100 Das Experiment bestand darin, die durch den Luftwiderstand gedämpften Schwingungen eines mit einer leeren Büchse beschwerten Fadenpendels mit den gedämpften Schwingungen desselben Fadenpendels zu vergleichen, bei dem die Büchse mit Blei und anderen schweren Metallen gefüllt worden war. 101 Bei Existenz eines Äthers hätten die durch den äußeren Luftwiderstand gedämpften Schwingungen der mit Blei gefüllten Büchse durch einen inneren Widerstand zusätzlich gedämpft werden müssen; gemäß den Vorstellungen Descartes' und der Cartesianer würde der Äther die Poren des Metalls, d. h. die Zwischenräume der Metallteilchen, in der Büchse vollkommen ausfüllen und damit eine wesentlich größere Reibungsoberfläche als für die leere Büchse erzeugen. In einem ersten Schritt führte Newton die Pendelbewegungen mit der leeren Büchse mehrmals aus, um dabei den Ort, zu dem er das Pendel geführt und losgelassen hatte sowie die Orte, zu denen 98

Vgl. Principia (1726), Lib. II, Sect. VI, S. 461ff. Vgl. Principia (1726), Lib. II, Sect. VI, Scholium Generale, S. 317. 100 V g i principia (1726), Lib. II, Sect. VI, Scholium Generale, S. 316; Ausg. Schüller (1999), S. 323: »Und schließlich, da einige der Meinung sind, daß es ein gewisses ätherisches und äußerst feines Medium gebe, welches alle Poren und Gänge sämtlicher Körper ganz frei durchzieht, müßte aber von einem solchen Medium, während es durch die Poren der Körper hindurch strömt, ein Widerstand herrühren. U m zu untersuchen, ob der gesamte Widerstand, den wir bei bewegten Körpern beobachten, nur an ihrer äußeren Oberfläche angreift oder aber auch die inneren Teile an ihren eigenen Oberflächen einen merklichen Widerstand erfahren, habe ich mir folgendes Experiment ausgedacht.« 99

101

Vgl. Principia (1726), Lib. II, Sect. VI, Scholium Generale, S. 316.

145 es am Ende der ersten, zweiten und dritten Schwingung zurückkehrte, so genau wie möglich zu bestimmen. Nachdem Newton die Büchse mit Blei gefüllt hatte, stellte er fest, daß das Gewicht des mit der leeren Büchse versehenen Fadenpendels ungefähr 78 mal kleiner war als dasjenige des Pendels mit der gefüllten Büchse. 102 Er führte nun die Pendelbewegungen mit gefüllter Büchse aus und zählte an allen zuvor bezeichneten Orten der Pendelbewegung stets ungefähr 77 Schwingungen, woraus er schloß, daß der ganze Widerstand der vollen Büchse zu dem der leeren kein größeres Verhältnis habe als das 78:77.103 Newtons Überlegung war diese: Wenn nämlich die Widerstände der beiden Büchsen gleich groß wären, so müßte die gefüllte Büchse wegen ihrer achtundsiebzigmal größeren vis insita als die vis insita der leeren Büchse ihre Schwingungsbewegungen soviel länger beibehalten und folglich immer nach 78 vollführten Schwingungen zu jenen markierten Orten zurückkehren. Sie kehrte aber schon nach 77 vollführten Schwingungen zu ihnen zurück. 104

Es verhielt sich also so, daß die von Newton vorgesehene Dämpfung der Schwingung bei gefüllter Büchse nach 77 statt nach den aufgrund des Massenverhältnisses erwarteten 78 Schwingungen erreicht wurde. Dieses ermittelte Verhältnis drückt Newton in einer mathematischen Proportion aus und erhält bei dessen Auflösung das quantitative Verhältnis für den inneren und äußeren Widerstand der leeren Büchse. 105 Dabei stellt er fest, daß der innere Widerstand der leeren Büchse beinahe 6000 mal kleiner ist als derjenige an der äußeren Oberfläche der Büchse, und dies schließt er vermöge der Hypothese, daß der größere Widerstand der vollen Büchse aus der Wirkung einer gewissen lockeren Flüssigkeit auf das eingeschlossene Metall entspringt. 106 Das entscheidende Argument, mit dem Newton in dem Principia-Text von 1687 das Ergebnis des Pendelexperiments erklärte, ist das folgende: Ich vermute jedoch, daß die Ursache etwas ganz anderes ist. Nämlich die Schwingungszeiten der gefüllten Büchse sind kleiner als die Schwingungszeiten der leeren Büchse, und deshalb ist der Widerstand der gefüllten Büchse auf der äußeren Oberfläche entsprechend ihrer Geschwindigkeit und der Länge der beim Schwingen zurückgelegten Strecke größer als derjenige der leeren Büchse. Wenn es aber so ist, wird der Widerstand der Büchsen an den inneren Teilen entweder Null oder überhaupt nicht feststellbar sein. 107

Der Punkt des Newtonschen Arguments ist also, daß der Luftwiderstand auf die gefüllte Büchse eine größere Wirkung ausübt als auf die leere, wobei der innere Widerstand der gefüllten Büchse irrelevant ist. Der Äther hätte somit 102 103 104 105 106 107

Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 317. Vgl. ebd.; Ausg. Schüller (1999), S. 324. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. Principia (1726), Lib. II, Sect. VI, S. 317; Ausg. Schüller (1999), S. 324, Anm. 163.

146 nach Newton praktisch keinen Einfluß auf die Widerstandsverhältnisse der an einem Pendel bewegten Körper, so daß die von ihm getroffene Schlußfolgerung im Principia-Text von 1687 für die These spricht, daß er am Ende dieses Pendelexperiments eher gegen die Existenz eines Äthers gewesen sei, 108 obwohl diese Einstellung von Newton nicht explizit zum Ausdruck gebracht wird. In den späteren Editionen der Principia fiel die von Newton gegen die Existenz eines Äthers gerichtete Schlußfolgerung zusammen mit dem Argument des größeren Luftwiderstands für das Pendel bei gefüllter Büchse weg. Newton schien der Möglichkeit der Existenz eines Äthers wieder näher gekommen zu sein. Newtons Darstellung der Ergebnisse des Pendelexperiments in den Principia von 1687 wurde von den Cartesianern nicht etwa als möglicher Beweis für die nicht-Existenz des Äthers interpretiert, sondern konnte - wie dies aus der Stellungnahme des Genfer Autors hervorzugehen scheint - im Hinblick auf die physikalische Eigenschaft der >Widerstandslosigkeit< der Ätherteilchen als kompatibel mit der Vorstellung der matière subtile in den modifizierten Versionen der Tourbillontheorie betrachtet werden. Die in der Debattenphase zwischen 1728 und 1734 unternommenen zahlreichen Versuche, das Newtonsche Vakuum und die Attraktion in die neueren Versionen der Tourbillontheorie zu assimilieren, basierten auf der Annahme, daß der Widerstand des Äthers bzw. der matière subtile entweder Null oder nicht wahrnehmbar gering sei. Zog man Newtons Ätherbegriff der Principia von 1687 heran, konnte das Newtonsche Vakuum aufgrund der Ähnlichkeit der vertretenen Ätherbegriffe hinsichtlich der physikalischen Eigenschaft der >Widerstandslosigkeit< der Ätherteilchen nach dem Satz des nicht-Widerspruchs von den Cartesianern als Möglichkeit gedacht werden. Auch gefährdete dieser Ätherbegriff Newtons ihre eigene Vorstellung von den mit matière subtile, d.h. mit sich berührenden Ätherteilchen (= fluide), gefüllten interstellaren Räumen nicht. Zudem hat Newton vermutlich selbst mit der in einer Querie zu der Ätherhypothese gemachten Aussage, daß das ätherische Medium durch seine äußerst feine und elastische Struktur den Planeten praktisch keinen Widerstand leiste,109 die Cartesianer in ihrer Überzeugung bekräftigt, 108

Eine solche Illese wird in der Newton-Forschung vertreten; vgl. Cohen (1971), S. 104: »Professor R. S. Westfall has called our attention to the significance on this experiment in relation to the decline of Newton's adherence to a belief in a aether.« Ein von Cohen (1971) betrachtetes Manuskript handelt von Newtons Pendelversuchen, wobei es sich Cohen zufolge um eine frühe Fassung des oben erwähnten Scholium Generale des VI. Abschnitts des zweiten Buches der Principia zu handeln scheint: »How fortunate we would have been had this manuscript provided information concerning the experiment itself, which, Newton says in the Principia [...], >is related by memory, the paper being lost in which I had described itSchwerelosigkeit< bzw. >Widerstandslosigkeit< für den materiellen Äther ist Ausdruck der Grundthese Descartes' von der Indifferenz der Materie gegenüber der Bewegung und ist letztlich auf die Grundthese der Identität von Kraft und Quantität der Bewegung (quantité de mouvement) zurückzuführen. Wenn also angenommen wird, daß Kraft und damit auch die Schwerkraft (= Zentripetalkraft) von Körpern ausschließlich von der Menge der bewegten Materie verursacht wird, so folgt daraus, daß die Bewegung von Körpern aufgrund von Kräften, die den Körpern auch ohne Bewegung zukommen, ausgeschlossen wird. Daraus erhellt, daß bereits die logischen Implikationen der cartesischen Grundannahmen die Möglichkeit der Eigenaktivität von Materie, d. h. die Schwerkraft als eine Eigenschaft der Materie, a priori ausschließen: Wenn der Äther der materielle Träger der physikalischen Ursachenerklärung der Schwerkraft sein soll, so kann ihm selbst nicht Schwere zugeschrieben werden. In diesen rein mechanischen Erklärungsansätzen ist der Status des Äthers qua matière subtile somit derjenige eines praktisch >schwerelosen< Mediums, das die materielle Substanz der couches des Tourbillon konstituiert und die von der Bewegung dieser Tourbillonschichten (Bewegungsgeschwindigkeiten) ausgelösten Druckstösse (= Impulsion) auf die benachbarten Fluidumsteile überträgt. Dadurch werden die festen Körper vertikal bewegt und die physikalische Ursachenerklärung der Schwere garantiert. Somit setzt jede Gravitationstheorie, die den Äther als materiellen Träger der Gravitation annimmt, eine kinetische Theorie voraus, welche die mechanischen Bewegungsgesetze (Rotation) angibt: auf ihrer Basis werden Kräfte erzeugt, Zentrifugalkräfte

110

so small a resistance would be scarce make any sensible alteration in the Motions of the Planets in ten thousand Years.« Vgl. Aitón (1972), S. 211: »Although admitting that, as a way of describing phenomena, the attraction was a fertile concept, Bernoulli still found the attraction unacceptable as a cause, and a physicist, he believed, should seek causes. He therefore attempted, in another prize essay, to effect a reconciliation between the two systems, assimilating, like Molières, the Newtonian attraction and void, while retaining the vortices as the basis of a physical explanation.«

148 sowie die auf mechanische Ursachen zurückgeführten Wirkungen der Zentripetalkräfte.111 Ziemlich genau dreißig Jahre nach der Erstpublikation der Principia bezieht Newton zu der Ätherfrage und zur Gravitation noch einmal deutlich Stellung. Er tut dies in der Query 21 der zweiten (englischen) Ausgabe der Opticks, wo er einem ätherischen Medium eine Wirkung zuschreibt, die als hypothetische Erklärung der Ursache der Schwere angeführt wird. Es ist dies die Ätherhypothese von 1717. Newton nimmt im Opticks-Text von 1717 in den im Anschluß an die Überlegungen zum Sehvorgang neu eingefügten acht Queries ein ätherisches Medium an, dessen Merkmale bereits im Vorspann der Ätherhypothese antizipiert werden.112 Newton supponiert einen äußerst elastischen und dünnen Äther, der in allen Körpern enthalten ist und sich in allen Himmelsräumen ausdehnt. In den festen Körpern der Sonne, der Sterne, der Planeten und Kometen soll er viel dünner sein als in den zwischen diesen Körpern liegenden leeren Räumen, und zwar so, daß dessen Dichte zu dem Abstand vom Zentrum eines Himmelskörpers ständig zunehmen sollte. Die gegenseitige Schwere dieser Körper und ihrer Teile gegeneinander soll demnach durch die mit der zunehmenden Distanz sich ergebenden Dichtedifferenzen bewirkt werden, indem alle Körper von den dichteren Teilen des Mediums zu den dünneren >hinstrebenVacuum equidem facile admittoessentiell< und >ursprünglich« sind im engen Sinne nicht bedeutungsäquivalent. Eine essentielle Eigenschaft ist eine Eigenschaft, ohne die ein Ding weder sein, noch gedacht werden kann; dies ist beispielsweise bei der Ausdehnung von Materie der Fall, nicht aber bei der Schwerkraft; dies gilt insofern, als die Existenz eines Körpers nicht ohne dessen Ausdehnung gedacht werden kann, wohl aber ohne dessen Schwere. Vgl. Koyré (1965), S. 160 und S. 159: »As a matter of fact, Cotes first wrote >essential< - this, by the way, shows how easy it was for a serious and well-informed student of Newton to misunderstand him - and only when corrected by Clarke, to whom he submitted the draft of his preface, did he recognize his error and improve his text.«

159 Diese Entwicklung hatte zur Folge, daß das rein >mathematische< Verständnis der Schwerkraft allmählich an Gewicht verlor und sich zu einem physikalischem nur noch an Materie gebundenen Verständnis wandelte. D e n n während Newton selbst zwischen >physikalischen< und >nicht-physikalischen< (transphysikalischen) 146 Kräften sowie zwischen >essentiellen< und >nicht-essentiellen< Eigenschaften der Materie (dritte Regula philosophandi) subtil differenziert hat, so hat die Newton-Rezeption des 18. Jahrhunderts diese Begriffe in enger Verbindung mit der Uminterpretation der Newtonschen Attraktionstheorie zugunsten der nach und nach sich durchsetzenden experimentell-physikalischen Betrachtungsweise der Natur nicht mehr streng getrennt.' 47 D a ß dieser Umdeutungsprozeß in der mittleren Phase der Newtonschen Theorieentwicklung bereits fortgeschritten war, zeigt Newtons Einführung der Ätherhypothese im Opticks-Text von 1717, wofür er explizit die Begründung angegeben hatte, daß er klarstellen wolle, daß er die Schwere nicht für eine essentielle Eigenschaft der Materie halte. Newtons Ablehnung einer solchen Eigenschaftszuschreibung an die Materie hat ferner im Rahmen eines erkenntniskritisch-skeptizistischen Ansatzes Lockescher Provenienz bezüglich der Frage, was durch sinnliche Wahrnehmung und Reflexion von den Eigenschaften der Materie (reale Substanzen) erkannt werden kann, 148 eine wichtige anticartesianische Bedeutung.

146 147

148

Diesen Begriff verwendet Koyré (1965), S. 162. Auf eine solche Uminterpretation weist Kondylis (21986), S. 221ff. hin. Kondylis sieht den Hauptgrund einer solchen Einstellung der Newtonianer »in der weitverbreiteten Bereitschaft [...], den Cartesianismus in seinem Kern bzw. auf epistemologischer und ontologischer Ebene zugleich zu treffen.« Die aus der »Infragestellung des cartesianischen Dualismus« sich automatisch ergebende »Aufwertung der Materie« wurde »nur allzu gern [mit] der Herabsetzung des cartesianischen Mathematizismus verbunden«, mit der Folge, daß »beide Motive [...] wiederum in der offenen Ablehnung oder faktischen Umgehung der These [verschmolzen], Schwerkraft sei nur mathematisch zu verstehen. [...] da Identität von Materie und Ausdehnung zwecks Geometrisierung der ersteren und Vorrang der >schlechten< Mathematikauffassung aus der Sicht der meisten aufklärerischen Newtonianer zusammengehörten, so schien ihnen (gleichviel, ob zu Recht oder nicht) eine rein mathematische Behandlung der Kraft ohne greifbare physikalische Implikationen nicht nur unverständlich, sondern geradezu ein Verstoß gegen das eben erreichte Auseinanderfallen von Materie und Ausdehnung zu sein, was ja besagen sollte, daß Materie etwas mehr als Ausdehnung sei und ihre Analyse daher nicht mehr bei der >bloßen< Mathematik bleiben dürfe« (ebd.). Vgl. John Locke: Works, Bd. 2, London 1823, Ndr. 1963; Of human understanding [1689], Book II, Chap. XXIII, § 1: »The mind being, as I have declared, furnished with a great number of the simple ideas, conveyed in by the senses, as they are found in exterior things, or by reflection on its own operations, takes notice also, that a certain number of these simple ideas go constantly together; which being presumed to belong to the one thing, [...], by inadvertency, we are apt afterwards to talk of, and consider as one simple idea, which indeed is a complication of many ideas together; because, as I have said, not imagining how these simple ideas can subsist by themselves, we accustom ourselves to

160 Newton weist mit seiner Ablehnung der Inhärenzthese im Grunde auf Lokkes' erkenntniskritisches Problem hin, das sich dem erkennenden Subjekt stellt, wenn er sein Wissen über das Verhältnis zwischen der materiellen Substanz (Objekt) und ihren Eigenschaften reflektiert. 149 Newton bezieht im Scholium Generale, das er der zweiten Edition der Principia hinzugefügt hat, zu diesem Problem Stellung und zwar im Rahmen von Überlegungen, in denen er sich über die Unmöglichkeit äußert, die göttliche Substanz mit klaren Begriffen zu erkennen, außer durch ihre Eigenschaften und Attribute in der Natur: Ideas habemus attributorum ejus, sed quid sit rei alicujus substantia minime cognoscimus. Videmus tantum corporum figuras & colores, audimus tantum sonos, tangímus tantum superficies externas, olfacimus odores solos, & gustamus sapores: intimas substantias nullo sensu, nulla actione reflexa cognoscimus; & multo minus ideam habemus substantiae dei. 150

Die im Anschluß an Locke in dieser Passage zum Ausdruck gebrachte grundsätzliche Infragestellung der Möglichkeit, das substantiell Innere der Körper, d. h. ihre essentiellen Eigenschaften, zu erkennen und sich davon einen deutlichen Begriff zu machen, gilt für Newton besonders im Hinblick auf die Schwere von Körpern, die für ihn bloß als sinnlich wahrgenommene Eigenschaft von Körpern gedacht werden kann. Newtons agnostische Haltung gegenüber der Ursache der Schwere und die Betonung des ausschließlich mathematischen Verständnisses des Kraftbegriffs sowie die programmatische Einschränkung der Naturerklärung im Rahmen einer mathematischen Physik lassen sich hieraus plausibel erklären. Der in Newtons Überlegungen implizierte anticartesianische Ansatz äußert sich also in der Infragestellung der ontologischen, erkenntnistheoretischen und methodologischen Annahmen der Cartesianer und ihrer Basis auf den ideae clarae et distinctae. Denn ihr apriorisches Wissen über die Materie und deren Eigenschaften blieb weitgehend unproblematisiert. Im Discours von 1732 knüpft Maupertuis im Rahmen der Diskussion des metaphysischen Begriffs der Attraktion seinerseits an die Positionen von Locke und Newton an: Si nous avions des corps les idées complettes; que nous connussions bien ce qu'ils sont en eux-mêmes, & ce que leur sont leurs propriétés; comment & en quel nombre elles y résident; nous ne serions pas embarrassés pour décider si l'attraction est

149

150

suppose some substratum wherein they do subsist, and from which they do result; which therefore we call substance.« Vgl. ebd., § 2: »So if any one will examine himself concerning his notion of pure substance in general, he will find he has no other idea of it at all, but only a supposition of he knows not what support of such qualities, which are capable of producing simple ideas in us; which qualities are commonly called accidents. If any one should be asked, what is the subject wherein colour or weight inheres, he would have nothing to say, but the solid extended parts: [...].« Vgl. zu Lockes Kritik am Substanzbegriff auch Cassirer (1991) ( 3 1922), S. 266ff. Vgl. Principia (1726), Lib. III, Scholium Generale, S. 529.

161 une propriétés de la matière. Mais nous sommes bien éloignés d'avoir de pareilles idées; nous ne connoissons les corps que par quelques propriétés, sans connoître aucunement le sujet dans lequel ces propriétés se trouvent réunis.151

Maupertuis behandelt die Attraktion nur noch auf der Ebene der Eigenschaften von Materie, die sinnlich wahrgenommen werden können. Er betrachtet die Attraktion als pures Faktum, das nicht mehr per se problematisiert wird. Denn die Art und Weise wie die Eigenschaften den Körpern innewohnen, können wir nicht begreifen: La manière dont les propriétés résident dans un sujet est toujours inconcevable pour nous. Le peuple n'est point étonné lorsqu'il voit un corps en mouvement communiquer ce mouvement à d'autres; l'habitude qu'il a de voir ce phénomene l'empêche d'en apperçevoir le merveilleux: mais des Philosophes n'auront garde de croire que la force impulsive soit plus concevable que l'attractive.152

Indem Maupertuis feststellt, daß die (in der cartesianischen Physik scheinbar klar verstandene) Impulsionskraft kein deutlicherer Begriff sei als die Attraktionskraft, setzt er in Frankreich den Diskussionsansatz über die Attraktionstheorie auf einer neuen Ebene an: Die Erfahrung bildet nämlich nunmehr das Kriterium für die Beurteilung von Körpereigenschaften und jede Art von apriorischem Wissen über die Körperwelt wird verabschiedet: On seroit ridicule de vouloir assigner aux corps d'autres propriétés que celles que l'expérience nous a appris qui s'y trouvent; mais on le seroit peut-être davantage de vouloir, après un petit nombre de propriétés à peine connues, prononcer dogmatiquement l'exclusion de toute autre; comme si nous avions la mesure de la capacité des sujets, lorsque nous ne les connoissons que par ce petit nombre de propriétés.153

Praktisch kontextuell zur Newton-Debatte in der Bibliothèque Italique also, in der die Cartesianer mit der Frage nach der Ursache der Schwere oder der Attraktion der Körper begründeterweise auf eine >Lücke< in Newtons Naturphilosophie hinweisen konnten, erschien Maupertuis' Schrift in Paris, in der aufgrund begründeter Kriterien erörtert wurde, daß die Attraktionskraft als mögliche Eigenschaft der Materie gedacht werden konnte.

5. Die problematischen Hypothesen der zweiten Gegenargumentation und die Absetzung des Genfer Cartesianers von den traditionellen cartesianischen Gravitationstheorien Die Überlegungen zum zweiten Teil der Gegenargumentation zum Schwereargument sollen zum einen die thematischen Aspekte in den wesentlichen Punkten darstellen und zum anderen die dargestellten argumentati151 152 153

Vgl. Maupertuis (1732), S. 94. Vgl. ebd., S. 98. Vgl. ebd., S. 96f.

162 ven Teilschritte in methodischer Hinsicht reflektieren. Der Schwerpunkt der Überlegungen soll jedoch auf der Verdeutlichung der prinzipiellen Merkmale des Argumentationsverfahrens liegen, die, obwohl sie an einem besonderen Gegenstand gewonnen werden, exemplarisch für das Verfahren der gesamten Theoriendebatte gelten können. Grundsätzlich ist das Verfahren im zweiten Teil der Gegenargumentation demjenigen des ersten Teils ähnlich, wobei diesmal die naturphilosophischen und methodologischen Grundvorstellungen der beiden Systeme nicht explizit in die Diskussion miteinbezogen werden. Im Gegenargument wiederholt der Genfer Cartesianer die bereits postulierte Hypothese von den unterschiedlichen Geschwindigkeiten der in den Tourbillonschichten rotierenden Materie (vgl. oben Kap. 3, 2.2), wobei diese Geschwindigkeiten in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zu dem Abstand vom Tourbillonzentrum abnehmen sollen. 154 Eine solche Proportionalität wurde den Geschwindigkeiten der rotierenden Tourbillonmaterie in Anlehnung an das Newtonsche Gravitationsgesetz zugeschrieben, demzufolge die Gravitation im Abstandsquadrat von dem Mittelpunkt eines festen Körpers abnimmt. In ihren mechanischen Erklärungsansätzen übertrugen die Cartesianer demnach die Proportionalität des Newtonschen Gravitationsgesetzes analog auf die Geschwindigkeiten des rotierenden Äthers in der Absicht, die Abnahme der Gravitation mit der Entfernung eines Körpers vom Zentrum mechanisch zu erklären. Sie waren jedoch nicht in der Lage gewesen, die nötigen Beweise für diese Geschwindigkeitsdifferenzen zu erbringen, wie dies im übrigen vom italienischen Newtonianer in der zweiten Lettre von 1732 an die Bibliothèque Italique moniert wurde. Nach der Lektüre von Newtons Principia unternahm bereits Christiaan Huygens ansatzweise eine solche Übertragung, indem er diese von Newton entdeckte Eigenschaft der Gravitation als eine Folge der Verschiedenheit der Geschwindigkeiten des Äthers vermutete. Huygens gab jedoch zu, keinen Beweis für die mechanische Ursache dieser Geschwindigkeitsdifferenzen angeben zu können: Wie diese [sc. die Abnahme der Gravitation mit dem Abstandsquadrat] zu begründen ist, darüber äußert sich Huygens nicht. Er nimmt zwar an, daß sie sich unmittelbar aus der vorauszusetzenden Geschwindigkeit des Äthers ergebe; jedoch macht er über die Abhängigkeit der letzteren von der Entfernung der rotierenden Materie vom Zentrum keine bestimmte Angabe. Allerdings muß, wie er in einem Briefe an Leibniz [vgl. Mathematische Schriften. In: Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, hg. von C. J. Gerhardt, Bd. 2, S. 137 (11. Juli 1692)] sagt, die Geschwindigkeit der kreisenden Materie gegen das Zentrum hin in einer gewissen Proportion größer sein als an den entfernteren Stellen, um die von Newton so sicher gestellte Abnahme der Gravitation mit dem Quadrate der Entfernung zu

154

»[...] car il est certain qu'en tout Tourbillon les parties les plus éloignées du centre, ont nécessairement moins de vitesse que les autres; [.·.]« (1731, K, 38).

163 erklären, und diese Proportion könne er auch leicht bestimmen, >aber ich finde bisher nicht die Ursache dieser Verschiedenheit der Geschwindigkeiten.^155

Der Genfer Cartesianer behauptet ferner, daß wenn die Schwere auf der Erde vom Erdtourbillon verursacht werde, sie aufgrund der angenommenen Geschwindigkeitsverhältnisse des rotierenden Äthers am Äquator kleiner sein müsse als an den Polen und dies somit den Daten der Erfahrung entspreche. 156 Dieser Aussage liegen die folgenden Annahmen zugrunde: (i) Der Erdmittelpunkt liegt auf der zentralen Achse des Erdtourbillon, die zugleich das Zentrum des Tourbillon bildet, (ii) Aufgrund der Erdabplattung an den Polen ist die Distanz vom Erdmittelpunkt (= Tourbillonzentrum) zum Äquator größer als diejenige vom Erdmittelpunkt zu den Polen, (iii) Die Schwerkraft ist abhängig vom umgekehrt proportionalen Verhältnis der Geschwindigkeiten der Tourbillonschichten zu deren Abstand vom Tourbillonzentrum. (iv) Aufgrund von (ii) und (iii) ist die Geschwindigkeit der Tourbillonschichten um den Äquator geringer als an den Polen. Daraus folgt (v): Ein Körper erfährt am Äquator eine geringere Schwerkraft oder Zentripetalkraft. Daß die Cartesianer in der Auseinandersetzung mit Newton die in (ii) erwähnte Erdabplattung (an den Polen) in ihrer Theorie berücksichtigt hatten, heißt, daß sie ihre Theorie entgegen den neuesten geodätischen Daten von Cassini und Maraldi, die aufgrund von Meßfehlern die Erdform als ein länglicher Sphäroid bestimmt hatten, in diejenige Richtung zu modifizieren bereit waren, die Newton in den Principia aufgezeigt hatte. 157 Ferner beurteilt der Genfer Autor die Bewegungs- und Geschwindigkeitsverhältnisse der Tourbillonschichten nicht - wie dies die Tliriner Newtonianer getan hatten - vom Erfahrungsdatum der Erdbewegung aus, »d'où il résulte que les couches les plus éloignées du centre ont le plus de vitesse« (1732, K, 38), sondern umgekehrt aus der Perspektive des Tourbillonsystems, das die Rotationsbewegung der Erde erst bedingen soll: Mais ils nous permettront de répondre que ce n'est point par le mouvement de la Terre qu'il faut juger du mouvement des parties du Tourbillon; ce n'est pas la Terre qui fait le mouvement de ce Tourbillon, elle ne fait que lui obéir, & sa vitesse est une vitesse moyenne, entre les différentes vitesses des parties du fluide qui circulent par ses pores; [...]. (1731, K, 38f.) 155

Vgl. Laßwitz (1890), Bd. 2, S. 351. Vgl. 1731, K, 38. 157 Vgl. Baigne (1987), S. 205: »Cassini's theory of the shape of the earth as a prolate spheroid can be construed as a refutation of the Cartesian view, but only if the faulty geodesic measurements on which it was based are overlooked. In fact, Huygens demonstrated that Cartesian physics predicted an oblate spheroid, as did Newton's theory.« Vgl. auch Aitón (1972), S. 84: »It was from the failure of observations to detect any deviation that Huygens concluded the earth to be an oblate spheroid. This discovery of Huygens, though depending on the pendulum experiments, was clearly inspired by his hypothesis of the circulation of the subtle matter, aided by his theory of centrifugal force. Newton reached the same conclusion by a somewhat different route.« 156

164 Dabei entsteht eine weitere Schwierigkeit insofern, als mit dieser Rektifizierung nicht erklärt wird, weshalb die Erde die Geschwindigkeit der benachbarten Tourbillonschichten nicht übernimmt, wenn diese doch die Geschwindigkeit der Erdrotation bestimmen sollen. Eine Antwort auf dieses Problem liefert der Genfer Cartesianer erst im Beitrag von 1732. Auf der Basis der Hypothese der Geschwindigkeitsdifferenzen versucht er hier mit einer weiteren Hilfshypothese zu begründen, weshalb sich die Erdgeschwindigkeit von derjenigen der benachbarten Tourbillonschichten unterscheidet und im Vergleich zu den unterschiedlichen Geschwindigkeiten der Fluidumsteilchen, welche die Erdporen durchqueren, einen mittleren Wert annimmt: Cependant il est bien vrai (comme il paroit par le mouvement de la Lune) que si le Tourbillon de la Terre suit les mêmes Loix que le grand Tourbillon, les couches de ce Tourbillon voisines de la Terre ont une plus grande vitesse que les points même de la Terre. Nous serions embarrassez d'en dire la raison, si ce n'est peutêtre que le fluide qui court dans la Terre même, est retardé en traversant les pores de la Terre, & ainsi on ne doit pas juger de son mouvement par celui de la surface de la Terre. (Bibliothèque Italique, Tome XIV (1732), S. 180f.)

Mit der Hypothese der Geschwindigkeitsdifferenzen kommt der Genfer Autor aber nicht über die Position Huygens' hinaus, indem er keine beweisende Ursache (preuve) anzugeben in der Lage ist und sie deshalb (als gegeben) behaupten muß. Aber die Schwierigkeit, diese >Lücke< in seiner Argumentation zu füllen, führt den Cartesianer dazu, das Tourbillonsystem kritisch zu beurteilen: Dieses sei ungewiß (wenn auch nicht absurd) und das Newtonsche System (die Grundannahmen ausgenommen) im Vergleich viel einfacher: Il est vrai que nous n'avons d'autre preuve de cette diversité de vitesse que le fait même, qui nous oblige malgré nous de la supposer, & nous ne croyons pas qu'elle puisse faire un grand désordre dans l'Univers, puisque la Terre, avec son Tourbillon, n'est qu'un point en comparaison du grand Tourbillon. Nous persistons donc à dire qu'on ne sauroit regarder le Système des Tourbillons comme absurde, quoiqu'on puisse le regarder comme incertain: Qu'il est vrai que le Système de Mr. Newton est incomparablement plus simple, mais que la supposition sur laquelle il est fondé est un peu difficile à digerer: [...]. (Bibliothèque Italique, Tome XIV (1732), S. 181f.)

Aus den vorangehenden Stellungnahmen des Genfer Autors lassen sich zwei grundsätzliche Überlegungen zu seiner argumentativen Methode anstellen. Die erste Überlegung betrifft die formale Ebene der Gegenargumentation: (i) Das hypothetische Beweisverfahren (oder Argumentation ex hypothesi) der Newtonianer wird unterminiert, indem man ihnen >fehlerhafte< (hypothetische) Annahmen zur Tourbillonkonstruktion unterstellt, die ihrer Argumentation konstitutiv zugrunde liegen sollen. Damit wird dem hypothetischen Beweisverfahren der Newtonianer als Ganzem Geltung abgesprochen und folglich die aus den Konsequenzen ihrer Annahmen hergeleitete Widerlegung des Tourbillonsystems als ungültig erklärt. Dabei spielt die argumentative Güte oder die Relevanz des vorgebrachten Gegenarguments in der

165 Regel eine sekundäre Rolle, (ii) Es erfolgt eine Rektifizierung der Annahmen zur Tourbillonkonstruktion durch die Bildung neuer (physikalischer) Hypothesen und Hilfshypothesen, wobei nachprüfbare Erfahrungsdaten sowie die verifizierten und daher unbestreitbaren Ergebnisse des Newtonschen Systems bei der Rektifizierung in der Regel als richtungweisend gelten, (iii) Die formale Wiederherstellung der Wirbeltheorie erfolgt durch eine partielle Modifikation des ursprünglichen cartesischen Systems, die den Rahmen des kinetisch-korpuskularen Mechanizismus jedoch nicht sprengt. Wie Aiton in seiner Studie gezeigt hat, bereiteten Newtons Annahmen zu den physikalischen Eigenschaften von Tourbillonschichten der Widerlegung der Tourbillontheorie große Schwierigkeiten. 158 (iv) Die mangelnde Stringenz in der Newtonschen Argumentation gab den Cartesianern die Gelegenheit, in den modifizierten Versionen der Tourbillontheorie die Hypothese der Geschwindigkeitsdifferenzen grundsätzlich in den Mittelpunkt ihrer Verteidigung zu stellen, unabhängig davon, ob diese Hypothese durch die Erfahrung verifiziert werden konnte oder nicht, (v) Selbst wenn das physikalische Tourbillonsystem (im Gegensatz zum mathematischen) als ungewiß beurteilt wird, ist es das Ziel der Gegenargumentation, zu zeigen, daß das Tourbillonsystem auf der formalen Ebene nicht widerlegt ist. Die Gegenargumentation ist somit primär vom Gedaken geleitet, die formale Kohärenz und Plausibilität der Tourbillontheorie und ihrer Erklärungen (wie z.B. zu den Schwereverhältnissen am Äquator und an den Polen) zu restituieren. Dieses Verfahren erweist sich als durchführbar, solange die zur Problemlösung formulierten physikalischen Hypothesen die Plausibilität des modifizierten Tourbillonsystems garantieren (Plausibilitätskriterium). Die Plausibilität der Hypothesen ist aus cartesianischer Perspektive dann gegeben, wenn die Problemlösungen mit klaren und deutlichen Vorstellungen (ideae clarae et distinctae) anschaulich dargestellt werden können (Anschaulichkeitskriterium). Dabei müssen die physikalischen Hypothesen den Kriterien einer Wahrscheinlichkeitstheorie genügen (Wahrscheinlichkeitskriterium). 159 Von der Relevanz der Probleme des Tourbillonsystems hängt schließlich die Erklärungs- und Problem-

158

Vgl. Aiton (1972), S. 110-113, bes. S. lllf.: »As each layer moves uniformly, the impressions made by the adjacent superior and inferior layers must be equal and opposite; consequently the force is the same for all layers, [...]. Since a fluid cannot permanently sustain a shearing strain, all the layers and the central body itself would eventually rotate with the same angular velocity. The equilibrium of the layers, however, involved not only the centrifugal force but also the pressure gradient. [...]. For Newton had indeed avoided this problem of instability [sc.: of the vortex] by supposing in effect that the vortex rotated as if its cylindrical layers were solid. Applying the same principles to the spherical vortex, in which concentric spherical shells were in effect supposed to rotate as if they were solid, [...].« 159 Ygj h i e r z u Régis (1690), bes. das Kap.: Physique ou La Connoissance des Corps Naturels, & de leurs Propriétés, S. 275ff. und Rohault (31676), Bd. 1, Kap. 3: De la manière de philosopher sur les choses particulières, S. 21ff

166 lösungsfähigkeit der Hypothesen ab: je relevanter das Problem ist, umso größer ist in der Regel die Kompliziertheit der Erklärung bzw. umso unwahrscheinlicher und damit umso problematischer die Hypothese. Damit ist die zweite Überlegung bereits angesprochen. Die mechanischen Ursachenerklärungen der Schwere, die auf den cartesischen Bewegungsgesetzen basieren, weisen insofern eine grundlegende Schwierigkeit auf, als sie die zentrale Eigenschaft der Schwere, die darin besteht, daß die Körper gegen den Erdmittelpunkt und nicht gegen die Erdachse schwer sind, nicht befriedigend erklären können. Auf dieses relevante Problem hatte bereits Huygens in seiner Kritik an der Gravitationstheorie Descartes' hingewiesen und auf der Grundlage seiner Theorie des Äthers eine eigene Gravitationstheorie entworfen.160 Der Genfer Gelehrte erkennt seinerseits in dieser zentralen Eigenschaft der Schwere die größte Schwierigkeit der cartesischen Gravitationstheorie und sieht seine Auffassung durch die Unzulänglichkeit der bislang formulierten Hypothesen zur ihrer Lösung bestätigt. Obwohl zunächst ein Lösungsversuch angedeutet ist, wird die Aporie aller Problemlösungsversuche erkannt, die bei der Erklärung dieser Eigenschaft der Schwere die Tourbillontheorie vorbehaltlos voraussetzen. Die nunmehr kritische Haltung gegenüber der Gravitationstheorie Descartes' kommt in den Aussagen am Ende der zweiten Gegenargumentation zum Schwereargument vollends zum Ausdruck. Das für die Tourbillontheorie unlösbare Problem der Newtonschen Zentralkräfte veranlaßt ihn, alle Ursachenerklärungen der Schwere, die das Tourbillonkonzept voraussetzen, endgültig fallen zu lassen. Von den Erklärungsansätzen der Cartesianer Christiaan Huygens und Joseph Saurin wird explizit gesagt, daß sie das erwähnte Problem auch nicht zu lösen vermochten 161 und es gegenwärtig immer noch ungelöst vorliege: [...] tout-au-plus cette circulation [sc. des parties du Tourbillon] se trouve-t-eUe un peu dérangée par le mouvement de la Terre, & c'est peut-être à ce dérangement que l'on doit cette propriété de la pesanteur, que les Corps pesans tendent au centre de la Terre, & non pas à son axe; propriété qui forme la plus grande difficulté que l'on puisse faire contre le Système de la Pesanteur de Mr. Descartes, & qui jusques à présent n'a pas été levée, ni par l'explication de Mr. Huygens, ni par l'explication de Mr. Saurin, & c'est aussi elle qui nous a déterminés à chercher la cause de la Pesanteur ailleurs que dans les Tourbillons. (1731, K, 39)

Bei den Gravitationstheorien von Huygens und Saurin handelte es sich um Verbesserungsvorschläge der Gravitationslehre Descartes'. Da dieser zufolge die Körper gegen die Erdachse und nicht, wie es die Erfahrung zeigt, gegen 160 161

Vgl. hierzu Laßwitz (1890), Bd. 2, S. 341ff. Vgl. Christiaan Huygens: Discours sur la cause de la pesanteur, Leiden 1690; Joseph Saurin: Solution de la principale difficulté proposée par M. Hu(y)gens contre le système de M. Descartes, sur la cause de la pesanteur. In: Journal des sçavans, (1703), S. 24 sowie ders.: Examen d'une difficulté proposée par M. Hu(y)ghens contre le système cartésien sur la cause de la pesanteur. In: Mémoires de l'Académie des Sciences, (1709), S. 131 (zit. nach Aitón (1972), S. 267).

167 den Erdmittelpunkt schwer sein mußten, waren die Cartesianer bereits in den siebziger Jahren des 17. Jahrhunderts bemüht, diese Schwierigkeit aus dem Wege zu räumen und gleichzeitig die Gravitationstheorie zu vereinfachen. 1 6 2 Huygens versuchte beispielsweise aufgrund seiner vom Atomismus Gassendis beeinflußten rein kinetischen Korpuskulartheorie, die Ursache der Schwere auf die Bewegung der matière subtile (Äther) zurückzuführen und nahm eine Stellung ein, die sich zwischen Descartes und Newton bewegte. D i e durch Newtons Theorie der Zentralkräfte resultierenden Schwierigkeiten für die Tourbillonhypothese wurden in wissenschaftshistorischer Perspektive mit der Akzeptierung der Newtonschen vis centripeta durch Huygens 1 6 3 problematischer, weil diese Kraft zu der cartesianischen Theorie von den unterschiedlichen Dichten in den Tourbillonschichten kontrastierte. 164 In seiner Schrift Discours sur la cause de la pesanteur von 1690 hatte Huygens zum einen frühere Ansichten durch die bereits bekannten Pendelexperimente Richers am Äquator berichtigt, 165 zum andern hatte er in der Addition zu dieser Schrift die aus Newtons Principia gewonnenen Erkenntnisse eingearbeitet, ohne jedoch das universale Attraktionsprinzip in seine Akzeptanz einzuschließen. 1 6 6 D i e Cartesianer des 18. Jahrhunderts hatten die Zentripetalkraft jedoch nur über eine Modifikation des Tourbillonbegriffs in das cartesianische System assimilieren können: In Anlehnung an die Theorien von Leibniz und Saurín wurde die Hypothese des mit matière subtile konstituierten >dünnen Tourbillon aufgestellt. 167 162 163 164

165

166

167

Vgl. Aiton (1972), S. 75-85. Vgl. ebd., S. 84. Vgl. ebd., S. 189: »All were agreed in accepting the vis centripeta, or gravity of the planets towards the sun, varying inversely as the square of the distance, but such a force was superfluous in the dense vortices of Villemot and Malebranche, so that its acceptance introduced an element of confusion and inconsistency.« Aiton (1972) weist (S. 188) darauf hin, daß Huygens in dieser Schrift unter der Berücksichtigung der Erfahrungsdaten von Richer u. a. die Begriffe von Masse und Gewicht im Gegensatz zu anderen Cartesianern klar unterschieden hat. Vgl. Aiton (1972), S. 84f.: »The response of Huygens to Newton's Principia neatly epitomized the pattern of Cartesian opposition; [...]. These reactions are contained in the >Addition< to the Discours, where Huygens remarked that he had nothing against Newton's vis centripeta or gravity of the planets towards the sun, because this was established by experience, [...].« Und S. 113t: »According to Huygens' interpretation, Newton deduced the elliptical orbit from the balacing of the vis centripeta, or gravity of the planet toward the sun, and his own vis centrifuga. This demonstration, he remarked, had convinced him that the hypothesis of such a vis centripeta, varying inversely as the square of the distance, was true, [...]. In Huygens' response to the Principia we can see already the idea of the reconciliation of the Newtonian and Cartesian systems that was to be taken up by the eighteenthcentury Cartesians.« Für eine detaillierte Diskussion der cartesianischen Gravitationstheorie von Huygens vgl. u.a. Aiton (1972), S. 75-79 u. S. 83-85 u. Laßwitz (1890), Bd. 2, S. 341f£ Vgl. Aiton (1972), S. 189 und zur Stellung von Saurins Gravitationstheorie S. 188: »The chief merit of Saurin's theory of gravity, described by Johann Bernoulli as the

168 Im Jahre 1731 hatte sich die wissenschaftshistorische Situation noch einmal verändert. Der Genfer Cartesianer spricht den modifizierten Versionen der Tourbillontheorie, die eine kinetische Theorie der Materie voraussetzen, im Bereich der Schwerkraft jegliche Erklärungsfähigkeit ab. Die Cartesianer hatten unter diesen Umständen bereits begonnen, im Bereich der Schwere zu alternativen Erklärungsansätzen überzugehen, die nicht mehr auf einer kinetischen Materietheorie basierten.

6. Der Anschluß des Genfer Cartesianers an die Ätherhypothese Newtons: Eine Exemplifikation des Übergangs zu der dynamischen Theorie der Materie Die Überlegungen dieses Abschnitts knüpfen an die dem Kap. 3, 3.3 vorangestellten Bemerkungen zum Wandel des Begriffssystems naturwissenschaftlicher Theorien an, der sich in Abhängigkeit von Theoriedebatten vollzieht. Die Distanznahme des Genfer Autors von den traditionellen cartesianischen Gravitationstheorien am Ende des ersten Drittels des 18. Jahrhunderts weist auf die kontinuierliche Entwicklung der Diskussion um die Tourbillontheorie innerhalb der cartesianischen scientific community hin. Die teilweise bedeutenden Abweichungen der späteren Versionen der Tourbillontheorie von der ursprünglichen Tourbillontheorie Descartes' waren von dieser Diskussion abhängig gewesen. Die Debatte findet jedoch nicht nur im geschlossenen Kreis der cartesianischen Forschergemeinschaft statt, sondern bezieht die gegenüber den Problemlösungen der Tourbillontheorie geäußerten Einwände der Exponenten der konkurrierenden Theorie mit ein. Theoretisch vollzieht sich ein solcher Begriffswandel dadurch, daß ein geschlossenes System von Begriffen, aufgrund von dem eine Theorie A die Natur beschreibt, >durchlässig< wird, indem ein oder mehrere Begriffe der konkurrierenden Theorie Β in das Begriffssystem der Theorie A assimiliert werden. Die Assimilierung von Begriffen der Theorie Β in das Begriffssystem der Theorie A erfolgt durch die Herstellung von Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen den korrespondierenden Begriffen der beiden Theorien, indem diese Begriffe hinsichtlich eines oder mehreren Bedeutungsmerkmalen angeglichen werden, d.h. indem ein oder mehrere Bedeutungsmerkmale eines Begriffs der Theorie Β dem entsprechenden Begriff der Theorie A zugewiesen werden. Dadurch hat sich die Bedeutung des Begriffs der Theorie A gewandelt, wobei dies eine

best that had been devised up to that time, was its experimental basis in the work of Mariotte. It was this aspect of Saurin's development of Huygens' theory that qualified it as an advance on that of Leibniz, which also explained gravity as the effect of a tenuous vortex.« Zu der Tourbillontheorie Saurins und seinen Beiträgen zur Schwerkraft vgl. Aiton (1972), S. 172-176.

169 Veränderung des gesamten Begriffssystems der Theorie A zur Folge haben kann. In dieser Fallstudie bezieht sich der Bedeutungswandel auf den cartesianischen Ätherbegriff oder matière-subtile-Begriff. Die Tatsache, daß dieser Begriffswandel im Rahmen der Auseinandersetzung um das Schwereargument stattfindet, weist auf die zentrale Stellung des Schwereproblems in der Newton-Debatte der Bibliothèque Italique hin. Wichtige Voraussetzungen für die Genese dieses Begriffswandels sind somit: (i) Die äußeren Rahmenbedingungen der Debatte: das Vorhandensein unvereinbarer Positionen von Cartesianern und Newtonianern, die unterschiedliche Systeme der Naturanschauung vertreten, (ii) Die internen debattenspezifischen argumentativen Verfahren: die Formulierung der Positionen in Argumenten und Gegenargumenten und ihre Darstellung in den Article-Texten der Bibliothèque Italique, (iii) Die zeitlichen Faktoren der Debatte: auf eine erste Debattenphase (1730/1731) folgt aufgrund der Reaktionen auf ihre Diskussionsergebnisse eine zweite Phase (1731/1732), in der die neuen Diskussionsbeiträge einbezogen und kommentiert werden. Wie weit sich durch die Entwicklung dieser Debatte die dynamische Theorie der Materie durchgesetzt hat, soll in den folgenden Überlegungen aufgezeigt werden. Einen ersten Ansatz zu dem Bedeutungswandel des cartesianischen Ätherbegriffs deutete sich bereits in einem Argument der ersten Debattenphase an, in dem der Genfer Cartesianer die ressort-Hypothese als eine zu dem Tourbillon alternative Ursachenerklärung der Schwere vorgeschlagen hatte. 168 Die in dieser Hypothese zum Ausdruck gebrachte Auffassung der matière subtile beinhaltete bereits die für den Begriffswandel erforderlichen Bedeutungselemente, jedoch hatte der Genfer Autor in dieser ersten Diskussionsphase wegen der dort verfolgten Ziele nicht das primäre Interesse, diese Hypothese weiter zu explizieren. In der zweiten Debattenphase präsentierte sich die Situation unter veränderten Vorzeichen. Die rmorf-Hypothese wird in der zweiten Debattenphase weiter expliziert und tritt als stärkstes Gegenargument wieder hervor. In dieser Phase mußte sich nämlich die Gegenargumentation des Genfer Autors mit der scharfen Kritik des italienischen Newtonianers an dessen Positionen von 1731 messen. Der Article von 1732 wird so eingeleitet: Il semble étonnant que les Newtoniens viennent nous attaquer sur la pesanteur, eux qui l'expliquent d'une manière si peu Philosophique. [...]. Il est bien vrai que tant qu'ils sont aggresseurs ils ont sur nous tout l'avantage, & nous avoiions que nôtre Auteur relève avec justice quelquesunes des réponses que nous avions donnés à leurs objections. (Bibliothèque Italique, Tome XIV (1732), S. 177f.)

Zunächst wird die Position der Turiner Newtonianer in der ersten Debattenphase (vgl. oben Kap. 3,1) rekapituliert: 168

Vgl. oben Kap. 3, 2.2 dieser Studie.

170 [...] mais on sait que cette flèche n'est que de demi pouce, & que les corps pesants parcourent en tombant 15. pieds par seconde; ainsi ce n'est pas la révolution de ce fluide qui produit la pesanteur des Corps. (Bibliothèque Italique, Tome XIV (1732), S. 178)

Dann werden den Schwierigkeiten der ersten Gegenargumentation und den in der zweiten Debattenphase eingebrachten Einwänden des italienischen Newtonianers Geltung eingeräumt. Bezüglich des Arguments der ressort-Hypothese ist der Genfer Autor jedoch nicht ohne weiteres bereit, die Kritik des Newtonianers zu akzeptieren. In seinem Beitrag von 1731 hatte er im Zusammenhang mit dem Verweis auf die rmorf-Hypothese Newtons Ätherhypothese von 1717 nicht erwähnt, zumal die dort von Newton vertretene Auffassung des Äthers Gegenstand seiner Kritik werden sollte. Ganz anders verhält es sich aber im Beitrag von 1732, in dem er sich in der Antwort auf die Kritik des italienischen Newtonianers explizit auf Newtons Aussagen in der Ätherhypothese beruft. In der folgenden Passage des Article wird zu Recht die Erklärung der Schwere aufgrund der elastischen Kraft der Fluidumteilchen (Äther) unter der Herbeiziehung der Query 21 der Opticks aus der zweiten (englischen) Auflage von 1717 Newton zugeschrieben. Und diese Erklärung nimmt der Cartesianer nun für sich in Anspruch: Nous avions répondu plusieurs choses; I o . qu'il n'est pas nécessaire de recourir aux Tourbillons pour expliquer la pesanteur, qu'il suffit d'imaginer une force élastique aux parties de ce fluide; nôtre Auteur n'est pas content de cette solution, & offre de prouver qu'un tel fluide ne produiroit point cette même accélération avec laquelle les corps tombent. A cela nous répondons, sans entrer dans un plus grand détail, que cette explication de la pesanteur est de Mr. Newton lui-même dans la 21. question jointe à son Optique, & que nous avons crû qu'une telle réponse devoit satisfaire un Newtonien. (Bibliothèque Italique, Tome XIV (1732), S. 178f. - meine Kursivierung)

Die Übernahme dieser Erklärung Newtons exemplifiziert die Tatsache, daß die Cartesianer am Ende des ersten Drittels des 18. Jahrhunderts in ihren Modifikationen der Tourbillontheorie und der kinetischen Korpuskulartheorie Newtons Theorien und deren konkreten Problemlösungen gefolgt waren und nach Berührungspunkten gesucht hatten. Die sich hierbei stellenden Fragen sind die folgenden: Inwiefern kann man - im Falle der Ätherhypothese - neuralgische Begriffe (im empirischen Teil) der Theorien gleichsetzen und gleichzeitig (in ihrem theoretischen Teil) konträre Basisannahmen vertreten? Und bedeutete der Anschluß an die Ätherhypothese bereits ein erstes Zeichen der Ablösung von den Grundannahmen des cartesianischen Mechanizismus? Wie weit hatte sich der Genfer Cartesianer dem Attraktionsprinzip bereits angenähert, wenn er durch die Übernahme der Erklärung Newtons die Zentralkräfte im Grunde nicht mehr innerhalb einer kinetischen Korpuskulartheorie erklärte? Und wieviel hatte er den Grundannahmen des Newtonschen Systems bereits konzediert? Umgekehrt kann man aus der Perspektive der Newtonschen Ätherhypo-

171 these fragen, ob und inwiefern Newtons Ätherhypothese die Attraktionstheorie und die fernwirkenden Kräfte eingeschränkt und ob er an eine mechanische Erklärung der Schwere gedacht hat. Es gibt - von beiden Perspektiven aus gesehen - einen Übergangsbereich, in dem solche Fragen ihre Legitimation haben. Es läßt sich nicht leugnen, daß Newton, in der Absicht, den Vorwurf der Inhärenz der Schwerkraft in der Materie abzuschlagen, den Cartesianern implizit in zweierlei Hinsicht Konzessionen gemacht hat: Kurd Laßwitz zufolge hat Newton, ohne jedoch seine Theorie der Materie aufzugeben, mit der Ätherhypothese die actio in distans reduziert, wenn auch nicht eliminiert, so daß festgestellt werden muß, daß in dieser Hinsicht die Ätherhypothese den Vorstellungen der Cartesianer durchaus entgegen kam und von diesen mitunter zugunsten einer >mechanischen< Erklärung der Schwere uminterpretiert werden konnte: Wenn man also selbst annehmen wollte, daß Newton seine Ätherhypothese ernsthafter gemeint habe, als es den Anschein hat, so würde dies an dem Kern der Frage, wie Newton sich zur Theorie der Materie gestellt habe, gar nichts ändern. Die Gravitation als fernwirkende Kraft ist zwar geschwunden, aber die Centraikräfte sind geblieben, nur ist die Centripetalkraft ersetzt durch eine Centrifugalkraft, die attraktive durch eine repulsive. Ein Vorteil ist allerdings dadurch erreicht. Gelingt es, die Schwere auf die Elasticität zurückzuführen, so hat man nicht mehr nötig, eine Wirkung in beliebige Fernen anzunehmen, sondern nur Kräfte, die in der unmittelbaren Nähe wirken, und, was viel wichtiger ist, an Stelle der verschiedenen anziehenden und abstoßenden Kräfte tritt eine einzige Repulsivkraft, die Elasticität der Ätheratome. Diese beruht auf repulsiven Kräften. Diese Kräfte aber, wenn sie auch nur auf die benachbarten Teilchen wirken, sind darum doch nicht weniger fernwirkend, die Atome des Äthers sind nicht kinetische, sondern dynamische, [...].169

Laßwitz ist daher skeptisch im Hinblick auf die Möglichkeit, daß Newton sich mit der Ätherhypothese doch noch entschlossen hätte, eine mechanische Hypothese zur Erklärung der fernwirkenden Kräfte einzuführen: Es nutzt daher nichts, darauf hinzuweisen, daß Newton selbst an eine mechanische Erklärung der Schwere gedacht habe. Er hat nur daran gedacht, die Schwere auf die Elasticität des Äthers zurückzuführen, nun aber müßte wieder die Elasticität mechanisch erklärt werden. 170

Außerdem haben die Ausführungen in Kap. 3, 3.4 gezeigt, daß Newton mit seinen Aussagen zum Äther keineswegs die Grundannahmen seiner Gravitationstheorie aufgegeben hat und daß die Cartesianer ihrerseits Newtons Äußerungen zum Äther mißtrauisch gegenübertraten.171 Die Überlegungen von 169

Vgl. Laßwitz (1890), Bd. 2, S. 563f. Vgl. ebd., S. 564. 171 Vgl. Westfall (1971), S. 395: »Two things need to be noticed before this rationale for the aether is accepted. First, he [sc.: Newton] devoted more space in the eight new queries to optics than to gravity, and one of the things the aether offered him was a vibrating medium to explain the periodic phenomena of Book II. Query 17, the first of the new Queries, applied the aether explicitly to this purpose. Second, if the aether had been introduced primarily to explain gravity, the explanation it

170

172 Richard S. Westfall entlarven u. a. die eventuellen psychologischen Motivationen der Ätherhypothese Newtons, die bei deren Beurteilung zu berücksichtigen sind. Sie sollen jedoch um eine weitere Überlegung ergänzt werden: N e w t o n hat in d e m Advertisement

II zu den Opticks

von 1717 seine Skepsis

gegenüber der in der Query 21 angegebenen Ursachenerklärung der Schwere in einer klaren Sprache dargelegt, indem er betonte, daß er sie - die cause von gravity

- in der Form einer Question

einführe, da er »not yet satisfied

about it for want of Experiments« sei. 1 7 2 Damit präzisierte er gleich zu Beginn der Opticks

das Kriterium, demzufolge für ihn eine Hypothese wissen-

schaftlich legitim sein konnte: sie mußte empirisch überprüfbar (und/oder mathematisch beweisbar) sein. 173 N e w t o n wußte demnach ganz genau, welche Erklärungen er zulassen konnte und welche nicht; dennoch hat er selbst nach der Deklaration des hypotheses in der Query 21 der Opticks

non fingo in den Principia

v o n 1713 1 7 4

von 1717 eine experimentell nicht nachprüfbare

physikalische Hypothese aufgestellt. 175 Mithin hatte der Genfer Cartesianer offered was one hardly calculated to appease mechanical philosophers who took the trouble to read it with care.« 172 Newtons Ätherhypothese war ihrerseits nicht ohne Schwierigkeiten; vgl. Aiton (1972), S. 108: »Newton, however, failed to explain how the variation of density with the distance was maintained against the expansive endeavour of the aether.« 173 D.h., daß Newtons Ätherhypothese offensichtlich keine wissenschaftliche Erklärung der universalen Gravitation war und konnte demnach höchstens eine plausible Erklärung für das Phänomen darstellen, daß die Planeten gegen die Sonne und die Planeten gegeneinander sowie daß die Körper gegen die Erde schwer sind. Vgl. Aiton (1972), S. 108. 174 Ygj principia (1726), Lib. III, Scholium Generale, S. 530: »Hactenus phaenomena coelorum & maris nostri per vim gravitatis exposui, sed causam gravitatis nondum assignavi. [...]. Rationem vero harum gravitatis proprietatum ex phaenomenis nondum potui deducere, & hypotheses non fingo. [...].« 175 Vgl. Aiton (1971), S. 108f. In seinem Beitrag zur Geschichte der mechanischen Naturwissenschaften und der Kosmologie kritisiert Fritz Wagner: Isaac Newton im Zwielicht zwischen Mythos und Forschung. Studien zur Epoche der Aufklärung, Freiburg, München 1976, S. 40f. zu Recht die von Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1932, S. 681 in positivistischer Sicht gegebene Charakterisierung des Wissenschaftlers Newton, dessen geistige Existenz Cassirer in den Worten Wagners auf »die saubere Begrenzung des physikalischen Weltbildes auf das induktive Erkenntnisvermögen« und dem »mathematischen Genie« reduziert wissen will, ohne daß Cassirer die im Denken Newtons ebenso vorhandenen Übergriffe der »rationalen Selbstbeschränkung« berücksichtige. Den Opticks entnehme Cassirer bloß die »Warnung vor wissenschaftlicher Grenzüberschreitung [...], nicht jedoch die metaphysischen Meditationen, die sie ebenfalls enthalten.« Vgl. Wagner (1976), S. 41. Ein differenzierteres Bild der geistigen Existenz Newtons gibt Wagner zufolge erst Alexandre Koyré, der die metaphysischen Aussagen und die religiösen Überzeugungen Newtons ebenfalls gewürdigt habe. Vgl. Koyré (1965), S. 113f.: »>Metaphysical hypotheses*, so Newton told us, >have no place in experimental philosophy.* Yet it seems quite clear that metaphysical convictions play, or at least have played, an important part in the philosophy of Sir Isaac Newton. It is his acceptance of two absolutes - space and time - that enabled him to formulate his fundamental three laws of motion, as it was his belief in an omnipresent and om-

173 in methodologischer Hinsicht - denn es waren u. a. die Cartesianer, die von dem spekulativ-hypothetischen Verfahren in der Physik und Astronomie einen konstitutiven Gebrauch machten - einen weiteren Grund, sich der Ätherhypothese Newtons anzuschließen. D i e Übernahme von Newtons Ätherhypothese durch den Genfer Autor enthält jedoch - jenseits des im Newtonschen Sinne unwissenschaftlichen Status' dieser Hypothese - im Hinblick auf die darin beinhaltete Theorie der Materie eine grundlegende Implikation. Der Genfer Autor weist in seiner Hypothese zu der Ursachenerklärung der Schwere den Teilchen der matière subtile - so wie Newton den Ätheratomen - explizit eine elastische Kraft zu, die er sich als eine Eigenschaft der matière subtile denkt. D i e s e Eigenschaftszuschreibung an die matière subtile war gegenüber dem orthodox-cartesianischen Materiebegriff (in Anlehnung an die erste Materieart der Elementenlehre Descartes') 1 7 6 eine radikale Innovation. 177 Mit der Erklärung Newtons übernimmt der Genfer Gelehrte zugleich auch dessen (in der ersten Debattenphase noch kritisierten) Ätherbegriff, der auf einer dynamischen Theorie der Materie gründet. Wie in Kap. 3, 3.4 gezeigt wurde, führt Newton in der Ätherhypothese die Schwere auf die Elastizität der Ätheratome zurück, wobei die Elastizität auf der abstoßenniactive God that enabled him to transcend both the shallow empiricism of Boyle and Hooke and the narrow rationalism of Descartes, to renounce mechanical explanations, and in spite of his own rejection of all action at a distance, to build up his world as an interplay of forces, the mathematical laws of which natural philosophy had to establish. By induction, not by pure speculation. This because our world was created by the pure will of God; we have not, therefore, to prescribe his action for him; we have only to find out what he has done.« Vgl. zur wissenschaftlichen Bedeutung des Hypothesenbegriffs bei Newtons auch Koyré (1965), bes. S. 25-52 (Concept and Experience in Newton's scientific thought) und zu der ideengeschichtlichen Bedeutung von Newtons Ablehnung der »schlechten« Hypothesen u. a. Kondylis (21986), S. 226ff. Kondylis weist auf den polemischen Sinn des Kampfes gegen die Hypothesen durch Newton und die Newtonianer sowie auf die daraus resultierende Denkautomatik hin. Diese Erklärung löst Kondylis zufolge die scheinbare Paradoxie auf, daß Newton mit der Einführung der absoluten Zeit, Raum und Bewegung selbst unüberprüfbare Hypothesen verwendet habe. So habe Newton bei der Formulierung des »hypotheses non fingo« eine konkrete Polemik gegen die inhaltlichen Positionen des Cartesianismus vorgeschwebt, so daß »der Gegenposition - wenigstens aus der Sicht ihrer Vertreter - quasi automatisch der Status einer Verteidigung der Empirie zukommen« mußte. »Jedenfalls entwickelte sich bei den Newtonianern der ersten Generation die Abneigung gegen die (>schlechtenWahrscheinlichen< (verosimile) beurteilt, in Abkehr von der Kategorie des metaphysisch >Wahren< (verum), die für die naturphilosophischen Systeme des 17. Jahrhunderts (u.a. bei Descartes) noch unabdinglich gegolten hatte. Es verbleiben somit mehrere unterschiedliche Hypothesen oder Systeme, die mehr oder weniger wahrscheinlich sein können. Und der homme raisonnable unterbreite die sich ihm präsentierenden Hypothesen dem Urteil seines Verstandes und prüfe sie, ohne sich jedoch für die eine oder für die andere dieser Hypothesen endgültig festlegen zu müssen. Dies heißt aber nicht, daß keine Entscheidungen gefällt werden oder keine Theoriewahl stattfindet. Für den common sense des naturwissenschaftlich gebildeten Gelehrten der Frühaufklärung stehen in der Kosmologie zwei Optionen offen: die (für cartesianische Rationalitätsmaßstäbe unzugängliche und daher als >peripatetisch< bezeichnete) Attraktionstheorie nach Newton oder das (nach den Theorien Newtons rektifizierte) Tourbillonsystem. Wenn wir unsere Brille des >Aber-Newton-hatdoch-Recht< ausziehen (und ich denke nicht, daß es hier darum geht), ist es um 1730 durchaus plausibel, daß die Theoriewahl des Genfer Autors auf die zweite Option fällt. Das eingangs dargelegte >Lückenfüllproblem< im Zusammenhang mit Newtons Theorie, das in den abschließenden Bemerkungen von 1731 angesprochen wird, liefert dafür auch ein adäquates Erklärungsmodell, das zugleich auf den sich anbahnenden Wissenschaftsprozeß vorausweist.

177 Denn mit Blick auf die sich im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert vollziehende geistesgeschichtliche Entwicklung weist der vom Genfer Autor festgestellte Wandel der kosmologischen Vorstellungen und des (wissenschaftlichen) Naturbegriffs grundsätzlich auf ein verändertes Bewußtsein gegenüber den Problemen einer naturwissenschaftlichen Theorie hin, das nicht mehr primär metaphysische Annahmen ins Zentrum stellt oder religiös-teleologische Absichten verfolgt, sondern eine Aussage des Philosophie- und Wissenschaftshistorikers Nicola Badaloni zu bestätigen scheint, nach der ein grundlegendes Kriterium die Differenz zwischen den Epochenbegriffen >Frühaufklärung< und >Aufklärung< kennzeichne: »[...] das wichtigste differenzierende Merkmal der Aufklärung gegenüber der Frühaufklärung [»preilluminismo«] besteht in der Herausarbeitung von Grundlagen, die den Blick auf das Erkennen der Bedingungen für eine wissenschaftliche Forschung lenkt.« 182 Und es geht also dem Genfer Cartesianer in diesem Sinne um die wissenschaftliche Erforschung der >Lücke< - der »cause générale« des Weltsystems, die allen Phänomenen, Eigenschaften und Bewegungen der Körper zugrundeliege. Und es geht ihm nicht primär um das Schließen der >LückeschöpfenForm< nicht intelligibel außer in einem ausgedehnten Ding so wie die Bewegung nur als Bewegung im ausgedehnten Raum möglich ist.14 Der intramental-essentialistische Sub9

10 11 12 13 14

Principia Philosophiae, Übersetzung). Principia Philosophiae, Ebd. Ebd. Principia Philosophiae, Principia Philosophiae,

I, 52 (= Œuvres, Adam & Tannery, VIII, S. 25). (Meine dt. I, 53 (= Œuvres, Adam & Tannery, VIII, S. 25).

I, 63 (= Œuvres, Adam & Tannery, VIII, S. 31). I, 53 (= Œuvres, Adam & Tannery, VIII, S. 25).

193 stanzbegriff ermöglicht Descartes also die Geometrisierung der materiellkörperlichen Ausdehnung und avanciert hierdurch zum methodologischen Ort der hypothetischen Deduktion der phänomenalisierten Außenwelt.

2. >EvidenzGewißheitHypotheseRationalität< bzw. >Evidenz< und >Gewißheit< den (in diesem Fall physikalischen) Theorien von Materie, Bewegung, Kraft, usw. zugrundeliegt. Dabei wiederspiegelt sich die Inkongruenz in den Basisannahmen heterogener Wissenschaftsbegriffe oft auch in der gegenseitigen Kritik. So kann anhand von Leonhard Eulers im unmittelbaren Vorfeld der Akademie-Debatte entstandenen Streitschrift zur Monadenlehre gezeigt werden, daß seine Kritik an der metaphysischen Grundlegung der Kraft- und Bewegungslehre der Leibniz-Wölfischen Mechanik vor dem Hintergrund eines >essentialistischen< Wissenschaftsverständnisses 38 sowie einer mathematischen Abstraktionskonzeption entsteht, die seine eigenen Annahmen über die Beschaffenheit von Materie und dem Wesen der Kraft im Rahmen einer rationalen Mechanik bestimmt. Eulers Überlegungen galten in den Gedankken von den Elementen der Cörper (1746) dem Versuch, den Newtonschen Kraftbegriff (äußere Kraft) auf materietheoretischer Basis rational zu begründen. Ausgehend von Untersuchungen zum Stoßproblem sollten sämtliche Kraftphänomene bzw. Bewegungsänderungen von Körpern auf deren Trägheit als eine den Bewegungsveränderungen widerstehende (innere) Kraft, die für Euler zu diesem Zeitpunkt als einzig real existierende Kraft galt, zurückgeführt werden, um diese über die Eigenschaft der Masse quantifizieren zu können. Der Logik seines Programms folgend, das eine vollständige Mathematisierung anstrebte, hätte dies zur Herstellung eines gesetzmäßigen Zusammenhangs zwischen Ursache (Trägheit) und Wirkung (Kraft) führen müssen. 39 Es war nun Eulers Absicht, die Prinzipien der Lehre der

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39

Probleme der Kontroverse um die Monadenlehre an der Berliner Akademie vgl. die Studien von Palaia (1993) und Enrico Pasini: La prima ricezione della Monadologia. Dalla tesi di Gottsched alla controversia sulla dottrina delle monadi. In: Studi Settecenteschi, 14 (1994), S. 107-163. Pasini ediert im Appendix Johann Christoph Gottscheds Dissertationsschrift: Dubia circa monades leibnitianas quatenus ipsae pro elementis corporum venditantur (Königsberg 1721) und fügt einen ausflihrlichen Kommentar hinzu. Beide Autoren belegen in ihren Beiträgen eine sehr gute Kenntnis der deutschsprachigen Forschung zu der Monadenlehre. So charakterisiert Helmut Pulte Eulers Wissenschaftskonzeption unter Beiziehung von Poppers Begriff, nach dem ein >essentialistisches< Wissenschaftsverständnis von der Annahme ausgeht, daß sich »alle Naturgesetze mit Notwendigkeit aus dem einen analytischen Prinzip (der Wesensdefinition des >KörpersLetztbegründung< Trägheit für eine quantitative Bestimmung der Kraft nicht hinreichend sei und noch zusätzlicher, keineswegs klarer und deutlicher Hypothesen bedürfe. Hallers Kenntnis von Eulers neuer Hypothese belegt sein Kommentar zu Hermann Boerhaaves Methodus Studii Medici; vgl. Haller (1753), Pars IV, Cap. II, S. 91: »LEONARDOS EULER Opuscula. Berolini 1746. Alia Mechanica

200 Monaden oder einfachen Substanzen herauszuarbeiten, um in der Entlarvung ihrer Inkonsistenz das gesamte theoretische Gebäude aus den Angein zu heben. Die Doktrin der Monaden oder einfachen Substanzen, aus denen die Körper zusammengesetzt sein sollen, basiert Euler zufolge auf zwei Eigenschaften der Körper, der Ausdehnung und der force motrice, wobei sich daraus zwei Argumentationstypen ergeben: der eine ist gegen die intrinsischen Eigenschaften der einfachen Substanzen gerichtet (hier in der pseudowolffianischen force motrice zusammengefaßt), der andere bezieht sich auf die Heterogenität von einfachen Substanzen und Ausdehnung. 40 Im Vorfeld dieser Kritik hatte Euler in den Opuscula für das Jahr 1746 die Frage zu klären versucht, ob der Materie eine denkende Fähigkeit zugeschrieben werden könne und schließt aufgrund seiner materietheoretischen Annahmen, die den Körpern drei wesentliche Eigenschaften zuweist (Ausdehnung, Undurchdringlichkeit und Trägheitskraft) auf die Inkompatibilität von Materie und Denken. Gemäß Eulers Interpretation käme einer Kraft, die auf eine kontinuierliche Β e wegungs Veränderung eines Körpers gerichtet sein soll, einer denkenden Kraft gleich, da eine solche Kraft einen »statum suum continue mutandi« erfordere; damit steht eine solche Kraftkonzeption mit der Trägheitskraft, die eine Kraft »in statu suo perseverimeli« sei,41 im Widerspruch und erklärt Eulers Hauptvorwurf gegenüber der Monadenlehre, den Körpern Kräfte beizulegen, die als innere Prinzipien (= Ursachen) der Bewegung und der Bewegungsveränderung von Körpern gelten sollen. 42 Aus der Art und Weise wie Euler das Problem stellt, geht hervor, daß die Wolffschen Begriffe >einfache Substanz< und >Kraft< {force motrice) gleichgesetzt und dem Körperlich-Materiellen zugewiesen werden. Bleibt man auf der physischen Ebene, so kann bei Wolff der Ansatz zu einer dynamischen Materiekonzeption erkannt werden, die sich sowohl auf anorganische als auch auf organische Materiestrukturen bezieht und nach der beispielsweise ein organischer Körper aufgrund seiner Struktur (Materie-Kraft-Verbindung) zur Bewegung (actio) befähigt ist.43 Insofern aber als diesem Kraft- bzw. Sub-

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habet & Astronomica: alia vero Physica de luce & colore, cum nova de utriusque natura hypothesi: de particulis minimis materiae, & de vi inertiae unica vi corporum.« Vgl. Pasini (1994), S. 132. Vgl. Leonhard Euler: Opuscula varii argumenti, 3 Bde., Berlin 1746-51; Bd. 1, bes. S. 2 8 0 - 2 8 2 u. S. 285 (zit. nach Pasini (1994), S. 132, Anm. 69). Vgl. Euler (1746): »[...] so kann auch ein Körper nicht zugleich mit einer Kraft in seinem Zustand verharren, und mit einer andern Kraft seinen Zustand zu verändern, begäbet sein. Es ist also ein offenbarer Irrthum, wann [sie!] einige der neuern Weltweisen den Körpern solche bewegende oder thätige Kräfte zuschreiben [...] und ohngeachtet einige diese Kräfte sogar als selbständige Wesen ansehen wollen, so ist doch jetzt sonnklar dargethan worden, dass dergleichen Kräfte nur in der Einbildung Platz finden, und mit dem Wesen der Körper unmöglich bestehen könne« (zit. nach Pulte (1989), S. 118f.). Vgl. Christian Wolff: Cosmologia generalis, § 274: »Organicum dicitur corpus, quod vi compositionis suae ad peculiarem quandam actionem aptum est«; ebd., § 276:

201 stanzbegriff zugleich ein Prinzip der Bewegungsveränderung zugeschrieben wird 44 und damit Kraft generell zu einer essentiellen Eigenschaft von Materie erklärt wird, die von Trägheit verschieden ist und damit nach Euler unmöglich mit einer geometrisch-physikalischen Konzeption des ausgedehnten Kontinuums sowie einer rationalen Materietheorie vereinbart werden kann, verrät es seine Zugehörigkeit zu einer metaphysischen Abstraktionskonzeption, die von der imaginären mathematischen verschieden ist, jedoch den Status einer >rationalen< Begründung beansprucht. Leibniz und Wolff lösen das Bewegungsproblem also nicht im Rahmen einer naturwissenschaftlichen Fragestellung, in der die Bewegungsfähigkeit von Materie hinsichtlich der Bedingungen des Bewegungsmechanismus' realer Kraft-Materie-Kompositionen überprüft wird, wie dies Euler mit physikalischen Körpern für die rationale Mechanik und Haller in der experimentellen Untersuchung der organischen Kräfte des menschlichen Körpers für die Physiologie vorgenommen haben. Erstere verlagern hingegen ihre Lösung auf eine abstrakte erkenntnistheoretisch-methodologische Ebene, von der aus Christian Wolff in der Cosmologia generalis die ausgedehnte Außenwelt zum »Phaenomenon«

erklärt. 45 Die Rückführung von Materie-Kraft-Bewegungen im akzidentiellen Raum-Zeit-Kontinuum auf eine metaphysische Substanztheorie, die Theorie der einfachen Substanzen< oder entia Simplicia,46 die sich phänomenal, d.h. auf der Ebene der sinnlich wahrnehmbaren physischen Welt, als materieinhärente Kräfte äußern, verweist auf die metaphysische Fundierung der Wolffschen Kosmologie, von der aus die Prinzipien einer evidenten wissenschaftlichen Erkenntnis für den Menschen erwachsen sollen. Dies bedeutet, daß die Theorie der einfachen Substanzen< als eine ratio, d. h. als zureichender Grund dessen verstanden wird, was in der phänomenalen Körper-

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»Corporis organici essentia consistit in structura ejusdem«; ebd., § 277: »Ratio eorum, quae corpori organico, quatenus organicum est, conveniunt, hoc est, vel actu insunt, vel inesse possunt, in structura ejus continetur.« Die Zitate folgen dem Ndr. der Ausg. Frankfurt, Leipzig 21737. In: Chr. Wolff: Gesammelte Werke, II. Abt. Lateinische Schriften, Bd. 4, hg. von Jean École, Hildesheim 1964. Vgl. Wolff: Cosmologia (21737), § 180: »Vis activa sive motrix corporum ex substantias simplicibus résultat.« Vgl. ebd., § 226: »Extensio & continuitatis phaenomena sunt.« Denn: »Phaenomenon dicitur, quicquid sensui obvium confuse percipitur« (ebd., § 225). Vgl. Chr. Wolff: Philosophie prima sive Ontologia, §§ 789-793: »Essentia entis compositi non constat nisi mens accidentibus«; sie besteht also aus akzidentiellen Kombinationen von Teilen, weshalb die »accidentia sine substantiis existere nequeunt [...]. In ente composito nihil datur substantiale praeter entia Simplicia [...]. Nullae dantur substantiae nisi simplices & entia composita sunt substantiarum aggregata.« Die Zitate folgen dem Ndr. der Ausg. Frankfurt, Leipzig 21736. In: Chr. Wolff: Gesammelte Werke, II. Abt. Lateinische Schriften Bd. 3, hg. von Jean École, Hildesheim 1962. Vgl. auch Wolff: Cosmologia (21737), § 176: »Corpora sunt substantiarum simplicium aggregata«; ebd., § 177: »In corporibus nihil datur substantiale praeter entia Simplicia.«

202 welt geschieht, so daß realer Materie und Kraft nicht per se Substanzialität, 47 sondern nur der Erscheinung nach substantialer Charakter zugeschrieben wird: Sie werden beide als phaenomena

substantiata

begriffen. 4 8 D i e von

Wolff vorgenommene Phänomenalisierung der Objektwelt basiert auf einem transzendentalen Phänomenbegriff, bei dem sich Wolff an Leibniz orientiert und mit dem Leibniz gegenüber dem Empirismus die gesetzliche Strukturiertheit der P h ä n o m e n e betont, 4 9 die sie von den bloß imaginären Phänomenen {apparences)

der sinnlich wahrgenommenen D i n g e unterscheidet. 5 0 Ba-

sis einer so verstandenen Rationalität ist bei Wolff eine Zwei-Welten-Theorie der Erkenntnis, in der die erkannten Gegenstände unterschiedliche Wahr-

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50

Vgl. Wolff: Cosmologia (21737), § 178: »Materia igitur & vis activa substantiae non sunt [...].« Substantiell sind nur die einfachen Substanzen oder >entia simpliciaNatur< identifiziert Wolff folglich nur noch mit dem Prinzip sämtlicher materieller Prozesse oder Veränderungen, also im wesentlichen mit Kräften, deren Gesetze a priori aufgrund mathematischer Begriffe festgehalten werden. In Wolffs Naturbegriff sind damit natura naturans und natura naturata identisch. Daß die Prinzipien, die in der Natur alle Veränderungen (welcher Art auch immer) verursachen, sich nicht essentiell von Materie unterscheiden - außer in der metaphysischen Realität der Substanzen, von der aber nach Euler auch abgesehen werden kann - , ist bloß eine logische Konsequenz der vollständigen Intellektualisierung der Realität in Wolffs >vorkritischem RationalismusSubstanz< zugrundegelegt, das im Hinblick auf die entstehenden Naturkonzepte des späten 17. und des 18. Jahrhunderts an Relevanz gewinnt. Um bestimmte Implikationen des postcartesischen Begriffs der >Substanz< zu verdeutlichen, greift Wolff auf die Erklärungen von Johannes Clauberg (1622-1665) zurück, wie sie sich in dessen Schrift Metaphysica de ente nach der Ausgabe der Opera omnia philosophica von 1691 befinden und die Wolff in seiner Ontologia (H732, § 772) referiert, um anschließend der cartesischen Methode der logischen Denkbedingungen des Substanzbegriffs zu folgen. 72 Das Problem bildet für Wolff die von Descartes geäußerte Notwendigkeit, die Existenz körperlicher Substanzen von der Subsistenz Gottes abhängig zu machen, was bei Descartes aus dem Bestreben erfolgt, seine dualistische Philosophie mit dogmatischer Theologie und scholastischer Ontologie zu akkommodieren. Clauberg habe erkannt, daß die aristotelisch-scholastische Definition des Substanzbegriffs von Descartes falsch erklärt worden sei (perperam explican), so daß Clauberg diese gegen seinen Lehrer Descartes restituiere: Die Substanz wird als esse in se begriffen und vom Akzidens als einem esse in alio nur hinsichtlich des Modus der Existenz unterschieden. Die Substanz ist somit bei Clauberg eine »res, quae ita existit, ut aliquo ad existendum subjecto non indigeat« und das Akzidenz dementsprechend, »quod in alio existit tanquam in subjecto, sive cujus esse est inesse.«73 Die 71 72

73

Vgl. Haller (1753), S. 56. Die Erkennbarkeit von Substantialität körperlicher und geistiger Dinge setzt bei Wolff »aliquam determinationem observabilem« voraus, »quae substantiae naturam & essentiam constituit & ad quam cetera, quae insunt, omnia referuntur, [...]«; vgl. § 772 der Ontologia ( 2 1736), in dem danach gefragt wird, »[n]um nostra substantia notio sit notioni Cartesianorum conformis«. Vgl. Johannes Clauberg: Metaphysica de ente, Quae rectiùs Ontosophia, § 44. In: Ders.: Opera omnia philosophica, hg. von Johannes Theodorus Schalbruch, Amsterdam 1691, S. 290. Claubergs Ontosophia (Metaphysica de ente) ist zuerst 1647 unter dem Titel Elementa Philosophiae sive Ontosophiae erschienen; erst 1660 erscheint eine spätere Aufl., in der Clauberg aber nur den zweiten Teil der ursprünglichen Untersuchung in ganz wesentlich überarbeiteter Form unter neuem Titel Ontosophia nova, quae vulgo Metaphysica herausbringt; erneut überarbeitet und mit Notae versehen, gibt er sie noch zu Lebzeiten 1664 unter dem Titel Metaphysica

215 Implikationen, die sich aus dieser Definition für den Substanzbegriff ergeben, verdeutlicht Wolff in einem Zusatz: Etenim si substantia et accidentia in eodem subjecto per diversum existendi modum a se invicem distinguenda sunt, non referri debet substantia ad causam extrinsecam, quod tum demum fieri opus est, ubi actus existendi contingentis rationem quaerimus; sed in ipso subjecto aliqua inesse debent, unde diversitas modi existendi seu diversitas subsistendi, ubi ipsum existere supponimus, intelligi potest: ad quod Cartesius non attendit. 74

Wolffs Argument besticht durch die Klarheit der Darstellung der aus den alternativen Substanzbegriffen sich für den Naturbegriff ergebenden Konsequenzen: sind Substanz und Akzidens im selben Subjekt hinsichtlich ihres verschiedenen Modus der Existenz von einander verschieden, dann ist es nicht erforderlich, die Existenz einer körperlich-individuellen Substanz auf eine äußere Ursache (causam extrinsecam) zu beziehen. Dies wird erst dann nötig, wenn nach einer logischen Begründung bzw. nach dem metaphysischen Prinzip (ratio) des kontingent existierenden Zustandes (actus existendi) einer körperlichen Substanz gefragt wird. Es gibt vielmehr in dem Subjekt selbst etwas (aliqua) im Sinne einer »substantiellen Form« oder »Entelechie« als einer causam intrinsecam, aufgrund von der die Verschiedenheit des Existenzmodus von Substanz und Attribut oder die Verschiedenheit der Subsistenz, d.h. der inneren Kausalität gegenüber der äußeren (Gott/Substanz), verstanden werden kann. Dies gab der Annahme der Perseität oder autonomen Existenz (ipsum existere) der Substanz Anlaß. Dies bedeutet also, daß Wolff bei Clauberg zwei Substanzbegriffe und einen Subjektbegriff unterscheidet: >Substanz< ist einmal (i) metaphysische Entität, die qua Subsistenz, d.h. als äußere Ursache, die Existenz (körperlicher) Substanzen logisch begründet, und (ii) körperlich-kontingente Substanz selbst, die beide ihrerseits (iii) vom Subjekt, in dem eine innere Ursache als existierend angenommen wird, unterschieden werden, wobei der Substanzbegriff von (ii) im Subjektbegriff von (iii) beinhaltet ist.75 Diese Differenzierungen habe Descartes

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de Ente heraus (dies ist dann die Fassung, die in den Opera omnia philosophica Aufnahme gefunden hat). Für diese Hinweise danke ich Professor Lutz Danneberg. Vgl. Wolff: Ontologia ( 2 1736), § 772, S. 580. Im Kommentar zu Descartes' Principia Philosophiae unterscheidet Clauberg im Substanzbegriff von Prop. 51 eine zweifache Unabhängigkeit; das Explicandum ist das von uns kursiv geschriebene Syntagma des Satzteils »ut nullâ alia re indigeat ad existendum«: »duplicem in notione substantiae involvi independentiam; unam à subjecto, quae ad omnes substantias pariter se extendit; alteram à causà, quae absolute loquendo & primario soli D e o competit. Qui idcircò nomen à subsistentia in Scriptura sibi indidit.« Vgl. Johannes Clauberg: Notae breves in Renati Des Cartes Principia Philosophiae. In: Ders.: Opera omnia philosophica (1691), S. 504f., Zitat S. 505. Mit den oben erwähnten Differenzierungen nimmt Clauberg eine Stellung zwischen Descartes und Aristoteles ein bzw. nimmt die Positionen von Spinoza und Leibniz vorweg: »Mit dieser inneren Unabhängigkeit und dem für ihn darin enthaltenen Begriff der Perseität vermag Clauberg sich bei seiner Lehre von der unbedingten und gänzlichen Seinsabhängigkeit der Welt von Gott doch einem Mo-

216 nicht beachtet (non attendit). nitionem,

Indem der körperlichen Substanz, die per

defi-

um existieren zu können, keines anderen Subjekts bedarf, eine in-

trinsische ratio (Substantialität) abgesprochen wird, kann den körperlichen Substanzen nur noch der Status von Akzidenzien zukommen. D e r e n Existenz kann somit nur unter Rekurs auf eine äußere Ursache (causam extrinsecam)

bzw. Gott erklärt werden. D i e dualistische Disjunktion von real exi-

stierenden entsubstantialisierten Körpern und essentialistischem Begriff der »ausgedehnten Substanz< macht nach Wolff im philosophischen System D e s cartes' die A n n a h m e eines göttlichen Eingriffs in die entspiritualisierte, mechanistisch konzipierte materielle Welt notwendig. 7 6 So vermag Descartes die Verbindung der materiell-körperlichen Substanz des Menschen mit dessen heterogenen geistigen Substanz nur durch die A n n a h m e der Existenz eines Schöpfergottes zu begründen; 77 dementsprechend sind in seinem System lebende Organismen keine für sich bestehenden biologischen Wesen, sondern seelenlose materielle Maschinen, deren Existenz nur durch einen >willkürlich< in das Naturgeschehen eingreifenden Schöpfergott 7 8 erklärt werden kann. 7 9

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nismus zu entziehen, indem die geschaffenen Dinge zwar in bezug auf ihre causa externa seinsabhängig und so im ersten Sinne keine Substanz, dennoch aber hinsichtlich ihrer causa interna seinsunabhängig und so im zweiten Sinne Substanz sind, d.h. die dinglichen Wesenskonstituentien vollenden in ihrer Selbständigkeit das substantielle Wesen.« Vgl. Winfried Weier: Die Stellung des Johannes Clauberg in der Philosophie, Diss. Mainz 1960, S. 179. Diese dem philosophischen System Descartes' inhärente logische Implikation hat Malebranche durch die Einführung des Begriffs der »causes occasionelles« zum systematischen Prinzip seiner eigenen Lehre erhoben, wodurch zugleich dem theologischen Problem der >Wunder< eine Erklärung gegeben werden konnte. Vgl. Descartes: Traité de l'Homme, Paris 1664 (= Œuvres, Adam & Tannery, XI, S. 143): »Or ie vous diray que, quand Dieu vnira vne Ame Raisonnable à cette machine, ainsi que ie pretens vous dire cy-apres, il luy donnera son siege principal dans le cerueau, [...].« Zu Beginn des Traité de l'homme macht Descartes seine Annahme explizit: »Ie suppose que le Corps n'est qu'vne statue ou machine de terre, que Dieu forme tout exprés, pour la rendre la plus semblable à nous qu'il est possible: en sorte que, non seulement il luy donne au dehors la couleur & la figure de tous nos membres, mais aussi qu'il met au dedans toutes les pieces qui sont requises pour faire qu'elle marche, qu'elle mange, qu'elle respire, [...]« (= Œuvres, Adam & Tannery, XI, S. 120). Diese Konsequenz aus dem System Descartes' für den Bereich der geschaffenen Substanzen (»substantia corporea & mens, sive substantia cogitans creata«) zieht Clauberg in seinem Kommentar zu der Prop. 52 mit aller Deutlichkeit: »Quae solo Dei concursu.] Et non alterius substantiae creatae. Nam si quae substantiae, v. gr. plantae, animalia, ab aliis causis, ut aere, alimentis dependere dicuntur, id non ejus quod substantiate in ipsis est, materiae nempe, sed accidentium & formarum tantum respectu debet intellegi.« Daraus ergeben sich für Clauberg zwei Punkte, die aus dem cartesischen Begriff der geschaffenen Substanz folgen: (i) Den materiellen Kräften der Natur wird die Fähigkeit abgesprochen, neue materielle und geistige Substanz hervorzubringen: »Nulla substantia naturae viribus recens producitur«; (ii) materielle und geistige Substanz, die einmal existiert, existiert für immer: »Substantiae quae semel existit, quantum in se est, semper existit. Ut notiones illae

217 Nicht zuletzt die Schwierigkeiten also, die sich beim Eindringen theologischer und ontologischer Fragen in die Kosmologie und Naturphilosophie stellen - etwa wie a priori bewiesen werden kann, daß ein Ding, um zu existieren, der Subsistenz Gottes bedarf - und nicht zuletzt die methodologischen Probleme, die sich mechanizistischen Denksystemen stellen, wenn es darum geht, komplexe Lebensprozesse unter ihre starren kategorialen Begriffe einzuordnen, haben Philosophen wie Descartes und Wolff dazu veranlaßt, auf einen essentialistischen Substanzbegriff auszuweichen. Gerade in der Abstrahierung des Begriffs der >Substanz< von den individuellen Begriffen der ausgedehnten oder geistigen Substanz sieht Descartes den Vorteil, dasjenige, was im abstrahierten Substanzbegriff erfaßt wird, von allem anderen sorgfältig zu unterscheiden. 80 Dies bedeutet bei Descartes, daß alles, was zum Begriff der ausgedehnten Substanz gehört, unmöglich auch zu demjenigen der denkenden Substanz gehören kann, womit die logische Voraussetzung geschaffen wird, das Vorhandensein geistiger Substanzen bzw. immateriell-substantieller Kräfte in der Materie - wenn man von dem Paradoxon der denkenden Substanz im menschlichen Gehirn absieht - kategorisch zu negieren. Die Einheit der individuellen Substanz als etwas selbstständig Existierendes (unum per se), die Clauberg - darin Leibniz antizipierend - in ihrer »substantiellen Natur« begründet denkt, vermag Descartes nur in der Einheit bzw. Eindeutigkeit des begrifflichen Wesens der »ausgedehnten Substanz« bzw. der »denkenden Substanz« zu verstehen. Im Hinblick auf die Konstitution des frühaufklärerischen Naturbegriffs (1670-1750), in dem die analoge Betrachtung der physischen Welt (Naturwissenschaft) und der >moralischen< Welt (Naturrecht) ermöglicht werden sollte, waren also zwei Haupthindernisse der metaphysischen Tradition zu beseitigen: der Dualismus der Substanzen bei Descartes zugunsten einer monistischen Lösung, wie sie sich bei Clauberg und Spinoza bereits im 17. Jahrhundert abzeichnete, und die Auflösung des Widerspruchs zwischen »Norm« communes, Ex nihilo nihil fieri, Nil quicquam in nihilum relabi, aliquo modo pendeant à notione substantiae«, wodurch impliziert ist, daß (iii) die Quantität der Materie, die den in der Natur sich abspielenden Produktions- und Destruktionsprozessen zugrundeliegt, konstant bleibt. Vgl. J. Clauberg: Notae breves in Renati Des Cartes Principia Philosophiae. In: Ders.: Opera omnia philosophica (1691), S. 505. Der Satz »ex nihilo nihil fieri« ist nach Clauberg (bei Descartes und bei anderen Philosophen) dann richtig verstanden, wenn man ihn als Aussage auf den physikalischen Prozeß des Hervorbringens, nicht aber auf die Schöpfung bezieht (vgl. J. Clauberg: Logica vetus et nova. In: Ders.: Opera omnia philosophica, Lib. III, § 78) - >ex nihilo nihil generatur< ist die eine, >ex nihilo nihil creatur< die andere Behauptung. Dabei führt der reformierte Philosoph und Theologe Clauberg ein Spezifikum philosophischer Sätze ein: Es ist die Limitation einer philosophischen Aussage. Auf diese Weise soll der Konflikt mit theologischen (biblischen) Aussagen und damit ein Konzept der doppelten Wahrheit vermieden werden. Für diese Hinweise danke ich Professor Lutz Danneberg. 80

Principia Philosophiae, I, 63 (= Œuvres, Adam & Tannery, VIII, S. 31).

218 und »Kontingenz« menschlicher Erkenntnis. 81 Wie voraussetzungsreich dabei Claubergs philosophiegeschichtliche Stellung gewesen ist, zeigt sich beispielsweise an der Verarbeitung des Claubergschen Ansatzes in Samuel Pufendorfs Diskussion des Verhältnisses von substantia und modus und an Claubergs Wirkung auf Leibniz' Lösung. 82 Pufendorf bildet einen Basisbegriff seines Naturrechts, den der entia moralia, nach Claubergs Definition des Attributs, das Pufendorf Modus nennt. Bei Pufendorf existieren die entia moralia nicht für sich selbst, sondern in den (physischen) Substanzen und ihren Bewegungen, die selbst nur für eine sichere Grundlage sorgen. Die entia moralia sind demnach moralische Begriffe als physischen Körpern (Substanzen) und ihren Prozessen auferlegte Modi, aus denen die Basisgesetze menschlichen Handelns resultieren können, wobei moralische Begriffe Kriterien sind, nach denen die Sitten und Handlungen der Menschen gemessen und moderiert werden zum Zwecke der Regelung des gesellschaftlichen Lebens. 83 Auf die konstitutive Bedeutung des Naturrechts für den Natur- und Wissenschaftsbegriff Hallers wird in späteren Kapiteln eingegangen. 84 Hier soll zunächst Spinozas monistischer Lösung Aufmerksamkeit gewidmet werden. In der mentalistischen Auffassung des Substanzbegriffs bei Descartes ist nämlich auch der Keim angelegt, der sich dann zu einer monistisch-pantheistischen Naturkonzeption entwickeln kann, wenn in einem abstraktmetaphysischen Realitätsverständnis der Rekurs auf eine äußere Ursache bzw. Gott/Substanz konstitutiv wird. 85 Der aus Descartes' Abstrahierung des Substanzbegriffs resultierende Attributendualismus wird von Spinoza verworfen. Die von Descartes als unterschiedlich erkannten und auf keine 81 82 83

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Vgl. zu diesem zweiten Punkt Teil II, Kap. 1, 4 und Kap. 2, 3 u. 4 dieser Studie. Leibniz' Losung wird in Teil II, Kap. 1, 4 diskutiert. Vgl. Samuel Pufendorf: D e jure naturae et gentium (Lund 1672, Frankfurt 2 1684, Amsterdam 3 1688), Lib. I, Cap. I, § 3. (Quid sint entia moralia, quae eorum causa, qui finis): »Exinde commodissime videmur entia moralia posse definire, quod sint modi quidam, rebus aut motibus physicis superadditi ab entibus intelligentibus, ad dirigendam potissimum temperandam libertatem actuum hominis voluntariorum, ad ordinem aliquem ad decorem vitae humanae conciliandum. Modo dicimus. Nam concinnius nobis videtur ens latissime dividere in substantiam modum, quam substantiam accidens. Modus porro uti substantiae contradistinguitur; ita eo ipso satis patet, entia moralia non per se subsistere, sed in substantiis, earumque motibus fundari, ipsasque certa duntaxat ratione afficere« (zit. nach der Ausg.: Samuel Pufendorf: D e jure naturae et gentium. Erster Teil: (Liber primus - Liber quartus), hg. von Frank Böhling, Berlin 1998, S. 14. Vgl. Teil II, Kap. 2, 2 u. 3 sowie Kap. 3 dieser Studie. Eine wirkungsvollere Rezeption von Claubergs Texten als der von uns parallel behandelte Spinoza ist nicht auszuschließen; Spinoza hat übrigens Clauberg gelesen und aus ihm wohl auch entlehnt. Diesen Hinweis verdanke ich Professor Lutz Danneberg. Für die Entstehung des >Neospinozismus< in den >Wissenschaften des Lebens< des 18. Jahrhunderts ist jedoch Spinozas monistischer Substanzbegriff (und dessen materialistische Umdeutung um 1750) von Relevanz.

219 Weise für kompatibel gehaltenen Begriffe der ausgedehnten und der denkenden Substanz werden von Spinoza zwar ebenfalls als vom Intellekt in ihrer Verschiedenheit perzipiert und durch sich selbst begriffen aufgefaßt,86 jedoch versteht er sie als zwei zueinander in Beziehung stehende, eine Einheit bildende, ja sogar, im Sinne einer Implikation, einander bedingende substant i a l Attribute, welche die »eine Substanz« in ihrer Essenz oder Natur konstituieren. Diese Auffassung gründet Spinoza auf der Annahme, daß alle Attribute, welche die Substanz hat, immer schon in ihr gewesen sind, und nicht eines vom anderen hervorgebracht werden kann; und ferner darauf, daß es keine Absurdität sei, einer Substanz mehrere Attribute zuzuschreiben, denn nichts sei in der Natur klarer, als daß jedes Seiende, je mehr Realität oder Sein es hat, auch umso mehr Attribute habe,87 die sowohl Notwendigkeit oder Ewigkeit als auch Unendlichkeit ausdrückten.88 Eine solche Einheit substantieller Attribute manifestiert sich für Spinoza in der realen Natur in der Vereinigung von Körper und Geist in dem Lebewesen Mensch, wodurch Spinoza Descartes' Zugriff zu einem deus ex machina, um die Existenz einer geistigen Substanz im Menschen zu erklären, vermeidet.89 Gerade Spinozas Vorstellung einer rigoros parallelgeschalteten »doppelten Natur« des Menschen erweist sich als besonders geeignet, um grundlegende Differenzen zwischen dem Attributendualismus Descartes' und dem »Attributen-Monismus«90 Spinozas zu erläutern. 86

87 88

89

Ethica, I, Prop. X. Die textuellen Verweise auf Spinozas Ethik folgen der Ausg.: Benedictus de Spinoza: Die Ethik, lat./dt. Übers, von Jakob Stern. Nachwort von Bernhard Lakebrink, Stuttgart 1977. Der lat. Text dieser Ausg. folgt wiederum der Ausg. von Carl Gebhardt: Spinoza Opera. Im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, hg. von Carl Gebhardt, Bd. 2: Tractatus de Intellectus Emendatione/Ethica, Heidelberg 1925 (Ndr. Heidelberg 1972). Ebd., I, Prop. IX. Ebd., I, Prop. X, Scholium. Die hier explizit gemachte Aussage, daß eine Substanz mehrere Attribute haben kann, ist für Spinozas Metaphysik absolut zentral, wobei er damit in einem wesentlichen Punkt über Descartes hinausgeht; wie oben gezeigt wurde, kann für Descartes eine Substanz genau nur ein wesentliches Attribut haben: sie ist entweder ausgedehnt oder geistig. Folgerichtig sagt dann Spinoza im 11. Lehrsatz des ersten Buches u.a., daß es Gott oder eine Substanz gebe, die aus unendlich vielen Attributen bestehe und notwendig existiere. In seinem frühen Werk Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und seinem Glück (1658?) nennt Spinoza unter den Gründen, »um deren willen wir gesagt haben, daß alle diese Attribute, die in der Natur sind, bloß ein einziges Wesen bilden und keineswegs verschiedene (etwa weil wir sie, das eine ohne das andre und das andre ohne das eine klar und deutlich erkennen könnten)« u. a. den folgenden: »wegen der Einheit, die wir allenthalben in der Natur sehen. Wenn in ihr so verschiedene Wesen wären, so könnte sich das eine mit dem andren unmöglich vereinigen. (D. h. wenn es verschiedene Substanzen gäbe, die nicht auf ein einziges Wesen bezogen würden, wäre die Vereinigung unmöglich, weil wir klar sehen, daß sie überhaupt keine Gemeinschaft zusammen haben außer Denken und Ausdehnung, woraus wir doch bestehen« (zit. nach der übers. Ausg. von Carl Gebhardt, Leipzig 1922, S. 27).

220 Für Descartes gibt es eine unendliche ungeschaffene immaterielle Substanz (Gott) und endliche geschaffene körperliche sowie denkende Substanzen (letztere nur in menschlichen Wesen). Obzwar Spinoza mit Descartes einig geht, daß die einzelnen Dinge der körperlichen Welt keine individuellen Substanzen sind, kontrastiert Spinoza mit Descartes hinsichtlich der geschaffenen immateriellen Substanz als der denkenden Substanz in menschlichen Individuen: Für Spinoza sind sowohl individuelle körperliche Substanzen wie endliche denkende Substanzen keine Substanzen, sondern finite Modi des substantialen Attributs der ausgedehnten Substanz. Dieser Kontrast gründet einmal auf dem 5. Lehrsatz von Buch I der Ethik, wonach es in »rerum natura non possunt dari duae, aut plures substantiae ejusdem naturae, sive attributi.«91 Eine Einheit kann es für Spinoza somit nur geben, wenn mehrere Attribute einer Substanz angehören, und folglich besteht dort, wo zu einer Substanz bloß ein Attribut angehören kann und für die Erklärung eines zweiten Attributs eine zweite Substanz erforderlich ist, keine Einheit. Aber Spinozas Divergenzen von Descartes' Attributendualismus werden deutlich, wenn man Spinozas Differenzierungen bezüglich der geschaffenen und ungeschaffenen Entitäten berücksichtigt: Für Spinoza ist nichts, was geschaffen ist, eine Substanz, folglich sind geschaffene körperliche und geschaffene immaterielle Substanzen in Spinozas System entweder geschaffen und damit keine Substanzen oder sie sind Substanzen und damit nicht geschaffen. 92 Somit gehört zu Spinozas Begriff der »ausgedehnten Substanz« die Eigenschaft, nicht-geschaffen zu sein. Es bahnt sich allmählich eine Erklärung an für das, was Spinoza meint, wenn er sagt, daß es Gott oder eine Substanz gibt, die aus unendlich vielen Attributen besteht und notwendig existiert, womit er eine zentrale Prämisse des »Monismus« von Lehrsatz 14 aufstellt: »Praeter Deum nulla dari, neque concipi potest substantia«, dessen Korollar weiter präzisiert, daß »Deum esse unicum, hoc est (per Defin. 6) in rerum natura non, nisi unam substantiam, dari [...].« Damit ist zumindest klar, daß (i) Spinozas »eine Substanz«, d.h. Gott, nicht mit der ausgedehnten körperlichen Welt identifiziert werden kann und (ii) wenn Spinoza davon spricht, daß zur Natur der Substanz das Existieren gehört, 93 nicht die Existenz geschaffener körperlicher Substanz gemeint sein kann. Vielmehr existiert bei Spinoza dasjenige, was es in der geschaffenen körperlichen Welt gibt, als Ausdruck des substantialen Attributs der Ausdehnung, d.h. als Ausdruck der ausgedehnten Substanz, die ebenfalls existiert, selbst aber ungeschaffen ist. Durch die systematische Unterscheidung von Substanz, zu der die parallel90

91 92 93

Diesen Ausdruck verwendet Woolhouse (1993), S. 45; seinem Kap. »Spinoza and Substance« verdanke ich wesentliche Anregungen. Ethica (1977), I, Prop. V. Vgl. hierzu auch Woolhouse (1993), S. 37. Ethica (1977), I, Prop. VII.

221 geschalteten substantialen Attribute der Ausdehnung und des Denkens essentiell gehören, und Modifikationen der Substanz vermag also Spinoza zu erklären, auf welche Weise die Dinge hervorgebracht werden (quomodo res producuntur)94 und weshalb die Ursache jedes einzelnen existierenden Dinges notwendig außerhalb dieses einzelnen liegen muß: Anhand des Beispiels der Existenz einer endlichen Zahl (20) menschlicher Individuen, nachdem eben Endlichkeit (20 Individuen) nicht zum Wesen der Substanz gehören kann, zieht Spinoza den Schluß, daß »omne id, cujus naturae plura individua existere possunt, debere necessario, ut existant, causam externam habere.«95 Die metaphysischen Systeme Descartes' und Spinozas können bezüglich des Substanzbegriffs, wobei um der Simplifikation willen denkende menschliche Individuen ausgeklammert werden, wie folgt gegenübergestellt werden: Das erste besteht aus einer ungeschaffenen denkenden Substanz (Gott) und der geschaffenen ausgedehnten Substanz (Welt); das zweite besteht aus einer ungeschaffenen ausgedehnten Substanz, (die auch denkt) und die Spinoza mit Gott identifiziert. 96 Dadurch, daß Spinozas Gott als äußere Ursache der ausgedehnten körperlichen Welt selbst ausgedehnt ist (und nicht nur denkend wie bei Descartes), unterscheidet sich seine immanente Kausalität grundlegend von Descartes' transzendenter göttlicher Kausalität (und ihrem okkasionalistischen Eingreifen). Gott/ Substanz ist somit bei Spinoza nicht mehr nur logischer Grund, so wie dies Wolff zur Erklärung der Kontingenz körperlicher Substanzen für erforderlich gehalten hatte; die körperlichen Dinge sind in Spinozas System nicht mehr kontingent, sondern dazu bestimmt sind, »ex necessitate divinae naturae [...] ad certo modo existendum, & operandum«·,91 die Substanz ist qua Gott-Natur vor allem eine immanente Ursache, d.h. eine »existente Wirkursache, welche aus sich heraus alle Wirklichkeit von Welt und Mensch entspringen läßt.« 98 Erkennbar wird dadurch, daß Spinozas realontologische Deduktion der natürlichen Welt aus Gott/Substanz die Inkonsequenzen des cartesischen Substanzendualismus aufzuheben in der Lage ist: Descartes' Substitution von Gott/Substanz mit dem hypothetisch-deduktiv per causas denkenden Subjekt, das aufgrund der Einverleibung von Gott/Substanz in seine logisch-essentiellen Denkstrukturen seinen Grund in sich selbst zu setzen vermag, begegnet Spinoza mit der ausgedehnten Substantialität Gottes, die außerhalb jedes einzelnen denkenden (und aus-

94 95 96 97 98

Ebd., I, Prop. VIII, Scholium II. Ebd., I, Prop. VIII, Scholium II. Diese konzise Synthese schlägt Woolhouse (1993), S. 45 vor. Ethica (1977), I, Prop. XXIX. Vgl. Bernhard Lakebrinks Nachwort in seiner Ethik-Ausg., Zitat S. 708f. Es ist daher plausibel, daß Christian Wolff bei seiner Erwägung der Ausschaltung der äußeren Ursache als notwendige Bedingung für die Existenz von Substanz gerade Spinoza als Gegner in petto hatte.

222 gedehnten) Subjekts notwendig existiert und worin es als dessen Modifikation seinen realen Grund hat. Voraussetzung dafür, daß Spinozas ausgedehnte Substanz die immanente causam extrinsecam der körperlichen Welt ist, ist, daß sie eine erste Ursache ist, welche - Spinoza definiert es gleich zu Beginn der Ethik - selbst causa sui ist, wobei ihre absolute Erstursächlichkeit mit der Identität von Wesen und Existenz begründet wird." Damit entsteht der Eindruck, daß sich die zentralen Begriffe des ersten Buches der Ethik - Ursache, Substanz, Gott, Natur - zu einem einheitlichen Naturbegriff zusammenfügen, als dessen Teile sie ein logischessentielles und zugleich existentielles Ganzes konstituieren: Setzt man beispielsweise die Begriffspaare Gott/Substanz und Gott/Natur einander gleich, dann folgt rein begriffslogisch, daß >Substanz< gleich >Natur< ist und wenn eine existierende ausgedehnte Substanz< (die auch denkt) von Spinoza mit >Gott< identifiziert wird, dann folgt, daß >Gott< gleich >Natur< ist, wodurch das Vorhandensein einer pantheistischen Naturkonzeption bei Spinoza naheläge. Mit Rekurs auf den scholastischen Begriff der natura naturans macht Spinoza einen solchen Naturbegriff explizit: »[•••] quod per Naturarti naturantem nobis intelligendum est id, quod in se est, & per se concipitur, sive talia substantiae attributa, quae aeternam, & infinitam essentiam exprimunt, hoc est [...] Deus, quatenus, ut causa libera, consideratur.«100 Das Wesen und auch die Existenz der geschaffenen Dinge der körperlichen Welt (die natura naturata) erweisen sich demnach als Explikationen der ewigen Gottnatur: »Per naturatam autem intelligo id omne, quod ex necessitate Dei naturae, sive uniuscujusque Dei attributorum sequitur, hoc est, omnes Dei attributorum modos, quatenus considerantur, ut res, quae in Deo sunt, & quae sine Deo nec esse, nec concipi possunt.«101 Die doppelte Attributivität der Gottnatur umfaßt somit die ganze körperliche Natur, wodurch alle Körper, die organischen wie die anorganischen, beseelt sein müssen. 102 Spinozas Organismustheorie (vgl. Ethica II, 13) und die Gesetze der Materie und der Bewegung bleiben jedoch im Rahmen des mechanizistischen Naturbegriffs, wobei Spinozas Auffassung von Lebewesen die Konzepte der »microstructures emboîtées (machinulae) des >micrologistes< italiens et leur école« sowie den iatromechanischen Ansatz Hermann Boerhaaves beeinflußt hat. 103 Auf die Entstehung des >Neospinozismus< in 99

100 101 102

103

Ethica (1977), I, Def. I: »Per causam sui intelligo id, cuius essentia tiam, sive id, cujus natura non potest concipi, nisi existens.« Ebd., I, Prop. XXIX, Scholium. Ebd. Ebd., II, Prop. XIII, Schol.: »Nam ea, quae hucusque ostendimus gung von Körper und Geist im menschlichen Körper], admodum nec magis ad homines, quam ad reliqua Individua pertinent, quae diversis gradibus, animata tarnen sunt.« Vgl. François Duchesneau: Modèle cartésien et modèle spinoziste In: Cahiers Spinoza, 2 (1977), S. 241-285, Zitat S. 284.

involvit existen-

[sc. die Vereinicommunia sunt, omnia, quamvis de l'être vivant.

223 Frankreich um 1750 wirken hingegen die stoizistischen Elemente der Naturbegriffe Spinozas und Newtons gemeinsam, von letzterem insbesondere der Kraftbegriff (vis attractiva) als äußere Wirkursache der Naturphänomene: Denis Diderot beispielsweise weist der Materie generell die Eigenschaften der Bewegung und der Sensibilität (»sensibilité universelle«) zu.104

4. Die Voraussetzungen des Naturbegriffs von 1750 (II): Das Problem des Widerspruchs von >Norm< und >Kontingenz< in der menschlichen Erkenntnis Dem empirischen Beobachter der Außenwelt, für dessen Realitätsverständnis nicht nur Raum und Zeit, sondern auch die Gegenstände in denselben als etwas Bewußtseinsunabhängiges existieren, stellt sich gegenüber einer metaphysischen Fundierung der Außenwelt und deren abstrakt-mentalen begrifflichen Repräsentation generell ein Problem. Es betrifft die Antinomie zwischen der Abwertung der physischen Welt als der Sphäre des Kontingenten und insofern nicht-Realen bzw. nicht-Substantiellen und der gleichzeitigen Behauptung der Existenz dynamisch-materieller Entitäten und Prozesse in der physischen Welt, deren konkrete Erfassung durch sinnliche Wahrnehmung aber gemäß einer metaphysischen Systemen zugrundeliegenden Annahme für unwesentlich, wenn nicht für unmöglich gehalten wird. Leibnizens Monaden sind geistige Substanzen, die nur durch eine (von Gott) apriorisch stabilierte Harmonie zwischen ihren perzeptiven Zuständen voneinander wissenfensterlosBeste der möglichen Welten< ist, überhaupt erschaffen worden? Wenn die physische Welt nicht die wahre Realität ist, dann wäre Gott in der Erschaffung einer Welt rein geistiger Substanzen oder Ideen sicher konsequenter gewesen, so daß, aus dieser Perspektive betrachtet, die körperlich-materielle Welt überflüssig erscheint. In ähnlicher Form hatte der Genfer Naturfor104 Vgl. Paul Vernière: Spinoza et la Pensée Française avant la Révolution, Paris 1954, bes. S. 555-611.

224 scher und Philosoph Charles Bonnet in einem Brief an Haller dasselbe Problem gestellt. D i e Schwierigkeiten des Leibnizschen Systems der Ideenbildung verdeutlicht Bonnet mit dem berühmten Beispiel des Blinden in Anlehnung an Lockes Molineux-Problem sowie mit dem Hinweis auf die Erfahrung des physischen Schmerzes und dessen Wirkung auf den scheinbar vom Körper unabhängigen >GeistDe cerebro« eine Darstellung der Anatomie und Physiologie der Nerven und ihrer Funktion in Sinneswahrnehmungsprozessen enthält (vgl. bes. Kap. XII, §§ 378-441 der Ausg. Göttingen 1751). Hssot, der zu Hallers vertrautesten Freunden gehörte, ist ferner der Autor des Traité des nerfs et de leurs maladies, 4 Bde., Paris 1778-1782. Im Gegensatz zu Haller, der sich in seiner Physiologie ausschließlich über den empirisch zugänglichen materiellen Teil der Seele - die Sinneswahrnehmungsfunktionen - äußert (vgl. Elementa physiologiae, Bd. IV, L. X, sect. VIII, § XXVI) und über den Sitz der für ihn prinzipiell nicht lokalisierbaren Verstandesfunktionen im Gehirn nur Hypothesen aufzustellen bereit ist (vgl. Elementa physiologiae, Bd. IV, L. X, sect. VIII, § XXIII), hatte der nicht weniger gläubige Naturforscher Bonnet geringere Skrupel, das in theologischer Hinsicht nicht ungefährliche Problem der Psychophysiologie im Rahmen seiner psychologischen Studien zu thematisieren und zieht zur wissenschaftlichen Begründung der Psychologie die Physiologie heran: »Bonnet recommande de traiter les phénomènes psychiques comme leurs correspondant physiologiques. Cependent, l'usage exclusif de cette méthode tend à substituer l'ordre physique à l'ordre psychique.« Vgl. Raymond Savioz: La Philosophie de Charles Bonnet de Genève, Paris 1948, bes. S. 161-263, Zitat S. 262. Vgl. Bonnet an Haller, Brief Nr. 267 vom 15.10.1764. In: The Correspondance between Albrecht von Haller and Charles Bonnet, hg. von Otto Sonntag, Bern,

225 Dasjenige, was in Bonnets Äußerung süffisant insinuiert wird, daß nämlich die sinnliche Empfindung in der Genese von Ideen einen >Sprung< provozieren kann und daß damit die Genese von Ideen untrennbar mit der anatomischen Konstitution und der psychophysiologischen Disposition des menschlichen Körpers verbunden ist, verleiht der Perplexität des empirischen Beobachters gegenüber der Ein-Quellen-Theorie des Intellekts der Leibniz-Wolffschen Philosophie einen präzisen historischen Ausdruck, zumal diese Philosophen die Existenz der Außenwelt, zumindest in ihrer phänomenalen Form, gar nicht leugnen. Der Anspruch metaphysischer Systeme, die extramentale Realität von einer mentalen Abstraktion aus zu begreifen, die ihrerseits auf eine andere Realität verweist, von der die extramentale abhängen soll, ist aus der Perspektive einer empirisch-sensualistischen Erkenntniskonzeption insofern widersprüchlich, als der Abstraktionsprozeß als solcher in den genannten Systemen von den Phänomenen seinen Ausgangspunkt nimmt, freilich nehmen muß. Raum und Zeit existieren bei Leibniz nicht a priori, sondern insofern als diejenigen Entitäten (Substanzen) existieren, aus deren Relationen sie hervorgehen oder auf die sie sich beziehen. Das Netz der Relationen zwischen den Substanzen hat gegenüber diesen einen rein phänomenalen Charakter, es ist also nicht vollkommen real und wird im Bewußtsein auf eine ideale Art und Weise repräsentiert. Aber die Ideen von Raum und Zeit und damit auch die Ideen von bewegten Körpern, die man sich in Raum und Zeit als existierend vorstellt, werden ausgehend von den Phänomenen gebildet, in denen die Diffusion oder Sequenz von Wirklichkeitsteilen oder -fragmenten wahrgenommen wird und von denen sich in den Vorstellungen auf verworrene Art und Weise eine allgemeine Repräsentation bildet. Was im Verstand hierdurch entsteht, ist in begriffsanalytischer Hinsicht ein allgemeiner nicht in weitere Merkmale zerlegter Erfahrungsbegriff. Die universalen Dimensionen von Raum und Zeit, in welche die Körper verortet sein sollen, sind nichts anderes als das Resultat der Disposition des Menschen zur Abstraktion. Die enge Verknüpfung von Metaphysik und Dynamik bei Leibniz unterscheidet in Hinsicht auf seinen Wirklichkeitsbegriff zwei grundsätzliche Ordnungsprinzipien: ein teleologisches und ein mechanizistisches, die nur durch die Annahme einer prästabilierten Harmonie in Übereinstimmung gebracht werden können. Während Leibniz mit dem Monadenkonzept die Grundlegung der extramentalen Wirklichkeit in den metaphysischen Dynamismus des innermonadischen Prinzips gesetzStuttgart, Vienna 1983, S. 403. Bonnet hatte im gleichen Jahr sein naturphilosophisches Werk Contemplation de la nature (1764) veröffentlicht, in dem er durch die Übertragung des Kontinuitätsgesetzes von Leibniz auf die Entfaltung der Naturreiche das mythisch-metaphysische Konzept der >universalen Kette der Wesen< als Erklärungsmodell verwendet, nach dem der Naturprozeß von den Mineralien zu den Pflanzen, Tieren und Menschen einen kontinuierlich höheren Grad an Perfektion und Organisation erreicht und dabei keine Sprünge macht.

226 mäßig fortschreitender Perzeptionen (Entelechien) verlagert, womit er aufgrund der Autonomie und der Kontaktlosigkeit der Monaden im Hinblick auf die Außenwelt in erkenntnistheoretischer Hinsicht eine dualistische Trennung von Körper und Geist vornimmt, unterscheidet er in kosmologischer Hinsicht gleichzeitig zwei extramentale Wirklichkeitsebenen: erstens den mechanizistischen Dynamismus physikalischer Körper, die bloß Aggregate und Phänomene sind, mathematischen Gesetzen gehorchen und damit durch mathematische Begriffe und Entitäten erfaßt werden können (im Specimen dynamicum von 1695 stehen z.B. die derivativen Kräfte der Materie im Mittelpunkt); zweitens den panpsychistisch-monistischen Dynamismus biologischer Körper, der organischen Lebewesen (Menschen, Tiere, Pflanzen), die als monadische Einheiten begriffen werden und denen Leibniz in anticartesischer Absicht in Abhängigkeit von der Entwicklung des Organismus einen unterschiedlichen Grad an Perzeption zuschreibt. Da diese von Erinnerung begleitet ist, wird sie als seelenartige Funktion {âme) verstanden. 108 Damit ist in Leibniz' System insofern eine Spannung angelegt, als seine Kosmologie den Dualismus von Körper und Geist aufbricht, der aber von erkenntnistheoretischer Seite, wo aus epistemologischen Gründen am Intellektualismus festgehalten wird, wieder eingeführt wird. Dieser sich bei Leibniz andeutende Widerspruch, der aber durch seine Ontologie (Monadentheorie) gemildert wird, die eine subtile Differenzierung von Wirklichkeitsebenen und ihrer intellektualen Erfassung (Abstraktion) zuläßt, tritt aber im philosophischen System Christian Wolffs aufgrund der gewichtigen Modifikationen des Leibnizschen Systems in aller Schärfe hervor. In erkenntnistheoretischer Perspektive unterminiert Wolff die totale Autonomie der einzelnen Monade durch einen psychophysischen Parallelismus, bei dem die Veränderungen der vis perceptiva der Seele in der sinnlichen Wahrnehmung der umliegenden Außenwelt ihren Ursprung haben. 109 Auf kosmologischer Seite wird - wie in Teil II, Kap. 1, 2 ausgeführt wurde - die vis motrix der Körper mit physischen Monaden (Kräften) gleichgesetzt, die sich von den von Leibniz wiedereingeführten und als vires primitivae verstandenen aristotelischen substantiellen Formen (die Leibnizschen Entelechien) dadurch unterscheiden, daß ersteren Perzeption {âme) als dem zentralen distinktiven Merkmal der letzteren abgesprochen wird. Die der dualistischen Logik folgende Wiedereinführung distinkter Kraftbegriffe - eine perzeptionsfähige force motrice de l'âme und eine perzeptionslose force motrice des corps - , mit der sich Christian Wolff einem Dualismus von Denken (Urteilen) und Materie (Naturprozesse) im 108

109

Vgl. Leibniz: Monadologie, § 19. In: Die Philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, hg. von C. J. Gerhardt, Bd. VI, [Berlin 1885] Hildesheim, New York 1978, S. 607-623, bes. S. 610. Vgl. Chr. Wolff: Psychologie rationalis, § 64. Ndr. der Ausg. Frankfurt, Leipzig 1740. In: Ders.: Gesammelte Werke, II. Abt. Lateinische Schriften Bd. 6, hg. von J. École, J. E. Hofmann, M. Thomann, H. W. Arndt, Hildesheim, New York 1972.

227 Sinne Descartes' annähert, stellt eine Etappe im Prozeß der >Entsubstantialisierung< der Natur dar, deren Rationalisierung am E n d e des 18. Jahrhunderts in Kants transzendentaler Philosophie einen Kulminationspunkt erreichen wird. In einer rationalistisch-mechanizistisch konzipierten Natur, mit der eine Nivellierung der Wirklichkeitsebenen einhergeht, verliert insbesondere der Bereich der lebendigen Körperwelt seine Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit, die von Leibniz anerkannt und mit Rückgriff auf die vitalistischen Ansätze der Naturphilosophie und der >Wissenschaften des Lebens< des 16. und 17. Jahrhunderts 110 in seinen biologischen Schriften 1 1 1 theoretisch reflektiert wurde. D i e Lebensprozesse (Generation, Wachstum) haben in einer

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111

Eine detaillierte Liste der für die Genese des Leibnizschen Monadenbegriffs relevanten Schriften von Autoren der Spätrenaissance und des späten 17. Jahrhunderts - Giordano Bruno, Henry More, C. Knorr von Rosenroht, F. M. van Helmont, Lady Conway - gibt Pasini (1994), S. 122f. Eine ausführliche Darstellung der Prinzipien von Leibnizens Theorie des Lebendigen gibt Duchesneau (1982), bes. Kap. 3, S. 65-102. In der Schrift Système nouveau de la nature et de la communications des substances (1695) sind Leibniz' biologische Konzepte u.a. von den Arbeiten der Biologen Jan Swammerdam, Marcello Malpighi, Antony van Leeuwenhoeck und Nicolas Hartsoecker beeinflußt. In der Schrift Considérations sur les Principes de Vie et les Natures Plastiques (1705) setzt Leibniz den Begriff der »materiellen piastick natures« (= physische Monaden) gegen Ralph Cudworths »immaterielle piastick natures« ab und legt damit die begriffliche Basis für die Präformationstheorie des 18. Jahrhunderts, auf die Charles Bonnet rekurrieren wird. In Leibnizens Schrift De ipsa natura (1698) erkennt Haller im Boerhaave-Kommentar Methodus studii medici (S. 39) einen Einfluß von Francis Glisson: »De vi insita creatura seu de ipsa natura LEIBNIZIUS egit in A.fcta] E.[ruditorum] 1698. pag. 427.: non absque suspicione lecti & parum citati F. GLISSONII.« In der Schrift De natura substantiae energetica (1672) und v.a. in der Schrift De ventrículo intestinis (1677) betrachtet Glisson die Irritabilität der Fibern (bzw. des Gewebes) als ein eigenständiges Phänomen, das von den Nerven, dem Gehirn und dem Rückenmark unabhängig ist. In seiner eigenen Irritabilitätslehre nimmt Haller auf Glissons Irritabilität Bezug, der diese Funktion der Faser, im Unterschied zu sensorisch-psychischen Funktionen, mit einer »natürlichen Wahrnehmung« des vegetativen Vermögens identifiziere: d.h. die Faser nimmt eine in ihr verursachte angenehme bzw. unangenehme Veränderung wahr, wodurch eine entsprechende Bewegung ausgelöst wird. Die Bewegung ist also eine organisch unbewußte, d.h. nicht willkürliche, und äußerlich stimulierte Bewegung: »FRANCISCVS GLISSON idem auctor vis vivae, quae in elementis corporum habitat, irritabilitatis vocem quantum video excogitavit, quae ex naturali percepitone oriatur, quae absque sensu sit, & ad archaei facultatem pertineat, qui corpus fabricaverit ipse etsi alia irritabilitas sit, quae a sensu externo, alia quae appetitu interno etiam nascatur & c.« Vgl. Haller (1752/1753), S. 155. Da nun aber Glisson mit dem Terminus >irritabilitasentteleologisierten< Natur den Grund ihrer Existenz nicht mehr in sich selbst und bedürfen zu ihrer Erklärung einer finalen Ursache außerhalb der Welt (Schöpfergott). Die Ratlosigkeit, mit der Kant den Prozessen des organischen Lebens gegenüberstand, deren Subsumierung unter die Begriffe eines nach intelligiblen Ursachen und Gesetzen fragenden mechanizistischen Wissenschaftsmodell er zwar für möglich hielt, jedoch (noch längst nicht) realisiert sah, 112 zwang ihn, bezüglich der »wahren innern Beschaffenheit des Objekts und der Verwickelung der in demselben vorhandenen Mannigfaltigkeit,« sich in die Position eines »Unwissenden« zu begeben, mit der Begründung, daß eher die Bildung aller Himmelskörper, die Ursach ihrer Bewegung, kurz, der Ursprung der ganzen gegenwärtigen Verfassung des Weltbaues, werde können eingesehen werden, ehe die Erzeugung eines einzigen Krauts oder einer Raupe, aus mechanischen Gründen, deutlich und vollständig kund zu werden wird. 113

Während die empirische Naturforschung des 18. Jahrhunderts in den Wissenschaften des Lebens< in der Praxis aposteriorische Methoden der biologischen Gesetzesbildung erprobte und auf wissenschaftstheoretischer Ebene über einen ihrem Gegenstand angemessenen Evidenzbegriff reflektierte, zog Kant es vor, den Bereich des Lebendigen in Ermangelung einer sichtbaren intelligiblen mechanischen Ursache, die dieses hervorbringe, unerklärt zu lassen. Eine der Materie »wesentliche Attraktionskraft« schränkt Kant auf die mechanischen Gesetzen folgende Bildung physikalischer Körper (Weltsystem) ein;114 er ist nicht bereit, deren Wirkung auf die Bildung von Organismen auszudehnen, obschon in den 1740er und 1750er Jahren Vertreter epigenetischer Generationstheorien bereits Versuche unternommen hatten, 112

In der wissenschaftlichen oder biologischen Medizin wird die Frage nach der Extrapolation chemisch-physikalischer Gesetze im Bereich der Biologie unter differenzierten Aspekten auch heute noch diskutiert: z.B. wird die Frage, ob chemischphysikalische Gesetze zur Erklärung biologischer Phänomene hinreichend sind, positiv beantwortet, allerdings unter der Bedingung, daß unter die chemisch-physikalischen Gesetze nicht nur Partikelbewegungen (Atome, Moleküle) subsumiert werden, sondern auch Interaktionen von physikalischen und chemischen Phänomenen auf höheren Komplexitätsstufen. Die Deduzierbarkeit der Gesetze von biologischen Phänomenen aus physikalisch-chemischen Gesetzen wird hingegen verneint; insofern die Welt der biologischen Phänomene spezifische Strukturen und Funktionen einschließt, entstehen in ihr chemisch-physikalische Gesetze, die nur aufgrund der Analyse biologischer Phänomene abgeleitet werden können; solche Gesetze stehen mit den anderen chemisch-physikalischen Gesetzen nicht im Kontrast, sie sind aber von diesen nicht ableitbar. Vgl. Francisco J. Ayala: Biology as an Autonomous Science. In: American Scientist, 56, 3 (1968), S. 207-221.

113

Vgl. Immanuel Kant: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprünge des ganzen Weltgebäudes nach Newtonischen Gesetzen abgehandelt, Königsberg, Leipzig 1755. In: Ders.: Werke, Bd. 1, Vorkritische Schriften bis 1768, Erster Teil, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1983, S. 237. Vgl. ebd.

1,4

229 die Existenz und Wirkung solcher bildender Kräfte< in der organischen Materie mit Hilfe von naturwissenschaftlichen Hypothesen und unterschiedlich entwickelten experimentellen Techniken zu beweisen. Es sind dies u. a. Maupertuis, Buffon, John Tuberville Needham und 1759 Caspar Friedrich Wolff, der die Existenz einer vis essentialis der Materie annimmt, die organisierte Lebewesen hervorbringt. Der Gedanke, daß die organischen Lebewesen »Wunder« seien, deren Erklärung durch den menschlichen Verstand nicht geleistet werden könne, weshalb die Annahme eines Schöpfergottes erforderlich wird, liegt damit bei Kant nahe. 115 Dabei hatte bereits Spinoza, dessen Beziehungen zu den Naturwissenschaften seiner Zeit (Physik, Medizin) nicht zuletzt durch die Korrespondenz mit dem Sekretär der Royal Society Henry Oldenburg bekannt und in seinem philosophischen Denkhorizont präsent sind, im Anhang zum ersten Buch der Ethik den Rekurs auf eine supranaturale oder göttliche Kunst (den Willen Gottes), den er »asylum ignorantiae« nennt, denunziert. Dies sei der Fall, wenn im Hinblick auf ein großes Kunstwerk der Natur - und Spinoza nennt hier bezeichnenderweise den Bau des menschlichen Körpers - geschlossen werde, daß, weil dessen Ursachen nicht bekannt seien, dieses nicht durch mechanische Ursachen gebildet worden sei. 116 Daher komme es, sagt Spinoza, daß jemand, der die wahren Ursachen des Wunderbaren suche und bestrebt sei, »die natürlichen Dinge als Wissender zu verstehen« oft für einen Ketzer und gottlosen Menschen gehalten und von Priestern und Theologen verschrien werde. 117 In der Absicht, den Anthropomorphismus zu entlarven, der dem Verfahren unterliegt, der Natur eine Ordnung vorzuschreiben, macht Spinoza auf die Gefahr aufmerksam, die Natur der Dinge mit einer Vorstellung über diese zu verwechseln. 118 Damit hat er bereits deutlich auf das Mißverständnis hingewiesen, das dem Ordnungsdenken des Menschen unterliegt, wenn dieser nach seinem Willen und nach seinen Bedürfnissen über die Dinge urteilt und für 115

116 117 118

Erst in der Kritik der Urteilkraft (1790) wird Kant das Problem der Bildung von Organismen im Zusammenhang mit der Frage teleologischer Begriffsbildung (§§ 81, 82) sowie der »physischen Teleologie« (§ 85) u.a. mit Blick auf die Belange der Naturforschung und in kritischer Distanzierung von teleologischen Naturbegriffen differenzierter diskutieren. Ethica (1977), I, Appendix, S. 100t Ebd., I, App., S. 101-103. Ebd., I, App., S. 103-105. »Und weil diejenigen, welche die Natur der Dinge nicht verstehen, sondern sich die Dinge nur vorstellen, nichts von den Dingen behaupten, und Vorstellung für Verstehen nehmen, darum glauben sie in ihrer Unkenntnis der Dinge und ihrer eigenen Natur fest an eine Ordnung der Dinge. Denn wenn die Dinge so verteilt sind, daß wir sie uns, wenn sie uns durch die Sinne dargestellt werden, leicht vorstellen und uns folglich ihrer leicht erinnern können, nennen wir sie wohl geordnet; im gegenteiligen Fall nennen wir sie schlecht geordnet oder verworren. Und weil uns besonders angenehm ist, was wir uns leicht vorstellen können, ziehen die Menschen die Ordnung der Verwirrung vor, als ob die Ordnung, von der Beziehung auf unsere Vorstellung abgesehen, etwas in der Natur wäre« (S. 103f.).

230 die intelligiblen Begriffe seines Verstandes, die sich als ein Produkt menschlicher Rationalisierung herausstellen, eine Entsprechung in den natürlichen Dingen sucht; dies geschieht nach Spinoza deshalb, weil die Begriffe, die sich der Mensch über die natürlichen Dinge macht, von der Konstitution seines Körpers abhängig und durch seine Sinneswahrnehmung bedingt sind; 119 und diese kann, trotz der den Menschen gemeinsamen anatomischen Voraussetzungen, von Individuum zu Individuum unterschiedliche Vorstellungen hervorrufen: »Das alles zeigt zur Genüge, daß jeder nach dem Zustand seines Gehirns über die Dinge geurteilt oder vielmehr die Affektionen seiner Vorstellung für die Natur selbst genommen hat.« 120 Die unter den Menschen sich hierdurch ergebende Uneinigkeit in der Beurteilung der Dinge könne deshalb nur zum Skeptizismus führen. 121 Aus diesem Grund können Spinoza zufolge über die Vollkommenheit der Dinge nicht die Begriffe befinden, mit denen die Menschen die Natur zu erklären pflegen, da diese »nur verschiedene Modi der Vorstellungen« (modos esse tantummodo imaginandi) und nicht die Natur der Dinge selbst sind. Die Begriffe sagen nur über die Natur der Vorstellung etwas aus, weshalb über die »rerum perfectio ex sola earum natura, & potentia est aestimanda.«122 In Spinozas Plädoyer für eine >wertfreie< Evaluation eines Gegenstandes, die diesen aus seiner Natur heraus verstehen und erklären will, ist ein Kriterium benannt, das für die neuzeitliche empiriebasierte naturwissenschaftliche Erkenntnis seit Bacon zu einem methodologischen Prinzip geworden war, wobei dies bei Spinoza mit Konsequenzen verbunden ist, die sich aus seinem Vollkommenheitsbegriff ergeben: Das natürliche Objekt, dem eine eigene vollkommene Natur zugesprochen wird, ist vom Subjekt, das diese erkennen soll, unterschieden, wobei das Subjekt selbst, das dadurch zum Objekt in ein Relationsverhältnis gesetzt wird, vom Vollkommenheitskriterium nicht ausgenommen ist und sich vom Objekt insofern unterscheidet, als es eine eigene Natur bzw. Vollkommenheit besitzt, die von derjenigen des Objekts verschieden ist. Wenn also auf der einen Seite das naturforschende Subjekt die natürlichen Dinge befragt und von deren Natur eine Antwort abverlangt, die nur durch eine methodengeleitete Analyse ihrer Beschaffenheit (Attribute) erfolgen kann, dann impliziert Spinozas Vollkommenheitsbegriff auf der anderen Seite, daß eine solche Erkenntnis selbst von den die Natur des erkennenden Subjekts konstituierenden Bedingungen abhängt, weil der Mensch zugleich Teil der >objektiven< Natur ist und als solcher durch einen eigenen Grad der Vollkommenheit 119

120 121 122

Vgl. ebd., I, App. S. 105: »[...] je nachdem wie sie [die Menschen] von ihm [sc. der Natur eines Dinges] affiziert werden. [...] z. B. die Bewegung, welche die Nerven von den Gegenständen empfangen, die mit den Augen wahrgenommen werden, [...].« Vgl. ebd., I, App. S. 105-107. Vgl. ebd., I, App. S. 107. Vgl. ebd., I, App., S. 106-108.

231 definiert ist. Die aus Spinozas Vollkommenheitsbegriff resultierende Heterogenität der Natur von erkennendem Subjekt und der des zu erkennenden Objekts enthält für methodologische Fragen der Empirie in der naturwissenschaftlichen Forschung ein relevantes Moment. Denn führt man Spinozas Gedanken ad absurdum, dann entlarven diese eine dem menschlichen Denken zugrundeliegende Paradoxie. Auf die Frage, »warum Gott nicht alle Menschen so geschaffen hat, daß sie sich von der Vernunft allein leiten lassen«, antwortet Spinoza, daß Gott »Stoff (materia) hatte, alles zu schaffen, vom höchsten Grad der Vollkommenheit bis zum niedrigsten.« 123 Was für Spinoza die extramentale Realität konstituiert, ist damit eine Reihe einzelner vom Bewußtsein des Subjekts unabhängig existierender individueller natürlicher Objekte, deren Naturen sich in materieller Hinsicht voneinander unterscheiden und von denen jedes eine eigene Vollkommenheit besitzt. Der Vollkommenheitsbegriff ist somit von der rational-vernunftmäßigen Natur des Menschen aus prinzipiell nicht mehr bestimmbar, weil für Spinoza nicht eine einzige Vollkommenheit existiert, sondern ebensoviele, wie es materiell verschiedene individuelle Körper auf der Welt gibt. Es ergibt sich jedoch aufgrund der in Spinozas Vollkommenheitsbegriff implizierten These von der Inkommensurabilität bzw. Heterogenität der individuellen Naturen des erkennenden Subjekts und des zu erkennenden Objekts die prinzipielle Unmöglichkeit, daß ein Subjekt A ein ihm äußerliches bewußtseinsunabhängig existierendes materielles Objekt Β begrifflich adäquat erfaßt, es sei denn, es wäre die Natur von A mit der Natur von Β identisch. Diese Möglichkeit schließt Spinoza aber von vornherein aus und zeigt ihre Problematik auf. Ganz ähnlich stellt er das Problem im Lehrsatz 25 des II. Buches der Ethik, in dem er mit Überlegungen zu der Natur und dem Ursprung des Verstandes {De Natura, efe Origine Mentis) seine Erkenntnistheorie darlegt: »Die Idee einer jeden Affektion des menschlichen Körpers schließt nicht die adäquate Erkenntnis des äußeren Körpers in sich.«124 Die Konsequenz ist, daß in bezug auf einen äußeren Körper falsche Ideen entstehen können, wobei die >Falschheit< Spinoza zufolge in einem »Mangel an Erkenntnis« (privatio) besteht, »den die inadäquaten oder verstümmelten und verworrenen Ideen in sich schließen.« 125 Damit unterliegt der Versuch, die in der extramentalen 123 124 125

Vgl. ebd., I, App., S. 109. Vgl. ebd., II, Prop. XXV, S. 180f. Vgl. ebd., II, Prop. XXXV, S. 194f. Die Bedeutung der Ethik Spinozas (bes. einiger zentraler Lehrsätze aus dem zweiten Buch) für die historisch-genetische Methodik des Geschichtsdenkens und der Anthropologie Giambattista Vicos hat Wolfgang Proß rekonstruiert, wobei Proß, der einen Interpretationsansatz von Nicola Badaloni auswertet, Vicos Beziehungen zu dem Neapolitaner Rechtshistoriker, Juristen und Ästhetiktheoretikers Gianvincenzo Gravina betont, in dessen rechtstheoretischem und poetologischem Werk die von Spinoza benannten erkenntnistheoretischen Probleme eindeutige Spuren hinterlassen haben; vgl. W. Proß: Herder und Vico: Wissenssoziologische Voraussetzungen des historischen Denkens. In: Jo-

232 Wirklichkeit vom Bewußtsein des Subjekts unabhängig existierenden Objekte durch die menschliche Vernunft adäquat zu erfassen, einem grundsätzlichen Widerspruch: die Menschen würden mit Namen über die Dinge sprechen, »die so lauten, als ob sie außerhalb der Vorstellung existierende Seiende bedeuten«, weshalb Spinoza »diese nicht Seiende aus der Vernunft, sondern aus der Vorstellung« nennt. 126 Der Widerspruch liegt nun in der »doppelten Natur« des Menschen als einem Vernunftwesen, das einen Körper hat, begründet und ist für die menschliche Natur konstitutiv. Damit wird der Mensch bei jedem Versuch, die extramentale Objektwelt (wozu auch der eigene Körper gehört) von der Vernunft her zu begreifen, immer wieder auf seine körperlich-materielle Natur zurückverwiesen, die er bei der Beurteilung der Dinge mit Begriffen in diese hineinträgt. Der sich in erkenntnistheoretischer Hinsicht konstituierende Widerspruch für den Menschen ist aber für Spinoza nur als solcher zu verstehen, weil es zu den konstitutiven Bedingungen des Menschen gehört, eine Natur aus Geist und Körper zu sein, die so existiert, daß sie von der Empfindung des eigenen Körpers bestimmt ist. 127 Daraus erhellt, daß die sinnliche Wahrnehmung der Objektwelt, durch die der Mensch affiziert wird, in die Materialität seiner Sinnesorgane und seines Gehirns verstrickt ist und daß die im Subjekt entstehenden Begriffe Wahrnehmungsurteile sind, die schon deshalb nur verworren sein können, weil in diesen das materielle Substrat der körperlichen Selbstempfindung konstitutiv beinhaltet ist. Der von Spinoza in aller Schärfe erkannte Grundwiderspruch in der menschlichen Erkenntnis schafft eine direkte Verbindung zu seiner Philosophie: Die Lehre von der Einheit substantialer Attribute (Spinozas Attributenmonismus) ist in der Vereinigung von Körper und Geist in dem Lebewesen Mensch gegeben. Dadurch vermeidet Spinoza Descartes' Rückgriff auf einen deus ex machina, um die Existenz einer geistigen Substanz im Menschen zu erklären. Die Konsequenz, die Spinoza im Scholium von Lehrsatz 13 des zweiten Ethik-Buches aus der erkannten Einheit von Körper und Geist zieht, aus der die ganze Erkenntnisproblematik für den Menschen erwächst, ist nur der Folgerichtigkeit seines Denkens zuzuschreiben. Um die Frage zu beantworten, was unter der Einheit von Körper und Geist zu verstehen sei und um zu bestimmen, wodurch der menschliche Geist sich von demjenigen der übrigen Lebewesen unterscheide, deren beseelte Na-

126 127

hann Gottfried Herder 1744-1803, hg. von Gerhard Sauder, Hamburg 1987, S. 8 8 113, bes. S. 96ff. Vgl. Ethica (1977), I, App. S. 107. Vgl. ebd., II, Prop. XIII, Coroll.: »Hinc sequitur hominem Mente, & Corpore constare, & Corpus humanuni, prout ipsum sentimus, existere.« Spinozas Formulierungen, nach denen das Objekt der Idee, die den menschlichen Geist konstituiere, der Körper sei (Ethica (1977), II, Prop. 13), weshalb das Objekt des Geistes der existierende Körper sei und nichts anderes (Ethica (1977), II, Prop. 13, Demonstr.), sind um 1750 - u.a. bei den von Diderot in dem Art. »Spinoziste« der Encyclopédie genannten »spinozistes modernes« - dahingehend interpretiert worden, daß Materie denkt und fühlt.

233 tur nur graduell von derjenigen des Menschen verschieden sei, sei es notwendig, sagt Spinoza, die Natur seines Objekts adäquat zu erkennen, »hoc est, Corporis humani naturarti cognoscere,«128 Damit stellt Spinoza explizit eine Verbindung her zwischen dem Erkenntnisproblem, das für ihn ein spezifisch anthropologisches ist, und der Erforschung des menschlichen Körpers, die von der Anatomie geleistet wird. Das, was im menschlichen Körper Spinoza zufolge Gegenstand der naturwissenschaftlichen Erforschung sein muß, ist das materielle Substrat der menschlichen Erkenntnis, das sich durch den Gehirnbau und die Sinneswahrnehmungsapparatur konstituiert; die aus organisierter Materie bestehenden Gehirnorgane wurden in der (praktischen) Medizin, Gehirnanatomie und Gehirnnervenphysiologie des 17. Jahrhunderts u. a. im Zusammenhang mit der Kritik an der Lokalisierung der Seelenvermögen nach dem antiken Modell Galens empirisch untersucht. 129 Einer naturwissenschaftlichen Erklärung der gestellten Erkenntnisproblematik, die nicht mehr Gegenstand seiner Ethik sein konnte, enthielt sich Spinoza, der das Problem der Verbindung von Körper und Geist in philosophischer Hinsicht im Sinne des mechanizistischen Rationalismus durch die Vorstellung einer rigoros parallelgeschalteten Doppelnatur des Menschen löste. Spinozas Argumentation verrät aber viel von dem medizinischen Kontext der reformierten (calvinistischen) Universitäten der Niederlande, wo sie entstanden war und wo sich das große Erbe der italienischen Renaissancemedizin im Laufe der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts verlagert hatte und z. B. Leiden - wie Padua zuvor - zum neuen großen Anziehungspunkt der europäischen Medizinstudenten avancieren ließ. 130 Spinozas Philosophie und die Medizin diskutierten somit parallele Fragestellungen. Seine Konzeption einer Einheit bzw. Entsprechung von Körper und Geist, 131 deren adäquates Verständnis die Erkenntnis der »naturam corporis nostri« voraussetze (Ethica, II, 13, Schol.) sowie seine Konzessionen an die sinnlich-vorstellende 12ii 129

130

131

Vgl. Ethica (1977), II, Prop. XIII, Scholium, S. 142f. Vgl. Michael Kutzer: Tradition, Anatomie und Psychiatrie: Die mentalen Vermögen und ihre Lokalisation in der frühen Neuzeit. In: Medizinhistorisches Journal, 28, 4 (1993), S. 199-228. In Leiden dozierte beispielsweise Jan van Heurne (1543-1601); vgl. z.B. ders.: De morbis qui in singulis partibus humani capitis insidere consueverunt, Leiden 1594 u. ders.: Praxis medicinae, Rotterdam 1651. Franz De Le Boë (Sylvius, 1614-1672) verteidigte Harveys Entdeckung des Blutkreislaufs in Leiden mit großen Schwierigkeiten und Jan de Wale (1604-1649) setzte sein Werk für die Anerkennung und Verbreitung der Schriften Harveys ein; vgl. Walter Pagel: Le idee biologiche di Harvey. Aspetti scelti e sfondo storico, Milano 1979, S. 416. Vgl. von F. De Le Boë: Disputationes medicae, Padua 1672 u. von Joan van Hoorne: Mikrokosmos, Leiden 1665. Auch das einflußreiche Werk von Daniel Sennert (1572-1637) ist in diesen Kontext zu stellen: vgl. ders.: Opera omnia, 5 Bde., Leiden 1666. Z.B. im Affektbereich; vgl. Ethica (1977), III, Prop. II, Schol.: »[...] ordo actionum, & passionum Corporis nostri simul sit natura cum ordine actionum, & passionum Mentis [...]«.

234 Erkenntnis der körperlichen Wirklichkeit in der Ideenlehre von Buch II der Ethik132

wurden nämlich im frühen 18. Jahrhundert und gerade in Holland

auch für die medizinischen Ansätze interessant. In diesen wurde -

unter-

stützt von der Annahme eines psychophysischen Parallelismus als einer weiterentwickelten Form von Spinozas Attributenmonismus - die Parallelschaltung von körperlichen und geistigen Aktivitäten nunmehr unter dem Aspekt ihrer Interaktion betrachtet, die Spinoza selbst jedoch geleugnet hätte. Obwohl die Medizin das cartesianische Vokabular der zwei unterschiedlichen >Naturen< bzw. >Substanzen< beibehielt, konzentrierte sie sich zunehmend auch unter dem Einfluß der psychophysiologisch basierten Affektenlehre des Traité des passions

de l'âme (1649) des späten Descartes sowie einer verän-

derten epistemologischen Situation - auf die Untersuchung der materiellen Substrate des commercium

bzw. der conjunctio

von Körper und Geist, wes-

halb der Gehirnanatomie und Nervenphysiologie eine zentrale Funktion zugewiesen wurde. Bereits bei Hallers Lehrer Boerhaave war diese Tendenz deutlich zu erkennen: Im Abschnitt Principia et partes, Medicinae gomena

zu seiner Schrift Institutiones Medicae

der Prole-

( Ί 7 0 8 ) weist Boerhaave dar-

auf hin, daß sich die Medizin auf die Erforschung der Verbindung von Körper und Geist, die aufgrund der beobachteten Wirkungen für gewiß gehalten werde, zu beschränken habe, während für sie die Natur der conjunctio

- von

seinem Kenntnisstand aus betrachtet - als ungelöstes Problem offen bleiben müsse. Die Problematik wird unter § 27 der Prolegomena

explizit dargelegt:

a. Homo constat mente, & corpore, unitis. b. Quorum utrumque naturâ ab altero differì, g. Adeóque vitam, actiones, passiones, diversas habet, d. Tamen ita se habent inter se, ut cogitationes mentis singulares determinatis corporis conditionibus semper jungantur, & vicissim. e. Interim cogitationum aliae ex solâ cogitatione purâ sequuntur, aliae vero tantum ex mutatâ conditione corporis oriuntur. z. Contrà quoque exercitationes quaedam quorundam in corpore motuum fiunt sine attentione, conscientiâ, vel imperio animae ad eas concurrente ut causâ, vel ut conditione: nonnullae autem excitantur, atque determinantur, per actiones mentis praegressas, quamdiu homo sanus est: quaedam denique ex utrisque his concretae observantur. n. In homine quidquid cogitationem involvit, solo id Menti, ut principio, adscribendum. y. Quod vero extentionem involvit, impenetrabilitatem, figuram, aut motum, id uni corpori, ejusque motui, ut principio, tribuí, per ejus proprietates intelligi, explicari, & demonstrari, debet, i. Ñeque ex perspectâ mentis, vel corporis, natura, quatenus ab human! intelligentiâ cognita habetur hactenus, intelligitur ratio, quâ agere in se mutuò, vel pati à se mutuò, queant. k. Siquidem haec solâ effectuum observatione itâ constant, ut horum allegatio nihil explicet: quin imô, ubi problema Medicum eòusque solutum, ut restet modo explicandum quomodo fiat haec relatio (d. i. z.) satisfactum erit quaesito: quoniam ulterior inquisitio impossibilis, & illa solutio Medico sufficiet.133

Vgl. z.B. Ethica (1977), II, Prop. XIX: »Mens humana ipsum humanum Corpus non cognoscit, nec ipsum existere seit, nisi per ideas affectionum, quibus Corpus afficitur.« 133 Vgl. Hermann Boerhaave: Institutiones Medicae, Leiden 41721, S. 7£ 132

235 Es sind hiermit Grundzüge einer frühaufklärerischen >Wissenschaft des Menschen skizziert, die sich im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert zunehmend zu verdeutlichen beginnen und gegen die Jahrhundertmitte zur Entwicklung einer neuen Interpretation der >Natur< des Menschen beitragen. Die Erforschung des menschlichen Körpers durch Anatomie und Physiologie, die sensualistische Erkenntnistheorie, der Empirismus und die induktivexperimentelle Methode in der Naturforschung nach dem Modell der Naturwissenschaft Newtons und der Programmatik Bacons sowie die auf der Konstitution des menschlichen Körpers und der Psyche basierenden naturrechtlichen Gesellschaftslehren Samuel Pufendorfs und Richard Cumberlands sind nur einige der relevanten wissenschafts- und kulturgeschichtlichen Elemente, die um 1750 einen Naturbegriff konstituieren, der sich dahingehend definieren läßt, daß er sich gegen den metaphysischen Rationalismus der Philosophie sowie gegen radikale naturphilosophische Positionen, deren Konsequenz Materialismus bzw. Atheismus war, absetzte.

Zweites Kapitel: Die Kategorie der >Gewißheit< in Philosophie und Naturwissenschaft als anthropologisches Problem Was Spinoza als anthropologisches Problem der rational-vernunftmäßigen Deutung der Natur des Menschen formuliert hat (s. oben Teil II, Kap. 1, 4), kann insofern als Abbreviatur einer im 17. Jahrhundert sich vollziehenden wissenschafts- und gesellschaftshistorischen Entwicklung verstanden werden, als an der Menschennatur von erkenntnistheoretischer Seite exemplifiziert wird, was Franz Borkenau zur Grundthese seines Buches Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild gemacht hat:1 die Antinomie von >Norm< und >Kontingenz< als dem Sinndeutungsproblem des Menschen im 17. Jahrhundert. Während im mittelalterlichen Ordnungs- und Wertesystem, in dem Gesellschaft und Natur als Einheit betrachtet wurden, innerhalb einer hierarchisch gegliederten Gesellschaftsstruktur, in welcher der Mensch die ihm ordnungsgemäß zugewiesene Stellung einnahm, kein in systematischer Form entwickeltes Bedürfnis nach konkreter Naturforschung aufkam, entstand im Menschen mit dem Zusammenbruch des feudalen Weltbildes nicht nur das Bewußtsein des Verlustes des systematischen Ortes in der Gesellschaft, d. h. seiner >ontologischen Ortlosigkeitontologische Ortlosigkeit des Menschen< verwendet Stephan Otto um den »geistphilosophischen Denkansatz der Renaissanceanthropologie« bei Giovanni Pico della Mirandola (De hominis dignitate oratio, ca. 1485-86) zu bezeichnen, dessen philosophische Bedeutung in der Aussage bestehe »der Mensch stehe nicht ontologisch in der Mitte der Welt, sondern er sei von Gott zur Mitte der Welt gemacht worden. Aus dieser ontologischen

1

Vgl. Franz Borkenau: Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild. Studien zur Geschichte der Philosophie der Manufakturperiode, Paris 1934, Ndr. Darmstadt 1988, bes. S. XI, S. 358 u. S. 367-369. Ich folge hier im wesentlichen der Argumentation Borkenaus.

237 Ortlosigkeit entspringt nämlich seine geistige Freiheit. [...] In der Welt ohne festen Ort, gehört er nicht zu den Dingen der Welt; er ist vielmehr fähig, >alles zu werdensich zu allem zu machengesehenenNeuzeit< und >Subjekt< impliziert. In Eugenio Garins älteren Darstellungen fällt die Argumentation differenzierter aus, speziell was die Einordnung Picos in den in der jüngeren Renaissanceforschung omnipräsenten Begriff des >Platonismus< (u.a. derjenige Marsilio Ficinos) anbelangt: Die Position des italienischen Denkers sei »[djifficilmente riducibile nei quadri del »platonismo«, wobei seine Unduldsamkeit gegenüber dem Formalismus und der substanzlosen Rhetorik »di un certo umanesimo« und der Philosophie ihn zum Studium orientalischer Sprachen geführt habe und, in der Faszination für die esoterisch-hebräische Tradition (Kabbala), den Versuch unternehmen ließ, die Konkordanz aller Doktrinen untereinander zu beweisen. Den Freiheitsbegriff in Picos Konzeption des Menschen bringt Garin pointiert auf das Wesentliche: »[...] nel fatto che l'uomo è l'unico essere in natura che non sia condizionato da una specie, da una essenza. L'uomo è quello che si fa, il resultato delle sue opere e delle sue scelte. Per questo, e solo per questo, occupa una posizione privilegiata nell'universo.« 4 Hinzu komme bei Pico die profunde Koinzidenz von Geschichte und Natur in der »indagine filologica e storica e indagine naturalistica«, die historische Kritik der Astrologie als Gestirnsreligion, eine methodisch-philologische Bibelexegese und die Religion. 5 In Picos Darstellung der Erschaffung des Menschen in De hominis dignitate ist der Typus des platonischen Mythos des Demiurgen und der rationalen Begründung des Geschaffenen bereits desavouiert und gewissermaßen poetisch parodiert: Nach der Vollendung seines Werkes findet der Schöpfergott unter den Archetypen keinen, nach dem er den Menschen bilden könnte, so daß sich zunächst die Frage stellt, wie Gott überhaupt dazu

2

3 4

5

Vgl. Renaissance und frühe Neuzeit, hg. von Stephan Otto (Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, Bd. 3), Stuttgart 1984 S. 344-349, bes. S. 344 u. 348f. Ebd., S. 349. Vgl. E. Garin: La cultura del Rinascimento. Profilo storico, bes. das Kap. »La nuova filosofia: l'esaltazione dell'uomo e della natura«, Bari 1967, S. 127-141, Zitate S. 134f. Vgl. E. Garin: Interpretazioni del Rinascimento. In: Medioevo e Rinascimento. Studi e ricerche, Bari 31984 (1954), S. 85-100, bes. S. 92 -95, Zitat S. 94.

238 kommt, den Menschen noch zu erschaffen. Die Schöpfung des Menschen wird aber für Gott deshalb zur res necessaria, weil aus der Perspektive Gottes, der einen Bewunderer seines Werkes wünscht, der Mensch, würde Gott ihn nicht erschaffen haben, die göttlichen Attribute verurteilen könnte, was der Mensch aber nur als Geschaffener tun kann. Damit ist dieser Schöpfungsgedanke insofern zirkulär, als dasjenige, was zum Kriterium für die Erschaffung des Menschen gemacht wird, die Existenz des Menschen bereits voraussetzt. Der Mensch müßte also in der Welt schon dasein, um an ihm zu erkennen, daß er geschaffen werden müßte. Pico überträgt damit analog auf die Erschaffung des Menschen die Argumentation, die Lukrez (De rerum natura, Lib. V, w. 181-186) im Hinblick auf die Bildung der Welt im kosmologischen System Epikurs (leerer Raum, Atome) zur Unterminierung der Vorstellung der Ideenvorlage des platonischen Demiurgen bzw. der epikureischen Götter anwendet: Die Ideen der zu erschaffenden Dinge, zu denen auch der Mensch gehört, müßten die Götter auch vom Muster der Natur ablesen. Epikur wollte mit dem Zufallsprinzip die Annahme einer Schöpfung überhaupt ausschließen, Pico überläßt die Entscheidung, was aus den vielerlei Samen und Keimen, die im Menschen angelegt sind, werden soll, dem menschlichen Willen. Ferner wird in der Zitatmontage antiker Menschheitskonzeptionen (am Beginn des Textes), wobei eine Quelle u.a. Ciceros De natura deorum, II, 140 ist, unter Ausblendung pessimistischer Vorstellungen an eine optimistische Anthropologie angeknüpft.6 Kontextuell zu Pico wurde nämlich um 1470 von dem Florentiner Humanisten Cristoforo Landino die Historia naturalis des Plinius in das florentinische Idiom übersetzt, wobei der Text bei seinem Erscheinen (1476?) von den Humanisten kontrovers diskutiert wurde.7 Plinius (Nat. hist., Lib. VII, Prooemium) deutet die Natur als >Stiefmutter< des Menschen (natura noverca), der aufgrund seiner körperlichen Konstitution (nuditas) den lebensbedrohlichen Umwelteinflüssen vollkommen ausgeliefert und gegenüber den instinktgebundenen und von vornherein besser umweltangepaßten Tieren benachteiligt sei. Der Mensch entstammt zwar einer stiefmütterlichen Natur, erhält von ihr aber die Gaben (muñera), sich selbst zu erschaffen. Von Plinius geht damit eine Tradition der Interpretation des Menschen aus, die über Laktanz in die patristische Diskussion eindringt und über die Renaissance bis ins 18. Jahrhundert zu verfolgen ist (z. B. bei Johann Gottfried Herder).8

6

Zu der Tradition antiker Menschheitskonzeptionen, die den Menschen aufgrund seiner Natur und Ausstattung in den Mittelpunkt der Welt stellen vgl. Wolfgang Proß: Le péché et la constitution du sujet à la Renaissance. In: Rue Descartes 27 (Dispositifs du sujet à la Renaissance), Collège international de philosophie, Paris 2000, S. 7 9 - 1 1 6 , bes. S. 93.

7

Vgl. Carlo Dionisotti: Tradizione classica e volgarizzamenti. In: Geografia e storia della letteratura italiana, Torino 1967/71, S. 1 2 5 - 1 7 8 , bes. S. 151ff. Vgl. hierzu Kommentar und Anmerkungen von Wolfgang Proß zu Herder: Über

8

239 Ferner wird in Picos Text mit der Zitatstruktur in der Mose-TimaiosParallele, in der Altes Testament (Mose und seine älteste Weisheit), pseudopythagoräisch-platonische Philosophie (Pythagoras und sein Schüler Timaios von Lokroi) und Neues Testament (Christus) verbunden werden, auf die von Tommaso Campanella in der Apologia pro Galileo von 1622 bezeichnete >einheimische< Philosophie der doctrina italica angespielt.9 Der Textkorpus der doctrina italica, die als älteste heidnische und zugleich autochthone Philosophie galt und über die Patristik nach Italien gelangt sein soll, ergab sich aus einer Reihe von Textfälschungen aus dem 15. bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, die auf das 5./6. Jahrhundert v. Chr. rückdatiert wurden und zu denen u. a. die Texte der Pseudopythagoräer Timaios von Lokroi und Okellos von Lukanien gezählt wurden.10 Campanella baut diese Philosophie systematisch zu einer Genealogie der »arcana sapientia« aus zur Verteidigung der Theorien Galileis und spielt die Lehren der doctrina italica gegen das Dogma der auctoritas der Kirche aus: Die Stellung des Christentums wurde hierdurch relativiert.11 Die Tradition der doctrina italica setzte sich in Italien bei Giordano Bruno, Campanella und Galilei fort und war, speziell im neapolitanischen Kontext, wo Lionardo Di Capoa, Giambattista Vico und Antonio Genovesi wirkten, auch im frühen 18. Jahrhundert präsent. In der Verschmelzung von Atomismus/Epikureismus und Stoizismus wurden die Lehren der doctrina italica - zuerst bei Robert Boyle und Pierre Gassendi - in anticartesianischer Absicht eingesetzt, sie beeinflußten aber auch die empirisch-naturwissenschaftliche Ausrichtung Newtons12 und die des Newtonianismus um 1750: u.a. bei Fortunato Bartolomeo De Felice, der Schüler von Antonio

9

10

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den Ursprung der Sprache. In: J. G. Herder: Werke, hg. von W. Proß, Bd. 2, München, Wien 1987, bes. S. 914 u. S. 952f. Vgl. Tommaso Campanella: Apologia di Galileo. Tutte le lettere a Galileo Galilei e altri documenti, eingel. u. hg. von Gino Ditadi, Übers, von Adriana Lotto, Este 1992, bes. Kap. V, S. 54-58. Vgl. z.B. Ocellus Lucanus: De universa natura libellus. Ludovico Nogarola interprete. Eiusdem Nogarola epistola super viris illustribus genere italis, qui graece scripserunt, Venedig 1559. Vgl. zu den Texten der >doctrina italica< und der Tradition der ionischen Naturphilosophie im 18. Jahrhundert das Nachwort von Wolfgang Proß: Herder und die Anthropologie der Aufklärung. In: Proß (Hg.) 1987, bes. S. 1157ff., S. 1162 u. 1210f. Zu Inhalt und Rezeption der Schrift von Ocellus Lucanus: De Universo sowie des Systems des Timaios von Lokroi im 18. Jahrhundert vgl. Charles Batteux: Histoire des Causes Premières ou Exposition sommaire des pensées des Philosophes sur les principes des êtres, Paris 1769, Sect. II, Art. I, S. 231-244 u. Sect. II, Art. II, § II, S. 256-275. Vgl. jetzt auch die Monographie von Paolo Casini: L'antica sapienza italica. Cronistoria di un mito, Firenze 1998. Zu den Bezugnahmen Newtons auf die ionische bzw. italische Naturphilosophie u.a. im Zusammenhang mit der Schwerkraft und dem Atomismus vgl. Schüller (1999), bes. Anhang III (Texte von Newton, die sich auf eingelegten Zetteln in seinen Handexemplaren befinden), S. 547-551; vgl. zu Newton auch Casini (1998), S. 136-143.

240 Genovesi in Neapel, der dort von Celestino Galiani auf den Lehrstuhl für experimentelle Physik und Mathematik berufen wurde. In Bern wurde De Feiice ein Freund Hallers und verfaßte hier die bereits erwähnte Abhandlung zum Newtonschen Kraftbegriff: De Newtoniana Attractione unica Cohaerentia Naturalis Causa Dissertatio Physico-Experimentalis. Im Rahmen der von De Feiice herausgegebenen Encyclopédie von Yverdon hat Haller, wie bereits in der Einleitung erwähnt, wichtige Artikel zur Physiologie publiziert, u. a. den zur Irritabilität von 1773 (repr. 1777). Auf die doctrina italica wird im Teil II, Kap. 3,11 dieser Studie noch einmal zurückzukommen sein. Fruchtbar erweist sich ferner der Vergleich von Picos Konzeption des Menschen mit derjenigen Petrarcas und Augustine hinsichtlich des Begriffs der >Bewunderung< der Welt und der unterschiedlichen Konsequenzen, die diese Autoren daraus ziehen. Während Petrarca in dem berühmten Brief (1355) über die Besteigung des Mont Ventoux (1336) unter Berufung auf Augustinus und den Apostel Paulus die Bewunderung der Welt als Vernachlässigung der Beschäftigung mit sich selbst empfindet, was ihn damit, in Abkehr von der äußeren Natur, zu der Konzentration auf das Innere des Menschen bewegt - »>Et eunt homines admirari alta montium [...] et relinquunt se ipsosNormregellosen< Sphäre des Menschlichen (Kontingenz), der ungeordneten Welt der >Fortuna< gestellt, zu der die privaten und gesellschaftlichen Beziehungen und die Praxis der Alltagswelt gehörten. Die Naturwissenschaft vermochte im Denktypus des Mechanizismus, in dessen Rahmen der Begriff des Naturgesetzes neu definiert wurde, die physische Natur und die Natur der Lebensphänomene (Biologie) zu erforschen und sämtliche Bereiche der natürlichen Wirklichkeit zu regeln. Hierfür waren der Dynamismus der Bewegungsgesetze und das Weltsystem in Newtons Principia mathematica philosophiae naturalis (1687) und die Entdeckung des Blutkreislaufs durch William Harvey (Exercitatio anatomica de motu cordis et sanguinis in animalibus, 1628) paradigmatisch. Der dann hauptsächlich im 18. Jahrhundert ausgetragene Konflikt zwischen der Naturwissenschaft, in deren analytisch-synthetischen Erkenntnismethode Erfahrung (am Objekt) und Denken verbunden werden, und der metaphysischen Prinzipienwissenschaft, die auf der rationalistischen Deutung der Natur des Menschen basiert, wird aber von philosophischer Seite vorbereitet: Die im System Descartes' vorgenommene Identifikation der >Naturnorm< mit der geistigen Natur (res cogitans) des Menschen wird zur metaphysischen Voraussetzung des cartesischen Naturgesetzesbegriffs, der zudem eines theologischen Fundamentes bedarf. Die Deduktion der natürlichen Welt und der in ihr sich abspielenden Prozesse aus einigen wenigen dem menschlichen Verstände evidenten Re17

18

Vgl. Mannheim (1929, 71985), bes. Kap. 1.3. (Der Ursprung der modernen erkenntnistheoretischen, psychologischen und soziologischen Betrachtungsweisen), S. 1330, Zitat S. 13t. Für eine wissenschaftshistorische und systematische Herleitung der Begriffe theoretische Rationalität und praktische Rationalität vgl. Jürgen Mittelstraß: Philosophie und Wissenschaft. In: Ders.: Die Möglichkeit von Wissenschaft, Frankfurt/M. 1974, S. 8-28, bes. S. 16-22.

243 geln, auf deren Substantialität alles Körperliche und Geistige reduzierbar sein sollte, setzt voraus, daß Gott die Naturgesetze in den Dingen und die Bedingungen ihrer Erkennbarkeit im Menschen festgelegt hat: [...] j'ay remarqué certaines loix, que Dieu a tellement éstablies en la nature, & dont il a imprimé de telles notions en nos ames qu'après y avoir fait assez de reflexion, nous ne sçaurions douter qu'elles ne soient exactement observées, en tout ce qui est ou qui se fait dans le monde. [...]. 19 Que les vérités mathématiques, lesquelles vous nommés éternelles ont esté establies de Dieu et en dependent entieremant, aussy bien que tout le reste des creatures [...]. Or il n'y en a aucune en particulier [sc. Naturgesetze] que nous ne puissions comprendre si nostre esprit se porte a la consyderer, & elles sont toutes mentibus nostris ingenitae [...].20

Die von Descartes hergestellte Identität zwischen den eingeborenen (in mathematischer Form explizierbaren) Vernunftwahrheiten (>notionsfinden< kann, schafft damit die Möglichkeit, die objektive Welt, deren Ordnung problematisch geworden war, vom Subjekt aus zu ordnen, so daß dasjenige, was das >Objektive< sein soll, nicht im konkreten physischen Objekt, sondern in der >Norm< des denkenden Subjekts festgelegt wird. Die mit mathematischer Gewißheit hypothetisch-deduktiv aus Begriffen abgeleiteten Naturgesetze werden auf der Ebene der Ausdehnung (res extensa), wo die raumfüllenden Körper als geometrische Objekte behandelt werden, mit materiell-physikalischen Ursachen gleichgesetzt, wodurch das Prinzip der Identität auf das Verhältnis von Ursache und Wirkung (Ursache=Wirkung), d.h. auf die Kausalität des äußeren Geschehens, ausgedehnt wird. Aus apriorisch erkannten Prinzipien der Materie und der Bewegung leitet das räsonnierende Subjekt aufgrund von mathematischen und physikalischen Hypothesen die Phänomene der natürlichen Welt ab, die auf diesem Wege zugleich die Hypothese (in einem Grad von Wahrscheinlichkeit) beweisen bzw. bestätigen sollen. In der >phänomenalen Erfahrung< beobachtet das Subjekt folglich die zuvor im Begriff hypothetisch angenommenen Naturgesetze. Die Probleme für diese Form von Naturordnungsdenken entstehen aber in dem Moment, in dem die empirisch verfahrende Naturwissenschaft die Inhalte dieser Naturgesetze in der objektiven Welt im Rahmen eines konstruktiven Erfahrungsbegriffs< 21 kritisch überprüft und dieselben, da er19 20

21

Descartes: Discours de la méthode (= Œuvres, Adam & Tannery, VI, S. 41). Descartes à Mersenne. Amsterdam 15 avril 1630. In: Ders.: Correspondance, I, XXI (= Œuvres, Adam & Tannery, I, S. 135-147, Zitat S. 145). Der »konstruktive Erfahrungsbegriff< entwickelt sich nach Mittelstraß in derjenigen entscheidenden Phase innerhalb der Genese des modernen Rationalitätsbegriffs, die den Wissenschaftsbegriff Galileis kennzeichnet: »Im Experiment findet die technische Praxis Eingang in die physikalische Theorie, die damit ihrerseits ihren bisherigen akademischen Charakter verliert und im Rahmen eines konstruktiven Erfahrungsbegriffes (gegenüber dem phänomenalen Erfahrungsbegriff der Aristotelischen Physik) zu einer empirischen Wissenschaft wird.« Vgl. Mittelstraß (1974),

244 fahrungswidrig, radikal in Frage zu stellen beginnt. In den zwischen heterogenen Wissenschaftlerkreisen geführten Debatten des 17. und 18. Jahrhunderts bildete der Gegenstand der Auseinandersetzung aber oft nicht die Erfahrung, sondern die Theorie: so konnten beispielsweise die in astronomischen Observatorien mit Hilfe präziser Meßinstrumente ermittelten Erfahrungsdaten cartesianischer Wissenschaftler, die zum Beweis kosmologischer Hypothesen herangezogen wurden, oft von ihren Gegnern (u. a. Newton, Halley) unverändert übernommen, jedoch mit einer anderen Theorie erklärt werden. Deshalb konzentriert sich die Kritik an Descartes und an der cartesischen Wissenschaft auf die von den philosophischen Annahmen des Systems bedingten methodologischen Prinzipien, welche die Inhalte a priori generieren. Mit der Hypothese der Wirbel beispielsweise, welche die Cartesianer lange eine für den Verstand intelligible mechanisch-physikalische Ursache der Planetenbewegung und der Schwere hielten, 22 wollte Descartes im § 47 des dritten Buches der Principia philosophiae (1644) sogar die Entstehung und den Bau der Welt, d. h. ihren mechanischen Ursprung, erklären. 23 Dementsprechend ist auch Albrecht von Hallers Kritik an Descartes im Hypothesenaufsatz von 1750, in dem Haller den heuristischen Wert der Hypothesen für die naturwissenschaftliche Erkenntnis grundsätzlich anerkennt, primär gegen die philosophische Prämisse einer durch die Vernunftbegriffe der res cogitans sich selbst setzenden Naturnorm gerichtet, die von der objektiven Natur (res extensa) getrennt ist: Es sind etwa hundert Jahre verflossen, daß in Europa die Erklärungen der natürlichen Begebenheiten, und die willkiihrlichen Lehrgebäude, angesehene Vorzüge großer Gelehrter waren. Nachdem einmal Rene des Cartes auf eine mechanische

22 23

S. 21. Dieser Wissenschaftsbegriff ist grundsätzlich auch für Newton und Haller gültig, wobei in Hallers empirischer Wissenschaft die theoretische Begriffsbildung (z. B. in der Irritabilitätslehre), da sie nicht auf das Instrumentarium der Begriffe der Mathematik rekurriert, weitgehend mit der experimentellen Praxis zusammenfällt, die, von theoretischen Fragestellungen und Konzepten geleitet, >Erfahrung< instrumenten erzeugt und dabei vorhandenes Wissen entweder korrigiert oder bestätigt. Das Kriterium der mathematischen Denkmethode, die Deduktion aus Annahmen, gilt bei Haller für die Bildung wissenschaftlicher Hypothesen, dort, wo die experimentelle Praxis keine befriedigenden Resultate ergibt. Vgl. hierzu oben Teil I dieser Arbeit. Zur Problemgeschichte der Erdentstehungshypothesen, denen um 1750 in den naturgeschichtlichen Ansätzen, etwa in Leibniz' Protogaea (pubi. 1749) und in Buffone Histoire et Théorie de la terre (1749), erneut wissenschaftlicher Wert zugewiesen wurde, hat Paolo Rossi in seinem Buch: I segni del tempo (1979) wichtige Interpretationsansätze geliefert (vgl. bes. die Abschn. >L'origine delle cose e il corso della natura: Boyle, Newton, Descartes< und >1 mondi possibili e la storia del mondo realePsycho-Logik< des externen Gegenstandes In einer für die Zwecke der folgenden Argumentation sinnvollen Weise läßt sich Descartes' methodologisches Verfahren mit der Begrifflichkeit moderner handlungstheoretischer Ansätze der Kulturwissenschaften beschreiben, deren Prämissen und Prinzipien sich nach Oswald Schwemmer weniger darin zeigen, »daß solche handlungstheoretischen Konzeptionen sich um ein Verständnis des Handelns bemühen - dies tun ja auch die Systemtheorie und die Lebenswelttheorie - , sondern vielmehr darin, daß ein bestimmtes Handlungsverständnis als Muster für das Verstehen auch der übrigen gesellschaftlichen und kulturellen Realität angesehen wird.« 27 Gerade vor dem Hintergrund der dargestellten Entwicklung des frühneuzeitlichen Denkens aus dem Zusammenbruch der mittelalterlichen Ordnungsstrukturen und der Konstituierung zentraler Denkkategorien durch die Problematik von Norm und Kontingenz, zeigt Descartes' Wissenschaftsbegriff von methodologischerkenntnistheoretischer Seite die Idee eines neuen Ordnungssystems, dessen Merkmale der Normativität, Selbstreflexivität und Repräsentativität in politisch-gesellschaftlicher Hinsicht auch den absolutistischen Systemen des Ba26 27

Vgl. Haller in Boerhaave (1753), S. 59, Anm. (a). Vgl. Oswald Schwemmer: Handlung und Struktur. Zur Wissenschaftstheorie der Kulturwissenschaften, Frankfurt/M. 1987, bes. S. 191.

247 rockzeitalters gemeinsam war.28 Im Rahmen seiner Überlegungen zu den Prämissen einer handlungstheoretischen Darstellung als einem Gegenstand der Kulturwissenschaften setzt Oswald Schwemmer das Ziel sowohl formaler Präzisierungen (Explikation der Intention) als auch semantischer Differenzierungen (Handlungsablauf und grammatische Struktur) von Handlungsdarstellungen in der »(im weiteren Sinne) logischen Klärung der Handlungsdarstellungen und damit des Handlungsbegriffs [...], bei der unser Handeln jedenfalls als ein eindeutig identifizierbarer Gegenstand unterstellt wird.«29 Im Lichte der ontotheologischen Implikationen in Descartes' Denken, die auf erkenntnistheoretischer Ebene zu einer radikalen Trennung von res cogitans und res extensa geführt haben, ist im Hinblick auf sein methodologisches Handeln< - die Deduktion aufgrund >klarer und distinkter Ideen< - , eine solche Eindeutigkeit geradezu konstitutiv, deren Erreichung aber nur dann gelingen kann, wenn das denkende Subjekt sich in seiner Handlung deutlich gegenüber der es umgebenden Wirklichkeit abgrenzt, auch wenn diese Wirklichkeit seine Handlung in vielerlei Hinsicht mitbestimmt. Diese Abgrenzung gelingt im geometrischen Rationalismus Descartes' besonders deutlich, weil diesem zufolge das Subjekt, indem es die Objekte der Aussenwelt zu mathematischen Objekten des Denkens< reduziert, bereits apriori »über eine vollständige Beschreibung der Handlung« verfügt.30 Descartes' Deduktion der Naturgesetze der >objektiven< Welt ist daher insofern als eine intentionale 28

Den Vergleich Gott-König macht Descartes explizit in dem oben zitierten Brief an Mersenne von 1630, worin sich auch der Sinn von Descartes' Naturgesetzesbegriff äußert: »[...] c'est Dieu qui a establi ces lois en la nature, ainsy qu'vn Roy establist des lois en son Royausme [...].« Vgl. Descartes: Correspondance, I, XXI (= Œuvres, Adam & Tannery, I, S. 145. Dadurch wird das Verhältnis Gottes zum Menschen verdeutlicht, der auf Erden Gottes Gesetze verwirklichen bzw. erschaffen soll: »[...] die Wahrheiten, die der Mensch erkennt (und darunter sind, [...], auch die moralischen, sind absolute Wahrheiten, die mit dem objektiven Sein übereinstimmen. Diese Regeln sind wie die Gesetze, die ein absoluter König gibt, nicht nur Ausdruck von Vorgängen, sondern zugleich Normen des Guten. Dies ist auf Erden ein Idealfall, aber in Gottes Naturgesetzen fällt die Regel des Geschehens und die Norm des Guten zusammen. Darum besteht die Gewißheit, daß, sofern sie der Mensch erkennt, der Widerspruch zwischen Macht und Recht, zwischen den Regeln des äußeren Geschehens und den Anforderungen der Seele, zwischen Kausalität und Norm aufgehoben ist. Dies ist die eigenste Gesinnung Descartes'. Es gibt kein einziges Naturgesetz, das er nicht letzten Endes aus Gottes Vollkommenheit abgeleitet hätte.« Vgl. Borkenau (1934), repr. (1988), Zitat S. 3591 Diese Naturgesetze sind hauptsächlich zwei a) die Reduktion der Materie auf Raum (Geometrie), wodurch klare und deutliche Erkenntnis möglich wird, wobei Gott den Menschen nicht täuscht und b) die Bewegungskonstanz, die von der Unveränderlichkeit Gottes abgeleitet wird. Damit wird deutlich, daß der König in Politik und Recht durch die Gesetzgebung, der Naturphilosoph in der Explizierung der Naturgesetze durch die gottgewollte Naturnorm (= res cogitans) auf Erden die Rolle Gottes übernehmen bzw. repräsentieren.

29

Schwemmer (1987), S. 192. Ebd.

30

248 Handlung zu bezeichnen, als diese in einer Realisierung gottgewollter Intentionen besteht, welche die Beschreibung vollständig, d.h. unabhängig von den Einflüßen der realen Wirklichkeit, erzeugen können: »Im Idealfalle ist eine Handlung damit die (möglichst) ungehinderte Realisierung einer frei, d. h. alleine durch den Handelnden gebildeten Intention.« 31 Mit dem Begriffspaar subjektive Erzeugung eines Gegenstandes< und >intersubjektive Lokalisierung von Dingen oder Geschehnissen< benennt Schwemmer zwei prinzipielle Weisen der eindeutigen Identifikation von Gegenständen, die das Problem von Norm und Kontingenz auf der Folie grundlegender Identifikationskonzeptionen beleuchtet, die sich im Hinblick auf die Herausbildung moderner (natur)wissenschaftlicher Methodologien als relevant erweisen: Einmal können wir durch subjektive Erzeugung eines Gegenstandes dessen Identität bestimmen - und zwar so, daß wir uns sogar (wie scheinbar im Denken und Wollen bzw. allgemein im geistigen oder »inneren« Handeln) von einem vorgegebenen Medium der Erzeugung unabhängig machen und auch dieses (nämlich als System von Symbolen) miterzeugen. Diese Identifikation durch die vollständig beherrschte Produktion des Gegenstandes ist in der gedanklichen Welt des neuzeitlichen Idealismus alleine unserer Vernunft - der res cogitane oder dem Subjekt des Denkens und Wollens - vorbehalten und als Denken, (vernünftiges) Wollen oder Handeln zu beschreiben. Zum anderen können wir durch die intersubjektive Lokalisierung von Dingen oder Geschehnissen an einer bestimmten Raum-Zeit-Stelle eine eindeutige Identifikation von Gegenständen erreichen. Im Unterschied zur subjektiven Identifikation liefert diese intersubjektive Identifikation aber keine interne Beschreibung des Gegenstandes. Sie stellt vielmehr nur dessen Präsenz an einer bestimmten Stelle fest und verbleibt in diesem Sinne dem Gegenstand selbst extern: sie ist eine nicht produzierende interne, sondern indizierende externe Identifikation. Es ist klar, daß diese Identifikation nur für die raum-zeitlichen »Ausdehnungen«, für die res extensa, möglich ist. Der Zusammenhang, der hier aufscheint, ist der zwischen dem Streben nach höchster Eindeutigkeit der Identifikation von Gegenständen - im Rahmen eines allumgreifenden Interesses an logischer Klärung - auf der einen Seite und einer dichotomischen Wirklichkeitsaufteilung zwischen res cogitans und res extensa, zwischen Geist und Natur, Idee und Realität, Bewußtsein und Sein usw. auf der anderen Seite. 32

Mit der »produzierenden internen Identifikation« (A) und der »indizierenden externen Identifikation« (B) eines Gegenstandes sind zwei Handlungstypen bezeichnet, die ihrerseits auf ebensoviele Wissenstypen verweisen, welche im Hinblick auf den zu identifizierenden Gegenstand unterschiedliche Deutlichkeits- oder Evidenzbegriffe voraussetzen. D.h., daß in Abhängigkeit vom Wissenstypus unterschiedliche Annahmen darüber bestehen, wie deutlich ein Gegenstand identifiziert werden kann, wobei sich dieser Unterschied darin äußert, daß in (A) die durch Vernunft vollständig beherrschte Produktion des Gegenstandes eine interne Beschreibung desselben liefert, während in (B) dies nicht der Fall ist, da eine intersubjektive Lokalisierung von Gegenständen diese nicht selbst produziert und insofern denselben extern 31 32

Ebd., S. 193. Ebd., S. 193, Anm. 7.

249 bleibt. Durch diese binäre Aufteilung in Wissenstypen lassen sich in Abhängigkeit von der Identifikationskonzeption zugleich zwei Logikbegriffe explizieren: Der Wissenstypus (A), mit dem eine höchste Eindeutigkeit angestrebt wird, schafft die Gegenstände durch das Denken, wobei diese Gegenstände scheinbar im Raum dieser gedanklichen und insofern >idealen< Welt ihren Ursprung (Genese) haben. In diesem Wissenstypus besteht die Eindeutigkeit darin, daß eine interne Beschreibung der Gegenstände ein Wissen von den konstitutiven, d. h. inneren, Bestandteilen (Elementen) der zu produzierenden Gegenstände voraussetzt, das damit dem dazugehörigen Handlungstypus eine eindeutige logische Basis zur Verfügung stellt und diesem eine kontextfreie rationale Konstruktion von Gegenständen ermöglicht. Der Gegenstand ist damit als Ganzer eindeutig identifizierbar, weil die ihn konstituierenden Elemente ihrerseits eindeutig sind und zwar, weil ein solcher omniszienter Wissenstypus die konstitutiven Elemente des Gegenstandes in Form eines geschlossenen Systems von Symbolen, mit denen Grundbegriffe bezeichnet werden, - selbst definieren kann. Im 17. und 18. Jahrhundert wird ein solcher Wissenstypus gewöhnlich mit dem axiomatisch-deduktiven Denkmodell der Mathematik und Geometrie in Anlehnung an das synthetische Methodenmodell der Euklidschen Geometrie identifiziert. Indem der rationalistische Wissenstypus die Norm mit der res cogitans (Intellekt) gleichsetzt, ist zugleich der Geltungsbereich der Wahrheitsnorm definiert: nur dasjenige ist >wahr< bzw. >evidentaktiven Substanzen·«, darauf hin, daß nach den Wahnsinnsausbrüchen des Demokrits niemand mehr versucht habe, die Behauptung, alle Eigenschaften der natürlichen Körper seien Quantitäten, für wahrscheinlich (verisimile) zu halten. Dabei streicht er die experimentellen Versuche Robert Boyles lobend hervor und merkt an, daß die empirische Naturwissenschaft ohne beweisende Praxis auskomme: »Non tarnen etiam in empiricis illis observavi demonstrandi aliquam peritiam.« 36 Zu der Tatsache, daß im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts ein Rationalitätsbegriff an Bedeutung gewann, in dem Theorie und Erfahrung nicht als einander prinzipiell ausschließende Bereiche des Denkens und des Seins verstanden wurden, trug die experimentelle Methode der Naturwissenschaft, wie sie im Baconismus in England und im Galileismus in Italien im Rahmen wissenschaftlicher Akademien institutionalisiert wurde, entscheidend bei. Das in methodologischer Hinsicht wichtige Element dieser Wissenschaftspraxis bestand u. a. darin, daß ausschließlich im Rahmen eines experimentell-instrumentalen Begründungszusammenhangs nach rationalen Erklärungen der Dinge der physischen Welt gesucht wurde, wodurch einerseits der Erklärungsanspruch notwendig auf einen Weltabschnitt eingeschränkt und andererseits theoretisches Wissen nicht objektunabhängig gewonnen wurde. Damit war zugleich die Voraussetzung gegeben für die sich in diesem Zeitraum ergebende Abkoppelung eines praktisch-empirischen Rationalitätstypus vom geometrisch-mathematischen,

35

36

Vgl. Herbert Jaumann: Art. »Coming«. In: Literaturlexikon, hg. von Walther Killy, Bd. 2 (1989), S. 445-447, Zitat S. 446. Vgl. Comings Brief an Leibniz vom 26. Februar 1678. In: Leibniz (1875, 1978), S. 191.

252 der zwar im Laufe des 18. Jahrhunderts als symbolisches Bezugssystem mit deskriptiv-erfahrungsordnender Funktion neben der Empirie weiterhin eine Verwendung fand (z.B. in der Physik), als logische Denkmethode zur Findung von Wahrheit gegenüber der Empirie aber entschieden in den Hintergrund gedrängt wurde. Deshalb bilden die vom mathematischen Wissenstypus differierende, jedoch nicht untergeordnete lebensweltliche Praxis und die Erfahrung der Kontingenz den Ausgangspunkt für den vom Wissenstypus (B) implizierten Logikbegriff, in dem prinzipiell folgende Annahmen gelten: (i) die sinnlich wahrgenommenen Gegenstände in Raum und Zeit existieren unabhängig vom Bewußtsein des erkennenden Subjekts; (ii) die Gegenstände affizieren seine Sinnesorgane und stossen dabei auf eine >natürliche< Grenze, bei deren Überschreitung ein Sinneswahrnehmungsprozeß in Gang gesetzt wird, bei dem die materiellen Sinnesdaten in der Psyche verarbeitet und die sinnlich wahrgenommenen Gegenstände notwendig verändert werden; (iii) die in der Psyche des Erkennenden sich vollziehende Identifikations- bzw. Erkenntnisleistung produziert somit nicht den Gegenstand selbst, sondern stellvertretend für diesen ein Zeichen, das vom realen Gegenstand aber verschieden ist. Mithin sind die Basis der Identifikation (der reale Gegenstand) und das Resultat der Identifikation (das sprachliche Zeichen), das zugleich zum Identifikationsmittel und zur Basis des Begriffs wird, voneinander verschieden. Da die Logik des realen Gegenstandes, d. h. dessen innere und äußere materiell-räumliche Konfiguration (Sein), und die Logik der Zeichenbildung und der internen mentalen Zeichenverknüpfung (Denken), zwar voneinander nicht unabhängig, aber verschieden sind, ist die Beziehung zwischen externem Gegenstand (Objekt) und zeichenhafter Identifikation desselben in der Psyche des denkenden Subjekts eine >alogischePsycho-Logik< definiert.

2. Giambattista Vicos Konzeption einer scientia

humana

Auf der Basis der zeichenbedingten >Psychologik< kann somit eine die komplexen menschlichen Erkenntnisbedingungen berücksichtigende Wissenschaftskonzeption entwickelt werden. Die Unterscheidung der oben in Teil II, Kap. 2, 1 dargestellten Wissenstypen und Logikbegriffe legt Giambattista Vico seiner in De antiquissima italorum sapientia (1710) vorgenommenen Reflexion über die Ursprungsbedingungen menschlicher Wissenschaft (Mo-

253 dell Β) und der in dieser geltenden Wahrheitsnorm zugrunde, die in der katholischen Welt traditionell im Gegensatz zu göttlicher Wissenschaft (Modell A) gestellt wurde. Damit nimmt Vico unter Rückgriff auf einen pragmatischempirischen Rationalitätsbegriff, dessen zentrale Annahme die Konvertibilität von verum und factum ist, eine Umwertung der Begriffe verum bzw. certum vor. Aus seinem Verständnis des »verum humanum« leitet er seine Definition von Wissen bzw. von Wissenschaft ab: [...] ita verum humanum sit, quod homo, dum novit, componit item ac facit: [...] scientia sit cognitio generis, seu modi, quo res fiat, et qua, dum mens cognoscit modum, quia elementa componit, rem faciat;[...].37

Die Kriterien des Menschlich-Wahren erhalten bei Vico in denjenigen Wissenschaften eine besondere Relevanz, deren Gegenstand die Erforschung der Natur ist, weil es dem Menschen dort zum Bewußtsein kommt, daß ihm die Elemente, aus denen die Dinge zusammengesetzt sind, nicht eigen sind und daß er damit deren Genese nicht kennen kann. Die Unzulänglichkeit ist für Vico, der in diesem Punkt an Spinozas privatio-Begrííí (Ethica, II, Prop. XXXV) anknüpft, durch eine Begrenztheit des menschlichen Verstandes gegeben (mentis brevitate), da diesem alle Dinge, mit Ausnahme von sich selbst, äußerlich sind. Der Mensch hat aber die Möglichkeit, diesen Mangel seines Verstandes (mentis vicium) in einen Vorteil umzuformen, indem er durch Abstraktion sich Gegenstände in Form von Fiktionen vorstellt (z. B. den Punkt) und daraus Welten (z.B. mathematische und geometrische) konstruiert, wofür eine vom Menschen zu leistende Verstandesoperation erforderlich ist. Das Kriterium des Wahren ist aber für Vico nicht von der durch Abstraktion entstehenden Wissenschaft per se gegeben - d. h. die von der Mathematik und ihrer Logik gesetzte Wahrheitsnorm - , sondern aufgrund der Tatsache, daß der Mensch durch eine Verstandeshandlung die (begrifflichen) Elemente einer Wissenschaft erschafft. Indem er diese im schaffenden Akt erkennt, konstruiert er zugleich deren Wahrheit: »Etenim, dum mens colligit eius veri elementa, quod contemplatur, fieri non potest quinfaciat vera, quae cognoscit.«38 Wahrheit (verum) bzw. Gewißheit (certum) ist in diesem Sinne nicht primär durch den erschaffenen Gegenstand als solchen definiert, sondern durch die Handlung (operatio) des Erschaffene selbst und durch die vermittelst des Erschaffenen (factum) sprachlich-zeichenhaft erworbene Erkenntnis (Idee, Begriff). So habe die menschliche Neugierde bei der Erforschung des Wahren, das die Natur dem Menschen verwehre, mit Hilfe dieser ars operativa die Mathematik und Arithmetik geschaffen und aus diesen sei die Mechanik erwachsen, die Vico mit Rücksicht auf das Nützlichkeitskriterium als die Mutter aller menschlichen 37

38

Vgl. Giambattista Vico: De Antiquissima italorum sapientia, 1710, Cap. I, I (De vero et facto). In: Ders.: Opere I, hg. von Giovanni Gentile u. Fausto Nicolini, Bari 1914, S. 123-194, Zitat S. 132. Vico (1710), Cap. I, II (De Origine et Veritate scientiarum), S. 135.

254 Künste bezeichnet, ohne mechanische von handwerklich-bildenden Künsten scharf zu trennen, die für die menschliche Existenz notwendig seien.39 Auf diesem Wege gelang ζ. B. Newton die Konstruktion der mathematischen Bewegungsgesetze der Mechanik durch Abstrahierung von den realen Materiemassen in der Behandlung von reinen Massenpunkten. Für Newton stellte die mathematische Erkenntnisform zur Beschreibung von Naturgesetzen noch eine Wahrheitsnorm dar. Hierin ist er einer Form von Wissenschaftskonstruktion des 17. Jahrhunderts verpflichtet, die formal synthetische, nicht-empirische Teile aufweist, in der aber die Integration von Erfahrung konstitutiv bleibt. Die Anwendung dieser operativen Kunst auf die physischen Gegenstände der Natur bleibt aber für Vico mit einem grundsätzlichen Problem verbunden. Die Entstehung von Wissenschaft aus einem Mangel des menschlichen Verstandes, wodurch dieser den Dingen extern bleiben muß, führt dazu, daß der Verstand die Dinge, die er nicht beinhaltet, um deren Erkenntnis er sich aber bemüht, selbst nicht wirklich schafft. Dies sei nur Gott vorbehalten. Deshalb wird für Vico unter den Wissenschaften eine Differenzierung (Gradation) im Hinblick auf den ihnen zukommenden Wahrheits- bzw. Gewißheitsbegriff erforderlich, die von der Natur des zu erkennenden Gegenstandes abhängt. Dabei erlangen bei ihm die Wissenschaften höchste Gewißheit, die den ihrem Ursprung zugrundeliegenden Mangel dadurch korrigieren, daß sie zu konstruierenden Wissenschaften werden und als solche göttlicher Wissenschaft ähnlich werden.40 Da aber grundsätzlich das konstruktiv-reflexive Abstraktionsprinzip41 zu den Ursprungsbedingungen jeder Wissenschaft gehört, differiert der Gewißheitsgrad in den (Natur-)Wissenschaften im Rahmen eines Spektrums, das von der höchsten Abstraktion von der Materie (Geometrie, Mathematik) bis zu der 39

Vico (1710), S. 136. Vicos Argument fällt in eine Phase des modernen wissenschaftshistorischen Prozesses, in dem bereits seit Galilei die Naturwissenschaft die fruchtbare Verbindung von theoretischer Rationalität (Mathematik) und technischer Praxis (im Experiment) vorgenommen hat. Im ersten Abschnitt dieses Prozesses, der zur Herausbildung einer technischen Rationalität (Instrumente) geführt hat, waren technische, d. h. handwerklich-künstlerische, Praxis und Theorie zwei von einander getrennte Bereiche: »Die erste Phase betrifft die sich im Rahmen der italienischen Werkstättentradition seit dem 15. Jahrhundert allmählich ausbildende technische Rationalität, die zunächst ohne jede Vermittlung mit der akademischen Rationalität der Schulen, d. h. einer praxislosen Theorie, bleibt. Als Praxis der Instrumentenmacher, Schiffsbauer und Geschützgießer bleibt diese Rationalität auf einen handwerklichen Rahmen ohne weiterreichende theoretische Interessen beschränkt. Das ändert sich erst in dem Augenblick, in dem aus pragmatischen Gründen ein gewisser Anschluß an die akademische Theorie gesucht wird, der seinerseits dann zu einer partiellen Theoretisierung dieser technischen Praxis, z.B. auf dem Gebiet der Ballistik, führt.« Vgl. Mittelstraß (1974), S. 20f.

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Vico (1710), S. 136: »[...] eae [sc. scientiae] certissimae sunt, quae originis vicium luunt, et operatione scientiae divinae similes evadunt, [...].« Den Begriff >reflexive Abstraktion< verwendet Wolfgang Krohn in Anlehnung an Jean Piaget in seinem Aufsatz: Die »Neue Wissenschaft« der Renaissance. In: G. Böhme, W. van den Daele, W. Krohn (1977), S. 101-106, bes. S. 102f.

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255 Beobachtung ihrer Bewegung in den makroskopischen (Mechanik), mikround submikroskopischen Bereichen reicht (ζ. B. die mikromechanischen Wissenschaften, u. a. atomistische Physik, Chemie, Physiologie). Vico unterscheidet die Abstraktionsleistung durch das Vorstellungsvermögen der Phantasie im Hinblick auf die Gewißheit der Erkenntnis zwar graduell, aber nicht prinzipiell von derjenigen der geometrisch-mathematischen Wissenschaften. Abstrahiert wird speziell auch in Bereichen, in denen die Grenze der Wahrnehmbarkeit des Naturobjektes überschritten wird oder das >Objekt< nicht die äußere Natur, sondern die inneren >natürlichen< Bewegungen der Seele (Moral) des Menschen betrifft. Er faßt seine evidenztheoretischen Überlegungen wie folgt zusammen: Atque ex his, quae sunt hactenus dissertata, omnino colligere licet, veri criterium ac regulam ipsum esse fecisse: ac proinde nostra clara ac distincta mentís idea, nedum ceterum verorum, sed mentis ipsius criterium esse non possit: quia, dum se mens cognoscit, non facit, et quia non facit, nescit genus seu modum, quo se cognoscit. Cumque humana scientia ab abstractione sit, iccirco scientiae minus certae, prout aliae aliis magis in materia corpulenta immerguntur: uti minus certa mechanice quam geometria et arithmetica, quia considérât motum, sed machinarum ope: minus certa physice quam mechanice, quia mechanice contemplatur motum externum circumferentiarum, physice internum centrorum: minus certa moralis quam physica, quia physica considérât motus internos corporum, qui sunt a natura, quae certa est; moralis scrutata motus animorum, qui penitissimi sunt, et ut plurimum a libidine, quae est infinita, proveniunt. Atque indidem in physica ea meditata probantur, quarum simile quid operemur: et idea praeclarissima habentur de rebus naturalibus cogitata, et summa omnium consensione excipiuntur, se iis experimenta apponamus, quibus quid naturae simile faciamus.42

In Vicos Überlegungen sind zwei Aspekte im Hinblick auf eine anthropologische Fundierung des Wissens relevant: Die Definition des Wahrheitskriteriums durch das verum-factum führt Vico zu der zentralen Distinktion zwischen der Erkenntnis der Idee des Verstandes, die als zeichenhaftes Produkt einer Verstandesoperation eine klare und distinkte Idee darstellt (a), und der Erkenntnis des Verstandes (mens) selbst (b), für die Vico unterschiedliche Wahrheitskriterien annimmt, so daß (a) weder Wahrheitsnorm von (b) noch Wahrheitsnorm von anderen Gegenständen sein kann, die nicht durch diese Erkenntnisoperation erfaßt werden und infolgedessen von ihr abweichende Wahrheitsnormen haben. Dies bedeutet, daß Vico zwischen Erkenntniswirkung, von welcher der Mensch in Form von Zeichenproduktion ein Bewußtsein hat, und Erkenntnisursache unterscheidet, da der Verstand, indem er erkennt, nicht zugleich sich selber produziert und damit Vicos Logik zufolge die Genese seiner Erkenntnis bzw. die Art und Weise, wie kognitive Operationen produziert werden, ignoriert, weshalb nur das Erkenntnisprodukt ein Wißbares darstellen kann. Mit dieser Distinktion wird das Ziel von Vicos Ansatz, die Unterminierung der Positionen der Cartesianer und der Skeptiker, erkennbar. 42

Vico (1710), S. 136f.

256 Von einem den Dogmatikern und Skeptikern gemeinsamen scholastischen Wissensbegriff ausgehend, demzufolge das Wissen ein Ursachenwissen (Genese) der Dinge ist, leite Descartes aus dem Bewußtsein des Denkens (cogito) eine Wissenschaft des Seins (ens) ab, deren absolute Gewißheit und Unbezweifelbarkeit zum Grund der Existenz, des logischen Denkens und des Wissens über die Ursachen der Dinge gelegt wird. Der Skeptiker aber, der das Bewußtsein des Denkens ad usum vitae habe, leugne, daß er ein Wissen über die Ursachen des Denkens besitze und folglich daß eine metaphysische Grundlegung der Existenz und des Wissens möglich sei.43 Die Tragweite der skeptischen Infragestellung zeigt sich für Vico im Zusammenhang mit dem Leib-Seele-Problem. Die sich für die Cartesianer stellende Schwierigkeit, die Interaktion von Körper und Geist zu erklären, zwinge sie zu der Annahme eines arkanen göttlichen Gesetzes, weil Descartes in seinem Spätwerk das Problem der Verbindung von materiellem Sinneswahrnehmungsprozeß (Nerven-Gehirn) und rationaler Verstandeserkenntnis und Willensvermögen in der unausgedehnten immateriellen Seele nur durch das Paradoxon der Lokalisierung der Seele (âme) in der materiellen Hirnanhangsdrüse (glande pinéale) als einem Koordinationszentrum der Sinneswahrnehmungs- und Verstandesfunktionen lösen konnte. 44 Dieses Problem bildet dann den Ausgangspunkt von Leibniz' Erklärungssystem der prästabilierten Harmonie zwischen den beiden voneinander unabhängigen heterogenen Naturen des Leibes und der Seele, das bei ihm zu einem die gesamte Natur (Substanzen) beherrschenden Regulationsprinzip ausgedehnt wird. Diese Maßnahme ergreift Leibniz, um nicht, wie im System Malebranches, die direkte Eingriffskausalität Gottes (Okkasionalismus) in der Welt annehmen zu müssen, die dieser seinerseits u. a. wegen der Inkonsequenzen des Descartesschen Dualismus - die Annahme der Abhängigkeit der akzidentellen Körperwelt und der entsubstantialisierten mechanischen Natur von der Substanz Gottes - zur Korrekur eingeführt hatte. Die Auseinandersetzung mit den Problemen und Aporien des cartesischen Dualismus bildet damit eine zentrale Voraussetzung für Vicos Denkansatz, in dessen Vermeidung der analytischen Verknüpfung von Erkenntnisoperation und Ursachenwissen der entscheidende Ansatzpunkt liegt, durch den er die strenge dualistische Logik in eine >Psychologik< des Erkennens aufzulösen vermag. Mit dem Argument, daß das denkende Ich ein >gemischtes< Wesen aus Körper und Geist sei und insofern Körper und Geist gemeinsam Ursache des Denkens seien, interpretiert Vico die Verstandestätigkeit des

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Vico (1710), Cap. I, III, (De primo vero, quod Renatus Carthesius Meditatur), S. 139. Ebd., S. 140: »[...] dum quaerunt quomodo mens humana in corpus, corpus in mentem agat, cum tangere et tangi non possint nisi corporibus corpora.« Vgl. auch Descartes: Traité des passions de l'âme (1649), Première partie, bes. Art. XII ff. u. XXX ff. sowie Dioptrique, Disc. IV.

257 Menschen nicht als Ursache, sondern als Zeichen (τεκμήριον) 45 seines verstandesmäßigen Seins.46 Dadurch liquidiert er in seiner ontologischen Bestimmung des Menschen implizit die Kategorie der >Ursache< bzw. läßt diese mit der geleisteten Verstandesoperation (Erkenntniswirkung) zusammenfallen. Diese ist in Vicos Wissensbegriff (Wissenstypus B) durch die Relation mit den Objekten der historischen Welt definiert. Die sich zwangsläufig ergebende Verstrickung der Ideen in die Körperlichkeit der sinnlichen Wahrnehmung wird somit für Vico zur konstitutiven Bedingung jeder menschlichen Wissenschaft und jedes von ihm geschaffenen Kulturproduktes. Damit macht er deutlich, daß der bei der Konstitution menschlicher Wissenschaft vorhandene Mangel des Verstandes zwar durch konstruktive Abstraktion umgangen werden kann und gewisseste wissenschaftliche Erkenntnis auf abstraktester Ebene möglich ist, daß aber diese Abstraktionsebene von Wissenschaften in Anspruch genommen wird, die sich als reine Vernunftwissenschaften verstehen und unter bewußter Vernachlässigung der materiellen Objekte operieren, womit den >natürlichen< Erkenntnisbedingungen des Menschen gar nicht entsprochen wird. Diese binden nämlich den Menschen an die Objekte der historischen Welt, so daß der Ursprung menschlicher Wissenschaft durch die Produktion materieller Ideen gekennzeichnet ist, deren zeichenhaft-fragmentarische Natur im Erkenntnisprozeß nicht eliminiert werden und selbst für die Abstraktion konstitutiv bleibt. 47 In der Abhandlung von 1710 legt Vico somit die Basis für die Umdeutung des Gewißheitsbegriffs, die den Kernpunkt der methodologischen Reflexion im wissenschaftsprogrammatischen Kapitel der Scienza nuova (1724/1744) darstellen wird, der die konstruktiven Prinzipien der Geschichtsphilosophie zum Gegenstand hat. 48 Da 45

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Im Griechischen hat das Wort το τεκμήριον primär die Bedeutung von Umstand, aus dem sich etwas entnehmen oder schließen läßt im Sinne von >ErkennungszeichenKriteriumIndizdovette, deve, dovràentia physica< und >entia moralia< als zwei von einander unabhängig existierende Entitäten gehört zu der theoretischen Grundlegung der Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs (De jure naturae et gentium, 1672), auf deren Substrat Vicos kulturtheoretischer Denkansatz zurückzuführen ist und deren Begrifflichkeit wir hier zu deskriptiven Zwecken bewußt verwenden. Die >entia moralia< bilden bei Pufendorf eine autonome Sphäre des menschlichen Handelns, die sich aus der Zuschreibung bzw. Auferlegung (>impositioentia physicaimpositio< wird von Pufendorf bewußt im Gegensatz zum Begriff der Gott zugeschriebenen >creatio< des physischen Universums verwendet, das dem Kausalitätsgesetz unterworfen ist; dieses ist seinerseits durch Uniformität und Invariabilität charakterisiert. Vgl. unter den neueren Forschungsarbeiten zur Naturrechtslehre Pufendorfs und bes. zum Begriff der >entia moralia< Vanda Fiorillo: Tra egoismo e socialità. Il giusnaturalismo di Samuel Pufendorf, Napoli 1992, bes. S. 83-166 u. S. 83 - 92. Zu den wissenschaftshistorischen und systematischen Bedin-

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3. Das Verhältnis von >Wissenschaft vom Menschen< und Naturwissenschaft in der Frühaufklärung: Zur Bedeutung der Anthropologie des Naturrechts für die Grundlegung einer empiristisch-wissenschaftlichen Methodologie Im Hinblick auf die Herausbildung einer Menschenwissenschaft bildet somit die Erkenntnishandlung des Menschen in ihrer Beziehung zur lebensweltlichen Wirklichkeit dieselbe real-objektivierbare Grundlage, von der aus die Naturrechtslehren des 17. Jahrhunderts das menschliche Handeln zu objektivieren versuchen. In einer sich konstituierenden >Wissenschaft vom Menschern werden in sozialtheoretischer Absicht Gesetze des gesellschaftlichen Zusammenlebens formuliert. Die entia moralia bilden in der Pufendorfschen Naturrechtslehre den objektivierbaren Ausgangspunkt für die Konstituierung von Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, in dem der Selbsterhaltungstrieb und die Soziabilität die zentralen naturgesetzmäßigen Voraussetzungen darstellen. Mit der Sphäre des sozialen Lebens und der praktischen Handlungen des Menschen erfährt im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert genau derjenige Wirklichkeitsbereich eine grundlegende Aufwertung, dem nach dem Zusammenbruch der mittelalterlichen hierarchisch-feudalen Gesellschaftsstrukturen im Gegensatz zu der naturgesetzlich geregelten Sphäre der (anorganischen) Natur jede Gesetzmäßigkeit abgesprochen wurde. Diese Aufwertung erfolgt zu einem Zeitpunkt, in dem die die Grundhaltungen des moralischen Handelns steuernden sozialanthropologischen Selbstinterpretationsmodelle des 17. Jahrhunderts - ζ. B. der Pessimismus, die Religion, die Weltablehnung des Neostoizismus - ausgedient hatten und in einer sich prozeßhaft säkularisierenden Welt keine Lösung mehr darstellen konnten. Parallel zu der in wissenschaftsprogrammatischer Absicht durch Francis Bacon formulierten planvoll-experimentellen Methode der Naturwissenschaften zur Erforschung von Gesetzmäßigkeiten der Objekte der physischen Welt in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts (Novum Organum, 1620) theoretisierten die Naturrechtslehrer Samuel Pufendorf und Richard Cumberland in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Möglichkeit einer methodengeleiteten Erforschung der Gesetze des sozialen Lebens. Diese sollten sich ebenfalls auf >realen Objektenmoralischen< Handlungen der Menschen gründen, 51 deren Analyse zudem in

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gungen und Problemen des Wandels der Interaktion von Natur- und Gesellschaftsbegriff im 17. und 18. Jahrhundert vgl. den grundlegenden auf wissenssoziologischer Methodik basierenden Interpretationsansatz von Proß (1978), bes. S. 44-48 u. S. 53-61. Zur methodischen Grundlegung naturrechtlicher Prinzipien bedarf es nach Pufendorf neben der sinnlichen Wahrnehmung und der Perzeption auch der Operationen des gesunden Menschenverstandes (>recta ratiozivilisierter< und >wilder< Völker auf allen Kontinenten über eine solide empirische Basis verfügen konnte. D a b e i wurden die von eurozentristischen Moralvorstellungsmustern >abweichenden< Handlungsnormen relativistisch im Sinne kontextabhängiger Handlungen zur Regelung des sozialen Zusammenlebens gedeutet. 5 2 Eine zentrale A n n a h m e dieser naturrechtlichen A n s ä t z e bestand darin, daß der Mensch ein Naturwesen ist und als solches G e s e t z e n unterliegt, die bereits durch seine anatomisch-physiologische Konstitution definiert sind. Cumberland stützte seine Theorien in De legibus naturae

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( L o n d o n 1672) 53 explizit mit Rückgriff auf die Ergebnisse

exstructam observationibus, quas ipsa natura rerum et hominis suppeditat, et quae a nullo sanae rationis compote in dubium vocari possunt«; vgl. S. Pufendorf: Specimen controversiarum circa jus naturale ipsi nuper notarum, in: E d s Scandica, qua adversus libros de jure naturali et gentium obiecta diluuntur, cap. IV, par. I, S. 187 (1743); (Appendix zu: De jure naturae et gentium libri octo, Lausanne, Genf 1744; zit. nach Fiorillo (1992), S. 14, Anm. 12. Vgl. ebd. auch Kap. I (Tra Mos geometricus euclideo e metodo risolutivo-compositivo), bes. S. 7-25. Vgl. Proß (1978), S. 46, Anm. 33: »Pufendorf beschäftigt sich ausführlich mit solchen >Anomalien< wie Kannibalismus, ritueller Prostitution, Verwandtenmord, ohne darin Beweise gegen die für das Sozialverhalten konstitutive Rationalität entdecken zu können (s. De iure naturae et gentium. Ausg. Amsterdam 1698. Vgl. Lib. II, cap. III De lege naturali in genere, vor allem §§ 7/8, S. 127-130 und § 11, S. 134.« Vgl. auch die von mir benutzte Basler-Ausg. von 1732, die von Jean Barbeyrac übersetzt und kommentiert wurde: Le droit de la Nature et des Gens, ou Système Général des Principes les plus importans de la Morale, de la Jurisprudence, et de la Politique. Traduit du Latin de seu Mr. Le Baron de Pufendorf, Par Jean Barbeyrac [...]. Avec des Notes du Traducteur, & une Préface qui sert d'introduction à tout l'Ouvrage. Quatrième Édition, revûë & augmentée considérablement. Tome Premier. A Basle, Chez E. & J. R. Thourneissen, MDCCXXXII, bes. Chap. III (De la loi naturelle en général), §§ 7f., S. 179-182. In der von mir konsultierten zweiten Ausg. von 1683: Richard Cumberland: De Legibus Naturae. Disquisitio Philosophica, In qua earum Forma, Summa, Capita, Ordo, Promulgatio, & Obligatio è rerum Natura investigantur; Quin etiam Elementa Philosophiae Hobbianae, Cum Moralis tum Civilis, considerantur & refutantur: Authore Ricardo Cumberland; S. Τ. Β. apud Cantabrigienses. Editio secunda, MDCLXXXIII, Lubeca & Francofurti; apud Samuelem Ottonem, Cap. II (De Natura Humana, & recta Ratione), §§ XIII-XXX, S. 96-162. Von Cumberlands Abhandlung erscheint 1744 in Amsterdam und in Lausanne/Genève eine von Jean Barbeyrac übersetzte und kommentierte Ausg.: Traité philosophique des Loix naturelles, où l'on recherche et l'on établit, par la nature des choses, la forme de ces lois, leurs principaux chefs, leur ordre, leur publication et leur obligation: on y refute les Elémens de la Morale & de la Politique de Thomas Hobbes. Par le Dr Richard Cumberland. Traduit du latin par Monsieur Barbeyrac, avec des notes du traducteur, qui y joint celles de la Traduction Angloise. A Amsterdam, Chez Pierre Mortier, MDCCXLIV. Die Ausg. Lausanne/Genève ist, abgesehen von den Kommentaren Barbeyracs, mit der lateinischen identisch und erscheint bei Marc-Michel Bousquet & Comp., der frühere Imprimeur des Genfer Periodikums Bibliothèque Italique, bei dem Haller auch publiziert hat. Vgl. in der Ausg. Lausanne/Genève bes. Chap. II (De la Nature Humaine, & de la Droite Raison), S. 102-182; bes. § XX (zur Generation: u. a. William Harvey, Nathaniel Highmore, John Needham), und §§ XXIII-XXVIII (zum menschlichen Körper: u.a. Thomas Bartholinus, Tho-

261 der Medizin seiner Zeit: 54 Richard Lowers Tractatus de corde (1669) und Thomas Willis' De cerebri anatome (1664) gehörten zu den wissenschaftlich hochstehenden medizinischen Publikationen, die im Kontext der sozialen Reformen der englischen puritanischen Revolution des 17. Jahrhunderts entstanden. 55 Gegen die von Thomas Hobbes im Leviathan (1651) behauptete These, daß der Mensch nicht fähig sein soll, im gesellschaftlichen Verband zu leben, ohne daß die Autorität des Staates den lupus Mensch durch positives Gesetz und Recht bändige, wendet sich Richard Cumberland. Er legt die medizinischen Befunde seiner Intention zugrunde, die Gegenthese zu Hobbes aufzustellen, daß es die gegenüber den Tieren komplexere physiologischanatomische Organisation des menschlichen Körpers sei, welche die Weltwahrnehmung des Menschen begünstige und ihn befähige, in der Gesellschaft zu leben. 5 6 Richard Lower »verknüpft ausdrücklich aufrechten Gang,

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mas Willis, Walter Charleton, Richard Lower, Francis Glisson u. Marcello Malpighi), S. 142ff. u. S. 159-178. Cumberland bezieht sich besonders auf Richard Lower: Tractatus de corde, item de motu et colore sanguinis et chyli in eum transitu, London 1669 und Thomas Willis: Cerebri anatome, cui accedit nervorum descriptio et usus, London 1664. Im Zuge des durch William Harvey ausgeübten Einflusses auf die medizinische Forschung, wobei seine anatomischen und physiologischen Studien in England u. a. von G. Ent, F. Glisson, T. Willis und T. Wharton fortgeführt wurden, zeichnet sich die Periode zwischen 1640 und 1660 durch das Erscheinen zahlreicher medizinischer Werke in lateinischer und englischer Sprache aus. Diese umfassen neben der durch Francis Bacon inspirierten Iatrochemie auch die Gebiete der Embryologie. Darunter gehört z. B. die Robert Boyle gewidmete und nach dem Erklärungsmodell des demokriteisch-pangenetischen Atomismus in Verbindung mit präformationistischen Ideen konzipierte History of Generation (1651) von Nathaniel Highmore. Dieser Generationstheorie zufolge werden organische Körper durch Anlagerung und Wachstum materieller Teilchen gebildet, wobei sich aktive sog. >spirituelle< Atome beteiligen. Vgl. Pagel (1979), S. 432f. Die Rezeption und Übersetzung der Werke des Vesalius, Paracelsus und van Helmont sowie der Anschluß an die Entdeckungen Harveys und die Übernahme seiner Techniken tragen zur Hochkonjunktur der wissenschaftlichen englischen Anatomie und Physiologie dieser Zeit bei, welche die empirisch-experimentell basierte Medizin und Physiologie des 18. Jahrhunderts stark beeinflussen werden. Vgl. Charles Webster: The Great Instauration. Science, Medicine and Reform. 1626-1660, London 1975; vgl. in der von Pietro Corsi hg. u. übers, ital. Ausg.: La grande instaurazione. Scienza e riforma sociale nella rivoluzione puritana, Milano 1980, bes. Kap. IV (Il prolungamento della vita), S. 230ff. u. 256f. An Websters Studien schließen folgende neueren Sammelbände an: The medical revolution of the seventeenth century, hg. von Roger French u. Andrew Wear, Cambridge 1989 sowie Religio Medici. Medicine and Religion in Seventeenth-Century England, hg. von Ole Peter Grell u. Andrew Cunningham, Alderhot Hants 1996. U.a. wird sich Haller im Rahmen seiner Studien zu Gehirn und Nerven im Bd. IV (1762) der Elementa physiologiae mit Willis' Forschungen kritisch auseinandersetzen. Auch Buffons epigenetische Thesen im zweiten Band der Histoire naturelle knüpfen an die Ergebnisse der aristotelisch-harveyschen Tradition an. Die Verteidigung und theoretische Grundlegung des Begriffs der natürlichen Freiheit des Menschen durch Pufendorf gegen die mechanizistisch-deterministischen bzw. pantheistisch-naturalistisch interpretierten Handlungs- und Willenskonzeptionen bei Hobbes und Spinoza ist vom antihobbesschen Ansatz Cumberlands beein-

262 Funktion der Hand, Umweltanpassung beim Menschen und sieht die gesamte anatomische Struktur und Textur im Wechselbezug zu dieser singulären Positur des Menschen«: 5 7 So macht Lower von der Positur des menschlichen Körpers ζ. B. den rascheren und leichteren venösen Blutfluß ins Herz, die Versorgung des Herzens mit spiritus (>LebensgeisternAlogischen< eine zentrale Stellung einräumt. Das entscheidende Kriterium dieses innovativen Wissensbegriffs, in dessen Rahmen der Begriff der >moralischen Gewißheit< das methodologische Pendant darstellt, liegt in der Ableitung der alogischem Erkenntnisbedingungen des Menschen aus seiner >gemischten< geistkörperlichen Erkenntnisdisposition, die einen Logikbegriff erfordert, der die Gleichzeitigkeit von Norm und Kontingenz als dessen konstitutive Voraussetzung erkennt: Die Umkehr der logischen Hierarchien entwickelt ihre eigene Logik, die zur Umkehr des gesamten Weltbildes führen sollte; [...]. Ihr bedeutenster Ansatzpunkt liegt jedoch darin, daß die »conditio humana«, die Erkenntnisbedingungen des Menschen als eines körperlich-geistigen Doppelwesens den Blick auf die methodische Gestaltung der Erkenntnis lenken, die nicht mehr als logische Schlußkette konzipierbar erscheint, sondern Regelhaftes und scheinbar Regelloses gleichermaßen zur Kenntnis zu nehmen sucht; denn die menschliche Natur ist, wie die physische Welt, zwar ideal unter eine rationale Norm zu stellen, aber sie ist gleichzeitig kontingent, einem unendlich vielfältigen Zusammenhang von untereinander verketteten Ursachen unterworfen, der sich rational nicht bewältigen läßt, und diesen Fundamentalwiderspruch hatte niemand schärfer als Spinoza ausgesprochen. 64

Der zu Beginn dieses Kapitels dargelegte Grundwiderspruch zwischen Norm und Kontingenz menschlicher Erkenntnis findet damit einen Ansatz zu seiner Auflösung.

4. Der historische Wandel des Verhältnisses von >Norm< und >Kontingenz< im Spannungsfeld von Philosophie, Theologie und Naturwissenschaft und dessen Bedeutung für die Entwicklung von Naturbegriff und Erkenntnismethode im Rahmen neuer anthropologischer Konzepte nach 1700 Die Einsicht in die Kompräsenz von Norm und Kontingenz, die in epistemologischer Hinsicht auf die menschliche Natur und in kosmologischer Hinsicht auf die physische Welt bezogen werden kann, bildet im 17. und 18. Jahrhundert den Ausgangspunkt für die Suche nach einer Lösung dieses Fundamentalwiderspruchs, die im Spannungsfeld von Philosophie, (natürlicher) Theologie und Naturwissenschaft seit Descartes, Spinoza und Leibniz auf der einen Seite, Galilei und Newton auf der andern angestrebt wird. Dabei erhält die Frage nach der Überwindung der Kontingenz in der physischen Welt, die 63 64

Vgl. ebd., S. 86f. Vgl. Proß (1987) S. 99.

266 Annahmen über die Natur voraussetzt, eine methodologische Relevanz und erfordert darüber hinaus weitere Annahmen über Gott und dessen Beziehung zu der Welt und den Menschen. Dabei sind idealtypisch grundsätzlich zwei sich überlagernde Stadien in der Entwicklung des Verhältnisses der Begriffe von Norm und Kontingenz für diesen Zeitraum zu unterscheiden. Die rationalistischen Systeme Descartes' und Leibniz', mit denen ein erstes Stadium dieser Entwicklung einsetzt, erklären den Mechanismus der Natur, wenn auch mit unterschiedlicher Begründung - die Unveränderlichkeit Gottes (Descartes), die Theodizee (Leibniz) - , grundsätzlich als vollständig autonom und notwendig und verbannen Gott gleichzeitig in die Transzendenz, wo er jede Zuständigkeit für die Vorgänge in der Welt verliert. Die Inkonsequenzen des Systems Descartes' führen zum Okkasionalismus Malebranches in der Überwindung der Kontingenz durch den Eingriff Gottes in der Welt vermittelst der causes occasionelles sowie zu der Überlagerung des cartesischen Mechanizismus mit dem stoizistischen Naturbegriff bei Spinoza, der die Präsenz Gottes in der Welt im Sinne einer ungeschaffenen natura naturans als schöpferisches Prinzip der physischen Welt notwendig macht. In methodologischer Hinsicht bevorzugen diese Systeme die Deduktion, wobei die >Norm< mit dem Denken, das von der Materie dualistisch geschieden wird, gleichgesetzt wird. Die naturwissenschaftlichen Ansätze Galileis und Newton gehen demgegenüber von der Annahme einer nach mathematischen Naturgesetzen geordneten Welt aus, deren Konstanz von Gott garantiert wird. Der Mensch erforscht aufgrund einer empirisch-planvoll geleiteten Analyse der Phänomene auf induktivem Wege diese Naturgesetze - d.h. eine durch Ontologisierung des Naturgesetzesbegriffs verstandene >Normhinter< den Phänomenen existierende Realität verweist, - und formuliert diese mathematisch. Auch das naturwissenschaftliche Weltbild verleiht der Natur grundsätzlich eine vollständige Autonomie. Die Herkunft des Newtonschen Kraftbegriffs ist neoplatonisch: Dort ist Kraft ein allgemeiner spiritus agens der Natur, der bei Henry More in reiner hylozoistischer Form auftritt und in der Naturphilosophie Newtons unter dem mathematischen Aspekt der fernwirkenden Kräfte betrachtet wird. Der Naturbegriff Newtons rückt allerdings durch die Filiation mit der ciceronianischen Naturlehre in die Nähe der stoizistischen Weltseele und der natura naturans. Damit wird die Omnipräsenz Gottes in der Welt erklärt, deren okkasionalistisch-providentialistischer Charakter von den Newtonianern der ersten Generation, insbesondere Samuel Clarke, den materialistisch-deterministisch interpretierten Natursystemen Descartes' und Leibniz' entgegengesetzt wird. Bezieht man die von Wolfgang Proß beschriebene Gleichzeitigkeit von Norm und Kontingenz< auf den Naturbegriff und versteht dieselbe im Sinne einer immanenten Wirkung der >Norm< in der kontingenten Natur, wobei Norm und Kontingenz nicht wesensverschieden sind, so ist die Lösung des

267 Kontingenzproblems im zweiten Stadium angedeutet. Diese ist Frucht einer Entwicklung des anthropologischen Denkens, das erst nach 1750 im Zusammenhang mit der Entstehung und Entwicklung des Organismusbegriffs in den von Leibniz und Georg Ernst Stahl65 beeinflußten > Wissenschaften des Lebens< zum tragen kommt und - besonders in Frankreich (u. a. bei La Mettrie, Maupertuis, Buffon, Diderot, Robinet und d'Holbach) - mit einer neospinozistisch-vitalistischen Idee der Natur gekoppelt ist.66 Diese entsteht geistesgeschichtlich durch die Übertragung des geometrischen Attributenmonismus der denkenden und der ausgedehnten Substanz in Spinozas Gottesbegriff auf die gesamte Natur und durch die Assimilation dieser Substanz mit der Materie, der das Attribut der Sensibilität zugeschrieben wird. Parallel dazu entwickeln sich naturwissenschaftlich-experimentell begründete Organismuskonzepte u. a. bei Abraham Trembley, Charles Bonnet und in der Irritabilitätslehre Hallers. Sie basieren auf einem dynamischen Materiebegriff, durch den attraktive Kräfte auf die lebende Materie übertragen werden, wobei in diesen Ansätzen naturbegrifflich eine gesetzliche >Norm< oder Ordnung der organischen Natur und der Lebewesen angenommen wird. Diese äußert sich z.B. bei Bonnet in der Contemplation de la Nature (1764) im Rahmen einer Konzeption der kontinuierlichen Höherentwicklung der Organisationen, die den Naturprozeß vereinheitlicht. Die Ordnung wird einerseits durch systematische Klassifikation der Arten aus der relativen Position der Innenseite des Natursystems (nach dem von Carl von Linnés im Systema naturae benannten ordo inhabitantis) und andererseits durch das Studium der konstanten Phänomene der organischen Materie konjektural-induktiv ermittelt. Die naturphilosophische Interpretation des organizistischen Naturbegriffs im Sinne Bonnets begreift die Entfaltung der Naturreiche (Mineralien, Pflanzen, Tiere, Mensch) als einen autonomen historischen Prozeß der Natur, der im >Immutabilismus< bzw. >Fixismus< der Gattungen als abgeschlossen gilt und von einem göttlichen Plan garantiert, d.h. gelenkt, ist. Dies kommt einer Historisierung des Naturprozesses als einem naturinhärenten Zweck gleich.67 Diese sich im frühen 18. Jahrhundert gegen den mechanizistischen Naturbegriff Descartes' sich entwickelnde Tendenz der Naturinterpretation greift insbesondere auf naturalistischem Gebiet das heuristische Denkmodell des Atomismus von Gassendi und Boyle sowie die anatomischphysiologischen und iatrochemischen Ansätze der >Wissenschaften des Le65

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Vgl. zum Organismusbegriff von Leibniz und Stahl François Duchesneau: Leibniz et Stahl: divergences sur le concept d'organisme. In: Studia Leibnitiana, Bd. 27/2 (1995), S. 185-212. Zu Interpretation und Rezeption des neospinozistischen Naturbegriffs in Frankreich vgl. Vernière (1954), bes. Kap. IV (Le Néo-Spinozisme), S. 528-611. Vgl. hierzu W. Proß: »Ein Reich unsichtbarer Kräfte«. Was kritisiert Kant an Herder? In: Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften, 1 (1997), S. 62-119, bes. S. 65 u. 72-75.

268 bens< des 17. Jahrhunderts auf (u. a. bei William Harvey, Francis Glisson, Lorenzo Bellini, Giorgio Baglivi, Marcello Malpighi) und wendet diese auf die neuen biologischen Probleme im Bereich der Bildung, Bewegung, Fortpflanzung, Ernährung und Wachstum von Organismen an. Die physikalischen und naturalistischen Ansätze zur Lösung des Kontingenzproblems vermögen ihren Erkenntnisobjekten insofern eine bedingte Autonomie zu verleihen und dieselben grundsätzlich von außerwissenschaftlichen Kontexten herauszuhalten, als die empirische Naturwissenschaft die Frage nach der Beziehung Gottes zu Natur und Mensch aus der abstrakten Systematik von Ontologie und Metaphysik sowie der dogmatischen Theologie herauslöst, in denen die Rationalisierung des Gottesbegriffs das Pendant einer rationalistischen, den Menschen als Vernunftnatur begreifenden Anthropologie bildet. Die Frage wird in eine konkretere >humane< Erfahrungssphäre verlagert, in der das logische Verhältnis dieser Beziehung umgekehrt und zum Ausgangspunkt einer neuen anthropologischen Konzeption gemacht wird. Die Erkenntnis und die Interpretation der Natur durch den Menschen wird als rationales Kriterium gedeutet, das zur Erkenntnis Gottes führt, zumal seit dem erkenntniskritischen Ansatz Lockes und Newtons die Unerkennbarkeit der göttlichen Substanz für den Menschen feststeht, nicht aber die seiner Attribute, von denen die Naturordnung Spuren in Form der Weisheit Gottes enthält. Die Logik des empirischen Zugangs zu Gott setzt prinzipiell zwei Annahmen voraus: a) Gott kann in der Natur und ihren (konstanten) Gesetzen erkannt werden und b) Gott hat dem Menschen natürliche Mittel gegeben, deren Gebrauch zur Erkenntnis der Natur nicht nur legitim ist, sondern auch mit dem göttlichen Willen übereinstimmt. Bereits Galilei zieht in dem berühmten Brief an die Großherzogin der Toskana von 1615 zur Unterstützung der ersten Annahme den Kirchenvater Tertullian heran, der Gott zuerst in der Natur, d. h. in seinen Werken, erkennen und erst dann in der Doktrin wiedererkennen wolle: [...] poi che non ogni detto della Scrittura è legato a obblighi così severi com'ogni effetto di natura, né meno eccellentemente ci si scuopre Iddio negli effetti di natura che ne' sacri detti delle Scritture: il che volse per avventura intender Tertulliano in quelle parole: »Nos definimus, Deum primo natura cognoscendum, deinde doctrina recognoscendum: natura, ex operibus; doctrina ex praedicationibus.« [···] Tertullianus: Adversus Marcionem, lib. I, cap. 18. 68

Wenige Zeilen später folgt die Begründung der zweiten Annahme, indem suggeriert wird, daß die Privilegierung anderer Mittel als die >natürlichen< Erkenntnismittel des Menschen, unmöglich mit Gottes Intentionen zu vereinbaren sei, ohne daß sich dieser widerspreche: 68

Vgl. G. Galilei A Madama Cristina di Lorena Granduchessa di Toscana. In: Galileo Galilei: Lettere, hg. von Ferdinando Flora, Torino 1978, Lettera XIV, S. 123-161, bes. S. 131.

269 Ma che quell'istesso Dio che ci ha dotati di sensi, di discorso e d'intelletto, abbia voluto, posponendo l'uso di questi, darci con altro mezo le notizie che per quelli possiamo conseguire, sì che anco in quelle conclusioni naturali, che o dalle sensate esperienze o dalle necessarie dimostrazioni ci vengono esposte innanzi a gli occhi e all'intelletto, doviamo negare il senso e la ragione, non credo che sia necessario il crederlo, [...]. 69

Im Ansatz enthält Galileis Wissenschaftsbegriff die Möglichkeit der Bestimmung eines einheitlichen methodischen Ausgangspunktes in der Gottes- und Naturerkenntnis, der aber in der katholischen Welt nicht zum systematischen Prinzip eines Weltbildes ausgebaut wird. Im Gegenteil bewirkt die Verurteilung Galileis (1633) nach der Veröffentlichung des Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo (1631) die definitive Trennung von Theologie und Wissenschaft, die in Italien erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts aufgrund der Durchsetzung der kosmologischen und mathematischen Theorien Newtons v.a. in Neapel und Rom im Rahmen des aufgeklärten Katholizismus< von Celestino Galiani und Antonio Genovesi den Weg zu einer methodischen Annäherung wieder finden werden. Dies geschah auf der Basis eines gewandelten entdogmatisierten Theologieverständnisses, das zu einer natürlichen Theologie hingeführt hatte. Die von der römischen Kurie auf die intellektuelle Schicht ausgeübte Herrschaft verhinderte in der katholischen Welt die Ausarbeitung kosmologischer Theorien auf der Basis des kopernikanischen Systems, das die Marginalisierung und die effemere Bedeutung des Menschen im Verhältnis zu der Unendlichkeit des Universums vollends enthüllt hatte, so daß das Ziel der Wissenschaften nicht länger die Erforschung kosmischer Zusammenhänge sein durfte. Descartes verzichtete beispielsweise im Zuge dieser Entwicklung auf die Publikation des um 1634/35 verfaßten Traité du Monde. Die Folge war eine Aufsplitterung in »Einzeldisziplinen, die jeweils einen isolierten Ausschnitt des Kosmos ergründen und in ihrer Gesamtheit eher durch die Einheit der Methode als durch die Gleichheit der Ziele zusammenhängen.« 70 Die Möglichkeit neuzeitlicher Wissenschaft entsteht somit durch eine bewußte Vermeidung des Konflikts mit der theologischen Weltauslegung und gelangt über den strategischen »Ausweg der doppelten Wahrheit« zur Vollendung: Der Bibel und ihrer Auslegung durch die katholische Kirche wurde Geltung eingeräumt und die Ergebnisse der Einzelwissenschaften in ihrem partikulären Bereich akzeptiert. 71 Die in der 69 70

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Vgl. ebd., S. 131. Auf dieses wichtige Konkurrenzverhältnis zwischen Theologie und Wissenschaften, das in Italien paradoxerweise die Entstehung und Entwicklung neuzeitlicher Wissenschaft und Methode geradezu beförderte, hat Leonardo Olschki hingewiesen: vgl. das Kap. Galilei und seine Zeit (1927). In: Ders.: Geschichte der Neusprachlichen Wissenschaftlichen Literatur, Bd. 3, Halle (Saale) 1919-1927, S. 394-405, Zitat S. 399f. Vgl. Olschki (1927), S. 400: »Niemanden wurde verwehrt, den Himmel zu durchforschen, die physikalischen Erscheinungen zu ergründen, mathematisch zu denken, naturgeschichtlich zu forschen und alle Ergebnisse dieser regen Geistestätigkeit in

270 Wahl getrennter Wahrheitssphären angelegten und unvermeidbaren Konflikte hatte Galilei aber bereits vorausgesehen und selbst die »wahre« Interpretation des sensus literalis der Hl. Schrift in Übereinstimmung mit der Erkenntnis in der Sphäre der Natur gefordert.72 Es eröffnete sich mit Galilei zugleich auch die Möglichkeit, auf dem Gebiet der Wissenschaften eine autonome Reflexion über die methodische Konstruktion wissenschaftlicher Gegenstände zu führen, die allein auf den natürlichen Fähigkeiten des Menschen gründete. Den davon ausgehenden Erneuerungsimpuls für den philosophischen und wissenschaftlichen Empirismus im englischen Kulturraum wird noch David Hume in seiner History of England (London 1754-1762) später anerkennen. 73 Durch den Gebrauch seiner Erkenntniskräfte, der sinnlichen Erfahrung {sensate esperienze) und dem logischen Denken (necessarie dimostrazioni), vermag der Mensch Galilei zufolge auf gültige Schlüsse (conclusioni naturali) zu kommen, denen er Sinn (senso) und Rationalität (ragione) zuzuschreiben in der Lage sei. Galilei ist dafür selbst ein gutes Beispiel: Es ist nicht bekannt, daß trotz des Verbots der Inquisition die im Jahre 1638 (also nach der Verurteilung und dem Widerruf Galileis) in Rom veröffentlichten Discorsi dem Pisaner Gelehrten besondere Unannehmlichkeiten verursacht hätten, obwohl die Verurteilung, selbst wenn sie ausblieb, Galilei die gesellschaftliche Isolation bis zu seinem Lebensende nicht erspart hat. Es ist dabei die Annahme plausibel, daß die in den Discorsi behandelten Gegenstände hinsichtlich der Angelegenheiten des Glaubens irrelevant waren, obwohl Galilei immer wieder Hinweise auf die Komposition der Materie gibt und sich deutlich zum Atomismus, der den leeren Raum impliziert, bekennt.74 Die in dieser Schrift entwickelten methodologischen Überlegungen

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der Dienst der materiellen Kultur zu stellen.« Damit war die Voraussetzung für die Entstehung des naturwissenschaftlichen Weltbildes gegeben, das sich im Laufe des 17. Jahrhunderts durchsetzen sollte und innerhalb von dem sich der methodische Gegensatz Wissenschaft-Theologie aufzulösen beginnt. Vgl. den Brief Galileis an Don Benedetto Castelli in Pisa vom 21. Dezember 1613: »Stante questo, ed essendo di più manifesto che due verità non posson mai contrariarsi, è ofizio de' saggi espositori affaticarsi per trovare i veri sensi de' luoghi sacri, concordanti con quelle conclusioni naturali delle quali prima il senso manifesto o le dimostrazioni necessarie ci avesser resi certi e sicuri.« In: Galilei (1978), Lettera XI, S. 105. Vgl. Olschki (1927), S. 404. Olschki betont, daß es der Gesinnung der protestantischen Gelehrten (u. a. Calvinisten und Polyhistoren) entsprach, durch Übersetzung und Verbreitung der Galileischen Schriften in der germanisch-protestantischen Welt die wissenschaftliche Begründung der kopernikanischen Lehre auch theologisch zu untermauern (S. 402f.). Der Grund dafür bestand in Galileis Bestimmung der Grenzen von Glauben und Wissen, von Wissenschaft und Theologie. In dem Brief an die Großherzogin Christine näherte er sich einem Grundprinzip des Okhamismus (und Scotismus) an, dessen Einfluß auf Luther bekannt ist: Das Primat des Willens gegenüber dem Intellekt, wodurch der Glaube von der wissenschaftlichen Rationalität getrennt wird, sollte es ermöglichen, den Weg für den Glauben freizubekommen. Vgl. hierzu die Einleitung von Enrico Giusti in seiner Ausg. der Discorsi: Galilei e

271 waren dafür umso bedeutsamer. Den anthropologischen Wert< dieses von Galilei vollzogenen Schrittes hat Vico in aller Deutlichkeit erkannt. In De antiquissima gibt er eine Interpretation des Wissenschaftsbegriffs Galileis, in der die methodologische Bedeutung des konstruktiven Abstraktionsprinzips in der naturwissenschaftlichen Erkenntnis hervorgehoben wird. In der Physik, sagt Vico in De antiquissima, würden diejenigen Theorien Anerkennung finden, die uns in die Lage versetzen, durch einen operativen mentalen oder praktischen Akt etwas diesen Theorien Konformes zustandezubringen, weshalb im Bereich der naturwissenschaftlichen Disziplinen einem durch Experimente konsolidierten Forschungsresultat (Entdeckung), wodurch etwas der Natur Ähnliches konstruiert werde, höchste Wertschätzung und Akzeptanz unter den Wissenschaftlern zukomme. 75 Dies erfordert für Vico nicht die Einführung der geometrischen Methode in die Physik, sondern des (induktiven) Beweises, wobei der Beweisbegriff in seiner Anwendung auf die physische Welt den Charakter des rein Logisch-Demonstrativen verliert und sich auf ein Beweisverfahren bezieht, das darin besteht, in einem gegebenen ausgewählten Wirklichkeitsabschnitt, einen einheitlichen Erklärungszusammenhang von natürlichem Phänomen, Experiment und geometrischer Theorie herzustellen. 76 Dies sei der wissenschaftliche Ansatz Galileis gewesen, der die Prinzipien der Physik im Lichte der Prinzipien der Mathematik studiert habe und vor der Einführung der cartesianischen geometrischen Methode in der Physik die natürlichen Phänomene induktiv erklärt habe. 77 Es ist hier nicht der Ort, auf die komplexen Probleme der wissenschaftlichen Methode Galileis einzugehen. Generell geht es in seinen Ansätzen zu einer Kinematik der beschleunigten Bewegung (u. a. in bezug auf die schiefe Ebene und den

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le leggi del moto, S. IX-LXIII, bes. S. X. In: Galileo Galilei: Discorsi e Dimostrazioni matematiche intorno a due nuove scienze attinenti alla mecanica ed i movimenti locali, hg. von Enrico Giusti, Torino 1990. Es ist unklar, ob Vico sich hier auf Galileis Methode der mentalen Experimente oder auf die Durchführung von realen Experimenten bezieht. Ob Galilei reale Experimente durchgeführt hat oder nicht ist ein Punkt, für den die Galilei-Forschung nach wie vor noch keine definitive Antwort gefunden hat. Entscheidend ist für unsere Belange, daß für Vico Galileis wissenschaftliche Methode in der Verknüpfung von theoretischem Wissen und Erkenntnisoperationen des Verstandes besteht, die sich auf reale Gegenstände beziehen, wodurch >Erfahrung< (mental oder real) konstruiert wird. Vico (1710), Cap. VII, V (De certa facúltate sciendi), S. 184: »[...] non methodum geometricam in physicam, sed demonstrationem ipsam importandam. Maximi geometrae principia physicae ex principiis matheseos spectarunt, [...] ex recentiores Galilaeus. Ita peculiaria naturae effecta peculiaribus experimentis, quae sint peculiaria geometriae opera, explicare par est.« Ebd., S. 1841: »Id curarunt in nostra Italia maximus Galilaeus et alii praeclarissimi physici; qui antequam methodus geometrica in physicam importaretur, innumera et maxima naturae phaenomena hac ratione explicarunt.« Den Begriff >Induktion< in bezug auf das wissenschaftliche Beweisverfahren Galileis wird in Fausto Nicolinis De antiquissima-Übersetzung verwendet; vgl. Vico (1953), S. 303.

272 freien Fall) um die Ermittlung axiomatischer Prinzipien (mathematische Proportionen) sowie einer mathematischen Methode, die es ermöglichen sollen, akzidentiell beobachtete Bewegungen von Körpern in einer Bewegungstheorie zu vereinen. 7 8 Es ist jedoch für die Zwecke der folgenden Argumentation wichtig, auf den Galileischen Erfahrungsbegriff hinzuweisen, mit dem der Pisaner Naturforscher die Begründungspraxis der aristotelischen (später auch cartesianischen) Wissenschaft überholt und die Basis eines empirisch begründenden Wissenschaftsverständnisses legt, auf das sich auch Haller um 1750 immer noch bezieht. 7 9 Das sich im Hinblick auf Galileis wissenschaftlicher Methode stellende Problem betrifft generell die Bestimmung des Verhältnisses zwischen den interagierenden, jedoch heterogenen Momenten von a) (präexistierender oder supponierter) Theorie, b) (gedanklichem oder realisiertem) Experiment, c) Deduktion von Gesetzen, welche die Kontexte der inventio und der Begründung von Bewegungsgesetzen unterschiedlich konstituieren. 80 Als entscheidender Punkt geht aus Enrico Giustis Darstellung 78 79

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Vgl. Giusti (1990), S. XXVI. Abgesehen davon, daß Haller (z. B. im Briefwechsel mit Charles Bonnet) in historiographischer Perspektive mit den Namen Bacon und Galilei das Programm der neuzeitlichen empirischen Naturwissenschaft und Methode beginnen läßt, erscheint Galilei mit der bedeutenden Ausg. der Dialoghi in der Wissenschaftsgeschichte des frühen 18. Jahrhunderts, die der renommierte Naturforscher Giuseppe Toaldo (1719-1797) auf der Grundlage eines in der Biblioteca del Seminario vescovile zu Padua liegenden Exemplars des Autors (!) 1744 mit expliziter Erlaubnis des Sant'Uffizio herausgegeben hat: vgl. Dialogo di Galileo Galilei, Dove ne i congressi di quattro giornate si discorre sopra i due massimi sistemi del Mondo Tolemaico, e Copernicano; Proponendo indeterminatamente le ragioni Filosofiche, e Naturali tanto per l'una, quanto per l'altra parte. In questa Impressione migliorato ed accresciuto sopra l'esemplare dell'Autore stesso. In Padova, MDCCXLIV. Nella Stamperia des Seminario. Apresso Gio: Manfrè. Con Licenza de' Superiori, e Privilegio. Der Ausg. ist die >Dissertazione sovra il sistema del mondo degli antichi ebrei des D. Agostino Calmet (frz. Original Paris 1720) vorangestellt, »nella quale si spiega il senso dei luoghi della S. Scrittura attenenti a questa materia secondo la comune Cattolica credenza.« Vgl. Toaldos Notiz »A chi legge«, fol. a2r. Vgl. zu dieser adizione toaldina< des Dialogo den textkritischen und philologischen Kommentar in: Galileo Galilei: Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo tolemaico e copernicano, hg. von Ottavio Besomi u. Mario Helbing, 2 Bde., Padova 1998, bes. S. 955959. Ausgehend von einem Brief Galileis aus dem Jahre 1604 an Paolo Sarpi, in dem Galilei Probleme der Kinematik diskutierte [vgl. G. Galilei: Opere, Bd. 10, ed. Nazionale, hg. von G. Barbera, Firenze 1968, S. 115], rekonstruiert und kommentiert Enrico Giusti am Beispiel von Galileis Ermittlung des Gesetzes der Fallzeit ein interessantes Szenario, in dem die gegenseitige Abhängigkeit dieser Momente aufgezeigt und die Rolle des Experiments verdeutlicht wird. Um die »accidenti« der Bewegungen zu beweisen, ermittelt Galilei theoretisch eine mathematische Proportion (die quadratische Relation zwischen Räumen und Zeiten), die ihm zufolge viel »Natürliches« und »Evidentes« an sich habe, und erhebt dieses zu einem Axiom, das er ex suppositione annimmt, um Bewegungsgesetze - z. B. dasjenige der Fallzeit: die von Körpern durchlaufenen Räume sind proportional zu den Quadraten ihrer Zeiten - zu beweisen. Galilei kennt somit schon die Resultate, d. h. die Bewegungs-

273 von Galileis Methode hervor, daß das Experiment nicht dazu dient, ein bekanntes Bewegungsgesetz zu beweisen, sondern dieses aus experimentellen Daten abzuleiten, es also empirisch zu begründen. Während die mathematische Theorie in einem ersten Schritt den methodologischen Status eines heuristischen Mittels einnimmt, d.h. methodische Anleitung zu der Durchführung eines Experiments ist, dient sie in einem zweiten dazu, aus den besonderen experimentellen Daten den allgemeinen Fall zu extrapolieren. D i e mathematische Theorie bestimmt also nicht alle möglichen Resultate a priori, sondern enthält a posteriori allgemein alle besonderen Fälle. Außerdem macht Galileis Begründungs verfahren deutlich, daß seine naturwissenschaftliche Erkenntnis an die Bedingungen der von ihm mental oder real konstruierten Erfahrung, d.h. an die Bedingungen instrumentaler Erkenntnis^ gebunden ist. Auf die methodologische Bedeutung dieses Begriffs in der Entwicklung naturwissenschaftlichen Denkens hat Jürgen Mittelstraß aufmerksam gemacht: An die Stelle der vor-theoretischen Lebenspraxis, die in allen ihren wesentlichen Teilen stets eine elementare Unterscheidungs- und Orientierungspraxis ist, tritt als eine unter bestimmten Zielen eingeschränkte, ursprünglich ebenfalls dem vor-theoretischen Bereich zugehörige Herstellungspraxis die technische Praxis. In dieser technischen Praxis wird unter der Leitung theoretischer Fragestellungen, die, wie nicht anders zu erwarten, noch ganz den Aristotelischen Fragestellungen entsprechen, Erfahrung instrumental erzeugt. Der Galileische Erfahrungsbegriff ist damit im Unterschied zum Aristotelischen Erfahrungsbegriff von vornherein an die Be-

gesetze, zu denen er kommen will. Worauf es Galilei ankommt, ist also nicht die Entdeckung der Gesetze, welche die Bewegung bestimmen, sondern die einer mathematischen Theorie, welche die zuvor erworbenen Resultate miteinander verbindet. Die axiomatisch-deduktive Systematisierung einer Theorie folgt immer den in ihr enthaltenen Annahmen: Es wird nichts als das bewiesen, was man schon kennt. Dies vermag jedoch nicht ein zentrales Problem zu klären: den spekulativen oder empirischen Ursprung der Bewegungsgesetze. Enrico Giusti legt diesbezüglich sein Augenmerk auf Galileis Beschreibung eines Experiments in der Terza Giornata der Discorsi, das sich auf das Gesetz der Fallzeit bezieht und bei dem Galilei das oben genannte proportionale Verhältnis zwischen Räumen und Zeiten ermittelt: »[...] una pallina di bronzo viene fatta cadere per diverse distanze lungo un piano inclinato [...]: i tempi misurati pesando la quantità d'acqua caduta in un bicchiere da un recipiente forato mostrano una relazione quadratica tra spazi e tempi. Da questa esperienza plausibilmente Galilei ricava la legge oraria del moto dei gravi. Si tratta senza dubbio non di una pura e semplice osservazione, ma bensì di un esperimento progettato e interpretato sulla base di una teoria preesistente, che consentirà di inferire, a partire dai risultati di esperimenti condotti su uno o due piani inclinati, delle leggi valide per il moto su piani di ogni pendenza, come pure per la caduta libera. Allo stesso tempo però la teoria soggiacente (la relazione tra momenti della gravità e inclinazione dei piani e come corollario la similitudine qualitativa tra i moti su diversi piani declivi) non limita a priori i risultati possibili ma serve unicamente per estrapolare dai dati raccolti il caso generale, cosicché l'esperienza descritta (e probabilmente realizzata) da Galileo serve non per dimostrare una legge già conosciuta ma per estrarne una dai dati sperimentali.« Vgl. Giusti (1990), S. XXVI f.

274 dingungen einer messenden Physik gebunden; als empirisches Wissen tritt nicht mehr auf, was sich als ein vor-theoretisches Wissen theoretisch fassen läßt, sondern was mit den Instrumentarien einer physikalischen bzw. technischen Praxis (häufig gegen das Erfahrungswissen einer lebensweltlichen Praxis) gewonnen wurde. Daher ändert sich mit dem Begriff der Erfahrung zugleich der Begriff des Empirischen bzw. der Begriff dessen, was empirisch begründet heißen darf. Als >empirisch< oder >empirisch begründet kann im Rahmen des Galileischen, für die Methodologie der Physik in Geltung bleibenden Erfahrungsbegriffes nur noch das Ergebnis einer messenden Praxis bezeichnet werden.81

Die Phase der Entwicklung in der Umstrukturierung des kognitiven Schemas, die von einem egozentrisch-phänomenalen absoluten (aristotelisch-cartesischen) zu einem konstruktiv-relativen Standpunkt des Erkenntnissubjekts (Galilei) führt und dessen »Dezentrierung der Stellung in der Realität« 82 in dem Erkenntnisprozeß bewirkt, ist bei Galilei durch die Einbeziehung des Experiments in den wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß gekennzeichnet. Bei der Übertragung des Begriffs der >Dezentrierung< auf die Beschreibung der Transformation von Erkenntnisschemata im Prozeß der Wissenschaftsgeschichte folgt Wolfgang Krohn Annahmen Jean Piagets zu der Struktur der Intelligenzentwicklung. 83 Dezentrierung ist Piaget zufolge generell mit einer Zunahme und Koordination der aktiven verstandesmäßigen Erkenntnisleistung des Subjekts (reflexive Abstraktion) verbunden als dem »[...] Maß seiner auf das Objekt einwirkenden Aktivität [.,.]« 84 und besteht immer darin, »daß gewisse objektive Erkenntnisse durchschaut werden als vom Erkenntnissubjekt selbst gesetzt.« Im Hinblick auf das Experiment bedeutet Dezentrierung, daß dem Menschen bewußt wird, daß »seine Erkenntnisse bedingt sind durch die Instrumente, die er zwischen sich und die Natur schaltet.« 85 Prinzipiell hängt aber der theoretische Status der Erkenntnisinstrumente des Menschen von der epistemologischen Konzeption ab, d.h. von den Annahmen darüber, wie der Mensch die Welt bzw. die Natur, die außer ihm ist, erkennt, wobei diese Annahmen wiederum mit den Begriffen von >Natur< und >Mensch< gekoppelt sind. Gilt die aristotelisch-cartesische Annahme, daß der Mensch die >Norm< seiner Konstruktionen in der begrifflichen Struktur seiner Vernunft hat, dann stehen »Erfahrungswissen und theoretisches Wissen [...] im Aristotelischen Sinne in einem genetischen und damit zugleich analytischen Zusammenhang, der einen Widerspruch zwischen beiden Bereichen von vornherein ausschließt.« 86 Hier wird Erkenntnis auf 81

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Vgl. J. Mittelstraß: Erfahrung und Begründung. In: Mittelstraß (1974), S. 56 - 83, Zitat S. 65f. Vgl. Jean Piaget: Einführung in die genetische Erkenntnistheorie, Frankfurt/M. 1973 (zit. nach Krohn (1977), S. 22). Vgl. W. Krohn: Die »Neue Wissenschaft« der Renaissance. In: Böhme, van den Daele, Krohn (1977), S. 13-130, hierzu S. 19-22 u. S. 101-106. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 102 u. S. 104. Vgl. Mittelstraß (1974), S. 65 u. auf S. 64f. auch die konzise Darstellung des aristotelischen Erfahrungsbegriffs.

275 der epistemischen Ebene der Verstandesbegriffe für möglich gehalten, die Sinnesorgane, die sinnliche Objekterfahrung (Wahrnehmung) und die experimentell-konstruktive Erfahrung sind hinsichtlich der begrifflichen Erkenntnis sekundär bzw. irrelevant, empirisches Wissen ist prinzipiell Bestätigung des »begrifflich schon Gewussten« (ebd.). Das kosmologische Weltbild, das eine solche epistemologische Konzeption generiert, ist ein statisches und zugleich notwendiges, das von der Antike (Aristoteles) in die mittelalterlichscholastische Kosmos- und Gesellschaftskonzeption übernommen wird und in Descartes' Denken eine Kontinuität aufweist. Tatsächlich führen die seiner rationalistischen Anthropologie zugrundeliegenden theologischen Substrate zu der Annahme, daß die begrifflich-mathematische Erkenntnis der Welt von Gott in die Vernunftnatur des Menschen eingeschrieben worden sei. Analog dazu versteht Thomas von Aquin das Naturgesetz (lex naturalis) als ein regulatives Prinzip der menschlichen Vernunft, dem auch die Triebsphäre (inclinationes) unterstellt ist und das final die Erkenntnis der vernünftigen Gesellschaftsordnung bezweckt. 87 Dies erklärt Descartes' deduktiver Erkenntnisbegriff, der in wissenschaftslogischer Hinsicht zu einem rationalistischen Gebrauch des Instruments der Hypothesen führt und der in kosmologischer Hinsicht in eine vollständige Mechanisierung der Natur mündet, auf die Descartes den Begriff des (notwendigen) Naturgesetzes anwendet. 88 In ähnlicher Weise leitet Galilei die mathematische Normativität partikularer Bewegungsabläufe in der Natur von der Annahme ab, daß Gott das »große Buch der Natur in mathematischen Lettern« geschrieben habe, zu deren induktiver Erkenntnis Gott den Menschen durch dessen sinnlich-rationale Erkenntnisstruktur befähigt habe. Die Abkoppelung der Wissenschaft von der Religion sowie die Geltung der wissenschaftlichen Erkenntnis in ihrem partikulären Bereich ist für Galilei insofern unproblematisch, als er davon überzeugt ist, daß die Erkenntnis der mathematischen Norm< der Natur als Ort der Evidenz mit der Erkenntnis der >göttlichen Norm< bzw. >Wahrheit< nicht im Widerspruch steht. Galileis Erkenntnisinstrumente und damit auch die 87 88

Vgl. hierzu die Analyse von Borkenau (1934), repr. (1988), S. 25-35. Zum Ursprung des neuzeitlichen Begriffs des Naturgesetzes im juristischen und philosophischen Kontext vgl. Edgar Zilsel: Die Entstehung des Begriffs des physikalischen Gesetzes. In: Ders.: Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft, hg. u. übers, von Wolfgang Krohn, Frankfurt 21985, S. 6 6 - 97; zuerst erschienen als: The Genesis of the Concept of Physical Law. In: Philosophical Review, 51 (1942), S. 245 - 279; vgl. auch Borkenau (1934), repr. (1988), S. 363f. u. bes. das Kap.: Der Begriff des Naturgesetzes, S. 15-96. Vgl. hierzu grundlegend Merio Scattola: Das Naturrecht vor dem Naturrecht. Zur Geschichte des >ius naturae< im 16. Jahrhundert, Tübingen 1999. Mit der Durchsetzung des induktiv-experimentellen Zuganges zur Natur, etwa im Forschungsprogramm des Baconschen Empirismus, an den auch Hallers Physiologie anknüpft, verliert der Naturgesetzesbegriff seinen Notwendigkeitsgehalt (wie er in rationalistischen Gesellschafts- und Naturbegriffen behauptet wurde) zugunsten einer Interpretation als empirische Regelmäßigkeit, da sowohl die Natur als auch der Mensch in den Bereich der Kontingenz zurückfallen.

276 bei ihm vollzogene Dezentrierung des Erkenntnissubjekts sind einem mechanizistischen Naturbegriff verpflichtet, dessen rationale Erkenntnisnorm das (auch ästhetische) Ideal der Mathematik (mathematische Ideen) ist. Diese werden in den Dienst eines Wissenschaftsbegriffs gestellt, der sich die vollständige Mathematisierung der (partikulären) Gesetze der Natur, d.h. die systematische Erfassung aller physikalischen Bewegungstypen in einer mathematischen Theorie,89 programmatisch zum Ziel setzt. Ist die logisch-mathematische Abstraktion, wie von Jean Piaget beschrieben wird, eine Operation der Reflexion im physikalischen und psychologischen Sinne, also eine Projektion auf die Ebene des Denkens - im Gegensatz zum praktischen Handeln bzw. zum konkreten objektbezogenen Denken in Erfahrungsbegriffen und Beobachtungssätzen - , dann sind reflektierende Abstraktionen, also Neukonstruktionen und Neukombinationen auf der Ebene des reflexiven Denkens, tautologisch. Somit stellen sie reflexive Umformungen der vorhandenen Elemente dar: »[d]adurch wird nun auch verständlich, warum die Konstruktion der logisch-mathematischen Strukturen strenggenommen weder Erfindung noch Entdeckung ist [.,.].« 90 Über den Begriff der Abstraktion muß man sich aber verständigen, wenn mathematische Konstruktion hinsichtlich von Prozessen in der Körperweit >erfinderisch< sein soll. Diesbezüglich ist es relevant, zu bemerken, daß Isaac Newton, der die Galileisch-Descartessche mathematische Mechanik wesentlich revolutioniert hat, um auf dem Begriff der Kraft ein neues Mechanismusmodell und eine neue Idee der Natur und des Kosmos zu begründen, gerade auf dem Gebiet der Mathematik eine bahnbrechende Erkenntnisleistung er89

Daß Galilei aber im Rahmen seines Wissenschaftsprogramms bestimmte Denkschritte nicht vollzieht und sich für Problemlösungen entscheidet, welche die Basisprinzipien seines Mathematikverständnisses aufrecht erhalten, zeigt die Inadäquatheit seines Mathematikbegriffs im Hinblick auf die beschleunigte Bewegung: Galilei verzichtet auf die Verwendung des Konzepts der Gesamtgeschwindigkeit als einer Integration von momentanen Geschwindigkeiten. Er wandelt das Konzept des >momentum< (oder instantané Geschwindigkeit) nicht in eine operable Infinitesimalgröße um. Die Möglichkeit, nicht-homogene Größen, Infinitesimalgrößen (oder instantané Indivisibilien) mit makroskopischen Größen von Raum/Zeit zu multiplizieren, wird nicht akzeptiert. Dies führt Galilei dazu, bezüglich der Darstellung von Geschwindigkeitsmomenten auf (rhetorische) Formulierungen zurückzugreifen, die an die mittelalterliche Impetustheorie (>virtus motivaerfindet< und es auf die mathematische Behandlung von Kraftbewegungen in rotierenden Bewegungssystemen (Planetentheorie) anwendet, konnte sich dem Vorwurf entziehen, mit dem Begriff der >vis attractiva< die aristotelischen >causae occultae< in die Physik wiedereingeführt zu haben. Mathematische Erklärbarkeit des Kraftbegriffs und Operabilität desselben in der Erklärung von Bewegungsphänomenen schließen bei Newton nicht notwendig eine physikalische Letztbegründung der Kraft ein.

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Vgl. Piaget (1973), zit. nach Krohn (1977), S. 21.

277 brachte, mit der er gleichzeitig einen epistemischen Wandel vollzog. Der ingeniöse Schritt in seinem mathematischen Erkenntnismodell, in das er seinen Kraftbegriff integrierte, bestand darin, Infinitesimalgrößen mit makroskopischen Größen (Raum, Zeit, Geschwindigkeit, Kraft), also heterogene Größen, miteinander in Beziehung gesetzt zu haben, in einer Form, die vorher noch nicht da gewesen war. 91 Der Vorgang der inventio selbst mußte gegebene mathematische Denkstrukturen und -schemata aufbrechen; ein Vorgang, der nicht rein durch abstrakt-logische Denkoperationen vor sich gehen oder auf solche reduziert werden konnte. Newtons methodischer Schritt der Deduktion von der Erfahrung bzw. von den Phänomenen ist deshalb ein komplexer wahrnehmungspsychologischer Vorgang, der die Sinnesorgane und damit sinnliche Wahrnehmung, Vorstellung und Empfindung nicht ausschließt. Hypothetisches Denken als heuristisches Instrument empirisch-mathematischer Naturwissenschaften - also hier speziell die überempirische Hypothese, die Newton seiner dynamischen Bewegungstheorie (Zentralkräfte) zugrundegelegt hat, - wird für Haller um 1750 kompatibel mit einer gewandelten Konzeption des Menschen, dessen Erkenntnisweise nunmehr von der anatomischen Struktur des Gehirns und der Psychophysiologie der sinnlichen Wahrnehmung abhängig gemacht wird. Und der Sinneswahrnehmungsprozeß ist, zumindest für den Teil, der sich in Nervenfibern und Gehirnmark abspielt, materieller Natur. Haller weist in der Hypothesenschrift explizit auf Newtons Verwendung von Hypothesen hin: der Calculus infinitesimalis sei auf einer Hypothese gegründet, so auch die Annahme einer subtilen Materie oder Äther in der Query 21 der Opticks von 1717. Mathematische und physikalische Hypothesen übernehmen gegenüber empirischen Phänomenen eine Erklärungs- und Begründungsfunktion, ohne selbst ihren fiktionalen Charakter aufzugeben: Es ist wahr, diese spröde Schöne, die Mathematik, ist den Hypothesen nicht so feind, als sie sich anstellt: sie sieht sie als eine Schwachheit an, deren sie sich schämet, und sich derselben doch nicht ganz entziehen kann, und sie kommt hierinn mit der irdischen Schönen [sc. die Physik] überein. Der große Vorzug der heutigen obern Mathematik, diese verblendende Meßkunst des Unermeßlichen ist auf eine bloße Hypothese gegründet. Newton, der Zerstörer der willkührlichen Meynungen, hat dieselben nicht gänzlich entbehren können. Wie am Leibe des Achilles, muß doch an seiner Sehkunst eine verwundbare Stelle seyn, wie könnte sonst ein Euler, und sogar ein Mahler, Gautier dieselbe widerlegen? Seine allgemeine Materie [sc. der Äther], das Mittel des Lichts, des Schalls, der Sinne, der Schnellkraft, war es nicht eine Hypothese? Und da dieser Prometheus sich näher zur Erde lenkte, da er die Zeiten ausmessen, und den Begebenheiten feste Schranken setzen wollte; war er nicht gezwungen, willkührliche und gar sehr einem Zweifel unterworfene Meynungen zum Grunde zu setzen?92

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92

»[...] die Zentralkraft [beschreibt Newton] als eine Sequenz infinitesimaler diskreter Kraftstösse, die in infinitesimalen Zeitintervallen wirken.« Vgl. Neuser (1995), S. 69. Vgl. Haller in Buffon/Daubenton (1750), S. IX-XXII, Zitat S. XIII £

278 Der poietische Charakter der Hypothese wertet bei Haller die anthropologische Kategorie der imaginatio (Einbildungskraft) wieder auf, die Francis Bacon in seiner Aufteilung des Wissens nach den Erkenntnisformen des menschlichen Verstandes der Poesie zugeordnet hat. 93 Die Imaginatio bezeichnet Haller in den Elementa physiologiae corporis humani als eine Fähigkeit des Verstandes zur Erneuerung des sinnlichen Eindrucks, deren sich insbesondere die Dichter bedienen; 94 aber auch im wissenschaftlichen Kontext weist Haller der Einbildungskraft, die in der Hypothese mit abstrakt-rationalen Denkelementen eine Verbindung eingeht, gerade wegen ihrer Abhängigkeit von der Körperwelt in dem Entdeckungszusammenhang naturwissenschaftlicher Erkenntnis, von dem die Mathematik nicht ausgenommen ist, eine indispensable Rolle zu. Die Wiederaufnahme und Ausdehnung des Galileischen Wissenschaftsprogramms auf weitere Bereiche der physischen Welt durch die Galileische Schule (u. a. Benedetto Castelli und Evangelista Torricelli) erreicht mit Giovanni Alfonso Borelli auch Partikularbereiche der organischen Natur. In seiner Schrift De motu animalium (Rom 1680/81) versucht Borelli die Muskelbewegungen einer geometrischen Analyse zu unterziehen, wodurch der Etablierung der Disziplinen der >Iatromechanik< und >Iatromathematik< der Weg geebnet wurde. In Deutschland haben sich u. a. Friedrich Hoffmann und später Georg Ehrhardt Hamberger dieser Methode verschrieben, letzterer auf der apriorisch-mathematischen Begriffsbasis der Leibniz-Wolffschen mechanizistischen Dynamik, die im frühen 18. Jahrhundert die antireduktionistische Reaktion der animistischen Organismuskonzeptionen (G. E. Stahl) hervorrief. Mit der Iatromathematik wurde auch der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausgetragene Konflikt mit den empirischen Ansätzen in Medizin und Physiologie vorbereitet, die ebenfalls das geometrisch-mathematische Explikationsmodell als theoretisches Bezugssystem für ihre Objekte ablehnten, allerdings unter gleichzeitiger Abwehr des Animismus. Die 93

94

Vgl. Francis Bacon: De Augmentis Scientiarum, L. II, Cap. I. In: Ders.: The Works, hg. von J. Spedding, R. L. Ellis und D. D. Heath, Bd. 1, London 1858, Ndr. 1961, S. 494. Vgl. Haller: Elementa physiologiae, Bd. V (1763), Lib. XVII (Sensus interni), Sect. I, § VII (Memoria. Imaginatio), S. 541-543, bes. S. 542: »[...] imaginatione vivida excellunt, ut sensationes vetustas pene aeque valentes sibi repraesentent, ac quidem fuerunt, cum primum sensorio organo se offerrent. [...] facit, hoc poetas.« Haller verweist in seiner sinnesphysiologischen Analyse dieses Erkenntnisvermögens auf Arbeiten u. a. von Ludovico Antonio Muratori, Etienne Bonnot de Condillac, Charles Bonnet und Christian Wolff. Zur »physiologischen Ätiologie der Einbildungskraft« in Muratoris Traktat Della forza della fantasia umana (Venezia 1745) und dessen Rezeption im Deutschland des späten 18. Jahrhunderts vgl. Gabriele Dürbeck: Einbildungskraft und Aufklärung. Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750, Tübingen 1998, bes. 139-147, Zitat S. 146. Dürbeck widmet sich auch Hallers Konzeption einer psychophysiologischen Determinierung der Einbildungskraft, vgl. ebd., S. 147-152.

279 empiristische Wissenschaftskonzeption, welche die medizinischen Befunde zum menschlichen Körperbau in ihre Reflexion über die Erkenntnis einbezieht, geht davon aus, daß die die Natur erkennenden Instrumente des Menschen die Sinnesorgane sind, so daß jede Erkenntnisoperation und jede reflexive Konstruktion des Subjekts nicht unabhängig von der anatomischen Struktur der Sinnesorgane und des Gehirns sind. Damit wird aber jede Subsumierung von Erfahrungswissen unter eine vernunftmäßig-abstrakte apriorisch angenommene Begriffsstruktur des menschlichen Verstandes sowie jede direkte Zuordnung von Naturobjekten und Phänomenen zu einer mathematisch-rationalen Erkenntnisnorm prinzipiell zum Problem. Der historische Prozeß der Entwicklung des Verhältnisses der Begriffe von Norm und Kontingenz, der auf naturbegrifflicher Ebene im 17. und 18. Jahrhundert durch die Ausdifferenzierung zweier sich überlagernder Interpretationsmodelle der Natur gekennzeichnet ist,95 erhält auf epistemologischer Ebene ein Gegenstück, das im Prozeß der Veränderung der Erkenntnissubjekt und -objekt-Relation besteht, parallel zu der naturbegrifflichen Ebene verläuft und diese seinerseits überlagert. Diese beiden Prozesse vollziehen sich im Rahmen eines komplexen triadischen Relationsgefüges, in dem (a) Naturbegriff, (b) Erkenntnismodell und (c) Konzeption des Menschen zueinander in Beziehung treten und interagieren. Das Problem, das eine empiristisch konzipierte Wissenschaft des Organischen gegenüber iatromechanischen Ansätzen stellt, ist grundsätzlich ein epistemologisches: Die eindeutig identifizierbaren Objekte der organischen Natur werden in diesen Ansätzen in ein mechanizistisches Interpretationsschema assimiliert, das einer deduktiv-rationalistischen Methode folgt, d.h. die Objekte werden »vermittels der [diesem Interpretationsschema] verfügbaren Begriffe und Operationen erfahren.« 96 Beispielsweise ist der Gegenstand der Leibnizschen Dynamik in dem Specimen dynamicum (1695) die vis derivativa physi95

96

Traditionell wird ein mechanizistischer einem im weiteren Sinne vitalistisch-organizistischen Begriff der >Wissenschaften des Lebens< entgegengesetzt, wobei diese systematische Differenzierung konkrete historische Situationen nur ungenau zu erfassen vermag. Da Wissenschaftsprogramme auch gegenläufige Tendenzen einschließen, müßte generell zwischen den jeweils anerkannten Basisbegriffen bzw. empirischen Gesetzen und metaphysischen Annahmen über die Natur der Lebensphänomene unterschieden werden. Forschungsansätze, die submikroskopische Strukturen (z. B. kleinste organische Materiestrukturen wie die Muskelfiber) untersuchen, werden als mechanistisch bezeichnet, obwohl die gleichzeitige Annahme von Kräften, die nicht mechanisch erklärt werden können, nicht unter dem Denkmodell >Mechanizismus< zu subsumieren sind. Vgl. Krohn (1977), S. 20. Den Vorteil des Erklärungmodells Piagets zur Transformation von Erkenntnisschemata gegenüber Thomas S. Kuhns Paradigmenwechselmodell beschreibt Krohn so: »Kuhn vergleicht Entdeckungen, Theorien und Weltbilder - insgesamt also Produkte wissenschaftlicher Tätigkeiten sowie deren sozialen Rahmen. Piaget untersucht dagegen die Bildung intellektueller Operationen als die Mittel, Tatsachen, Theorien und Weltbilder zu erzeugen« (ebd.).

280 kalischer Körper. Deren Assimilation (= abstrakt-mentale Konstruktion) in ein mechanistisches Naturmodell erfolgt durch die im Modell verfügbaren Grundbegriffe der Bewegung (vis derivativa, conatus, nisus, impetus etc.) und der Kraft (vis insita, vis viva/vis mortua etc.), die mathematische Entitäten sind. In dieses Begriffssystem assimiliert nun die Iatromathematik die organischen Körper, wie bereits aus dem Titel einer medizinischen Schrift des Physiologen Georg Ehrhardt Hamberger (1697-1755) aus Jena, »eine[m] der angesehensten Vertreter der iatromathematischen Schule«, hervorgeht: Physiologia medica, de actionibus corporis humani sani doctrina, mathematicis atque anatomicis principiis superstructa (Jena 1751).97 Daher sind im Hinblick auf die Erkenntnisoperationen des Subjekts die Leistungen der assimilativen Konstruktionsart »konservativ und darauf gerichtet, möglichst viele Objektklassen mit den verfügbaren Mitteln der Erkenntnis zu formen, was sich später häufig als eine egozentrische Deformation der Objekte erweist.«98 Dies ist ein zentraler Punkt, den Haller an der Cartesisch-Wölfischen Wissenschaftskonzeption, die dieser Konstruktionsart folgt, kritisiert. Die Bestimmung der Elemente und der Figur organischer Materie sowie die Zuweisung von Eigenschaften, die von abstrakten Verstandesoperationen nach mathematischen Evidenzkriterien abgeleitet sind, habe insbesondere in der Medizin zu Objektverzerrungen geführt. Haller erwähnt ausdrücklich die nach notwendigen mechanischen Prinzipien (Materie, Bewegung) erklärte Bildung des menschlichen Körpers im Traktat De formato foetu Descartes', an die in methodischer Hinsicht Caspar Friedrich Wolff in seiner Theoria generationis (1759), explizit in der deutschen Fassung Theorie von der Generation von 1764, anknüpfen wird:99 97

98 99

Vgl. Heinrich Häser: Lehrbuch der Geschichte der Medizin und der epidemischen Krankheiten, Dritte Bearb., Bd. 2, Jena 1881, S. 588f. Zu Hallers Auseinandersetzung mit Hamberger über die Problematik des Respirationsaktes vgl. u.a. ebd., S. 572. Vgl. von Hamberger auch die Schriften Elementa physiologiae, Jena 1757 u. Elementa physices methodo mathematica in usum auditorum conscripta, Jena 1727 (31757). Vgl. Krohn (1977), S. 20. Vgl. Caspar Friedrich Wolff: Theorie von der Generation, Berlin 1764, I. Abschn. (Begriff einer Theorie von der Generation), S. 2-14, bes. S. 5 - 7 . Wolff schließt natürlich nicht an die Inhalte, sondern an den Erklärungsbegriff der Generationstheorie Descartes' an. Dabei erfolgt der Schluß auf die Existenz einer >vis essentialis< als bildendes Prinzip der amorphen anorganischen Materie, durch deren immanenten Formation zu einem organischen Körper sich zugleich das Gesetz der Generation konstituiert, nicht a priori, sondern aufgrund von Beobachtung (Phänomene) und Experiment. Wolff zufolge erklärt derjenige die Generation richtig, der »ex traditis principiis & legibus partes corporis & modum compositionis deducit.« Vgl. Wolff: Theoria generationis, Halle 1759, §§ 1 - 5 , S. 5 (begleitet von einer Einführung von Robert Herrlinger sind beide Texte von Wolff im Ndr. Hildesheim 1966 erschienen). Ein epistemologisches Problem ergibt sich somit auch im Rahmen einer empiristischen Wissenschaftskonzeption. Seine Virulenz bezüglich des Naturbegriffs (Vitalismus/Materialismus vs. Mechanismus) manifestiert sich um 1760 in der Auseinandersetzung zwischen Wolff (Epigénesis) und Haller-Bonnet (Präforma-

281 Atque nihil fuit proprius, quam ut everteret universam & naturalem Philosophiam, & imprimis artem medicam. [...]. Non aliud vero praecipitis animi pignus edidit evidentius, quam illum de formato foetu Tractatum, quo mechanicas necessitates structum corpus humanus finxit, ut ubique experimentis iret contrarius. 100

Die von Haller erkannte Inadäquatheit der mathematischen Erkenntnisform in der Medizin erfolgt vor dem Hintergrund einer Distinktion im Wahrheitsbegriff, die eine Verschiedenheit in der Konstruktionsart der Objekte impliziert. Das Problem ist nicht die Handlung des Konstruierens von Erfahrungsobjekten selbst (z. B. die induktiv-experimentelle Konstruktion von wissenschaftlichen Gesetzen der Natur), sondern die wissenschaftliche Konstruktion der Objekte der organischen Natur aufgrund eines Konstruktionsmodus', der für mathematische Objekte und deren Wahrheitsbedingungen gilt und deshalb nicht auch für alle Objekte der Erfahrung gelten bzw. auf diese übertragen werden kann. Deshalb ist im Bereich der organischen Körper eine (experimentelle) Konstruktionsart erforderlich, die sich auf diesen spezifischen Wirklichkeitsbereich der physischen Welt bezieht und vom Erkennenden aber eine Akkomodation abverlangt: »Die Erfahrungen, die hier [sc. bei den Erkenntnishandlungen des Subjekts, das begriffliche >Objekte< konstruiert,] gesammelt werden, betreffen die Eignung und Anpassung der intellektuellen Instrumente an die objektive Realität (Akkomodationen des Subjekts).« 101 Die Medizin bezeichnet Giambattista Vico deshalb als eine »konjekturale Kunst«, weil sie nicht über die Vollkommenheit metaphysischer Formen im Sinne von begrifflichen Entitäten oder Ideen verfüge, wie sie hingegen der synthetischen Geometrie eigen seien, die ihr ermöglichen, aufgrund von Postulaten und quantitativen Grundbegriffen die Elemente zu koordinieren und so die zu beweisenden Wahrheiten zu konstruieren. Aus diesem Grund sei diese Form von Geometrie in ihren Verfahren und in ihren Resultaten äußerst gewiß. 102 Die Medizin gehöre im Gegensatz zur Malerei, Skulptur, Plastik und Architektur zu denjenigen Künsten, die nicht zeigen, wie sie bzw. ihre Elemente entstehen, weil der menschliche Verstand keinen Prototyp der Dinge habe, von denen er Konjekturen mache. 103 Also macht Vico die Erkenntnis- bzw. Konstruktionsform, d.h. die Art und Weise der Akkomodation der Instrumente des menschlichen Verstandes, von der Beschaffenheit des zu erkennenden bzw. konstruierenden Gegenstandes abhängig. In der mathematisch-synthetischen Konstruktionsart sind sowohl die Objekte als auch die Regeln ihrer Verknüpfung bekannt; das Subjekt lernt seine Handlungen, die hier mathematische Handlungen sind, an ideal gedachten Objekten kennen. Haller argumentiert diesbezüglich ganz ähnlich: tion) um die Interpretation der Begriffe >PhänomenDeduktionSichtbarkeitUnsichtbarkeit< und >Existenzreflexiven Abstrakt i o n gerade für den Bereich logisch-mathematischer Konstruktionen einführt, rührt dies daher, daß [d]ie reflexiven Abstraktionen [...] innerhalb der Handlung stattfinden] und nicht innerhalb der Eigenschaften, die vom Objekt abstrahiert werden*. Sie ergeben sich aus der Erfahrung, die der Mensch mittels beliebiger Objekte über seine eigenen Bewegungen sammelt, und führen somit dazu, die eigenen Handlungen wie auch die äußeren Gegebenheiten zu strukturieren. Deshalb gelangen die allgemeinsten Handlungen, statt ihre Struktur vom Objekt zu abstrahieren, im Gegenteil dazu, dem Objekt Eigenschaften hinzuzufügen, die von der menschlichen Aktivität herrühren und eines Tages reflexiv und »abstrakt«, d.h. ohne jegliche Anwendung auf aktuelle Objekte ausgeführt werden können.105

Eine solche Form der Akkomodation des Erkenntnissubjekts an die Objekte der physischen Natur, die im Rahmen eines Wissenschaftsbegriffs erfolgt, der für diesen Realitätsbereich dieselben Wahrheitskriterien beansprucht wie die logisch-demonstrativen Verfahren der Mathematik, ist von der Form der Objektassimilation unter vorgegebene Begriffe nicht mehr zu unterscheiden. Das reale Objekt der Natur wird zum abstrakten Begriff in Analogie gesetzt, so daß die Aussagen über die natürlichen Objekte und deren Phänomene nicht von diesen selbst, sondern vom allgemeinen Begriff abgeleitet werden: Ich habe Bücher von mathematischen Lehrern gesehen, die vom Bau des menschlichen Leibes geschrieben haben, und die von ihrer Arbeit alles unerläuterte zu verbannen sich verbunden glaubten. Wie unzureichend, wie abgebrochen, wie allgemein, wie unbestimmt haben sie reden müssen, um das Wahrscheinliche zu vermeiden?106

Der negativen Interpretation des Begriffs des Wahrscheinlichen, wie sie Haller den Iatromathematikern zuschreibt, liegt die dualistische Trennung von Intellektualwelt und physischer Objektwelt zugrunde. Die cartesianisch-leibnizianische Wissenschaftstheorie, der die Iatromathematik verpflichtet ist, nimmt auf der Grundlage der Trennung von notwendiger Vernunftwahrheit und kon104 105 106

Vgl. Haller in Buffon/Daubenton (1750), S. XIII. Vgl. Piaget (1973), zit. nach Krohn (1977), S. 21. Vgl. Haller in Buffon/Daubenton (1750), S. XIV.

283 tingenter Tatsachenwahrheit unterschiedliche Erkenntnisbegriffe an, die hinsichtlich ihres Wahrheitsgehalts hierarchisch gewertet werden. D a s Notwendigkeitsdenken des Logisch-Demonstrativen o r d n e t der dualistische E r k e n n t nisbegriff n u r der Intellektualwelt der abstrakten Verstandesbegriffe u n d Zeichensysteme zu, in d e r e n Bereich auch die Begriffe >Wahrheit< bzw. >Gewißheit< und >Evidenz< definiert werden, w ä h r e n d den Aussagen über die O b j e k t e d e r kontingenten physischen Welt prinzipiell nur Wahrscheinlichkeit zuk o m m e n kann. 1 0 7 D e r f r ü h e Leibniz hat diese beiden Sphären deutlich auseinandergehalten u n d auf der E b e n e der P h ä n o m e n e d e n G e b r a u c h von H y p o thesen und d e r e n Schlußfolgerungen legitimiert, diesen aber prinzipiell d e n erkenntnistheoretischen Status der Wahrscheinlichkeit zugewiesen und gegenü b e r der Vernunfterkenntnis als zweitrangige E r k e n n t n i s f o r m eingestuft. Mit der petitio principii, in ihrer Wissenschaft nichts Wahrscheinliches, d. h. U n b e wiesenes, aussagen zu wollen, b e g e b e n sich aber Iatromechaniker u n d Iatrom a t h e m a t i k e r in einen grundsätzlichen Widerspruch, auf d e n Hallers Aussage hinweist. D a b e i liegt das P r o b l e m f ü r Haller nicht in der Konstituierung einer logisch-mathematischen Wahrheitssphäre im Bereich des abstrakten D e n k e n s , die von derjenigen der physischen Welt verschieden ist, sondern in der m e t h o dischen Vermischung beider Sphären, welche die I a t r o m a t h e m a t i k praktiziert. E s werden dabei abstrakte Begriffe, die aufgrund logisch-mathematischer Wahrheitskriterien apriori konstruiert w e r d e n k ö n n e n , N a t u r o b j e k t e n zugeordnet, d e r e n Wahrheit aber f ü r Haller durch die O b j e k t e konstituiert wird, d. h. in der ä u ß e r e n N a t u r selbst gegeben ist, u n d damit nicht durch vorgegeb e n e Begriffe nach der mathematischen M e t h o d e vom Subjekt konstruiert w e r d e n kann. D e r mathematischen Konstruktionsmethode entspricht beim Schweizer Physiologen, wie noch zu zeigen sein wird, das Kriterium von Wahrscheinlichkeit. Voraussetzung d e r E r k e n n t n i s der O b j e k t e der physischen Welt ist f ü r Haller allein die Organisation des menschlichen Körpers, insbesondere die Affizierung der Sinnesorgane durch die N a t u r o b j e k t e . Im sinnlichen E r kenntnisprozeß w e r d e n Eigenschaften v o m natürlichen O b j e k t abstrahiert u n d durch eine Verstandesleistung zu einem Begriff zusammengefaßt, der v o m physischen O b j e k t verschieden ist. D e m g e g e n ü b e r impliziert die Subsumierung o d e r Assimilation von partikulären O b j e k t e n der physischen Welt u n t e r allgemeine Begriffe logisch die Analogisierung zweier unterschiedlicher O b jekt- bzw. Begriffsklassen - m a t h e m a t i s c h e bzw. empirische - , die a b e r eine

107 Ygj Lejbnjz: Nouveaux Essais sur l'Entendement Humain, L. IV (De la connaissance), Chap. II (Des degrés de nostre connoissance): »[...] je pense même qu'à ces espèces de la certitude ou à la connoissance certaine vous pourries adjouter la connoissance du vraisemblable; ainsi il y aura deux sortes de connoissances, comme il y a deux sortes de preuves, dont les unes produisent la certitude, et les autres ne se terminent qu'à la probabilité.« In: Die Philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, hg. von G. J. Gerhardt, Bd. 5, [Berlin 1882] Hildesheim, New York 1978, S. 354.

284 streng dualistische Methodologie konstitutiv separat halten will und für die sie unterschiedliche Wahrheitsnormen vorsieht. Bleiben aber diese N o n n e n als zwei mögliche aber verschiedene Ordnungen der Wahrheitsfindung (wahr/ hypothetisch) nicht mehr im Rahmen einer wissenschaftlichen Methodologie, so daß mathematische Begriffe als Begründung der Phänomene der physischen Welt verstanden werden, dann verwandelt sich eine methodologische Konzeption in ein rationalistisches Wissenschaftsverständnis, in dem die objektiv-phänomenale Realität durch ein ontologisches Wahrheitssubstrat begründet wird, das die mathematischen Wahrheiten an die Existenz einer supremen göttlichen Vernunft anbindet. 108 D i e Konsequenz der Aufhebung der methodischen Trennung von möglichen Existenzordnungen durch die Iatromechanik hat Haller explizit gezogen: der allgemeine (mathematische) Begriff hat im physischen Objekt keine Entsprechung. 109 D i e Handlungspraxis des Menschen ist Leibniz zufolge mit der tierischen insofern vergleichbar, als ihr auf kognitiver Ebene eine Perzeptionsfolge (consécution) nach dem Prinzip der memoria entspreche, worin die Menschen den »Médecins Empiriques qui ont une simple pratique sans théorie« ähnlich seien. Dieser nicht-demonstrativ-logischen Erkenntnisform setzt er die »connoissance des vérités nécessaires et éternelles« entgegen, die den Menschen vom Tier unterscheide, ihm Vernunft und Wissenschaft gebe und ihn zu der Erkenntnis seiner selbst und derjenigen Gottes erhebe. 1 1 0 Damit ist aber bei Leibniz Erkenntnis anders als im Naturrechtsdenken implizit durch die Vernunft des Menschen selbst und nicht mehr durch Gott garantiert. D i e 108

Ein solches Wirklichkeitsverständnis, demzufolge die Begründung der Erfahrung durch die »vérité de raison« garantiert werden soll, formuliert Leibniz gegen Locke in den Nouveaux Essais sur l'Entendement Humain, L. IV (De la connaissance), Chap. II (Des degrés de nostre connoissance): »[...] je crois que le vrai Criterion en matière des objets des sens, est la liaison des phenomenes, c'est à dire la connexion de ce qui se passe en differens lieux et temps, et dans l'experience de differens hommes, qui sont eux mêmes les uns aux autres des phenomenes très importane sur cet article. Et la liaison des phenomenes, qui garantit les vérités de fait à l'égard des choses sensibles hors de nous, se vérifié par le moyen des vérités de raison: comme les apparences de l'Optique s'eclaircissent par la Geometrie.« In: Die Philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, hg. von C. J. Gerhardt, Bd. 5, [Berlin 1882] Hildesheim, New York 1978, S. 355. 109 Um die Möglichkeit der Unterscheidung von Existenzordnungen - die logischdemonstrative und die physisch-materielle - aufrechtzuerhalten, entzieht Locke der logisch-demonstrativen Denkordnung (abstrakte Ideen) jedes real-physische Substrat sowie jedes ontologische Korrelat innerhalb und außerhalb des menschlichen Verstandes, so daß die Bildung abstrakter Ideen stets eine reflexive Erkenntnisoperation des Subjekts erfordert, das diese Ideen zu jeder Zeit und jedesmal neu wahr machen kann. Vgl. John Locke: Of human understanding [1689], Book IV, Chap. 11, § 14. In: Ders.: Works, Bd. 3, London 1823, Ndr. 1963, S. 77£ no Ygj Leibniz: Monadologie (1714), §§ 28-29. In: Die Philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, hg. von C. J. Gerhardt, Bd. 6, [Berlin 1885], Hildesheim, New York 1978, S. 611.

285 Entwicklung einer empiristischen Anthropologie in der Mitte des 18. Jahrhunderts geht demgegenüber von der von Carl von Linné zu systematischen Zwecken der komparativen Anatomie nach morphologischen Kriterien vorgenommenen physisch-naturalistischen Einordnung des Menschen in das Tierreich aus. Die naturgeschichtliche, zeitlich-dynamische Konzeption des Menschen bei Buffon, Haller und Bonnet führt dann aber zur Auflösung der epistemischen Kategorien der Cartesisch-Leibnizschen Philosophie und zu deren Umwandlung in eine Reihenfolge menschlicher Erkenntnisstufen. Die unter dem physiologischen Aspekt erfolgte Charakterisierung des Menschen (physiologice) durch die Nerven- und Fibernstruktur des Körpers ergänzt Linné mit einem zerstückelten Zitat aus Plinius' Historia naturalis. In Plinius' anthropologischer Konzeption wird der Erwerb und die Ausstattung der menschlichen Natur mit körperlich-geistigen Fähigkeiten wie dem aufrechten Gang, der Freilegung der Hände, dem Gefühl, der Sprache und dem Denken als Kompensation gedeutet, die von der bereits erwähnten Idee der >StiefmutterPrimaten< und der Klasse der >SäugetiereMensch-Affetierähnliche< empirisch-praktische Erkenntnisweise des Menschen wird im Rahmen dieser Anthropologiekonzeption aber gerade zum Ausgangspunkt wissenschaftlicher Erkenntnis überhaupt gemacht. Vom Tier bzw. vom Affen unterscheidet sich der Mensch in diesen anthropologischen Ansätzen nur durch seinen komplexeren Körperbau (Organe). Die Akkomodation der natürlichen Erkenntnisinstrumente des Menschen (Sinnesorgane) an die physische Natur ist damit bedingt durch die gattungsspezifische >anatomisch-physiologische NormKette der Wesenseelischen< Tätigkeit in den Vordergrund gerückt wird, ohne die A n n a h m e eines denkenden Prinzips im Menschen aufzugeben. D i e Empfindung als Movens jeder selbsterhaltenden Tätigkeit sowie der Erfüllung der gottgewollten Ordnung in der Welt macht Abraham Gotthelf Kästner in einer Entgegnung auf Buffons Tierseelenbegriff zu einem gemeinsamen Prinzip v o n Tier und Mensch, das sich in einem bewußtseinslosen bzw. nicht-vernunftgeleiteten natürlichen Trieb äußere. Im Gegensatz zu Buffon, der den Tieren kaum eine Seele zuschreiben wollte außer in Form einer Seele der »ganzen Art«, an der jedes individuelle Tier gleichmäßig partizipiere, 116 argumentiert Kästner in physikotheologischer Perspektive auf der Grundlage naturalistischer Studien zum natürlichen Triebe der Insekten und Falken: Er verbindet die naturalistischen Erkenntnisse mit Francis Hutchesons - von N e w t o n s Attraktionskraftprinzip in der physischen Natur abgeleiteten und auf das Gebiet des Moralischen übertragenen - sozialtheoretischen Prinzipien der Lust und der Unlust und zitiert ein hierzu passendes Gedichtfragment Hallers: [...] Also ist gewiß, daß die Handlungen der Thiere keinen dem menschlichen ähnlichen Verstand zum Grunde haben. Aber daraus folgt nicht, daß sie nicht von Empfindungen von einer Seele herrühren. Der Schmetterling wird durch die Last und Beschwerden, die ihm die Eyer verursachen, vielleicht genöthiget, sich von ihnen zu befreyen: er hat bey einer Pflanze gewisse angenehme Empfindungen, die er bey der andern nicht hat, er läßt darum seine Eyer daselbst fallen, ohne daß er wüßte, was aus solchen kommen wird. Gott hat für die Thiere gedacht: Er hat mit Handlungen, die sie seinen Absichten gemäß vollbringen sollten, angenehme Empfindungen verbunden. Das Thier glaubet nur sich Vergnügungen zu machen, oder Misvergnügungen zu entgehen, und dadurch befördert es die Absichten Gottes, es trägt seinen Theil bey, die Ordnung in der Welt zu erhalten, von der es übrigens keinen Begriff hat. Machen wir, wir über die Thiere unendlich erhabene Menschen, es nicht oft auch so? Unternehmen denn die Menschen die Handlungen, welche zu Erhaltung ihrer Personen und ihres Geschlechts dienen, allezeit nur nach reiflicher Überlegung des Zusammenhangs, in welchem diese Handlungen mit der Ordnung der ganzen Welt stehen? Oder ist nicht bloß das mit selbigen verbundene, auch kurze Vergnügen, oft die stärkste Reizung dazu? Fast zu allen Pflichten reizet uns der Schöpfer durch das mit ihrer Ausübung verbundene Vergnügungen, ohne welches oft die Befehle der Vernunft zu ohnmächtig würden. Wenige Väter, und wohl noch wenigere Mütter, sind so philosophisch gesinnet, daß sie sich bloß um die Nachwelt verdient zu machen, alle Beschwerlichkeiten ausstehen würden, welche die Erziehung der Kinder begleiten. Was sie dazu antreibet, ist nicht so sehr die Vernunft, als >des Blutes Ruf, der für die Kleinen/steht,/Und unser Innerstes, so bald er spricht, umdreht.tierischen< Empfindung, die Haller auf physiologischem Gebiet als Sensibilität der Teile des menschlichen Körpers empirisch erforscht, nicht mehr denkbar. Die Aufwertung der konjektural-induktiven Erkenntnisoperationen, mit denen der menschliche Verstand Begriffe herausbildet, geht also mit einer Veränderung des Verständnisses des Akkomodationsmechanismus' seitens des Erkenntnissubjekts an die physische Realität einher, die sich am Beginn des 18. Jahrhunderts durchzusetzen beginnt und insbesondere in der experimentellen Naturwissenschaft zu neuen Objekterfahrungen führt. Paradigmatisch für diesen epistemologischen und methodologischen Wandel war die Publikation von Newtons Opticks in den Jahren 1704, 1706 und 1717. Insofern sind »Akkomodationen [...] progressiv und schaffen neue begriffliche Möglichkeiten.« 118 Ein naturwissenschaftlich fundiertes Verständnis der Erkenntnissubjekt und -objekt-Relation setzt aber einen Akkomodationsbegriff voraus, welcher der natürlichen Logik der optisch-sinnlichen Objektwahrnehmung und deren Verarbeitung in der Psyche folgt. Nimmt die Objekterkenntnis von der sinnlich-psychischen Erkenntnisstufe ihren Ausgangspunkt, dann ist diese nicht mehr nach einer mathematischen Logik strukturierbar und kann damit auch nicht mehr dieselbe mathematische Strenge beanspruchen. Das zugleich gnoseologische und wissenschaftslogische Problem, das sich hierdurch für den empirischen Naturforscher konstituiert, bildet den Kernpunkt von Hallers Überlegungen in der Hypothesenschrift: Da ich von der Naturlehre in ihrem ganzen Umfange hauptsächlich schreibe: so ist es bekannt, daß uns von den Körpern, aus denen die Natur besteht, und von der Bewegung, die ihre Kräfte ausmacht, das meiste unbekannt ist. Ein mathematischer Lehrer fängt beim Puñete an, von der Linie, von solchen einzelnen Dingen an, deren vollständige Erklärung er zur Hand hat. Wo fängt der Naturlehrer an? Die Elementen der Körper sind völlig verborgen: die ersten aus den Elemente entstandenen Körner der Materie, die Urkräfte der Schwere, der Schnellkraft, des electrischen und des magnetischen Wesens, des Lichts und des Feuers, sind uns nur hin und wieder stückweise, und unvollkommen bekannt. Der gröbere Bau, der Thiere und Pflanzen, der Bau, den die Vergrösserungsgläser einsehen, und der nur Gebirge 117 118

Vgl. ebd., S. 206f. Vgl. Krohn (1977), S. 20.

290 von Elementen entdeckt, ist noch wenig und selten in einzelnen Körpern entworfen. Selbst der noch gröbere Bau, den ein Messer zergliederet, den eine Richtschnur mißt, und ein Treibofen trennet, ist noch so unausgeführt, so unzuverläßig, daß die größten Mathematiker, wenn sie von den Kräften der Thiere haben schreiben sollen, die Feder niedergeleget und verlanget haben, man solle ihnen Maaße und Winkel und einen Grund schaffen, auf den sie bauen könnten. Kann man denn von uns eine mathematische Strenge verlangen, kann eine Summe von Begriffen gewiß werden, wenn die einzelnen noch unbestimmt sind?119

Die konstitutive Verbindung zwischen Epistemologie in der Form einer >Psychologik< und Anthropologie in der naturgeschichtlich begründeten Konzeption des Menschen ist in Hallers Darstellung implizit gegeben. Das Problem der empirischen Erkenntnis der Naturkörper, ihrer Eigenschaften (Grundelemente der Materie, Kräfte) und Phänomene (Struktur, Bewegung) wird explizit als ein Problem des Sehens bzw. sinnlichen Wahrnehmens auf der Grundlage der natürlichen (Auge) und künstlichen Erkenntnisinstrumente des Naturforschers (mikroskopische und technische Hilfsmittel) formuliert und wird von Haller durch die Dialektik von >Bekanntem< und >Unbekanntem< konstituiert. Wie sich Erkenntnis herausbildet, wird nicht mehr aufgrund des Verstandesbegriffs, sondern aufgrund des wahrnehmenden Sinnesorgans und des Erfahrungsbegriffs definiert. Dies zieht aber eine erkenntniskritische und im Grunde genommen skeptische Haltung des Naturforschers Haller nach sich, die bewußt in anticartesischer Absicht eingenommen wird und historisch an den »konstruktiven Skeptizismus« 120 von Sanchez, 121 Mersenne und Gassendi anknüpft, der bei diesen Autoren gegen die metaphysischen Vernunftwahrheiten Descartes' seine Anwendung fand. Diese skeptische Haltung instrumentalisiert Haller, indem er hervorhebt, daß in der Naturlehre >materielles ObjektBewegung< und >Kraft< keine klaren Begriffe seien und daß der Naturlehrer größtenteils mit ungeklärten Grundbegriffen operieren müsse. Somit führt der Schweizer Physiologe eine definitive methodische Trennung ein zwischen der logisch-mathematischen und der physisch-materiellen Existenzordnung, mit der er a) eine Kontinuität zwischen Mathematik und belebter Natur negiert, b) die Wissenschaft der organischen Lebewesen aus dem Bereich mathematischer Erkenntnis auskoppelt und c) die Distinktion zweier Evidenz- bzw. Gewißheitsbegriffe vornimmt. 119 120

121

Vgl. Haller in Buffon/Daubenton (1750), S. XIII. Den Begriff konstruktiver Skeptizismus< hat Richard H. Popkin mit Blick auf die genannten Autoren geprägt, wobei eine neue Version dieses Skeptizismus zunächst im Bereich theologisch-konfessioneller Fragen von den Theologen (William Chiliingworth, John Tillotson) und Wissenschaftlern (John Wilkins, Joseph Glanvill) der Royal Society entwickelt und für die Entstehung des englischen Experimentalismus (Boyle, Newton) relevant wurde. Vgl. hierzu Popkins Vorwort zu Henry van Leeuwens Studie: The problem of certainty in English thought, 1630-1690, Den Haag 1963, S. V I - X I , bes. S. VII-X. Zu Hallers Kenntnis von Francisco Sanchez' Tractatus philosophici Quod nihil scitus [...], Rotterdam 1649 vgl. Haller: Judicia librorum, Burgerbibliothek Bern, Ν Albrecht von Haller, Mss. 44, Bl. 53r.

291

5. Das Problem der Evidenz bei Willem Jacob 'sGravesande Die Abhängigkeit der in Teil II, Kap. 2.4 dieser Studie genannten methodologischen Prinzipien Hallers von grundlegenden Annahmen in Willem Jacob 'sGravesandes Wissenschaftstheorie macht es erforderlich, im Hinblick auf ein genaueres Verständnis des historischen Kontextes, in dem sich der Wissenschaftsbegriff des jungen Schweizer Naturforschers ausgebildet hat, auf einige dieser Annahmen hinzuweisen. 122 Besonders der >phänomenalistische< Evidenzbegriff, wie ihn Haller im Rahmen seiner Physiologie und Organismustheorie um 1750 verstand, war den durch 'sGravesande auf empiristisch-sensualistischer Erkenntnisbasis umgedeuteten methodologischen Prinzipien Newtons verpflichtet, die in den Regulae philosophandi des 3. Buches der Principia mathematica philosophiae naturalis formuliert worden waren. In diese Periode fielen auch Hallers Forschungen zur Irritabilität der Muskelfaser und der Sensibilität der Nerven sowie die kontemporär und auf demselben empirischen Material vorgenommenen Studien zur Knochenbildung des Embryos (Osteogenese) und zur Embryologie (1755-57). Der mathematische Konstruktivismus in Newtons Methode, der auf epistemologischer Ebene die ontologische Annahme einer Kontinuität von Mathematik und physischer Natur reproduziert, 123 war nicht auf ein empirisches Verständnis der physischen Natur übertragbar. Denn die Experimentalphysik erforschte die dynamischen Gesetze der Materie an den konkreten sedes physicas der Körper, so daß eine Autopsie erforderlich wurde. Die Relevanz des holländischen Einflußkontextes in wissenschaftstheoretischer Hinsicht ist prinzipiell aus zweierlei Gründen gegeben: Erstens dadurch, daß dieser faktisch den Ausgangspunkt von Hallers naturwissenschaftlich-methodologischem Denken bildete und den jungen Forscher zu einem Verständnis von experimenteller Erfahrung führte, das sich primär durch die sichtbaren Prozesse der organischen Materie, in der attraktive Kräfte wirken, konstituierte und das auf der minutiösen Beobachtung durch das blosse menschliche Auge und die experimentelle Verifikation der beobachteten 122

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Eine grundlegende wissenschaftshistorische Studie zu 'sGravesandes Werk hat Gori (1972) vorgelegt, vgl. bes. Kap. III (II problema della certezza nella conoscenza fattuale), S. 160 -265. Diese Annahme ermöglicht es Newton, ein physikalisches System (I) (z.B. ein bewegtes Körper-Kraft-System) in ein mathematisches (II) analog zu übertragen und innerhalb von (II) die Bedingungen und Konsequenzen von (I) mit mathematischer Methode deduktiv abzuleiten, wobei (II) durch Konfrontation mit und Anpassung an empirisch-experimentelle Daten sowie an die Erfahrungsgesetze (z. B. die Keplerschen Gesetze der Planetenbewegung) sukzessive modifiziert wird. Die Alternanz zwischen den methodischen Phasen in (I) und (II) führt Newton zu komplexeren Systemen und zu einer immer größeren Annäherung an die Realität. Vgl. hierzu Cohen (1980), ital. Übers. (1982), bes. den Abschn. >Matematica e realtà fisica nella scienza esatta di Newtonkritischen< Forschungsperioden bestehen und ließ sich problemlos in eine physikotheologische Konzeption von Natur und Wissenschaft einordnen, wie sie im Newtonianismus um 1750 immer noch vertreten wurde. Der zweite Grund knüpft weiterhin an den chronologischen Aspekt an und betrifft Hallers Naturkonzeption. Die methodologisch-konzeptuelle Prägung der Hallerschen Physiologie erfolgte im niederländischen Kontext vor der möglichen Beeinflussung Hallers durch Charles Bonnet in der Phase seiner embryologischen Studien, in denen Bonnet durch die Disjunktion von >Sichtbarkeit< und >Existenz< Haller ein neues theoretisches Interpretationsschema embryologischer Phänomene und Prozesse suggerierte, das dieser 1758 schließlich annahm. Durch die Annahme von unsichtbaren aber präexistenten präformierten Keimen (Ovismus), um die sich epigenetisch Materie anlagert, konnten Hallers experimentelle Ergebnisse zu bebrüteten Hühnereiern in ein organizistisches Modell der Embryogenese eingeordnet werden. Dadurch konnte konzeptuell eine intelligible mechanizistische Wissenschaft der Natur aufrechterhalten werden, die den Schöpfungsakt der Keime durch Gott annahm und die Entstehung und Bildung von Lebewesen nicht den Kräften der amorphen matière brute überließ. Dies ist umso bedeutsamer, als sich Haller im 5. Band der Kommentare zu den Praelectiones von Boerhaave (1744) von dessen Präformationsmodell abgesetzt hatte: Das Argument war die funktionale Polivalenz materieller Segmente, die neue vollständige Organismen regenerieren. Er hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits dem konzeptuellen Modell der Epigenese zugewandt. 124 'sGravesandes Konstituierung eines Evidenzbegriffs für den Bereich der empirisch-experimentellen Wissenschaften erfolgte ferner im Rahmen eines juristischen und naturwissenschaftlichen Kontextes. In diesem verband sich die Interpretation von >Natur< und >Gesellschaftmoralischen Evidenz< bzw. der >moralischen Gewißheit< in der Erkenntnis des Faktischen erfolgte somit bei 'sGravesande auf der Basis von Naturrechtstheoremen Pufendorfscher Provenienz. 125 Das Verhältnis von theologischem Voluntarismus und 124 125

Vgl. hierzu Monti (1988), Monti (1990) u. Monti (1994) sowie Mazzolini (1977). Vgl. hierzu Gori (1972), bes. Kap. III, 4: L'evidenza morale in 'sGravesande: a) La sensazione, b) La testimonianza, c) L'analogia e il fondamento giusnaturalistico dell'esperienza, S. 228-265; zu 'sGravesandes juristischen Studien Kap. II, 1: Gli studi giuridici e i primi scritti, S. 64-73. Im 17. Jahrhundert stehen sich zwei Deutungen des Konzepts der >moralischen Evidenz< bzw. >moralische Gewißheit< gegenüber: die eine sieht in der moralischen Gewißheit einen Gradationsbegriff, die andere einen Bereichsbegriff. In dem einen Fall ist die moralische Gewißheit immer suboptimal, in dem anderen kann sie genau das sein, was wir überhaupt nur im

293 den Prinzipien der Selbsterhaltung des Menschen in der Gesellschaft wird auf der >Natur< des Menschen selbst gegründet, d. h. auf seiner anatomischphysiologischen Konstitution, die diesen befähigt, in der Welt die Prinzipien der Natur und die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens gewiß zu erkennen und zwar zu eudämonistischen Zwecken. D i e utilitaristische Motivierung, die den Menschen dazu bewegt, seine egoistischen Bedürfnisse und Interessen im gesellschaftlichen Verband einzulösen und zu regeln und in diesem produktiv umzusetzen, erhält bei 'sGravesande in der Naturerkenntnis ein kognitiv-methodologisches Pendant: Diejenige Konzeption des Menschen, die in seiner anatomisch-physiologischen Konstitution die natürliche gesetzliche Grundlage jedes sozialen Verhaltens und jeder kulturellen Tätigkeit festlegt, sieht im Gebrauch der Organe der sinnlichen Wahrnehmung das nützliche Mittel, das den Menschen zur empirischen Erkenntnis der physischen Welt führt. 1 2 6 Bei Pufendorf verdeutlicht sich somit ein empirisch-an-

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Hinblick auf einen Wissens- oder ontologischen Bereich erlangen können (für diese letzte Auffassung ist in der Zeit durchweg die Passage in Aristoteles' Nikomachischer Ethik (1,1,1094al2-1094a28) der autoritative Hintergrund: »Denn es kennzeichnet den Gebildeten, in jedem einzelnen Gebiet nur so viel Präzision zu verlangen, als es die Natur des Gegenstandes zuläßt. Andernfalls wäre es, wie wenn man von einem Mathematiker Wahrscheinlichkeitsgründe annehmen und vom Redner zwingende Beweise fordern würde.« Und an dieser Stelle setzt auch Pufendorf bei seinen Überlegungen in De jure naturae et gentium (1672) an. Bei einigen Cartesianern ist nun dieses Konzept der moralischen Gewißheit in beiden Deutungen präsent; zum einen im Bereich der Physik als Gradationsbegriff, zum anderen im Bereich des menschlichen Handelns als Bereichsbegriff: ζ. B. bei Johannes Clauberg. Er meint dabei anmerken zu müssen, daß das, was Descartes physikalische Gewißheit nenne, andere als moralische Gewißheit bezeichnen. Vgl. J. Clauberg: Initiatio Philosophi sive dubitatio cartesiana (Duisburg 1655), cap. VII, 6. In: Ders.: Opera omnia philosophica (1691). Clauberg steht hier in der Aufnahme von Descartes' Formulierung einer Probabilität >ad usum vitae< (vgl. Descartes: Principia Philosophiae, IV, 205 (= Œuvres, Adam & Tannery, VIII, S. 327). Vor diesem Hintergrund läßt sich dann auch die Verbindung des physischen und des moralischen Bereichs über den Begriff der moralischen Evidenz verstehen. Für diese Erläuterungen danke ich Professor Lutz Danneberg. Vgl. zum Verhältnis Clauberg-Pufendorf Teil II, Kap. 1,3, S. 217f. dieser Studie. 'sGravesande integriert diese erkenntnistheoretische Annahme in den Rahmen der Diskussion des Evidenzproblems in seiner Oratio de Evidentia Habita Leidae VI. Id. Februarii A. 1724: »[...]. Quand il est question des choses hors de nous, ce n'est point par la perception de ces choses, que nous en acquérons l'idée, aucun object hors de nous ne pouvant agir immédiatement sur notre âme. [...]. Il nous faut donc, pour acquérir l'idée de ces objets, des secours différents des objets mêmes. Ces secours, qui nous ont été fournis par le Créateur, son les Sens, le Témoignage & l'Analogie, trois Fondemens de l'Evidence morale, pendant que l'Evidence mathématique n'en a qu'un seul, sçavoir la perception des idées. [...]. De-là j'infère que cet Etre suprême a voulu que les hommes profitassent des moyens qu'il leur a accordés pour vivre sur la terre où il les a placés; or je prouverai qu'il ne leur seroit pas possible de profiter de ces moyens, si les fondemens de l'Evidence morale n'étoient pas solides. [...]. Qui peut révoquer en doute que les hommes n'ayent besoin à chaque instant de plusieurs choses, qu'ils ne sçauroient connoître que par le secours des Sens? Cependent Dieu leur a accordé l'usage de ces choses, ainsi il a voulu qu'ils en joitissent, c'est à dire, il a voulu tout ce qui est requis pour qu'ils

294 thropologisches Verständnis des Begriffs der socialitas.127 D i e Begründung der socialitas bei Pufendorf bzw. der Naturerkenntnis bei 'sGravesande auf der physischen Natur des Menschen bedarf jedoch der methodischen Absicherung, daß Gott sich der Aufrechterhaltung der Geltung des natürlichen Gesetzes·«, das dem Menschen aufgrund seiner Konstitution zukommt, nicht entzieht. 1 2 8 'sGravesandes auf naturrechtlicher Logik basierende methodologische Interpretation des Begriffs der >moralischen Evidenz< ist grundsätzlich in anticartesianischer und vor allen Dingen in antiskeptizistischer Hinsicht motiviert und wendet sich gegen die Verabsolutierung mathematischer Evidenzkriterien in rationalistischen Mechanismusmodellen der Natur. 129

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puissent en jouir, &, par une conséquence certaine, qu'ils en jugeassent à l'aide de leurs Sens, que la Providence divine a accordés aux hommes manifestement pour cette fin.« Vgl. 'sGravesande: Discours sur l'Evidence. In: Œuvres Philosophiques et Mathématiques de Mr. G. J. 'sGravesande, Seconde Partie, (1774), S. 329-345, Zitate S. 339f. Hallers Aufenthalt in Leiden beginnt im Jahr 1725, so daß er diese Schrift seines Lehrers bereits in dessen Vorlesungen, denen Haller beiwohnte, kennengelernt haben muß. In der neueren Pufendorf-Forschung wird die >socialitas< - dem grundlegenden regulativen Element gesellschaftlichen Verhaltens in der Pufendorfschen Naturrechtslehre, auf dem die gesamte Pflichtenlehre basiert, - in Absetzung von nomologischen Konzeptionen philosophisch-juristischer Interpretationstraditionen nicht mehr als normativer Begriff interpretiert: »[...] la socialità, pur rappresentando per Pufendorf la lex naturae fundamentalis, ossia [...] il fondamento ultimo di tutti gli enfia moralia (del diritto, della morale, così come delle istituzioni socio-politiche) non è da interpretarsi come concetto normativo, ma, piuttosto come denotazione di un atteggiamento antropologico, di un ethos socialmente operante, costruendosi come Seins- e non Sollensbegriff.« Vgl. Fiorillo (1992), S. 38f„ Zitat S. 37. Vgl. Pufendorf: Le droit de la Nature et de Gens, Ausg. Barbeyrac, Basel 1732, (De la Loi Naturelle en général), Liv. II, Chap. III, § V, S. 175f.: »[...] je remarque qu'il a bien dépendu de la Volonté Divine de produire ou de ne pas produire une Créature de telle constitution, que la Loi Naturelle lui convienne nécessairement. Mais depuis qu'il a créé actuellement un Animal tel que l'Homme, qui ne sauroit se conserver sans l'observation des Loix Naturelles, il n'est plus permis de croire que Dieu veuille les abolir ni les changer, tant qu'il ne fera aucun changement à la Nature Humaine, & tant que les Actions prescrites par ces Loix contribueront, par une suite nécessaire, à l'entretien de la Société, d'où dépend le bonheur temporel du Genre Humain, & que les Actions opposées tendront aussi nécessairement à la destruction de cette Société; c'est-à-dire, tant que la Bénéficence, l'Humanité, la fidélité, la Reconnoissance, & autres semblables dispositions, auront la vertu d'unir les coeurs, & que la Malice, Perfidie, les Injustices, l'Ingratitudes, seront capables d'irriter les gens les uns contre les autres. Ainsi, posé seulement que les choses demeurent au même état qu'elles sont, & que la Nature Humaine ne reçoive aucun changement; quoi qu'elle ait été au commencement formée de cette manière par un effet de la Volonté Divine, la Loi Naturelle subsiste ferme & invariable: [...].« Die Wurzeln des Problems der >Gewißheit< oder >Evidenz< sind in theologischem Kontext entstanden, wie dies u.a. die Studie von Henry G. van Leeuwen (1963) für den englischen Raum gezeigt hat, und greift von da aus auf den wissenschaftlichen Kontext über (Royal Society, Robert Boyle), auf den dann über den Weg des Polyhistorismus und Bacon auch Pufendorf zurückgreift. Das Problem entzündete sich um 1630 in England im politisch-religiösen Umfeld an der Kontroverse um den heilbringenden Glauben zwischen französischen Jesuiten und

295 Ist einmal die prekäre Stellung der menschlichen Natur im Spannungsverhältnis von verstandesmäßig-begrifflicher Normierung der physischen Welt und der gleichzeitigen Erfahrung ihrer Kontingenz erkannt, ist die reale Voraussetzung für eine methodologische Reflexion gegeben. Diese läßt die Bereiche des theoretischen Denkens und der Erfahrung zwar in ihrer Verschiedenheit gelten, trennt sie aber nicht mehr dualistisch voneinander, sondern Protestanten (W. Chillingworth, J. Tîllotson), wobei der Begriff der >moralischen Gewißheitcertitudo moralis< hinweist: Der Begriff - im 17. und 18. Jahrhundert von Theologen auch in der Trias »certitudo moralis, civilis vel humana« genannt - war in der jesuitischen Scholastik (z.B. bei P. Hurtado de Mendoza: Disputationes de universa philosophia, 1617/24) bereits bekannt; vgl. Danneberg (1996), S. 28. Die mögliche Verlängerung des Begriffs der moralischen Gewißheit auf moderne pragmatische Wissenschaftskonzepte und Methodologien zur Evaluation praxisbezogener Theorien (Technologien) leitet Danneberg aus der historischen Bedeutung des Begriffs ab, die auch 'sGravesandes Argumentation gegen die Skeptiker und Hallers Beurteilung der Epigenesishypothese als Annahme zugrundeliegt: »Zwar vermag die empirische Erfahrung eine Theorie nicht definitiv auszuzeichnen und eine hinsichtlich der Erfahrung gleichwertige Alternative bleibt immer möglich, doch bedeutet dies nicht, jegliches Urteil über die Theorie zu suspendieren oder bestimmte Lebensvollzüge auszusetzen.« Vgl. Danneberg (1996), S. 28. Im religiös-theologischen Zusammenhang läßt sich das Problem der Gewißheit aber bis auf den Humanismus zurückverfolgen: u.a. in philologisch bedingten Fragen der Wahrheit der Bibelinterpretation bei Lorenzo Valla und Erasmus und v.a. im Hinblick auf das Problem des freien Willens. Die Verbindung von theologischem Voluntarismus und Nominalismus (Duns Scotus, Valla) führte zu einer Aufwertung des Bereichs der Kontingenz in religiösen Belangen (z.B. im calvinistischen Ethos und in der protestantischen Gesinnungsethik, trotz Prädestinationslehre), aber auch in den praktischen Handlungen des Menschen sowie in den Prozessen der Natur. Hugo Grotius verband z.B. in De veritate religionis Christianae (1624) das Gewißheitsproblem in Fragen des Glaubens mit der Aufwertung religiöser Zeugenaussagen (u.a. in der Forderung gleicher Evaluationskriterien für profane und religiöse Texte) und John Tîllotson machte Gott zum Garanten der Perzeption durch sinnliche Wahrnehmung. Tîllotson entzog der rational-demonstrativen Evidenz die Entscheidungskraft in Fragen des Glaubens, womit er den Atheismus, der ebenso unbeweisbar bleibe, in seiner schwachen Argumentationsposition entlarvte und wegen der möglichen Konsequenzen ablehnte; vgl. zu Grotius und Tîllotson van Leeuwen (1963), S. 21 u. S. 32-48. Die Kenntnis und Lektüre der Texte von Grotius (De veritate religionis Christianae, Leiden 1629) und Tîllotson (Discours contre les Athées par Jean Tîllotson [...], trad, par David Mazel, Utrecht 1694) durch Haller belegen seine Exzerpte in den Judicia librorum, Burgerbibliothek Bern, Ν Albrecht von Haller Mss. 33, Bl. 83r bzw. Bl. 84r.

296 versucht sie in ihrem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis zu erfassen, weil es die conditio humana erfordert. Ein solcher Denkansatz stellt das Erkenntnisproblem ins Zentrum epistemologischer Fragestellungen der empirischen (Natur-)Wissenschaften. Der dualistische Wahrheitsbegriff des Cartesianismus wird dabei entschieden in Frage gestellt, weil dieser radikal trennen will, was der Mensch durch seine Natur in sich vereinigt und sich nicht auf einen rationalen Nenner reduzieren läßt. Für 'sGravesande steht nicht in Frage, daß Vernunftwahrheiten, für sich betrachtet, wahr sind, so wie es auch Tatsachenwahrheiten sind. 130 Ein solcher Wahrheitsbegriff, dessen tautologischer Charakter eine logische Beziehung zwischen den Objekten des Denkens und den Objekten der physischen Welt verunmöglicht, erweist sich aber für 'sGravesande im Hinblick auf die menschlichen Erkenntnisbedingungen als nutzlos. Deshalb wird eine Wahrheitsdefinition geltend gemacht, die in Orientierung an den erkenntnistheoretischen Ansatz in John Lockes Essay concerning human understanding (1689) von dem Verhältnis von Ideen und Gegenständen ausgeht: [...] mais quelle utilité pourroit-il y avoir à envisager la Vérité sous cette face? Il faut considérer la Vérité rélativement à nos connaissances. C'est par le moyen des Idées, que nous acquérons des connaissances; & on doit regarder comme vraie, toute Idée qui représente, comme elle est, la chose à laquelle on la rapporte. Dans ce sens, les Idées fausses sont celles, qu'on envisage comme si elles représentoient des choses, avec lesquelles elles ne conviennent pas. C'est de cette Vérité des Idées, que nous devons traiter; c'est d'elle que dépend la certitude de nos connaissances.131

Eine Wahrheitskonzeption, die >Wahrheit< oder >Falschheit< von Ideen von der Übereinstimmung derselben mit ihrem Gegenstand abhängig macht, hat aber über die Kriterien der Übereinstimmung von Idee und Gegenstand, die an sich nicht eindeutig ist, noch nichts gesagt, weshalb die Suche nach der Gewißheit menschlicher Erkenntnis 'sGravesande auf die Frage nach dem Ursprung der Ideen führt. Dies macht eine Distinktion im Ideenbegriff (zwei Ideen-Klassen) erforderlich, der das Lockesche Substrat von reflection und sensation zugrundeliegt, (i) »Nous rapportons à la première toutes les Idées, que nous acquérons immédiatement. Telles sont les idées de ce qui se passe dans notre Ame, c'est à dire, des actions de notre Ame, & de ses affections.« 132 Diese Ideenklasse bildet mit dem Objekt der Idee eine Einheit. Es sind dies die >Objekte des Denkens< oder der Reflexion, zu denen die bewußte innere Perzeption von Affekten sowie die Urteile gehören, die als Relationen zwischen Ideen verstanden werden, (ii) »Je rapporte à la seconde

130 Ygj 'sGravesande: Introduction à la philosophie, contenant la Métaphysique et la Logique avec l'Art de Raisonner par Syllogismes, Livre second contenant la Logique f 1 1736), Chap. XI. In: Œuvres Philosophiques et Mathématiques de Mr. G. J. 'sGravesande, Seconde Partie, (1774), S. 63. 131 Vgl. 'sGravesande ('1736, 1774), L. II, Chap. XI, S. 63. 132 Vgl. ebd., S. 64.

297 classe toutes les autres Idées, c'est à dire, toutes celles que nous acquérons par le moyen de quelque cause externe [,..].« 133 Zu dieser Klasse gehören die Ideen von Körpern, die von der Seele nicht unmittelbar erfaßt werden können. Damit sind zwei Wahrheits- bzw. Evidenzkriterien unterschieden: in (i) die mathematische Evidenz, »pour les Idées de tout ce que nous aperçevons immédiatement«, 134 und in (ii) die moralische Evidenz, zu deren Teilkriterien die sinnliche Wahrnehmung, die Analogie und die Zeugenaussage gehören und wodurch »les Hommes acquièrent les Idées des choses, qui sont hors de leur Ame [...].« 135 Die vom Typus der moralischen Evidenz ausgedrückte Idee-Gegenstand-Relation entspricht im wesentlichen der oben in Teil II, Kap. 2 , 1 unter dem Wissenstypus (B) dargestellten Identifikation von Gegenständen, wobei 'sGravesande die Beschreibung des sinnlichen Wahrnehmungsprozesses um die psychophysiologische Dimension ergänzt: Pour acquérir une Idée par le moyen des Sens, il ne faut que l'ébranlement d'un nerf, qui causera une certaine impression dans le cerveau, & aussitôt l'idée s'offrira à l'esprit, soit que l'objet de cette Idée, soit présent, ou non; d'où il paroit, qu'il n'y a point de liaison nécessaire entre les choses mêmes, & les Idées que nous en acquérons par les Sens.136

Die in Vicos Wissensbegriff von Gianvincenzo Gravina und Spinoza übernommene Irrtumstheorie der Wahrnehmung als konstitutive Voraussetzung jeder menschlichen Erkenntnistätigkeit ist in 'sGravesandes Begriff der moralischen Evidenz implizit aufgenommen und im Hinweis auf die nicht notwendige, d. h. alogisch-kontingente, Beziehung zwischen dem realen äußeren Gegenstand und der von diesem sinnlich erworbenen Idee erkenntnistheoretisch reflektiert. Damit ist aber im Hinblick auf den innerhalb der Sphäre der moralischen Evidenz definierten Wahrheitsbegriff eine Spannung gekennzeichnet, die mit der von 'sGravesandes Wahrheitsdefinition geforderten Übereinstimmung von Idee und Sache aber nur scheinbar im Widerspruch steht. Denn die Disjunktion von Idee und Gegenstand ist aufgrund der Erkenntnisbedingungen der menschlichen Natur konstitutiv und deren Verbindung insofern nicht notwendig, als der Mensch nicht das Objekt der Idee selbst denkt, sondern die Idee des Objekts mit einem sprachlichen Zeichen verbindet. Die Verbindung zwischen Idee und Zeichen, das zu einem Stellvertreter des Objekts wird, ist dabei arbiträr. 137 Das Problem der Über133 134 135

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Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. 'sGravesande ('1736, 1774), L.II, Chap. XIII, S. 67. 'sGravesande hat diese Unterscheidung bereits in seiner 1724 in Leiden gehaltenen Oratio de evidentia mathematica et morali getroffen. Vgl. 'sGravesande (11736, 1774), L. II, Chap. XIII, S. 68. Durch das Konzept einer systematischen Beziehung zwischen arbiträrem Wortzeichen, Bedeutung ('Objekt' der Idee) und Verstehen (Hörer) skizziert 'sGravesande in Ansätzen ein zeichenbasiertes Bedeutungs- und Kommunikationsmodell: »Nous exprimons les Idées par des mots; mais, comme le sens des mots est arbitraire, ils ne sauroient rien signifier par eux-mêmes. Ainsi, lorsqu'en parlant à quelquun, je

298 einstimmung von Idee und Objekt löst 'sGravesande durch die Distinktion zweier Wahrheitsbegriffe, mit der verdeutlicht wird, daß bezüglich der menschlichen Natur und ihrer Erkenntnis der physischen Welt die Relation Idee-Objekt nicht aufgrund der Kategorie der Identität oder Symmetrie (Idee=Objekt) begrifflich adäquat erfaßt werden kann.138 Diese kann nur hinsichtlich der mathematischen Evidenz geltend gemacht werden, welche durch die Identifikation von Idee und Sache apriorisch-deduktiv logische Denkoperationen (Urteile) vollziehen kann. 'sGravesandes Distinktion hat damit die wichtige Funktion, den unterschiedlichen Erkenntnisformen des menschlichen Denkens, insbesondere den mit den Wahrnehmungsorganen gekoppelten sogenannten >niederen< psychischen Vermögen, im Hinblick auf ihren Erkenntniszweck präzise Kompetenzbereiche zuzuweisen. So kann den logischen Schlüssen und Urteilen des begrifflichen Denkens, die im Rahmen der mathematischen Evidenz wahr sein können, im Bereich der physischen Welt nicht notwendig Wahrheit zugesprochen werden; denn wenn im Bereich der Logik der Satz ρ oder -p notwendig gilt, so kann im Bereich der Realität der Satz ρ und -p nicht ausgeschlossen werden, d. h. es kann ρ und zugleich auch dessen Gegenteil -p gelten.139 Entscheidend ist aber, daß 'sGravesande die Geltungsbereiche der verschiedenen Wahrheitsbegriffe nicht als hierarchischen Dualismus im Sinne des Cartesisch-Leibnizschen Rationalismus, sondern als komplementär versteht. Dadurch wird die Bestimmung eines neuen methodologisch relevanten Verhältnisses zwischen Empirie, Logik und Mathematik erst möglich. Die Disjunktion von Idee und Objekt in der Erkenntnissphäre der physischen Welt hat nämlich in denjenigen Wissenschaften eine zentrale methodologische Relevanz, deren Inhalte sich auf die Gegenstände der physischen (Naturwissenschaften) oder der moralischen Welt (Ethik, Ästhetik, Geschichte, Theologie, Ökonomie etc.) beziehen. Hierfür ist 'sGravesandes Annahme entscheidend, daß für die menschliche Natur im Bereich der objektiven Welt gewisse Erkenntnis, also eine Überein-

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veux lui communiquer une Idée, il est nécessaire que la signification des mots lui soit connue; c'est à dire, qu'il est nécessaire, qu'il ait les Idées, qu'on exprime par ces mots; & qu'il sache outre cela, par quel mot chaque Idée est exprimée.« Vgl. 'sGravesande ('1736, 1774), L. II, Chap. II, S. 50. Vgl. 'sGravesande: Physices elementa mathematica experimentis confirmata sive Introducilo ad Philosophiam Newtonianam, Leiden 1725, Praefatio: »Jam monuimus demonstrationes mathematicas nisi circa ideas non versari, & ubi de rebus ipsis agitur ante omnia requiri, ut cum rebus ideae, quod nullâ mathematica demonstratione probari potest.« 'sGravesande veranschaulicht diese Verhältnisse wie folgt: »Omnia ratiocinia mathematica talem idearum tantum comparationem spectant, ex qua sequitur contrarium contradictionem involvere. Triangulum rectilineum, cujus tres anguli duos rectos non aequant, impossibile est; quia idea trium angulorum trianguli, ipsa est idea duorum angulorum rectorum. Ubi de rebus ipsis agitur, contraria propositio impossibilis non semper datur. Indubitatum est, ex. gr. Petrum vivere, licet certissimum sit, ilium her potuisse mori.« Vgl. 'sGravesande: Physices elementa (1725), Praefatio.

299 Stimmung von Idee und Gegenstand im Sinne der moralischen Evidenz, möglich ist. Die im Rahmen dieses Evidenzbegriffs sich ergebende Möglichkeit der Bestimmung von Gewißheitskriterien menschlicher Erkenntnis beruht auf der Tatsache, daß die hierfür geltende Wahrheits- bzw. Erkenntnisnorm nicht unabhängig von einer gegebenen Erfahrungsbasis definiert ist. Vielmehr entsteht sie erst in bezug zu dieser. Damit beinhaltet menschliche Erkenntnis die materielle Welt insofern konstitutiv, als durch die Mittel der sinnlichen Wahrnehmung und der psychologischen Verarbeitung der Erfahrungsdaten die objektive Welt in das Subjekt eindringt und im Zeichen aufbewahrt bleibt. Ein Kriterium von Gewißheit bildet damit die sich im erkennenden Subjekt ergebende Idee-Zeichen-Relation, in der ein >objektives< Verhältnis ausgedrückt ist, das aber ohne Rückbindung an die Erfahrung nicht per se evident ist: »Cependant, la manière dont les Sens nous mènent à la connoissance des choses, n'est pas évidente par elle-même. Un long usage & une longue expérience sont nécessaires pour cela [...].« Deshalb ist für 'sGravesande die Explikation von Kriterien erforderlich, die das Verhältnis von sinnlicher Erfahrung und konstruktiver Deduktion des Verstandes präzise regeln: »[...] comment, dans chaque circonstance, on peut déterminer exactement ce que nous pouvons déduire de nos Sensations, d'une manière qui ne nous laisse pas de moindre doute.« 140 Das Problem der Gewißheit in der Welt des Faktischen konstituiert sich für 'sGravesande in der Frage, wie der Mensch, der sich seiner Sinne bedient und durch analogisches Denken im Verstand sein Erkenntnisobjekt konstruiert, zu gesicherter Erkenntnis gelangen kann, angesichts der Tatsache, daß er die physische Welt, auf die er sich zu diesem Zweck notwendig beziehen muß, nur als kontingent erfahren kann. Das erkenntnistheoretische Problem der Diskrepanz von Idee und Sache in der Sphäre der objektiven Welt stellt sich also für die methodologische Reflexion in den Erfahrungswissenschaften in den Kategorien des anthropologischen Problems des Widerspruchs von Norm und Kontingenz. Es fragt sich wie eine Übereinstimmung von zeichenhaft konstruiertem Objekt des Verstandes (Idee, Begriff) und physischem Objekt (Natur) möglich ist bzw. wie der Mensch von der kontingent erfahrenen Welt zur >objektiven Norm< gelangt, wenn der einzige Weg, den er zur Überwindung der Kluft von Idee und Natur begehen kann, innerhalb der Sphäre der Kontingenz (Erfahrung) seinen Ausgangspunkt hat. In Ansätzen ist hier das zentrale methodische Problem einer empirisch-induktiven Methode formuliert, das die experimentell verfahrende Naturwissenschaft des 18. Jahrhunderts bei der Konstruktion von Naturerkenntnis zu bewältigen versucht. Die Explikation von Kriterien der moralischen Evidenz, die durch sinnliche Wahrnehmung zustande kommt, erfolgt bei 'sGravesande im Zusam140

'sGravesande ( ] 1736, 1774), L. II, Chap. XIII, Zitate S. 69.

300 menhang mit der Analyse der sinnlichen Wahrnehmung und der Empfindungen, die durch den Gebrauch der Sinnesorgane (v. a. Auge, Tastsinn) in der Psyche des Menschen entstehen, sowie in der Formulierung von Bedingungen für die Erkenntnis eines Gegenstandes (Urteilsbildung). Dadurch soll, insbesondere durch die Angabe der Fehlerquellen, die sukzessive Eliminierung der im Wahrnehmungsprozeß sich bildenden >falschen< Ideen ermöglicht werden. 141 Die Analyse der Erkenntnisbedingungen des Menschen ist eine Aufgabe, welche die empiristische Anthropologie gegen die Mitte des 18. Jahrhunderts nicht mehr nur im Rahmen einer sensualistischen Erkenntnistheorie in der Traditionslinie von Locke, Hume und Condillac philosophisch zu lösen versucht, sondern in der Verbindung von Medizin, Psychologie und Gnoseologie in der Konzentration auf die Überprüfung der materiellen Substrate des sinnesphysiologischen Erkenntnisprozesses dezidiert in den Aufgabenbereich der experimentell verfahrenden Naturwissenschaft (Optik, Anatomie, Physiologie) rückt. So beschreibt Haller im Rahmen seiner Darstellung des Gesichtssinnes (visus) in den Primae lineae physiologiae (1747) die Bestimmung des Ortes und der Distanz von sichtbaren Objekten aufgrund einer geometrisch-optischen Theorie, wobei er klar macht, daß die Distanz eines Objekts nicht Produkt der sinnlichen Wahrnehmung (videre), sondern Produkt eines durch optische Faktoren bedingten Urteils ist, also durch eine Konstruktion des menschlichen Verstandes zustandekommt, die als solche immer eine Täuschung beinhaltet: Locus objecti visibilis aestimatur ex concursu duarum linearum, a centro oculis videntis ductarum in mutuam conjunctionem, vel in loco intermedio inter id punctum, in quo objectum dextro oculo adparet, & punctum in quo sinistro oculo conspicitur: quae lineae, si nusquem se secuerunt, duplex objectum videmus, si se comprehenderint, in puncto intersectionis objectum ponimus. Distantiam vero non videmus, sed judicamus, tum ex magnitudinis nobis jam cognitae diminutione, tum ex ángulo inter duos axes opticos intercepto, tum ex minori lucis robore, & pallida imagine objecti, tum ex multis corporibus interpositis, quorum nobis distantia nota est. Sed haec judicia fallacia omnia sunt, quod non in infallibili Creatoris sapientia, verum in hominis per experientia nato judicio fundentur. 142

Die Berücksichtigung der empirischen Befunde Hallers in der optischen Theorie des Sehwinkels von Leonhard Euler hat für diesen wichtige erkenntnistheoretische Konsequenzen:

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'sGravesande ( 1 1736, 1774), L. II, Chap. XIV (Des Sens, premier Fondement de L'Evidence Morale), S. 70-77. Alberti de Haller: Primae Lineae Physiologiae in usum Praelectionum Academicarum aucta et emendata, Göttingen 2 1751, Cap. XVIII (Visus), DXXXVIII, S. 343f. Wenige §§ davor hatte Haller auf den hohen Evidenzgrad hingewiesen, der bei physikalischen Experimenten resultiert, die auf Wahrnehmung, d.h. Aktivierung der Augenfunktion durch Lichtübertragung, basieren: »Sed oculi actio a physicis experimentis lucem unice accipit, per quae in summam evidentiam constituía est, paucissimis dubiis exceptis.« Vgl. Haller ( 2 1751), Cap. XVIII, DXXI, S. 331.

301 In diesen drey Stücken besteht das ganze Sehen; und wir empfinden eigentlich nichts als I) die Figur mit den Farben; 2) den Sehwinkel oder die scheinbare Größe; 3) die Gegend oder den Ort, wo wir den Gegenstand in unsere Gedanken hinsetzen. Also giebt uns das Gesicht keinen Begrif, weder von der wahren Größe noch von der wahren Entfernung der Gegenstände. Ob man sich gleich oft einbildet, daß man die Größe noch von der wahren Entfernung der Sachen sähe, so ist das doch nicht so wohl Empfindung als Urtheil. Die übrigen Sinne und eine lange Erfahrung setzen uns in den Stand, zu beurtheilen, wie weit ein gewisser Gegenstand von uns entfernt ist.143 D i e Unterscheidung von sinnlicher Wahrnehmung bzw. Empfindung und Urteil ist für Euler gerade deswegen wichtig, weil sie die Positionen der Skeptiker, aber auch die Phänomenalisierung der Außenwelt in der Metaphysik der Wolffianer demontiert: Die bei der Beurteilung eines Sachverhalts in der physischen Welt der sinnlichen Wahrnehmung zugewiesenen Unzulänglichkeiten sind nach Haller und Euler nur dem gefällten begrifflichen Urteil zuzuweisen, da dieses unter Umständen falsch sein kann: Ew. H. haben gesehen, daß das Gesicht allein uns nichts von der wahren Größe und Gestalt der Körper lehrt; und daß alles, was wir uns einbilden, [...] durch das bloße Sehen zu wissen, in der That ein Urtheil ist, das wir erst fällen, nicht eine Empfindung, die wir schon haben. Man muß das, was uns eigentlich die Sinne vorstellen, von dem sorgfältig unterscheiden, was wir durch unser Urtheil hinzusetzen; und in diesem können wir oft irren. 144 In der Ablösung des ideal-abstrakten Verstandesurteils durch die empirische Kategorie der persuasio, die Empfindung und Urteil verbindet, in Hinsicht auf ihren Wahrheitsgehalt jedoch voneinander unterscheidet, verändert Euler in Anschluß an 'sGravesande das Kriterium, nach dem menschliche Erkenntnis als gewiß bezeichnet werden kann. Dies verbindet Euler mit der Lösung eines Problems, das sich der empirisch-sensualistischen Erkenntnisbegründung stellt und mit den Veränderungen des sinnlich wahrgenommenen Objekts der Außenwelt durch die anatomische Struktur von Sinnesorganen, Nervenfibern und Gehirn zusammenhängt, zumal die >Seele< die Ideen der Objekte aufgrund von Empfindungen bildet, aber für Euler selbst außerhalb des materiell-organischen Teils des kognitiven Transformationsprozesses bleibt und sich daher heterogen zu diesem verhält. 145 Es handelt sich 143

144 145

Vgl. Leonhard Euler: Briefe an eine deutsche Prinzessinn über verschiedene Gegenstände aus der Physik und Philosophie. Aus dem Französischen übersetzt. Erster Theil. Leipzig 1769, 34. Brief (1. Aug. 1760), S. 117. (Ndr. der Ausg. Leipzig 1769: 1./2. Teil; St. Petersburg, Riga, und Leipzig 1773: 3. Teil. Eingeleitet und erläutert von Andreas Speiser, Braunschweig, Wiesbaden 1986, S. 39-40). Euler (1769), Erster Theil, 35. Brief (3. Aug. 1760), S. 119, Ndr. (1986), S. 40. Dies bildet einen neuralgischen Punkt in der wissenschaftlichen Diskussion um die sinnesphysiologische Erklärung des kognitiven Prozesses in der Mitte des 18. Jahrhunderts, in der Euler von den psychophysiologischen Annahmen Charles Bonnets differiert. In dem Essai analytique sur les facultés de l'âme (1760) macht Bonnet die Diversifikation der Empfindung in jedem einzelnen Individuum von der Spezifizität des materiellen Referenten derselben (Nerverfaser) abhängig, so daß jeder Empfindung χ eine spezifische Nervenfaser x1 zugewiesen wird. Z.B. könne jede

302 dabei um die Frage, die bei erkenntnistheoretischen A n n a h m e n mit dualistischem Substrat mitunter zu skeptizistischen oder idealistischen Lösungen führen kann, und zwar o b die Überzeugung der Gewißheit der von sinnlichen Eindrücken verursachten Vorstellungen auch Gewißheit bezüglich der Existenz der Objekte in der Aussenwelt bedeutet. Euler argumentiert diesbezüglich aufgrund von Beobachtungen in der Erfahrungswelt selbst und damit nach den Kriterien der moralischen Evidenz, die auf begriffliche Letztbegründung verzichte, aber als Begründungsinstanz von Wahrheit mit der mathematischen Gewißheit gleichzusetzen sei: Ich fürchte hiergegen keinen Einwurf, da die Sache durch sich selbst deutlich ist, ob wir gleich den wahren Grund davon nicht angeben können. Diese Ueberzeugung von dem Daseyn der Dinge, deren Bilder uns die Sinne vorstellen, findet sich nicht allein bey allen Menschen von jedem Alter und Stande, sondern auch bey allen unvernünftigen Thieren. Der Hund, der mich anbellt, zweifelt an meinem Dasein nicht, obgleich seine Seele nur ein leichtes Bild von meinem Körper wahrnimmt. Ich schließe hieraus, daß diese Ueberzeugung auf eine wesentliche Art mit unsern Nervenfiber auf der Netzhaut nur auf einen bestimmten Typus von Lichtstrahl reagieren. Euler befürchtet die materialistische Interpretation dieser Annahmen und begegnet Bonnet 1761 mit der Gegenannahme, daß »différents nerfs peuvent produire la même sensation«, und behauptet damit die Identität aller Nervenfibern. Bonnets Antwort folgt im Jahre 1772, also zwei Jahre nach der Veröffentlichung seiner Palingénésie philosophique, deren erster Teil diesen Problemen gewidmet ist: »au moins est-il incontestable que les nerfs de l'ouïe ne produiront jamais aucune des sensations de la vue et que les nerfs de la vue ne produiront jamais aucune des sensations de l'ouïe. Chaque sens a son district, son action, sa fin. Je vais plus loin: d'après mes principes psychologiques, j'ai fait envisager les fibres des sens comme autant d'organes infiniment petits qui ont chacun leur manière déterminée d'agir, etc. J'appliquerai donc à une simple fibre d'un de nos sens, ce que je pourrai dire de ce sens. Tandis qu'une fibre appropriée au rouge conserve sa structure propre ou qu'elle demeure dans son état naturel, elle ne produira jamais ou plutôt elle n'occasionnera jamais que la sensation du rouge. Ainsi, dans mes principes, un homme qui serait totalement privé des fibres appropriées au rouge ne pourrait pas plus avoir la sensation du rouge qu'un aveugle-né celle de la lumière, etc.« Vgl. Raymond Savioz: Mémoires Autobiographiques de Charles Bonnet de Genève, Paris, 1948, S. 296. Auf die Relevanz und Differenziertheit der Kenntnisse und Positionen in dieser Diskussion hat Renato G. Mazzolini aufmerksam gemacht: vgl. ders.: Temi di anatomia e fisiologia dell'occhio tra tardo Seicento e primo Ottocento. In: Teorie della visione e problemi di percezione visiva nell'età moderna, hg. von Maria Teresa Monti, Milano 1995, S. 27 - 52, bes. S. 47f. Haller referiert Bonnets Position in seiner Rezension der Palingénésie völlig unproblematisiert: »Er [sc. Bonnet] glaubt, die Empfindungen kommen durch Fasern zur Seele, deren Eigenschaften verschieden sind. Die ersten Empfindungen erregen die Seele auf eine andere Art, als diejenigen, die öfters wiederholt worden sind. Die Seele wirkt auf die empfindenden Fasern, diese werden ermüdet, wenn die Seele lang auf eben dieselben Fasern wirkt. Hier liegt der Grund der Schwierigkeit, die bey der Aufmerksamkeit ist. Die Zurückrufung der Begriffe hängt von der Verbindung der empfindenden Fasern ab. [...]. Herr B. hält die Seele für unkörperlich, ohne zu glauben, daß die Religion dabey leiden würde, wenn man beweisen könnte, die Seele sey ein Körper.« Vgl. Hallers Rezension von: Bonnet: Palingénésie philosophique (1770). In: Haller (1787), Erster Theil, Zwote Abtheilung, S. 328-336, Zitat S. 328f.

303 Empfindungen selbst müsse verbunden seyn, und daß die Wahrheiten, die uns unsere Sinne entdecken, eben so gegründet und gewiß seyn müssen, als die gewissesten geometrischen Wahrheiten. Ohne diese Ueberzeugung könnte keine menschliche Gesellschaft bestehen, und wir alle, so viel unser sind, würden uns ohne sie in die größten Widersprüche und die größten Ungereimtheiten stürzen. 146 D i e >Überzeugung< als empirische Kategorie der Wirklichkeitsdeutung - in ihrem Ursprung Evidenzfaktor in Belangen des religiösen Glaubens

-

gewinnt im naturrechtlichen Weltbild durch den hergestellten notwendigen Nexus mit der Kategorie der >Empfindung< im Bereich des Praktisch-Kontingenten also einen erkenntnisbegründenden und gesellschaftserhaltenden Status. In einem allgemeineren Sinn stehen damit die Kategorien der >Überzeugung/Empfindung< in ihrer notwendigen Abhängigkeit von der Objektwelt für die Bezeichnung eines naturgesetzmäßigen Grundverhaltens von Lebewesen in ihrem Bezug zu den Objekten der physischen und der sozialen Welt, das sich beim Menschen als anthropologisches Konnotat erweist. E s vergewissert ihn bezüglich seines Handelns in der Welt und der ihr auferlegten Interpretation. 1 4 7 In der Naturerkenntnis bilden diese Kategorien für den Menschen eine anthropologische Grundvoraussetzung, die in methodischer Hinsicht seine experimentelle Praxis begründet, diese aber nicht ersetzen kann. Nach der Absage an die Verläßlichkeit des verstandesmäßigen Zugangs zu Natur und Welt, deren Ordnung nicht aufgrund mathematischer Prinzipien erfaßt werden kann, gelingt die Überwindung der Kontingenz in der Naturerkenntnis nur durch den Eingriff des Menschen in die Natur 146

147

Vgl. Euler (1769), Zweyter Theil, 117. Brief (7. April 1761), S. 157f., Ndr. (1986), S. 135. Vgl. auch 'sGravesande: Discours sur l'Evidence ('1724,1774), S. 341: »Quelque grande cependant que soit cette différence, & quoique l'Evidence mathématique soit d'un tout autre genre que l'Evidence morale, la persuasion, qui résulte de l'une & de l'autre, est parfaitement la même.« Ganz im Sinne des Pufendorfschen Naturrechts parallelisiert 'sGravesande die empirische und daher gewisse Erkenntnis der Bedürfnisse und Pflichten der Menschen untereinander sowie der Gesetze der >societas civilis< mit der Erkenntnis der Gesetze der physischen Welt auf der gemeinsamen Basis der moralischen Evidenz; vgl. 'sGravesande: Discours sur l'Evidence ('1724, 1774), S. 337t: »[...] dès qu'il est question d'hommes, il faut, outre cela, que nous sçachions quels sont les secours mutuel dont des hommes, qui vivent en société, ont besoin; c'est à dire, il est nécessaire, que nous acquérions l'idée de société entre des hommes sujets aux mêmes passions & aux mêmes affections, auxquelles l'expérience nous apprend qu'ils sont réellement sujets. Si nous joignons à ces considérations celle de la société civile, comme cela se doit quand il s'agit des devoirs mutuels des hommes; il faudra, pour chaque société particulière, dont il sera question, sçavoir, où réside la puissance, dont doivent émaner les Loix, & quelles Loix en sont émanées. [...]. Nous n'avons aussi en Physique qu'une Evidence morale, au sujet des mouvemens des corps, dont l'assemblage forme cet Univers, & des loix, auxquelles ces corps sont soumis. [...]. Dès qu'en Physique les Phénomènes sont bien connus à l'aide d'une Evidence morale, c'est à dire, dès qu'il est certain que nous avons de ces Phénomènes des idées qui s'accordent avec les choses mêmes, nos raisonnemens, touchant ces idées, auront une certitude mathématique, & toutes les conséquences, que nous en déduirons, pourront être appliquées aux choses mêmes.«

304 selbst, da die begriffliche Ermittlung wissenschaftlich gesicherter Erfahrung zwar von dem Erfahrungswissen einer lebensweltlichen Praxis ausgeht, sich aber nicht darauf beschränken kann. Naturforschung im Rahmen des Galileischen Erfahrungsbegriff, d.h. die unter der Leitung theoretischer Fragestellungen instrumental erzeugte Erfahrung in der messenden Praxis des Experiments, konstituiert sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts unter den Bedingungen der Konstitution des menschlichen Körpers, dessen >Gesetz< faktisch durch den aufrechten Gang, die Freilegung der Hände, dem Bau des Gehirns, der Nerven und der Muskeln gegeben ist. Dieses >anatomisch-physiologische Gesetz< des Menschen ist wiederum Voraussetzung dafür, daß dieser seinen gattungsspezifischen Instinktverlust durch die Ausbildung einer psychophysiologischen Erkenntnisstruktur kompensiert. Im Übergang zu einer naturalistischen Konzeption der >Natur< des Menschen, dessen Körper als Organismus verstanden wird, der auf die physische Umgebung reagiert und Teil einer Natur ist, die sich autonom in organisierte Formen von graduell steigender Komplexität gebildet hat, übernehmen Anatomie und Physiologie in ihrer experimentellen Analyse der spezifischen Eigenschaften der materiellen Substrate des menschlichen Körpers die Aufgabe einer Grundlagenforschung, die um die Mitte des 18. Jahrhunderts eine >Wissenschaft vom Menschern begründet. 148 Haller definiert in diesem Rahmen sein Konzept des menschlichen Organismus durch die Irritabilität der Muskelfaser und die Sensibilität der Nerven. Am Ende der ersten Sektion des Irritabilitätstraktats, den er 1752 vor der versammelten königlichen Sozietät der Wissenschaften in Göttingen vorliest und 1753 veröffentlicht, gibt Haller eine Erklärung der Empfindung, die er ausschließlich an den materiell-organischen Teil der Nerven des menschlichen Körpers anbindet: »Solus nervus sentit,« schreibt Haller in einer kühnen Formulierung, und von der Nervenstruktur nur derjenige markichte Teil (medullaris fabrica), der aus dem Gehirn kommt. 149 Die

148

Dies erklärt auch den um 1750 vorhandenen politisch-institutionellen Willen, in Göttingen eine Akademie der Wissenschaften zu gründen, für deren Konzeptualisierung Hallers Tätigkeit in einer spezialisierten forschungsorientierten Richtung der Medizin wegweisend gewesen ist. Rudolf Vierhaus bringt das Wissenschaftsund Bildungskonzept an den Instituten der Georgia Augusta explizit mit dem Anwachsen anthropologischer Interessen auf Seite der bürgerlichen Gesellschaftsschicht in Verbindung: Die »[k]ritische Überprüfung und unbehinderte Erweiterung der Kenntnis von Natur und Geschichte, insbesondere des Verhaltens und Denkens der Menschen in allen Teilen der Welt und zu allen Zeiten durch die Wissenschaft«, führt auf institutioneller Ebene zu der Schaffung neuer Disziplinen im Bereich der Gesellschafts- und Kulturwissenschaften: »Das durch Überseehandel, koloniale Kriege, Auswanderungen und Entdeckungen geweckte Interesse an der nicht-europäischen Welt und ihren Völkern, überhaupt das rapide wachsende anthropologische Interesse gaben der wissenschaftlichen Arbeit an einer Institution Auftrieb, die weniger unter traditionellen Vorbelastungen stand als andere Hochschulen.« Vgl. Vierhaus (1988), S. 2 4 t

149

Vgl. Haller (1752/53), S. 134.

305 Priorität der sinnlichen Wahrnehmung und Empfindung in Hallers sensualistischer Erkenntnislehre erklärt sich um 1750 also damit, daß die Empfindung von einer materiellen Struktur des menschlichen Körpers abhängt und diese ist als Teil der Konstitution der menschlichen Natur a) hinsichtlich ihrer Invarianz von Gott bzw. von seinem Willen garantiert und daher b) für den Naturforscher hinsichtlich ihrer Gesetzmäßigkeit, deren Geltung auf den Gesamtbereich der Prozesse in der organischen Natur ausgedehnt wird, analysierbar. Vor diesem Hintergrund ergibt sich die methodologische Priorität des phänomenalistischen Evidenzbegriffs dadurch, daß die an die Organe der Sinneswahrnehmung und Empfindung gebundene Erscheinung im Hinblick auf die Realitätserkenntnis zwar nicht infallibel ist und den Objektbereich nur ungenügend zu erfassen vermag, aber dennoch das einzig disponible Erkenntnisinstrument für den Menschen bleibt, das ihm sozusagen >von Natur aus< aufgrund seiner körperlichen Konstitution zukommt.

6. Naturgeschichte und Naturforschung um 1750: Der anthropologische Typus Hallers Das Problem des Widerspruchs von Norm und Kontingenz bildet den Ausgangspunkt der erkenntnistheoretischen und methodologischen Reflexion des 18. Jahrhunderts, in deren Lösungsansätzen es prinzipiell um die Klärung der Frage geht, wie der Mensch, der die objektive Welt als kontingent wahrnimmt, zu der (von Gott gewollten) >Norm< gelangen kann. Der Normbegriff wird in zweierlei Hinsicht differenziert: (i) in der Erforschung der >Naturnorm< bzw. der Naturgesetze der objektiven Welt im Rahmen der Naturwissenschaft und (ii) in der Erforschung der >Norm des humanen Denkens< im Rahmen der Erkenntnistheorie. Die Analyse des bestehenden kausal-logischen Zusammenhangs zwischen den beiden Normbegriffen wird aber in Abhängigkeit von der Deutung der menschlichen Natur verschiedenen theoretischen Bezugsrahmen zugeordnet, die um 1750 grundsätzlich unterschiedliche Lösungen des Erkenntnisproblems ermöglichen. Das Problem der Begründung naturwissenschaftlicher Erkenntnis führt aber zunächst zum Problem der Begründung von Erfahrung im Rahmen der Kontingenz und stellt den Menschen und seine Erkenntnisbedingungen in den Mittelpunkt der Reflexion. Diejenige anthropologische Konzeption, welche die Resultate der komparativen Anatomie heranzieht, um die naturgeschichtliche Stellung des Menschen innerhalb der >Kette der Wesen< in seinem Verhältnis zum Tier zu definieren, führt die Organisation des menschlichen Körpers als entscheidendes Kriterium an. Dieser Typus von Anthropologie wird von der Generation von Naturphilosophen und Naturforschern begründet, welche die traditionellen Interpretationen der Natur des Menschen im Sinne der dogmatischen Theologie und

306 rationalistischen Philosophie bekämpft. Auch wenn - in Anlehnung an Max Webers Überlegungen zur idealtypischen Begriffsbildung - die >historische Individualität jedes Naturforschers innerhalb des anthropologischen Typus' Differenzen markiert,150 lassen sich gemeinsame den Typus kennzeichnende Merkmale festlegen. Diesen anthropologischen iypus< beschreibt Wolfgang Proß im Zusammenhang mit der Entwicklung der Naturgeschichte in der Zeit zwischen 1740-1770 wie folgt: Natural history, taking its stand mainly on the results of comparative anatomy, showed e. g. in the works of the philosopher Charles Bonnet, in the Histoire naturelle by Count Buffon and in the work of the physiologist Albrecht von Haller, that man belonged into the uninterrupted >chain of beingtierischen< und einer >menschlichen< Sensibilität bzw. Irritabilität und führt im Titel De partibus corporis humani sensilibus et irritabilibus das ihm dann zum Vorwurf gemachte Adjektiv humanus an. Wogegen Haller sich aber dezidiert wendet, ist jedes verallgemeinernde System der Bewegung im menschlichen Körper, das auf der Wirksamkeit der Muskelfaser aufbaut und »omne officium fibrae, vasis, nervi, musculi, totius denique machinae humanae ab hac sola irritabilitate deducatur«, 152 wie dies andere Physiologen - Haller nennt u. a. F. Winter, J. G. Krüger, R. Whytt, H. Fr. Delius - vor ihm getan haben. Der strengste empirische Anspruch von Hallers Forschung, die von Gott naturgesetzlich festgelegten und von daher konstanten und uniformen lebendigen Kräfte des menschlichen Körpers anhand unzähliger Tierversuche zu ermitteln - »centum nonaginta omnino ab anni 1751 principio viva animalia variis modis exa150 Ygj z u m Begaff historische Individuen< Max Weber: Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 61985, S. 178. 151 Vgl. W. Proß: Historical aspects of Cultural Psychology: The Impact of Johann Gottfried Herder. In: Swiss Journal of Psychology, 54 (1995), (4), S. 255-261, Zitat S. 256. 152 Vgl. Haller (1752/53), S. 115.

307 minavi« - , 1 5 3 und in einem differenzierten und partikularisierten StrukturFunktions-Modell wissenschaftlich zu beschreiben, hielt gegenüber jedem Vorwurf von Atheismus oder Materialismus stand. Durch das faktische Argument der experimentell abgesicherten Forschungsresultate und die x-malige Wiederholung der Versuche, ihrer Regelmäßigkeit und intersubjektiven Überprüfbarkeit gelangte Haller zur Überzeugung ihrer >Wahrheit< bzw. >Gewißheitidealistischen< Position eines Berkeley oder Condillac, in dessen sensualistischen Erkenntnistheorie der Seelenbegriff noch Residuen der Leibnizschen Monadenlehre aufwies; ferner von der materialistisch-neospinozistischen Konzeption eines La Mettrie, der ausgehend von der Irritabilität als einer essentiellen Eigenschaft organischer Materie auf die Materialität der Seele Schloß, sowie auch von panpsychistisch-animistischen Organismuskonzepten in der Nachfolge Georg Ernst Stahls, die ein immaterielles Selbstregulationsprinzip des Organisch-Materiellen annahmen. In Hallers Anschluß an die Kritik des Theologen Joseph-Adrien Abbé Lelarge du Lignac an dem Tierseelenbegriff in Condillacs Traité des Animaux zeigt sich das unproblematische Verhältnis von Hallers Anthropologietypus - gerade in der Akzentuierung der Organisation des menschlichen Körpers im Vergleich zu dem tierischen - gegenüber einer Form von natürlicher Theologie und Religion, die in ihren Aussagen über Gott und die Moral des Menschen die Ergebnisse der naturalistischen Forschung (ζ. B. Réaumurs oder Bonnets Insektenstudien) heranzog: Eben dieser scharfsinnige Abt (sc. Abbé de Condillac) hat auch ein Traité des Animaux herausgegeben; - Er ist fast auf die Berkleyschen Gedanken gefallen, und hat alles idealisiert, und die Empfindung als ein mit der Natur der Maschine streitendes, den Geistern eigenes Amt bestätiget, den der Hr. v. Buffon auch deswegen ziemlich widerlegt. Ein P. v. Lignac *) (Gotting, gel. Zeitung. 1756. S. 879) hat diese Meynungen des Abts beleuchtet, und da Condillac den Begriff der drey Ausdehnungen der Seele zutheilt, so sieht jener dieses als etwas sehr Gefährliches und den Idealismum eben für so schlimm, als den Spinozismum an. Darinn hat auch P. Lignac recht, daß er leugnet der Instinkt sey eine Folge der Gewohnheit; er bestärkt die Geschicklichkeit der neugebohrnen Insekten, die so fort alle ihrer Art angemessene Bewegungen ohne einige Versuch verstehen und bewerkstelligen. Er beweist, daß eine thierische Seele, wie der Abt sie beschreibt, Gott und eine Sitt-

153 154

Vgl. ebd., S. 114. Vgl. Monti (1990), S. 94-106.

308 lichkeit kennen müßte. Er überfällt ihn in einem Geständnisse, daß die Seele der Thiere von der menschlichen nur im Baue des Leibes (des organes) unterschieden sey, und will ihm zeigen, daß zu viel Witz nicht der Weg zur Wahrheit sey.155 D i e Ausgrenzung nicht-naturwissenschaftlicher Diskurse aus seinem Anthropologietypus, durch die Haller die Physiologie des menschlichen Körpers und seine neue Organismustheorie legitimiert und mit einer - der dogmatischen Gehalte entleerten - natürlichen Religion kompatibel macht, hindert den Physiologen aber nicht, andere anthropologische Typen zu verurteilen, deren radikaleren naturalistischen Inhalte den Unterschied Mensch-Tier nicht so eindeutig markieren bzw. diesen primär an äußeren Merkmalen der menschlichen Organisation festlegen und damit genau diejenigen inneren >geistigen< Merkmale unterminieren, die der Hallersche Typus in Form metaphysischer Annahmen gemeinsam mit der natürlichen Religion als wesentlich für den Menschen anerkennt. Diese Verurteilung erfolgt aber aufgrund von Argumenten, die das dualistische Substrat der Hallerschen Anthropologie in den Vordergrund drängen. Indem aufgrund dualistischer Annahmen apodiktisch festgelegt wird, worin sich der Mensch vom Tier unterscheidet, ergibt sich unvermeidlich eine Annäherung an die philosophisch-theologischen Kriterien, gegen die der anthropologische Typus ursprünglich gerichtet war und im Vergleich zu denen Hallers antimaterialistische Polemik nicht weniger dogmatisch wirkt. A n einem Passus aus der Rezension von Helvétius' provokativer Schrift De l'Esprit (1758) lassen sich die spezifischen Merkmale des anthropologischen Typus' Hallers weiter verdeutlichen: Wir finden zu dieser Verurtheilung zwey Hauptursachen: die vielen Klagen über die Geistlichkeit, und den deutlich hervorblickenden Hang zu dem neuen und äusserten Grade des Unglaubens, der alles zur Materie und die zufälligen Entwickelung der verschiedenen Gestalten derselben zur Schöpferin aller Dinge macht. Dieser Hang zieht sich fast auf allen Seiten. Gleich am Anfange des Werkes setzt Hr. H. den Vorzug des Menschen vor dem Thieren nicht in die Seele, auch nicht einmal in den Kopf, sondern bloß in die Hand. Da aber der Affe auch eine Hand hat, so bleibt dem H. nichts übrig als zu sagen, der Affe seye schwächer, er esse nur Früchte, er lebe kürzer, und sey endlich in einer viel zu starken Bewegung, die ihn vor der langen Weile, als einem Hauptgrund der Vollkommenheiten des Menschen, bewahre. Hiernächst befleissiget sich Hr. H. aufs äusserste, alle Gedancken, alle Vorstellungen, und alle Erinnerungen, auf ein blosses Gefühl zurückzubringen, so daß die Beurtheilung selber nichts anders als ein binomium von zweyen Gefühlen ist. Hierin unterscheidet sich, wie ehemals der grosse Boerhaave wohl angemerkt hat, 155

Vgl. Hallers Rezension von: Condillac: Traité des sensations (1754). In: Haller (1787), Bd. 1, XXXII (Stufenfolge menschlicher Erkenntnisse. Nach dem Abt Condillac, 1755), S. 125-133, hier S. 132t Zur Bedeutung von Condillacs Werk für eine zeichenbasierte psychologisch-genetische Konzeption des Verhältnisses MenschWelt als Grundlage der »histoire de l'esprit humain« vgl. Proß (1987), S. 1134— 1157. Zum Problem der monadenhaften Erkenntnisqualitäten des Statuenmodells Condillacs vgl. die Einführung von Laurent L. Bongie zu dessen kommentierten Edition von Condillacs Beitrag zu der Monaden-Preisfrage der Berliner Akademie: Les monades (1748), Oxford 1980.

309 der Spinoziste vom Christen am allerersten und tiefsten. Hr. H. macht sogar ganze Reihen von Schlüssen zu blossen Gefühlen, und vergißt dabey das Vermögen [sc. der >sensus interniGeist< (als Bezeichnung für das denkende Vermögen im Menschen) konstituiert wird, auch wenn über die Natur dieser Interaktion - Boerhaave nennt diese allegatio - nichts Definitives ausgesagt werden kann. Im Rahmen dieser Anthropologie kann aber die Existenz von >Geist< nicht unabhängig vom Körper gedacht werden, so daß >Geist< {mens) dahingehend definiert ist, daß das Objekt seines Denkens der Körper ist, wobei >Objekt< in zweierlei Hinsicht zu verstehen ist: (i) Objekt ist einmal im wörtlichen Sinne das, was dem Geist entgegengesetzt, von ihm aber verschieden ist, d.h. die bewußtseinsunabhängigen Objekte der physischen Welt; (ii) Objekt im Sinne von Denkinhalt ist das, was sich durch die Affizierung der Sinne durch ein Objekt der physischen Welt der Materie der Sinnesorgane bei der Wahrnehmung eindrückt und bedeutet, daß die >objektive< Grundlage des begrifflichen Denkens die Materie des Körpers ist. Durch den logisch-kausalen Konnex der beiden Objektbegriffe ist eine psychologisch-genetische Erkenntniskonzeption definiert, die auf physiologischem Substrat basiert. Insofern aber ein empirischer Zugang zu der Lösung des Erkenntnisproblems nicht den >Geist< oder die menschliche >SeeleDurch langes Studium der Nerven (spirits), des Blutes, der Nahrung, der Teile, der Krankheiten, der Vorzüge, der unglücklichen Umstände, die zum menschlichen Körper gehören, werden ohne Frage sehr zutreffende Vermutungen auch über die höheren und unmittelbareren Handlungen der Seele gemacht

310 nen (Anatomie, Sinnesphysiologie, Optik) eingeschlossen. D i e s e untersuchen die materiellen Substrate des Erkenntnisprozesses - von der Irritation an der Oberfläche der Sinnesorgane bis zu den Sinnesempfindungen (Nerven, Gehirnmark) - , 1 5 8 die damit die psychophysiologische Grundlage der Begriffsbildung konstituieren. Insbesondere stellten Hallers Sinnesphysiologie, Bonnets Psychophysiologie sowie Eulers Optik um 1750 den empirisch verfahrenden Wissenschaften ein naturwissenschaftlich-experimentell gestütztes Basiswissen zum neurosensorischen Substrat des kognitiven Prozesses im menschlichen Gehirn (Sehvorgang) zur Verfügung und schufen damit die Voraussetzungen für die Konzeptualisierung einer empiristischen Wissenschaftslogik, wie sie auf naturrechtlichen Prinzipien bei 'sGravesande bereits existierte und im Werk Johann Heinrich Lamberts im deutschsprachigen R a u m gegen Leibnizianismus und Wolffianismus fortgeführt und weiterentwickelt wurde (vgl. von Lambert v.a. das Neuefs]

Organon

die im selben Jahr geschriebene aber erst 1771 publizierte

von 1764 und Architektonik)}59

werden könnenBrücke< für die neuronalen Kontakte zu den kognitiven Zentren des Gehirns (Verstandesfunktionen) hervor, deren Lokalisierung Haller aber nicht vornimmt: »Denique ut fons omnis sensilitatis ita acerrimi sensus sedes in nervo est. [...].« Vgl. Haller (1752/53), S. 133f. In seiner Untersuchung der Grundlagen menschlicher Erkenntnis als ein Zusammenwirken unterschiedlicher Kraftarten - des Denkens, Wollens und Wirkens setzt Lambert in der Architektonik »bey den physischen Kräften« der Körperwelt an und steigt über ein aufgefundenes Tertium comparationis zu den Kräften des menschlichen Verstandes (Geisterweit) auf, wodurch Lambert die analysierten Gesetze zusammengesetzter physischer Körper nicht nur auf diese, sondern zugleich auf die »zusammengesetzten Dinge der Intellectualwelt« anzuwenden beansprucht. In diesem Prinzip knüpft er methodisch explizit an die >entia moraliawahr< {verum)

und >gewiß< (certuni),

wie sie in dem von Spi-

noza beeinflußten neapolitanischen Kontext (Gravina, Vico, Genovesi) bereits vorhanden war. 161 Offensichtlich mußte eine Wissenschaftstheorie, bei der die Sinnesempfindung als einem verworrenen Erfahrungsbegriff die logisch-konstitutive Basis der Urteilsbildung über ein Objekt der physischen Welt bildete, darüber reflektieren, welcher Begriff von Evidenz bzw. Gewißheit den empirisch basierten Wissenschaften (z. B. Ästhetik, Ethik, Naturwissenschaften) adäquat war. D i e s e Reflexion erfolgte in Abgrenzung von den

160

161

nichts erhebliches darüber gefunden.« Vgl. Lambert: Anlage zur Architectonic, oder Theorie des Einfachen und des Ersten in der philosophischen und mathematischen Erkenntniß, 2 Bde., Riga 1771, bes. Vorrede, S. III-XXIX, Zitate S. XI f. (Ndr. von Bd. 1 = Philosophische Schriften III, hg. von Hans-Werner Arndt, Hildesheim 1965). Vgl hierzu in Lamberts Neues Organon v. a. den Abschn. »Von der wissenschaftlichen Erkenntnis« (§§ 599-700) und zur Begriffslehre das Kap. »Alethiologie oder Lehre von der Wahrheit«; vgl. auch im Neuen Organon der Abschnitt »Von der Erfahrung« (§§551-598), die sich nach Lambert »zu der Grundlage und Erweiterung unsrer Erkenntnis in vielen Stücken schlechthin nothwendig macht« (§ 551), wobei »Erfahren, [...] eine Sache mit Bewußtseyn empfinden« heißt »und zwar gehört zu diesem Bewußtseyn nicht nur die Vorstellung der empfundenen Sache, sondern auch die Vorstellung, daß es eine Empfindung sey« (§ 552). Aus dem »Hauptumstand [...], daß die meisten Leute daran gewöhnt sind, und gewöhnt bleiben, sich alles individual vorzustellen, und daher, wenn sie nur Fragmente oder einzelne Stücke vor sich haben, das übrige aus ihrem eignen Vorrath von Einfallen hinzusetzen, um es zu completieren« (§ 566), leitet Lambert im Rahmen methodologischer Überlegungen (§§ 566-598) einen Hypothesenbegriff ab: »In der Naturlehre macht man Hypothesen, und will sich die Sache so vorstellen, daß man die Fragmente daraus erklären könne« (§ 566), wobei die Hypothese »ein willkührlich angenommener Begriff von eine Sache« ist, »aus welchem man dieselbe erklären will. Man giebt der Sache ein gewisse Structur, Eigenschaften, Mechanismus etc, um das, was die Erfahrung davon lehrt, begreiflich zu machen und herzuleiten« (§ 567). Vgl. Lambert: Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrthum und Schein, 2 Bde., Leipzig. (Ndr. von Bd. 1 = Philosophischen Schriften I, hg. von Hans-Werner Arndt, Hildesheim 1965). Vgl. grundlegend zu Lamberts sprachtheoretisch basierter Erkenntnisund Wissenschaftslehre Gesine Lenore Schiewer: Cognitio symbolica. Lamberts semiotische Wissenschaft und ihre Diskussion bei Herder, Jean Paul und Novalis, Tübingen 1996. Vgl. hierzu Proß (1987), S. 98f.

312 Evidenzbegriffen anderer (abstrakter) Wissensgebiete (Logik, Mathematik, Philosophie), insbesondere aber in kritischer Absetzung von der von den regulativen Begriffen der Vernunft geleiteten Möglichkeitswissenschaft Christian Wolffs,162 nach deren Prinzipien seine Anhänger sämtliche Wissensbereiche (u.a. auch die Iatromechanik und die Iatromathematik) begründen wollten. Das evidenztheoretische Begründungsproblem konzentrierte sich also auf den >epistemologischen Wert< der sinnlichen Wahrnehmung und Empfindung im Prozeß der urteilenden Abstraktion vom zu erkennenden Objekt der Erfahrung.

162

In den Prolegomena zu der Cosmologia generalis unterscheidet Christian Wolff ζ. Β. einen doppelten Kosmologiebegriff: einen wissenschaftlichen, der auf allgemeinen theoretischen Prinzipien fußt und apriorisch-deduktive Beweise ermöglicht, und einen empirisch-experimentellen, der die Theorie induktiv herleitet: »Cosmologia generalis scientifica est, quae theoriam generalem de mundo ex Ontologiae principiis demonstrat: Contra experimentalis est, quae theoriam in scientifica stabilitam vel stabiliendam ex observationibus elicit« (§ 4). >Wissenschaftlich< wird letztere aber nur insofern, als sie ersteren subordiniert wird: »Cosmologia experimentalis scientificam praesupponit. [...]. Cosmologia experimentalis & aliquatenus ante scientificam excoli & cum scientifica conjungi potest« (§ 5). Vgl. Wolff (21737), S. 3f.

Drittes Kapitel: Albrecht von Hallers Wissenschaftsbegriff im Rahmen der Anthropologie des Naturrechts 1. Religionssoziologische und wissenschaftstheoretische Problemstellung Die Konstituierung von Hallers Wissenschaftsbegriff im theoretischen Rahmen des Naturrechtsdenkens erklärt den systematischen Zusammenhang von (i) der Theorie des menschlichen Organismus, (ii) dem epistemologischen Modell (Sensualismus, Empirismus) und (iii) den religiösen Grundannahmen über das Verhältnis von Gott zu Mensch und Natur, die als Gesamtbereich unter die göttliche Garantie fällt. Die Natur selbst trägt ihrerseits nach Haller die Spur der göttlichen Weisheit an sich und der Mensch kann diese an den causae secundae erkennen. Die im naturrechtlichen Denkmodell - in der Variante Pufendorfs - angenommene providentielle Zuständigkeit Gottes in der Welt betrifft auch die physische Natur des Menschen, impliziert werden mit dieser aber zugleich auch seine moralischen Belange im vergesellschafteten Zustand, um dessen Erhaltung es im anthropologischen Ansatz des Naturrechts prinzipiell geht. Dabei ist dies mit Verpflichtungen des Menschen gegenüber Gott, 1 gegenüber den anderen Menschen in der Gesellschaft sowie gegenüber sich selbst verbunden. Nur so wird verständlich, weshalb fundamentale Prinzipien dieses Denkens bei der Errichtung der Universität Göttingen eine institutionell-politische Umsetzung erfahren haben, indem Bildung und wissenschaftliche Forschung programmatisch in die Hand von Professoren gegeben wurde, »deren Lehre auf das »öffentliche Wohl« zielen und die eher durch die Gründlichkeit ihrer Arbeiten als durch die 1

Pufendorf expliziert die atheistischen Implikationen der Infragestellung des Verhältnisses Gott-Welt-Mensch bzw. Mensch-Gott wie folgt: »Inter congenitas obligat i o n s praecipua est, quae incumbit omnibus hominibus adversus Deum, universi hujus summum arbitrum; cujus vi tenemur ipsum venerari, ejusque imperio & legibus obtemperare. Quam obligationem si quis in universum abruperit; atheismi flagitio sese alligat. Quod fit, si quis vel ipsum Deum existere neget, vel ab eo res humanas curari abnuat. Nam quoad effectum moralem haec duo aequipollent, & per utrumque omnis religio tollitur, & inter ludibria fraenandae rudi plebeculae rejicitur.« Vgl. Pufendorf: De jure naturae et gentium (Lund 1672, Frankfurt 2 1684, Amsterdam 3 1688), Lib. III, Cap. IV, § 4. Zit. nach Pufendorf (1998), S. 257.

314 Modernität ihrer Auffassungen Ansehen besitzen sollten.« 2 Insbesondere steht Hallers Naturlehre in Göttingen unter optimistischen Vorzeichen, wobei sein epistemologisches Modell - und dies ist wichtig - den zu erforschenden Objektbereich nicht von vornherein präjüdiziert, sondern im Gegenteil sich diesem gegenüber von der Intention her offen verhält. Der Widerspruch zwischen der autonomen Erkenntnis des Menschen im Bereich der kontingent erfahrenen Welt, die den Naturforscher ständig auf die Immanenz der Naturprozesse verweist, und dem methodischen Postulat der Garantie im Schöpfergott, der transzendent bleibt, aber seine Zuständigkeit in der Welt nicht verliert, ist nur scheinbar. Das Verhältnis Immanenz-Transzendenz wird im Naturrechtsdenken in diesem Gegensatz aufrechterhalten und ist sogar für dieses konstitutiv. Die Religionssoziologie hat im Anschluß an Max Weber gezeigt, daß die Religion - und zwar auch für die Interpretation der Wirklichkeit, wie sie dem Denkmodell des Naturrechts zugrundeliegt, - geradezu eine strukturbildende Funktion hat, die in der Logik des Ursprungsschemas mit dem Prinzip des Ursprungs der Welt im Schöpfergott und der Emanation von dessen Vernunft/Willen in seinem Werk zum Ausdruck kommt. 3 Das explikative Schema der Religion zeichnet das naturrechtliche Denkmodell durch einen Typus von Rationalität aus, der solange in Kraft bleibt bis der Prozeß der »Entzauberung der Welt« - das Movens, das nach der Weberschen Deutung der Entstehung des modernen abendländischen Weltbildes zugrundeliegt, - nicht fortgeschritten ist bzw. die Koexistenz dieses parallel dazu verlaufenden Rationalitätstypus ermöglicht; dieser Typus von Rationalität befördert den Entzauberungsprozeß sogar und erlaubt zugleich die Annahme der Existenz von wirkungsaktiven Agentien (Kräften) in der Natur. Der Typus von Rationalität, der diese Annahme nicht mehr zuläßt und sich damit von ersterem unterscheidet, interpretiert die Wirklichkeit nur noch als ein Aggregat von Gegenständen, deren Entstehung und Existenz in dem interrelativen Beziehungszusammenhang unter den Gegenständen selbst erklärt wird, wobei die ihnen zugewiesene Substanzialität den Rekurs auf einen Ursprung außerhalb, d. h. auf eine Ursprungs-und-Emanationslogik, überflüssig macht. Aber zunächst ordnet sich die Erkenntnissituation des Menschen, der sich der Problematik des Erkennens bewußt ist, scheinbar problemlos in den Rationalitätstypus des naturrechtlichen Denkens ein:

2 3

Vgl. Vierhaus (1988), S. 23. Vgl. Günter Dux: Ursprung, Funktion und Gehalt der Religion. In: Internationales Jahrbuch für Religionssoziologie, VIII (1973), S. 7 - 6 4 , bes. die §§ 1 9 - 2 5 zu den Begriffen Nationalität der Religion*, S. 4 2 - 4 6 , >Ursprung-Emanationgöttliche Garantie der Erkenntnis*, S. 58ff. Zur Religionssoziologie Webers vgl. auch Johannes Weiß: Max Webers Grundlegung der Soziologie, München, London, New York, Paris 2 1992, bes. S. 133-152.

315 D e m Menschen ist es nicht möglich, der göttlichen Emanation der Vernunft zu folgen, indem man deren Prozeß durch deduktives Raisonnement nachahmt; sondern er hat den göttlichen Ursprung auf induktive Weise zu erfassen, die von seinem partikulären persönlichen Status ausgeht. 4

Der im religiösen Explikationsschema konstitutiv angelegte Widerspruch bricht aber auf, sobald das Wissen um die Wirklichkeit in dem Sinne problematisch geworden ist, daß einige Bereiche der Wirklichkeitserkenntnis, wie z.B. die materiellen Prozesse der Natur, die lange Zeit in der Ursprungsund-Emanationslogik interpretiert werden konnten, nun das Schema selbst gefährden. Aber selbst dieser Moment trägt die ambivalenten Züge seiner Genese an sich: Es galt nun, das problematische Wissen auf erkenntnistheoretischer und methodologischer Ebene zu bewältigen, ohne dabei das Ursprungsschema aufzugeben. Edgar Zilsels und Franz Borkenaus sozial-, wissenschafts- und philosophiehistorische Studien haben gezeigt, daß im Zuge der Durchsetzung des neuzeitlichen naturwissenschaftlichen Weltbildes der Begriff des Naturgesetzes·«, der vom mittelalterlichen Naturrecht noch ganz auf die Sphäre von Individuum und Gesellschaft bezogen war, auf den Bereich der Objekte der physischen Welt übertragen wurde. Indem neuzeitliches Naturrecht und Naturwissenschaft aufgrund der gemeinsamen empirischen Vorgehensweise ihre jeweiligen >Objekte< und >Vorgänge< konstant setzen, vollzieht sich das, was Max Weber im Rahmen einer religionssoziologischen These, welche die Wissenssoziologie um eine Theorie des sozialen Wandels im Aufbau von Wirklichkeit ergänzt hat, als einen Vorgang der Rationalisierung des Objektbereichs begreift. Diese Form von Rationalisierung setzt sich dem ursprünglichsubjektivischen Erkenntnisschema der Wirklichkeitsauffassung entgegen. Diesem zufolge nahm in früheren Kulturstufen der Menschheit das soziale Kollektiv subjektivische Agentien als Ursprung dessen an, was ist und geschieht. Die Rationalisierung treibt die Entsubjektivierung der Wirklichkeit voran, durch die Weber den historischen Prozeß der Säkularisierung erklärt: 5 Entsubjektiviert wurde die Wirklichkeit dadurch, daß die Dinge und Vorgänge von ihren hinter ihnen liegenden und ihnen in diesem zwar anspruchslosen, aber grundlegenden Sinn: transzendenten Ursprüngen abgezogen wurden. An die Stelle subjektivischer Agentien als Ursprung der Bewegung trat die innere Dynamik des Beziehungszusammenhangs. Eben darin wurde die Wirklichkeit aber zugleich rationalisiert.6

Dieser Rationalisierungsvorgang hat zunächst einmal auf der methodologischen Ebene Folgen und zwar im Hinblick auf den Erklärungsbegriff: 4 5

6

Vgl. Proß (1978), S. 54. Vgl. Günter Dux: Religion, Geschichte und sozialer Wandel in Max Webers Religionssoziologie. In: Internationales Jahrbuch für Religionssoziologie, VII (1971), S. 60 - 94, bes. S. 85-93. Vgl. Dux (1971), S. 91.

316 Erklären heißt in diesem entwickelteren explikativen Schema nicht, etwas auf einen Ursprung zurückzuführen, aus dem es als Emanation hervorgegangen ist; erklären heißt: das Explikandum so in ein Relevanzsystem zu setzen, daß es aus dem regelhaften Ganzen dieser Dynamik, die es selbst mitkonstituiert, verständlich wird.7

Dieser Erklärungsmodus stellt aber bereits ein Endstadium im Prozeß der Rationalisierung dar, da dieser ein Verständnis von Wirklichkeit voraussetzt, das über die diese Wirklichkeit bildenden Entitäten und deren Natur sowie die Möglichkeiten dieselben zu bewältigen bereits eindeutige Entscheidungen getroffen hat, welche in sich >Rationalität< konstituieren. Denn Max Weber versteht den geschichtlichen Bewegungsprozeß als »Entfaltung von Herrschaft und Rationalität«, die seit Galilei auch Kennzeichen neuzeitlicher Naturwissenschaft sind, wobei der Religion eine zentrale Funktion zukommt: Die Ausübung von Herrschaft, vor allem über die Natur, ist ein anthropologischer und insofern ab origine universaler Tatbestand. [...]. In diesen Prozeß der Entfaltung von Herrschaft und Rationalität waren die Religionen auf intrikate Weise verstrickt, sei es positiv, indem sie halfen, sie zu entwickeln, sei es negativ, indem sie ihre Entwicklung hinderten. 8

Wenn also Max Webers Rationalisierungsthesen zutreffen, dann bedeutet der Wandel in der Ausübung von Herrschaft über die Natur bzw. der Wandel von Rationalität zugleich ein Wandel in der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit, deren Bedingungen für partikuläre historische Zeitpunkte auch rekonstruiert werden können: Der Strukturwandel der Wirklichkeitsauffassung ist das Resultat einer ständigen Arbeit, der Wirklichkeit Herr zu werden. Deshalb erweist sich die Geschichte in ihrer wahren historischen Dimension als ein Prozeß der Herrschaftsgewinnung ebenso über die Natur wie schließlich über die Sozialordnung. Dieser Prozeß ist identisch mit dem Fortgang des Wandels vom subjektivischen zum interrelationalen Verbundschema. Denn daß Dinge zunehmend aus der immanent regelhaften Dynamik ihres Relevanzsystems begriffen und in ihm konstant gesetzt werden, ist gleichbedeutend mit dem Vermögen, sie zu beherrschen. 9

Aus diesen Überlegungen kann ein theoretisches Schema gewonnen werden, das Subjektivierung und Rationalisierung der Wirklichkeit ins Verhältnis setzt: (a) Subjektivierung entzieht dem Menschen Herrschaft über die Objekte und weist sie einer transzendenten Subjektivität, im Extremfall Gott, zu; (b) der diesem entgegengesetzte Prozeß der Rationalisierung bzw. Entsubjektivierung kommt einem sachlich-rationalen Herrschaftsgewinn über die Objekte durch den Menschen gleich. Der Übergang von (a) nach (b) ist ein Produkt des historischen Prozesses, bei dem - in der vereinfachenden Darstellung des Schemas - eine animistisch-mythologische Auffassung der Wirklichkeit durch eine mechanistisch-wissenschaftliche ersetzt wird. 7 8 9

Vgl. ebd. Vgl. ebd., Zitate S. 66. Vgl. ebd., S. 92.

317 Isaac Newtons dynamischer Materiebegriff basiert auf einer chemischphysikalischen Konzeption von Materie, die Robert Boyle hypothetisch mit einem atomistischen Naturmodell begrifflich zu erfassen versucht hatte. In der Query 31 der Opticks fragt Newton, ob nicht »the small Particles of Bodies certain Powers, Virtues or Forces« hätten, »by which they act at a distance, [...] but also upon one another for producing a great part of the Phaenomena of Nature?« 10 Im Rahmen dieses Denkmodells formuliert Newton eine Hypothese, die bloß eine Wahrscheinlichkeit ausdrückt und - so wie alle in den Queries der Opticks aufgeworfenen Probleme zur Beschaffenheit der Materie - ihm zufolge der experimentellen Überprüfung bedürfen, denn die gegenseitige Anziehung von Körpern durch die attraktiven Kräfte der Natur (Schwere, Magnetismus, Elektrizität), die »the Tenor and Course of Nature« beispielhaft zeigten, »make it not improbable but that there may be more attractive Powers than these«. 11 Haller erbringt dann in der Irritabilitätslehre auf der Basis von Studien zur komparativen Anatomie einen experimentellen Beweis der Existenz einer attraktiven Kraft als Grundkraft der vis irritabilis im Innern der organischen Struktur der Muskelfaser des tierischen Körpers, die durch Stimulation von außen oder vermittelst eines Nervensaftes Bewegungsphänomene (Muskelkontraktion) erzeugt. Dabei bezeichnet Haller die Irritabilität als eine den irritablen Körperteilen angeborene, d.h. endogene, spezifische Kraft im Bereich der Physiologie des menschlichen Körpers: Irritabilem partem corporis humani dico, quae ab externo aliquo contactu brevior fit; valde irritabilem, quae a levi contactu, parum quae a valente demum causa in brevitatem cietur. [...]. Utrumque experimentis evictum dabo, & eadem opera demonstrabo, irritabilitatem non, ut vulgo creditur, a nervo nasci, verum ipsi fabricae partis irritabilis innatam esse. 12

In dem von Haller verfaßten Artikel »Physiologie« für die Encyclopédie wird die Attraktionskraft im Zusammenhang mit der Erklärung der Muskelbewegung explizit als Grundkraft einer vis viva des animalischen Körpers genannt: »Le mouvement musculaire ne lui [sc. Haller] paroît qu'une attraction plus vive des élémens, excitée par le suc nerveux qui agit comme un stimulant. 13 10 11 12 13

Vgl. Opticks (1717/18), Qu. 31, S. 350. Vgl. ebd., S. 351. Vgl. Haller (1752/53), S. 116 u. 134. Vgl. Haller: Art. »Physiologie«. In: Supplément à l'Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des Arts et des Métiers, Bd. IV, Amsterdam 1777, S. 3 4 4 b 365a, Zitat S. 358a. Die Aufnahme des Leibnizschen Begriffs der >vis viva< in die newtonianische Naturwissenschaft sowie dessen empirisch-experimentelle Umdeutung geht auf Hallers Lehrer 'sGravesande zurück, der experimentell zu zeigen versucht hat, daß nachdem >tote Kraft< als eine >vis insita< bzw. unaktivierte Kraft in der Materie in die Form der Bewegung übergegangen ist, sie zu einer lebendigen Kraft< geworden ist. Vgl. 'sGravesande: Physices elementa ( 2 1725), Monitum de hac Secunda Editione. Vgl. zum Leibnizschen Kraftbegriff auch Neuser (1995), S. 72f. Die Genese des Konzepts und des Verständnisses der Wirkungsmodi der >vis insita
Kraft< als wissenschaftssprachlicher Terminus ein animistisches Substrat aufweist, als dessen Konzeptualisierung bzw. Rationalisierung er sich im Rahmen eines mechanistischen Explikationsmodell verstehen läßt. 14 Obwohl Kraft als eine irritablen Strukturen des tierischen Körpers angeborene Entität bezeichnet wird, sind in ontologischer Hinsicht >Kraft< und >Materie< verschieden. Die rationale Verwendung des Kraftbegriffs übernimmt im mechanistischen Explikationsmodell in methodischer Hinsicht die Funktion einer Ursachenerklärung. Legt man nun zur Verdeutlichung der Typen der religiös-animistischen (a) und der mechanistischen (b) Explikationsmethode die unten (S. 319) abgebildete schematische Darstellung von Peter A. Angeles zugrunde, dann kann die Problemsituation der wissenschaftlichen Erklärungsansätze in der >Physik der lebendigen Phänomene< in der Mitte des 18. Jahrhunderts erfaßt werden, unter der Bedingung, daß das in dem Schema Abgebildete als historisch-genetischer Prozeß von Erkenntnisschemata verstanden wird, der auch Übergangsstadien implizieren kann. Ein wesentlicher Punkt ist dabei die Entwicklung von der Hypostasierung personal-subjektivischer oder psychischer Entitäten (z.B. >Gott-ähnliche< Wesen, Körper, Substanzen, Kräfte, Energien etc.), die der Realität als Eigenschaft zugeschrieben werden, im religiös-animistischen bzw. animistisch-teleologischen Explikationsmodell (a) zu der Konzeptualisierung entsubjektivierter, rationaler Entitäten (z.B. Kraft) im mechanistischen Explikationsmodell (b).

in der Irritabilitätslehre Hallers läßt sich somit auf den Kontext der Experimentalphysik der holländischen Newtonianer 'sGravesande und Musschenbroek zurückführen. Vgl. 'sGravesande ( 2 1725), L. I, Pars IV (De Viribus insitis & Collisione), Cap. X X I I , S. 1 0 9 - 1 2 0 . Musschenbroek zeigt in seinen Elementa physica (1741), daß sogar ein Körper, der sich im Zustand der Ruhe befindet, Körperbewegung auf einen andern Körper übertragen kann (78, § 196); vgl. hierzu Neuser (1995), S. 73. 14

Vgl. hierzu Peter A. Angeles: God-Entities and Scientific-Entities: A Minor Treatment of Animism and Mechanism as General Methods of Explanation. In: Internationales Jahrbuch für Religionssoziologie, III (1969) [Theoretische Aspekte der Religionssoziologie II], S. 1 6 7 - 1 8 4 , bes. S. 172. Angeles behandelt das Problem aber nur aus systematischer und nicht aus historischer Sicht als Prozeß der Genese von Erkenntnis und Wissen aus einer mythologischen Gestalt und deren Umwandlung in eine wissenschaftliche Terminologie. Darin sieht Dux (1971) auch die grundlegende Problematik dieses Aufsatzes.

319 • mythical

• scientific Mechanism

Animism religion

magic Hypothesizing of De-Personalized Constructs.

Hypostatization of Personalized Entities. TraditionRitualInitiationSystems. God(s) ^

Imagination Trend.

J Metaphor Ì I

A

Q u a n t ifi C ation

etc0gy J =

'

Model-andStatisticalDescriptionSystems. Generalizations.

Cajoling, placating, supplicating, prayingattidude.

Observing, describing, cataloguing, controlling predictingattidude.

Faith-Belief.

Fact-Belief.

Aestetic Animism.

Life Analysis

Law Analysis

Pure Mathematical Abstraction,

i

Teleological Animism

Supernaturalism

Naturalism

Mechanistic Science.

[Abbildung des P. A. Angeles-Modells] 15 . In der Mitte des 18. Jahrhunderts bilden die >Wissenschaften des Lebens< insofern einen Problembereich, als das Feld, in dem aus naturwissenschaftlichem Interesse spezifische Eigenschaften und Prozesse der organischen Materie analysiert werden, zugleich Fragen aufwirft, die im R a h m e n der explikativen Struktur der Religion metaphysisch-philosophische, theologische und soziale Relevanz aufweisen. D i e s e Fragen werden durch das dynamische Verhältnis provoziert, das sich zwischen den beiden extremen Polen des Ursprungsschemas Gott-Welt oder Gott-Natur herstellt, durch deren Spannungen Widersprüche auftreten können. D i e s e ergeben sich im Objektbereich der organischen Natur im wesentlichen in zweierlei Hinsicht: 15

Vgl. Angeles (1969), S. 167. Bezugnehmend auf den teleologischen Animismus der pythagoräisch-platonischen und stoischen Denktradition, die u. a. auch die Emanationstheorie Plotins beeinflussen, präzisiert Angeles einen Aspekt, der im Hinblick auf das Verständnis des Verhältnisses Gott-Natur im Naturbegriff des 18. Jahrhunderts (auch im Kontext Hallers) relevant wird: »When nature in general is believed (seen) to alive with active tendencies and is imbued with a Mind, then the extent to which (and the way in which) there is an Embodied Mind operative in nature, determines what God-position is taken along the continuum of: Pantheism -Panpsychism-Theism-Deism.« Vgl. Angeles (1969), S. 169, Anm. 2.

320 (i) An die anatomisch-sinnesphysiologische Analyse des menschlichen Erkenntnisprozesses knüpft sich das ontologische Problem des Dualismus von Geist und Materie an. Den Dualismus integriert Hallers Physiologie noch, jedoch droht ihm Gefahr, im Organismusgedanken zu verschwinden, da diesem monistisch-materialistische Bedeutungsmomente inhärent sind, welche die cartesische Trennung der Substanzen aufheben. In der 1720 erschienenen neospinozistischen Schrift John Tolands, Pantheisticon, in dessen Nachfolge La Mettrie und Diderot stehen, ist der Begriffswandel, der das Denken nur noch aus einer Substanz und zwar aus der Organstruktur des menschlichen Körpers erklärt, bereits fortgeschritten: Cogitatio (hîc minimè praetereunda) est motus peculiaris Cerebri, quod hujus facultatis est proprium Organum: vel potiùs Cerebri pars quaedam, in medulla spinali et nervis cum suis meningibus continuata, tenet Animi principatum, motumque perfid i tam cogitationis quàm sensationis; quae secundùm Cerebri diversam in omnium animalium speciebus structuram, mirè variantur.16 Das Denken ist eine eigentümliche Bewegung des Gehirns, welches das spezitische Organ dieses Vermögens ist; oder vielmehr ein gewisser Teil des Gehirns, der sich im Rückenmark und in den Nerven mit seinen Hirnhäutchen fortsetzt, hat den Vorrang der Seele und bewirkt die Bewegung sowohl des Denkens als auch der Empfindung; diese sind in allen Arten von Lebewesen in Abhängigkeit von der unterschiedlichen Struktur des Gehirns verschieden.

Die ontologische Gleichsetzung von Materie und Denken verwandelt den ursprünglich substantiellen Unterschied in einen funktional-genetischen Zusammenhang, der in physiologischer Hinsicht mit dem Struktur-FunktionsModell erklärt wird: Aus der artspezifischen materiellen Struktur des Organs (Gehirnmark, Nerven) resultiert die >Seele< (Denken, Empfinden) als eine Funktion desselben Organs, das seinerseits in einem übergeordneten funktionalen Zusammenhang aller Teile (Organe) des menschlichen Körpers steht, der mit dem Begriff des >Organismus< metaphorisch erfaßt wird. (ii) Das Problem der Erklärung der Entstehung von Leben versucht die Embryologie des 18. Jahrhunderts mit den beiden theoretischen Modellen a) der Epigenese bzw. Neoformation von Organismen und b) der Präformation präexistenter organisierter Keime im weiblichen Ei zu lösen, die unterschiedliche Naturbegriffe voraussetzen. Vereinfacht betrachtet, privilegiert jedes dieser Modelle jeweils einen Pol des explikativen Schemas: a) die Epigenese die >EmanationUrsprunghöheren biologischen Entität< (Keime), die in der Natur bereits existieren soll und deren Ursprung auf Gott zurückgeführt wird, Priorität eingeräumt. Hallers empirische Wissenschaft der Physiologie ist im wesentlichen dem Denkmodell der Newtonschen Mechanik verpflichtet. Der philosophische Kern von Hallers Wissenschaftskonzeption, der die metaphysischen Annahmen über die Beschaffenheit der Welt und die auf diesen Annahmen beruhende Entscheidung für gewisse Basisentitäten einer empirischen Wissenschaft erfaßt, enthält Konzeptualisierungen entsubjektivierter rationaler Entitäten, u.a. im Begriff der Attraktionskraft (vis adtractrix), dem Haller beispielsweise noch in der zweiten Ausgabe der Primae lineae physiologiae (1751) in der Domäne der embryogenetischen Prozesse eine wichtige explikative Funktion einräumt. Allerdings ist diese explikative Funktion aus der wissenschaftstheoretisch reflektierten Position des Naturforschers heraus in Form einer wissenschaftlichen Hypothese, d.h. als begriffliches Konstrukt, formuliert. Hallers grundsätzlich physikotheologisches Verständnis der Naturprozesse, in dem die Annahme des innerweltlichen Wirken Gottes auf die causae secundae der Natur impliziert ist, setzt im Rahmen einer solchen Hypothese voraus, daß der nach göttlichen Gesetzen konstant ablaufende embryogenetische Prozeß teleologisch gelenkt ist, wobei den attraktiven Kräften eine zwischen Gott und der Materie vermittelnde Funktion zugeschrieben wird. Der nicht-intelligente Charakter mechanischer Kräfte steht bei Haller spätestens nach den experimentellen Studien zu der Irritabilität fest.

2. Das Begründungsproblem von Hallers Irritabilitätslehre im Rahmen des naturrechtlichen Rationalitäts- und Evidenztypus' Eine von Hallers grundlegenden methodologischen Fragen in der Hypothesenschrift von 1750 betrifft die Möglichkeit und die Bedingung eines Gewißheitsbegriffs für den Bereich der Naturerkenntnis, nachdem den mathematischen Begriffen in der physischen Welt kein ontologisches Pendant mehr zugesprochen wird. Hallers konstruktive Skepsis desavouiert gerade nicht die Möglichkeit jeder Wahrheitserkenntnis, sondern führt den Forscher zu der Autopsie des Naturobjekts auf der Ebene der physisch-materiellen Existenzordnung. Bezeichnend dafür ist, daß Hallers Äußerungen in eine Phase intensiver experimenteller Forschungen zu der Irritabilität fallen, deren Resultate er im Abstand weniger Jahre in den Praelectiones von 1752/53 veröffentlichen sollte. Die Irritabilität als eine innere Kraft (vis insita) der organischen Materie (Muskelfiber), die nicht vom Nerv auf den Muskel übertragen werde und damit von der Sensibilität der Nerven, die nicht irritabel seien, unterschieden werden müsse, bezeichnet Haller in den Praelectiones als den

322 irritablen Strukturen angeboren, 17 obwohl er mit den Sinnesorganen und den Instrumenten wissenschaftlicher Erkenntnis den submikroskopischen Bau der Muskelfaser und die der Materie beiwohnenden Kräfte nicht positiv zu >sehen< in der Lage ist. Zwar gibt er die materielle Zusammensetzung der Muskelfiber an - sie bestehe aus einer Gallerte oder Leim (Gluten) und aus irdichten Elementen - doch muß er offen lassen, »an in glutine, an in elementis sedeat vis irritabilis.«18 Daß die irritable Kraft im Gluten ihren Sitz habe, ist für Haller wahrscheinlich (probabile), wobei noch zu erforschen bleibe, wie der Leim, der aus einer toten Materie (mortua lympha) entstanden sei, in einem lebenden TCer irritabel werde, 19 d.h. zu einer lebendigen Materie-Kraft-Verbindung wird. Diese Aussage, mit der Haller dieser organischen Materiestruktur eine essentielle Eigenschaft (eine kontraktive Kraft) zuschreibt, ist damit ein Produkt der Deduktion aus wahrnehmbaren Phänomenen (Muskelbewegung bzw. -kontraktion), deren Basis experimentell konstruierte bzw. erzeugte Erfahrung ist. Die Bedingungen der Gewißheit in der Naturlehre, die zugleich die Bedingungen der Begriffsbildung sind, die sich auf die Objekte der Erfahrung beziehen, sind damit allein durch sinnliche Wahrnehmung und begriffliche Deduktion aus Erfahrungsdaten (Experimenten) gegeben, wobei der von der Erfahrung abgeleitete Begriff - wie dies der Hallersche Begriff der vis irritabilis ist - konstitutiv Wahrscheinlichkeitskomponenten einschließt. Zugleich bedarf der ausgebildete Erfahrungsbegriff (auch in seinen gewissen Komponenten) deshalb einer wiederholten experimentellen Überprüfung an dem physischen Objekt, weil der Objektbezug in dem anatomisch-physiologisch bedingten Erkenntnisprozeß des Menschen konstitutiv ein alogischer ist: Das Resultat der Erkenntnis, also der Erfahrungsbegriff und das physische Objekt selbst sind zwei verschiedene Dinge. Der Forscher schaltet zwischen sich und dem Naturobjekt das Erkenntnisinstrument des Experiments ein, um die Gewißheit und die Überzeugung dessen permanent zu erhöhen, was der Forscher an dem Gegenstand zu erkennen glaubt. Theoretisch ist dieser Erkenntnisprozeß nie definitiv abgeschlossen. Es ist aufgrund von Belegen in den Kommentaren zu

17

18 19

Vgl. Haller (1752/53), S. 116 u. S. 134: »Irritabilem partem corporis humani dico, quae ab externo aliquo contactu brevior fit; valde irritabilem, quae a levi contactu, parum quae a valente demum causa in brevitatem cietur. [...]. Utrumque experimentis evictum dabo, & eadem opera demonstrabo, irritabilitatem non, ut vulgo creditur, a nervo nasci, verum ipsi fabricae partis irritabilis innatam esse.« Eine knappe und konzise Darstellung der Hallerschen Irritabilitätslehre gibt Jantzen (1994), S. 402-411; zu Kontroverse und Interpretationen der Hallerschen Irritabilität vgl. ebd., S. 411-422. Der Bd. enthält außerdem eine ausführliche Bibliographie, es fehlen jedoch die Angaben grundlegender Forschungsarbeiten zu Hallers Physiologie und Embryologie wie z. B. Mazzolini (1977), Duchesneau (1982) und Monti (1990). Vgl. Haller (1752/53), S. 152. Vgl. ebd., S. 152: »Qui vero fiat, ut gluten ex mortua lympha natum irritabile in animale fiat, superesset inquirendum.«

323 Boerhaave und in den ersten beiden Ausgaben der Primae

lineae

physiolo-

giae (1747, 2 1751) anzunehmen, daß Hallers 1752 vorgetragene Theorie der Irritabilität schon auf die 1730er Jahre zurückgeht, wobei sich seine These von der Unabhängigkeit der Herzmuskelbewegung v o m Gehirn und den Arterien auf die Ergebnisse von Richard Lowers Traktat De corde

(1669)

stützte. 20 Damit scheint bei Haller zwischen der offenbar schon früh gewonnenen Überzeugung von der Autonomie der Muskelbewegung und dem Schritt zu der öffentlichen Darstellung einer empirischen Theorie eine lange Phase der experimentellen Vergewisserung zu liegen. 2 1 Aber indem Haller de facto in der Irritabilitätsschrift der organischen Materie eine spezifische endogene Kraft und damit - wenn auch eingeschränkt auf die Materie der Muskeln - eine Disposition zur Selbstbewegung zuschreibt, ist für ihn d e m Problem der materialistischen Interpretation seiner Lehre nicht anders als durch eine klare methodologische Distinktion zwischen >wahren< und w a h r scheinlichem Aussagen in seiner empirischen Physiologie vorzubeugen. A m Schluß des Irritabilitätstraktats betrachtet Haller die Ansichten La Mettries als widerlegt. 2 2 In der v o m 24. April 1751 datierten Vorrede zu der zweiten Ausgabe der Primae

lineae physiologiae

spricht Haller seine methodologischen

Prinzipien explizit aus: 20

Haller zitiert Lower in den Kommentaren zu Boerhaave; vgl. Jantzen (1994), S. 402, Anm. 122: »Ergo cor movetur a causa aliqua, quae ñeque a cerebro, ñeque ab arteriis derivatur, ignota, & in ipsa fabrica cordis latente.« Vgl. H. Boerhaave: Praelectiones Academicae in proprias Institutiones rei medicae, Bd. 2, (1740), S. 129; zit. nach Jantzen (1994), ebd. Das Kriterium, das eine genaue begriffliche Distinktion ermöglichen soll zwischen dem Bereich der autonomen Irritabilität in den Muskelpartien, den vitalen Organen des tierischen Körpers und den Nerven, durch deren Verbindung zum Gehirn Empfindung entsteht, ist für Haller die Permanenz der Eigenschaft der Irritabilität in dem isolierten vitalen Organ des toten Tierkörpers auch nach der materiellen Entfernung aller Nervenpartien: »Neque dissimulandum est, avulsa de corpore parte aliqua irritabili, nervis remotis, a commercio cum cerebro sevulsis, nihil valde de irritabili natura decedere, cordi inprimis, & intestinis.« Vgl. Haller (21751), Cap. XIII (Motus muscularis), § CCCVIII, S. 252. In den irritablen Körperteilen kann also nach Hallers Begriffsschema Muskel/irritabel-Nerv/ sensibel unmöglich >Gefühl< sein, da dieses erst durch eine ununterbrochene Verbindung der Nerven mit dem Gehirn (im Gehirnmark) entstehen kann und bei Haller an den Zustand des Lebens gebunden ist.

21

»Erst seit dem April 1751, als die Untersuchungen seines Schülers und Mitarbeiters Zimmermann zusammengefaßt vorliegen, scheint er sich sowohl gegenüber den Praktikern der Boerhaave-Schule (van Swieten, de Haën) als auch gegenüber dem materialistischen Mißverständnis seiner Forschung (La Mettrie) sicher zu sein.« Vgl. Jantzen (1994), S. 402, Anm. 122. Vgl. zu Johann Georg Zimmermann: Dissertatio physiologica de irritabilitate (Göttingen 1751) Renato G. Mazzolini: Le dissertazioni degli allievi di Albrecht von Haller a Göttingen (1736-1753): una indagine bio-bibliografica. In: Nuncius, Anno II (1987), fase. 1, S. 125-193, bes. S. 153f. Vgl. Haller (1752/53), S. 158: »Novam facultatem animalis corporis DEMETRIVS ille pro fundamento systematis posuit, quo animam immaterialem destruere adnisus est, [...] ea experimenta, quibus aliquam impiae opinioni speciem addidit, quam experimenta nostra facile réfutant.«

22

324 [...] enarrare constituí ea omnia, quae ad rem physiologicam hactenus collata sunt, ut ea, quae vera sunt, quae probabilia, quae infirma, sincerus ubique indicem, quantum quidem imbecillitas humana, meique inprimis ingenii limites permittunt.23 [...] ich habe beschlossen, alles darzustellen, was ich bis zu diesem Zeitpunkt über die Physiologie zusammengetragen habe, indem ich dasjenige, was wahr, was wahrscheinlich und was ungenügend gesichert ist, überall ehrlich angebe, insofern es die menschliche Schwäche und vor allem die Grenzen meiner Verstandeskraft erlauben.

Hinsichtlich unserer These, daß Hallers Wissenschaftsbegriff um 1750 in den theoretischen Denkrahmen der naturrechtlichen Anthropologie einzuordnen ist, kommt dieser Textpassage eine eminente Bedeutung zu. Diese Einordnung konstituiert sich im wesentlichen durch die Ableitung eines differenzierten methodologischen Konzepts der empirischen Erforschung der »Physik der Lebensphänomene« von einer Konzeption der Natur des Menschen, die unter dem Merkmal der imbecillitas humana direkt an einen - von Plinius und Lukrez übernommenen - zentralen Begriff des Pufendorfschen Naturrechts anknüpft. Von dieser anthropologischen Konzeption ist ferner auch der phänomenalistische Evidenzbegriff abhängig, den Haller in der Irritabilitätsschrift, deren ersten Teil er am 22. April 1752, also genau ein Jahr nach der Primaelineae-Vorrede von 1751, vorträgt, mehrfach verdeutlicht und mit dem sich die methodologische Grenzziehung des Physiologen bezüglich einer Verallgemeinerung seiner Lehre erklären läßt. Das wissenschaftliche Erklärungsmodell, das Haller dem De partibus corporis humani sensilibus et irritabilibus zugrundelegt, ist ein Struktur-Funktions-Modell, das, wie schon im Titel der Schrift programmatisch formuliert, auf einzelne Teile/Organe eingeschränkt wird, deren jeweilige Funktion prinzipiell nicht auf den gesamten Organismus übertragbar ist. Auf der Basis der Ergebnisse seiner seit 1746 durchgeführten Experimente teilt Haller die Organe des menschlichen Körpers in irritable und sensible auf. Die Irritabilität versteht Haller als eine der Muskelfiber inhärente Kraft (vis insita), die durch eine mechanische Irritation von außen eine kontraktive Bewegung ausführt, wobei eine von der vis insita verschiedene Kraft, die vis nervea, durch die Hinzufügung eines stimulierenden Saftes zu der Kontraktionsbewegung in der Muskelfiber (mouvement nerveux) beitragen kann und daher bei Haller den Status einer kontraktiven Kraft annimmt. Während die vis insita in den vitalen Organen (z. B. das Herz) autonom, also unabhängig vom Bewußtseinszentrum (Wille) reagiert, wirkt die vis nervea in denjenigen innervierten Muskelpartien, deren Bewegungen vom Bewußtseinszentrum gesteuert sind (sogenannte muscles volontaires), ohne selbst aber, analog zu der vis insita, von dem Bereich des Psychisch-Seelischen abzuhängen, da die Verbindung Nerven-Gehirn/Rückenmark unterbrochen ist; die vis nervea hat aber, wie Haller nicht unmißverständlich formuliert, im Gehirn ihren Ur23

Vgl. Haller (21751), S. 8 (meine dt. Übersetzung).

325 sprung. 24 D i e sensiblen Teile des menschlichen Körpers sind vermittelst des Nerven- und Gehirnmarks mit dem Empfindungszentrum im Gehirn verbunden, so daß jede Einwirkung auf ein Sinnesorgan Psychisch-Seelische Veränderungen verursacht. 25 Haller ist aber nicht bereit, seine empirischen Befunde durch eine explikative Theorie zu begründen, welche für die neu hervorgegangene Verteilung der Eigenschaften der Sensibilität und der Irritabilität auf einzelne Teile des Körpers Rechenschaft ablegen sollte; denn selbst die durch wissenschaftliche Erfahrung gewonnene Überzeugung, daß die physische Ursache der beiden Fähigkeiten im Innersten der Organisation, der intima fabrica, verborgen liege, ist für den Physiologen nicht hinreichend, um jene kausal-deduktiv aus dieser abzuleiten, oder daraus den psychophysischen Zusammenhang zu erhellen. Fragen, die sich nicht allein mit Hilfe der Erkenntnisinstrumente des empirischen Forschers - Auge, Skalpell, Mikroskop - aufklären lassen, überschreiten bereits dessen Kompetenzbereich, jenseits von dem jede Aussage zur reinen Spekulation wird: Ex iis experimentis natum est specimen novae divisionis partium corporis humani : Non alio titulo pro hac opella utor, qua irritabiles partes corporis & sensibiles enumero & ab iis separo, quae ñeque irritabilis sunt, ñeque sensibiles. Theoriam autem, cur utravis proprietas aut in his partibus nulla fit, aut in aliis corporis humani particulis aliqua, ejusmodi inquam theoriam, ne promitto quidem. In intima enim fabrica latere hanc utriusque potestatis scaturiginem, & longe ultra scalpelli, aut microscopii vim poni, ego quidem persuadeor: Ultra scalpellum vero aut microscopium ne quidem multa conjicio, facile abstinens ab iis docendis, quae ipse nescio. Superbum genus ignorantiae est, ducem se dare aliis, ubi nihil ipse videas.26 24

Zum problematischen Status der >vis nervea< im Rahmen des Hallerschen Begriffsschema Muskel/Bewegung-Nerv/Empfindung vgl. Monti (1990), S. 61-64. Die >vis nervea< durchbricht dieses theoretische Schema insofern, als sie einmal eine Impulsfunktion (Wille-Gehirn-Nerv-Muskel) und einmal eine Stimulusfunktion (in der Muskelfiber) annimmt und sich durch Bewegungsfähigkeit auszeichnet, die den Nerven selbst aber nach Haller in keinerweise zukommt. Der Problemstatus der >vis nervea< tritt in der Irritabilitätsschrift von 1753 noch nicht deutlich hervor; er verdeutlicht sich aber im vierten Bd. der Elementa physiologiae (1762), (Cerebrum, nervi, musculi), S. 516f. und in dem Art. »Irritabilité« (1773) der Encyclopédie von Yverdon, wo Haller die >force mortevis insita< und >vis nervea< als drei verschiedene materiestrukturspezifische Ausprägungen (derivative Kräfte) einer einzigen (>primitivenvis nervea in die Funktionen des Bewußtseins/Sensibilität. Dabei zählt Haller einige allen Fibern gemeinsame Eigenschaften (u.a. die Elastizität) sowie Körperteile auf, denen diese Eigenschaften zukommen sollen: »Fragiiis aut mollis, elastica, aut penitus pultacea, longa absque fere latitudine, vel lata, ut longitudini par fere latitudo sit, ossa, cartilágines, membranas, vasa, ligamenta, tendines, musculos, ñervos, cellulosum textum, viscerum parenchymata, pilos & ungues sola constituit« (ebd.). Wenn nun Muskeln und Nerven, aber auch Gehirn und Rückenmark aus Fibern bestehen, denen bestimmte Eigenschaften gemeinsam sind, dann fragt sich: a) inwiefern dadurch nicht ganzheitliche Konzepte der Physiologie des menschlichen Körpers in Richtung Psychophysiologie oder >LebenskraftNerfs vitaux< führen aber die durch Irritation bewirkte Bewegungsfunktion in den >muscles volontaires< aus, unabhängig davon, ob der Nerv isoliert (unbewußte Funktion) ist oder ob er mit dem Gehirn in Verbindung steht (bewußte Funktion). Vgl. hierzu auch Monti (1990), S. 63. Die vom System strikt angelegten Grenzen zwischen bewußten nicht-autonomen und unbewußten autonomen Funktionen der Teile des menschlichen Körpers scheinen damit verwischt; eine Kontamination auf der Ebene der Begriffe - >nerfs vitauxvis nerveamuscles volontairesanatomisch-physiologische Gesetz< des Menschen garantiert. Dieses Gesetz unterscheidet ihn durch die Möglichkeit der Ausbildung von Fähigkeiten, wodurch er zum >moralischen< Menschen wird. D i e theoretische Annahme bezieht sich aber diesmal auf den Status der Naturobjekte und deren Erkenntnis. Wolfgang Proß expliziert die Annahme der >Rationalität< des Objektbereichs aus der historischen Problemsituation des 17. Jahrhunderts: In analoger Weise, und mit demselben deistischen Substrat der Ordnung der Dinge innerhalb der Wesenskette, ist die Erfassung der Naturgegenstände konzipiert; ihre Rationalität wird vorausgesetzt, die Hoffnung auf die präzise Erfassung ihrer Substanzen durch einheitliche Prinzipien und ihre mathematische Formulierung wird jedoch dadurch geschmälert, daß die Gegenstände in einer »gemischten« Form der Materie, nicht in der Urform der »materia prima«, die der Gegenstand der spekulativen Naturphilosophie seit Aristoteles gewesen war, untersucht werden müssen. Naturgeschichte und Naturrecht sind in dieser Unterscheidung von Urzustand und »vermischtem« gegenwärtigen Zustand (im Sinne Schelers) analog strukturiert und in ihrer Erfassung sozial markiert; [.. ,].34 D i e Ontologie nimmt im ens (Sein) eine nicht sichtbare Entität (Ursache) an, die aber die Existenz jedes Einzeldinges (Wirkung) bedingt und die in der Substanztheorie der materia prima - im Gegensatz zu der materia mixta - ihr kosmologisches Pendant findet. D i e Möglichkeit der Rekonstruktion der materia prima haben aber bereits der Polyhistorismus und Bacon negiert. 35 D e n Speku34 35

Vgl. Proß (1978), S. 54f. Vgl. hierzu ebd., S. 45 u. S. 55, wo auf die Bedeutung des Polyhistorismus, bes. der Schrift von Daniel Georg Morhof: Polyhistor (Lübeck 41747), und dessen antiaristotelischen und antimathematizistischen Ansatz hingewiesen wird. Mit der Anknüpfung an den Baconismus trägt der Polyhistorismus im 18. Jahrhundert zur Herausbildung empirisch-experimenteller Wissenschafts- und Methodenkonzepte bedeutend bei; vgl. hierzu die Ausführungen zu dem Brief Comings an Leibniz vom 26. Februar 1678 in Teil II, Kap. 2, 1 dieser Studie. Darüber hinaus verdeutlicht Proß die Analogie zwischen der vom Polyhistorismus geübten Kritik am metaphysischen Materiebegriff der Aristoteliker und einem zentralen methodischen Prinzip des Pufendorfschen Naturrechts: »So unerkennbar wie bei Morhof der Übergang von der >materia prima< zu den physischen Gegenständen erschien, so unbegründbar ist bei Pufendorf der Übergang vom Naturzustand zum vergesellschafteten Verband; die Herkunft der positiven Gesetze ist dabei nicht eindeutig zu definieren. Fest steht

332 lationen der Ontologie begegnet die empirische Naturerkenntnis des 18. Jahrhunderts auf zweierlei Weisen: a) mit einer Erkenntniskritik wie sie in der Naturphilosophie Newtons formuliert wird: »[...] quid sit rei alicujus substantia minime cognoscimus. Videmus tantum corporum figuras & colores, [...] tangimus tantum superficies externas, [...] intimas substantias nullo sensu, nulla actione reflexa cognoscimus; [.. ,]«36 und b) mit der Herausarbeitung methodologischer Regeln. In der dritten Regula Philosophandi formuliert Newton »eine Grundlage für den Schluß vom Beobachtbaren zum (prinzipiell) Unbeobachtbaren: eine Analogie-Regel der Natur. Solche Regeln werden erforderlich, weil sich die >Ursachen< weiter von dem Erfahrbaren entfernt haben.« 37 In dieser methodologischen Regel ist also eine theoretische Annahme enthalten, die sich auf die Natur selbst bezieht, d. h. die Analogie ist eine Regel oder ein Gesetz der Natur. Die von Haller im methodischen Rahmen der komparativen Anatomie unzählig wiederholten Versuche an lebenden und toten Tieren ermitteln die Irritabilität oder force inné als eine Eigenschaft oder ein Vermögen der Muskelfaser im Sinne eines der Fibernstruktur inhärenten Bewegungsdispositivs in potentia, das durch einen mechanischen Reiz auf der phänomenalen Ebene in eine Kontraktionsbewegung übergeht, die auch variabel sein kann, dem tierischen Körper qua Eigenschaft aber wesentlich zukommt und als solche konstant ist. 38 Dies bedeutet, daß der Physiologe im Rahmen der phänomenalen Ordnung der organischen Natur aufgrund von Experimenten eine Gesetzmäßigkeit >entdeckt< bzw. eine solche annehmen kann. Der analogische Denkschritt, der von dem phänomenalen Bereich auf eine physikalische Ursache im Innersten der Organisation schließt, wird also aufgrund der Annahme dieser Gesetzmäßigkeit möglich: Das, was vom Beobachtbaren gilt, trifft auch für das nicht-Beobachtbare zu, weil nach der Analogieregel angenommen werden kann, daß die gesetzmäßige Eigenschaft der Irritabilität, die in den makroskopischen Bereichen der organisierten Materie manifest wird, sich auch in den submikroskopischen gesetzmäßig verhält.

36 37

38

nur, daß der Mensch aus d e m Naturzustand heraus- und in die Geschichte eintreten mußte; der christliche Mythos ist damit seiner Erklärungsfunktion beraubt: [...].« Vgl. Proß (1978), S. 55. Vgl. Principia (1726), L. III, Scholium Generale, S. 529. Vgl. Danneberg (1996), S. 36 und N e w t o n (1726), Lib. III, Regula III, S. 387: »Qualitates corporum quae intendi & remitti nequeunt, quaeque corporibus omnibus competunt in quibus experimenta instituere licet, pro qualitatibus corporum universorum habendae.« D a ß Haller die Irritabilität einmal als Eigenschaft (essentiell) und einmal als B e w e gung (variabel) versteht, geht u.a. aus seinem Irritabilitätsartikel deutlich hervor: »[...] l'irritabilité ne réside que dans la fibre musculaire. [...]. L'irritabilité en qualité d'aptitude au m o u v e m e n t , ne dure que peu de tems après la mort: dans les animaux à sang chaud, elle existe à-peu-près aussi longtems, que la chaleur; dans les animaux à sang froid elle est un peu plus durable, mais le dessèchement la détruit. Si on considère l'irritabilité c o m m e mouvement même, elle est ancore moins durable.« Vgl. Haller: Art. »Irritabilité«. In: Encyclopédie d'Yverdon, Bd. X X V (1773), S. 1 0 5 a - 1 0 5 b .

333 Die Ausdifferenzierung einer empirisch-experimentellen Methode in Hallers Wissenschaftsbegriff und deren Ablösung von einem rationalisierenden Begründungstypus gelingt insofern, als für den Entdeckungszusammenhang präzise methodologische Regeln (ζ. B. die dritte Regula philosophandi) geltend gemacht werden, welche die experimentelle Erfahrung selbst ermittelt bzw. von dieser abgeleitet sind und zu der Annahme führen, daß sie der Natur selbst eingeschrieben sind, wie z.B. die Analogie-Regel der Natur; umgekehrt ermöglicht die so gewonnene Überzeugung von der >Rationalität< der Naturgegenstände (z.B. deren Konstanz, Analogie, Uniformität etc.) die Ableitung analogischer Schlüsse, die als >evidentbewiesen< und >wahr< gelten können, da sie Gesetzen folgen, die als in der Natur der Dinge selbst gegründet gelten. Der Rückgriff auf eine Theorie, die sich außerhalb dieser methodologischen Regeln konstituiert und primäre Eigenschaften von Körpern zusätzlich begründet, wird damit überflüssig. Haller hält sich in diesem Punkt an die erste Regula philosophandi, mit der Newton u. a. auch die Annahme der Attraktionskraft als einem in der Natur wirkenden gesetzmäßigen Prinzip methodologisch rechtfertigt und die besagt, daß man «nicht mehr Ursachen für die in der Natur vorkommenden Dinge zulassen [darf], als wahr sind und zur Erklärung der Erscheinungen ausreichen.« 39 Diese Position macht der Schweizer Physiologe gegen Ende des Irritabilitätstraktats anhand der Forschungsresultate zweier seiner Schüler explizit: Veram viam ad hanc primariam corporis facultatem eruendam ingressi sunt duo nostri discipuli I. GEORGivs ziMMERMANNVs & GEORGivs CHRisTiANVs OEDERVs. Per experimenta uterque hanc fibrae facultatem, tamquam legem adtractioni similem, absque inutili theoria adgressus est exponere. 40 Den wahren Weg zu der Entdeckung dieser primären Eigenschaft des Körpers sind zwei meiner Schüler gegangen: Johann Georg Zimmermann und Georg Christian Oeder. Beide haben dieses Vermögen der Fiber, ähnlich dem Gesetz der Attraktion, aufgrund von Experimenten und ohne eine unnütze Theorie darzulegen versucht.

In der Mitte des 18. Jahrhunderts ist somit in dem experimentalistischen Empirismus Hallers ein Stadium in der Entwicklung moderner Wissenschaftstheorie erreicht, in dem nicht generell die Unabhängigkeit naturwissenschaftlicher Erfahrung von jeder Theorie behauptet wird, sondern in dem die Frage nach der Relevanz und Geltung von Theorie funktional zu einem gewählten Kontext, z. B. derjenige der Erfahrung, gestellt wird. Dabei gelten (grundsätzlich) die folgenden Annahmen:

39

40

Vgl. Newton (1726), Lib. III, Regula I, S. 387: »Causas rerum naturalium non plures admitti debere, quam quae & verae sint & earum phaenomenis explicandis sufficient.« Von dieser Regel macht Newton die zweite Regula philosophandi abhängig: »Ideoque effectum naturalium ejusdem generis eaedem assignantur sunt causae, quatenus fieri potest« (vgl. auch Ausg. Schüller (1999), S. 380). Vgl. Haller (1752/53), S. 157. (Meine dt. Übersetzung). Zu Zimmermann und Oeder vgl. Mazzolini (1987), S. 153f. bzw. S. 168f.

334 erstens, daß das, was im Entdeckungszusammenhang geschieht, keine Relevanz für die Frage nach der Geltung der Theorie besitzt; zweitens, daß es keinen, >rationalen< methodischen Weg der Entdeckung einer Theorie gibt (zumindest keinen, der sich wie der Begründungszusammenhang rationalisieren läßt). Die bei dieser Unterscheidung eingetretenen Veränderungen werden an der jeweiligen Stellung der Erfahrung deutlich. 41

Die im Entdeckungszusammenhang gewonnene Naturerkenntnis ist im Empirismus des 18. Jahrhunderts jedoch trotzdem >rational< begründet. Es bleibt deshalb noch die Frage genau zu klären, warum eine >Rationalität der Naturgegenstände angenommen werden kann, wie diese geartet ist und wie sie sich begründen läßt. Denn riskiert das Axiom der Analogie der Natur bzw. des analogischen Schlusses nicht, sich in eine instinktive, empirisch-subjektive Folgerung (im Sinne Humes) umzukehren, die eher postuliert wird, ohne daß sie in logischer Hinsicht bewiesen wäre? Entlarvt sich die Annahme der Konstanz bzw. Uniformität der Natur nicht als eine Erwartung des Forschers, die auf die Objektwelt übertragen wird, dieser aber nicht notwendig zukommt? Solche Fragen sind zwar berechtigt und verweisen zugleich auf die Grenzen eines Begründungstypus' empirischer Naturwissenschaft und Methode, dessen Inhalt weder eine apriorisch-abstrakte Theorie ist, sei sie nun ontologisch oder mathematisch, noch ein vorgefaßter, empirisch nicht verifizierter Naturbegriff, sei dieser animistisch-vitalistisch oder materialistisch. Diese Fragen gehören aber einem Rationalitätstypus an, der sich vom religiösen Ursprungsschema der Wirklichkeitsdeutung bereits deutlich emanzipiert hat, weshalb sie in dem hier gestellten Problemzusammenhang an Pertinenz mangeln bzw. ihrerseits riskieren, das Problem zu verfehlen. Der Begründungstypus, unter den die Annahme der >Rationalität< der Naturgegenstände fällt, ist nämlich noch dem logischen Rahmen des religiösen Ursprungsschema verpflichtet und ist im Naturrechtsdenken des 18. Jahrhunderts nicht weniger >rational< als andere. Das Problem, das diesem Schema in der neuzeitlichen (insbesondere naturwissenschaftlichen) Wirklichkeitsinterpretation anhaftet, stellt Günter Dux im Rahmen einer Studie zu der soziologischen Theorie der Religion dar: Sobald der Mensch sich vor die Notwendigkeit gestellt sieht, sich des Wissens erst zu vergewissern, also erst zu erarbeiten, was als Wissen gelten soll, ist die hergebrachte Naivität dahin; das Schema selbst gerät in Not. Diese Situation trat nach mancherlei Voranzeigen mit voller Schärfe zu Beginn der Neuzeit ein. An ihrer Wende geriet der Mensch in eine extrem widersprüchliche Situation. Einerseits hatte er im Prozeß der Geschichte die Wirklichkeit anders interpretieren gelernt. Sie stellte sich ein selbstgenügsames und um den Menschen unbekümmertes Geschehen dar. Er konnte danach auch nicht länger sicher sein, sie wirklich zu kennen. Andererseits aber hielt sich das Schema durch. Der Mensch war weiterhin an Gott gebunden. Diese Beziehung hatte sich [...] durch den Verlust seiner zentralen Stellung eher noch verschärft. Die unumgängliche Folge war, daß im gleichen Moment, da die erkenntnistheoretische Frage radikal gestellt wurde, sie nicht aus einem Beziehungszusammenhang zwischen Mensch und »Welt« ihre Antwort erfuhr, sondern dadurch, daß einmal mehr der hin-

41

Vgl. Danneberg (1996), S. 37.

335 ter ihm gelegene absolute Ursprung dafür in Anspruch genommen wurde. Gott muß quasi von außen die Garantie dafür übernehmen, daß der Mensch sich wirklich im Medium des Wirklichen bewegt und nicht nur der Gefangene seiner Phantasie ist. Anders läßt sich Wissen nicht mehr garantieren. 42

Legt man der Erörterung des Grundlegungsproblems die im Einleitungskapitel dargelegte Differenzierung des empirischen Wissenschaftsparadigmas in die Punkte (i) philosophischer Kern, (ii) empirische Grundgesetze und (iii) wissenschaftstheoretische Ausgangsposition zugrunde, deren systematischer Zusammenhang unter dem neutralen Begriff des >Wissenschaftsprogramms< erfaßt werden kann, so fallen im Hinblick auf Haller unter Punkt (i) seine metaphysischen Annahmen über die Beschaffenheit der Natur, welche über die Basisentitäten seiner empirischen Wissenschaft entscheiden (z. B. der Kraftund Materiebegriff), aber auch Annahmen über die Beschaffenheit des Menschen sowie über dessen Erkenntnis der physischen Welt und inwiefern diese als >rational< und >begründet< gelten kann. Aufgrund der Annahme, daß die Erkenntnis der physischen Welt durch den Menschen von der voluntaristischen Instanz Gottes abhängt, dessen Ziel die Selbsterhaltung des Menschen ist, ordnet sich der Hallersche Begründungsansatz in die Logik des naturrechtlichen Denkens ein. In den Elementa physiologiae stimmt Haller bezüglich der Definition des Wahrnehmungsprozesses (visio) mit George Berkeley vollkommen überein, der diesen [...] pro dialogo arbitrario DETJM inter & creaturam habet; quam nihil de rebus ipsis sentiat, & percipiat, nisi quae DEUS ipsam sentire, & percipere vult, ut per ea signa homo ad sui conservationem quasi manu divina ducatur. 43 für einen arbiträren Dialog zwischen Gott und der Kreatur hält; weder nimmt diese von den Dingen etwas wahr noch perzipiert sie von denselben etwas, wenn nicht dasjenige, was der Wille Gottes sie wahrnehmen und perzipieren läßt, so daß durch diese [sc. die wahrgenommenen und perzipierten] Zeichen der Mensch gleichsam durch eine göttliche Hand zu seiner Selbsterhaltung geführt wird.

Die Benachteiligung, die dem Menschen aufgrund seiner imbecillitas gegenüber dem von der Natur mit angeborenen Instinkten und körperlichen Schutzvorrichtungen besser ausgestatteten ΉβΓ zukommt,44 wird im Naturrechts42 43

44

Vgl. Dux (1973), S. 59. Vgl. Haller: Elementa physiologiae, Bd. V (1763), Lib. VI, Sect. IV (Visio), § XXVIII (Animae de imagine retinae judicia), S. 519. (Meine dt. Übersetzung). Zu dem von Haller hier zugrundegelegten Erkenntnismodell von George Berkeley vgl. Geneviève Brykman: Vision, Connaissance et Ontologie chez Berkeley. In: Monti (1995), S. 121-137. Brykman zufolge unterscheidet sich gegenüber dem ontologischen Dualismus Descartes' die Beziehung zwischen Sehen, Erkenntnis und Ontologie bei Berkeley wie folgt: »[...] l'immatérialisme suppose une réelle homogénéité entre voir et connaître. Alors, on n'est plus dans un régime simplement métaphorique, mais dans un double modèle visuel et linguistique de la connaissance, en même temps que dans une ontologie qui fait de la série des idées visuelles le langage naturel de Dieu, ou la voix que Dieu nous parle à travers la Nature« (S. 125f.). Vgl. Samuel Pufendorf: De Officio Hominis et Civis Juxta Legem Naturalem Libri Duo, Cambridge 1682, Lib. I, Cap. III (De Lege Naturali), § 3: »Ast in eo prae

336 denken dadurch aufgewogen, daß der Mensch eine privilegierte Stellung innerhalb der >Kette der Wesen< einnimmt, die ihm durch Gott als seinem Schöpfer zugewiesen wird und die ihm faktisch aufgrund seiner Körperkonstitution gegeben ist; durch sie hat er die Möglichkeit, Fähigkeiten auszubilden, mit denen er seine naturgegebene imbecillitas zu kompensieren vermag. In Pufendorfs Naturrechtslehre bildet die imbecillitas die zentrale Vermittlungskategorie zwischen dem egoistischen amor sui und der socialitas des Menschen. D i e socialitas - bedingt durch einen utilitaristischen Faktor - drängt den Menschen dazu, den originären natürlichen Mangelzustand der imbecillitas durch die Konstituierung von Gesellschaft, also innerhalb des gesellschaftlichen Verbandes, zu überwinden. Socialitas konstituiert sich in Pufendorfs ausgereiftem naturrechtlichen Denkansatz gerade in der Interdependenz von Egoismus und socialitas, die sich auf die inclinationes des amor sui nicht konfliktuell, sondern mäßigend auswirkt; die socialitas wird als Element der produktiven Umsetzung der egoistischen Triebe der Individuen zugunsten des individuellen und kollektiven Interesses verstanden. Aus der Definition der socialitas als historisches Produkt eines natürlichen evolutionären Prozesses der Menschheit resultiert aus Pufendorfs Ansatz eine Theorie der unterschiedlichen Zivilisationsstadien, welche die Menschheit durchläuft. Mit welchen Mitteln der Mensch, der - im Gegensatz zum Tier - die Ebene der Befriedigung des minimalen Selbsterhaltungsinstinkts zu übersteigen tendiert, den mit der Geburt einsetzenden Naturzustand der imbecillitas überwindet, hängt damit vom historischen Stadium der Zivilisation ab, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedliche Gesellschaftsformen und kulturelle Techniken entwickelt. 45 D i e

45

brutis homo deteriore jam conditione videtur, quod vix ullum aliud animal tanta à nativitate imbecillitas prosequatur; sic ut miraculi sit instar futurum, si quis ad maturam aetatem pervenerit, nisi aliorum hominum auxilium accedat.« Ndr. der Ausg. 1682, Bd. 1, New York 1927, S. 19. Zum Begriff der >imbecillitas< bei Pufendorf vgl. Fiorillo (1992), bes. Kap. II (La socialità egoistica pufendorfiana), S. 37-59, wo u.a. auch auf den Einfluß Pufendorfs auf das Denken Antonio Genovesis, hingewiesen wird (S. 41). Genovesi widmet den dritten Bd. seines Werkes Disciplinarum metaphysicarum elementa mathematicum in morem adornata, Venedig 21764 (1753) der >Natur< des Menschen: Psychologie und Ethik (Pars Tertia), Naturrecht (Pars IV) u.a. mit Kap. zu Grotius, Hobbes, Pufendorf, Cumberland, Heineccius, Wollaston und Ashley Syckes, Christian Wolff und Heinrich Köhler. Vgl. hierzu die kritische Diskussion der einschlägigen Forschungsliteratur zum (Pufendorfschen) Naturrecht (u. a. H. Welzel, H. Denzer, W. Rod, H. Medick, M. Stolleis) bei Fiorillo (1992), S. 37-59 und den Stand der aktuellen Forschungsdiskussion bei Vollhardt (1998). Hallers Kenntnis von Pufendorfs früher Schrift Elementa juris universalis (1660) belegen die Iudicia librorum, Nr. 0, Burgerbibliothek Bern, Ν Albrecht von Haller, Mss. 85, Bl. 60r. Hier stellt Pufendorf den Hobbesschen >amor sui< - der Selbsterhaltungsinstinkt, der auch den Tieren zukommt, - und den rationalistisch-normativen Soziabilitätsinstinkt von Grotius (>appetitus societatisNaturgesetzerational< bezeichnet werden, als sie dem Typus von Rationalität angehört, dem das logi49 50

Vgl. 'sGravesande: Discours sur l'Evidence (11724/1774), S. 339f. Vgl. 'sGravesande: Introducilo ad philosophiam, Metaphysicam et Logicam continens, Leiden 1736. Die in der Werkausg. von 1774 von Allamand publizierte französische Übersetzung dieser Schrift hat Elie de Joncourt besorgt, wobei eine von 'sGravesande selbst durchgesehene Version, nach der hier und im folgenden zitiert wird, erstmals 1737 (21747) in Leiden erscheint; vgl. 'sGravesande ('1736/1774), L. II, Chap. XIII (De la Vérité des Idées, que nous n'acquérons pas immédiatement. Où l'on traite de l'Evidence Morale), S. 68.

340 sehe Schema von Ursprung-Emanation zugrundeliegt und der eine religiöse Grundverfaßtheit der Wirklichkeit voraussetzt. Trotz dieses vorgegebenen Interpretationsrahmens und der Inklusion theologischer Prämissen in die Argumentation - das Güte-und-Weisheit-Attribut Gottes - ist ihre logische Struktur nicht spekulativ-rationalistisch, sondern realitätsadäquat; sie enthält eine Reihe empirischer auf Beobachtung und Erfahrung beruhender Argumente, deren Sinn 'sGravesande voluntaristisch und finalistisch deutet. Die logische Argumentationsstruktur sowie die impliziten und expliziten Annahmen in ihr können schematisch wie folgt wiedergegeben werden: (i) Gott ist gut/weise, und alles, was er will, ist zweckmäßig eingerichtet. (Der Mensch hat als Kreatur Gottes Sinnesorgane (Mittel), durch deren Gebrauch er erkennt, daß die Dinge der physischen (und moralischen) Welt für ihn einen Nutzen haben.) (ii) Die Sinnesorgane nicht zu haben, ist für den Menschen nicht gut. (Er würde den Nutzen der Dinge nicht erkennen können, wobei ihm dies schadet und eventuell die Erhaltung der menschlichen Gattung gefährdet.) (iii) Also ist die sinnliche Erkenntnis der Objektwelt gültig und führt den Menschen zur Wahrheit. (Der Mensch kann bezüglich dessen, was er von der physischen (und moralischen) Welt durch sinnliche Wahrnehmung erkennt, nicht (prinzipiell) getäuscht werden. Wäre dies der Fall, dann wäre Gott mit sich selbst im Widerspruch. Dieses Argument impliziert aber, daß Gott nicht mit sich selbst im Widerspruch sein kann, wodurch sich das Problem stellt, ob 'sGravesande hier nicht die Freiheit Gottes einschränkt und ihn zu notwendigem Handeln zwingt, was dem Evidenztheoretiker als >Spinozismus< ausgelegt wurde.) Relevanz erhalten die zitierten Stellen aus 'sGravesandes wissenschaftslogischen Schriften erst in ihrem Bezug zu einem Passus aus Pufendorfs Traktat De officio hominis

et civis, von dem 1723 (also ein Jahr vor 'sGravesandes

Vortrag der Evidenzschrift an der Leidener Universität) in Amsterdam eine von Jean Barbeyrac übersetzte und kommentierte Ausgabe erschienen war. Im § 11 schränkt Pufendorf die Geltung der durch die natürliche Ratio zu beweisende Aussage, daß Gott der Autor des sittlichen Naturgesetzes sei, auf die gegenwärtige »conditioni

mortalium«,

also auf den vergesellschafteten

Zustand der Menschheit ein, wobei von den Fragen nach dem evolutionären Prozeß, der die Menschen aus ihrem primitiven Naturzustand geführt habe, sowie danach, ob der Naturzustand vom jetzigen Zustand verschieden gewesen sei, abzusehen sei: Cum natura hominis ita sit constituta, ut citra sociabilem vitam humanum genus incolume esse nequeat, hominisque animus notionum hue inservientem capax deprehendatur; & vero pateat, non solum genus humanum, uti aliae creaturae, originem suam Deo debere, sed & eundem istud uteumque jam constitutum providentiae suae moderamine complecti: inde consequitur, Deum velie, ut homo iis viribus, quas sibi prae brutis peculiares inesse sentit, ad naturae suae incolumitatem utatur, utque adeo à brutorum exlege vita, humana vita sit distincta.51 51

Vgl. Pufendorf: De Officio Hominis et Civis (1682), repr. (1927), Lib. I, Cap. III (De lege naturali), § 11, S. 22 (die engl. Übers, ist von Frank Gardner Moore; vgl.

341 The nature of man is so constituted that the race cannot be preserved without the social life, and man's mind is found to be capable of all the notions which serve that end. And it is in fact clear, not only that the human race owes its origin, as do the other creatures, to God, but also that, whatever be its present state, God includes the race in the government of His providence. It follows from these arguments that God wills that man use for the conservation of his own nature those special powers which he knows are peculiarly his own, as compared with the brutes, and thus that man's life be distinguished from the lawless life of the brutes. In dieser Argumentation, die von Haller, 'sGravesande und Pufendorf vertreten wird, ist aufgrund der diesen Autoren gemeinsamen naturrechtlichen Denkmatrix zu erkennen, wie innerhalb des theologisch-religiösen Ursprungsschemas sich der Akzent immer deutlicher auf die spezifische Konstitution des menschlichen Körpers und dessen Fähigkeiten (vires) verschiebt, wodurch die anthropologische Konzeption, die den Menschen in seiner gesamthaft körperlich-geistigen Organisation auffaßt und ihn nunmehr in anatomisch-physiologischer Hinsicht vom Tier unterscheidet, dezidiert befördert wird. A n Pufendorfs Erklärung der Entstehung der entia moralia in De jure naturae et gentium sowie anhand einer hierzu relevanten Kommentarstelle von Barbeyrac ist besonders deutlich zu erkennen, wie der göttliche Ursprung/Wille (institution divine, creatici) in der anthropologischen Tatsache (nature de l'homme, impositio) ein ontologisches Korrelat hat. D i e notwendige materielle Konstitution (Mittel/Organe) der Natur des Menschen wird zum determinierenden Faktor für die Bestimmung jedes ens morale, das in dem freien Akt der Interpretation der Objekte der physischen Welt entsteht, d. h. in jeder bewußten Erkenntnisoperation des Menschen, welche die physische Welt zum Gegenstand hat: Comme les Etres Physiques sont originairement produits par la Création; on ne sauroit mieux exprimer la manière dont les Etres Moraux se forment, que par le terme d'Institution. En effet ces derniers ne proviennent d'aucun principe interne de la Substance des Choses; mais il sont attachez, par la volonté des Etres Intelligens, aux Choses déjà existentes & physiquement parfaites, & à leurs effets Natu-

ebd., Bd. 2, S. 19f.) Auf die stoisch-christlichen Substrate des modernen Naturrechtsgedankens sowie auf die Transformation ursprünglich pantheistischer Grundlagen dieses Denkens im Sinne eines theistischen Voluntarismus (Poseidonios, römische Stoa) hat der Soziologe Ernst Troeltsch bereits 1911 hingewiesen: »Sie [sc. die Stoa] hatte diesen Begriff [sc. Naturrecht] aus ihrer allgemeinen Anschauung von einem die Welt durchwaltenden Gesetz abgeleitet und die ethischen und rechtlichen Regeln aus der besonderen Anwendung dieses Weltgesetzes auf die Selbstbehauptung und Auswirkung des Geistes konstruiert. [...]. Schon darin [sc. im theistischen Voluntarismus] lag eine Entgegenbewegung in der Richtung auf die jüdisch-christliche Idee von einem alle Menschen verbindenden und aus Gottes Willen ausfließenden Ethos.« Vgl. Ernst Troeltsch: Das stoisch-christliche Naturrecht und das moderne profane Naturrecht. In: Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19.-22. Oktober 1910 in Frankfurt/M., Tübingen 1911, S. 166-214 (einschließlich der Diskussion), Zitat S. 175. Vgl. hierzu auch Scattola (1999), bes. S. 22-28.

342 reis, de sorte qu'ils doivent uniquement leur existence à la détermination des ces Etres Libres. D e r Kommentar Barbeyracs zu dem Ausdruck »uniquement« lautet: Pour prévenir les difficultez que cette expression pourrait faire naître, il faut bien remarquer, que, selon nôtre Auteur, il y a deux sortes d'Institution: l'une purement arbitraire: l'autre qui a son fondement dans la chose même, & qui est une suite nécessaire de ce qu'on avoit déjà librement résolu; de sorte qu'à moins que de se démentir soi-même, on ne saurait rien vouloir d'opposé, ni de différent. Un Architecte, par exemple, peut bâtir ou ne pas bâtir un Palais: mais posé qu'il se soit déterminé à le faire, il faut nécessairement qu'il dispose ses matériaux tout autrement que s'il construisoit une simple Cabane; & il passerait pour fou, si après avoir dressé une Cabane, il s'avisoit de prétendre que ce fût un Palais. Cela n'empêche pourtant pas que la disposition des matériaux ne soit un effet du dessein & de la volonté de l'Architecte. Ainsi il étoit entièrement libre à Dieu de créer ou de ne pas créer l'Homme, c'est à dire un Animal Raisonnable et Sociable. Mais dès là qu'il eût pris la résolution de le mettre au monde, il ne pouvoit que lui imposer les Obligations qui conviennent nécessairement à la constitution d'une telle Créature. De sorte que si les Loix Naturélles dépendent originairement de l'institution divine, ce n'est pas d'une institution purement arbitraire, comme les Loix Cérémonielles qu'il donna aux Juifs; mais d ' u n e institution f o n d é e sur la n a t u r e m ê m e de l ' H o m m e , & sur la Sagesse de Dieu, qui ne saurait vouloir une fin, sans vouloir en même tems les moiens nécessaires pour y parvenir. Cependant, quoi qu'il ne faille jamais separer la Volonté de Dieu d'avec sa Bonté & sa Sagesse; on rapporte l'établissement des Loix Naturelles principalement à la Volonté divine, non seulment parce que cette Volonté est le principe des Actions de Dieu, mais encore parce que sa Sagesse & sa Bonté sont des attributs dont l'excercice est souverainement libre, & par conséquent qui ne sauraient être conçus sans la Volonté. Je tire encore ces éclaircissemens de divers endroits des autres Ouvrages de mon Auteur. Voiez Specim. controvers. Cap. V. §. 9. Dissertât. Academic, pag. 743; Spicilegium controversiar. Cap. III. §. 9.52 Es geht nun im folgenden darum, die Begründung der empirisch-induktiven Methode in Hallers Wissenschaft auf der naturrechtlichen Konzeption der Natur des Menschen in den relevanten Punkten darzulegen.

3. Die Überwindung der Kontingenz in der >moralischen< Welt im Naturrecht: Pufendorfs und Cumberlands Reaktion gegen den Pessimismus Hobbes' und das >Recht der Natur< als physisches Gesetz des Individuums bei Spinoza. - Die Rezeption naturrechtlicher Thesen bei Haller D i e Konstituierung der entia moralia aufgrund des Aktes der menschlichen impositio, weshalb die Existenz moralischer Begriffe nicht absolut notwendig sei, bedeutet für Pufendorf allerdings nicht, daß ihre Erkenntnis beliebig, 52

Vgl. Pufendorf: Le droit de la Nature et des Gens, Ausg. Barbeyrac, Basel 1732, Liv. I, Chap. I (De l'origine des Etres Moraux, & de leurs différentes sortes en général), § 4, S. 4f.

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vage oder gar ungewiß sei. Zu Beginn des zweiten Kapitels des ersten Buches von De jure naturae et gentium, das der Erklärung des Gewißheitsbegriffs der scientia moralis gewidmet ist, macht Pufendorf auf das Vorurteil aufmerksam, das den Prinzipien der cartesianischen Methodologie zugrunde liege und mit dem seine Kritiker die Wissenschaft des Naturrechts beurteilen würden. Es handelt sich dabei um die Einordnung der Erkenntnis der Gegenstände der physischen und der moralischen Welt bzw. der Praxis des Lebens unter den Kriterienbereich des Wahrscheinlichen und des Hypothetischen (probabilitas), der von der Gewißheit anderer (theoretischer) Wissenschaften unterschieden werde, insbesondere von der Mathematik, die allein >evidentesoliden< Wissenschaft der Moral, welche die Regelmäßigkeiten (bzw. Unregelmäßigkeiten) menschlicher Handlungen zum Gegenstand hat, der Wissenschaftslogik des mechanistischen Rationalismus der philosophischen Systeme des 17. Jahrhunderts, cartesisch-cartesianischer und vor allem Hobbesscher Prägung. Im zehnten Kapitel des De homine gebe Hobbes ein »falsches Prinzip« an, dem im ersten Buch von De jure widersprochen wird. Hobbes' Annahmen gliedert Pufendorf in zwei Punkte: (a) Die Setzung der Prinzipien der Erkenntnis dessen, was recht und unrecht sei durch den Menschen selbst; im konventionalistischen Ansatz Hobbes' sind positive Gesetze und Konventionen zugleich Prinzipien, d. h. Ursachen des Rechts, wodurch Hobbes zu zeigen beanspruche, daß Moral, Politik und die Wissenschaft des Rechts apriori bewiesen werden können; (b) die logisch-konstruktive Deduktion von Gesetzen und Konventionen direkt von dem Naturzustand des Menschen; vor der Etablierung von Gesetzen und Konventionen existiere unter den Menschen weder Recht (oder Unrecht), noch könne man sich in bezug auf ein gemeinschaftliches Kollektiv einen Begriff von gut und schlecht bilden, wodurch sich die Menschen von den Tieren nicht unterscheiden würden.54 Bei Hobbes führt dies zu der bekannten These des bellum omnium in omnes, in dem das Recht des Stärkeren herrsche, das ohne die Errichtung von absolutistischer Herrschaft und Staat zur Selbstvernichtung des Menschen führe. Aber Pufendorf stellt Hobbes nicht so sehr aufgrund der These des egoistischen Selbsterhaltungs-, Macht- und Aggressionstriebs im Menschen in Frage, die Pufendorf in die Analyse des Naturzustandstheorems sogar selbst aufnimmt; vielmehr trifft Pufendorfs Kritik die methodologische Ebene der Hobbesschen Lehre, welche die Konstituierung des Begriffs des Gesetzes oder der Norm 53

54

Vgl. Pufendorf: Le Droit de la Nature et des Gens, Ausg. Barbeyrac, Basel 1732, Liv. I, Chap. II (De la certitude des Sciences Morales), § 1, S. 21. Vgl. ebd., § 4, S. 25.

344 im Verhältnis zu dem in der Kontingenz Beobachtbaren betrifft. Franz Borkenau hat das Problem der Logik in ihrem Verhältnis zur Realität im Hobbismus wie folgt analysiert: Es ist ein allgemein anerkannter, auch von den extremsten Rationalisten nicht bestrittener Grundsatz, daß, was logisch zulässig, darum noch nicht real möglich oder gar notwendig sein braucht. Daß dagegen das Widersinnige real unmöglich ist, ist oberster Grundsatz für die Anwendung der Logik in der Wissenschaft. Eben die Verneinung dieses Satzes liegt aber unausgesprochenerweise der Hobbesschen Staatslehre zugrunde. Er lehrt, daß etwas als logisch absurd Bezeichnetes, die Selbstvernichtung im Kampf aller gegen alle, bzw. im Bürgerkrieg, real möglich ist. Dadurch unterscheidet sich Hobbes vom reinen Empirismus und Sensualismus, dem man ihn gelegentlich zugerechnet hat. Der Empiriker hätte die Geschehnisabläufe in der Gesellschaft zu beschreiben und evtl. aus der Induktion allgemeine Erfahrungsregeln zu gewinnen. Hobbes geht darüber hinaus. Aus der Faktizität des Gegebenen schließt er auf logische Notwendigkeiten; es sind aber zunächst nicht solche des Seins, sondern der Normen. [...]. Der protestantische, pessimistische, den Absolutismus deduzierende Rationalismus Hobbes' muß die kontingente Faktizität der Dinge festhalten, weil es ohne pessimistische Weltanschauung keine innerweltliche Begründung der Souveränität geben kann; zugleich aber will er diese Kontingenz logifizieren, weil die absolute Geltung der Souveränität allgemeinmenschliche, logisch zwingende Normen voraussetzt. Die beiden Seiten der Hobbeschen Lehre, Machttrieb und Normengeltung, sind beide unaufhebbare Bestandteile der Welt, in der er lebt. [...]. Aber sein Versuch, einen selbstständigen, mit dem materiellen Zwang nicht identischen Bereich der Normen aus der bloßen kontingenten Realität abzuleiten, mußte scheitern; er beruht letzten Endes auf einer bloßen Äquivokation, in der das für das Individuum angeblich Nachteilige mit dem logisch absurden vermischt wird. Die Staatslehre des Hobbes entwickelt dann alle Konsequenzen des als zwingend gesetzten Satzes von der absoluten Souveränität. 55 D e m Problem des Widerspruchs von Gesetzesnorm und Kontingenz, das sich bei Hobbes u. a. durch seine Interpretation der kontingenten Realität als Naturzustand äußert, in dem ein permanenter Konflikt und ein gegenseitiger Terror unter den Menschen herrsche, versucht sich Pufendorf dadurch zu stellen, daß er in seine Analyse des Naturzustandstheorems den originären natürlichen Mangelzustand - die Plinius-Lukrezsche imbecillitas - integriert. D i e kreatürliche Schwäche ist dem Menschen von Geburt an aufgrund seiner ungeschützten körperlichen Natur gegeben, so daß der Mensch für den Menschen zum wichtigsten Nutzenfaktor (utilitas) von überlebensnotwendiger Bedeutung wird. In dem im folgenden Textabschnitt eindrücklich geschilderten Theorem des Naturzustands ist Plinius' berühmter Passus aus der Historia naturalis im Ausschnitt zitiert, dem Pufendorf ein weiteres langes Zitat aus Lukrezens Kulturentstehungslehre und den Stadien der Entwicklung von Kultur in De rerum natura (Lib. V, w . 923ff.) folgen läßt. In dem Systema naturae wird Linné im frühen 18. Jahrhundert in seiner Erklärung der Stellung des Menschen in der Natur dieselbe Naturzustandsidee wieder aufgreifen: Pour se former une juste idée de l'Etat de Nature considéré purement & simplement en lui même, figurons nous un homme tombé, si j'ose dire, desnuës, & entièrement 55

Vgl. Borkenau (1934), repr. (1988), S. 469-471.

345 abandonné à lui même; qui aiant les qualitez de son Esprit, de son Corps aussi bornées qu'on les voit aujourd'hui lors qu'elles n'ont pas été cultivées, ne soit ni secouru par ses semblables, ni favorisé d'un soin extraordinaire de la Divinité. On ne peut que concevoir comme fort triste & fort malheurese la condition d'un tel homme, soit qu'on le suppose dans l'enfance, ou en âge d'homme fait. S'il est enfant, il périra misérablement, à moins que par une espèce de miracle quelque Bête ne lui tende les mammelles; & en ce cas-là, il ne manquera pas de sucer, pour ainsi dire, avec le lait, la férocité de sa Nourrice. Que si on le suppose homme fait, il faut nécessairement se le représenter tout nud; incapable d'autre language que de celui qui consiste dans des sons inarticulez; sans éducation & sans aucune culture de ses talens naturels; effraié de la moindre chose, & rempli d'étonnement à la vûë même du Soleil; goûtant, pour appaiser sa faim, de tout ce qui se présente devant lui; se desaltérant de la prémière eau qu'il trouve; & cherchant à se garantir comme il peut, des injures de l'air, dans une Caverne, ou dans le fond de quelque épaisse Forêt. Et quand même plusieurs Hommes semblables à celui-là viendraient à se rencontrer dans un Pais entièrement désert, combien de tems ne seroient-ils pas à mener une vie tout-à-fait misérable & presque faroûche, avant que par leur propre expérience, par leur industrie, ou par les occasions que pourroit leur fournir l'adresse de quelques Bêtes; ils se fussent procurez peu-à-peu quelques-unes des commoditez de la Vie, & ils eussent inventé divers Arts? Pour en tomber d'accord, il ne faut que considérer ce grand nombre de choses qui sont présentement d'usage dans la Vie, & combien il auroit été difficile à chacun d'inventer tout cela lui seul, sans les instructions & le secours d'autrui; combien même il se trouve de gens au monde, à qui la plûpart de ces choses ne seroient jamais venues dans l'esprit. Ainsi je ne suis pas surpris que les Auteurs Paiens, qui ignoroient la véritable origine du Genre Humain, telle que l'Ecriture Sainte l'enseigne, aient fait des portraits si affreux de la vie des prémiers Hommes. 56 D e n bei Hobbes als Recht zu grenzenloser Permissivität des einzelnen Individuums gedeuteten utt'/ito-Begriff (De cive, Cap. I, §10) stellt Pufendorf als Paradoxon dar, da Hobbes den Menschen im Naturzustand zugleich dem Naturgesetz und der recta ratio unterstelle. 57 D i e gleicherweise von Hobbes und Pufendorf angenommene Gleichstellung aller Menschen im Naturzustand wird von Pufendorf insofern optimistisch gedeutet, als diese nicht, wie bei Hobbes, zum Kriegszustand führt, sondern die Aggressionslust hemmt und sich als trieb- und affektdämpfend auswirkt. In der imbecillitas liegt nun für Pufendorf ein grundlegender Unterschied des Menschen gegenüber dem Tier, mit dem ersterer zugleich auch viele Triebe und Affekte teile: u. a. - und dies ist gegen Hobbes gerichtet - »daß er nicht ein allgemeines Bedürfnis hat, anderen zu schaden.« 58 Damit resultiert aus Pufendorfs Analyse des Naturzustandstheorems die socialitas des Menschen als ein regulatives Element gesellschaftlichen Verhaltens, die in der Faktizität anthropologischer Grundkonstanten ihr Fun56

57

58

Vgl. Pufendorf: Le droit de la Nature et des Gens, Ausg. Barbeyrac, Basel 1732, Liv. II, Chap. II (De l'Etat de Nature), § 2, S. 149f. sowie auch ders.: De Officio Hominis et Civis (1682), repr. (1927), Lib. I, Cap. III (De Lege Naturali), § 3, S. 19. Vgl. Pufendorf: Le droit de la Nature et des Gens, Ausg. Barbeyrac, Basel 1732, Liv. II, Chap. II (De l'Etat de Nature), § 3, S. 154. Vgl. Horst Denzen Moralphilosophie und Naturrecht bei Samuel Pufendorf. Eine geistes- und wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung zur Geburt des Naturrechts aus der Praktischen Philosophie, München 1972, bes. Abschn. C1.2. c) Menschliche Natur und physische Natur, S. 73£, Zitat S. 74.

346 dament hat. Zugleich ist mit der Integration des Elements der imbecillitas in den Naturzustandsbegriff in Pufendorfs Naturrecht eine historische Dimension bestimmt, die dem begrifflich-systematischen Teil seiner Lehre als Substrat implizit zugrundeliegt. Die begriffliche Entwicklung in der Analyse des Naturzustandstheorems, die vom egoistischen amor sui über die Vermittlungskategorie der imbecillitas zur socialitas führt, resultiert damit als evolutionärer Prozeß der Geschichte des Menschen, der als Zivilisationsprozeß zu verstehen ist, bei dem der Mensch vom Naturzustand in den vergesellschafteten Zustand übergeht, ja aufgrund seiner körperlichen Konstitution, die von Gott ursprünglich festgelegt wurde, übergehen mußte. Analog zu diesem naturrechtstheoretischen Konstrukt steht dann in der Mitte des 18. Jahrhunderts im Rahmen der anthropologischen Konzeption Hallers, Buffons und Bonnets die körperliche Konstitution des Menschen selbst am Ende eines evolutionären Prozesses der Natur, der mit der Hervorbringung des Menschen als einem gegenüber dem Tier komplexer organisierten Lebewesen abgeschlossen ist, wobei mit dem Auftreten des Menschen der Kultur- und Zivilisationsprozeß einsetzt. Natur- und Zivilisationsprozeß, insofern letzterer die Selbsterhaltung und kulturelle Entfaltung der menschlichen Gattung betrifft, sind nach dem Ursprungsschema der Wirklichkeitsdeutung providentiell gesteuert, wobei der Mensch nur im vergesellschafteten Zustand und erst nach der Ausbildung von Fähigkeiten (arts, u. a. der Sprache) und der Erlernung von Techniken der Kulturgüterproduktion seine Existenz in der Geschichte zu sichern in der Lage ist. Dies gilt bei Pufendorf insbesondere im Hinblick auf die ersten Menschen: Mais quoi qu'on sache certainement que, par un effet tout particulier de la Providence Divine, les premiers Hommes ont appris d'assez bonne heure les Arts les plus nécessaires, auxquels l'industrie humaine en a depuis ajoûté un grand nombre d'autres; le Genre Humain n'auroit pas laissé d'être bien misérable, si l'on n'eût point établi de Société Civile [...]. 59

Barbeyrac zufolge, der diese Stelle unter dem Aspekt der zeitlichen Dimension kulturanthropologisch-historischer Entwicklungen kommentiert hat, mußten die ersten Menschen aber bereits den Ackerbau kennen, um ihre Existenz sichern zu können; er belegt seine Annahme, in der noch die typisierte Trennung von historia sacra und historia profana zu erkennen ist, indem er ethnographische Dokumente zur Zivilisationsgeschichte der älteren Völker Griechenlands, Amerikas und Asiens heranzieht, bei denen aus kontingenten Gründen die Kenntnis und der Gebrauch von Instrumenten (Metall, Feuer) sowie die Kenntnis des Ackerbaus noch nicht vorhanden gewesen waren oder durch andere Mittel ersetzt wurden. Dabei gibt Barbeyrac Pufendorfs Dissertation De statu hominum naturali (1678) als Informationsquelle an: 59

Vgl. Pufendorf: Le droit de la Nature et des Gens, Ausg. Barbeyrac, Basel 1732, Liv. II, Chap. II (De l'Etat de Nature), § 2, S. 152.

347 Cela paroit par ce que est dit {Genes. Chap. III. v. 21.) que Dieu fit des habits de peau Adam & à sa Femme·, c'est-à-dire, selon le stile des Hébreux, qu'il leur enseigna le moien d'en faire. Car sens cela, comment est-ce qu'en si peu de tems ces premiers hommes, destituez qu'ils étoient de tout l'appareil des instrumens de fer, & avant que la coûtume d'égorger les Bêtes fût établie, auroient pû s'aviser d'une telle invention, & en venir à bout par leur seule industrie? De là on peut inférer, à mon avis, que la Providence Divine les instruisit de plusieurs autres choses qui n'étoient pas moins nécessaires à la Vie Humaine, ni moins difficiles à inventer. Ainsi Dieu aiant expressément ordonné à nos prémiers Parens de cultiver la Terre, & de manger leur pain à la sueur de leur visage; il doit leur avoir enseigné en même tems la nature des grains, le tems des semailles, la manière de labourer, & de faire du pain; ce qu'ils n'auroient pû découvrir d'eux-mêmes qu'après une longue expérience & de longues réflexions. On voit dans l'Histoire, que les plus anciens habitans de la Grèce aiant perdu, par je ne sais quel accident, l'usage du Bled, vécurent long-tems de Gland & de fruits sauvages, avant que la connoissance de l'Agriculture se rétablit parmi eux. Au lieu que le premier enfant d'Adam étoit Laboureur; d'où il paroit que cet Art étoit déjà trèsconnu, & par conséquent qu'on avoit aussi l'usage du Fer. [...]. On racconte au sujet des habitans des Iles Canaries & des Philippines, & d'une Ile de la Chine, nommée los Jardenas, qu'avant l'arrivée des Espagnols ils ne connoissoient point du tout le Feu; & il y avoit peut-être plusieurs siècles qu'ils étoient dans cette ignorance, sans que leur esprit ni le hazard eût pû rétablir parmi eux l'usage d'une chose si nécessaire. Voiez Georg. Hornius, De Origin. Gent. American. Lib. I., Cap. Vili, & Lib. II. Cap. IX. Il s'est aussi trouvé plusieurs Nations qui ont ignoré long-tems l'usage du Fer, quoi que dans leur Pais même il y eût des mines de ce métal. [...]. Que si long tems après [se. nach den ersten Menschen] on a découvert des Peuples, parmi lesquels l'usage de quelques unes [sc. lebensnotwendige Mittel] s'étoit perdu; cela vient, ou de ce qu'il leur est échu un pais stérile: ou de ce qu'une troupe de gens aiant été contrainte par la violence de quelque ambitieux, à qui elle ne pouvoit résister, de s'enfuir promtement dans un pais éloigné & entièrement desert, s'est trouvé destituée de tous les instrumens dont elle avoit accoûtumé de se servir dans le lieu qu'elle a quitté: ou de ce qu'une Colonie s'étant allé établir dans quelque pais éloigné, a négligé d'y porter ces sortes d'instrumens, ou les a perdus en chemin par quelque accident; après quoi il a été extrêmement difficile d'en recouvrer d'autres, parce que le commerce n'étoit pas encore commun, ni bien établi. Quelques uns pourtant ont tâché de remédier en quelque façon à cette perte, en se servant comme il pouvoient d'une autre matière moins propre aux usages de la Vie. C'est ainsi que plusieurs Peuples de VAmérique se servent, à la place du Fer, d'écaillles d'huitre, d'os et des dens de quelques Animaux, de cannes, & d'autres choses semblables. Voiez Dapper, dans sa Description de l'Amérique.60 In der Analogisierung der Erkenntnis von Regelmäßigkeiten von Naturgegenständen und >Gegenständen< der moralischen Welt (menschliche Handlungen) auf der Basis der Mittel, die der Natur des Menschen zukommen, reproduziert also Haller in den Elementa physiologiae - zu einem historischen Zeitpunkt, der eine veränderte epistemologische Situation kennt, - ein methodisches Prinzip des Pufendorfschen Naturrechts, das die entia moralia analog zu den entia physica zu erkennen beansprucht. D i e freie Auferlegung (impositio) eines moralischen Gehalts auf ein physisches Substrat, das bereits existiert, bleibt an ein körperlich-psychologisches Datum gebunden: Entia physica (Ordnung der Natur) und entia moralia (Normen der Moral, Politik, Recht) werden unter60

Vgl. ebd.

348

schieden, sie bedingen sich aber gegenseitig. 61 Daraus ergeben sich nun bei Pufendorf wichtige methodologische Konsequenzen, die eine wissenschaftliche Behandlung der entia moralia ermöglichen, in der Art, in der die entia physica in den Naturwissenschaften behandelt werden, als hätten jene einen gegenständlichen Charakter. Aufgrund der Befolgung derselben wissenschaftlichen Erkenntnisprinzipien dürfen dabei auch dieselben Gewißheitsansprüche gelten: Pour venir maintenant aux Objections, il y a des gens qui soûtiennent, que les choses Morales en général sont toutes fort variables & et fort incertaines; d'où ils concluent qu'il ne faut pas se flatter de trouver plus de certitude dans les Sciences dont-elles sont l'objet. Mais, quoi que les Etres Moraux doivent leur origine à l'institution, & qu'ainsi leur existence ne soit pas absolument nécessaire; ils n'ont pourtant pas été formez d'une manière si vague & si arbitraire, qu'on ne puisse en avoir qu'une connoissance entièrement incertaine. La constitution même de l'Homme, telle que le Créateur la lui a donnée en partage par un effet de sa Bonté & de sa Sagesse, demandoit l'établissement de la plûpart de ces Etres, & ceux-ci du moins ne sauraient passer en aucune manière pour sujets à l'instabilité; comme il paroitra plus clairement lors que nous rechercherons l'origine de la Loi Naturelle.62

Der Ursprung der entia moralia aus der freien menschlichen impositio (= institution) ist also nicht auf eine Weise aleatorisch, daß ihnen Notwendigkeitscharakter abgesprochen werden kann, insofern nämlich, als ihre Objektivität materialiter auf der Natur des Menschen gründet, die in physischer Hinsicht, also qua körperliche Organisation und der ihr zukommenden anthropologischen Grundkonstanten, determiniert ist. Es ist die conditio hominis selbst, die durch das interaktive Instrument der impositio ein >Überziehen< (inducere) der entia moralia über die (von der menschlichen Natur verschiedenen) entia physica erfordert. Das kognitive Prozedere - Pufendorf spricht im Originaltext explizit von »[p]leraque enim ut inducerentur, postulavit ipsa hominis conditio, [.. .]«63 - kommt daher einem Induktivschluß gleich, der Teil einer resolutiv-kompositiven Erkenntnismethode ist, mit der auch die Naturwissenschaften operieren. Dabei deckt sich die Bestimmung des ens morale durch impositio mit der ersten analytischen Phase des Methodenmodells, die induktiv vorgeht. Ausgehend von empirischen Daten der sinnlichen Erfahrung von menschlichen Handlungen wird ein Nexus von Ursache-Wirkung aufgedeckt, wobei der hypothetische Charakter des konstituierten ens morale nur scheinbar ist: Die socialitas stellt - als Endresultat eines analytisch-reso61

62

63

Vgl. Denzer (1972), S. 74: »Ausdrücklich wird bei der rein physischen Natur des Menschen darauf hingewiesen, daß sich physische und geistige Natur wechselseitig bedingen, so daß der Mensch durch seine Vernunft und seinen freien Willen im Extremfall seine Selbsterhaltung aufgeben, aber auch seine Leidenschaften durch willentliche Affekte über das natürliche Maß steigern kann.« Vgl. Pufendorf: Le droit de la Nature et des Gens, Ausg. Barbeyrac, Basel 1732, Liv. I, Chap. II (De la certitude des Sciences Morales), § 5, S. 25. Vgl. Pufendorf: De jure naturae et gentium (Lund 1672, Frankfurt 21684, Amsterdam 31688), Lib. I, Cap. II, § 5; zit. nach Pufendorf (1998), S. 29.

349 lutiven Erkenntnisprozesses - ein anthropologisches Faktum dar, das mit einem ens physicum vergleichbar ist. Der erste Erkenntnisschritt ermittelt damit a posteriori ein ens morale, das den Status einer deskriptiven Kategorie (Sein) hat. Im zweiten deduktiv-kompositiven Erkenntnisschritt wird socialitas aber als Norm (loi naturelle), also als präskriptiver Begriff des Naturrechts definiert, der Handlungsfreiheit limitieren soll.64 Das das Pufendorfsche Naturrecht begründende Kriterium der socialitas entsteht somit erkenntnismethodisch im Spannungsverhältnis von Freiheit (impositio) und Notwendigkeit (lex naturalis) bzw. Norm und Kontingenz und ist objektiv auf der Natur des Menschen begründet. Das Problem besteht nun darin, zu verstehen, wie der (formale) Begriff >Natur< inhaltlich zu füllen ist. Geht man bei Pufendorf von der utilitaristischen Auffassung des Naturgesetzes der socialitas aus, so ist das innere Movens, nach dem beim Menschen kontingente Handlungsfreiheit (deliberatives Moment) durch einen Willensakt in eine reale und notwendige Handlungswirkung übergeht, von einer anthropologischen Konzeption bestimmt, die u.a. auf Richard Cumberland zurückgeht. Prinzipiell macht Cumberland physisch-geistige Fähigkeiten, Affektstruktur und Handlungen des Menschen sowie die Vorteile, die für den Menschen gegenüber dem Tier resultieren, von der natürlichen Disposition des Körpers, d.h. von dem anatomisch-physiologischen Bau der Organe des menschlichen Körpers, abhängig (Gehirn, Nerven, Blut, Gesicht u. Hände), wobei Cumberland in seiner Argumentation - wie in Teil II, Kap. 2, 3 dieser Studie ausgeführt wurde - auf das Wissen der komparativen Anatomie seiner Zeit rekurriert: Au dernier indice, que nous avons tiré ci-dessus de la constitution entière du Corps des Animaux, & de toutes leurs actions réunies, il faut rapporter ici la conformation de tout le Corps Humain en général, qui rend les Hommes encore plus propres à l'exercice des fonctions nécessaires pour vivre amaiblement en Société; & principalement les effets manifestes d'une association plus étroite, qui se voient dans le Gouvernement Civil, inconnu aux Bêtes, mais dont il y a toûjours eû quelque sorte entre les Hommes par tout le Monde [...]. J'avoue, que cela ne doit pas être uniquement attribué à la construction des Organes du Corps Humain, comme tout vient, dans les Bêtes, de la structure de leurs Corps. L'Ame y a beaucoup plus de part: & 64

Die Definition der >entia moralia< im De jure nature et gentium spricht dies deutlich aus: »Voici donc, à mon avis, la définition la plus exacte que l'on puisse donner des ETRES MORAUX. C'est que ce sont certains Modes, que les Etres Intelligens attachent aux Choses Naturelles ou aux Mouvemens Physiques, en vue de diriger & de restreindre la Liberté des Actions Volontaires de l'Homme, & pour mettre quelque ordre, quelque convenance, & quelque beauté, dans la Vie Humaine.« Vgl. Pufendorf: Le droit de la Nature et des Gens, Ausg. Barbeyrac, Basel 1732, Liv. I, Chap. I (De l'origine des Etres Moraux, & de leurs différentes sortes en général), § 3, S. 3. Zum logischen Problem, das jedem >modus procedendo der Ethik anhaftet, der empirische Aussagen, die auf Faktizität basieren, zu ethischen Normen transformiert, deren Charakter nur tautologisch sein kann, vgl. die Diskussion im methodologischen Kap. zu Pufendorf bei Fiorillo (1992): (La μετάβασις εις άλλο γένος: un'antinomia logica), S. 25-33.

350 en dirigeant ces effets, [...] la disposition très-convenable de toutes les parties ensemble les unes à l'égard des autres, qui fait que les Hommes sont plus en état de rendre service à leurs semblable, que les Bêtes ne peuvent s'entresecourir. Cette disposition se sent mieux par les effets, qu'on ne peut en expliquer le méchanisme. [...] prèsque toutes les Parties du Corps Humain sont à cet égard d'un usage plus efficace, parce qu'elles sont déterminées par l'influence qu'ont sur elles un Cerveau plus grand, un Sang, des Esprits Animaux plus abondans, & le Coeur mieux gouverné par des Nerfs qui lui sont particuliers. 65

Konstantes anthropologisches Verhalten, das dem Menschen empirisch zukommt, wird somit auch bei Pufendorf auf Gründe zurückgeführt, die mit der natürlichen, d.h. geist-physischen, Organisation des menschlichen Körpers konstitutiv zusammenhängen: D'ailleurs, quoi que les Actions Humaines soient appellées Morales, à cause qu'elles partent d'une libre détermination de la Volonté, il ne s'ensuit point de là qu'on ne puisse, après avoir posé quelques principes incontestables, attribuer à ces Actions certaines propriétez susceptibles de démonstration. Il est clair, que les actes ordonnez par la Loi Naturelle, procurent l'avantage de la Société Humaine par une vertu propre & interne, quoi que leur existence dépende du Libre Arbitre des Hommes. A la vérité, pendant que l'on délibère encore, les effets qui doivent résulter des actes de nôtre Volonté sont des effets Contingens, comme on les appelle, eu égard à la pleine liberté où l'on est d'agir ou de ne point agir. Mais depuis qu'on s'est une fois déterminé, la liaison qu'il y a entre nos actes & les effets qui en dépendent est nécessaire & entièrement naturelle, & par conséquent susceptibles de démonstration. 66

Im Zusammenhang mit der Begründung der empirisch-induktiven Methode bei Haller auf der naturrechtlich-sozialen Auffassung der Natur des Menschen ist es sinnvoll, den logischen Konnex zwischen Pufendorfs Analyse der gesetzmäßigen Prinzipien menschlichen Handelns in der moralischen Welt und der Interpretation von Naturvorgängen, wie sie dem physikotheologischen Naturbegriff zugrundeliegt, zu erhellen. Dies wird besonders im Hinblick auf die Transformationen des Verhältnisses von Natur und Moral in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wichtig, die um 1750 zu der Konkurrenz unterschiedlicher Naturbegriffe führt: der >Neospinozismus< und der >NeomechanizismusWissenschaften des Lebens< (Physiologie, Embryologie) ausgetragen wird, ergeben sich unterschiedliche Konsequenzen für die Interpretation von Moral, Religion und Gesellschaft. Auf diesen Aspekt werden wir im Teil II, Kap. 3, 11 dieser Studie ausführlicher eingehen. Mit dem Begriff der voluntas führt Pufendorf im Hinblick auf eine grundsätzliche Unterscheidung der moralischen Sphäre von der physischen ein an65

66

Vgl. Richard Cumberland: Traité philosophique des Loix Naturelles, hg. von J. Barbeyrac, Lausanne, Genève 1744, Chap. II (De la Nature Humaine, & de la Droite Raison), bes. §§ 20 -29, S. 159-182; Zitat § 29, S. 175. Vgl. Pufendorf: Le droit de la Nature et des Gens, Ausg. Barbeyrac, Basel 1732, Liv. I, Chap. II (De la certitude des Sciences Morales), § 5, S. 25f.

351 deres Determinationsprinzip ein als die Kausalität, welche die physische Welt regelt. In der Bestimmung der Spezifizität des Moralischen im Prinzip der Freiheit koinzidiert jede freie impositio mit einer moralischen Willensentscheidung, die aber aufgrund der Determinationsbedingungen der loi naturelle als anthropologisches Gesetz< der geist-physischen Natur des Menschen in Notwendigkeit übergeht.67 Aber indem Pufendorf die imbecillitas als notwendige Voraussetzung für die socialitas aus der geist-physischen Organisation des menschlichen Körpers erklärt, unterscheidet sich sein Determinismusbegriff entscheidend von den mechanistisch-naturalistischen Ansätzen bei Hobbes und Spinoza, der beispielsweise aus der natürlichen Veranlagung des Menschen im Hinblick auf den Determinismus moralischen Handelns ganz andere Folgerungen zieht. Diese gilt es zunächst, kurz zu erläutern. Pufendorfs Überlegungen gelten grundsätzlich der Widerlegung von Spinozas naturrechtlichen Thesen im Theologisch-Politischen Traktat von 1670. Gemäß Barbeyrac ist dies nicht in der Erstausgabe von Lund (1672), aber in allen anderen deutschen und holländischen Ausgaben des De jure naturae et gentium einschließlich der Ausgabe von 1706 der Fall. Dabei inkriminiert Pufendorf Spinozas Verständnis des >Rechts der NaturSpinozisten< dokumentiert. Barbeyrac zufolge ist dieses Mißverständnis durch die Übersetzungen des De jure naturae et gentium zustande gekommen, die der Erstausgabe gefolgt sind. Die Uminterpretation Spinozas ist exemplarisch für die Spinoza-Rezeption des 18. Jahrhunderts, wobei dies auch gewichtige Konsequenzen für den Naturbegriff mit sich bringt. Barbeyrac vergleicht die 67 68

69

Zum Begriff der Freiheit bei Pufendorf vgl. Fiorillo (1992), S. 110-116. Vgl. Pufendorf: Le droit de la Nature et des Gens, Ausg. Barbeyrac, Basel 1732, Liv. II, Chap. II (De l'Etat de Nature), § 3, S. 155. Vgl. ebd.

352 soeben zitierte Stelle aus dem Pufendorfschen Text mit der Variante in der Ausgabe von 1672, in der Pufendorf schreibt: »on n'entend pas ici [sc. droit] la Loi selon laquelle on doit agir, mais la faculté d'agir, ά ce que chacun peut faire sans faire du tort [.. .]«.70 Barbeyrac präzisiert, daß »les dernières paroles, ce que chacun peut faire sans faire du tort, se doivent rapporter visiblement, non à la simple faculté d'agir, qui peut faire beaucoup de tort, mais à la Loi, qui défend de faire du tort à personne. On ne trouvera pas ce désordre dans ma traduction.« 71 Die Zuweisung der regulierenden Instanz (»ce que chacun peut faire, sans faire du tort«) an ein Handlungsvermögen, das natürlich, d. h. physisch, determiniert ist, und nicht an das trieb- und affektdämpfende Vermögen der loi naturelle (im Sinne Pufendorfs) legt für Barbeyrac das Skandalon der Gleichsetzung von physischem Gesetz und moralischem Handlungsvermögen nahe: En effet, le simple pouvoir Physique de faire une chose, ne prouve point qu'on soit tenu indispensablement de la faire; ni qu'on puisse la faire légitimement, si l'on veut: à moins qu'on ne suppose, ce qui est en question, que le pouvoir Physique, & le pouvoir Moral ne sont qu'une seule & même chose.72

Die Interpretation der loi naturelle als physische Qualität impliziert nicht nur, daß das Recht (droit d'agir) nicht mehr allein eine Prärogative des Menschen ist und daß dieser dadurch prinzipiell mit allen anderen >vernunftlosen< und instinktdeterminierten Lebewesen gleichgesetzt wird. Es wird implizit auch gesagt - Pufendorf zitiert an dieser Stelle seines Textes nochmals Spinoza - , daß die Natur absolut für sich selbst betrachtet, ganz im Sinne des stoizistischen Naturbegriffs, ein absolutes Recht hat in dem, was sie tun kann und daß das Recht der Natur sich zu einer Macht der Natur ausdehnt, die mit der Macht Gottes, der ein absolutes Recht über alle Dinge hat, zusammenfällt. 73 Für Barbeyrac bedeutet dies die Gleichsetzung von Gott als ungeschaffene Substanz und Welt: »On voit assez que Spinoza ne reconnoît point de DIEU ou d'Etre intelligent, & tout-parfait. Ce qu'il appelle Dieu, n'est autre chose que le Monde, qu'il suppose éternel & incréé.« 74 Die Identifikation der loi naturelle mit einer physischen Qualität (im >spinozistischen< Sinn) kontrastiert mit der Annahme eines freien Willens im Menschen und führt, wenn nicht zu dessen Negierung, so doch zu einer absoluten Determination des Menschen durch das Physische, die das Unterscheiden von moralischen Handlungen nicht mehr erlaubt und de facto die Indifferenz des Physischen gegenüber dem Moralischen dekretiert. Damit wäre aber die Grund70 71 72 73

74

Vgl. ebd., Fußnote Nr. 2, S. 155. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. Pufendorf: Le droit de la Nature et des Gens, Ausg. Barbeyrac, Basel 1732, Liv. II, Chap. II (De l'Etat de Nature), § 3, S. 155. Vgl. ebd., Fußnote Nr. 2, S. 155.

353 annahme (bzw. die Norm) des Naturrechts oder der Theodizee, daß die Ordnung der Natur für den Menschen verpflichtenden Charakter habe bzw. daß Natur, Welt und Mensch gut seien, negiert. Spinozas naturalistischer Determinismus, der eine Notwendigkeit auf der Ebene des Seins festsetzt, und Hobbes' pessimistische Deutung der Natur des Menschen im Banne seiner Leidenschaften, aus der durch die Logifizierung der Kontingenz eine Notwendigkeit auf der Ebene der Norm gefolgert wird, konvergieren in der Auffassung einer individuellen Natur des Menschen und seinem natürlichen RechtMittelpositiongemischten< Natur abhängen, für socialitas-fördernde Handlungen entscheiden kann und wegen des anthropologischen Grundcharakters seiner Natur, der imbecillitas, sogar muß: [...] c'est qu'il ne s'agit point ici [sc. im Naturzustand] de l'état d'un Animal qui ne se conduise que par un mouvement aveugle & par les impressions des Sens; mais d'un Animal dont la partie principale & celle qui dirige toutes les autres Facultez, c ' e s t la R a i s o n , l a q u e l l e , m ê m e d a n s l ' E t a t d e N a t u r e , a u n e r è g l e g é n é r a l e , s û r e , f i x e , & u n i f o r m e , s a v o i r la n a t u r e d e s c h o s e s , qui fournit aisément & d'une manière évidente à tout Esprit attentif, du moins les préceptes généraux de la Vie Humaine, & les maximes fondamentales du Droit Naturel. D e sorte que, pour donner une juste idée de l'Etat de Nature, il ne faut nullement en exlurre l'usage de la droite Raison, m a i s p l û t o t le j o i n d r e i n s é p a r a b l e m e n t à l'opération des autres Facultez de l'Homme.77

Daraus resultiert eine Definition des Naturzustands als Zustand des Friedens, die bei Pufendorf im Zeichen von Cumberlands Theorie des »sentiment of mutual benevolence« erfolgt: A la vérité ces instruments particuliers à l'Homme [sc. das vorteilhafte anatomische Verhältnis von aufrechtem Gang, den Händen, Armen, Achselknochen und Mus-

76 77

rae (1672), wobei auf den § 31 von Cumberlands Traktat noch zurückzukommen sein wird. Vgl. ebd. Vgl. Pufendorf: Le droit de la Nature et des Gens, Ausg. Barbeyrac, Basel 1732, Liv. II, Chap. II (De l'Etat de Nature), § 9, S. 165.

355 kein], qui lui donnent de plus grandes forces, que n'en ont les Bêtes, peuvent être emploiez, contre leur destination naturelle, à commettre des Meurtres, & à faire du mal aux autres Hommes en diverses manières. Mais il est clair, à mon avis, que tout ce qui rend les Hommes en général tous puissans, fournit à chacun, s'il fait attention au pouvoir égal des autres, qui balance le sien, des motifs à vouloir les assister des ses forces plûtôt que de leur nuire; & par conséquent que cette considération est propre à inspirer des sentimene de Bienveillance mutuelle. 78 De tout cela je conclus, que l'Etat de Nature par rapport à ceux-mêmes qui vivent hors de toutes Société Civile, n'est point la Guerre, mais la Paix, dont les principales Loix se réduisent à ceci: D e ne f a i r e a u c u n m a l à c e u x qui ne n o u s en f o n t p o i n t ; de l a i s s e r c h a c u n d a n s u n e p a i s i b l e j o u i s s a n c e de ses b i e n s ; d e t e n i r p o n c t u e l l e m e n t ce à q u o i l ' o n s ' e s t e n g a g é ; e n f i n , d ' ê t r e p o r t é à r e n d r e service à notre Prochain, autant que des Obligations plus é t r o i t e s & p l u s i n d i s p e n s a b l e s n o u s le p e r m e t t e n t . [...]. Et chacun pouvant se convaincre par sa propre expérience, qu'il lui est avantageux de se conduire de telle manière qu'il s'attire la bienveillance des autres plûtôt que leur inimitié; la c o n f o r m i t é d ' u n e m ê m e n a t u r e peut aisément lui faire présumer que les autres sont dans de pareils sentimene.79

Die Rezeption naturrechtlicher Thesen Pufendorfscher und Cumberlandscher Prägung in Albrecht von Hallers naturgeschichtlich-kulturanthropologischem Denken ist anhand differenzierter Aussagen über die zeitgenössische Reiseliteratur, die Haller intensiv gesammelt hat,80 nachzuweisen. Das vorwiegend von komparatistischen Fragen geleitete Interesse des Schweizer Physiologen für das durchaus kritisch beleuchtete ethnographische, natur- und zivilisationsgeschichtliche Informationsmaterial aus fremden Kontinenten, dessen Nutzen im Abbau von Vorurteilen bestehe, ist trotz der Kompräsenz kulturrelativistischer und klimatheoriebedingter Wertungen (Moral) von der Annahme des Prinzips der >Gleichheit der Völker< geprägt, die sich für Haller im Hinblick auf die naturrechtlichen Anlagen des Menschen (»Stimme der Natur«) manifestiert und konkret an den »Hauptmerkmalen« der Gattung Sprache, Geselligkeit und Lernfähigkeit bzw. Intelligenz - zu erkennen ist. Im Rahmen des naturrechtlichen Interpretationsansatzes wird die taxonomische Kategorie >wildzivilisiert< oder >primitivzivilisiert< aus der synchron und diachron verwendbaren Kategorie >Naturzustandvergesellschafteter Zustand< abgeleitet, wobei Haller, wie auch der Nordamerikaforscher Joseph-François Lafitau und Buffon, von der klimazonenbedingten Kulturverschiedenheit der Völker und ihren Differenzen im >Phänotyp< (Hautfarbe) nicht auf eine >genotypische< Differenz in der biologischen Natur des Menschen (Gattung) schließt, wie sie in späteren komparatistischen Ansätzen zu 78

79

80

Vgl. Cumberland: Traité philosophique des Loix Naturelles, Ausg. Barbeyrac, Lausanne, Genève 1744, Chap. II, § 29, S. 178. Vgl. Pufendorf: Le droit de la Nature et des Gens, Ausg. Barbeyrac, Basel 1732, Liv. II, Chap. II (De l'Etat de Nature), § 9, S. 165. Vgl. hierzu Karl Guthke: Von arbeitsamen Menschenfressern und Diebstahl im Paradies. Albrecht von Haller und die Völkerkunde seiner Zeit. In: Ders.: Der Blick in die Fremde. Das Ich und das andere in der Literatur, Tübingen, Basel 2000, S. 11-40.

356 finden ist. So ζ. B. in Cornélius de Pauws Recherches philosophiques sur les Américains, Berlin 1768-1770, der die >genotypische Differenz< einem Rassenbegriff zuordnet und mit depreziativen Werten auflädt. Dabei wird das Prädikat homme sauvage aufgrund einer wertenden Interpretation des taxonomischen Schemas von den Attributen >humanzivilisiertkultiviert< (>Geschichtebestialischdegeneriertunzivilisiert< etc. (>Nicht-GeschichteNaturWissenschaft vom Menschen< im Zeitalter der Aufklärung: Der homme sauvage bildet dabei den theoretischen Ausgangspunkt von Ursprungs-, Entwicklungs- und Differenzierungsfragen, die eine einheitlich gefaßte menschliche Gattung betreffen: La thèse primitiviste sera le pivot d'une science générale de l'homme. Elle impliquait en effet que le sauvage des antipodes, monstre par défaut, franchît la frontière qui le déjetait hors de son espèce et qu'il parût l'image des Origines. Il portait la trace actuelle, et mieux encore le »germe«, des vertues »développées« par les sociétés policées. D e la lecture des Antiques à la robinsonnade, la thèse primitiviste n'a pas eu véritablement de contenu. Les origines sont immémoriales. Elles figurent un postulat théorique plutôt qu'une représentation dotée d'un sens plein. Cette thèse a cependant une grande importance philosophique. Dire que l'Indien est comparable à l'ancêtre mythique de l'homme occidentales, redire après John Locke qu' »au commencement, toute la terre était une Amérique«, c'est lier une vision des premiers temps à une promesse d'avenir qui verra la régénération du sauvage. On peut tenir alors sur le genre humain un discours unitaire, insistant plus sur le changement, la plasticité et la différenciation que sur la »nature«. 82

Entscheidend für Haller sind vielmehr die Kriterien der Differenz der Gattung Mensch zu der nächstliegenden Stufe in der >Kette der WesenMenschwilden< Völker (Hottentotten) subsumiert, weil diese im Gegensatz zum Affen von den gemeinsamen Bestimmungen, die nach dem Naturrecht der Natur des Menschen allgemein zukommen, nicht ausgenommen sind. 84 Anorganische und organische Natur, 81

82 83 84

Vgl. Claude Blanckaert: Les archives du genre humain. Approches réflexives en histoire des sciences anthropologiques. In: »Postface« à Michèle Duchet: Anthropologie et histoire au siècle des Lumières, Paris 1995 ('1971), S. 565-608, Zitat S. 583f. Vgl. Blanckaert (1995), S. 582. Vgl. ebd., S. 581. Zur Konzeptualisierung der physisch-kulturellen Andersheit des Menschen als Problem der Naturgeschichte vor und um 1750 (Buffon) sowie zum historischen Wandel in der Konzeptualisierung dieser Problematik (Rassentheorien) nach 1750 und in späteren Jahrhunderten vgl. Renato G. Mazzolini: Für eine neue Geschichte vom Ursprung der

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die Natur des Menschen, dessen Umwelt, Staat und Kultur stehen bei Haller in einem wechselseitig sich bedingenden Verhältnis zueinander, wobei physische und moralische Welt gleichermaßen Gesetzmäßigkeiten unterstellt sind: [A. Physische Welt: Natur] Ich habe zu allen Zeiten für die Auffsätze vernünftiger und wissensbegieriger Reisenden eine besondere Neigung gehabt. Ich fand in denselben die Naturgeschichte im Grossen, die Kenntnis der Erdkugel und des Menschen. Ich lernte von jener die wahre Ertragenheit eines jeden Landes, und seine Früchte aus den dreyen Reichen [sc. Mineralien-, Pflanzen- und Tierreich, S. DeA.], die wir aus dem blossen Ansehen der Himmelsstriche nicht lernen können, indem die gesammelte Erfahrung aller Reisenden beweiset, daß Europa in Ansehung der kleinen Entfernung vom Pol das wärmste Land in der Welt, Asien in gleichem Abstände vom Nordpol schon kälter, Amerika im Nordtheile sehr kalt, und im Südertheile am allerkältesten ist. Ich lernte aus denselben die Uebereinstimmung und die Verschiedenheiten der Gewächse und Thiere, davon sehr viele, und je länger man sucht, je mehrere sich in beiden grossen Welttheilen finden. Man hat in Jamaika schon ziemlich viele europäische Kräuter, in Nordamerika aber mehrere gefunden, und die von den wärmeren Gegenden, trifft man jemehr und mehr sowohl in den heissen Inseln unter Asien, als in den Antillischen an. Die Thiere finden sich auch immer häuffiger in beiden grossen Strichen des festen Landes. Der Bär, der Löwe, das Elend, der Luchs, das Pferd, der Stier, der Bieber, und die meisten andern vierfüssigen Thiere sind in beiden anzutreffen, und die Lama hat man nunmehr auch in Bengala, den Lamantin aber um Kamtschatka entdeckt. Ich erfuhr aus der allgemeinen Uebereinstimmung der Reisenden, daß auf allen Bergen der Welt sich versteinerte Muscheln fänden. In Carolina, im Caucasus, im Taurus, in Arabien, in China, und in allen Ländern die wir kennen, hat die Erfahrung diesen Satz bestätiget; denn die Andischen Gebirge, worauf die Parisischen Weltmesser keine versteinerte Muscheln gefunden haben, sind zu hoch, und auf einer gewissen sechstausend Schuhe übertreffenden Höhe haben die Alpen ebenfalls keine. Ich bemerke aus allen Nachrichten, daß auf dem meisten Theile des Erdbodens überhaupt die See abnimmt und schwindet; die Carolinischen Ufer und die Schwedischen nehmen zu, und selbst die süssen Seen in den Gebirgen nehmen ab, welches beweiset, daß diese Abnahme des Wassers nicht von den Winden, sondern von einer viel allgemeinern Ursache herkömmt, obwohl das Maaß dieser Abnahme allzu frühzeitig bestimmet worden ist. Ich finde, daß das Gold in heißen Gegenden am häufigsten, in gemäßigten minder häufig, in kälteren mehr Silber, das Eisen aber fast über die ganze Welt zerstreuet ist, woraus jener Erz zur Seltenheit und zum Preise der Waaren, dieses aber zur Nothdurft der Menschen hergegeben zu seyn scheinet. Ich stelle Tausend andere Betrachtungen von dieser Art an, die alle auf die Nachrichten der Reisenden gegründet sind, und die mir die Wohnung des menschlichen Geschlechts bekannt machen. [B. >Moralische< Welt: Natur des Menschen, Gesellschaft, Staat, Kultur] Aber die größte Bemühung der Menschen ist die Kenntnis seiner selbst, und diese sind wir grossentheils den Reisenden schuldig. Wir werden in einem Lande unter Bürgern erzogen, die alle einen gleichen Glauben, gleiche Sitten, und überhaupt gleiche Meynungen haben; diese flechten sich nach und nach in unsre Sinnen ein, und werden zu einer falschen Ueberzeugung. Nichts ist fähiger, diese Vorurtheile zu zerstreuen, als die Kenntnis vieler Völker, bey denen die Sitten, die Gesetze, die Meynungen verschieden sind; eine Verschiedenheit, die durch eine leichte Bemühung uns lehrt dasjenige wegzuwerfen, worinn die Menschen uneinig sind, u n d das f ü r d i e S t i m m e d e r N a t u r zu h a l t e n , w o r i n n alle V ö l k e r m i t e i n a n d e r ü b e r e i n s t i m m e n . Physischen Anthropologie (1492-1848). In: Jahrbuch 1996 der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina (Halle/Saale) Leopoldina (R. 3) 42 (1997), S. 319-341.

358 So wild, so grob die Einwohner der in der friedlichen See zerstreuten Inseln sind, so weit der Grönländer von Brasilien oder vom Vorgebirge der guten Hofnung abliegt, so a l l g e m e i n sind d o c h die e r s t e n G r u n d s ä t z e d e s R e c h t e s d e r N a t u r bey allen Völkern. Niemand beleidigen, einem j e d e n das Seine lassen, in s e i n e m B e r u f e v o l l k o m m e n s e y n ; ist d e r Weg z u r E h r e bey d e n a l t e n R ö m e r n , bey d e n A n w o h n e r n d e r S t r a s s e D a v i d s , u n d bey d e n H o t t e n totten. Eben diese Reisen decken uns eine unendliche Verschiedenheit in der Herrschaft des Verderbens auf, die sich über alle Einwohner der Welt ausgebreitet hat. Wir finden überhaupt die Einwohner südlicher Länder faul, geil, grausam und verrätherisch; gegen den Pol nehmen diese Laster immer mehr ab, und die äussersten Theile gegen den Nordpol sind mit solchen Völkern vom Eiß=Cap bis zur Wagersbay bewohnt, die fast ohne Leidenschaften, und eben deswegen ohne Obrigkeiten und ohne Krieg sind. In den wärmeren Ländern herrscht fast ohne Ausnahme eine monarchische Herrschaft, auch auf den kleinen Insuln der friedlichen See. Die freyen Staaten sind mit wenigen Ausnahmen an das einzige Europa gebunden, und scheinen also eine Erfindung der durch die Wissenschaften erleuchteten, und über die Fehler der königlichen Regierung nachdenkenden Menschen zu seyn. Beide äusserste Theile der alten Welt zeigen uns künstliche und gesittete Völker, auf einer Seite die Europäer, auf der andern China und Japan, fast unter einem gleichen Himmelsstriche; da hingegen die schönen Künste und die innerliche ordentliche Eintheilung der Regierung von dem übrigen Erdboden verbannet zu seyn scheinet. Das Alter der Menschen ist überhaupt ziemlich gleich, doch länger im den kälteren Gegenden und ohne Zweifel am allerkürzesten in den heissen wo die Menschen eher zu ihrem Wachsthume und zur Kraft zu zeugen, und vermuthlich also auch am ehesten zu den übrigen, und zur letzten Stufe des Lebens gelangen. In der Bildung der Menschen finden sich einige geringe Verschiedenheiten, wovon die größte die Schwärze ist, die in Afrika hauptsächlich in den heissesten Gegenden herrschet, hingegen in Amerika unter eben der Linie gar nicht, und in Asien viel geringer angetroffen wird. Die andere eben so merkliche, ist die von den Weissen in dem innern Afrika und in der Darienischen Meerenge befindlichen Menschen, deren Haut Pferdeweiß, und die Augen zu blöde sind, die Sonne zu vertragen. A l l e d i e s e M e n s c h e n k o m m e n d e n n o c h in i h r e n H a u p t e i g e n s c h a f t e n ü b e r e i n , u n d d i e l e t z t e a l l e r e i n f ä l t i g s t e A r t h a t d o c h i h r e S p r a c h e , i h r e g e s e l l i g e Leb e n s a r t , u n d ist d e r U n t e r w e i s u n g f ä h i g , u n d n i m m t sich also von d e m a l l e r k l ü g s t e n O r a n g U t a n g n o c h b e t r ä c h t l i c h aus. [...]. 85

4. Gott - Mensch - Natur. Von der naturrechtlichen Konzeption des Menschen zu der konjektural-induktiven Methode in der Naturforschung: die religiös-moralphilosophischen Wurzeln der Aufwertung des Erfahrungsbereichs und die Herausbildung der empirischen Erkenntnismethode Um den systematischen Konnex zwischen der naturrechtlich-sozialen Selbstinterpretation der Natur des Menschen, der empirisch-induktiven Methode in der Naturforschung und dem physikotheologischen Naturbegriff bei Hal85

Haller: Vom Nutzen der Reisebeschreibungen. Vorrede zur Sammlung neuer und merkwürdiger Reisen. Göttingen, 11 Bde., Göttingen 1750. In: Haller (1787), Zweyter Theil, S. 133-139, Zitat S. 133-137.

359 1er zu erläutern, ist der Hinweis auf einen zentralen Punkt noch einmal zu bestärken: Die anatomisch-physiologische Organisation des menschlichen Körpers, aus der die Naturrechtslehrer Cumberland und auch Pufendorf, ausgehend von anatomischen Unterschieden zu der Gattung des Affen, eine bessere Eignung des Menschen zu der Soziabilität ableiten,86 impliziert nicht, wie dies bei Hobbes und Spinoza der Fall ist, einen absoluten Hand86

Zur Präsenz naturwissenschaftlicher und medizinischer Schriften in Pufendorfs Bibliothek (prozentual gerechnet an dritter Stelle nach Geschichte und Recht!) vgl. Fiammetta Palladini: Die Bibliothek Samuel Pufendorfs. In: Samuel Pufendorf und die europäische Frühaufklärung: Werk und Einfluß eines deutschen Bürgers der Gelehrtenrepublik nach 300 Jahren (1694-1994), hg. von Fiammetta Palladini und Gerald Härtung, Berlin 1996, S. 29-39. Die systematische Anschaffung der wichtigsten wissenschaftlichen Publikationen auf den Gebieten der Medizin, Anatomie, Physiologie, Pathologie etc. durch Pufendorf - für die Autorin des wichtigen dokumentarischen Beitrags stellt dieses Faktum »ein fesselndes und beunruhigendes Problem« (S. 36) und zugleich ein »große[s] Geheimnis« (S. 39) dar - ist keine Anomalie, sondern besitzt im anthropologischen Ansatz Pufendorfs, der den Vorzug der menschlichen Kreatur gegenüber der tierischen in der Befreiung von der Instinktgebundenheit des Handelns bestimmt und diese auf deren körperlichen Disposition gründet eine außerordentliche Relevanz (vgl. Pufendorf: Le droit de la Nature et des Gens, Ausg. Barbeyrac, Liv. I, Chap. I (De l'origine des Etres Moraux), Basel 1732, § 2, S. 3). Die empirisch-induktive Erkenntnis des Rechts (>entia moraliaNatur< des Menschen kann im wissenschaftshistorisch-epistemologischen Kontext der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in der Baconismus und Polyhistorismus parallel zu Aristotelismus und Cartesianismus präsent sind und rezipiert werden, die biologisch-somatische Seite der menschlichen Natur nicht mehr unberücksichtigt lassen, wodurch die Verbindung von >ius naturae< und anatomisch-physiologischem Wissen als implizites >backgroundentia moralia< - die physische Welt - rückt per definitionem die Substanz des menschlichen Körpers in das zu analysierende Objektfeld des Naturrechts. Die Erkenntnis der Gesetze des anatomischen Baus und der neurophysiologischen Funktionen der Organe des menschlichen Körpers wird von den medizinisch-biologischen Wissenschaften (z. B. von der cartesianischen Medizin) geleistet, die damit zu relevanten Hilfswissenschaften des Naturrechts avancieren. Diese Erklärung wird ferner durch ein weiteres Faktum unterstützt, das in Pufendorfs Naturrechtslehre nicht mit derselben Deutlichkeit hervortritt. Die medizinischen Autoren in Pufendorfs Bibliothek (vgl. Palladini (1996), S. 36f.) sind mehrheitlich dieselben, die Richard Cumberland in seinem Naturrechtstraktat von 1672 zitiert und deren inhaltlichen Positionen Cumberland als wissenschaftliches Belegmaterial für die Soziabilitätsthese diskutiert (vgl. oben Teil II, Kap. 2,3). Das Interesse Pufendorfs für Harveys und Glissons Studien (Blutkreislauf Muskelbewegung, Irritabilität), für diejenigen von T. Willis (Gehirnanatomie) und M. Malpighi (Embryologie), T. Sydenham, J. B. van Helmont, J. Swammerdam, T. Bartholinus, R. de Graaf, F. Redi etc. wird vor diesem Hintergrund verständlich. Die unterschiedlichen Leistungen dieser Autoren bilden gemeinsam mit dem Naturrecht die Grundlage für den sich um 1750 ausbildenden anthropologischen Typus Hallers, in dessen Wissenschaftsbegriff sich die naturrechtlich-soziale Natur des Menschen und seine naturgeschichtliche Stellung, die Physiologie des menschlichen Körpers, die sensualistische Erkenntnistheorie, die empirisch-experimentelle Methode und die natürliche Theologie systematisch verbinden.

360 lungsdeterminismus des Individuums. Daß im Naturrecht menschliche Handlungen generell in den Bereich der Kontingenz fallen, setzt voraus, daß deren Ursache ebenfalls kontingent ist, so daß das Determinationsprinzip moralischer Handlungen zwar durch die physische Natur bedingt ist, aber nicht auf diese reduziert werden kann. D i e anatomisch-physiologische Organisation des Menschen muß ihm die Möglichkeit der freien Handlungsentscheidung bzw. des freien Willens gewähren. D i e voluntas kann für die reale Umsetzung des naturrechtlichen Prinzips der socialitas determinierend sein - im Pufendorfschen und Cumberlandschen Naturrecht ist sie es - , sie beinhaltet aber, daß der Mensch auch das Gegenteil wollen kann oder sich prinzipiell auch anders entscheiden kann. Diese grundlegende Annahme in der naturrechtlichen Anthropologie hat eine wichtige Erkenntnisfunktion, denn sie ermöglicht im Bereich der moralischen Welt zwischen konstanten und akzidentiellen Handlungsweisen (Vermögen, Neigungen) des Menschen zu unterscheiden, wobei die Erfahrung der Ort ist, an dem die Prinzipien und Gründe des natürlichen menschlichen Verhaltens beobachtet werden können. In seinem Naturrechtstraktat verdeutlicht Cumberland dieses methodische Prinzip empirischer Erkenntnis der moralischen Welt anhand der Gleichheitsthese (aequitas), die Hobbes zwar als Bedingung von Gesellschaft betrachte, deren konsequente Einhaltung er aber gleichzeitig für unmöglich halte: [...] tantôt il [sc. Hobbes] se contente de dire en général, [De Cive, Cap. I, § 2] Que ceux-même qui désirent la Société, ne sauroient se résoudre à y vivre sous conditions égales. J'avoue bien, qu'il y a des gens, qui quelquefois ne veulent pas se soûmettre aux conditions égales, que demande nécessairement la nature de la Société. Mais ce n'est ni la Nature des Choses en général, ni la Nature particulière à l'Homme, qui leur enseigne, ou qui les détermine à ne pas vouloir subir ces Loix. Les manières d'agir, auxquelles quelques Hommes se laissent quelquefois entraîner imprudemment, différentes de celles d'un grand nombre d'autres, & souvent même de leur propre conduite en matière d'autres choses, ne doivent point être attribuées à la Nature Humaine, ni à celle de l'Univers: mais, comme ce sont des Actes Contigens, ils ont aussi une Cause Contigente, savoir, une détermination téméraire du Libre Arbitre de ces gens-là. Pour bien juger de ce qui est naturel, il faut examiner les Pouvoirs & les Penchans nécessaires, essentiels, & constane, de chaque Chose; & dans l'Homme, ceux sur-tout qui servent à conserver sa Vie, qui son Bonheur ordinaire, plûtôt que les dérèglement accidentels des Passions, qui tendent à les détruire l'un & l'autre. Il est certain que, pendant que nous vivons, & que sommes en bon état, les Causes de la conservation de nôtre Vie & de nôtre Santé, sont plus fortes, que les contraires, qui y donnent quelque atteinte; qu'ainsi c'est par l'influence des prémiéres, que nous devons juger de nôtre propre nature. Par la même raison, il faut faire un pareil jugement de tout le Genre Humain, & d'aujourdhui, & de tous les Siècles, qui se succèdent les uns aux autres, comme les Eaux des Rivières. A l'égard des moeurs des Hommes, il est vrai généralement parlant, quoi que d'une manière contingente, que les Hommes veulent se soumettre à des conditions égales de Société, & cela parôit par l'expérience: car nous voions qu'il y a de telles Sociétez établies par-tout depuis long tems, par un effet de leur volonté, & qui se conservent plus souvent & plus long tems, qu'elles ne sont dissoutes: or vouloir entretenir une Société Civile, ou garder la paix avec un autre Etat, ce n'est qu'une continuation de la volonté de l'établir. Il est même un peu plus difficile

361 de demeurer constant dans cette volonté, que de consentir au premier établissement de la Société: & cependant nous voions tous les jours que la plûpart des Hommes surmontent la difficulté par les forces de leur Raison & de leur Nature. 87 Mit der Wendung zu einer optimistischen D e u t u n g von physischer Natur, Welt und Mensch in seiner kontingenten Handlungsfreiheit stehen das Pufendorfsche und das Cumberlandsche Naturrecht am E n d e einer Entwicklung des kosmologischen und moralphilosophisch-religiös-anthropologischen Denkens, die v o m Spätmittelalter - über D u n s Scotus' Nominalismus und Voluntarismus, Lorenzo Vallas religiöser Wirklichkeitsdeutung, Calvins Morallehre und Leibniz' Theodizee - in die frühe Neuzeit führt und in eine optimistische Lösung des Problems des freien Willens mündet. D i e s e Lösung setzt im Übergang v o m 17. zum 18. Jahrhundert in der Bestimmung einer autonomen und gesetzmäßig geregelten Sphäre des Menschlich-Sozialen, in der das Individuum die Verantwortung für sein Handeln selbst übernimmt, zugleich einen neuen Anfangspunkt. 8 8 Indem die Prinzipien der naturrechtlichen Anthropologie von dem Verhältnis Mensch-Welt analog auf die kosmologische Skala, die vom Verhältnis Gott-Welt bestimmt ist, übertragen werden, ergeben sich die folgenden Implikationen im Naturbegriff:

Mensch

freier Wille

moralische Welt/Kontingenz Handlung

Wirkung

Kontingenz Individuum

geist-physische Organisation des Menschen amor sui imbecillitas socialitas Selbsterhaltung societas civilis loi naturelle (= konstantes anthropologisches Verhalten)

Gott

freier Wille

physische Welt/Kontingenz causae secundae Phänomene, Wirkungen

Allmacht Naturvorgänge, materia mixta, Kräfte Freiheit Naturgesetze, Konstanz (= Regelmäßigkeit der Prozesse der anorganischen und der organischen Natur) 87

88

Vgl. Cumberland: Traité philosophique des Loix Naturelles, Ausg. Barbeyrac, Lausanne, Genève 1744, Chap. II, § 31, S. 181. In Kondylis' Darstellung kommt der »optimistischen Einstellung« in der normativistischen Denkautomatik die Funktion der »logische[n\ Widerlegung des Materialismus« zu: »da Materialismus=Fatalismus=Pessimismus, so ist der Optimismus eo ipso Argument gegen den Materialismus [...].« Vgl. Kondylis (21986), S. 587. Die Widerlegung betrifft v.a. die Objekte, auf die sich der Determinismus bezieht: a) die Kosmologie: die okkasionalistischen Elemente in der mechanizistischen Kosmologie Descartes' führen zu dem Ein-Substanzen-Monismus Spinozas; und b) die Moralphilosophie und Anthropologie: in den Basiskonzepten des Naturrechts von Hobbes (>amor suiMittelposition< zwischen der Transzendentalisierung und dem innerweltlichen Wirken Gottes definiert. Die göttliche Praescientia impliziert Valla zufolge nicht die Unfreiheit des Willens, d. h. er läßt die Freiheit menschlichen Wollens zu, wenn auch in Grenzen; diese Grenzen sind durch den göttlichen Willen bestimmt. Gott ist daher nicht mehr direkt für das Geschehen in der Welt verantwortlich, auch wenn er um dieses vorher weiß. Die Freiheit >in Grenzen< des Menschen kehrt somit das Verhältnis in der Verantwortungsfrage um: Die Entlastung Gottes von dem moralisch Bösen in der Welt bürdet dieses dem Menschen auf. Auf der anderen Seite hatte Calvin aus seiner Zustimmung zu der Einsicht Vallas, daß »nicht das göttliche Vorherwissen, sondern der göttliche Wille der Freiheit des menschlichen Wollens entgegenstehe«, 90 seine Idee der Prädestination genährt, wobei er diese durch die These der irreversiblen Depraviertheit des Menschen pessimistisch wendet. Die Abhängigkeit der Frage nach der Willensfreiheit des Menschen von der absoluten Willkür des göttlichen Voluntarismus desavouiert aber im Grunde die Möglichkeit, menschliche Willensfreiheit nach Vernunftgründen, also philosophisch-abstrakt, zu beweisen, weshalb Leibniz den nicht-rationalistischen Zugang von Newton und Clarke zu Gott in der Frage des absoluten Raumes ablehnen mußte. Vallas Lösung des Problems des freien Willens steht aber im Zeichen der Glaubenserfahrung, die den gläubigen Menschen angeht. Dieser muß in der Erfahrung des Lebens zu der Überzeugung kommen können, daß er sich frei entscheiden kann. Dies bedeutet, daß für den gläubigen Christen - für Valla und später auch für Newton und Haller - das Realitätsverständnis religiös vorstrukturiert ist.91 Im Naturrechtsdenken und im Newtonismus ist dies eine zentrale Prämisse, die den Menschen zu der empirischen Erkenntnis von Welt, Mensch und Natur führt. Damit ist bei Valla und besonders im Calvinismus eine moralphilosophische Problematik vorgegeben, die an dem Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert aktuell gebheben ist. Zu ihrer Lösung konnten die Interpretationskonzeptionen von Welt und des Selbstverständnisses des menschlichen Subjekts in ihr unterschiedliche Ansätze anbieten; und in diesen besteht, wie Franz Borkenau schematisch verdeutlicht hat, auch eine logische Verbindung zum Naturverständnis:

89

90 91

Vgl. Eckhard Keßler: Einleitung. In: Lorenzo Vaila: Über den freien Willen, De libero arbitrio, lat.-dt. Ausg., hg., übers, und eingel. von Eckhard Keßler, München 1987, Einleitung S. 9-51, hierzu bes. S. 41-49, Zitat S. 44f. Vgl. ebd., S. 12. Vgl. ebd., S. 48f.

364 Die Calvinische Moral beruht auf dem schwebenden Gleichgewicht zwischen der Lehre von der Verderbtheit des Menschen und der von der weisen Weltregierung eines geheimnisvollen Gottes. Diese beiden Lehren lassen sich nur bei Ausschaltung jedes natürlichen gesetzlichen Zusammenhanges in den menschlichen Handlungen verknüpfen. Es wird sich zeigen, daß auch hier zwischen den Problemlösungen ein durchgehender logischer Zusammenhang besteht: diejenigen Schulen, die Welt und Mensch als wesentlich gut fassen, daher die Theodizee aus der verstehbaren Güte der Welt entwickeln, schieben Gott eine passive Rolle bei der Reprobation zu, weil sie den Menschen für sein mögliches Verderben verantwortlich machen, und lehren zugleich die Selbstständigkeit der von Gott nur indirekt abhängigen causae secundae und ihrer regelmäßigen Wirkungen. Die pessimistischen Schulen dagegen betonen die direkte Intervention Gottes allüberall, leugnen daher die gesetzmäßige Selbstständigkeit des Weltgeschehens und verbinden sie mit der emphatischen Hervorhebung des Geheimnisses des göttlichen Ratschlusses. Letzteres ist der springende Punkt. Das Geheimnisvolle ist der Hauptcharakter der Calvinischen partikulären Prädestination. 92

Aufgrund der Verknüpfung von naturrechtlicher Anthropologie und newtonianischer Naturwissenschaft läßt sich Hallers Stellung im Rahmen dieses Schemas eindeutig zuordnen. Die konzeptuellen Zeichen dieses in Grundlinien definierten Weltbildes, von dem aus der Naturforscher Haller die geist-physische Natur des Menschen und ihr Verhältnis zu Gott und der objektiven Natur begreift, hat der junge Dichter Haller im Lehrgedicht Über den Ursprung des Übels (1734) vielleicht am deutlichsten gesetzt. Die Definition der Natur des Menschen als »Zweideutig Mittelding von Engeln und von Vieh« faßt das zentrale Dilemma des Menschen und seiner Stellung in der Ordnung der Welt konzis zusammen: Es besteht in der Unauflösbarkeit der Verbindung von Körper und Geist zwischen diesseitsgebundenem egoistisch-körperlichem Trieb und jenseitsgerichteter immateriell-geistiger Spiritualität, die gemeinsam sein Handeln in der Welt beeinflussen. Im Hinweis auf die Imperfektion der göttlichen Kreatur aber, durch die diese auch das Böse wollen kann, verdeutlicht sich zugleich die humane Unergründlichkeit der erfahrbaren Folgen dessen, was die göttliche Allmacht und Güte in der Welt will, sofern sie dort noch überhaupt etwas wollen kann. In den ernsthaften und qualvollen Zweifel ausdrückenden Versen Hallers angesichts der physischen und moralischen Übel in der Welt heißt es: Vergnügt, o Vater dich der Kinder Ungemach? War deine Lieb erschöpft? ist dann die Allmacht schwach? 93

Deutlicher wird dies noch in den fragmentarischen Varianten derselben Verse gesagt, in denen Haller konsequent die epikureisch-lukrezische Alternative stellt: Entweder ist Gott nicht gütig oder nicht allmächtig: [...] Hat seinen Kindern Gott kein besser Glück gegönnt? [...]. Hat er es nicht gewollt, hat er es nicht gekönnt? [...] erschöpft, war deine Allmacht schwach? 94 92 93

94

Vgl. Borkenau (1934), repr. (1988), S. 168. Vgl. Haller: Ueber den Ursprung des Uebels, Bücher I—III (1734). In: Ders.: Versuch Schweizerischer Gedichte, hg. und eingel. von Ludwig Hirzel, Frauenfeld 1882, S. 118-142, Zitat B. III, S. 140. Vgl. ebd., Anm. zu B. III, S. 329. Haller schwankt in seinen >lyrischen< Stellungnahmen zum Problem des Übels zwischen der pessimistischen Lösung des calvini-

365 Parallel dazu sind in dem Lehrgedicht aber auch die hier relevanten naturrechtlichen Grundvorstellungen von Gott, Welt, Natur, Mensch und Gesellschaft zu finden:

[...] Die Welt ist selbst gemacht zu ihrer Bürger Glücke, Ein allgemeines Wohl beseelet die Natur Und alles trägt des höchsten Gutes Spur! [··•] Im Anfang jener Zeit, die Gott allein beginnet, Die ewig ohne Quell und unversiegen rinnet, Gefiel Gott eine Welt, wo, nach der Weisheit Rath, Die Allmacht und die Huld auf ihren Schauplatz trat. Verschiedner Welten Riß lag vor Gott ausgebreitet, Und alle Möglichkeit war ihm zur Wahl bereitet; Allein die Weisheit sprach für die Vollkommenheit, Der Welten würdigste gewann die Würklichkeit. [...] Die Welten welzten sich und zeichneten ihr Gleis, Stäts flüchtig, stäts gesenkt, in dem befohlnen Kreis. Gott sah und fand es gut, allein das stumme Dichte Hat kein Gefühl von Gott, noch Theil an seinem Lichte; Ein Wesen fehlte noch, dem Gott sich zeigen kann, Gott blies, und ein Begriff nahm Kraft und Wesen an. So ward die Geister-Welt. [...] [...] Nach der verschiednen Reih von fühlenden Gemüthern Vertheilte Gott den Trieb nach angemessnen Gütern; Der Art Vollkommenheit war wie zum Ziel gesteckt, Wohin der Geister Wunsch aus eignem Zuge zweckt. Doch hielt den Willen nur das zarte Band der Liebe, So daß zur Abart selbst das Thor geöffnet bliebe [...] Dann Gott liebt keinen Zwang, die Welt mit ihren Mängeln Ist besser als ein Reich von Willen-losen Engeln; Gott hält vor ungethan, was man gezwungen thut, Der Tilgend Uebung selbst wird durch die Wahl erst gut. Gott sah von Anfang wohl, wohin die Freiheit führet, Daß ein Geschöpf sich leicht bei eignem Licht verlieret, Daß der verbundne Leib zu viel vom Geiste heischt, [...] Gott sah dieß alles wohl, und doch schuf er die Welt; Kann etwas weiser sein, als das, was Gott gefällt? stischen Irrationalismus (Unergründlichkeit Gottes) und dem Optimismus der Physikotheologie, der die Güte Gottes nicht anzweifelt: »[...] diese Antworten widersprechen auch einander, und ihr Widerspruch weist zurück auf die Logik des ihnen zugrunde liegenden Zweifels und Verdachts, dass Gottes Vorsehung diabolisch sei oder impotent und der Mensch statt zum Glück >zur Pein erschaff e n sei.« Vgl. Karl S. Guthke: Hallers Lyrik - Glanz und Krise der Aufklärung. In: Albrecht von Haller 1708-1777. Zehn Vorträge am Berner Haller-Symposion vom 6. bis 8. Okt. 1977, Bern, (Verhandlungen der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft), Wissenschaftlicher Teil Band 1977, S. 19-41, hierzu S. 29£, Zitat S. 30.

366 Gott, der im Reich der Welt sich selber zeigen wollte, Sah, daß, wann alles nur aus Vorschrift handeln sollte, Die Welt ein Uhrwerk wird, von fremdem Trieb beseelt, Und keine lügend bleibt, wo Macht zum Laster fehlt. Gott wollte, daß wir ihn aus Kenntniß sollten lieben Und nicht aus blinder Kraft von ungewählten Trieben; Er gönnte dem Geschöpf den unschätzbaren Ruhm, Aus Wahl ihm hold zu sein und nicht als Eigenthum. Der Thaten Unterschied wird durch den Zwang gehoben: Wir loben Gott nicht mehr, wann er und zwingt zu loben; Gerechtigkeit und Huld, der Gottheit Arme, ruhn, So bald Gott alles würkt, und wir nichts selber thun. Drum überließ auch Gott die Geister ihrem Willen Und dem Zusammenhang, woraus die Thaten quillen. Doch so, daß seine Hand der Welten Steur behielt, Und der Natur ihr Rad muß stehn, wann er befiehlt. [...] Er legte tief in uns zwei unterschiedne Triebe, Die Liebe für sich selbst und seines Nächsten Liebe. [...] Viel edler ist der Trieb, der uns für andre rühret, 95 [...] Sie, diese Liebe, war der Menschen erste Kette, Sie macht uns bürgerlich und sammelt uns in Städte, 96 [...] Noch weiter wollte Gott für unsre Schwachheit 97 sorgen:

95

Triebspaltung im Menschen, Pflichtenlehre und Voluntarismus werden in Pufendorfs Naturrecht, wie auch bei Haller, >sub specie aeternitatis< verstanden: »En effet, chacun peur aisément se convaincre qu'il n'existe point par lui-même, mais qu'il tient la vie & l'existence d'un Etre Supérieur, qui par conséquent a autorité sur lui. Cela posé, comme l'on sent en soi-même deux principes de ses Actions; dont l'un ne s'attache qu'au présent, & l'autre porte ses vûes sur ce qui est absent, & sur l'Avenir le plus reculé; l'un pousse à des choses périlleuses, incertaines, & deshonnêtes; l'autre, à des choses sûres & honnêtes: on peut conclure évidemment, que le Créateur veut qu'on suive les mouvemens de ce dernier principe, & non pas ceux du prémier.« Vgl. Pufendorf: Le droit de la Nature et des Gens, Ausg. Barbeyrac, Basel 1732, Liv. II, Chap. II (De l'Etat de Nature), § 9, S. 165. Bei Thomas von Aquin werden Naturgesetz (lex naturalis) und natürlich-vernünftiger Trieb (inclinatio) zwar unterschieden, sie sind aber zwei Seiten ein und desselben Vorganges, der den Menschen nicht von sich entfremdet, wobei eine vernünftige Ordnung von Natur und Gesellschaft vorausgesetzt wird. Die Spaltung der Seele (Entfremdung), durch die das >moderne Subjekt< gekennzeichnet ist, tritt Borkenau zufolge mit Cusanus auf: Naturgesetz als Trieb, das nur noch der Weise in seinem >Herzen< trägt, und bloßer Trieb (Alltagsnatur) sind durch die Vernunft nicht mehr vereinbar. Die Bedingung dafür, daß die Regulierungsinstanz der beiden Triebe auf den Willen übertragen wird, ist damit gegeben. Vgl. hierzu Borkenau (1934), repr. (1988), S. 25ff. u. S. 43.

96

Vgl. zum Verständnis dieser Verse den naturrechtlichen Kontext der Diskussion der Begriffe >mutual benevolence< (Cumberland) und >amor sui< bzw. >socialitas< (Pufendorf) oben in Teil II, Kap. 3, 3 dieser Studie. Haller übersetzt hier einen zentralen Terminus der Pufendorfschen Konzeption des Menschen: Imbecillitasi Vgl. hierzu oben Teil II, Kap. 3, 2 in dieser Studie.

97

367 Im zärtlichen Gebäu von wunderkleinen Schläuchen, Die jedem Theil von uns die Kraft und Nahrung reichen, [...] Allein im weichen Mark der zarten Lebens-Sehnen Wohnt ein geheimer Reiz, der, zwar ein Brunn der Thränen, Doch auch des Lebens ist, [...] [·•·] Weit nöthiger liegt noch, im innersten von uns, Der Werke Richterin, der Probstein unsers thuns: Vom Himmel stammt ihr Recht; er hat in dem Gewissen Die Pflichten der Natur den Menschen vorgerissen; [·••] Die Werkzeug unsers Glücks sind allen gleich gemessen, [·••] Zwar in der Seele selbst herrscht Maaß und Unterschied, Das Glück der Sterblichen will die Verschiedenheit; Die Ordnung der Natur zeugt minder Gold als Eisen, [···] Was jedem nöthig ist, muß auch ein jeder haben; Kein Mensch verwildert so, dem eingebornes Licht Nicht, wann er sich vergeht, sein erstes Urtheil spricht. Die Kraft von Blut und Recht erkennen die Huronen, Die dort an Mitschigans beschneiten Ufern wohnen, Und unterm braunen Süd fühlt auch der Hottentott Die allgemeine Pflicht und der Natur Gebot. [...].« D a s religiöse Problem, das sich bezüglich der >Mittelposition< zwischen der Transzendentalisierung und dem innerweltlichen Wirken Gottes ergibt, manifestiert sich beim jungen Haller in seiner Interpretation von Natur und Mensch in der Spanne zwischen Perplexität und Ordnungssinn auf eine ambivalente Weise. Dasselbe Problem hatte in Shaftesburys A n n a h m e eines Einheitsprinzips in der Natur und in der Idee eines zweckmäßigen Weltganzen, die sich der Zufallsthese der Epikureer widersetzt und pantheistische Vorstellungen beinhaltet, eine radikale und >zu optimistische< Wendung gefunden: ein weltumfaßender Geist qua immaterielle Substanz, die sich gefährlich Spinozas Idee eines weltimmanenten Gottes (natura naturans)

nä-

hert. D e n n o c h waren beide Denker in der Bewältigung der problematischen Stellung des Menschen im Kosmos der Anthropologie des Naturrechts verpflichtet und zwar a) mit der Idee, daß eine vorsorgliche Natur für den Menschen, ihrem edelsten Geschöpf, zu einer Pliniusschen natura noverca 98

wird,

Vgl. Haller: Ueber den Ursprung des Uebels (1734), Β. I—II. In: Ders.: Versuch Schweizerischer Gedichte (1882), Zitate S. 121-134. Vgl. auch Richard Toellners Analyse der >Grundbegriffe des Weltverständnisses in Hallers Dichtung. NaturMensch-GottMängelwesen< Mensch (lukrezisch) das »secundum

naturarti vivere« (stoisch), d. h. in der Mangelhaf-

tigkeit und Bedürftigkeit zu leben, positiv auswirkt. Denn dieser Zustand ist insofern zweckmäßig, als er den Menschen zur Ausübung der Handlungsfreiheit und des Pflichtenbewußtseins in der Gesellschaft führt; diese sei sein Naturzustand und gewähre ihm Schutz und Geborgenheit: The young of most other kinds, [...], are instantly helpful to themselves, sensible, vigorous, know to shun danger and seek their good. A human infant is of all the most helpless, weak, infirm. And wherefore should it not have been thus ordered? Where is the loss in such a species? Or what is man the worse for this defect, amid such large supplies? Does not this defect engage him the more strongly to society, and force him to own that he is purposely, and not by accident, made rational and sociable; and can no otherwise increase or subsist in that social intercourse and community which is his natural state? Is not both conjugal affection and natural affection of parents, duty to magistrates, love of a common city, community, or country, with the other duties and social parts of life, deduced from hence and founded in these very wants? What can be happier than such a deficiency as is the occasion of so much good? What better than a want so abundantly made up, and answered by so many enjoyments? Now if there are still to be found among mankind, such as even in the midst of these wants seem not ashamed to affect a right of independency, and deny themselves to be by nature sociable; where would their shame have been had Nature otherwise supplied these wants? What duty or obligation had ever been thought of? What respect or reverence of parents, magistrates, their country or their kind? Would not their full and self-sufficient state more strongly have determined them to throw off Nature, and deny the ends and author of their creation?" Mit derselben Notwendigkeit, mit der der Mensch in die Gesellschaft geht bzw. diese konstituiert, um seine Mängel zu kompensieren, - und dies deshalb, weil ihm die Natur nach Shaftesbury keine andere Möglichkeit gegeben 99

Vgl. Anthony Ashley Cooper, Earl of Shaftesbury: Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times, hg. von John M. Robertson, eingel. von Stanley Grean, 2 Bde., Indianapolis, New York 1964. Darin: Treatise V: The Moralists. A Philosophical Rhapsody being A Recital of certain Conversations of Natural and Moral Subjects. Part II, Section IV, Bd. II, S. 6 2 - 6 7 u. S. 69-77. Ein Abdruck zentraler Stellen aus Shaftesburys Text von 1709, auf dessen Bedeutung für die Entwicklung der Anthropologie des 18. Jahrhunderts Wolfgang Proß hingewiesen hat, befindet sich im Anhang zu seinem Nachwort zu Herder: Ideen zu der Philosophie der Geschichte der Menschheit. In: J. G. Herder: Werke, Bd. III/l, hg. v. W. Proß, München, Wien 2002, S. 1053f. Shaftesburys Traktat ist von Proß stellenweise ins Deutsche übersetzt und mit folgendem Titel versehen worden: >Die Einheit der Natur und die Sonderstellung des Menschen*.

369 hat - , ist für Haller der Mensch, der die Natur erkennen will, aufgrund seiner imbecillitas gezwungen, per Autopsie sich dieser anzunähern. Dazu verfügt er über keine anderen Mittel als seine Sinnesorgane und den Verstand, mit denen er die Naturelemente aber nur ungenügend erkennen kann. Indem Shaftesbury feststellt, daß der Mensch den übermächtigen Elementen der Natur nachgestellt ist, trifft er einen grundsätzlichen Punkt, den Haller in der Hypothesenschrift von 1750 und in der Vorrede zu der 2. Ausgabe der Primae lineae physiologiae von 1751 zu einem Problem empirischer Naturforschung umformulieren wird: For if we allow a subordination in his [sc. des Menschen] case; if Nature herself be not for man, but man for Nature, and not the elements to him; then must man, by his good leave, submit to the elements of Nature, and not the elements to him. Few of these are at all fitted to him, and none perfectly.100

Aus der Interpretation der Natur des Menschen als Mängelwesen resultiert somit die imbecillitas humana als Ursache einer Erkenntnisproblematik, deren methodologische Relevanz Haller im Rahmen seines empirischen Wissenschaftsbegriffs kritisch reflektiert. Die von ihm vorgenommene Gradation im Wahrheits- oder Evidenzwert wissenschaftlicher Aussagen, die in wahre oder gewisse, wahrscheinliche, ungesicherte etc. differenziert werden, wobei die Kategorie des Wahrscheinlichen bzw. der Hypothesen aufgewertet wird, folgt dabei der naturrechtlichen Logik. Der konstitutive Erkenntnismangel, den der Mensch bei der sinnlichen Wahrnehmung von physischen Objekten und Naturprozessen hat und den Haller in seiner Physiologie mit der anatomischen Struktur der menschlichen Sinnesorgane in Verbindung bringt, kann durch gedankliche Konstrukte (»Erwartungsstücke«) mit heuristischer Funktion überbrückt werden. Die Hypothesen ermöglichen erst eine sinnvolle Lenkung der Erkenntnishandlungen des Naturforschers im Prozeß des Eingreifens in die Natur. Besonders in der methodischen Phase des Entdeckungszusammenhangs sind sie für Haller unentbehrlich: Nach einem Newton wird sich nun wohl niemand schämen, etwas nicht völlig erweisliches zu lehren. Hat so ein guter Kenner das Wahrscheinliche als eine Münze gebraucht: so kann es doch nicht sogar ohne Werth seyn. Es ist andern, es ist eine Nothmünze. Es dient bloß ein Gewerbe zwischen den Gelehrten zu unterhalten. Die Gewißheit ist ein ächtes Gold, dessen Preis niemals heruntergesetzt werden kann, es würde uns lieb seyn, wenn wir dessen so viel hätten, daß wir die willkührliche Münze entbehren könnten. Da aber dieses nicht angeht, da wir ohne diese letztere fast von der ganzen Naturlehre schweigen müssen, da alle die Theile der menschlichen Wissenschaft lauter Fragmenten, und einzelne Bruchstücke ohne Zusammenhang und ohne Verbindung werden würden, sollten wir nicht diese mangelnden Theile mit dem Wahrscheinlichen ergänzen, und an statt einer Ruine, ein Gebäude aufrichten. [...]. Doch komme ich zu dem wahren Nutzen der Hypothesen, sie sind zwar noch die Wahrheit nicht, aber sie führen dazu, und ich sage noch mehr, die Menschen haben noch keinen Weg gefunden, 100

Vgl. ebd.

370 der glücklicher zu derselben geführet hätte. Sie sind der Leitfaden, der zum Neuen und zum Wahren führt, und es fällt mir kein Erfinder ein, der sich desselben nicht bedient hätte. 101 N e w t o n war Haller mit der Ätherhypothese in der Qu. 21 der Opticks

von

1717, die der englische Naturforscher zur Erklärung der Gravitation formuliert hatte, 1 0 2 mit einem praktischen Beispiel vorangegangen, das in der empiristischen Wissenschaftstheorie des 18. Jahrhunderts einen paradigmatischen Wert erhalten sollte. 'sGravesandes Theorie der Hypothesen, die dieser in der Introducilo

ad philosophiam

von 1736 entwickelt hat 1 0 3 und auf

die Haller in der Hypothesenschrift zurückgreift, resultiert damit als eine logische Konsequenz aus der Begründung naturwissenschaftlicher Erfahrung und Erkenntnis auf naturrechtlichen Prinzipien, d. h. auf der naturrechtlichen Konzeption der Natur des Menschen. D i e s e bildet auch den theoretischen Hintergrund, auf dem Buffon 1749 in der Histoire

naturelle seine Erdentste-

hungshypothese formuliert hat. D i e Verwendung von Wahrscheinlichkeit in der Naturlehre hat der französische Naturalist im methodologischen Teil seines Werkes präzise reflektiert: Doch muß man sich auch heutiges Tages nicht einbilden, daß man bey Erlernung der Naturwissenschaft es bloß dabey bewenden lassen dürfe, genaue Beschreibungen zu machen, um von besonderen Begebenheiten gewiß zu werden. Dieses ist in Wahrheit, wie wir schon gesaget haben, der vornehmste Endzweck, den man im Anfange haben soll; hernach aber muß man sich zu etwas größerem, das unsere Beschäfftigung noch mehr verdienet, zu erheben suchen, nämlich die Anmerkungen zusammen zu setzen, die Begebenheiten allgemein zu machen, und sie durch die Stärke der Analogien zu verbinden, und dahin zu sehen, daß man zu demjenigen hohen Grade der Kenntnis gelangen möge, da wir einzusehen vermögend sind, daß die besonderen Wirkungen von allgemeinern abhängen, da wir die Natur in ihren großen Wirkungen mit ihr selbst vergleichen können; und da wir uns endlich auch Wege bahnen lernen, die verschiedenen Theile der Physik vollkommener zu machen. [...]. Hierzu hat man nun einer Methode nöthig, die den Verstand leitet, nicht aber einer solchen, als wir oben erwehnet haben, und welche zu nichts dienet, als die Worte in eine willkührliche Ordnung zu bringen; sondern eine Methode, welche selbst die Ordnung der Sachen unterstützet, welche unserer Beurtheilung den Weg weiset, unsere Kenntniß noch mehr erleuchtet und erweitert, und welche uns vom Irrthume zurück hält. [...]. Die natürlichen Wahrnehmungen, so uns täglich vor Augen liegen, die auf einander folgen, und sich selbst ununterbrochen und in allen Vorfällen wiederholen, sind der Grund unserer physikalischen Kenntniß. Eine Sache darf nur allezeit auf einerley Art geschehen, so macht sie für uns eine Gewißheit oder eine Wahrheit. Alle Begebenheiten der Natur, die wir bemerket haben, sind lauter Wahrheiten; und wir können also ihre Anzahl nach eigenem Belieben vergrößern, wenn wir unsere Bemerkungen vermehren, so daß unsere Wissenschaft in diesen Dingen eben so unermeßliche Gränzen als die Welt selbst hat. Wenn man aber die Begebenheiten durch oftmalige Bemerkungen wohl bewiesen, und durch

101 102 103

Vgl. Haller in Buffon/Daubenton (1750), S. XIV. Vgl. hierzu Teil I, Kap. 3, 3.4 dieser Studie. Vgl. 'sGravesande 01736/1774), Liv. II, Part. I (Logique), Chap. XVII (De la Probabilité) u. Part. III. (De la Méthode), Chap. XXXIV (De l'Usage des Hypothèses), S. 82-88 u. S. 135-138. Vgl. hierzu unten Teil II, Kap. 3, 10 in dieser Studie.

371 richtige Versuche neue Wahrheiten fest gesetzet hat, und man nunmehr die Gründe dieser Begebenheiten, oder die Ursachen dieser Wirkungen suchen will, so wird man plötzlich daran verhindert, weil man sich genöthiget siehet, die Wirkungen von anderen allgemeineren Wirkungen herzuleiten, und zu bekennen, daß uns die Ursachen unbekannt sind, und es allzeit bleiben werden: immaßen unsere Sinne, welche selbst Wirkungen von den uns unbekannten Ursachen sind, uns nichts als Begriffe von Wirkungen, niemals aber von den Ursachen geben können. Wir sind also gezwungen, eine allgemeine Wirkung als Ursache zu nennen, und müssen einer tiefern Einsicht entsagen. Diese allgemeinen Wirkungen sind für uns die wahren Gesetze der Natur. Alle natürlichen Wahrnehmungen, die wir mit diesen Gesetzen verknüpfet und von ihnen abhängen sehen werden, sind erklärte Begebenheiten und begriffene Wahrheiten; diejenigen hingegen, die wir nicht davon ableiten können, sind bloße Begebenheiten, die wir so lange beyseite legen müssen, bis mehrere Bemerkungen und eine längere Erfahrung uns andere Begebenheiten lehren, und uns die natürliche Ursache zu erkennen geben, ich meyne die allmeine Wirkung, von welcher diese besonderen Wirkungen abstammen. Hierbey kann nun die Vereinigung der Mathematik und der Physik sehr großen Nutzen schaffen: jene zeiget uns, wie viel oder wie groß die Dinge sind, diese aber wie und auf was Art die Dinge geschehen. Und weil hier die Frage ist, wie die Wahrscheinlichkeiten mit einander verbunden und geschätzet werden sollen, um zu beurtheilen, ob eine Wirkung mehr aus dieser als aus einer andern Ursache herkömmt: so muß man, nachdem man sich die physikalische Möglichkeit einer Sache gedacht hat, das heißt, nachdem man gesehen hat, daß eine gewisse Wirkung gar wohl aus einer gewissen Ursache herrühren könnte, so muß man, sage ich, alsdenn die Rechenkunst dabey zu Hülfe nehmen, um versichert zu werden, wie groß die Wirkung in der Verbindung mit ihrer Ursache sey. Wenn man sodann findet, daß die Schlußrechnung mit den gemachten Bemerkungen übereinkömmt, so wird die Wahrscheinlichkeit, richtig gemuthmaßet zu haben, dermaßen bestärket, daß sie in eine Gewißheit verwandelt wird, da sie hingegen ohne diese Beyhülfe eine bloße Wahrscheinlichkeit geblieben wäre. [...]. Dieses ist der bedenklichste und wichtigste Punct bey der Erlernung der Wissenschaften, nämlich dasjenige, was wirklich in einer Sache liegt, von etwas Willkührlichem, das wir bey der Betrachtung derselben hinein bringen, wohl zu unterscheiden, und die Eigenschaften, die der Sache beykommen, sowol als diejenigen, die wir ihr beylegen, klärlich zu erkennen: dieses halte ich für die wahre Methode, den Verstand in den Wissenschaften wohl zu leiten. 104

Aus einer in wissenschaftstheoretischer Hinsicht reflektierten Position heraus formuliert Buffon dann eine Erdentstehungshypothese, die den biblischen Mythos der Erdentstehung im mosaischen Bericht schlicht ersetzt.105 104 vgl. Buffon: Von der Art, die Historie der Natur zu erlernen und abzuhandeln. In: Buffon/Daubenton (1750), S. 34-40. 105 In einem Brief an Remond referiert Antonio Conti aus seinem Londoner Aufenthalt, wo er mit Isaac Newton Gespräche führte, dessen Meinung über die Bedeutung des biblischen Textes zur Erdentstehung (Genesis): »II [sc. Newton] croit qu'on ne peut pas prouver par l'Ecriture que la matière a été créee car le mot CREER dans l'Ecriture ne signifie que former. Il pense que les étoiles et ce que nous appelons le Ciel a été avant la formation de la terre qui étoit enveloppé dans un grand abysme. Moyse, dit-il, a écrit l'histoire de la génération de la terre comme un homme qui étant dans les ténèbres écrivoit successivement ce qu'il voit paroitre. Cependant M. Newton ne pense point qu'absolument on puisse dire que la matiere est eternelle. Ce qui est eternel est necessaire et partout: or s'il y a un vuide la matiere n'est pas tout. C'est un raisonnement fort simple mais bien fort.« Vgl. den Brief vom 12. August 1715. Zit. nach: Extraits des Lettres de Conti concernant

372

5. Buffons Erdentstehungshypothese: Die Aufwertung der Wahrscheinlichkeit und der deduktiven Methode in der Naturgeschichte Im selben Jahr 1749, in dem die Protogaea von Leibniz posthum veröffentlicht wurde, entwarf Buffon eine eigene auf den Bewegungsprinzipien der Newtonschen Weltmechanik (De mundi systematé) basierende Histoire et Theorie de la terre. Dies zeigt erstens, daß die naturgeschichtlichen Ansätze in der Mitte des 18. Jahrhunderts nur noch mit einem gesicherten naturwissenschaftlichen Wissen eine Verbindung eingingen; zweitens, daß die hypothetischen Erklärungsmodelle, die den Entstehungs- und Entwicklungsprozeß der natürlichen Welt nachzeichnen und die historisch-temporale Dimension aufgrund logischer Folgerungen aus naturgesetzlichen Wirkungen und lückenhaft bestehendem empirischen Datenmaterial (re)konstruieren, für den Naturforscher primär wissenschaftstheoretische und nicht mehr theologische Probleme aufwarfen. Im Falle Buffons handelt es sich um Überlegungen zum Wahrscheinlichkeitsgrad von Hypothesen im Unterschied zur größeren Gewißheit faktenbasierter Theorien, über deren Verhältnis Haller in der Vorrede seinerseits reflektiert hat: [...] und zugleich wollen wir dem Leser unsere Gedanken mittheilen, wie die Bild u n g d e r P l a n e t e n geschehen seyn kann, und in was für einem unterschiedenen Zustande sie sich befunden haben können, bevor sie in den gegenwärtigen gekommen sind. Man wird weiter unten in diesem Werke die Auszüge aus so vielen Systemen und Hypothesen finden, die man von der Bildung der Erde und von ihren vielen Hauptveränderungen gemacht hat [d. h. v. a. die Systeme von Whiston, Burnet, Woodward u. Leibniz, S. DeA.], daß man es uns hoffentlich nicht verargen kann, wenn wir den Muthmaßungen anderer Weltweisen die hiervon geschrieben haben, unsere eigene an die Seite setzen; sonderlich wenn man erwäget, daß wir sie für nichts anderes, als für bloße Muthmaßungen ausgeben, denen wir nur einen höhern Grad der Wahrscheinlichkeit, als alle übrige in dieser Materie haben, zu geben gedenken. Wir haben uns um so viel weniger enthalten können, der Welt unsere Gedanken hierüber mitzutheilen, wie sehr eine Hypothese, die bloße Möglichkeiten zum Grunde setzet, von einer Theorie unterschieden ist, welche sich auf Begebenheiten gründet; von einem solchen System, dergleichen wir in diesem Artikel, von der Bildung und dem ursprünglichen Zustande der Erdkugel geben werden, und von einer natürlichen Historie ihres jetzigen Zustandes, dergleichen wir in der vorigen Abhandlung gegeben haben. 106

Die von Buffon im ersten Artikel der Beweise der Theorie der Erde ausgeführte hypothetische Erklärung vom Ursprung und Bildung der Planeten des Sonnensystems aufgrund mechanischer Ursachen setzt mit Überlegungen ein, die sich aus dem Gravitationsgesetz und der diesem folgenden Planeten-

106

Newton, communiqués par Remond à Leibniz. In: Correspondance Leibniz-Clarke présentée d'après les manuscripts originaux des bibliothèques de Hanovre et de Londres, hg. von André Robinet, Paris 1957, S. 21. Vgl. Buffon/Daubenton (1750), I. Art. (Beweise der Theorie der Erde), S. 76£

373 theorie Newtons logisch-deduktiv ergeben. Die Planeten müßten aufgrund der anziehenden Kraft der Sonne permanent senkrecht auf diese fallen, wenn nicht die Existenz einer der Attraktion entgegengesetzten Kraft angenommen wird, wodurch die Planeten von der Sonne entfernt bleiben und auf ihren elliptischen Bahnen um dieselbe erhalten werden. Eine solche Kraft wird von Buffon >Impulsionskraft< genannt und definiert »als ein Stoß nach einer gerade Linie [...], welcher nach der Tangente des Kreises geschehen würde«, falls die Attraktionskraft einen Moment lang nachlasse. 107 Die Tatsache, daß die Erfahrung Newtons Planetentheorie bestätigt - eine Attraktionskraft wirkt und die Planeten fallen nicht auf die Sonne 108 - und damit die Existenz einer Impulsionskraft im Raum des Sonnensystems wahrscheinlich macht, ermöglicht Buffon, im nächstfolgenden deduktiven Denkschritt die Impulsionskraft als operable Größe einzusetzen. Dies führt ihn zu der Formulierung einer Hypothese zum Ursprung der Planeten: Diese stoßende Kraft ist unstreitig den sämmtlichen Weltkörpern zuerst durch die Hand Gottes mitgetheilet worden, als sie die Maschine Welt in Gang brachte. Gleichwie man aber, so viel möglich, in der Naturlehre vermeiden muß, seine Zuflucht zu übernatürlichen Ursachen zu nehmen: also kann man auch, wie mich deucht, in unserer Sonnenwelt gar wahrscheinliche Gründe von dieser stoßenden Kraft geben, und man kann eine Ursache finden, deren Wirkung den mechanischen Grundsätzen gemäß ist, und welche auch über dieses nicht von denjenigen Begriffen abweichet, die man von den großen Veränderungen, so sich auf der Welt begeben können und müssen, zu haben genöthiget ist.109

Die Operabilität der Impulsionskraft in der heuristischen Funktion einer mechanischen Ursache erscheint Buffon methodologisch insofern gerechtfertigt, als deren Wirkung den Regeln der Mechanik sowie den Begriffen einer wahrscheinlichen Theorie kosmologischer Transformationen nicht widerspricht. Solche Bedingungen würde beispielsweise die Impulsionskraft der Kometen erfüllen, die denselben Bewegungsgesetzen (den Keplerschen Gesetzen) und Kräften (anziehende und abstossende) gehorchen wie die Planeten, in ihren Kurvenbahnen aber das Sonnensystem unabhängig voneinander und aus sehr unterschiedlichen Richtungen durchqueren. 110 Daraus leitet Buffon eine Hypothese ab, in der die vom Zufallsprinzip regierte Lukrezsche clinamen-Theorie das Gewand eines naturwissenschaftlichen Denkmodells angenommen hat: Kann man nicht mit einiger Wahrscheinlichkeit sich vorstellen, daß vielleicht ein Comet auf die Oberfläche der Sonne fiel, welcher dieses Gestirn von seiner Stelle trieb, und etliche kleine Theile davon abschlug, denen der Comet eine stoßende Bewegung von eben derselben Seite her, und durch einen einzigen Stoß beybrachte; 107 Vgl. ebd., S. 78. ios PÜJ- e j n e wissenschaftliche Darstellung von Newtons Planetentheorie vgl. Neuser (1995), S. 68-71. 109 Vgl. Buffon/Daubenton (1750), S. 78. 110 Vgl. ebd., S. 78f.

374 daß also die Planeten ehemals Theile der Sonne gewesen sind, welche durch eine stoßende Kraft, die allen gemein war, und die sie noch jetzt beybehalten, von ihr abgerissen worden? 111

Mit dem hier entwickelten Begriff der Ursache der Impulsionskraft der Planeten gelingt es Buffon, eine Erklärung für die Existenz einer der Attraktionskraft widerstehenden stoßenden Kraft im Universum zu geben, wobei eine solche Kraft den Planeten von einem anderen bewegten Körper mitgeteilt worden sein müsse. Diese Annahme würde Buffon zufolge zugleich erklären, weshalb die Planeten in einer bestimmten Richtung um die eigene Achse drehen und die erhaltene Bewegung nach dem Gesetz der Bewegungserhaltung noch innehaben. Will man also eine physikalische Ursache für diesen realen Zustand angeben, dann kann man annehmen, daß eine stoßende Bewegung von seitlich schräger Richtung durch einen das Weltall durchquerenden Kometen bei seinem Zusammenstoß mit der Sonne den Planeten vermittelt worden sei. Buffons Einführung induktiv-logischer Konjekturen zu einer Rekonstruktion natürlicher Vorgänge, die im Laufe der Zeit die bestehende Ordnung der Welt hervorgebracht haben, bedeutet faktisch die Entmachtung Gottes in der Welt, dessen Allmacht auf den intentionalen Plan der Schöpfung und deren Vernichtung beschränkt wird. In den Époques de la nature von 1773/1778 wird Buffon die >chronologie longue< des Naturentstehungsprozesses ausführlich darstellen: Es handelt sich hierbei um (z. T. unveröffentlichte) Berechnungen in mehreren zehnfachen Millionen von Jahren.112 Obwohl Buffon die kreationistische Logik formal beibehält und supranaturale Ursachen für die ursprüngliche Verbindung von Materie und Kraft verantwortlich macht, fordert er explizit, dieselben aus dem Erklärungsbereich der Naturlehre möglichst auszuschließen.

111

Vgl. ebd., S. 79. Als Beleg für die Plausibilität dieser Hypothese bezieht sich Buffon (ebd., S. 80) explizit auf eine Stelle des De mundi systemate in der 3. Ausg. der Principia mathematica (1726), wo Newton eine Methode für die Korrektur der gefundenen Kometenbahn darstellt: Inventam cometae trajectoriam corrigere. Ausgehend von Daten, die von einer starken Annäherung des Kometen aus dem Jahre 1680 an die Sonne sprechen, erklärt Newton in diesem Lehrsatz, weshalb der Zusammenstoß des Kometen mit der Sonne in Zukunft nicht ausgeschlossen werden kann; diese reale Möglichkeit wäre bei einer Veränderung der astronomischen Bedingungen in bestimmten Punkten der Umlaufbahn des Kometen (Geschwindigkeit, Kräfteverhältnisse am Aphel) sowie bei dessen Eindringen in die Sonnenatmosphäre (Dichteverhältnis) gegeben: »Cometa, qui anno 1680 apparaît, minus distabat a sole in perihelio suo quam parte sexta diametri solis; & propter summam velocitatem in vicinia illa, & densitatem aliquam atmosphaerae solis, resistentiam nonnullam sentire debuit, & aliquantulum retardan, & proprius ad solem accedere: & singulis revolutionibus accedendo ad solem, incidet is tandem in corpus solis. Sed & in aphelio ubi tardissime movetur, aliquando per attractionem aliorum cometarum retardari potest, & subinde in solem incidere.« Vgl. Principia (1726), Lib. III, Prop. XLII, Probi. XXII, S. 526. 112 Vgl. Buffon: Les époques de la nature, hg. v. Jacques Roger, Paris 1962 (Ndr. 1988).

375 In welchem Maße die naturrechtliche Anthropologie in methodologischer Hinsicht dem apriorischen Deduktivismus der rationalistischen Anthropologie eines Descartes' entgegengesetzt ist, kann an dem wissenschaftslogischen Stellenwert und der Funktion der Hypothesen in der empirischen Naturwissenschaft sowie an den Konsequenzen, die daraus gezogen werden, abgelesen werden. Die (provisorische) Setzung einer Ordnung durch eine hypothetische Konstruktion des Naturforschenden, die nicht die wahre, d.h. real existierende, Ordnung in der physischen Natur ist, hat nur dann einen Sinn, wenn angenommen wird, daß die >objektive< Ordnung nicht im Subjekt, sondern in der physischen Welt der Körper und der materiellen Prozesse ist, und wenn weiter angenommen wird, daß ihre Erkenntnis Resultat einer experimentell-induktiven Methode und nicht (allein) Produkt logischer Deduktionen des Subjekts ist. Das in sich logisch kohärente hypothetische Konstrukt, das auch in der Verwendung durch den empirischen Naturforscher nach den Prinzipien der mathematischen Methode entsteht, ist aber in der empirischen Auffassung von Wirklichkeit stets mit der als kontingent erfahrenen physischen Welt konfrontiert und von daher konstitutiv mit dieser im Widerspruch. Die Folgerung ist jedoch nicht die Annahme der Unmöglichkeit der Auflösung des Widerspruchs, die in eine dualistische Logik und Metaphysik mündet. Beim Versuch, diesen Widerspruch zu lösen, wirft die imbecillitas humana den Naturforscher immer wieder in die Kontingenz der objektiven Welt der Körper zurück. In seiner Rezension von Buffons erstem Band der Histoire naturelle (1749) für die Bibliothèque Raisonnée teilt Haller keineswegs Buffons Kritik an den taxonomisch-klassifikatorischen Systemen der Zoologie und der Botanik (v. a. Linnés), die Buffon im Premier Discours sur la manière d'étudier & de traiter l'Histoire Naturelle äußert; dort plädiert Buffon für das Prinzip der Ataxie, d. h. die synchrone Deskription einzelner Naturkörper in ihrer Relation zu den übrigen: Je suis surpris, autant qu'on peut l'être, de cette critique; elle ne va pas à moins, prise à la rigueur, qu'à rejetter toute l'Histoire Naturelle dans la confusion dont l'industrie des Modernes l'a tirée. Nous avons fait voir ailleurs que la méthode la plus mauvaise vaut mieux qu'une confusion absolue [...]. Il faut opter; ou il n'y a point de méthode du tout, & il faudra donner autant de noms différens, qu'il y a de corps différens; ou il y a une méthode, des genres, & des classes naturelles, que Dieu a faites, dont l'oeil le plus vulgaire saisit le caractère commun. [...]. Mais si ces Animaux sont les mêmes par leur genre, n'est-il pas plus philosophique de leur donner le même nom générique, & de les désigner ensuite plus particulièrement par des marques tirées de leur nature même? [...]. Dès lors la ressemblence toute simple des noms nous avertit utilement, que ces Animaux sont semblables, & la petite description achève de nous éclairer; quand Mr. Linnaeus, appelle le Contimondi, Ursus caudâ promissâ, ce nom nous excite une idée, que le nom barbare, que je viens de citer, n'exciteroit jamais. [...]. Toutes les classes ne sont pas encore naturelles, quoiqu'il y en ait beaucoup qui le soient. C'est un mal; mais les classes artificielles n'ôtes rien au mérite des naturelles, & elles doivent être tolérées, parce qu'elles achèvent un système, & qu'elles valent toujours infiniment mieux qu'un désordre absolue. [...]. Passons sur les plaintes que fait Mr. de Buffon de l'abus

376 de la Méthode Mathématique & du Calcul. C'est la perfection des connoissances humaines, il prévient souvent les vérités, que l'industrie plus tardive ne confirme que lentement. Newton a senti la vraie figure de la Terre, Mr. de Leibnitz a prévu les Polypes; mépriseroit-on des lumières qui nous aprennent à voir ce que les sens ne nous ont pas découvert encore? [...]. 113

Aber gerade die Übertragung des Leibnizschen Kontinuitätsprinzips auf seinen Naturbegriff - die steigende Komplexität in der Struktur der Naturkörper innerhalb der Naturreiche, die von der leblosen Materie bis zu den organisiertesten Lebewesen reicht, - veranlaßte Buffon im Deuxième Discours sur la Théorie de la Terre & son Histoire, in dem er sich mit dem Zeitproblem konfrontiert sah, im Hinblick auf eine diachrone Rekonstruktion der Erdentstehung auf das methodische Instrument der Hypothesen zurückzugreifen.114 Analog zu Pufendorfs Umkehrung der logischen Bedeutung des aristotelisch-scholastischen Substanzbegriffs, die bei ihm nicht mehr metaphysische Entität (ens) oder ontologischer Begriff (ens rationis), sondern physischer Gegenstand meint, avanciert die Körperwelt zur logischen Basis von Objektivität und Erkenntnis (Gewißheit) und somit auch zur denkerischen Basis der Hypothesen. Durch den Wandel der Instanz von >Wahrheit< - vom notwendigen und abstrakten Begriff zu der Kontingenz der Natur - wird die gesamte Logik der cartesianischen Wissenschaft umgekehrt: A

cartesianische Wissenschaftslogik mathematische ontologische

Begriffe

wahr notwendig >objektiv
Rettung der Phänomene«) wahrscheinlich, möglich kontingent

objektive Natur, Kontingenz wahr, geordnet fragmentarische Erkenntnis der Naturelemente (Materie, Kräfte) Beobachtung, Experiment Induktion, Gewißheit

Vgl. Hallers Rezension von: Buffon/Daubenton: Histoire naturelle, Bd. 1 (1749). In: Bibliothèque Raisonnée, Oct.-Déc. (1750), Art. I, S. 243-263, Zitate S. 243248. Zu den Hintergründen dieses Wandels bei Buffon vgl. Giovanna Bernardini: Buffon, la storia della natura e la storia degli uomini. In: Studi Settecenteschi, Nr. 7/8 (1985/86), S. 167-189, bes. S. 172ff.

377 Es wird außerdem die dualistische Logik in eine Erkenntnispsychologik aufgelöst: Im soeben dargestellten Erkenntnismodell B) konstituiert sich der wahrscheinliche Begriff bzw. die Hypothese im menschlichen Verstand aufgrund einer Deduktion von den Phänomenen der Körperwelt, deren mangelhafte Erkenntnis im Begriff durch fiktionale Elemente ergänzt wird; hypothetischer Begriff und naturwissenschaftliche Erfahrung stehen von Anfang an in einem Verhältnis der Wechselwirkung zueinander. Im cartesianischen Erkenntnismodell A) konstituiert sich die Hypothese durch Deduktion vom Begriff, so daß die Erkenntnisreihenfolge vom Begriff zu der Wahrnehmung der Natur schreitet, deren Phänomene aufgrund von Hypothesen abgeleitet werden. Der hypothetische Zugang zur Natur transformiert sich im psychologischen Erkenntnismodell B) in einen naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozeß, der sich vom philosophischen emanzipiert. Denn in der methodischen Phase des Entdeckungszusammenhangs erweist sich jede Form von abstrakt-logischem Denken, in dem der Zugang zur Natur durch regulative Begriffe erfolgt, als inadäquat: dort geht logisches in analogisch-assoziatives Denken über. Durch die >naturrechtliche Umkehrlogik< ist aber die Begründung des analogischen Denkens in der Erfahrung bereits gegeben; nach der Absage an alle abstrakt-begrifflichen Begründungsinstanzen der Natur, seien diese metaphysisch oder mathematisch, steht der Naturforscher der Objektwelt nunmehr aufgrund seiner Körperstruktur, seiner Sinnesorgane, seiner Psyche und seinem Verstand gegenüber. In der zeichenhaften Integrierung von geistig-begrifflichen und körperlich-materiellen Erkenntnismerkmalen erweist sich die (von Gott garantierte) analogische Erkenntnis der Naturprozesse, von der die hypothetische einen Spezialfall darstellt, somit als konstitutiv mit der geist-physischen Natur des Menschen verbunden.

6. Realitätsstrukturierung und Rationalitätsbegriff: Die Konkurrenz des naturrechtlich-empiristischen und des mechanistischrationalistischen Wissenschaftsmodell der Naturerkenntnis Aufgrund des naturrechtlichen Substrats in Hallers Realitätsverständnis hat also seine Erfassung der Gegenstände der physischen Welt eine zugleich soziale und religiöse Relevanz. Der anthropologische Denkansatz des Naturrechts bildet damit ein komplexes Modell der Naturerkenntnis, dem in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zwei andere Wissenschaftsmodelle an die Seite treten, die aufgrund ihrer Rationalisierung der Wirklichkeit zu ersterein in ein Konkurrenzverhältnis treten. Es sind dies zum einen das mathematizistische Erkenntnismodell der rational-kausalen Mechanik und das empirisch-mathematische Modell der Naturwissenschaft zum andern. Mit der Etablierung des mechanistischen Wissenschaftsmodells, das demjenigen erfolgreichen von Newtons Philosophiae naturalis principia mathematica (1687)

378 folgte, waren die Naturwissenschaften in der Lage, ihre Naturkörper und deren Dynamik aus einem umfassenden Realitätszusammenhang herauszulösen und auf der Basis eines geometrisch-mathematischen Bezugs- und Symbolsystems isoliert zu erfassen. Die mathematische Begründung und Beschreibung von Naturvorgängen und -körpern, welche die Iatromechanik auch auf die medizinischen Disziplinen überträgt, bleibt aber gegenüber gesellschaftlich relevanten Fragen indifferent, die damit außerhalb des naturwissenschaftlichen Erkenntnisinteresses fallen. In der empirisch-experimentellen Tradition der Naturerkenntnis jedoch, die u.a. an die Gassendische und Boylesche atomistische Physik und an die medizinischen Wissenschaften des 17. Jahrhunderts anknüpft, bleibt das naturrechtliche Bedeutungssubstrat erhalten. Es dringt nach 1740 in den >Wissenschaften des Lebens< in einer relevanten Verbindung mit dem physikotheologischen Naturbegriff erneut an die Oberfläche. Das naturrechtliche Substrat im Realitätsverständnis Hallers ist somit relevant, um seine Beurteilung von Buffons nach atomistisch-lukrezianischen Prinzipien konzipiertes Epigenesismodell der Entstehung von Leben zu begreifen. Der >offizielle< Haller lehnt dieses 1752 aus wissenschaftlichen und experimental-technischen, nicht aber aus theologischen Gründen ab. Ein wesentlicher Bestandteil des philosophischen Kerns von Hallers Wissenschaftsbegriffs ist die Annahme einer indirekten Abhängigkeit der organischen Natur, d.h. die sich in ihr abspielenden dynamisch-materiellen Prozesse, von einem vorwissenden Willen Gottes, wodurch sich erklären läßt, weshalb Haller den Naturvorgängen im Rahmen der Kontingenz der physischen Welt und der causae secundae eine Autonomie >in Grenzen< zu konzedieren bereit ist, die nicht mit einer impliziten Zusage an das System des Zufalls gleichgesetzt werden kann. Diese Prämisse macht es möglich, daß Haller 1752 der Epigenese - zumindest in Form einer Hypothese - wissenschaftliche Geltung zumessen kann. Es geht nun im folgenden darum, zu erklären, welche theoretischen Annahmen eine Realitätsstrukturierung voraussetzt, die der naturrechtlichen Logik folgt, und wie im Rahmen des philosophischen Kerns von Hallers Wissenschaftsprogramm die analogische (und die hypothetische) Erkenntnis von Naturvorgängen begründet wird und schließlich, welche textuellen Quellen hierzu relevant sind. Zunächst bedarf es einer Explikation des Rationalitäts- und Ordnungsbegriffs, die der Logik der naturrechtlichen Realitätsstrukturierung zugrunde liegen und das >naturrechtliche Weltbild< als solches konstituieren. Dabei geht unsere Erklärung von der These der >longue durée< weltanschaulicher Positionen zwischen Spätmittelalter, Renaissance und Aufklärung aus. In inhaltlicher Hinsicht bezieht sich diese Kontinuität auf das komplexe Verhältnis von Gott (als eine kontingent wirkende Ursache), Mensch und Kontingenz der Welt. Die religiöse Vorstrukturierung der Wirklichkeit durch den gläubigen Menschen, die der >Mittelposition< zwischen der Trans-

379 zendentalisierung und dem innerweltlichen Wirken Gottes entspricht und bei Lorenzo Valla noch ganz auf die moralische Natur des Menschen bezogen ist, wird im Laufe der Etablierung des neuzeitlichen naturwissenschaftlichen Weltbildes auch auf die physische Welt übertragen und zu einem physikotheologischen Naturbegriff transformiert. Dieser wird am Ende der Renaissance vom Baconismus entwickelt und mit einer experimentellen Begründungspraxis der naturwissenschaftlichen Forschung verknüpft. Anhand der Cusanischen Idee der Regelhaftigkeit natürlichen Geschehens, sind aber bereits die Voraussetzungen des Wandels im Ordnungsbegriffs zu erkennen, wie ihn das 17. und 18. Jahrhundert in den unterschiedlichen philosophischen Systemen von Spinoza und Leibniz, aber auch in der experimentellen Naturwissenschaft eines Hallers interpretieren wird, wenn auch vor dem Hintergrund unterschiedlicher epistemologischer und methodologischer Prämissen: »Das Wirken Gottes in der Welt, das der Mensch an sich selbst nur im mystischen Akt des Glaubens erfahren kann, leuchtet ihm aus der harmonisch geordneten Natur entgegen. Die Weltanschauung der Renaissance ist entstanden.« 115 Die Ablehnung der dogmatisch-orthodoxen Theologie in ihrer Fundierung auf scholastischer Ontologie auf der einen Seite, die Abgrenzung der empirischen Naturwissenschaft von dem abstrakten Erkennen der Philosophie und dem Deduktivismus ihrer mathematischen Methode auf der andern, sind zwei Aspekte desselben geistesgeschichtlichen Prozesses, der im naturrechtlichen Wissenschaftsmodell des 17. und 18. Jahrhunderts zu der Kompatibilität von natürlicher Religion bzw. Physikotheologie und Empirismus in der Naturerkenntnis führt. Das einzige Wissen, das letztlich ein Wissen über Gott ermöglicht, ist für Robert Boyle, der darin Francis Bacon folgt, ein Wissen über die Natur, über die von Gott im Ursprung geschaffenen materiellen Dinge der Welt, welche der sinnlichen Wahrnehmung des Menschen zugänglich sind; und dieses Wissen kann, wie Bacon sagt, nur ein bruchstückhaftes sein: A n d as for the third point, it deserveth to be a little stood upon and not to be lightly passed over: for if any man shall think by view and inquiry into these sensible and material things to attain that light whereby he may reveal unto himself the nature or will of God, then indeed is he spoiled by vain philosophy: for the contemplation of God's creatures and works produceth (having regard to the works and creatures themselves) knowledge; but having regard to God, no perfect knowledge, but wonder, which is broken knowledge. 116 115 116

Vgl. Borkenau (1934), repr. (1988), S. 52. Vgl. Francis Bacon: Proficience and advancement of learning divine and humane, B. I, London 1605. In: Ders.: The Works, hg. von J. Spedding, R. L. Ellis, D. D. Heath, Bd. 3 (1859), Ndr. 1963, S. 267. Zu Boyles Position, nach der die Theologie als ein Wissen von Gott versuchen sollte, von den Ergebnissen der experimentellen Naturwissenschaft (»experimental philosophy«) zu profitieren vgl. Robert Boyle: The Christian virtuoso. In: Ders.: The Works, hg. von Th. Birch, Bd. 5, London 1772, Ndr. 1965/66, S. 522. Damit schließt Boyle an die Definition von natürlicher Theologie an, die in England Francis Bacon in Absetzung von der spekulativen

380 E r s t eine auf experimenteller Basis erforschte und durch induktive Methode ermittelte Naturordnung, die auf der Regelmäßigkeit von Naturprozessen und der Annahme von Kontinuität in der Entfaltung der Naturreiche beruht, macht um 1750 eine Sinndeutung der Wirklichkeit im Zeichen des neuzeitlichen Naturrechts und eine naturgeschichtlich begründete Interpretation der Natur des Menschen als rationales und soziales Wesen möglich. Warum soll nun aber eine sinnvolle Deutung des Kosmos und des innerweltlichen Geschehens in Natur und Gesellschaft innerhalb des neuzeitlichen naturrechtlichen Weltbildes wieder möglich sein? Warum tritt das mechanistische Wissenschaftsmodell in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit dem naturrechtlichen in ein Konkurrenzverhältnis? Weshalb stellt sich ein Konflikt zwischen Religiosität und abstrakt-philosophischer Erkenntnis ein, der dazu führt, daß Naturforscher, deren Denken sich innerhalb naturrechtlicher Kategorien einordnen läßt, mathematische Rationalität und deren E r kenntnisform zwar als eigenen Normbereich definieren, diesen aber von ihrer empirischen Forschung ausschließen? Dies sind Fragen, die einer Erklärung bedürfen, die mit der Entwicklung des Begriffs >Rationalität< selbst zusammenhängt. Z u der Problematik der Entwicklung des Verhältnisses von Religion und Rationalität hat Max Weber eine religionssoziologische These erarbeitet, der im Hinblick auf den hier untersuchten Zeitraum ( 1 6 7 0 - 1 7 5 0 ) Relevanz zukommt: Aber freilich: am größten und prinzipiellsten wird schließlich die bewußte Spannung der Religiosität gerade zum Reich des denkenden Erkennens. Ungebrochene Einheit gibt es da im Bereich der Magie und des rein magischen Weltbildes, [...]. Weitgehende gegenseitige Anerkennung ist möglich auch für die rein metaphysische Spekulation. Obwohl diese leicht zur Skepsis zu führen pflegt. Nicht selten betrachtete daher die Religiosität die rein empirische, auch naturwissenschaftliche Forschung als besser mit ihren Interessen vereinbar als die Philosophie. So vor allem der asketische Protestantismus. Wo immer aber rational empirisches Erken-

Metaphysik der spanisch-jesuitischen Scholastik eingeführt hat, unter deren Einfluß - v. a. durch Francisco Suarez' Schrift Disputationes metaphysicae (1597) die lutherische Orthodoxie und die gesamte deutsche Schulphilosophie des 17. Jahrhunderts gestanden hat. Vgl. W. Schröder: Art. »Religion bzw. Theologie, natürliche bzw. vernünftige«. In: HWPh, Bd. 8, bes. S. 715-718. Daß der antimetaphysische Ansatz in Pufendorfs Naturrecht in Anknüpfung an Bacon erfolgt, wird hiermit verständlich. Hallers Lektüre von Robert Boyle: De usu Philosophia Experimentalis, London 1692, ist aus einem handschriftlichen Exzerpt in den Judicia librorum ersichtlich, in dem der Erwerb des Buches auf das Jahr 1728 datiert wird; vgl. Burgerbibliothek Bern, Ν Albrecht von Haller, Mss. 85, 63r. Daß Haller zwischen 1726 und 1729 eine Reihe naturphilosophischer und historischer Schriften Bacons erstanden und gelesen hat, belegen weitere Exzerpte der Judicia librorum, vgl. Burgerbibliothek Bern, Ν Albrecht von Haller, Mss. 32, Bl. 75 r -92 r . In die Leidener Zeit (1726) fällt u. a. auch der Kauf folgender Schriften Bacons: Novum Organum Scientiarum, Leiden 1645; Scripta in naturali et universâ Philosophia, Amsterdam 1653; Historiae naturalis Cent. X, H. nova Atlantis, Amsterdam 1662 und im Jahr 1729: De augmentis Scientiarum L. IX, Amsterdam 1652.

381 nen die Entzauberung der Welt und deren Verwandlung in einen kausalen Mechanismus konsequent vollzogen hat, tritt die Spannung gegen die Ansprüche des ethischen Postulates: daß die Welt ein gottgeordneter, also irgendwie ethisch sinnvoll orientierter Kosmos sei, endgültig hervor. Denn die empirische und vollends die mathematisch orientierte Weltbetrachtung entwickelt prinzipiell die Ablehnung jeder Betrachtungsweise, welche überhaupt nach einem »Sinn« des innerweltlichen Geschehens fragt. Mit jeder Zunahme des Rationalismus der empirischen Wissenschaft wird dadurch Religion zunehmend aus dem Reich des Rationalen ins Irrationale verdrängt und nun erst: die irrationale oder antirationale überpersönliche Macht schlechthin.117

Während der mathematische Rationalitätstypus die Welt entzaubert, dem transzendenten Gott die Zuständigkeit für das innerweltliche Geschehen entzieht, die Empirie im mathematischen Begriff rationalisiert und die Natur vollends mechanisiert, integriert der naturrechtliche Rationalitätstypus Religion konstitutiv in sein Weltbild und begründet sie auf der empirischen Erforschung der Natur, wo sich dem Menschen Robert Boyle zufolge »die Natur und der Wille Gottes enthüllen kann«. Analog zu der Begründung der socialitas als der lex naturae fundamentalis des Menschen auf seiner geistphysischen Konstitution und dem konstanten anthropologischen Verhalten, wird analogisches Denken auf der Konstitution der physischen Welt und der Annahme ihrer Rationalität begründet. Die Beantwortung der Frage, inwiefern analogisches Denken Geltung beanspruchen kann, hängt davon ab, auf welchen Annahmen im Rahmen des naturrechtlichen Rationalitätstypus' die Gewißheit der Naturkonstanz und die Geltung allgemeiner Naturprinzipien (Kräfte) gegründet wird. Auch wenn der Naturkonstanz im Bereich der Lebewesen der Fixismus der Gattungen entspricht, fragt es sich, ob allgemeine Naturprinzipien auch auf den Bereich der Bildungsprozesse organischer Materie (z.B. auf die Epigenese) übertragen werden können? Mit dieser Sorte von Problemen hat sich 'sGravesande im Rahmen seiner experimentalistischen Transkribierung der Newtonschen Wissenschaft beschäftigt und sie bei der Begründung der moralischen Evidenz, zu der auch die Analogie gehört, berücksichtigt. Die Begründung der Analogie wird damit zur logischen Voraussetzung für die Gültigkeit der Gesetze der Natur, die gemäß Newton die Analogie-Regel implizit einschließt, sowie für die Anwendung der Newtonschen Regulae philosophandi, der methodologischen Anleitung zur Erforschung der Naturgesetze. Die axiomatische Grundlegung der Analogie, mit welcher der Mensch den konstitutiven Mangel der sinnlichen Erkenntnis kompensiert, folgt nach 'sGravesande einer rationalen Methode, die nicht mathematisch, aber trotzdem legitim sei und deren Wahrheitsbegriff ein sozialethisches Postulat enthält:

117

Vgl. M. Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1920; hierzu bes. den Abschn.: Zwischenbetrachtung: Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung, S. 536-573, Zitat S. 564.

382 In Physicis de omnibus non possumus immediate sensibus judicium ferre; datur & alia legitima, licet non Mathematica, ratiocinandi methodus, hoc axiomate fundata; Pro vero habendum omne quod si negetur societas inter homines destruitur, aut his vivendi ratio adimitur. Ex qua propositione, quae a nemine in dubium vocari potest, regulae philosophandi Newtonianae secunda & tertia evindentissime deducuntur. 118

Indem für Haller das Kriterium dessen, was >wahr< ist, allein die Natur ist, und er von der Erkenntnis ihrer Gesetze auch die Konstituierung der Gesetze des gesellschaftlichen Zusammenlebens abhängig macht, gehört das Axiom »es ist alles dasjenige für wahr zu halten, dessen Negierung die gesellschaftlichen Bande zwischen den Menschen zerstört oder dadurch ihren Existenzgrund auflöst« zu einem zentralen Bestandteil des philosophischen Kerns von Hallers Wissenschaftsbegriff. Die Grundlegung von Newtons methodologischen Regeln der naturwissenschaftlichen Forschung auf naturrech tlich-juristischen Prinzipien durch 'sGravesande konnte der junge Haller in Leiden aufgrund des Studiums der Physices elementa, die der zukünftige Physiologe in der zweiten Auflage von 1725 las, verfolgen; in seinem Tagebucheintrag hebt der Student den juristischen Bildungshorizont seines Lehrers explizit hervor: In Philosophicis ist: 1. s'Gravesande. Ein Haagscher Rechtsgelehrter, der durch Newtons Bekandtschaft seine Lehren so wol begriffen, daß er izt ein volkommen Gestelle davon gemacht. Sein bestes sind die Experimente, die er wegen seinen schönen Werkzeugen sehr just und sehr häuffig thut. Man kan alles in seiner neuen Auflage von der Physic sehn. 119

'sGravesandes Argumentation in der Praefatio zu den Physices elementa (1725), in der Oratio de Evidentia (1724) und in der Introducilo ad philosophiam (1736) folgt im wesentlichen derselben naturrechtlichen Logik, die im Zusammenhang mit der Begründung der Geltung der sinnlichen Wahrnehmung für die menschliche Erkenntnis im Teil II, Kap. 3, 2 dieser Studie bereits rekonstruiert worden ist. Entscheidend ist dabei, daß 'sGravesande die Begründung der Geltung der Analogieschlüsse auf pragmatischen Kriterien im Sinne des Humeschen post hoc - etwa die empirisch feststellbare regelmäßige Wiederkehr von Ereignissen, wie den Sonnenaufgang und -Untergang oder die allgemeine Wirkung der Gravitations- und Kohäsionskraft der materiellen Elemente der Körper, - um ein deistisches Substrat ergänzt. Damit läßt sich in 'sGravesandes Ansatz, anders als bei Hume, der Notwendigkeitscharakter der Naturkonstanz nicht auf ein pragmatisches Axiom reduzieren, das höchstens ein Postulat, aber keine Garantie darstellen kann und dessen instinktiver Charakter leicht zu entlarven ist: ad absurdum geführt, bedeutet u s vgl. 'sGravesande: Physices elementa ( 2 1725), Praefatio. 119

Vgl. Haller in Holland. Het Dagboek Van Albrecht von Haller Van Zijn Verblijf in Holland (1725-1727), eingel. und hg. von G. A. Lindeboom, Amsterdam 1979, S. 94.

383 dies, daß eine Erwartung des menschlichen Subjekts für etwas in der Natur der Dinge notwendig Existierendes gehalten wird. Deshalb erfordert die Vermeidung von induktiven Zirkelschlüssen im Bereich des Empirischen ein rationales Konstrukt, das die Involvierung Gottes in das Begründungs verfahren einschließt: Die göttlichen Attribute, der theologische Voluntarismus und der Providentialismus, welcher der privilegierten Stellung des Menschen in der Natur gilt,120 schaffen ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Gott und seiner Kreatur, das auf die analogische Erkenntnis übertragen wird. Gott wird verpflichtet, im Hinblick auf das für seine Kreatur bestimmte Ziel, secundum naturarti, d.h. gemäß seiner geistig-physischen Konstitution, in der Gesellschaft zu leben, dem Menschen die geeigneten Erkenntnismittel bereit zu stellen. Daraus wird die Geltung der Analogie für das menschliche Denken abgeleitet: Nous devons donc raisonner au sujet des choses naturelles par Analogie; & l'on ne sçauroit douter que ce n'ait été là l'intention du Créateur, si l'on considère, d'un côté, la bonté souveraine de l'Auteur de la Nature, & de l'autre, la constitution de l'Univers. Mais si telle a été la volonté du Créateur, il doit avoir voulu aussi tout ce qui est nécessairement requis pour que des raisonnemens, tels que ceux que nous venons d'indiquer, soient justes & fondés; c'est à dire, qu'il doit gouverner l'Univers par des loix fixes & constantes. Car la certitude de l'Analogie est fondée sur l'invariabilité des ces loix, qui ne sçauroient être sujettes au changement, sans que le genre humain s'en ressente, & périsse en peu de temps.121

Das Axiom oder die Norm der Unveränderlichkeit und der Uniformität der Naturgesetze der physischen Welt ist folglich das ontologische Korrelat des ethischen Postulats, an das 'sGravesande den Wahrheitsbegriff bindet. Dabei zeigt sich, in welchem Maße die Frage, wie der Mensch die Welt erkennt, für die Frage, ob diese ein gottgeordneter und ethisch sinnvoll orientierter Kosmos sei, relevant ist. Empirisch-analogisches Denken als zeichenhafte Erkenntnisform und dessen Dependenz vom Willen des Schöpfers, der die Erhaltung seiner Kreatur in der Welt bezweckt und in dieser Absicht die Rationalität der Naturvorgänge garantiert, definiert ein Verhältnis von Gott und Welt, das unmöglich mit einem dualistischen Modell ihrer radikalen Trennung zu vereinbaren ist. Letzteres entspricht vielmehr der mathematischen Erkenntnisform der physischen Welt, die diese als kausalen Mechanismus versteht und autonom setzt. Dabei wird Gott in der Transzendenz von dem, was in der Welt geschieht, ferngehalten, mit der Folge, daß er »jede Plausibilität für die Vorgänge in der Welt, auch für irgendeine Schöpfung [verliert]«: »Die histo120 121

Vgl. Pufendorf: De Officio Hominis et Civis (1682), Lib. I, Cap. III, § 11. Vgl. 'sGravesande: Discours sur l'Evidence ('1724/1774), S. 341. Vgl. auch Physices elementa (21725), Praefatio: »Haec omnia ratiocinia analogiam pro fundamento habent, & extra omne dubium est, nos a rerum Conditore necessitate cogi per analogiam ratiocinari & hanc ideo ratiociniorum legitimum esse fundamentum. Analogiae autem fundamentum est hoc; rerum universam congeriem legibus immutatis regi.«

384 risch radikal gefaßte Transzendenz verliert aus dem Blick, was einst zu leisten war, die Erklärung für das, was ist.« 122 Indem nun aber die Naturkonstanz zu einer notwendigen Bedingung für die Erhaltung der menschlichen Gattung gemacht wird, wird Gott einer Verpflichtung unterstellt, der er sich nicht entziehen kann, ohne mit sich selbst im Widerspruch zu sein: mit seiner Intention nämlich, seine Kreatur zu erhalten. Ein Gott, der die Destruktion von Gesellschaft und damit die seiner Kreatur und ihrem Glück zuläßt, ist - ganz nach der epikureisch-lukrezischen Alternative - entweder nicht gut oder nicht allmächtig. Im Zusammenhang mit der Problematisierung des theologischen Optimismus als Folge der physischen und moralischen Übel in der Welt hatte der Lyriker Haller die Möglichkeit des Versagens der Methode der Theodizee, die Physikotheologie, in Erwägung gezogen und widersprüchlich darauf Stellung bezogen. 123 Aber die Verpflichtung gegenüber dem Naturgeschehen, von dem die Konstituierung ethisch-sozialer Normen abhängig gemacht wird, bindet Gott an die Welt und an den Menschen. Das Problem verlagert sich damit auf die Frage, wie Gott in der Welt wirkt und wie dies der Mensch erkennen kann. Die empirisch-analogische Form der Naturerkenntnis wird an einen teleologischen Naturbegriff gebunden, der als Voraussetzung des Naturverstehens überhaupt interpretiert wird. Damit wird die naturrechtliche Konzeption des Menschen, die ihn durch die Plinius-Lukrezsche imbecillitas kennzeichnet, mit demjenigen Modell des Verhältnisses von Gott und Welt verknüpft, das der >Mittelposition< zwischen der Transzendentalisierung und dem innerweltlichen Wirken Gottes entspricht. Diesem Modell ist aber grundsätzlich ein Problem inhärent: Daß Gott transzendent ist und gleichzeitig in der Welt wirkt, ist in logischer Hinsicht ein Widerspruch, in den sich bereits Descartes und Malebranche durch die Lehre des Okkasionalismus verstrickt hatten; diese konnte als metaphysische Lösung in der protestantischen Naturrechtstradition im Übergang zum 18. Jahrhundert nicht mehr akzeptiert werden. Descartes' Maßnahme ist aber bereits als Reaktion auf die möglichen atheistischen Implikationen zu deuten, die sich aus dem >matter-and-motionNeospinozismus< um 1750 Die Beziehung zwischen Ursprung der Welt und Welterklärung bildet bereits eine logische Voraussetzung der philosophischen Systeme des 17. Jahrhunderts und wird in der Diskussion des Naturbegriffs des 18. Jahrhunderts um den Aspekt der Naturgeschichte sowie um die Frage nach den Prinzipien der Entstehung von Leben ergänzt. Die Abkoppelung der Aussagen über den Evolutionismus der Materie von Fragen des rationalen Ursprungs in der transzendenten göttlichen Subjektivität bei Descartes provoziert die Reaktion von Leibniz in der Theodizee (1710). Leibniz eliminiert jede Eingriffskausalität Gottes in der Welt und konzentriert die »Aussagen auf jene transzendente Position vor aller Welt«:124 diejenige des wählenden Willen Gottes, zumal Spinoza in der immanenten Gott-Natur die konsequente Folgerung aus Descartes' ambiguer Position bereits gezogen hatte. Spinozas Substanzbegriff als immanente göttliche Kausalität und Descartes' subjektivistischer Substanzbegriff, der Gott in die Transzendenz verbannt, auf dessen Subsistenz aber sein System in den >kritischen< Punkten angewiesen bleibt, können als zwei Konzeptionen der Welterklärung verstanden werden, deren grundlegende Differenz in der Lösung des Problems des Ursprungs liegt. Wie Günter Dux ausgeführt hat, gehört es zu der logischen Struktur monotheistischer Religionen, unter denen die Welt als Ganzes erfaßt wird, »den Ursprung vom Objekt abzutrennen, einen Hiatus zwischen ihn und es zu legen, [...], den Ursprung >Gott< der Welt überhaupt vorzuordnen«, und Gott »als das zur Welt zugehörige Subjekt« zu denken, woraus die Vorstellung der Transzendenz Gottes im Jenseits entspringt. 125 Diese Form von Transzendenzvorstellung gehört aber, wie Dux ausführt, zu einem Spätstadium der Entwicklung der Gottesidee. Diese ist Produkt eines historischen Prozesses, der seit der Spätantike und durch das Mittelalter hindurch mit dem theologischen Beweis der Geistigkeit Gottes gekoppelt war und bis ins 17. Jahrhundert andauerte, als die Vorstellung der Immaterialität Gottes mit dem Begriff der »ungeschaffenen geistigen Substanz« in das philosophische System Descartes' eindrang. Die in seinem System vorgenommene Identifikation dieses Begriffs mit dem - nach dem Ebenbild Gottes geschaffenen - >Geist< des 124 125

Vgl. Dux (1982, 3 1990), S. 247. Vgl. ebd., S. 245-247, hier S. 245£ Dies gilt nach Dux für alle ursprünglichen Religionen, die sich monotheistisch verstehen, mit Ausnahme des israelitischen, also jüdischen Monotheismus, dessen Gott sich durch Präsenz auszeichnet: Es ist die frühzeitliche anthropomorphe Vorstellung eines handelnden, eingreifenden Gottes, der durch Zeichen seinem auserwählten Volk Anweisungen gibt. Bezogen auf Spinozas Gottes- bzw. Substanzbegriff im ersten Buch der Ethik wird dieser Aspekt des jüdischen Monotheismus bedeutsam.

386 Menschen als einer immateriellen denkenden Substanz, die von Materie verschieden ist, trägt entscheidend zur Begründung einer auf dem Substanzendualismus beruhenden Prinzipienwissenschaft bei. Eine Folge dieser Entwicklung ist aber, daß »[m]it einem transzendenten Gott, der in der Transzendenz verbleibt, [...] wenig anzufangen [ist]. Er ist fast schon ein toter Gott.« 126 Descartes substituiert durch seinen Substanzbegriff die angeborene Idee Gottes mit der denkenden Substanz des Subjekts und den göttlichen Ursprung der Welt, für den sich die christliche Religion auf den biblischen Genesis-Bericht beruft, mit einem mechanischen Ursprung. Das denkende Subjekt tritt an die Stelle Gottes und entwirft Hypothesen und Theorien zur Weltentstehung. Paradoxerweise wird aber damit gerade das von Descartes in den Substanzbegriff assimilierte neoscholastisch-theologische Dogma der Abhängigkeit der Welt von Gott ein effemeres formales Element des Systems, dem Gefahr droht, seine Bedeutung ganz zu verlieren. Dies geschieht sobald Descartes nicht Gott, sondern die Prinzipien der Weltmechanik zur Erklärung der Weltentstehung heranzieht. Materie wäre demzufolge fähig, auf der Basis mechanischer Kräfte und Gesetze sich selbst zu organisieren, auch wenn diese Gesetze logisch auf Gott zurückgeführt werden. Solche Vorstellungen formuliert Descartes in einigen wichtigen Paragraphen des dritten Teils der Principia Philosophiae, wo er die Kosmogonie und die daraus resultierende geordnete Planetenbewegung durch die Wirbelhypothese (tourbillons) erklärt und parallel dazu die Geogonie auf mechanische Kräfte der Materie zurückführt: Die Materie nimmt gemäß der Hypothese Descartes' in der Sukzession alle möglichen Formen an und durchläuft so mehrere Ordnungsstadien bis sie notwendig den aktuellen Zustand dieser Welt erreicht. 127 Offensichtlich ist hier Gott, der nicht mehr primum movens der Materie ist, zu einer überflüssigen Hypothese geworden. Obwohl Descartes selbst die Eingriffskausalität Gottes nicht ganz aus seinem System zu eliminieren vermag, trägt er wesentlich zu der Verschärfung des Transzendenzgedankens bei. Die Überlagerung von Descartes' Evolutionismus der Materie mit dem Substanzbegriff des philosophischen Systems Spinozas, der den Begriff der ungeschaffenen geistigen Substanz mit Gott identifiziert, beeinflußt in der Mitte des 18. Jahrhunderts die biologischen Konzepte hinsichtlich der Idee einer >intelligenten< und >sensiblen< Materie, die sich selbst zu organisieren 126 127

Vgl. ebd., S. 246. Vgl. Principia Philosophiae, III, § 47. Vgl. hierzu Rossi (1979), bes. das Kap.: L'origine delle cose e il corso della natura: Boyle, Newton, Descartes, S. 63-71; zu der Reaktion von Leibniz und seinem Einfluß auf die Erdentstehungshypothese Buffone vgl. das Kap.: I mondi possibili e la storia del mondo reale, S. 7 1 - 8 9 , zu Buffons Hypothese vgl. S. 125-128. Die Möglichkeit der Wiedereinführung von Hypothesen im Bereich der belebten Natur um 1750 (z. B. in Buffons Epigenesistheorie) ist auch vor diesem Hintergrund zu verstehen.

387 vermag. Damit avancieren die Theorien der Entstehung von Leben zu einem Problemfeld, das auch für theologische Belange relevant wird. In religionstheoretischer Hinsicht bedeutet das Selbstorganisationsprinzip der Materie die Verschiebung des Ursprungs in die Immanenz, wodurch die theologische Vorstellung des transzendenten Ursprungs unterminiert wird, bei Spinoza freilich noch ganz auf begrifflicher Ebene: Mit der natura naturalis als dem schöpferischen Prinzip, das die natura naturata hervorbringt, zieht Spinoza den Ursprung in die Welt hinein, indem das dem Objekt >Welt< zugehörige Subjekt bzw. der Ursprung >Gott< von der Welt nicht mehr abgetrennt ist. Von da aus fehlt zu der Behauptung, daß die Materie - etwa in der Form von >substantiellen< oder bildenden Kräften - >intelligente< Organisationsprinzipien in sich selbst habe nur noch ein Schritt. Die neospinozistischen bzw. materialistischen Ansätze der Epigenese in Frankreich um 1750 hatten gegenüber naturwissenschaftlichen Ansätzen den Nachteil, daß sie philosophisch und nicht experimentell begründet waren. In der Theoria Generationis von 1759 begründete nun aber Caspar Friedrich Wolff seine epigenetische Theorie, derzufolge eine unsichtbare vis essentialis aus amorpher Materie ein Lebewesen hervorbringt, nicht philosophisch, sondern naturwissenschaftlichexperimentell. Mit Wolff hatte die Naturforschung somit implizit Spinozas Lösung des Ursprungsproblems übernommen und in expliziter Verknüpfung mit Descartes' deduktivem Prinzip der Sukzession von Organisationsstadien der Materie auf den Bildungsvorgang von Lebewesen übertragen. Diese wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung kann somit als Konsequenz einer Synthese extremer Lösungen des Ursprungsproblems gedeutet werden.

8. Das >intermediäre< Modell zwischen Transzendentalisierung und innerweltlichem Wirken Gottes: Religion, sozialer Wandel und Empirismus als Grundlagen des newtonianischen Naturbegriffs der Frühaufklärung Es bestand allerdings auch die Möglichkeit, eine Mittelposition einzunehmen, die den Ursprung der Welt in der Transzendenz restituierte und ein beständiges innerweltliches Wirken Gottes statuierte: Diese Position beeinflußte die naturwissenschaftlichen Forschungsprogramme in Ländern wie Holland und England, die in besonderem Maße in der religiösen Tradition des Calvinismus standen. Die von Max Weber im Rahmen seiner Studien zu der protestantischen Ethik erarbeitete These der innerweltlichen Askese interessiert in unserem Zusammenhang unter dem dort analysierten Aspekt der Beziehung Gott-Mensch. Diese ergibt sich aus der Kombination von Prädestinations- und Bewährungstheorie und begründet nach der Weberschen Interpretation die innere, psychologische Motivierung des Handelns des gläubigen Individuums des 16. und 17. Jahrhunderts in der Vorstellung einer

388 Berufspflicht;128 zu regelhaften Sinnorientierungszwecken resultiert daraus eine Rationalisierung der Lebensführung (Alltagspraxis) des Individuums: Das reale Eingehen des Göttlichen in die Menschenseele war durch die absolute Transzendenz Gottes gegenüber allem Kreatürlichen ausgeschlossen: »finitum non est capax infiniti«. Die Gemeinschaft Gottes mit seinen Begnadeten konnte vielmehr nur so stattfinden und zum Bewußtsein kommen, daß Gott in ihnen wirkte (»operatur«) und daß sie sich dessen bewußt wurden, - daß also ihr Handeln aus dem durch Gottes Gnade gewirkten Glauben entsprang und dieser Glaube wiederum sich durch die Qualität jenes Handelns als von Gott gewirkt legitimierte. [...]. Der religiöse Virtuose kann seines Gnadenstandes sich versichern entweder, indem er sich als Gefäß, oder, indem er sich als Werkzeug göttlicher Macht fühlt. Im ersten Fall neigt sein religiöses Leben zu mystischer Gefühlskultur, im letzteren zu asketischem Handeln. Dem ersten Typus stand Luther näher, dem letztern gehörte der Calvinismus an. [...] der Glaube [muß] sich in seinen objektiven Wirkungen bewähren, um der certitudo salutis als sichere Unterlage dienen zu können: er muß eine »fides efficax«, die Berufung zum Heil ein »effectual calling« (Ausdruck der savoy declaration) sein. Stellt man nun die Frage, an welchen Früchten der Reformierte denn den rechten Glauben unzweifelhaft zu erkennen vermöge, so wird darauf geantwortet: an einer Lebensführung des Christen, die zur Mehrung von Gottes Ruhm dient. Was dazu dient, ist aus seinem, direkt in der Bibel offenbarten oder indirekt aus den von ihm geschaffenen zweckvollen Ordnungen der Welt (lex naturae) ersichtlichen, Willen Gottes zu entnehmen. 129

128

Diese These expliziert Wolfgang Schluchter wie folgt: »Die Pointe der Protestantismusstudien besteht nun in dem historischen Nachweis, daß die Erwerbsorientierung moderner Unternehmer und Arbeiter in der Vorstellung von einer Berufspflicht gründet, daß damit nicht Begriffe wie Geschicklichkeit und Klugheit, sondern Begriffe wie Verpflichtung und Schuld verbunden sind. Nur wenn man diese Zusammenhänge deutend versteht, läßt sich die für den >Geist< des modernen Kapitalismus charakteristische rationale Temperierung des >Erwerbstriebs< erklären, der gerade nicht das bedingungslose Ausleben dieses >TriebsSozialdisziplinierung< beschrieben: D i e s e betrifft ursprünglich allein die innere Disziplinierung des >bürgerlichen< Individuums, erfaßt aber als Korrektiv der Thesen Webers - auch dessen soziale Kontrolle innerhalb lokaler Gemeinschaften, ihren Binnengruppen und deren Binnenmoral, wobei kein Grad des sozialen Standes unberücksichtigt bleibt. D a s Prinzip der Sozialdisziplinierung besteht in der Verinnerlichung von Normen, die der Mensch auf der Basis eines Mittel-zum-Zweck-Kalküls sich selbst setzt, wobei sein eigenes Verhalten oder dasjenige eines Kollektivs hinsichtlich der Erreichung objektiver Ziele bestimmt wird. 130 D i e konsequente Befolgung des Kriteriums des wirtschaftlichen Erfolgs, das sich nach außen im Prinzip der >Konkurrenz< manifestiert - u. a. in der Rivalität von Individuen, Korporationen, Zünften etc. - , hat auf der E b e n e der Lebensführung eine Verselbständigung der Triebsphäre zur Folge, die gegenüber der Moral indifferent wirkt. 131 Öko130

131

Zum Begriff der >SozialdisziplinierungModerne< am historischen Material konkret verdeutlicht wird, vgl. die Beiträge im Sammelband: Disciplina dell'anima, disciplina del corpo e disciplina della società tra medioevo ed età moderna, hg. von Paolo Prodi, Bologna 1994, bes. den Beitrag von Wolfgang Reinhard: Disciplinamento sociale, confessionalizzazione, modernizzazione. Un discorso storiografico, S. 101-123. Die Struktur des religiösen Denkens scheint sich im Katholizismus nur formal von derjenigen des protestantisch-calvinistischen Glaubens zu unterscheiden. Es läßt sich nämlich zu der Systematisierung der Lebensführung im calvinistischen Denktypus, das zu autonom-individuellem Handeln führt, das keiner Autorität bedarf und zugleich auch >amoralisch< sein kann, im Katholizismus ein Pendant finden, - die Erfahrung des partikularen Interesses - , das nicht weniger ein systematisches Prinzip der Lebensführung darstellt. Auf der Basis einer nüchternen Analyse der Entwicklung der politischen Umstände in Florenz des frühen 16. Jahrhunderts (in der Zeit der de Medici Dynastie) steht es bereits für den Historiker Francesco Guicciardini außer Zweifel, welche gezwungenermaßen die >beste< Bedingung individuellen Handelns im Staat sei: »Non crediate a costoro che predicano sì efficacemente la libertà [sc. die politische Freiheit], perché quasi tutti, anzi non è forse nessuno che non abbia l'obietto agli interessi particulari: e la esperienza mostra spesso, e è certissimo, che se credessimo trovare in uno stato migliore condizione, vi correrebbono per le poste.« Vgl. F. Guicciardini: Ricordi A 82, hg. von Raffaele Spongano, Firenze 1951, S. 76. Im Laufe des 16. Jahrhunderts wird das >particulare< im Katholizismus selbst zur theologischen Kategorie, die die Jesuiten (z.B. bei Juan Luis de Molina) in die Glaubens- und Religionsstruktur aufnehmen, um daran die ethische Norm anzupassen. Der Mensch wird als gut erklärt und die Prädestination verurteilt: Moralische Laxheit wird zum Grundprinzip und die Sünde, die Ausdruck des Partikularismus ist, zur Notwendigkeit erklärt, wobei der formale Akt der >contritio< (Reuebekenntnis in der Beichte), der momentane Gültigkeit hat, als Pflicht eingeführt wird und die Autorität der Kirche zur Erlassung der Schuld unentbehrlich macht. Guicciardini unterscheidet in den Ricordi Β 124 genau zwischen der Option zweier >sozio-ökonomischer< Prinzipien des Glaubens: a) im Katholizismus: Laster - Autorität oder b) im Protestantismus: ohne Laster - keine Autorität, wobei er sich von der Option b) gerne den Ruin der verdorbenen »caterva di scelerati«, d. h. des Priesterordens, erhoffen würde, wenn er nicht zugleich »per el particulare mio« die Größe der Päpste zu lieben gezwungen wäre. Vgl. ebd., S. 33.

390 nomisch-wirtschaftliche Rationalität ist also das Movens der Transformation mittelalterlich-feudaler Gesellschaftsstrukturen so wie auch der systematischen Teilung des Arbeitsprozesses, d. h. der Mechanisierung der Methoden des manufakturellen Produktionsprozesses, nach dessen Vorbild und Prinzipien sich eine mathematisch-mechanizistische Naturwissenschaft herausbildete. 132 Mit der Durchsetzung des kopernikanischen Weltbildes wird das aristotelisch-ptolemäische bzw. theologisch-scholastische Weltbild und seine mittelalterlichen Ordnungsvorstellungen von Individuum und Gesellschaft durch das technisch-naturwissenschaftliche Weltbild überlagert. Dieses geht als Produkt einer Gesinnungstransformation des Individuums und der Konsolidierung einer kleinbürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsschicht hervor, die im Kampf gegen die Privilegien des Adels ihr Existenzrecht behauptet. Die statisch-hierarchische Struktur der mittelalterlichen Ständeordnung konnte sich im 17. Jahrhundert nur noch auf staatspolitischer Ebene im absolutistischen Herrschaftssystem erhalten, wobei in der Forschung die Frage diskutiert wird, inwiefern die Zentralisierung des Machtapparates von Staat und Kirche - für den Staaat nach der Theorie von Thomas Hobbes - die Sozialdisziplinierung der unteren Gesellschaftsschichten auf privater und öffentlicher Ebene weiter vorantrieb. 133 Der Rationalitätsgedanke hatte aber bereits auf eine mechanizistische Auffassung der Natur übergegriffen, die überkonfessionell vertreten wurde, auch wenn sie methodisch unterschiedlich begründet wurde: Descartes' philosophisch-mathematische Prinzipienwissenschaft sowie Galileis Konzeption einer empirisch-mathematischen Naturwissenschaft waren zwei Varianten desselben Bedürfnisses nach der systematischen Erfassung der Natur und deren Beherrschung durch universal gültige Ordnungsprinzipien. Die naturwissenschaftliche Welterklärung konkurrierte aber bereits durch Galilei mit der dogmatischen Weltauslegung der katholischen Kirche, die ihrerseits seine Lehren verurteilte: Das im sozial-ökonomischen Bereich agierende Konkurrenzprinzip, das zur Ausdifferenzierung sozial-politischer Interessensgruppen geführt hatte, griff damit in der Naturinterpretation auch auf das Gebiet des Theoretisch-Geistigen über, indem die sich differenzierenden intellektuellen Interessensgruppen - hier Philosophen, Naturforscher und Theologen - um die Durchsetzung ihres Weltbildes kämpften. Aber in Galileis Berufung auf den Kirchenvater Tertullian, der sich für die Notwendigkeit der Erkenntnis Gottes zuerst in den Wirkungen der Natur und dann erst in der Hl. Schrift geäußert habe,134 lag bereits ein Ansatz vor, die Naturwissenschaft mit der Religion zu versöhnen. Mit dem Gedanken der innerweltlichen Wirkung Gottes in der Natur flössen zugleich Prinzipien der stoischen Natur132

133 134

Zur Ausführung dieser These, die an den Ansatz M. Webers in Wirtschaft und Gesellschaft anknüpft, vgl. Borkenau (1934), repr. (1988), bes. das Kap.: Die Wissenschaft der Manufakturperiode, S. 1 - 1 4 . Vgl. hierzu Reinhard (1994), S. 103ff. Vgl. hierzu Teil II, Kap. 2, 4 in dieser Studie.

391 philosophie in Galileis naturwissenschaftliches Denken ein, die sich als Zeichen dafür deuten lassen, daß die Frage nach der Gewißheit des Glaubens nicht mehr nur innerhalb eines abstrakten Systems von Sätzen zu lösen war, für das die Theologen dogmatische Konsistenz beanspruchten, sondern die Einbeziehung der Natur erforderte, deren gottgewollte Ordnung, die Galilei ganz im pythagoräischen Sinne mathematisch dachte, vom Menschen erkannt werden konnte. Zur Legitimierung des naturwissenschaftlich-mathematischen Denkens griff Galilei damit ein Prinzip des asketischen Protestantismus auf, das in diesem für religiöse Erkenntnisfragen konstitutiv war: Der Glaube des Calvinisten hat sich in den objektiven Wirkungen seines Handelns zu bewähren, die als Grundlage für die Gewißheit der göttlichen Gnade (des Auserwähltseins) dienen. Deshalb betrachtete der asketische Protestantismus gemäß Max Webers These die empirische Naturwissenschaft eher mit seinen Interessen vereinbar als die abstrakte philosophische (und theologische) Erkenntnis. Dies erklärt die - auch von konfessionellen Interessen geleitete positive Rezeption der Galileischen Lehren in der protestantisch-calvinistischen Welt sowie deren Einfluß auf die Entwicklung des Empirismus, vor allem in England, dessen politisches System sich im Laufe des 17. Jahrhunderts mit der Einführung eines Parlaments gleichzeitig in eine konstitutionelle Monarchie transformierte. Noch um 1750 bildete für Haller England in der Kulturblüte des Zeitalter Elisabeths I (1558-1601), in dem es sich von der spanischen Hegemonie Philipps II emanzipierte und zur führenden protestantischen Großmacht aufstieg, das große Beispiel eines auf Prinzipien der christlichen Religion gegründeten Staates als Voraussetzung für die Entwicklung von Politik, Gesellschaft, Wissenschaft und Kunst. Haller interpretierte dies aus der Perspektive des 18. Jahrhunderts als Kennzeichen eines >bürgerlichen< Ordnungszustandes, der das naturrechtliche Weltbild charakterisierte: Viel allgemeiner, viel reiner würde das Reich der Tilgend unter den Menschen sey [sie!], wenn mehrere Christen wären; wenn die Menschen die grossen Wahrheiten der Offenbahrung ihrem Gemüte tiefer eindrücken; wenn sie bey sich die Religion zur Kraft kommen lassen wollten. Die Vergleichung eines der wahren Religion zugethanen Staates, und eines andern, wo die Freygeisterey herrschet, ist ein augenscheinlicher Zeuge für uns. Engelland war unter der grossen Elisabeth, und später, noch fast gänzlich frey vom Unglauben. Die größten Geister dieser Zeit, ein Verulam, und lang hernach ein Milton, waren voll der Achtung gegen Gott. Damals war die englische Nation häuslich, eingezogen, arbeitsam, tapfer, freygebig, gastfrey, mitleidig, und in allem ordentlich. Der Eindruck der Religion haftete selbst auf den Erzählungen ihrer Reisenden, und auf den Entschließungen des Parlaments. Dieses Engelland war dem Philipp, und der ganzen Gewalt des Pabstes zu stark. Auf einmal und zu gleicher Zeit hoben sich die Schiffart, die Gelehrsamkeit, die Handlung und der kriegerische Ruhm, und der Namen dieses glückseligen Volkes flog über den bewundernden Erdboden. 1 3 5 135

Vgl. Haller: Ueber die praktischen Folgen des Unglaubens. E s handelt sich dabei um einen Auszug aus Hallers Vorrede zu der Schrift »Prüfung der Sekte, die an allem zweifelt« (1750) von Jean Henri Samuel Formey und Albrecht von Haller. In: Haller (1787), Zweyter Theil, S. 3 2 0 - 3 5 2 , Zitat S. 346f.

392 Für die 1751 gegründete Gesellschaft der Wissenschaften in Göttingen (Academia Georgina), das zu diesem Zeitpunkt in Personalunion mit der englischen Krone stand, entwickelte Haller eine naturwissenschaftliche Forschungs- und Erkenntniskonzeption. Die Akademiegründung erfolgte daher im Zeichen der Prinzipien der kultur-, staats- und wissenschaftspolitischen Tradition Englands am Ende des ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts, die das Feld der wissenschaftlichen Revolution in der Physik und in der Medizin um 1660 sowie die Institutionalisierung empirisch-experimenteller Wissenschaften an der Royal Society vorbereitet hat. 136 Diese Gesinnungsallianz bestärkt Haller in seinem Text symbolisch durch die Aufnahme einer Zitatstruktur aus Francis Bacons fragmentarischer Schrift Valerius Terminus of the Interpretation of Nature, in welcher der englische Philosoph das Konzept des De augmentis scientiarum an ein Zitat des Propheten Daniel (12:4) anbindet; 137 Bacons Textstelle, die dem ersten Teil der Schrift Of the limits and end of knowledge entstammt, ist in den Kontext einflußreicher wissenschaftsprogrammatischer Richtlinien eingebettet. Diese Richtlinien, die Bacon und die englischen Puritaner des 17. Jahrhunderts im Horizont ihrer millennistisch-providentialistischen Interpretation der Geschichte der göttlichen Legitimation wissenschaftlicher Forschung und technologischer Naturbeherrschung zugrunde legten, haben auch in den experimentellen Wissenschaftskonzepten des 18. Jahrhunderts weitgehend Geltung behalten. Die Einschränkung des gesamten Wissens in die Grenzen der Religion und dessen Verwendung zu utilitaristischen Zwecken, die Bacon gemäß calvinistisch-puritanischem Wissenschaftsethos postulierte, hinderte ihn nicht, die causae secundae als den Bereich zu bezeichnen, in dem der Mensch in klarer Abgrenzung von dem ordo struentis des Schöpfers gültige Erkenntnis von den Naturvorgängen erlangen konnte:

136 vgl. Manfred Pfister: Bacon und Winstanley: Akademieprojekte im Vorfeld und Verlauf der englischen Revolution. In: Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition - Die europäischen Akademien der Frühen Neuzeit zwischen Frührenaissance und Spätaufklärung, hg. von Klaus Garber und Heinz Wismann unter Mitwirkung von Winfried Siebers, Bd. 1, Tübingen 1996, S. 689-720. 137 Vgl. Bacon: The Works, Bd. 3 (1859), Ndr. 1963, S. 220f. »This is a thing which I cannot tell whether I may so plainly speak as truly conceive, that as all knowledge appeareth to be a plant of God's own planting, so it may seem the spreading and flourishing or at least the bearing and fructifiying of this plant, by a providence of God, nay not only by a generál providence but by a special prophecy, was appointed to this autumn of the world: for to my understanding it is not violent to the letter, and safe now after the event, so to interpret that place in the prophecy of Daniel where speaking of the latter times it is said, Many shall pass to an fro, and science shall be increased; as if the opening of the world by navigation and commerce and the further discovery of knowledge should meet in one time or age.« Die Schrift wurde erst 1734 veröffentlicht, obwohl nach Bacons Tod (1626) seine Manuskripte von seinen puritanischen Anhängern gelesen und gesammelt wurden; vgl. hierzu Webster (1975), ital. Übers. (1980), bes. Kap. I 5 (Filosofie del millennio), S. 35-42.

393 That all knowledge is to be limited by religion, and to be referred to use and action. For if any man shall think by view and inquiry into these sensible and material things, to attain to any light for the revealing of the nature or will of God, he shall dangerously abuse himself. It is true that the contemplation of the creatures of God hath for end (as to the natures of the creatures themselves) knowledge, but as to the nature of God, no knowledge, but wonder; which is nothing else but contemplation broken off, or losing itself. [...]. And although the highest generality of motion or summary law of nature God should still reserve within his own curtain, yet many and noble are the inferior and secondary operations which are within man's sounding.138 Zur Legitimierung der Naturforschung greift Bacon zudem auf mythischarchaische Urspünge zurück. Im Rückgriff auf das Wissen von der Natur der ägyptisch-hebräischen Tradition 139 und der Vorsokratiker sowie in Absetzung von der griechischen und aristotelisch-scholastischen Philosophie bezieht sich Bacon in seiner Konstruktion einer Genealogie >genuinen< Wissens auf dieselben antiken Quellen der ältesten Völker, auf die auch der süditalienische Naturphilosoph Tommaso Campanella in seiner Apologia

pro

Galileo

(1622) zur Legitimation der wissenschaftlichen Erkenntnisse Galileis und Kopernikus' rekurrieren sollte. Im Laufe des 16. Jahrhunderts also, in d e m Individuum und Gesellschaft eine religiös motivierte Transformation erfahren, vollzieht sich für Boerhaave und Haller zugleich auch ein Wandel in der Naturlehre, die - bei den scholastischen Aristotelikern noch als eine Logik des physischen Gegenstandes behandelt - zu einer experimentierenden Praxis wird: Haerebat totus orbis litterarius immersus nugis Peripateticis & superstitionibus non dico ARISTOTELIS, sed Commentatorum ejus, partim Scholasticorum, qui totam Physicam reddiderunt logicam, ratiocinantem nempe de rebus, quas per sensus nunquam perceperant. Decimo sexto vero seculo extiterunt Chemici, qui vilipensis nugis experimenta induxerunt; hincque occasionem dederunt magno illi BACONI, Cancellano & Sigilli Britanniae Custodi, qui eo seculo floruit sub regno ELISABETHAE, ut meruerit hanc laudem >ab eo uno viro plus profectum esse in promovenda scientia corporum naturalium, quam ab omnibus praecedentibus & subsequentibus Physi138

139

140

Vgl. Bacon: Valerius Terminus, of the Interpretation of Nature, Kap. I (Of the limits and end of knowledge). In: Ders.: The Works, Bd. 3 (1859), Ndr. 1963, S. 218-220. Vgl. ebd., S. 219f.: »Moses again (who was the reporter) is said to have been seen in all the Egyptian learning, which nation was early and leading in matter of knowledge. And Salomon the king, as out a branch of his wisdom extraordinarily petitioned and granted from God, is said to have been written a natural history of all that is green from the cedar to the moss, (which is but a rudiment between putrefaction and an herb,) and also of all that liveth and moveth.« Vgl. Haller in Boerhaave (1753), S. 56. Hallers Periodisierung einer >vorwissenschaftlichen< Epoche in der Naturlehre vor dem 16. Jahrhundert umfaßt zwölf Jahrhunderte und reicht bis in die Spätantike (ca. 4. Jahrhundert n. Chr.) zurück, wobei im 13. Jahrhundert Albertus Magnus (und wenige Anhänger des Dominikanerordens) sowie Roger Bacon Ausnahmeerscheinungen bilden: Der erste wende sich gegen eine Verbindung von Aristotelismus/Averroismus und christlicher Lehre, der zweite gegen die scholastische Methode, die von der Betrachtung der physischen Natur abhalte: »Duodecim & ultra seculis vix quisquam extitit, qui experimenta

394 Aus diesen schematisch dargestellten mentalitätsgeschichtlichen Entwicklungen lassen sich zwei Tendenzen erkennen, deren optimistisches Moment im Hinblick auf die Herausbildung frühaufklärerischer erfahrungsbasierter Naturwissenschafts-, Individuums- und Gesellschaftskonzepte relevant wird: (i) Die Annahme des innerweltlichen Wirkens Gottes sowohl auf das Handeln des Menschen als auch in der Natur führt a) zu der Herausbildung einer laizistischen Handlungssphäre, die sich verselbständigt; die Autonomisierung der Triebsphäre des Menschen führt (konfessionsunabhängig) zu einer Individualisierung der Lebensführung, wobei der Glaube an eine Prädestination oder an die vollständige Autonomie des Menschen (Triebe) zu einer bloß formalen Bestimmung der religiösen Denkstruktur wird; und b) zur Verselbständigung der Sphäre der physischen Welt und des Naturgeschehens, zu deren Erforschung die Religion selbst Rationalitätskriterien liefert. Mit der Übertragung des Rationalitäts- und Ordnungsgedankens auf die Natur als Folge der Annahme eines rationalen Verhältnisses Gott-Natur verlagert sich also auf die Natur auch die religiöse Sinndeutungsproblematik. Mit dem Bewußtsein, daß Gott in der Natur wirkt, geht die Idee einher, daß die >QuaIität< seines Wirkens sich in der Konstanz und Gesetzmäßigkeit der Naturvorgänge ausdrückt, durch die Gott seinen Willen manifestiert. Die religiöse Sinndeutung des Naturgeschehens verbindet sich aber wiederum nicht mit abstrakter mathematischer Rationalität, die sich für die Erforschung der konkreten Gesetze der Materie als unbrauchbar erweist, sondern am ehesten mit empirischer Naturforschung, (ii) Unbeeinflußt vom kirchlichen Dogma und von demjenigen des religiösen Intellektualismus der Theologen beider Konfessionen entwickelt sich im Laufe des 17. Jahrhunderts überkonfessionell im Rückgriff auf stoisch-patristisches, vorsokratisches, ionisch-pythagoräisches und epikureisch-lukrezisches Gedankengut eine maturwissenschaftliche Denkformationgottgewirkten< Handelns des Menschen auf das Feld der >gottgewirkten< Vorgänge der Natur zeigt, daß sich das Problem des Glaubens und der Religion an dem Übergang zum 18. Jahrhundert unter veränderten Bedingungen stellt und vom Problem der Naturerkenntnis nicht mehr getrennt werden kann. Die Praxis der experimentellen Naturwissenschaft erhält damit unter mentalitätsgeschichtlichem Gesichtspunkt, der von einem ideellen Interesse des gläubigen Menschen und Naturforschers ausgeht, eine religiöse Bedeutung, indem sie als Mittel zu der Konstituierung und Vergewisserung eines Bewußtseins eingesetzt wird, daß Gott in der Natur respektive durch die Natur wirkt. Mit anderen Worten dient sie der Bewältigung der Angst, daß durch die Idee der absoluten Transzendenz Gottes, dieser für das, was in der Natur geschieht, seine Zuständigkeit verliert. Der Gedanke einer absoluten Autonomie der Natur war im 17. und 18. Jahrhundert immer noch mit der Idee der Notwendigkeit des Naturgeschehens und der Realität verbunden, die bereits Duns Scotus im Spätmittelalter als eine Implikation der antiken aristotelischen Kosmologie entlarvt hatte; dies betrifft u.a. das >Prinzip des Plenumsgottgewirkten NaturMittelpositionsmodell< aber konkret ein Mittel objektivieren, das als Wirksamkeitsprinzip zwischen Gott und Welt lag. D i e s ist im Newtonianismus der Frühaufklärung die >Natur< selbst, die in naturwissenschaftlichen Kontexten verstanden wird als die in ihr existierenden materiellen und immateriellen Entitäten (Materieelemente, Körper, Kräfte), die als Zweitursachen sämtliche Naturvorgänge und materielle Prozesse bewirken. Zwischen dem Willen Gottes, der nach wie vor transzendent bleibt, der Welt und dem Menschen schaltet sich also die Natur ein, auf die sich das innerweltliche Wirken Gottes bezieht und wodurch Gott ihre Autonomie >in Grenzen< hält. Aus der Perspektive Gottes wird die Natur zu einem Mittel zu der Erreichung des intentionalen Zweckes der Erhaltung seiner Kreatur, nicht der einzelnen Individuen, aber der Gattung. Aus der Perspektive des Menschen, als dem von Gott privilegierten Teil der Natur, wird die Natur zur Instanz der (analogischen) Erkenntnis einer Ordnung, von der seine Erhaltung und die der Gesellschaft abhängt. D e r Mensch interpretiert die materiellen Prozesse der Natur und die Konstitution der Naturkörper (auch seinen eigenen) finalistisch als eine Manifestation des Willens oder der Intention Gottes. D i e

153 Ygj Haller in Buffon/Daubenton: Allgemeine Historie der Natur [...]. Zweyter Theil [erster Band], Hamburg, Leipzig 1752, fol. b4 r -b4 v .

401 Übereinstimmung von >Mittel< und >Zweck< in der Natur wird zu einem Beweis des innerweltlichen Wirkens bzw. der Existenz eines planenden Schöpfergottes gedeutet. Auf dieser providentialistischen Konzeption der Natur basiert die ganze Argumentation des zweiten >metaphysischen< Teils der Hallerschen Buffon-Vorrede von 1752, wo die Natur als »die Hand der erschaffenden Weisheit [sc. Gottes]«154 bezeichnet wird. Dort wird der Absicherung der Evidenz seiner metaphysischen Annahme, daß die Natur sinnvoll geordnet ist, Priorität eingeräumt und von der Frage danach, wie lebende Körper entstehen, ob durch präexistierende Keime oder durch bildende Kräfte der Materie, getrennt. Die Untersuchung dieser Frage verlegte Haller in den experimentellen Kontext seiner embryologischen Forschungen (1755-1757). Zur Exemplifikation des teleologischen Naturbegriffs anhand des typisierten Gegensatzes Mensch-Tier aus dem Bereich der komparativen Anatomie reproduziert Haller im folgenden Textabschnitt der Buffon-Vorrede Zitatmontagen antiker Autoren wie Plinius, Lukrez und Cicero, welche die menschliche Natur mit einer Reihe von Merkmalen - Instinktverlust, Schwäche, Sinnesempfindung, körperliche Organisation, Kunstfertigkeit, Lernfähigkeit, Sprache etc. - charakterisieren; aus ihren Schriften hatten bereits die Naturrechtslehrer Pufendorf und Cumberland ihre Konzeption des Menschen rezipiert und als Beleg für die soziale Natur des Menschen angeführt: Verlieren wir bey der neuen, oder vielmehr der alten und erneuerten Meynung [sc. Buffons Epigenesistheorie], die Absichten, den Finger eines vorsehenden Gottes? Ists möglich, daß ein Lehrgebäude uns die augenscheinliche Überzeugung entreiße, daß ein Auge zum Sehen gemacht ist? Es mag nun auch das Auge aus einem Keime oder ohne Keim entstehen? Und so bald ein Auge in allen seinen Häuten, in allen seinen Feuchtigkeiten, in allen Maaßen und Verhältnissen, in der Verschiedenheit des Baues, nach der Verschiedenheit der Thiere zum sehen, zum eigenen sehen eines jeden Thieres, nach seinen besondern Umständen gemacht ist, erkennen wir denn nicht den austheilenden, den vorwissenden Willen eines Schöpfers? der dem mit Händen versehenen Menschen die natürlichen Waffen aller Thiere, und die Rüstung der Zähne versagt, ihm die bequeme Länge der Kinnbacken entzogen, und alle die Vortheile der Thiere benommen hat, die er zwar mit seinen Händen entbehren kann, die Thiere aber zu ihrer Erhaltung nicht missen können. Hat denn die Materie Absichten, und ists ihr Einfall, daß die Augenkreise eines im dichten Wasser sehenden Fisches runder, als des in der dünnern Luft sehenden Menschen seyn muß? Ist es der Klugheit der schlauen Schwere und der scharfsinnigen Federkraft zuzuschreiben, wenn dem sprechenden und lernenden Menschen der Geruch und der Geschmack stumpf gemacht worden, den Thieren aber, die aus eigener Erfahrung die heilsamen oder schädlichen Eigenschaften der Speisen lernen müssen, eben diese Sinne sammt ihren Werkzeugen, viel stärker und vollkommener verliehen worden sind? Ist es die Wahl einer der Geometrie kündigen Materie, wenn in den Fingern des Menschen das Verhältnis der Länge so getroffen ist, daß die äußersten am kürzesten, die mittelsten Finger aber, so wie der Umfang beyder Pole, am längsten sind, da sie diese Pole umschließen müssen? War es unvermeidlich, daß alle Thiere, zur Zeit, da sie gebähren, auch Milch zeugen müssen, und konnte kein anderer Bau durch den Wurf einer Materie erhalten werden, als

154

Vgl. ebd., fol. c r .

402 der, der sich so ausnehmend zur Ernährung eines neugebohrenen Thieres schicket? Wie ist es denn ungefähr gelungen, daß die Brüste in einem beständigen Verhältnisse mit der Anzahl der Jungen sind, und der Hund und das Schwein zahlreiche Brüste, die einzeln gebährende Kuh, die Ziege und das Pferd nur zwey haben? Warum hat das Thier, und nicht der Mensch, unter den vier Füßen, die es tragen sollen, schon im Mutterleibe Verhärtungen, da diese nur unter den längeren Füßen, weil nur diese ihn zu tragen gewidmet sind, eine harte Ueberhaut angeschaffen hat. Es ist also nicht eigentlich der Wachsthum oder die Art der Erzeugung der Thiere, die uns von der Gottheit überführet, sondern die deutlichen Spuren der weisen Hand des Schöpfers in der Uebereinstimmung des Baues mit seinen Absichten. 155 A n der Stelle des anatomischen Vergleichs der Hände von Mensch und A f f e in Richard Cumberlands De legibus naturae weist Barbeyracs Kommentar die antike Quelle in Ciceros De natura deorum nach: Pour ce qui est des Mains, la disposition naturelle de cet Organe du Corps Humain, considéré comme jointe aux Bras, est tout-à-fait singulière, (5) & elle les rend un instrument propre en diverses manières à ce qui regarde l'Agriculture, le Plantage, la construction des Bâtimens, des Fortifications, des Vaisseaux, & autres sortes d'Ouvrages Méchaniques. [...]. Je n'ai pas eû occasion de disséquer un Singe, pour comparer tout la structure de ses pieds de devant, qui ressemblent à nos Mains, avec la Main, le Bras, & l'Epaule d'un Cadavre Humain disséqué. Mais, sans le secours de l'Anatomie, on sait assez, que ces Animaux ne font jamais rien avec autant d'adresse, qu'il en parôit dans les Ouvrages Humains dont nous venons de parler; [...]. (5) On peut voir là-dessus un beau passage de CICERON, qui commence ainsi: Quam vero aptas, quamque multarum artium ministras Manus natura Hominibus dedit, & c. De natura Deor. Lib. II. Cap. 60.156 Überhaupt durchdringen sich in der Konzeption der Natur des Menschen, die diesen durch seine Eigenart definiert und ihn aufgrund der Organisation seiner Körperteile zur Ausbildung von Kunstmitteln und kulturellen Techniken befähigt sieht, lukrezische und stoische Elemente. Auf der Basis des teleologischen Ordnungsbegriffs der Stoiker, dessen Grundzug in der Annahme der Zweckmäßigkeit des für den Menschen geschaffenen Kosmos und der Natur besteht, reiht Cicero in den Schlußparagraphen des zweiten Buches von De nat. deor. ( 5 3 - 6 7 ) die Vorteile auf, mit denen der stoische Gott der Vorsehung und mit ihm eine providentielle Natur den Menschen zum Zweck seiner Erhaltung versorgt hat: die Körperstruktur, der aufrechte Gang, die Sinnesorgane, der Verstand, die Sprache und die Sprechorgane, die Hände. Letztere benütze der Mensch als würde er eine »zweite Natur« zu erschaffen versuchen: »[...] nostris denique manibus in rerum natura quasi alteram naturam efficere conamur« {De nat. deor., II, 60). Die Kompatibilität des stoischen Naturbegriffs mit der christlichen Lehre, deren Verschmelzung in der Patristik stattfand, führte im Newtonianismus des 17. und 18. Jahrhunderts zu der Akkomodation von natürlicher Religion und empirisch-experimenteller Naturforschung. 155

Vgl. ebd., fol. b4 v -c r . 156 Vgl. Cumberland: Traité philosophique des Loix Naturelles, Ausg. Barbeyrac, Lausanne, Genève 1744, Chap. II, § 29, S. 176f.

403 Im Newtonismus des ersten Drittels des 18. Jahrhunderts wurde der Frage nach dem Verhältnis von Gott und Natur bzw. der Modalität des innerweltlichen Wirkens Gottes auch im Rahmen naturwissenschaftlicher Abhandlungen, speziell in den Darstellungen der mechanistischen Naturphilosophie Newtons, eine zentrale Bedeutung eingeräumt. In 'sGravesandes elementa

Physices

- der wohl wichtigsten experimentell begründeten Darstellung von

Naturvorgängen nach den Gesetzen und Prinzipien der Newtonschen Physik am Beginn der 1720er Jahre - wird diese Frage an exponierter Stelle im Rahmen von vier Definitionen zu Gegenstand und Zweck der Physik abgehandelt, die der holländische Naturwissenschaftler in der Ausgabe von 1725 den Newtonschen Regulae philosophandi

unmittelbar voranstellt:

Physica circa res naturales & illarum Phaenomena versatur. DEFINITIO I. & 2. R e s n a t u r a l e s sunt omnia corpora; congeriesque illorum omnium universum vocatur. DEFINITIO 3. P h a e n o m e n a n a t u r a l i a , sunt omnes situs & omnes motus corporum naturalium, ab actione entis intelligentis immediate non pendentes, & qui a nobis sensibus observari possunt. Non excludimus ex numero Phaenomenorum naturalium motus, qui in corpore nostro ad voluntatem fiunt, pendent enim a motu musculorum, qui etiam motu alio agitantur, in hisce solus motus ex actione immediata mentis oriundus, & nobis omnino ignotus, non est Phaenomenon naturale. [...] ejusdem speciei plantae, iisdem positis circumstantiis, eodemmodo producuntur & crescunt, & sic de caeteris. In iis ipsis quae nobis omnino fortuita & incerta apparent, certas observari regulas extra omne dubium est. P h y s i c a Phaenomena naturalia explicat, id est illorum causas tradii. Cum in illas causas inquirimus, ipsum corpus in genere examinandum est, deinde quibus regulis rerum conditor omnes motus peragi voluerit. H a e regulae, v o c a n t u r leges Naturae. DEFINITIO 4. N a t u r a e lex e r g o est, Regula & norma, secundum quam Deus voluit certos motus semper, id est, in omnibus occasionibus, peragi. Est ideo nostri respectu lex naturae, omnis effectus, qui in omnibus occasionibus idem est, cujus causa nobis est ignota, & quem videmus ex nulla lege, nobis nota, fluere posse, licet ex simpliciori lege, nobis ignota, fluat. Nostri enim respectu non interest, utrum quid immediate a Dei volúnt a t e p e n d e a t , an v e r o m e d i a n t e c a u s a , c u j u s n u l l a m i d e a m h a b e m u s , producatur. Leges naturae, nisi ex examine Phaenomenorum naturalium, non possunt elici. Ope legum hac methodo detectarum Phaenomena alia explican debent. In investigatione Naturae legum, sequentes Regulae Newtonianae observandae veniunt. 157 Im R a h m e n von 'sGravesandes empirischem

Naturforschungsprogramm

können die Prinzipien des Verhältnisses Gott-Natur und der mit diesem verbundenen Naturerklärung in den folgenden Punkten verdeutlicht werden: (i) D i e der Sinneswahrnehmung gegebenen natürlichen Phänomene im Bereich 157

'sGravesande (21725), Lib. I, Pars I (de Corpore in genere), Cap. I (De Scopo Physices & Regulis philosophandi), S. lf.

404 der kontingenten Natur sind von der Wirkung (actio) eines intelligenten Wesens nicht direkt, sondern indirekt abhängig, (ii) Die Naturgesetzlichkeit bezieht sich sowohl auf die Phänomene der anorganischen als auch auf diejenigen der belebten Natur, wie ζ. B. die Bildung und das Wachstum von Pflanzen (Gattungskonstanz), (iii) Der Erklärungsbegriff bezieht sich auf die Ursachenerklärung, im Sinne des Baconschen »scire est, per causam scire«. Dabei ist ein Gesetz der Natur - aus der Innenperspektive des Systems der Natur, dem ordo inhabitants, der dem beobachtenden Menschen zukommt, eine konstante Wirkung, deren (physikalische) Ursache unbekannt ist. Dies bedeutet, daß die Wirkung nicht von einem bekannten mechanischen Gesetz abgeleitet werden kann, wenn auch die Möglichkeit der Ableitung einer Wirkung aus einem >essentielleren< mechanischen Gesetz, das aber unbekannt ist, nicht ausgeschlossen wird. Folglich führt die Forschungsmethode nicht nur von den bekannten Wirkungen zu den unbekannten Ursachen, sondern kann auch das Unbekannte zum Ausgangspunkt nehmen. Hier liegt der Ansatzpunkt für die Wiedereinführung von Hypothesen in der Naturforschung, die 'sGravesande in der Introductio ad philosophiam (1736) in seine Wissenschaftstheorie aufnehmen wird. 158 (iv) Die Definition des Naturgesetzes als Regelmäßigkeit von Wirkungen (Norm) verklammert göttlicher Voluntarismus und okkasionalistisches innerweltliches Wirken Gottes, wobei es (v) aus dem Blickpunkt des Naturforschers irrelevant ist, ob ein Naturvorgang unmittelbar vom göttlichen Willen abhängt oder ob dieser durch eine uns unbekannte vermittelnde Instanz der causae secundae der Natur hervorgebracht wird, (vi) Naturgesetze können nur aufgrund der Untersuchung natürlicher Phänomene ermittelt werden. Die Punkte (iv) und (v) erfahren im metaphysischen Teil der Introductio ad philosophiam insofern eine Präzisierung, als durch das Argument der Emanation des göttlichen Willens in der Welt, der sich auf die Sukzession der in ihr existierenden Dinge bezieht, die Annahme der göttlichen Lenkung der Naturprozesse schärfer konturiert wird. 'sGravesande spricht davon, daß sich die Willenshandlung Gottes auf jede einzelne Wirkung der causae secundae ausdehne, wobei es irrelevant sei, ob sie die Wirksamkeit der Zweitursachen (Materie, Kräfte) zum Objekt habe oder direkt die Wirkungen hervorbringe: Dieu, de toute éternité, a résolu de donner l'existence à cette succession de choses, dont nous voions une partie. De toute éternité, il a vu d'un seul coup d'oeil toute la succession; les choses qui devoient exister ensemble, & celles qui devoient se succéder, lui étoient présentes de la même manière. Il a voulu, que cette succession fût, & voilà pourquoi elle est. Cette volonté de Dieu, laquelle ne regarde pas seulement les choses générales; mais qui s'étend jusques aux moindres, & cela dans le dernier détail, n'a jamais été altérée. Les changemens, que les choses éprouvent, sont les effet, de cette volonté immuable. Et l'action de Dieu, qui produit quelque effet, ne doit point être distinguée de cette volonté même. [...] la v o l o n t é de

158

Vgl. hierzu Teil II, Kap. 3, 10 dieser Studie.

405 D i e u s ' é t e n d à t o u t , & il d é t e r m i n e j u s q u e s aux m o i n d r e s c i r c o n s t a n ces, [ . . . ] . A l'égard de la constitution de l'Univers, & autant que nous pouvons juger de la Sagesse divine, il n'importe guères, que le Maître du monde agisse immédiatement, ou par le moyen des causes secondes; dans les deux cas, les mêmes loix & le même ordre peuvent également avoir lieu. Si D i e u a d o n n é a u x C r é a t u r e s la f o r c e d ' a g i r , c ' e s t à d i r e , s'il a v o u l u agir p a r les m o y e n s d e s c a u s e s s e c o n d e s , il ne f a u t p o u r c e l a , de sa p a r t , q u ' u n seul a c t e de sa v o l o n t é ; mais cet a c t e s ' é t e n d en p a r t i c u l i e r à c h a c u n e des a c t i o n s d e s c a u s e s s e c o n d e s : de m a n i è r e q u ' i l f a u t a t t r i b u e r à c e t t e v o l o n t é l ' e f f i c a c e de ces c a u s e s , d a n s c h a q u e a c t i o n p a r t i c u l i è r e . Ainsi, par rapport à nous, il n'y a aucune différence; & le même raisonnement doit avoir lieu, tant à l'égard des choses créées, qu'à l'égard de la Sagesse divine en les créant; s o i t q u e la v o l o n t é de D i e u , d a n s c h a q u e c h o s e q u i a r r i v e , ait p o u r o b j e t l ' e f f i c a c e d e s c a u s e s s e c o n d e s , ou p r o d u i s e d i r e c t e m e n t les e f f e t s mêmes. 1 5 9 D i e Übertragung der Prinzipien des Verhältnisses Gott-Natur auf die Verbindung von res cogitans (Geist) und res extensa (Körper) und deren Erklärung aufgrund des Systems des Okkasionalismus ist für 'sGravesande vor d e m Hintergrund des A x i o m s der Naturkonstanz in theologischer Hinsicht vollk o m m e n unproblematisch: L'observation générale, que nous venons de faire, ne s'applique pas seulement aux loix physiques, mais aussi à celles par le moyen desquelles l'action des corps est transmise à l'Ame; comme aussi à celles par lesquelles l'Ame communique certains mouvemens au Corps. D'où nous concluons, que c'est sans fondement, qu'on objecte aux défenseurs des Causes occasionelles, que leur Système est injurieux à la Sagesse divine. Comme, dans ce Système, tout l'Univers est gouverné par des loix fixes, ce qu'on dit, que l'union de l'Ame & du Corps exigerait une suite continuelle de miracles, tombe aussi de soi-même. 160 Indem die Wirkung der causae secundae

der Natur, d.h. der Materie und

der Kräfte, an göttliche Willensakte zugeschrieben wird, womit die Begriffe >Natur< und >Gott< substituiert werden und deren gefährliche >spinozistische< Annäherung vermieden wird, gibt 'sGravesande eine Antwort auf ein Problem, dessen Horizont Wolfgang Proß im R a h m e n einer archäologischen Ausgrabung< eines verschütteten Sediments in der Diskussion des Naturbegriffs des 18. Jahrhunderts so erläutert: Es geht um die Frage, die Cicero im zweiten Buch der Schrift De natura deorum (II, 39), der Apostel Paulus in seiner Areopag-Rede (Apostelgeschich. XVII, 28), Ralph Cud worth in seinem True Intellectual System of the Universe (1678) und

159 vgl. 'sGravesande ('1736/1774), Livre Premier, contenant la Métaphysique, Seconde Partie (De l'Ame Humaine), Chap. XVIII (Où l'on compare ensemble les divers Sentimene sur l'Union de l'Ame & du Corps), S. 39-42, Zitat S. 40f. im Ygj ebd ; s. 41f. In Anknüpfung an die Newtonianer (u.a. an S. Clarke) zieht 'sGravesande die Konzeption des okkasionalistischen Verhältnisses von göttlichem Willen und >causae secundae< (Materie, Kraft) demjenigen der prästabilierten Harmonie von Leibniz, die als bloße Hypothese hingestellt wird, vor. Aufgrund der naturrechtlichen Konzeption des Naturgesetzes ist dieses bei 'sGravesande, anders als bei Samuel Clarke, aber unveränderbar und selbst Gott ist seiner Ansicht nach verpflichtet, sich daran zu halten.

406 schließlich Leibniz und Shaftesbury in ausführlicher Weise behandelt haben: Birgt nicht jede transzendente Idee von Gott die Gefahr, diesen Schöpfer immer weiter ins Universum hinauszuschieben, unter dem Vorwand der Anerkennung seiner Macht? Ist es nicht vielmehr notwendig, mit der Konzeption einer durch die Natur vermittelten Wirksamkeit Gottes ein Prinzip seiner beständigen Wirkung in der Welt einzuführen, ohne ein ständiges übernatürliches Eingreifen postulieren zu müssen? 161

Indem also aktive Wirksamkeitsprinzipien der Natur eingeführt wurden, deren indirekte Abhängigkeit von einem intelligenten Wesen der Konzeption der >Mittelposition< zwischen der Transzendentalisierung und dem innerweltlichen Wirken Gottes entsprach, drang im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert in den newtonianischen Naturbegriff ein Substrat der stoischen Naturphilosophie ein, 162 das gegen die im Cartesianismus und Leibnizianismus konsequent vollzogene Mechanisierung und Mathematisierung der Natur gerichtet war. Dabei ging dieser Naturbegriff mit der atomistischen Materiekonzeption eine Verbindung ein, welche die vom Atomismus implizierte Zufallstheorie neutralisieren und durch eine finalistische Deutung der Naturvorgänge ersetzen wollte. Es gilt nun in den folgenden Überlegungen die These und zugleich die Problematik der Kontinuität des stoisch-newtonianischen Naturbegriffs in den empiristischen Naturlehren des 18. Jahrhunderts zu erörtern. Von diesem Naturbegriff war auch Haller beeinflußt, speziell während seiner >epigenetischen Phase< (1744- 57), in die später sowohl der Beginn des Briefwechsels mit Charles Bonnet als auch die Begegnung mit Fortunato Bartolomeo De Felice in Bern fiel. Die auf Anregung Hallers in Bern entstandene und dort im Jahre 1757 publizierte Schrift De Felices De Newtoniana Attractione Unica Cohaerentia Naturalis Causa Dissertatio stand noch ganz im Zeichen des newtonianischen Naturbegriffs. In den speziell das Wesen der >Kraft< betreffenden Implikationen dieses Naturbegriffs, dessen Filiation mit neospinozistischem Gedankengut um 1750 in den >Wissenschaften des Lebens< vollends zum Ausdruck kam, lag vermutlich auch ein Grund, weshalb Haller 1758 die Hypothese der epigenetischen Interpretation von Malpighis Experimenten zu bebrüteten Eiern, an die er seine eigenen angeschlossen hatte, fallen ließ und sich einem Neopräformationismus auf der Linie Leibniz-Bonnet zuwandte. 163

161

162

163

Vgl. Proß (1996), S. 150. Proß' Beitrag stellt einen wissenschaftsgeschichtlichen Exkursus dar im Rahmen einer methodologischen Erörterung des Interpretationsproblems, welche die historische Rekonstruktion von Wissen zum Gegenstand hat. Vgl. Cicero: D e nat. deor., I, 2: »Sunt autem alii philosophi, [...] qui deorum mente atque ratione omnem mundum administran et regi censeant, neque vero id solum, sed etiam ab isdem hominum vitae consuli et provideri; [...].« Vgl. hierzu Teil II, Kap. 3 , 1 1 dieser Studie.

407

9. Die ontologische Theorie der >synchronen< Kontingenz als Voraussetzung des Realitätsverständnisses konjektural-induktiver Naturforschungskonzepte Mit Johannes Duns Scotus' (ca. 1266-1308) Lectura I 39, die sich mit der Frage befaßt, ob und inwiefern Gott von der kontingenten Zukunft ein Wissen (scientia) habe, erreicht die Emanzipation der christlichen Theologie von den epistemisch-kosmologischen Notwendigkeitslehren der Antike (Aristoteles/Averroes) und deren Rezeption in der mittelalterlichen Scholastik ein finales Stadium. 164 Zentrale Annahme der antiken ontologischen Theorie der Notwendigkeit ist, daß nach dem Plenum-Prinzip jede reale Möglichkeit (auch in der Zukunft) aktualisiert wird. Auf die Kontinuität der aristotelischscholastischen Notwendigkeitstheorie in Descartes' Kosmologie und deren Implikationen in der cartesischen Methodologie wurde bereits hingewiesen. 165 Aus dem antiken Modell der Realitätsstrukturierung folgt, daß sofern ein Gott angenommen ist, es für diesen unmöglich ist, ein kontingentes Wissen von der Realität zu haben. Vielmehr müßte dieser Gott ein notwendiges Wissen von notwendig geschehenden und seienden Sachverhalten in der Welt haben, da Wissen (scientia) für Aristoteles per definitionem notwendiges Wissen von notwendigen Sachverhalten ist. Der transzendente Gott Descartes' bleibt damit hinsichtlich des Geschehens in Natur und Welt prinzipiell indifferent und spielt in seinem System der Natur so gut wie keine Rolle; dabei wird Descartes' begriffliche Diskrepanz zwischen kosmologischer Determiniertheit auf der einen Seite und Abhängigkeit der Welt von Gott auf der andern in Spinozas Monismus aufgehoben und systematisch weitergedacht. Das Ergebnis ist die notwendige Präsenz der ungeschaffenen göttlichen Substanz in der geschaffenen Natur. Um festzulegen, daß Gottes Vorwissen von der zukünftigen Realität zwar unveränderlich, aber nicht-notwendig, d.h. kontingent, ist, formuliert Duns Scotus eine ontologische Theorie der >synchronen< Kontingenz, die grundlegende Prinzipien der aristotelischen Ontologie unterminiert und für die Möglichkeit der Etablierung eines christlichen Denkmodells der faktischen Realität den Raum freischafft, wobei Scotus' Kontingenztheorie die Entkoppelung von Immutabilität und Notwendigkeit sowie von Mutabilität und Kontingenz impliziert: At any moment factual reality can be different from what and how it is. In this way the principle of plenitude loses its validity only in Scotus' model of Christian thinking, for not all real possibilities are actualised. Because, as is shown by Scotus, real contingency implies that the opposite is possible for the same time, we call this contingency >synchronicKontingenz< schließt also nicht nur die logische Möglichkeit (nach dem Prinzip der Kompossibilität), sondern die Faktizität oder faktische Existenz von Dingen, Naturvorgängen, Sachverhalten etc. ein: [...] his [sc. Scotus'] approach to these synchronic alternatives starts from the factually existing world [...] contingent states of affairs belong to the factual world because contingency includes factuality. In Scotus' research for the origin of contingency we observed a similar concentration on the factual world and his inquiry proved to be a question about the factual existence of contingent beings. 169

Damit leitet dieser Punkt zu Scotus' Überlegungen zu der Ursache (causa) bzw. dem Ursprung von kontingenter Faktualität über, die er dahingehend präzisiert, daß der Wille Gottes die Ursache der Kontingenz der Welt und der sich in ihr befindenden Objekte ist: 167 168 169

Vgl. ebd., S. 27. Vgl. ebd., S. 28. Vgl. ebd., S. 31.

409 Only in so far as the aspect of /actuality is concerned, God's will is the cause of contingent things. In other words we can say briefly: the >potentia realis< of God is the cause of the factual existence of contingent beings, and is not the cause of their >possibilitas logicaneutraltrue< and >false< also include factuality. >True< does not mean being true in a possible world, but being possible and factual in the world factually existing.171 Aus den theologischen Implikationen von Scotus' Kontingenztheorie folgt, daß Gott eine frei wirkende Ursache in der Welt ist, deren Wirkung vom göttlichen Willen abhängt: [...] which hinges on God as that personal being who freely creates and loves, on creation as that contingency reality which is embedded in God's creative activity, and on man as that creature which freely responds to God's initiative.172 Im Rahmen dieser Realitätsstrukturierung avanciert für Scotus die Offenbarung zu einem indispensablen Element systematischen Denkens, womit er sich gegen die philosophischen Positionen antiker Denker stellt, die Offenbarung für überflüssig hielten: According to Aristotle and Averroes, all real potencies actualise inevitably, because otherwise they are not >potential< at all, but powerless and >impotentblind< wirken, sondern von der Aktivität des weisen Schöpfers abhängig sind, der das kreative Prinzip der materiellen und immateriellen Entitäten der Natur ist. Durch diese hält er sämtliche Naturproduktionen in den von seinem Willen festgelegten Schranken: Wenn die Materie Kräfte hat, die etwas bilden, so hat sie sie nicht auf eine blinde Weise. Sie sind mit ewigen Schranken umschlossen, und bilden immer vollkommen, nicht das mechanisch Gleiche, sondern etwas ähnliches, etwas das in einem unverletzlichen Grundrisse vorgeschrieben ist: aber mit einer Verschiedenheit, die den Zwang einer blindlings wirkenden Materie ausschließt. Ich habe schon gewiesen, daß niemals zwey Menschen, und niemals zwey Thiere in ihrem Baue einander ähnlich sind, ob sie wohl in allen Hauptteilen mit einander übereinstimmen. Wer hat der Materie des Saamens erlaubt, mehr oder weniger Gefäße zu zeugen, mehr oder weniger Nerven zu bilden, die Zweige zu verdoppeln, oder zu vermindern, aber ihr dabey monarchisch und unwidersprochen befohlen, dennoch allemal eine große Schlagader, allemal ein Herz, allemal die großen sympathischen Nerven, allemal die großen Muskeln, und alles dasjenige, was nicht nur zum Leben, sondern zu dessen Bequemlichkeit und Glücke nöthig ist, unversäumlich hervor zu bringen? Wäre die Natur nicht die Hand der erschaffenden Weisheit, so würden eben sowol in der Hauptanlage, als in den kleinen und zahlreichen Theilen des Baues Verschiedenheiten seyn, und dennoch geschieht dieses beständig, und jenes niemals. Wer macht diese Kräfte so gelehrt, so beständig im Hervorbringen der Thiere? Wann eine bloße anziehende und ausdehnende Kraft im Saamen einen Menschen oder einen Hirsch bildet; wann dieses ungefähr geschieht, warum entsteht aus dieser, nach dem Hrn. v. B.[uffon] selbst, zu allen Gestalten gleichgültigen Materie, niemals anstatt eines Menschen ein Affe, der doch mit dem Menschen so viel Ähnlichkeit hat? Wie ist es möglich, daß aus einem klebrichten Safte allemal (dann wir haben schon gesagt, daß die Thiere fast niemals unbefruchtet sich begatten) ein Thier, und allemal ein Thier von der Art wird, zu welcher seine Aeltern gehören? 175

In Hallers Verständnis der lebendigen Natur ist Immutabilität nicht mit Notwendigkeit gekoppelt, Kontingenz impliziert aber nicht absolute Mutabilität, etwa die Transformation von Gattungen. Haller beurteilt den von Buffon 175

Vgl. Haller in Buffon/Daubenton (1752), fol. c r .

411 dargelegten epigenetischen Generationsprozeß aufgrund der Theorie der >synchronen< Kontingenz, indem der Frage, warum aus der Materie des Samens oder der Kraft in ihm stets ein Tier derselben Gattung entstehe, die logische Argumentationsstruktur zugrundeliegt, nach der die Materie ρ oder -p bilden kann, der Bildungsvorgang also ein kontingenter Naturprozeß ist. Für einen kontingenten Sachverhalt ρ konzediert der Physiologe, daß -p in demselben Moment logisch möglich sein kann, ohne anzunehmen, daß ρ und -p in der Realität gleichzeitig der Fall sein können. Daher wird im Rahmen des physikotheologischen Naturbegriffs die Annahme einer Ursache außerhalb der Welt, die, in welcher Form auch immer, auf die causae secundae in der Natur kontingent wirkt, zwingend. Die Hypothese der unter der Ägide des göttlichen Willens bildenden Kräfte der Materie bleibt also im Rahmen des physikotheologischen Naturbegriffs möglich, da die Interpretation der Realitat bzw. ihre Wahrnehmung aufgrund der Theorie der >synchronen< Kontingenz entrationalisiert wird. Dies bedeutet, daß die Realität nicht unter ein apriorisch-formales Begriffsschema subsumiert und von diesem hinsichtlich von deren Beschaffenheit präjudiziert wird. Die Reformulierung des Kontingenzproblems im Spannungsfeld von Theologie, Philosophie und Naturwissenschaft zwischen Spätmittelalter, Renaissance und Aufklärung erfolgt damit insofern unter antimetaphysischen Vorzeichen, als die Trennung von göttlicher und menschlicher Erkenntnisordnung im Zuge des anthropologischen und epistemologischen Wandels, der sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts endgültig vollzieht, ja gerade als Produkt hervorgeht. Es sollte für den Menschen prinzipiell unmöglich sein, den göttlichen Plan der Welt, hinter dem sich die insondabilité des göttlichen Willens verbirgt, durch logisch-abstraktes Raisonnement zu durchschauen und die Beschaffenheit der Naturgesetze rational-deduktiv abzuleiten. Dieses Problem hatte vor allem Leibniz beunruhigt. Mit der Grundannahme, daß die existierende Welt die Beste der möglichen Welten sei, führt Leibniz ein rationales Kriterium ein, das die Kalkulierbarkeit des göttlichen Willens durch den Menschen zu restituieren beansprucht, indem der Wille Gottes vom menschlichen Wollen erneut einer Notwendigkeit unterstellt wird: [...] Leibniz [unterwirft] die absolute und daher schlechthin ungebundene Freiheit des göttlichen Willens der göttlichen Weisheit und damit einer neuen Notwendigkeit, die den göttlichen Willen einerseits, durch eine wenn auch unvorstellbar große, so doch begrenzte Zahl von Wahlmöglichkeiten einschränkt und andererseits moralisch bindet, die beste von ihnen zu wählen. Er neutralisiert damit das Problem des Aufeinanderprallens zweier freien Willen, indem er die Allmacht des göttlichen Willens neutralisiert und gleichzeitig dem Menschen garantiert, daß, solange er nur das Bestmögliche, dem er sich durch rationale Abwägung aller Möglichkeiten zumindest annähern kann, will, die kontingente Welt seinem, dem menschlichen, Wollen entsprechend verfaßt ist.176 176

Vgl. Keßler (1987), S. 46.

412 Leibnizens Rerationalisierung der Wirklichkeit unter dem Prätext, daß die Weisheit Gottes, der dessen Wille unterstellt sei, dem propositionalen Gehalt notwendiger mathematischer Gesetze folge, entsteht aber vor dem Hintergrund einer Problematik, die in dem Streit zwischen Leibniz und Samuel Clarke von 1715/16 vielleicht am deutlichsten ausgesprochen wird und die sich dort u. a. an der Frage des Verhältnisses von Gott und Welt entzündet. Hinter der von Leibniz und Clarke aufgebrachten Erkenntnisproblematik, die danach fragt, wie sich dem Menschen die Wirklichkeit der Natur darbietet und bei der Clarke Leibnizens Anwendung des Prinzips des zureichenden Grundes auf die Naturerklärung ablehnt, verbirgt sich eine profunde Divergenz hinsichtlich der Annahmen über die ontologische Beschaffenheit des Kosmos. Für Leibniz wird die Erfassung der Ordnung der Welt durch die Begriffe der menschlichen Vernunft, welche die Erkenntnis der Welt rational begründen soll, deshalb zur Notwendigkeit, weil für ihn die Alternative des göttlichen Voluntarismus, den er mit absoluter göttlicher Willkür gleichsetzt, einen Naturbegriff impliziert, der auf der Ebene der Materie mit dem System Epikurs, also dem System des absoluten Zufalls, äquivalent sei. Auf diese von Leibniz festgestellte Äquivalenzbeziehung zwischen spätmittelalterlichem voluntaristischen Gottesbegriff und atomistischer Naturerklärung hat bereits Hans Blumenberg aufmerksam gemacht: Der Höhepunkt des Disputs zwischen Leibniz und Clarke ist erreicht, wenn Leibniz die völlige Äquivalenz zwischen dem System des absoluten Willens und dem System des absoluten Zufalls, zwischen Voluntarismus und Atomismus feststellt: La volonté sans raison seroit le hazard des Epicuriens. Das atomistisch gedeutete Weltall ist beherrscht vom Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren, denn die Atome und der leere Raum sind dadurch definiert, daß sie rationale Handlungen überhaupt nicht zulassen und die Vernunft vor die Indifferenz aller Möglichkeiten stellen, so daß der Zufall zum einzigen Prinzip der Wirklichkeit wird. Der nominalistische Gott ist der überflüssige Gott, er kann durch den Zufall der von ihren parallelen Bahnen abweichenden Atome und ihrer weltenbildenden Wirbel ersetzt werden. Der Begriff eines absoluten Willens ist in sich widerspruchsvoll und daher eine chimärische Fiktion. 177

Blumenbergs Rekonstruktion der Problematik riskiert aber gerade in der Hervorhebung der Schlußfolgerungen, die Leibniz ziehe - der Zufall als Prinzip der Wirklichkeit ersetze den nominalistischen Gott - die Pointe der Clarkeschen Opposition zu verpassen, die der Newtonianer als eine Konsequenz des Leibnizschen Gottesbegriffs interpretiert. Den Ausschluß Gottes aus dem Geschehen in der natürlichen Welt und die damit assoziierten atheistischen Implikationen sind das Motiv, das bereits in Newtons früher Schrift De Gravitatione et aequipondio fluidorum gegen Descartes den Anlaß zu der Einführung des Arguments des innerweltlichen Wirkens Gottes bzw.

177

Vgl. Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, erneuerte Ausg., Frankfurt/M. 1996 (Ί966), bes. S. 163-166, Zitat S. 165.

413 der Präsenz der göttlichen Substanz in der Welt gebildet hat.178 Es wiederholt sich im Grunde derselbe Vorwurf, den Tertullian gegenüber dem »sinn178

Vgl. Isaac Newton: Über die Gravitation. Texte zu den philosophischen Grundlagen der klassischen Mechanik, Text lat.-dt., übers, und erläutert von Gernot Böhme, Frankfurt/M. 1988. Die Entstehung des Originaltextes wird von der Newton-Forschung frühestens auf die Jahre 1664-66 sowie 1670-73 und spätestens auf 1684 datiert; vgl. hierzu G. Böhmes Einleitung, S. 10. Newton definiert in dieser Schrift »spatium« als ein »aeternis et immutabilis entis effectus emanativus« (vgl. Newton (1988), S. 19; Ndr. des Originalmanuskripts), wodurch er seinen Raumbegriff von demjenigen Descartes', der Raum=Materie setzt, unterscheidet. Im Zusammenhang mit der Beschreibung der körperlich-materiellen Substanz wird Newtons Raumbegriff relevant, indem er in der Erklärung der Entstehung der materiellen Welt die Annahme für plausibel hält, daß Gott eine >geistige Kreatur< »creatura intellectualis« oder »piastick nature« als >Vermittlerin< geschaffen habe, die von der göttlichen Macht abhängig sei und durch deren Wirkung notwendig die materielle Welt hervorgegangen sei. Vorbedingung für diese Annahme, die den Einfluß der Schrift des Cambridger Neuplatonikers Ralph Cudworth: The True Intellectual System of the Universe (London 1678, Chap. Ill, 36) durchscheinen läßt, ist für Newton die Unterscheidung von Formalursache »ratio formalis corporum« vom göttlichen Willensakt »actus divina voluntatis«, auf den letztlich die Schaffung körperlicher Substanzen zurückzuführen sei: »Quinetiam si quis opinatur possibile esse ut Deus intellectualem aliquam creaturam tarn perfectam producat quae ope divini concursûs possit inferioris ordinis creaturas rursus producere, hoc adeò non derogaret divinae potestati, ut longé, ne dicam infinità majorem poneret, a quâ scilicet creatura non tantum immediaté sed mediantibus alijs creaturis elicerentur. Et sic aliqui fortasse maluerint ponere animam mundi a Deo creatam esse cui hanc legem imposuit ut spatia definita corporis proprietatibus afficiat quàm credere hoc officium a Deo immediate praestari. Neque ideò mundus diceretur anima illius creatura sed Dei solius qui crearet constituendo animam talis natura ut mundus necessario emanavat. Sed non video cur Deus ipse non immediaté spatium corporibus informat; dummodò corporum ratio formalis ab actu divina voluntatis distinguamus.« Vgl. Newton (1988), S. 24f. Cudworths Einfluß auf Newton spricht somit für eine Datierung der Schrift nach 1678 und vor 1687, also vor der Publikation der Erstausg. der Philosophiae naturalis principia mathematica (1687). Newtons Rückgriff auf Cudworths Lösung ist ferner im Hinblick auf ein korrektes Verständnis des newtonianischen Natur- und Kraftbegriffs in den empiristischen Naturforschungskonzepten des 18. Jahrhunderts von Bedeutung, wobei Newton von der Analyse des Substanzbegriffs der philosophischen Schulen des 17. Jahrhunderts ausgeht. In De Gravitatione kritisiert Newton an der Philosophie Descartes' die unklare Unterscheidung von Materie und Geist (mens), wobei das Nicht-Ausgedehntsein des Geistes bei Descartes für Newton gleichbedeutend ist, den Geist als nicht seiend zu bezeichnen. Ferner werde auch die Einheit von Körper und Geist unbegreiflich. Vgl. Newton (1988), S. 25f. Die Ausschaltung von Extremlösungen - Descartes' Substanzendualismus, der eine absolute und vollständige Trennung von Körper und Geist impliziere, sowie Spinozas Substanzenmonismus der Ethica (1670), woraus eine rigorose Parallelschaltung von geistiger und ausgedehnter Substanz resultiert, - wird für Newton deshalb erforderlich, da diese den Substanzbegriff bzw. zwischen Gott und Ausdehnung nicht unterscheiden. Newton erläutert das Problem anhand der Implikationen von Spinozas Substanzbegriff: »Aut contra si extensio in Deo sive summo ente cogitante eminenter continetur certa Idea extensionis in Idea cogitationis eminenter continebitur, et proinde distinctio Idearum non tanta erit quin ut ambe possint eidem creata substantia competere, hoc est corpora cogitari vel res cogitantes extendi.« Vgl. Newton (1988), S. 26. Weder die Unterscheidung der substantiellen Formen von den Attributen der körperlichen Substanz

414 und regungslosen Gott (immobilis et stupens deus)« des Gnostikers Marcion erhebt, dem der Kirchenvater »Epikur zum Ahnen (patriarcha) gegeben hat [...]« und von dem Blumenberg selbst spricht. 179 Im Rückgriff auf die Prinzipien der antiken phönizischen und ionisch-neupythagoräischen Naturphilosophie (Atome, Vakuum, aktive Substanzen), die sich ohne Widerspruch mit dem stoisch-patristischen Gott der Vorsehung verbinden lassen, formuliert Clarke die Vorstellung eines omnipräsenten Gottes, die sich gegen diejenige eines übernatürlich oder mirakulös< handelnden Gottes bei Leibniz wendet. Seine Position belegt der Newtonianer mit einem versteckten Bibelzitat aus der Areopag-Rede des Apostels Paulus (Act 17, 28) sowie mit der berühmten Stelle von der Erkenntnis der Substanz Gottes aus dessen Attributen aus dem Scholium generale von Newtons Principia mathematica von 1714: Many Antient GREEKS, who had their Philosophy from the Phoenicians, & whose Philosophy was corrupted by Epicurus held indeed in general MATTER & VACUUM. But they knew not how to apply those Principles by MATHEMATICKS, to the Explications of the phaenomena of Nature. How SMALL soever the QUANTITY of Matter be, God has not at all the LESS SUBJECT to exercise his WISDOM and POWER upon: For OTHER Things, as well as MATTER, are equally Subjects on which God exercises his POWER & and WISDOM. [...]. The WISDOM & FORESIGHT of God, do not consist in

bei den Aristotelikern, noch diejenige zwischen der körperlichen Substanz und der Substanz Gottes bei Descartes, die dieser zwar verbal hinsichtlich ihres Realitätsgrades, aber nicht im Begriff unterscheide, genügen Newton zufolge, um die essentielle Differenz zwischen Seele und Körper zu begreifen (vgl. ebd., S. 26f.). Die Konsequenzen, die sich aus der mangelnden Differenzierung im Substanzbegriff ergeben, sind für Newton eindeutig. Aus der Zuschreibung von Eigenschaften der göttlichen Substanz an die körperliche resultiert, daß letztere nicht mehr von ersteren abhängig, sondern als vollständig autonom zu betrachten sei, wodurch dem Atheismus der Weg gebahnt sei: »Et hinc non mirum est quod Athei nascuntur ascribentes id substantijs corporejs quod soli divina debetur. Quin imo circumspicienti nulla alia ferè occurrit Atheorum causa quàm hac notio corporum quasi habentium realitatem in se completam absolutam et indipendentem, [...]« (ebd., S. 27). Die Theorie der Welt als Produkt einer schaffenden unkörperlichen Substanz bzw. göttlichen Materie ist u. a. Gegenstand von Buch XII von Augustins Confessiones, wobei die religiöse Dimension in Augustins Hylemorphismus in der Auffassung besteht, daß das Schaffen der geistigen Kreatur bzw. >spiritalis materies< nichts anderes als ihre Umwandlung sei. Dabei ist eine der Hauptquellen von Augustins Materiedoktrin Plotins Traktat περί ΰλης: »[...] testo che, prima di discutere della materia dei corpi, mostra ampiamente [...] l'esistenza di una materia >divina< [...] che è quella delle forme intellegibili e delle sostanze incorporee [...]«. Vgl. hierzu die Einführung von Jean Pépin zu Buch XII von Augustins Confessiones, bes. Abschn. I (La rappresentazione ilemorfica). In: Sant' Agostino: Confessioni, Bd. 5, Bücher XII-XIII, hg. von Manlio Simonetti, Übers, von Gioacchino Chiarini, Kommentar von Jean Pépin u. Manlio Simonetti, Milano 1997, S. 152f. Das Substrat der Plotin-Augustinschen Theorie der Emanation der göttlichen Substanz in der Welt liegt damit Cudworths Ansatz zugrunde und beeinflußt hierdurch zusammen mit Henry Mores' Lehre von der Bewegung der Materie, die von einem >hylarchischen Prinzip< oder dem >Spiritus naturae< herrühre, auch die naturwissenschaftlichen Begriffe und Entitäten (Kraft) von Newtons Kosmologie. Vgl. hierzu auch Laßwitz (1890), Bd. 2, bes. S. 528-537. 179

Vgl. Blumenberg (1996, Ί966), S. 162£

415 providing originally REMEDIES, which shall Of THEMSELVES cure the DISORDERS of Nature. [...]. But the WISDOM & FORESIGHT of God, 1 consist [...] in contriving AT ONCE, what his POWER and GOVERNMENT is CONTINUALLY putting in actual execution. [...]. The Argument in This Paragraph, supposes, that whatever God does, is SUPERNATURAL OR MIRACULOUS; and consequently it tends to exclude all operation of God, in the governing and ordering of the NATURAL WORLD. But the Truth is: NATURAL & SUPERNATURAL are nothing at all different with regard to God, but Distinctions merely in OUR CONCEPTIONS of things. To cause the SUN (Or EARTH) to MOVE REGULARLY, is a thing we call NATURAL: But the ONE is the Effect of no greater POWER than the OTHER; nor is the ONE, with respect to GOD, more or less NATURAL OR SUPERNATURAL than the OTHER. God's being PRESENT IN OR TO THE WORLD, does not make him to be the SOUL OF THE WORLD. A SOUL, is part of a COMPOUND, whereof BODY is the Other part; & they MUTUALLY AFFECT each other, as PARTS of the SAME WHOLE. But GOD is p r e s e n t to t h e w o r l d , n o t as a PART, b u t as a GOVERNOUR; ACTING UPON ALL things, h i m s e l f ACTED UPON b y N o t h i n g , HE IS NOT FAR FROM EVERY ONE OF US; FOR IN HIM WE

(& All things)

LIVE & MOVE & HAVE OUR BEING. 180

1) Voyez mes Discours sur l'Existence de Dieu, la Vérité de la Religion naturelle, etc. Part. I, p. 106, 4 e éd. 1 ) NEWTON^ Principia, scholium generale sub finem: »Deus omnia regit, non ut Anima Mundi, sed ut universorum Dominus. Deus est vox relativa, et ad servos refertur; et Deitas est Dominatio Dei, non in corpus proprium, sed in servos. In ipso continentur et moventur universa, ses absq. mutua passione. Deus nihil patitur ex corporum motibus; illa nullam sentiunt resistentiam ex omnipraesentia Dei. Corpore omni et figura corporea prorsus destituitur; ideoq. videri non potest, nec audiri, nec tangi, nec sub specie rei alicujus substantia minime cognoscimus. Intimas corporum substantias nullo sensu, nulla actione reflexa cognoscimus, et multo minus ideam habemus substantiae Dei. Hunc cognoscimus solummodo per Proprietates suas et Attribute, et per sapientissimas et óptimas rerum structuras, et causas finales; veneramur autem et colimus ob dominium. Deus enim sine Dominio, Providentia, et Causis Finalibus, nihil aliud est quam fatum et natura.« (p. 482 de l'édition de 1714). N a c h d e r D a r l e g u n g seiner atomistischen N a t u r k o n z e p t i o n , derzufolge d i e Teilchen der M a t e r i e a u c h d u r c h »certain active principles« b e w e g t seien, sagt N e w t o n in d e n Opticks

v o n 1717, d a ß n a c h d e m diese Teilchen »in t h e

first C r e a t i o n by t h e Counsel of an intelligent A g e n t « in eine O r d n u n g geb r a c h t w o r d e n seien, es »unphilosophical« sei, »to seek f o r any o t h e r Origin of t h e World, o r to p r e t e n d t h a t it might arise o u t of a C h a o s by m e r e L a w s of N a t u r e ; t h o u g h being once f o r m ' d , it m a y c o n t i n u e by t h o s e Laws f o r m a n y Ages. [...].« 1 8 1 A b e r selbst in dieser n a c h N a t u r g e s e t z e n g e r e g e l t e n Welt schließt N e w t o n das Wirkungsprinzip der alten stoischen N a t u r p h i l o s o p h i e nicht aus: D i e O r d n u n g u n d H a r m o n i e d e r g e s a m t e n N a t u r - des Planetensystems, a b e r a u c h d e r o r g a n i s c h e n K ö r p e r , »the U n i f o r m i t y in t h e B o d y of Animals«, [...] can be the effect of nothing else than the Wisdom and Skill of a powerful everliving Agent, who being in all Places, is more able by his Will to move Bodies within his boundless uniform Sensorium, and thereby to form and reform the Parts of the leo Vg[ Séconde Réponse de Clarke (Décembre 1715). In: André Robinet (1957), bes. S. 47-50. 181 Vgl. Opticks (1718), hierzu Qu. 31, S. 376-378.

416 Universe, than we are by our Will to move the Parts of our own Bodies. And yet we are not to consider the World as the Body of God, or the several Parts thereof, as the Parts of God. He is an uniform Being, void of Organs, Member or Parts, and they are his Creatures subordinate to him, and subservient to his Will; [.. ,].182 Die Priorität des absoluten Willens Gottes und seinem innerweltlichen Wirken ermöglicht in Newtons Verständnis der Kontingenz der Welt, in der sich epikureischer Atomismus und stoischer Providentialismus verknüpfen, die Annahme der Variabilität von Naturgesetzen und, nach der alten Brunoschen Idee, diejenige der Pluralität der Welten, und zwar ohne darin einen Widerspruch zu sehen: And since Space is divisible in infinitum, and Matter is not necessarily in all places, it may be also allow'd that God is able to create Particles of Matter of several Sizes and Figures, and in several Proportions to Space, and perhaps of different Densities and Forces, and thereby to vary the Laws of Nature, and make Worlds of several sorts in several Parts of the Universe. At least, I see nothing of Contradiction in all this.183 Daß sich die kontingente Verfaßtheit der Welt und der Naturgesetze für den Menschen in ein Erkenntnisproblem transformiert, ist für Newton eine logische Konsequenz, die ihn im Anschluß an diese Textstelle der Query 31 zu der Formulierung des berühmten resolutiv-kompositiven Methodenmodells der experimentellen Naturwissenschaft führt, das er vom Hypothesenbildungsmodell der Cartesianer, das nach der mathematisch-demonstrativen Methode verfährt, absetzt: As in Mathematicks, so in Natural Philosophy, the Investigation of difficult Things by the Method of Analysis, ought ever to precede the Method of Composition. This Analysis consists in making Experiments and Observations, and in drawing general Conclusions from them by Induction, and admitting of no Objections against the Conclusions, but such as are taken from Experiments, or other certain Truths. For Hypotheses are not be regarded in experimental Philosophy. And although the arguing from Experiments and Observations by Induction be no Demonstration of general Conclusions; yet it is the best way of arguing which the Nature of Things admits of, and may be looked upon as so much the stronger, by how much the Induction is more general. And if no Exception occur from Phaenomena, the Conclusion may be pronounced generally. But if at any time afterwards any Exception shall occur from Experiments, it may then begin to be pronounced with such Exceptions as occur. By this way of Analysis we may proceed from Compounds to Ingredients, and from Motions to the Forces producing them; and in general, from Effects to their Causes, and from particular Causes to more general ones, till the Argument end in the most general. This is the Method of Analysis: And the Synthesis consists in assuming the Causes discover'd, and establish'd as Principles, and by them explaining the Phaenomena proceeding from them, and proving the Explanations.184

182

Vgl. ebd., Qu. 31, S. 379. 183 V g l e b d ^ q u 3 1 j s 379f. Zum >ketzerischen< Thema der Pluralität der Welten in Hallers Lyrik, das von den Vorsokratikern über Bruno und Galilei in die Literatur und Wissenschaft des 17. und 18. Jahrhunderts eindringt, vgl. Guthke (1977), S. 33f. 184 Vgl. Opticks (1718), Qu. 31, S. 380f.

417 Innerhalb des logischen Zusammenhangs zwischen der ontologischen Eigenschaft der Kontingenz der Welt und ihrer kontingenten Erfahrung durch den Menschen verändert sich das Erkenntnisproblem aber in dem Moment in relevanter Weise, in dem der Naturforscher den induktiven Erkenntnisprozeß selbst im Rahmen einer sinnesphysiologischen Theorie der Erkenntnis analysiert. Ein wichtiges Resultat dieser auf der Experimentalwissenschaft der Physiologie basierenden Erkenntnisanalyse ist u. a. die Wiedereinführung von Hypothesen als indispensables Instrument experimenteller Naturforschung. Dies ist als ein Zeichen dafür zu deuten, daß sich im Zuge des historischen Prozesses, der den Naturforscher zu einer entrationalisierten Realitätswahrnehmung führt, sich zugleich die Konzeption der >Natur< des Menschen gewandelt hat.

10. Sinnesphysiologie der Erkenntnis und Methodologie der empirischen Naturwissenschaften - die Rückkehr der Hypothesen im Rahmen der naturrechtlichen Konzeption der >Natur< des Menschen: 'sGravesande und Haller Die Transformation des Piagetschen Erkenntnisschemas, mit der sich gegen die Mitte des 18. Jahrhunderts zugleich die Transformation des Wahrheitsbegriffs vollzieht, äußert sich in der Methodologie der empirischen Naturwissenschaften durch die Herausbildung eines differenzierten Begriffs der Gewißheit. Der Wandel der Erkenntnisform markiert in der Veränderung der Subjekt-Objekt-Relation, also in der Bildung vestandesmäßiger Operationen, den Gegenstand, an dem sich die Mittel untersuchen lassen, mit denen nach Jean Piagets Erklärungsmodell Tatsachen, Theorien und Weltbilder erzeugt werden.185 Bei Albrecht von Haller sind diese Mittel insofern zu erkennen, als in der Erkenntnisform der objektiven Natur sich seine Auffassung von der Natur des Menschen und dessen Beziehung zu Gott manifestiert, in der auch eine Beziehung Gottes zu Welt und Mensch angenommen ist. Indem diese einzelnen Bestandteile einen systematischen Zusammenhang ergeben, konstituieren sie Hallers Weltbild im Rahmen des naturrechtlichen Denkens. Das Erkenntnisproblem ist dadurch gestellt, daß der Mensch die organische Natur nicht nach der mathematischen Erkenntnisform erfassen kann, sondern aufgrund der >natürlichen< Erkenntnismittel, die ihm Gott gegeben hat, um sich selbst in der Welt, d.h. nach dem Naturrecht in der Gesellschaft, zu erhalten. Die naturrechtliche Logik, die dem Hallerschen Wissenschaftskonzept als Substrat zugrundeliegt, ist an diesem Aspekt zu erkennen. Die naturrechtlichen Prinzipien werden besonders gegen das

185

Vgl. zu Piagets Modell Teil II, Kap. 2, 4 dieser Studie.

418 mathematisch-mechanizistische Naturmodell des omnia-fieri-mechanice-innatura-legibus-mathematicis-a-Deo-praescriptis ins Feld geführt, hinter dem sich das Problem der Zuständigkeit Gottes in der Welt verbirgt. Durch die Notwendigkeitsbeziehung, die Leibniz zwischen Gott, Welt, d. h. ihrem rationalen Ordnungszusammenhang, und der vernunftmäßigen Erkenntnis dieser Ordnung durch den Menschen eingeführt hat, verliert Gott für seine Schöpfung und den Menschen jede Zuständigkeit und dies mit wichtigen Konsequenzen für den Naturbegriff, weil der Dualismus der cartesianisch-leibnizianischen Erkenntnistheorie eine materialistische Konzeption der Natur geradezu befördert. Der theoretische Zugang zur Natur setzt nicht nur voraus, daß der Mensch dasjenige, was er von der Natur erkennt, notwendig erkennen muß, sondern auch daß dasjenige, was in der Natur geschieht, aus notwendigen Gründen geschehen muß. Dieser Naturauffassung setzt Haller mit der imbecillitas humana eine anthropologische Kategorie als eine Grundvoraussetzung der menschlichen Natur entgegen, die in Anlehnung an Plinius und Lukrez in die Pufendorfsche Naturrechtslehre aufgenommen worden ist 186 und bei Haller konsequent in eine sensualistisch-sinnesphysiologische Analyse der menschlichen Erkenntnis mündet, die darauf abzielt, das rationalistische Erkenntnispostulat zu demontieren: Dasjenige, was der Mensch von der physischen Welt durch seine Sinnesorgane wahrnimmt und erkennt, entspricht nicht der rationalen Ordnung, welche die menschliche Vernunft in der Wirklichkeit anzutreffen beansprucht. Die Alogizität des Subjekt-Objektbezugs, die eine konstitutive Bedingung des Wahrheits- bzw. Gewißheitsbegriff in der Sphäre der physischen Welt darstellt, hat Haller in der zweiten Auflage der Primae lineae physiologiae also im zeitlichen Umfeld der Hypothesenschrift - auf der Basis einer nervenphysiologischen Drucktheorie wie folgt beschrieben: Omnibus [sc. sensus] nunc commune est, quod ab objectis externis percussa medulla teneri pulposique nervi, aliquam mutationem per spiritus nerveos, ad earn cerebri sedem perferat, in qua primum nervi percussi fibrae ex arteriis cerebri oriuntur. Nihil ultra scitur, nisi nasci in anima cogitationem novam, quam modo perceptionem vocant, quando ad animam cogitantem refertur, modo ideam, quando ad objectum, unde oritur. Ea nascitur, quotiescunque hujusmodi mutatio, in quocunque sensorio nata, ad primam ejus originem perfertur. Nam ea cogitatio non est expressa imago objecti, a quo nervus sentiens adfectus est. Nihil idea coloris rubri commune habet cum radio parum refrangibili, [.. ,]. 187 Allen Sinnesempfindungen [sensus] ist nun gemeinsam, daß nachdem von äußeren Objekten auf das Mark der zarten und pulpösen Nerven einen Druck ausgeübt worden ist, durch einen >spiritus nerveum< in demjenigen Sitz des Gehirns eine Veränderung verursacht wird, in dem die Fibern der gedrückten Nerven aus den

186 187

Vgl. hierzu Teil II, Kap. 3, 2 dieser Studie. Vgl. Η aller ( 2 1751), Cap. XIX (Sensus interni), § 544, S. 347f. (Meine dt. Übersetzung).

419 Arterien des Gehirns ihren Anfang nehmen. 188 Man weiß nichts mehr, außer daß in der Seele ein neuer Gedanke entsteht, welcher einerseits Perzeption genannt wird, wenn er auf die denkende Seele bezogen wird, andererseits Idee, wenn er auf das Objekt bezogen wird, durch das er entstanden ist. Dieser Gedanke entsteht jedesmal wenn eine derartige Veränderung, von welchem Sinnesorgan sie auch immer verursacht worden ist, an ihrem ersten Ursprungsort [im Gehirnmark] zustande gekommen ist. In diesem Gedanken ist nämlich nicht das Bild des Objekts ausgedrückt, von dem der sensible Nerv affiziert worden ist. Die Idee der Farbe rot hat mit dem wenig gebrochenen Lichtstrahl nichts gemeinsam [...].

Die Auflösung des dualistischen Erkenntnisschemas des mathematischmechanizistischen Weltbildes in eine Psychophysiologie der Erkenntnis, die auf einer zeichenhaften Verbindung von Körper und Geist basiert, verändert den Subjekt-Objekt-Bezug dahingehend, daß zwischen der Perzeption der Welt und den physischen Objekten, welche die Perzeption verursacht haben, keine materielle Gemeinsamkeit mehr besteht. Die durch das sinnesphysiologische Substrat der Erkenntnis bedingte >Deformation< des äußeren Gegenstandes, dessen sekundäre Qualitäten der Mensch perzipiert, führt Haller dazu, in den Elementa physiologiae corporis humani eine logische Unterscheidung im Objektbegriff vorzunehmen, nach der menschliche Erkenntnis von der Affizierung des Sinnesorgans bis zur Ideenbildung im Verstand als Prozeß begriffen wird: Diversae ergo res sunt, I. objecta externa, cum suis veris adtributis: 2. eorum in sensuum organa impressiones: 3. harum impressionum in cerebrum translatum effectue corporeus: 4. hujus effectus in mente repraesentatio. 189

Damit erfolgt für den Menschen die Perzeption von Natur und Welt aufgrund homogener Bedingungen ein und desselben Systems. Der Mensch erkennt die physische Welt aufgrund von Ideen, welche die Objekte selbst in ihrer Berührung mit den sensiblen Teilen seines Organismus verursachen, indem sie den psychophysiologischen Erkenntnisprozeß in Gang setzen. Die menschliche Natur ist damit ein hochkomplex organisiertes Lebewesen, das die objektive Natur zu erkennen befähigt ist. Giambattista Vico hat in der imbecillitas humana den Grund gesehen, weshalb dem Menschen die Er-

188

189

Haller lokalisiert den Sitz der Sinneswahrnehmung im fibrösen Mark des Gehirns: »[...] sensuum ergo impressiones per elementum fluidum adveniunt ad eam sedem, qua menti repraesententur. Ea est in cerebri, & cerebelli medulla. Ea medulla fibrosa est [...].« Vgl. Haller: Elementa physiologiae, Bd. V (1762), L. XVII, Sect. I, § II, S. 531. Im selben Bereich vermutet Haller bereits in den Primae lineae physiologiae den Sitz der Seele sowie den Ursprung der Muskelbewegung, die vom Willen gesteuert ist, wobei dies für ihn grundsätzlich nur Gegenstand wahrscheinlicher Aussagen sein kann; vgl. Haller (21751), § 383, S. 235f.: »Superest, ut ea sit sedes animae, in qua primum nervus incipit.« Vgl. Haller: Elementa physiologiae, Bd. V (1762), L. XVII, Sect. I (Intellects), § IV, S. 534. Haller widmet die ganze erste Sektion der detaillierten Darstellung der Sinneswahrnehmungs- und Verstandesfunktionen bis hin zur abstrakten Begriffsund Zeichenbildung im Gehirn bzw. in der Seele des Menschen.

420 kenntnis der ganzen Wahrheit weder gestattet noch versagt sei, sondern auf einige ihrer Teile eingeschränkt werde. 190 Haller, der in einem ähnlichen Zusammenhang wie Vico und auf demselben naturrechtlichen Substrat den Begriff der imbecillitas verwendet, führt dieses anthropologische Faktum auf die sinnesphysiologisch-anatomische Struktur des menschlichen Erkenntnisapparates zurück. Dabei wird die Geltung und die Gewißheit menschlicher Erkenntnis in der Sphäre der physischen Welt aber weder von Haller noch von Vico infragegestellt. Die Gewißheit der Erkenntnis bedarf bei Haller jedoch zusätzlich eines theologischen Fundaments, der die nicht-widersprüchliche Verbindung von erklärender empirischer Naturwissenschaft und natürlicher Religion im Naturrechtsdenken verdeutlicht. Das Wahre, sagt Haller in den Primae lineae physiologiae, ist durch ein ewiges Gesetz des Schöpfers unverbrüchlich gemacht, so daß der psychophysiologische Erkenntnisprozeß, der im menschlichen Verstand zu Perzeption bzw. zur Produktion von neuen Ideen führt, geregelt ist: Verum aeternam lege CREATORIS sanctum est, ut cum certis mutationibus in nervis primo, deinde in communi sensorio natis, definitae novaeque cogitationes in anima nascantur, [...].

Die empirische Basis und damit auch das Evidenzkriterium für die Annahme eines »festen Bandes« (constante vinculo), der beim Menschen Sinneswahrnehmung mit Perzeptidn verknüpft und zu gültiger Erkenntnis führt, bildet die Sphäre der historischen Welt des Menschen selbst. Dort gewinnt Haller die Überzeugung von der Übereinstimmung (consensus) des erklärten Erkenntnisprozesses bei allen Menschen, unabhängig von der Zeit, in der sie leben bzw. gelebt haben, wobei er im Hinblick auf die menschliche Gattung dafür einen universalen Geltungsanspruch erhebt: [...] constante vinculo, ut etiam si arbitrarium sit, quod de mundo percipimus, falsum tarnen non esse ex consensu adpareat similium perpetuo cogitationum, ad similes nervorum sentientium adfectiones, in omnibus hominibus eodem tempore, & in eodem diversis temporibus natis.191

Die Natur des Menschen ist, was den sinnesphysiologisch basierten Erkenntnisprozeß anbelangt - und dies ist die naturgeschichtlich-wissenschaftliche Seite des zentralen Themas der >moralischen< Natur des Menschen in Hallers Dichtung 192 - überall und zu jederzeit stets dieselbe. Die dualistische Annahme, daß sich der menschliche Verstand - Haller verwendet im selben Textabschnitt mens, aber auch anima - nicht auf den Körper, d. h. auf eine Bewegung im Gehirnmark, reduzieren läßt, resultiert für Haller aus der Heterogenität von perzipierter Idee (der Farbe) und dem materiellen Gegen190

191 192

Vgl. Vico (1710), (Conclusio), S. 191: »[...] humana imbecillitale [...], quae homini ñeque omnia vera permittat, ñeque omnia neget, sed aliqua; [...].« Vgl. Haller (21751), Cap. XIX (Sensus interni), § 544, beide Zitate S. 348t Vgl. hierzu Guthke (1977), S. 35.

421 stand der Wahrnehmung im Gehirn (Lichtstrahl) am Ende des Erkenntnisprozesses.193 Dabei zieht Haller in Anschluß an Boerhaave und George Berkeley 194 den wahrscheinlichen Schluß, daß der Mensch, wenn er die Dinge außer sich wahrnimmt, nicht die (notwendige) Ordnung der Welt erkennt: Et iterum probabile sit, [...] arbitrarium ornile esse, quod DEUS nobis de mundo permisit percipere, non necessarium. Potuit aliter color ruber in oculo pingi: aliam in cerebro impressionem tacere, aliam in animo ideam excitare. 195

Die kontingente Erfahrung der Wirklichkeit durch den Menschen schreibt Haller einer Intention Gottes zu, die nur von dessen Willen abhängig sein kann. Leibniz hatte in der Monadologie eine Differenzierung vorgenommen, in der er den Bereich der Kontingenz dem göttlichen Willen, den Bereich der notwendigen Wahrheiten aber der göttlichen Vernunft unterstellte.196 Die in den Essais de Theodizee formulierte Beste-der-Möglichen-Welten-Theorie führt Leibniz zu der Annahme, daß die Wirklichkeit der Natur nach rationalen Prinzipien geordnet und also mit mathematischen Begriffen zu erfassen sei, woraus aber nicht nur die Unabhängigkeit der rational-begrifflichen Erkenntnis der natürlichen Welt vom göttlichen Willen, sondern die Unabhängigkeit der Welt vom Willen Gottes folgt. In Nicholas Reschers Explizierung der Kriterien des Leibnizschen Systembegriffs verdeutlicht sich daher die Notwendigkeitslogik, die dem dualistischen Schema der scholastisch-cartesianischen Erkenntnistheorie zugrundeliegt und der Leibniz verpflichtet bleibt. Das Rationalitätspostulat ist eine ontologische Eigenschaft der objek-

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Vgl. Haller: Elementa physiologiae, Bd. V (1762), L. XVII, Sect. I (Intellectio), § IV, S. 535: »Mens ergo aliud quid est a corpore. Corpus si foret, & tarnen apperciperet, apperciperet utique motum in medulla cerebri, qui solus est in corpore: nunc non eum, sed colorem percipit, qui in cerebrum non imprimitur.« Die Heterogenität von äußerem Objekt, das die Ursache des Nervenreizes ist, und Perzeption desselben im Verstand bzw. diejenige von Perzeption und perzipiertem Objekt hat bereits 'sGravesande in seinen Überlegungen zum Gesichtssinn festgehalten: vgl. 'sGravesande: Physices elementa (31742), Lib. V, Cap. X (De Visu. Ubi de Oculi constructione), S. 796f£ Eine italienische Übersetzung von Berkeleys Schrift zur Wahrnehmungspsychologie: Essay on a New Theory of Vision (1709) wird in dem Haller bekannten Genfer Periodikum Bibliothèque Italique ausführlich rezensiert und kommentiert: Vgl. Saggio d'una Nuova Teoria sopra la visione del Sig. Giorgio Berkeley, ed un discorso preliminare al trattato della Cognizione dello stesso Autore. Tradotti dall' Inglese, Venezia 1732. In: Bibliothèque Italique, Tome XIII (1732), S. 182 -227. Vgl. Haller: Elementa physiologiae, Bd. V (1762), L. XVII, Sect. I (Intellectio), § IV, S. 534. Vgl. Leibniz: Monadologie (1714), § 46. In: Die Philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, hg. von C. J. Gerhardt, Bd. VI, [Berlin 1885], Hildesheim, New York 1978, S. 614: »Cependant il ne faut point s'imaginer, avec quelquesuns, que les Vérités éternelles, étant dépendentes de Dieu, sont arbitraires et dépendentes de sa volonté, [...]. Cela n'est véritable que des vérités contingentes dont le principe est la convenance ou le choix du meilleur, ou bien que les vérités nécessaires uniquement de son entendement et en sont l'objet interne.«

422 tiven Welt, die der menschliche Intellekt zu deduzieren in der Lage ist, wobei Leibnizens Realitätsstrukturierung nach dem Prinzip des zureichenden Grundes im Rahmen einer rationalistisch-mechanizistischen Anthropologie erfolgt: This question goes to the very center of Leibniz's »rationalism«. A very straight forward line of reasoning is at issue: 1. The real is a rational order that can, accordingly, only be properly understood on the basis of rational principles. 2. Rational principles are inherently systematic; by their very nature as rational they have the character of coherent system. The real can only be properly understood in terms of an appropriate system of rational principles.197 Das Prinzip der Unabhängigkeit der mathematischen Wahrheiten vom göttlichen Willen hat Leibniz auch in einem 1709 gegen Pufendorfs Voluntarismus in De Officio Hominis et Civis veröffentlichten Brief geltend gemacht. 1 9 8 In der Antrittsvorlesung vom 22. Juni 1717 anläßlich seiner Ernennung zum Professor für Mathematik und Astronomie in Leiden spricht 'sGravesande im Discours sur l'Utilité des Mathématiques dieses Prinzip deutlich aus: Dans les Mathématiques nous disons que les choses sont vraies, quand nous voions clairement qu'elles ne sauroient être de l'Univers; cette vérité ne dépend point de la constitution présente de l'Univers; elle ne dépend point de la volonté du Créateur, dont nous ne diminuons pas la Puissance en soutenant qu'elle ne s'étend pas à des choses qui se détruisent les unes les autres, & qui ne pourraient subsister ensemble. Il est aussi impossible qu'il existe un triangle rectiligne qui n'ait pas ses trois angles égaux à deux droits, qu'il est impossible qu'il en existe un qui n'ait pas trois angles.199 197

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199

Vgl. Ν. Rescher: Leibniz an the Concept of a System. In: Studia Leibnitiana, 13/2 (1981), S. 114-122, Zitat S. 118. Leibniz' Brief zirkulierte in Holland und wird 1717 im Appendix von Pufendorfs Schrift abgedruckt; vgl. in der Barbeyracschen Ausg. und Übers, von Les devoirs de l'Homme et du Citoyen, Amsterdam 1723, den folgenden Passus aus dem Leibnizschen Brief: »La justice suit certaines règles d'égalité & de proportion, qui ne sont pas moins fondées dans la nature immuable des choses, & dans les idées de l'Entendement Divin, que les principes de l'Arithmétique & et la Géométrie. On ne peut donc pas plus soûtenir que la Justice ou la Bonté dépendent de la Volonté Divine, qu'on ne peut dire que la Vérité en dépend aussi; paradoxe inoui; qui est échappé à Descartes; comme si la raison pourquoi un triangle a trois côtez, ou pourquoi deux choses contradictoires sont incompatibles ou enfin pourquoi Dieu lui-même existe, c'étoit parce que Dieu l'a ainsi voulu!« Zit. nach Gori (1972), S. 200, der diese Textstelle aus der Pufendorf-Ausg. von Barbeyrac, London 1740 (S. 466) entnimmt. Gori zeigt außerdem die Relevanz dieses Briefes für 'sGravesandes Schrift Discours sur l'Utilité des Mathématiques (1717), in der es um das Verhältnis von Gott, Natur und Mathematik geht. Vgl. 'sGravesande: Discours sur l'Utilité des Mathématiques dans toutes les Sciences, & particulièrement dans la Physique; & sur les Secours que fournit la Physique pour perfectionner l'Astronomie (1717). In: Œuvres Philosophiques et Mathématiques de Mr. G. J. 'sGravesande, Seconde Partie, (1774), S. 311-328, Zitat S. 317. Der Inhalt des Discours dürfte Haller in Leiden aus den Vorlesungen bei 'sGravesande bekannt gewesen sein.

423 In der Evidenzschrift von 1724 gründet 'sGravesande mit der Trennung von mathematischer und moralischer Evidenz die menschliche Erkenntnis der physischen Welt aufgrund von Sinnlichkeit und Analogie auf naturrechtlichen Theoremen und führt - Pufendorf folgend - den theologischen Voluntarismus als metaphysische Annahme in sein methodologisches Denken ein. Haller ergänzt seinerseits den methodologischen Begriff der moralischen Evidenz in bezug auf die Sinneswahrnehmung um ein neurophysiologisches Substrat. Indem er eine notwendige Erkenntnis der Welt durch den Menschen ausschließt und diesem aufgrund seiner anatomisch-physiologischen Konstitution einzig eine arbiträr-kontingente und zeichenbasierte Erkenntnisform zugesteht, rückt er implizit die Erkenntnis der belebten Natur und der materiellen Prozesse in ihr in den Bereich der Kontingenz und damit zugleich in die Abhängigkeit des Willens Gottes. Die gegen die Mitte des 18. Jahrhunderts auftretenden Ansätze der theoretischen Reflexion über die Bedingungen und Möglichkeiten empirisch basierter wissenschaftlicher Erkenntnis sind somit im Horizont dieser anthropologischen und epistemologischen Problematik zu verstehen. Es galt nun für die Wissenschaftstheorie empirisch-experimenteller Wissenschaften, Bedingungen und Eigenschaften einer Theorie der Wahrscheinlichkeit und der Hypothesen anzugeben, die sich vom cartesianischen Modell des deduktiv-nomologischen Schließens absetzte. Die Methodik des cartesianischen Wissenschaftsmodells - die logisch-deduktive Ableitung von Naturphänomenen aufgrund mathematischer Gesetzeshypothesen - setzt voraus, daß Naturgesetze deterministisch sind. Indem die empirisch-mathematische Naturwissenschaft Newtons diese Naturgesetzeskonzeption grundsätzlich in Frage stellte und das cartesische Hypothesenmodell ablehnte, veränderten sich die Bedingungen der Reflexion über die Hypothesen, für die wiederum der empiristische Ansatz Newtons in den Opticks von 1717 verantwortlich war. Es folgte die Auslagerung der Hypothesen aus ihrem Bedeutungsraum in dem abstrakten Denkmodell des mos geometricus der rationalistischen Systeme der Naturphilosophie des 17. Jahrhunderts und deren Verlagerung in denjenigen der Entdeckungsmethodik praktisch-empirischer Naturforschung, wie sie seit Robert Boyle unlängst existierte. 200 Auf der Basis der Kontingenz200 Ygi Richard S. Westfall: Unpublished Boyle Papers Relating to Scientific Method. - I. II. In: Annals of Science, 12 (1956), S. 6 3 - 7 3 u. 103-117, bes. S. 69ff.: »The practising scientist revealed himself more fully when Boyle related reason to experimentation. >That one of the usefulles Imployements of Reason in Natural Philosophy is to devise apposite Experiments, and contrive the wayes of making them, and of Examining wheter they be well made.< In assigning the creative role of designing >apposite< experiments to the scientist, the proposition assumes that the scientist is much more than a cataloguer recording observations. Boyle's third paper, The Requisites of a Good Hypothesis, explores more deeply the role of reason in guiding experimentation. An attempt to define the role of hypotheses in

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theorie der (physikalischen) Wirklichkeit, die einen nicht-deterministischen Naturgesetzesbegriff voraussetzt, operiert naturwissenschaftliches Denken nunmehr auf der Basis empirischer Antezedens-Beschreibungen (Teleskope, Mikroskope, menschlicher Körper). Die empirischen Daten nicht-mathematisierbarer Naturgegenstände oder Prozesse (z.B. diejenigen der Wissenschaften des LebensMeßinstruments< des menschlichen Körpers (Augen, Hände etc.), wobei das Schließen, das von einer sinnlichen Basis ausgeht, auch ungenau oder falsch sein kann. Die Form des Schließens aus Erfahrungsdaten ist daher nicht mehr rein logisch-deduktiv und folgt auch nicht der mathematischen Evidenz. Die Deduktion von der Erfahrung wird zu einem komplexen psychophysiologisch basierten Erkenntnisprozeß und gesichertes Wissen über einen Objektbereich erlangt der Naturforscher nur durch eine messende experimentelle Praxis, von der er dann eventuell auf Gesetze in den Prozessen der Natur schließen kann. In der Hypothesenschrift von 1750 begründet Haller die Maßnahme der Verwendung von Hypothesen mit der Feststellung, daß die Naturlehre ihre Objekte und Phänomene nicht mit der Gewißheit mathematischer Begriffe erklären könne, da eine Wissenschaft, in der die Elemente der Materie, die Kräfte und deren Eigenschaften meist unbekannt seien, folglich auch über keine gesicherten Grundbegriffe verfügen könne, die deduktives Schließen erlauben würden. Das Erkenntnisproblem ist daher konstitutiv mit der methodologischen Maßnahme des Konstituierens von hypothetischen oder wahrscheinlichen Begriffen und Ursachenerklärungen gekoppelt. Das Konstituieren hat aber aus dem Gegebenen zu erfolgen. Der Mathematiker und Wissenschaftsphilosoph Hans Hahn, dessen bedeutende Rolle im Wiener Kreis heute angemessen gewürdigt wird, erörtert aus seinem empiristischen und antidualistischen Standpunkt heraus das Problem des Konstituierens im Verhältnis zu Logik, Empirie und physischer Objektwelt wie folgt:

scientific investigation, the paper is more explicit about the function of hypotheses than any of Boyle's published works.«

425 Die Notwendigkeit des Konstituierens zeigt schon, daß beim Prozesse unserer Erkenntnis zum Gegebenen noch eine Verarbeitung dieses Gegebenen hinzutritt. Dies gibt uns Gelegenheit, betreffs der Stellung der Logik eine Auffassung zu skizzieren, die in unserm Kreise eingehend diskutiert wird. Infolge dieser Auffassung ist Logik nicht etwas, das sich im Gegebenen, oder sagen wir: in der Welt findet; Logik ist nicht, wie geglaubt wurde, die Lehre von den allgemeinsten Eigenschaften der Gegenstände, die Lehre von den Gegenständen überhaupt; vielmehr entsteht Logik erst durch Verarbeitung des Gegebenen, erst dadurch, daß das erkennende Subjekt dem Gegebenen gegenübertritt, sich ein Bild davon zu machen sucht, eine Symbolik einführt: Logik ist daran geknüpft, daß etwas über die Welt gesagt wird. Diese Symbolik ist nun aber nicht eine umkehrbar eindeutige, isomorphe Abbildung eine solche Symbolik hätte nur sehr geringes Interesse, und bei Einführung einer solchen Symbolik würde auch keine Logik entstehen. Die Logik entsteht gerade dadurch, daß das Abzubildende und seine Bilder, die Symbole, verschiedene Strukturen aufweisen. Ein ganz einfaches Beispiel hierfür liefert schon die Negation: in der Symbolik gibt es zu jeder Aussage ρ die Negation -p, in der Welt kommt aber von den beiden entsprechenden Sachverhalten nur einer vor; ist dies etwa der ρ entsprechende Sachverhalt, so können wir ihn auf zwei Arten ausdrücken: durch Behaupten von p, durch Verneinen von -p. [...]. Aus dem Umstände nun, daß die verwendete Symbolik es gestattet, dasselbe verschieden zu sagen, und daß sie es gestattet, dadurch daß man etwas sagt, etwas anderes mitzusagen, entsteht die Logik. Sie ist eine Anweisung, wie man aus etwas Gesagtem ein anderes Mitgesagtes herausholen kann. Dies ist es, was wir als den tautologischen Charakter der Logik bezeichnen wollen. Und der Anlaß dafür, eine Symbolik einzuführen, deren Struktur von der des Abzubildenden abweicht, eine Symbolik, die es gestattet, dasselbe verschieden zu sagen, liegt darin, daß wir nicht allwissend sind, daß wir die Sachverhalte, die die Welt bilden, nur sehr fragmentarisch kennen. Dies sieht man wieder deutlich am Beispiel der Negation: es bestünde keinerlei Anlaß, eine Negation einzuführen, wenn wir jeden einzelnen Sachverhalt der Welt kennen würden. Ein allwissendes Subjekt braucht keine Logik, und im Gegensatze zu Plato können wir sagen: Niemals treibt Gott Mathematik. 201 Von einem nicht Mathematik treibenden Gott gehen im 18. Jahrhundert auch 'sGravesande und Haller aus, die zudem die Erfordernis, in die empirische Naturerkenntnis logisch-artifizielle Instrumentarien (u.a. sogenannte >Mittelbegriffehohe< oder >große< Wahrscheinlichkeit. Die Bestimmung des Grades der Persuasion bzw. des Grades der Wahrscheinlichkeit bedeutet somit, den Grad der Übereinstimmung von Idee und Sache im menschlichen Verstand zu analysieren. Seine Wahrscheinlichkeitstheorie weist daher die folgenden Eigenschaften auf: 205 206

Vgl. hierzu Teil II, Kap. 3, 11 dieser Studie. Vgl. hierzu Teil II, Kap. 2, 5 u. Teil II, Kap. 3, 2 dieser Studie.

429 De la Probabilité. Nous avons vu, qu'il y avoit une différence totale entre l'Evidence mathématique, & l'Evidence morale. La première est la marque de la Vérité, par elle-même [...]; & la seconde, par la volonté de Dieu [...], c'est à dire, par l'institution. Comme l'une & l'autre Evidence est appuiée sur un fondement solide, la persuasion qui suit l'Evidence morale est aussi entière, que celle qui est fondée sur l'Evidence mathématique: par où il paroit, que cette persuasion est différente de la Certitude, qu'on appelle vulgairement morale; & par laquelle on entend une grande Probabilité. La Probabilité tient un milieu entre l'ignorance, & la science, à laquelle il ne manque rien, c'est à dire, qui doit produire une persuasion absolue. [...]. Lorsqu'il est question d'acquérir la connoissance des choses, qui sont hors de nous, le concours de plusieurs circonstances est presque toujours nécessaire; si, pendant qu'une partie des circonstances s'y trouve, le reste manque, la persuasion touchant la convenance entre l'idée & la chose, à laquelle on la rapporte, est imparfaite. Ainsi, il peut y avoir différents dégrés dans cette persuasion; & ce sont ces dégrés, que nous appelions dégrés de Probabilité, qu'il s'agit d'examiner à present. S'il se trouve dans un sujet quelque chose, que nous concevons devoir s'y trouver, nous nommerons cela un Evénement; parce qu'en considérant la chose en ellemême, elle auroit pu être autrement: [...]. Tout ce qui peut contribuer à former une preuve, mais qui seul n'en forme pourtant pas une, fournit un certain dégré de Probabilité. [...]. On peut voir, par ce que nous venons de dire, q u e la P r o b a b i l i t é ne r e g a r d e pas les c h o s e s m ê m e , mais la c o n n a i s s a n c e q u e n o u s en a v o n s ; & qu'on peut la considérer comme une quantité, qui va en croissant, depuis le plus petit dégré de connoissance, jusques à la persuasion entière. C ' e s t p o u r c e t t e r a i s o n , q u e n o u s c o n c e v o n s la C e r t i t u d e c o m m e un t o u t , d i v i s i b l e en a u t a n t d e p a r t i e s q u ' o n v o u d r a ; & q u e , p o u r d é t e r m i n e r la P r o b a b i l i t é , n o u s d e v o n s a s s i g n e r la r a i s o n q u ' i l y a e n t r e ce t o u t & la p a r t i e , qui e x p r i m e ce qui n o u s est connue. 2 0 7 [...]. O n a p p e l l e Vraisemblance la P r o b a b i l i t é , qui s u r p a s s e la d e m i - c e r t i t u d e . Dans l'usage ordinaire, on appelle probable ce qui a de la Vraisemblance. 207

Hallers Charakterisierung der Wahrscheinlichkeit ist aus 'sGravesandes Text wörtlich übernommen, wobei der Physiologe bei der Verwendung wahrscheinlicher Aussagen durch den Naturforscher auf die erforderlichen Kautelen aufmerksam macht: »Eine j e d e Wahrscheinlichkeit hat einen Theil der einzelnen Wahrheit e n , d i e e i n e n a l l g e m e i n e n Satz mit n o c h a n d e r n a u s m a c h e n , die u n s n o c h m a n g e l n . Wir e r s e h e n also g e n a u , a u s d e m , war wir h a b e n , d a s j e n i g e was wir e r m a n g e l n , u n d f i n d e n e i n V e r z e i c h n i s von d e n j e n i g e n E r f a h r u n g e n u n d B e m e r k n i s s e n vor u n s , die u n s e r e W a h r s c h e i n l i c h k e i t z u r G e w i ß h e i t m a c h e n w ü r d e n , w e n n wir sie b e s ä ß e n . [...]. Alsdann wird niemand sich über die angenommenen und unerweislichen Lehrsätze beklagen können, wann wir der Wahrheit ihren unendlichen Vorzug lassen, und das Wahrscheinliche nur um den Preis ansetzen, das es an sich selber hat. Niemand wird betrogen werden, wann wir zwar mit dem Wahrscheinlichen die Lücken des Wahren ergänzen, wenn wir aus demselben über den Abgrund der Unwissenheit Brücken bauen, aber dabey warnen, daß sie nur bis auf einen gewissen Grad zuverläßig sind. Wir können annehmen, was wir wollen, wenn wir den Leser bey dem Angenommenen aufrichtig erinnern, unsere wahrscheinliche Meynung sey von der Wahrheit noch sehr, oder noch ziemlich oder nur wenig entfernet, wann wir gestehen, es fehle uns zur Ueberzeugung diese noch ungemachte Erfahrung, jenes Maaß, oder der Bau von diesem noch nicht bestimmten Theile.« Vgl. Haller in Buffon/Daubenton (1750) S. XVIII-XX. Vgl. auch Haller: Vom Nutzen der Hypothesen. In: Haller (1787), Teil 2, S. 111-116.

430 C'est pourquoi, il ne faut point confondre ce qui est probable avec ce qui a seulement quelque Probabilité. La demi-certitude forme le Doute proprement dit, & peut être envisagée comme une espèce d'équilibre. Les dégres de Vraisemblance croissent, depuis le Doute jusqu'à la Certitude. On appelle incertain ce dont la Probabilité est moindre que la demi-certitude, & il est manifeste, qu'il doit aussi y avoir ici différents dégrés. La preuve de la Possibilité de ce que nous examinons, appartient à la matière de la Probabilité. Car la première chose, qu'il nous importe de déterminer, par rapport à tout ce que nous souhaitons de connoître, est de savoir si cela est possible. Ainsi, la simple Possibilité forme le premier dégré de la Probabilité; mais le moindre de tous, & plus petit que tout dégré assignable. Voilà pourquoi, dans la pratique, la simple connoissance de la Probabilité est confondue avec l'ignorance; quoiqu'à proprement parler, la Possibilité diffère de la parfaite ignorance, pour laquelle la Possibilité même est incertaine. [...]. On déduit quelquefois la Probabilité de la considération de la chose même; & quelquefois de la Probabilité de l'argument, sur lequel l'assertion est fondée. Dans l'un & l'autre cas, on se sert des mêmes règles, pour déterminer la Probabilité; qui est ou simple, ou composée.208 Mit den Begriffen >GewißheitUngewißheit< sind drei Kriterien der Gradation von Erkenntnis erwähnt, mit denen Haller seine Aussagen in der Physiologie wissenschaftstheoretisch regelt. Den Terminus >probabilisniederen< Erkenntnisvermögen der Einbildungskraft (imaginatio) oder Phantasie (phantasia) bezogen; diese Vermögen der Psyche als einem Reservoir der sinnlichen Eindrücke im menschlichen Verstand werden vom Intellekt bzw. Willen als >höhere< Seelenvermögen (ratio) unterschieden. Aufgrund der Überlieferung der aristotelischen Seelendoktrin in den De animaKommentaren und Affektenlehren der Renaissance und deren Übernahme in den Poetiken des 16. Jahrhunderts avancierte die imaginatio bzw. fictio in der poetologischen Diskussion des frühen 18. Jahrhunderts gleichzeitig zu einer ästhetischen Kategorie, welche die sensualistische Kunsttheorie auf die Empfindung (Gefühl) bezieht, die beim Betrachter eines Kunstwerkes ausgelöst wird. 211 In der Naturforschung wird der Gebrauch des Hilfsmittels der Hypothesen allgemein als eine deduktive Methode verstanden zur Erfindung bzw. Vorstellung von Ursachen (= fiktionale Ursachenerklärungen) und zur Ableitung von Sachverhalten und Umständen. Hypothesen dienen bei 'sGravesande aber auch als Hilfe zur Rekonstruktion von Handlungsmotivationen oder werden (im Hinblick auf Texte oder Menschen) in hermeneutischer Verwendung einer autorintentionalen Interpretationskonzeption zugrundegelegt. Die Tatsache, daß der Basisbegriff (Prämisse), der den Denkprozeß in Gang setzt und leitet, fiktiv bzw. hypothetisch ist, bedeutet aber nicht, daß das Resultat des Denkprozesses (Konklusion) auch in jedem Fall hypothetisch ist und daher auch immer nur eine wahrscheinliche Erkenntnis hervorbringen kann. Das heißt, daß ein hypothetischer Gedankengang zu gewisser Erkenntnis führen kann und insofern haben Hypothesen (bei 'sGravesande und Haller) einen Nutzen in der Naturforschung. Darin liegt ein wesentlicher Unterschied zum Hypothesenverständnis in der cartesianisch-leibnizianischen Wissenschaftskonzeption, in der die dualistische Annahme gilt, daß von den Phänomenen in der physischen Welt (Kontingenz) prinzipiell nur eine wahrscheinliche Erkenntnis möglich ist, während >wahre< bzw. >gewisse< Erkenntnis allein im Rahmen mathematischer (oder metaphysischer) Theorien erreicht werden kann. Eine empiristische Wissenschaftstheorie stützt daher die Methode der Hypothesen auf den folgenden Prinzipien und Regeln: De L'Usage des Hypothèses. Il arrive souvent, lors que nous examinons un sujet, que nous ne trouvons pas de route, qui nous mène directement à la certitude. En ce cas, il faut chercher la probabilité; à la quelle même souvent nous ne saurions parvenir, sans avoir recours aux 211

Vgl. zur Einbildungskraft im sinnesphysiologischen Kontext bei Haller die Hinweise in Teil II, Kap. 2, 4, S. 278, Anm. 94.

432 Hypothèses, qui nous conduisent quelquefois à une probabilité, que nous pouvons confondre avec la certitude. Je vais marquer, comment il faut se conduire dans de pareilles occasions, afin qu'on ne confonde pas l'usage des Hypothèses avec leur abus. Nous entendons par Hypothèse une fiction, par le moyen de laquelle on répond à une question proposée. Il faut raisonner sur cette fiction, tout comme si c'étoit la vérité même; & diriger nos raisonnemens de manière, que nous en tirions occasion de connoitre, si la solution, que nous avons inventée est vraye; car nous ne devons l'adopter, comme conforme à la vérité, que quand nous avons lieu de nous convaincre de cette conformité. Cette manière de raisonner peut être de grande utilité; mais les Hommes en abusent étrangement la plupart du tems. PREMIERE REGLE.

Il faut examiner exactement le sujet sur lequel roule la question; & il est nécessaire même d'en avoir une connoissance assez étendue. L a M é t h o d e , d o n t il s ' a g i t , est d ' u s a g e , q u a n d n o u s c h e r c h o n s la c a u s e d e ce q u e n o u s d é c o u v r o n s d a n s u n s u j e t , q u i ne n o u s est p a s p l e i n e m e n t c o n n u . Ces cas sont très fréquents en Physique, & ont lieu aussi quand on recherche les motifs qui ont poussé quelqu'un à agir, ou quand on veut pénétrer dans ses desseins. T o u t ce q u e n o u s d é c o u v r o n s , p a r le m o y e n d e q u e l q u e H y p o t h è s e , n ' e s t q u e p r o b a b l e ; & la grandeur de la probabilité dépend du nombre des circonstances qui peuvent être connues; ce qui fait, qu'à moins qu'on n'en connoisse plusieurs, la probabilité ne saurait être fort grande; & il en faut un nombre considérable, pour qu'il ne reste aucun doute. SECONDE REGLE.

Il faut choisir parmi les circonstances, c'est à dire, parmi les particularités que nous connaissons, touchant le sujet que nous examinons, celles qui ont quelque chose de plus remarquable que les autres. Ce choix se fait, pour examiner d'abord ce qui paroit le plus important. TROISIEME REGLE.

Entre ces circonstances principales, il en faut choisir une, & chercher, ou plutôt imaginer, par quels moyens il pourroit se faire que cette particularité eut lieu. C'est à dire, il faut chercher quelque cause, dont on puisse déduire cette particularité qu'on examine. Et si l'on peut trouver plusieurs causes, qui satisfassent au même but, il faudra les marquer toutes. QUATRIEME REGLE.

Il faut examiner si, parmi ces causes, il n'y en a pas quelqu'une, dont les autres circonstances, mises à part suivant la seconde Règle, soient une suite; s'il s'en trouve une telle, c'est à elle qu'il faudra s'attacher: elle forme l'Hypothèse, qu'il faut examiner. [...]. Il arrive souvent, qu'entre les causes, dont nous avons entrepris l'examen, il ne s'en trouve aucune, qui rende raison des autres particularités, qui ont été mises à part; en ce cas, il faut chercher autres causes, & même successivement toutes celles que chaque particularité qu'on a remarquée peut fournir, jusqu'à ce qu'on en trouve une, qui satisfasse à toutes les circonstances qu'on a choisies d'abord. Cette même sagacité, qu'il faut pour découvrir des idées moyennes, est aussi nécessaire ici; quoiqu'un heureux hazard vienne quelquefois nous offrir ce que nous cherchons. CINQUIEME REGLE.

On examine une Hypothèse, en l'appliquant à toutes les autres particularités qu'on a observée; afin de savoir si elle est propre à rendre raison de toutes les particularités connues.

433 Si après cette application faite, il se trouve que l'Hypothèse ne satisfait pas à tout, il faut la rejetter. Que si elle satisfait, c'est du nombre des circonstances, dont elle rend raison, que doit dépendre le jugement que nous en porterons. Si le nombre en est petit, il y aura lieu de soupçonner, qu'il peut y avoir une autre Hypothèse, qui explique également bien les phénomènes; mais, à mesure que ce nombre devient plus considérable, le soupçon diminue; il peut enfin s'évanouir. C'est alors, qu'il faut acquiescer; que nous devons tenir pour bien prouvé, ce qui n'était auparavant qu'une simple conjecture, destituée de preuves. SIXIEME REGLE.

Il faut examiner l'Hypothèse même, en déduire des conséquences; afin de découvrir de nouveau phénomènes; & voir ensuite, si ces phénomènes ont réellement lieu. [...]. Quand le nombre des phénomènes ne sauroit être assez augmenté, même par le secours de la dernière Règle, pour ôter tout sujet de doute, il faut regarder l'Hypothèse comme incertaine, ou vraisemblable, suivant que la probabilité en est plus ou moins grande; ce qui dépend de la nature & du nombre des phénomènes, qu'on explique. N o u s a v o n s vu, q u ' u n r a i s o n n e m e n t h y p o t h é t i q u e p e u t c o n d u i r e à la c e r t i t u d e , 2 1 2 & que ceux qui p r é t e n d e n t , q u e de p a r e i l s r a i s o n n e m e n s ne s o n t j a m a i s q u e p r o b a b l e s , se t r o m p e n t c e r t a i n e m e n t . Mais ceux-là se trompent encore davantage, qui donnent le nom d'Hypothèse à un raisonnement, déduit immédiatement de l'observation des phénomènes, & qui ne l'envisagent que comme probable. C'est dans cette erreur que tombent ceux qui, en parlant de l'explication que Newton a donnée des mouvemens célestes, donnent à cette explication le nom d'Hypothèse Newtonienne; quoique ce grand Homme n'ait rien posé, qui ne fût déduit mathématiquement des observations mêmes; & cela, sans avoir eu recours à la moindre Hypothèse. [...].*»

Das für den Bereich des Denkens geltende Prinzip der Ergänzung einer nur undeutlich erkennbaren Ideenrelation (liaison) durch Mittelbegriffe (idées moyennes), die Verhältnisse zwischen Ideen oder Begriffen und damit einen eventuellen begrifflichen Erkenntniszuwachs erst zu erfassen ermöglichen, wird hiermit auf die konjektural-induktive Methode der Hypothesen über-

212

213

Vgl. Haller in Buffon/Daubenton (1750), S. XIV-XVII: »Doch ich k o m m e zu d e m w a h r e n N u t z e n der H y p o t h e s e n , sie sind zwar noch die W a h r h e i t n i c h t , a b e r sie f ü h r e n d a z u , [...]. Doch die Hypothesen haben noch einen ernsthafteren Nutzen, [...]. Sie w e r f e n n ä m l i c h F r a g e n auf, d e r e n B e a n t w o r t u n g von der E r f a h r u n g g e f o r d e r t wird, und die o h n e e i n e H y p o t h e s e uns nicht e i n g e f a l l e n w ä r e n , e i n e W i r k u n g , die i h r e n u n s ä g l i chen V o r t h e i l in den W i s s e n s c h a f t e n h a t . Die wenigsten Menschen hätten Scharfsicht genug, von sich selber sich Fragen vorzuschreiben, und einzusehen, auf was vor einer Seite ein Vorwurf am nützlichsten anzusehen wäre. Aber ein System, oder die Zerstörung desselben, wirft eine unzählbare Menge von solchen Fragen auf, die wir der Natur vorlegen, und die sie öfters beantwortet.« Vgl. auch Haller: Vom Nutzen der Hypothesen. In: Haller (1787), Teil 2, S. 105-111. 'sGravesande: Introduction à la Philosophie (11736/1774), Livre Second Contenant la Logique. Troisième Partie (De la Méthode), Chap. XXXIV (De L'Usage des Hypothèses), S. 135-138.

434 tragen, in der empirische und logisch-deduktive Denkelemente im menschlichen Verstand zu einem allgemeinen Begriff verknüpft werden. 214 Dabei hängt (nach der 4. Regel der Hypothesenmethode) die Güte bzw. Erklärungskraft einer Hypothese von der Anzahl aller derjenigen Umstände und Besonderheiten eines Sachverhalts ab, welche die angenommene Ursache mitzuerklären in der Lage ist bzw. sich als eine Folge derselben ergeben und die beim imaginativen Akt der Auswahl der Ursache eines besonderen hauptsächlichen Umstands (nach der 2. Regel) unberücksichtigt geblieben waren bzw. ausgeschaltet wurden. Eine Hypothese ist damit umso wahrscheinlicher, je mehr sie solche Umstände und Besonderheiten eines Sachverhalts integrieren kann und je mehr Umstände und neue Phänomene von ihr abgeleitet werden können, die in der Realität dann auch stattfinden (nach der 6. Regel). Die Deduktion von der Erfahrung bzw. von beobachteten Phänomenen und deren Erfassung aufgrund einer mathematischen Theorie, mit der die naturwissenschaftliche Erkenntnismethode Newtons beschrieben wird, bezeichnet 'sGravesande nicht als Methode der Hypothesen. 215 Im Hinblick auf die Beurteilung des Evidenzgrades von Hypothesen ist ein Aspekt in der Definition von Wahrscheinlichkeit von grundlegender Bedeutung: Wahrscheinlichkeit im Sinne von probabilité bezieht sich immer auf die Erkenntnis einer Sache, nicht auf die Sache selbst. Eine Aussage über einen Sachverhalt, in der das wissenschaftstheoretische Prädikat >wahrscheinlich< vorkommt, bezieht sich somit auf die Inhalte der Erkenntnis (Ideen, Begriffe, Vorstellungen, Sätze), die z.B. ein Forscher von den Dingen in der physischen Welt (ζ. B. Materie, Kräfte) hat, wobei dies nicht heißt, daß der Inhalt der Erkenntnis den Gegenständen und Entitäten der physischen Welt selbst notwendig als Eigenschaft zukommt oder einem realen Sachver214

Vgl. zum Terminus >Mittelbegriff< Francis Bacon: Novum Organum, Instauratio magna; Bacon ordnet den Begriff dem Bereich der Aussagenlogik zu - die syllogistische Denkmethode der Dialektik - , wo dieser logische Denkoperationen ermöglicht, für die mathematische Gewißheit beansprucht wird: »Tametsi enim nemini dubium esse possit quin, quae in medio termino conveniunt, ea et inter se convenient (quod est mathematicae cujusdam certitudinis) [...]«. In kritischer Absetzung vom abstrakten Begriffsdenken (Naturabstraktion), dessen Fundament im Wortzeichen unsichere bzw. uneindeutige Schlüsse zur Folge habe, führt Bacon die logische Form der Induktion ins Feld, die »experientiam solvat et separat, et per exclusiones ac rejectiones debitas necessario concludat«. Die Fehlbarkeit der Sinnesdaten führt Bacon aber zu der Überzeugung, daß nur auf dem Weg über die experimentelle Praxis, Urteile über die physischen Dinge der Natur gebildet werden können: »Itaque perceptioni sensus immediate ac propriae non multum tribuimus: sed eo rem deducimus, ut sensus tantum de experimento, experimento de re judicet.« Vgl. Bacon: Neues Organon, lat.-dt., hg. u. eingel. von W. Krohn, Bd. 1, Hamburg 1990, hierzu S. 4 0 - 4 9 , Zitate S. 42, 44 u. 48. Anders als im Baconschen Ansatz wird im hypothesengeleiteten Experimentalismus 'sGravesandes und Hallers, die darin an Robert Boyle und Newton anschließen, das reflexive Moment in der empirischen Forschungsmethode wieder aufgewertet.

215

Vgl. hierzu die Diskussion in Teil I, Kap. 2, 3.2 dieser Studie.

435 halt entspricht. Eine Hypothese ergänzt im allgemeinen Begriff oder Satz einen Erkenntnismangel des Forschers. Eine wahrscheinliche Hypothese besagt, daß die Erkenntnis einer Ursache, die bestimmte Phänomene hervorbringen soll, den Evidenzgrad einer demi-certitude bereits überschritten hat und bedeutet, daß die Hypothese bzw. eine angenommene Ursache (z.B. eine Kraft) bereits eine hohe Anzahl von Phänomenen in der Natur zu erklären in der Lage ist. Anhand dreier zentraler Stellen in den Ausführungen 'sGravesandes soll dieser Punkt noch einmal verdeutlicht werden: (i) On peut voir, par ce que nous venons de dire, que la Probabilité ne regarde pas les choses même, mais la connaissance que nous en avons; & qu'on peut la considérer comme une quantité, qui va en croissant, depuis le plus petit dégré de connoissance, jusques à la persuasion entière. (ii) On appelle Vraisemblance la Probabilité, qui surpasse la demi-certitude. Dans l'usage ordinaire, on appelle probable ce qui a de la Vraisemblance. C'est pourquoi, il ne faut point confondre ce qui est probable avec ce qui a seulement quelque Probabilité. (iii) Il faut examiner l'Hypothèse même, en déduire des conséquences, afin de découvrir de nouveau phénomènes; & voir ensuite, si ces phénomènes ont réellement lieu. Quand le nombre des phénomènes ne sauroit être assez augmenté, même par le secours de la dernière Règle, pour ôter tout sujet de doute, il faut regarder l'Hypothèse comme incertaine, ou vraisemblable, suivant que la probabilité en est plus ou moins grande; ce qui dépend de la nature & du nombre des phénomènes, qu'on explique. Nous avons vu, qu'un raisonnement hypothétique peut conduire à la certitude; & que ceux qui prétendent, que de pareils raisonnemens ne sont jamais que probables, se trompent certainement.

Hallers Wahrscheinlichkeits- und Hypothesenbegriff, die ihn bei der Beurteilung von Aussagen in naturwissenschaftlichen Kontexten leiteten, ist also im Horizont der wissenschaftstheoretischen Überlegungen seines ehemaligen Lehrers 'sGravesande zu verstehen. U m 1750 konsolidiert sich unter den Naturforschern unterschiedlichster methodologisch-konzeptueller Grundeinstellungen generell die Vorstellung von der Einheit der Natur. Dabei besteht ein Problem u. a. darin, den Übergang von der unbelebten (anorganischen) zu der belebten (organischen) Materie sowie die Prinzipien ihrer Organisation zu verstehen. Dabei werden wissenschaftliche Fragestellungen nicht vollkommen von theologischen abgekoppelt und obwohl letztere in unmittelbaren Forschungsbelangen in den Hintergrund gedrängt scheinen bzw. zu den metaphysischen Annahmen eines Forschers gehören, können sie in Abhängigkeit von der Problemlage aktiviert werden oder auch nicht. In diesem Zusammenhang ist nun auch Hallers 2. Buffon-Vorrede zu beurteilen. Entscheidend ist dabei, daß Haller in der Vorrede Sätze eines generationstheoretischen Systems in Relation zu einem Einheitsmodell der Natur untersucht und sich nicht darüber äußert, wie in der Natur etwas wirklich geschieht. So gesehen ist Haller vielleicht nie ein Epigenetiker gewesen; er hat vielmehr vor 1758 in Fragen der Entste-

436 hung und Bildung von Lebewesen eine größere Offenheit gegenüber den neoepigenetischen Erklärungsmodellen gezeigt und sich als Forscher vorgenommen, diese aus einer wissenschaftstheoretisch reflektierten Position heraus >vorurteilslos< auf der experimentellen Ebene zu überprüfen. Wolfgang Proß hat Hallers Verhältnis zu Buffons Position in der Vorrede zum zweiten Band der Histoire naturelle im Kontext einer wissenschaftsgeschichtlichen Situation untersucht, in der die Idee der Einheit der Natur bei Forschern wie Buffon selbst und später Charles Bonnet eine zentrale Rolle spielte. Im Rahmen dieser Idee wird »[d]as Grundmodell der Schöpfung und ihres Naturprozesses [...] unter diesem Gesichtspunkt einer zunehmenden Komplexität der Lebewesen konzipiert, bei der die Übergänge zwischen den Ordnungsklassen fliessend werden«. Denn: Diese Einheit betrifft nicht nur das ΉβΓ- und Pflanzenreich, sondern auch den Übergang zwischen der belebten und der scheinbar unbelebten Materie, also bis hinunter zu den Mineralien. Festzuhalten bleibt damit, daß die Konzeption des Naturganzen eine Eigenständigkeit entwickelt, die sie von aller theologischen Bevormundung zu lösen droht. Schon Buffon hatte sich mit dem Vorwurf der Sorbonne zu beschäftigen, daß seine Theorie der Erde und der Entstehung der Lebewesen ihn in Konflikte mit der Offenbarung bringe, und Albrecht von Haller hat die Histoire naturelle in der bemerkenswerten Einleitung, die er dem zweiten Band des Werkes voranstellte, gegen einen solchen Vorwurf in Schutz genommen. Gerade die Reduktion der in der Natur wirkenden Kräfte auf wenige Prinzipien, und die Übertragung der beiden Newtonschen Grundkräfte auf die Sphäre des Lebendigen durch Buffon und John Needham sind für ihn theologisch vollkommen unbedenklich, da die Übereinstimmung der ganzen Natur< mit sich selbst sowohl einen hohen wissenschaftlichen Plausibilitätsgrad wie einen letztlich theologischen Aspekt im Schluß auf den Urheber dieser Gesetze mit sich führt. 216

Die Idee der Reduktion der in der Natur wirkenden Prinzipien folgt dabei einer Logik der Naturerklärung, die im Newtonianismus der Frühaufklärung verbreitet ist und sich auch bei De Feiice wiederfindet. In seiner Schrift De Newtoniana Attractione Unica Cohaerentia Naturalis Causa sind die Wirkungsprinzipien nur noch auf eine Grundkraft reduziert und zwar die Newtonsche Attraktionskraft. Diese bezeichnet De Feiice als ein allgemeines Naturprinzip (causa naturalis), das auch im Bereich des Lebendigen wirke. Der wissenschaftliche Plausibilitätsgrad dieser Annahme kann nun im Lichte des oben dargestellten wissenschaftstheoretischen Analyse- und Denkinstrumentariums des Naturforschers begrifflich präzise erfaßt werden. Die Reduktion der in der Natur wirkenden Kräfte auf eine minimale Anzahl >essentieller< bzw. >einfacher< Prinzipien (oder Gesetze), durch welche die Materie befähigt wäre, sich autonom zu bilden, beurteilt Haller somit als eine Hypothese, der er einen hohen Wahrscheinlichkeitsgrad zuschreibt:

216

Vgl. Proß: >Natur< und >Geschichte< in Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Nachwort zu J. G. Herder: Werke, Bd. III/l, hg. von W. Proß, München, Wien 2002, S. 953 u. 954.

437 Es wäre ein Zeichen einer unverantwortlichen Verachtung gegen den Leser, wenn ich ihn belehren wollte, daß des Hrn. v. B.[uffons] Meynung zwar in Ansehung des von allen Theilen des Thieres abfließenden Saamens eine Aehnlichkeit mit der uralten Lehre des Hippokrates, aber in Ansehung des Satzes einer allgemeinen gebildeten und bildbaren Materie, die gleichgültig ist, ein Mensch, ein Thier, oder ein Kraut zu werden, wieder etwas besonders hat, und von der durchgängig angenommenen Lehre von der Entwickelung [sc. die Lehre von der >Evolution< bzw. >PräformationPräexistenz< von Keimen, S.DeA.] sich sehr weit entfernet. Ihre erste Wahrscheinlichkeit [!] erhält diese Lehre allerdings von der Uebereinstimmung der ganzen Natur. Die weit herrschenden Gesetze der Schwere, der anziehenden Kraft und des federhaften Triebes scheinen bey der Natur eine große Geneigtheit zu beweisen, viele Körper mit gleichen Kräften zu versehen, und viele Wirkungen mit gleichen Gesetzen zu bewerkstelligen. Es scheint eine Spur eines unendlichen Verstandes in dieser Kunst zu liegen, so verschiedene, so widersprechende, und so zusammengesetzte Wirkungen durch einerlei Mittel zuwege zu bringen, und man findet in dieser sparsamen Weisheit einen Beweis der alles beherrschenden Weisheit, die vermuthlich in allen Thaten die kürzesten Mittel ergreift, und niemals zwey Gesetze brauchen wird, wo ein einziges zureicht. [...]. Von den Salzen zu den artigen und blühenden Schneeflocken, zu den Dianabäumen, dem gewachsenen Erzte, und den Federbüschen des Eises, geht eine beständige Kette von Bildungen fort, die ohne weitere Kunst durch eine anhängende Kraft bewirket werden. Sollte es von da bis zur Conserva so weit seyn, die bald kurz und bald lang, bald knoticht und bald glatt sich aus einem grünen Schaume nach der mehrern oder wenigem Bewegung des Wassers unter unsern Augen bildet? Und ist diese allereinfachste Pflanze nicht dem Schwammgeschlechte, und vermittelst dessen dem ganzen Gewächsreiche verwandt? Auf der lebenden Seite sollte es so weit seyn, wenn man von den obenbenannten keimlosen Bildungen zu den einfachsten Thieren übergeht, die in allen ihren Theilen ein ähnlicher und gleichförmiger Gallert sind, und die entweder in dem Schaume des faulenden Wassers in allerley rundlichten Gestalten entstehen, oder unter der Schere des Naturkundigers sich aus einem bloßen klebrichten Leim ergänzen, in welchen sie in kurzer Zeit wieder zerfließen? Wo höret die Macht der allgemeinen Gesetze auf? Wo ist die Gränze, diesseits deren sie bilden, und jenseits nicht mehr bilden können? [...]. Ich finde in der ganzen Natur die Kraft nicht, die die einzelnen Theile, die Millionen von Millionen Adern, Nerven, Fasern und Knochen eines Körpers nach einem ewigen Grundrisse zusammenzufügen weise genug wäre. [...]. Der Hr. v. B. hat hier eine Kraft nöthig, die suchet, die ausliest, die einen Zweck hat, die wider alle die Gesetze der blinden Zusammenfügung (combinatio) allemal und unfehlbar einen gleichen Wurf wirft. [...]. Die Macht, die Menschen bilden kann, ist auch ganze Erden zu bauen fähig, und die ewigen nothwendigen Kräfte der Natur reichen ohne Schöpfer zu, die Ordnung und die Schönheit der Welt zu erklären. [...]. Es scheint zwar viel zu freygebig von uns zu seyn, wann wir dem Freygeiste einräumen, die Materie werde durch gewisse Kräfte gebildet und gebauet, die ihr beywohnen, und die Needham auf eine anziehende und ausdehnende Kraft eingeschränkt hat. Und dennoch bin ich, auch bey dem noch weit entfernten Beweise dieser bildenden Kräfte geruhig. [...]. Wir sehen augenscheinlich, daß gewisse allgemeine Kräfte die Salze, die Crystalle, die Erzte binden, wo kein Saame und kein Keim vermuthet werden kann. Die Bewegung der himmlischen Körper wird durch zwey Kräfte, zwey den needhamschen sehr ähnliche Kräfte beherrschet. Und was folget hieraus wieder, das Daseyn eines Schöpfers? 217 217

Vgl. Haller in Buffon/Daubenton (1752), fol. a3 v -a4 v . Für eine detaillierte Analyse

438 Naturwissenschaftliche Hypothesen zeichnen sich bei 'sGravesande und Haller definitionsgemäß u. a. dadurch aus, daß sich ihr methodologischer Status erst dann entscheidend verändert, wenn die Ursache (hier ζ. B. die bildenden Kräfte der Materie), mit der hypothetisch ein Sachverhalt erklärt wird, experimentell bewiesen werden kann. Solange dies nicht geschieht, bleiben Hypothesen ein theoretisches Konstrukt des menschlichen Verstandes, dessen Verwendung in naturwissenschaftlichen Belangen Haller zufolge legitim und nützlich ist. Es ist sicher auch aufgrund dieser wissenschaftstheoretisch genau reflektierten Position, daß die Autonomie der bildenden Kräfte der Materie um 1752 Hallers Theologie nicht im mindesten zu beunruhigen vermögen. In der Forderung nach experimentellen Beweisen als eine conditio sine qua non naturwissenschaftlich gesicherter Erkenntnis schließt sich Haller Newton an, der von seiner Ätherhypothese als eine mechanische Ursache der Schwere folgendes festhält: »And to shew that I do not take Gravity for an essential Property of Bodies, I have added one Question concerning its Cause, chusing to propose it by way of a Question, because I am not yet satisfied about it for want of Experiments.« 218 Auch Newton hatte von der These der Inhärenz der Kraft in der Materie eine materialistisch-atheistische Lektüre seiner Principia mathematica zu befürchten. John Toland beispielsweise, der Verfasser der neospinozistischen Schrift Pantheisticon (1720) und der Letters to Serena,219 hatte die natürliche Kausalität der mechanischen Prinzipien des Newtonschen Weltsystems - Materie, Körper, Kraft und Bewegung - , bei der Gott im Grunde keine Rolle spielt, in diesem Sinne gedeutet.

218

219

der Hallerschen Lektüre der Position Buffons vgl. auch Monti (1990), S. 124-133. Monti erfaßt aber in der sonst sehr sorgfältigen Rekonstruktion der von Haller gestellten Problematik der bildenden Kräfte der (organischen) Materie die zentrale Bedeutung von Hypothese und Wahrscheinlichkeit in der Argumentation Hallers begrifflich nicht präzise genug. Vgl. Newtons Advertisement II vom 16. Juli 1717. In: Opticks (1718). Vgl. zu Newtons Ätherhypothese die Ausführungen in Teil I, Kap. 3, 3.4 dieser Studie. Vgl. bes. den 5. Brief: Motion essential to Matter; in Answer to some Remarks by a noble Friend on the Confutation of Spinoza; vgl. hierzu oben Teil I, Kap. 1, 2.2, S. 53, Anm. 23. Zu dem im Newtonianismus des frühen 18. Jahrhunderts bereits existierenden Antagonismus von Materialismus und natürlicher Religion vgl. Ferrone (1982), Kap. III (Cattolici illuminati e teologia naturale newtoniana), S. 1 7 1 233, bes. S. 218. U m 1750 rekonstituiert sich somit im Bereich der »Wissenschaften des Lebens< mit den bildenden Kräften der Materie ein ähnliches Problem.

439

11. Generationstheorien und die Krise des newtonianischen Naturbegriffs in den >Wissenschaften des Lebens< um 1750 die >neospinozistischen< Implikationen der Epigenese und deren Aufgabe durch Haller als Folge der problematischen Konsequenzen für den >moralischen< Menschen und sein Verhältnis zu Religion, Staat und Gesellschaft Im selben Jahr, in dem sich Haller in Göttingen den Experimenten zu der Irritabilität zuwandte, konstatierte er in seiner Rezension von Charles Bonnets Traité d'Insectologie (1745) im Rahmen eines wissenschaftsgeschichtlichen Überblicks von der Antike bis ins frühe 18. Jahrhundert einen sich abzeichnenden Wandel in der Methode der Naturerkenntnis. Diese bestehe nicht mehr in einer Theorie von der Natur, die eine Kopfgeburt des Menschen sei, sondern in dem Verfolgen ihrer Produktionen, in der Beobachtung der Schritte und der Methode der Natur selbst: La Nature a été stérile pour les Hommes pendant plusieurs Siècles. Il est vrai que c'est leur faute: elle n'a jamais discontinué de faire des miracles, mais ils lui refusoient leurs yeux. Bornés à la lecture, ou à une espèce de méditation qui les éloignoit encore plus de la Nature, ils ne connoissoient le Monde, que par ce que leurs prédécesseurs en avait écrit. Ce Monde n'étoit pas la production de Dieu, c'étoit celle d'une théorie imaginaire, ou d'une lecture sans discernement. Il est à craindre qu'une nouvelle maladie de l'esprit de l'Homme ne nous y replonge. La Superstition d'un côté, une Scholastique un peu fardée de l'autre, nous menacent d'une seconde suite de siècles ténébreux, où l'autorité & la chicane reprendront leur empire sur les connoissances humaines. Mais enfin ce malheur est éloigné encore pour plusieurs Nations. On s'est apliqué plus que jamais à connoitre la Nature par elle même, à la suivre dans ses productions, à en observer les pas & les méthodes. Elle en a récompensé avec magnificence ceux qui se sont adressés à elle. Les Newtons, les Swammerdams, les Vallisniéris, les Réaumurs, les Trembleys, y ont trouvé assez de découvertes, pour rendre leur nom aussi durable que les Sciences mêmes, & il y a assez de fonds pour immortaliser cent Physiciens courageux, qui voudroient marcher sur leurs traces. Les Hommes, qui ne connoissoient la Nature que par quelques productions peu nombreuses, ont été séduits par une induction incomplète. Ils ont cru saisir les Loix générales de la Nature, & ils ne tenoient que celles de quelques Espèces. Voilà ce qui les étonne, ils sont surpris de s'être trompés, eux qui se croient si éclairés.220 Die Entdeckung der Gesetze der Parthenogenese von Polypen und Blattläusen durch Abraham Trembley und Charles Bonnet erwies experimentell, daß in der belebten Natur bei der Zeugung von Lebewesen nicht, wie zuvor ange-

220

Vgl. Hallers Rezension von: Bonnet: Traité d'Insectologie, ou Observations sur les Pucerons, par Mr. Charles Bonnet de la Société Royale de Londres, & Correspondant de l'Académie Royale des Sciences de Paris. Prémière Partie. Paris, chez Durand 1745, [...]. Seconde Partie, ou Observations sur quelques Espèces de Vers d'Eau Douce, qui, coupés par morceaux, deviennent autant d'Animaux complets. [...]. In: Bibliothèque Raisonné, 36 (1746), Art.X, Première Partie, S. 179-192, Zitat S. 179f.

440 nommen, Uniformität der Gesetze herrschte. Dies hatte für Haller vor allen Dingen eine Bedeutung, die auf ein Grundproblem der naturwissenschaftlichen D e n k m e t h o d i k hinwies: E s bestand ein fundamentaler Widerspruch zwischen dem, was der Forscher v o n der Natur zu wissen glaubte, und dem, was die Gesetze der Natur sind, die nicht ihm bzw. seinem System, sondern allein d e m Schöpfer gehorchen, der diese Gesetze auch variiert haben konnte: »Quand les H o m m e s ont cru être au fait du mystère de la Génération, il s'est trouvé une infinité d'Animaux, qui se sont réfutés à leur Système, qui suivent d'autres loix, & qui n'obeissent qu'au Créateur.« 2 2 1 Nur die mentale Offenheit gegenüber der Möglichkeit, daß es in der Natur auch anders sein kann als man denkt, eine geduldige und minuziöse Beobachtung des Gegenstandes und die Ausklammerung metaphysischer Fragen, ermöglicht in der Naturforschung die Entdeckung des Neuen: Harvée, Nicolas, fils de Stenon, & Jean van Hörne avoient étudié les Oeufs des Oiseaux, & ceux des Animaux à quatre piés. Ils avoient trouvé une grande uniformité dans la production des Animaux les plus connus. C'étoit partout un Mâle, qui s'acouploit à une Fémelle; des Oeufs, que celle-ci ne pondoit, qu'après l'acouplement, & de jeunes Individus de la même Espèce, qui ne provenoient jamais que de ces Oeufs. Ils se hâtèrent d'enseigner que tous les Animaux étoient partagés en deux Sexes, & que toutes les Fémelles avoient des Oeufs, dont sortoient les Foetus de la même Espèce. [...]. De nouveaux Physiciens plus patiens, plus prodigues de leur loisir, plus obstinés à épuiser leur sujet, ont trouvé de nouvelles loix, moins étendues, [...]. On sait ce que Mr. Trembley a découvert: il a démontré que les Animaux ne diffèrent des Plantes, qu'en prenant leur nourriture par une bouche qui conduit à une cavité: car, du reste, il y en a d'immobiles, & d'autres qui viennent de bouture comme les Arbres. Le Polype ne connoit ni Père, ni Mère, ni Oeuf, ni Sexe; ses parties le reproduisent à l'infini, & son principe de vie inépuisable lasse les mains d'un Physicien, qui le voit renaître & se multiplier par des blessures qui devroient le détruire. Que penser de l'Ame de cet Animal? Seroit-elle divisible, puisque chaque partie du Polype divisé se trouve animée, & agit par une volonté qui lui est propre. Dieu, le Créateur des Ames, en fourniroit-il à chaque partie séparée du Polype? Y auroit-il des loix, aussi attentives à fournir une Ame au gré du Physicien, qu'elles le sont à l'occasion de la volupté qui unit les deux Sexes? Il ne s'agit pas de répondre encore à ces questions, il faut aprendre auparavant de nouvelles loix, & faire de nouveaux aveux de notre ignorance. Mr. Bonnet a choisi d'autres objets pour ses recherches, il les a suivis avec un attention inouie jusqu'ici: [...]. Mais, d'un autre côté il a vue après Mr. Vallisniéri, que tous les Individúes de quelques Espèces de Pucerons sont Fémelles, & des Fémelles, qui n'ont pas besoin de Mâles pour être extrêmement fécondes. Pour s'assurer de ce bizare phénomène, il surprit des Pucerons dans le travail de l'acouchement, il se saisit du Petit, aussitôt qu'il l'eut vu naître, & l'enferma dans une solitude parfaite. C'étoit un Verre dont il le couvroit, & qui valoit une tour de diamant pour ce petit Animal, & une petite branche d'arbre sufisoit pour le nourir, lui, & le Peuple qui devoit naître de lui. Mr. Bonnet le vit croître, changer d'envelopes, & jetter par les deux cornes de son derrière, cette liqueur miellée, dont il enduit les feuilles des Plantes; en un mot, il vit tout le détail de sa vie. Sa puberté arriva, il conçut de soi-même, & mit bas une quantité de Petits, dont Mr. Bonnet a marqué avec beaucoup de soin les jours de

221

Vgl. ebd., S. 182.

441 naissance. Il a répété l'expérience, & les petites recluses de l'Espèce des Pucerons, se sont toujours trouvées fécondés, sans avoir jamais été aprochées d'aucun Mâle.222 D i e von Trembley und Bonnet für die Entwicklung der Biologie des 18. Jahrhunderts erzielten bahnbrechenden Forschungsresultate auf dem Gebiet der Reproduktion von Mikroorganismen 223 waren für Haller zugleich Argumente, welche die Überzeugung bestärkten, daß die Lebewesen im wesentlichen auf einerlei Weise gebildet werden, wobei die bis dahin vertretenen präformationistischen Ansätze (Système du dévelopement) stark unterminiert seien. In diesem Kontext beschreibt Haller die Formation von Organismen nach dem Sukzessionsprinzip und wählt dafür Formulierungen, die sich von denjenigen, die Caspar Friedrich Wolff in der Theoria Generationis dreizehn Jahre später zu der Erklärung der Epigenese verwenden wird, nicht wesentlich unterscheiden. Hallers konzise Ausführungen über den Wandel der theoretischen Erklärungsmodelle der Generation und ihre Prinzipien sollen in toto wiedergegeben werden: Le second Volume des Observations de Mr. Bonnet tent à confirmer celles de Mr. Trembley. Il s'agit de la reproduction des certains Animaux, qui, divisés en deux parties, ou davantage, redeviennent deux Animaux complets, phénomène terrassant pour notre Physiologie, & que l'on seroit tenté de recuser, s'il avoit été moins exactement observé, ou s'il n'étoit pas soutenu par tant d'autres Animaux, différens du Polype, & qui ont à peu près le même privilège. Avant Mr. Trembley, on s'étoit assez acordé sur le Système du dévelopement, & presque tous les Savans de l'Europe convenoient, que les Animaux en général étoit enfermés en petit, ou dans les Oeufs de leurs Mères, ou dans le Vermisseau spermatique du Père; & que leur acroissement n'étoit qu'une dilatation de leurs vaisseux, que des liqueurs auroient forcés peu à peu à s'alonger. Ce Système si bien reçu tend à sa fin. On est forcé d'avouer, après les Observations faites sur le Polype, que plusieurs Animaux savent se former des Têtes, des Bras, des Organes de tout espèce, à la place de ceux qu'on leur aura coupés, & dont on ne peut pas supçonner la mignature d'avoir existé, avant l'accident qui les auroit séparés du reste de l'Animal. Il y a plus, on voit le même Animal, bourgeonner, & laisser tomber des Bras, qui peu à peu redeviennent des Animaux entiers, & qui n'étoient qu'une partie similaire de l'Individu générateur. D e s yeux plus a t t e n t i f s , & des e s p r i t s d é g a g é s de Système, c o m m e n c e n t à se p e r s u a d e r , que les A n i m a u x les plus p a r f a i t s n a i s s e n t à p e u p r è s de la m ê m e m a n i è r e ; q u e l e u r f o r m a t i o n est successive, & q u ' i l n ' y a j a m a i s eu de p l a n , où l e u r s m e m b r e s f u s s e n t d e s s i n é s en p e t i t . Le Coeur du Poulet, qu'on voit à l'oeil se former d'un vaisseau qui se replie peu à peu, & qui ne ressemble en rien à un Coeur; les fibres qui naissent d'une humeur visqueuse, & qui attachent les Poumons à la Plèvre; la manière analogue dont les tissus cellulaires s'engendrent d'une gelée coagulée, & dont les membranes les plus épaisses se forment de ces tissus cellulaires; milles autres phénomènes que des Esprits à Systèmes avoient refusé peut-être d'observer ou de mettre en oeuvre,

222 223

Vgl. ebd., S. 183-186. Zu Bonnets und Trembleys Studien zur Regeneration sowie zum Genfer Kontext, in dem diese entstanden sind, vgl. Charles E. Dinsmore: Charles Bonnet et le Concept de Régénération Animale. In: Buscaglia et al. (1994), S. 91-103.

442 concourent à nous persuader de la même vérité. Je suis p e r s u a d é q u ' a p r è s q u e l q u e s a n n é e s de plus q u ' o n a u r a p a s s é e s à o b s e r v e r , on t r o u v e r a , q u e les A n i m a u x & les Végétaux p a r c o n s é q u e n t s ' e n g e n d r e n t d ' u n f l u i d e , qui s ' é p a i s s i t , & qui s ' o r g a n i s e peu à p e u , s u i v a n t des loix, qui n o u s sont i n c o n n u e s , mais que la Sagesse é t e r n e l l e a r e n d u e s i n v a r i a bles, sans q u ' i l y ait de plan à d é v e l o p p e r , ou de solides o r i g i n a i r e s à d i l a t e r ; s u p o s i t i o n [sic!], que la c o n s i s t a n c e f l u i d e des G r a i n e s t e n dres, & des A n i m a u x dans le c o m m e n c e m e n t de leur f o r m a t i o n , a u r o i t dû r e n d r e suspecte. 2 2 4 Bereits 1746 formuliert Haller also die Hypothese (supposition) von der Entstehung der Pflanzen und Tiere aus einer sich allmählich zu >Körnchen< verdichtenden zähflüssigen Materie, die sich sukzessive organisiert, 225 wobei dies nach Gesetzen geschehe, die den Forschern (noch) unbekannt seien. Im Hinblick auf den wissenschaftstheoretischen Status von Hypothesen hat Hallers Aussage eine besondere Relevanz: Sie besagt, daß sich die Naturforschung Hypothesen zunutze macht und daß sie zu der Findung des Neuen konstitutiv mit >unbekannten imaginären Größen< (Vorstellungen, Begriffe) arbeiten muß. Dies ist eine Aussage, mit der sich Haller auf die Hypothesentheorie von 'sGravesande stützt. Wichtig ist es ferner, festzuhalten, daß Bonnets und Réaumurs Forschungen zu einer histoire naturelle einfach strukturierter Kleinorganismen (Würmer, Polypen etc.) und deren Selbstorganisations- und Selbstregenerationsfähigkeit Haller im letzten Teil der Rezension zu Aussagen verleiten, in denen er den abgeschnittenen Teilen dieser Organismen, also Segmenten organischer Materie, einen >Willen< bzw. ein >Wissen< von ihrer (Re-)Organisation zuzusprechen geneigt ist und die für ihn in theologischer Hinsicht vollkommen unproblematisch zu sein scheinen. Bei einer >fehlerhaften< Regeneration eines Würmchens stellt er zudem die Frage, ob es sich bei ihrer Ursache um einen Fehler des Sehens auf der Seite des Forschers oder um eine »puissance plastique« der Natur handle. Fest steht, daß Haller in diesen Textpassagen - ganz im Plinius-Lukrezschen Sinne - von der >Natur< spricht, welche die Lebewesen gebildet und mit Fähigkeiten versorgt habe: 224 225

Vgl. Haller (1746a), S. 187-189. Nach Häser (1881), S. 591 legt C. F. Wolffs Nachweis, »dass in allen Gebilden, sowohl der Pflanzen als der Thiere, die ersten Anfänge der Organisation als Bläschen (»vesiculae«) oder Kügelchen (»globuli«) auftreten [...] den Grund zu der ZellenTheorie.« Die hierzu relevanten Eröffnungsparagraphen 166-169 zum zweiten Teil von Wolffs Theoria Generationis, gegen die Haller und Bonnet vehement opponieren werden, analysiert Proß (1997), S. 96-100. Wolff legt in § 168 das Argument der Existenz einer wesentlichen Kraft (>vis essentialisStruktur< auch die präformierten Keime verstanden werden - und dessen Ersetzung durch das Postulat der ontologischen Priorität einer Kraft qua Entität der Natur, die erste organisierte Strukturen (Körnchen, Bläschen, Kügelchen udm.) erst herausbildete. Das aktive Prinzip der Kraft, die lebendige Körper bildet, wäre demnach eine ähnliche Variante der Attraktionskraft, wie sie in der Newtonschen Physik vorkommt, wodurch sämtliche Prozesse der Natur in einem allgemeinen Naturgesetz oder Naturprinzip, dem auch die Generation untergeordnet wäre, ihre Ursache hätten. Hallers Disponibilität für die Möglichkeit einer solchen Erklärung der Embryogenese ergab sich aber nicht losgelöst von präzisen methodologischen Überlegungen, die aus der widersprüchlichen Situation des Forschers resultierten. Auf der einen Seite legten experimentelle Ergebnisse die Vermutung nahe, daß die Natur selbst in der Lage war, >Leben< zu organisieren, auf der anderen stand die Tatsache fest, daß der menschliche Verstand es nicht vermochte, diesen Naturvorgang zu begreifen. In dieser Situation hielt Haller es für erforderlich, das Problem der Evidenz natürlicher Phänomene theoretisch zu reflektieren. In der Vorrede zu der zweiten Ausgabe der Primae lineae physiologiae von 1751 differenzierte Haller seine Aussagen, die seine bisherige wissenschaftliche Erkenntnis in der Physiologie darlegen sollten, systematisch aufgrund von Evidenzkriterien, die er anthropologisch begründete: »imbecillitas humana, meique inprimis ingenii limites«.237 Der Begriff der imbecillitas, der in Hallers methodologischer Präkaution das naturrechtliche Substrat verrät, verdeutlicht zumindest einen Punkt: Die B e grenzung des VerstandesUnsichtbarkeit< (»visibilità d e b o l e « ) u n d d e r e n Verhältnis

zu

der

>Existenzvisibilidoctrina italica< vgl. Teil II, Kap. 2 (Anfang) dieser Studie.

458 levanz für die bislang ungeklärte Uminterpretation des theoretischen Erklärungsmodells der Embryogenese durch Haller soll nun im folgenden anhand einer Reihe von Texten rekonstruiert werden. Da Hallers naturbegriffliche Fragen zugleich auch immer Fragen implizieren, die den homme moral und sein Verhältnis zu Religion, Staat und Gesellschaft betreffen, sind die Motivationen, die Haller bewegen, die Hypothese der Attraktionskraft (vis adtractrix) als Ursache der Embryogenese aufzugeben, auch in den Konsequenzen zu suchen, die sich ihm zufolge für den >moralischen< Menschen ergeben, falls sich die Hypothese, daß natürliche Ursachen (Naturkräfte) Materie zu einem organisierten Lebewesen autonom bilden können, experimentell beweisen läßt. Bei der Erörterung dieser These, die auf einen außerwissenschaftlichen Kontext zurückgreift, ist auf ein methodisches Problem hinzuweisen, das sich dem Historiker bei der Evaluation des historischen Textmaterials generell stellt: Historische Erklärungen können nicht monokausal sein, so daß davon auszugehen ist, daß die Genese und Modifikation theoretisch-weltanschaulicher Positionen historischer Subjekte durch eine Vielzahl konvergierender Faktoren bedingt sind, die zeitlich und materiell eng beieinander liegen, aber auch verschoben sein können. Zudem sind ideengeschichtliche Kontinuitäten sowie die Transformation von Ideen im diskontinuierlichen geschichtlichen Verlauf, die zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt und vollkommen ateleologisch zu der Entstehung einer neuen Konstellation von Faktoren beitragen können, nie auszuschließen. Dabei können Faktoren, die vorher zwar präsent, jedoch irrelevant gewesen waren, durch eine neue Konfiguration historischer Elemente plötzlich relevant werden und zu der Konstitution einer Problematik beitragen. In dem vom 1. September 1757 datierten Brief an Charles Bonnet äußerte sich Haller ausgehend von einer mißbilligenden Bemerkung gegenüber Voltaires Moralvorstellungen kritisch über den Essay on man (1733/34) von Alexander Pope. Dabei bezieht sich die Kritik auf die im Lehrgedicht gegebene Interpretation des Leibnizschen Prinzips des Optimismus: M. de V[oltaire] disconvient de la corruption de l'homme. Il trouve les passions excellentes pour l'émouvoir, et pour remplir ce vuide eternel de son coeur. Des que tout est bien, a quoi bon une repetance, un mediateur, une satisfaction [?] Pope a outré de beaucoup ce meme principe, trez dangereux, quand on l'aplique a l'état present du monde moral, et qui n'est vrai que lors qu'on embrasse d'un coup d'oeil ce qui nous a précédé et ce qui va nous suivre dans toute l'etendue de l'eternité. Une morale aussi commode que celle de M de V., ornée d'un stile male, et d'une assurance, qui lui est particulière dans tous ses écrits, ne peut que faire impression. La corruption du coeur de l'homme s'interesse tendrement a ses défenseurs, plus elle les eleve, et plus elle croit prendre de la confiance dans un sisteme, qui la canonise.256 256

Vgl. Sonntag (1983), Brief Nr. 41, S. 109£ Dieser Brief fällt in die zeitliche Phase, in der Haller seine embryologischen Studien abschloß und die Forschungsprotokolle zu den Experimenten an bebrüteten Eiern der Göttinger Akademie vorlegte;

459 D e r hinter Voltaire und Pope stehende von Haller aber nicht genannte Autor ist Spinoza. 2 5 7 D i e auf moralphilosophischem Gebiet in der Interpretation der Leidenschaften des Menschen sich ergebenden Parallelen zwischen Pope bzw. Voltaire und Spinoza, auf die Haller anspielt, betreffen die Beziehung des frei entscheidenden oder selbstverwirklichten Menschen gegenüber der Gesellschaft. Dabei erfolgt Hallers Monierung, Pope sei bei der Übertragung optimistischer Prinzipien auf die moralische Welt zu weit gegangen, im Horizont einer spinozistisch-pantheistischen bzw. atheistischen Interpretation Spinozas, wie sie gemeinhin im 18. Jahrhundert vorgenommen und nach 1750, u. a. bei M o s e s Mendelssohn und Lessing, in relevanter Weise neu diskutiert wurde. 2 5 8 Im R a h m e n des spinozistischen Interpretationshorizontes des Popeschen Lehrgedichts wurde der Begriff der Freiheit nun aber mit einer libertinär-freigeistigen Vorstellung menschlichen Handelns identifiziert, mit

257

258

vgl. Monti (1990), S. 152, Anm. 16: »Lo Halleri Commentarius de formatione cordis in ovo incubato primus, sive historia phaenomenorum corrisponde [...] all'Exposé des faits, cioè ai protocolli sperimentali del primo tomo dell'opera a stampa ed è datato >Bernae, die 24. Junii 1757Concerning the Nature and Origin of MindConcerning the Origin and Nature of the Emotions,< corresponding approximately to the main themes of Epistle II of An Essay on Man. Part IV of the Ethics deals with >Human Servitude, or the Strength of the Emotions< and in its later parts takes up the relation of the free or realized man to society, which is the theme of Pope's Epistle III« (S. 168). Z u der Spinoza-Rezeption im deutschen Raum im 18. Jahrhundert vgl. u. a. David Bell: Spinoza in Germany from 1670 to the Age of Goethe, London 1984, bes. Kap. II (The Túrning Point: Mendelssohn and Lessing), S. 24-37. Unter Rückgriff auf die genannte Studie weist W. Proß darauf hin, daß »die erste, wenn auch knappe, bedeutungsvolle Auseinandersetzung mit Spinoza [...] 1755 in den Philosophischen Gesprächen des jungen Moses Mendelssohn [erfolgte], vermutlich veranlaßt durch die Auseinandersetzung mit der Präsenz von Gedankengut Spinozas in Popes Essay on Man, das mit optimistischen Ideen Leibniz' und Shaftesbury gemeinsam in diesem Lehrgedicht zu koexistieren schien {Pope, ein Metaphysiker!, 1755); [...].« Vgl. hierzu den Kommentar von W. Proß zu Herders Spinoza-Gespräche[n]. In: J. G. Herder: Werke, Bd. 2, hg. von W. Proß, München, Wien 1987, S. 1033ff. Daß der junge Haller in einem ganz anderen Verhältnis zu Pope stand, zeigt der Einfluß des Stilideals der englischen Aufklärungsdichtung (Pope) auf Haller; vgl. K. S. Guthke: Haller und die Literatur, Göttingen 1962, bes. S. 90f£

460 der folglich atheistische Vorstellungen einhergingen. Diese Interpretation folgte ihrerseits einer Uminterpretation von Spinozas Verständnis des >Rechts der Natur< des Einzelnen, wie sie ζ. B. Pufendorf und sein Kommentator Barbeyrac in De jure naturae et gentium gegenüber der Position Spinozas im Theologisch-Politischen Traktat vorgenommen hatten. Gemäß Spinoza hat das Individuum ein Recht, in der Gesellschaft gemäß seinem eigenen physischen Naturgesetz zu handeln, zu dem auch das volle Ausleben von Leidenschaften gehört. 259 Von Bedeutung ist aber für die Belange des Naturbegriffs, daß die Parallelisierung der Positionen von Pope und Spinoza auf moralischem Gebiet, in der Parallelisierung von Pope, Spinoza und Newton in Hinsicht auf die Naturphilosophie ein Gegenstück hat, wodurch die Koppelung von Naturinterpretation und Interpretation von Moral und Gesellschaft im späten 17. und im 18. Jahrhundert, wie sie dem Naturrechtsdenken Pufendorfs und Cumberlands konstitutiv zugrundelag, verdeutlicht wird. Grundlage dieser zweiten Parallelisierung war der gemeinsame Rückgriff von Pope, Spinoza und Newton auf antike und spätantike monistische Philosopheme der orphisch-pythagoräischen und stoischen Tradition, 260 die in der frühchristlichen Periode auch den Apostel Paulus in der bereits erwähnten Aeropag-Rede (Act 17, 28) beeeinflußten. Die gemeinsame Textgrundlage der modernen Autoren bestand unter anderem in der Schrift The True Intellectual System of the Universe (1678) des Cambridger Neuplatonikers Ralph Cudworth, die antike Textquellen der genannten Traditionen versammelte und in der Frühaufklärung bis ins späte 18. Jahrhundert (u. a. bei Herder) äußerst einflußreich geblieben war. Cudworths Einfluß auf Newtons frühe Schrift De Gravitatione wurde oben bereits diskutiert. 261 Die Problematik, um die es sich hier handelt, soll anhand eines Fragments aus dem Lehrgedicht Popes sowie eines philologischen Kommentars dargestellt werden. In der Epistle I des Essay on man schreibt Alexander Pope: What it the foot, ordain'd the dust to tread, Or hand, to toil, aspir'd to be the head? What if the head, the eye, or ear repin'd To serve mere engines to the ruling mind? Just be another, in this gen'ral frame: Just as absurd, to mourn the tasks or pains, 259 260

261

260

Vgl. hierzu Teil II, Kap. 3, 3 dieser Studie. Michael Srigley liegt vollkommen richtig, wenn er vermutet, daß »[...] the resemblances between their respective views can be explained in part by the monistic tradition to which Spinoza belongs and which goes back to Pythagoras. Archibishop Tillotson noted, for example, citing Cicero, that >Pythagoras thought... That God is as it were a Soul passing through and inspiring all Nature.< [Vgl. John Tillotson: Works, London 1722, Bd. 2, S. 756]. A similar view, as we saw, was held by the Cambridge Platonists, and before them by Giordano Bruno. It is to this ancient tradition reaching down to his own age that Pope, I believe, gave his allegiance.« Vgl. Srigely (1994), S. 170. Vgl. Teil II, Kap. 3, 9, S. 413, Anm. 178.

461 T h e g r e a t d i r e c t i n g MIND OF ALL o r d a i n s . 265 All a r e b u t p a r t s of o n e s t u p e n d o u s w h o l e , W h o s e b o d y N a t u r e is, a n d G o d t h e s o u l ; T h a t , c h a n g ' d t h r o u g h all, and yet in all t h e s a m e ; G r e a t in t h e e a r t h , as in t h ' e t h e r e a l f r a m e ; W a r m s in t h e s u n , r e f r e s h e s in t h e b r e e z e , 270 G l o w s in t h e s t a r s , a n d b l o s s o m s in t h e t r e e s , L i v e s t h r o u g h all L i f e , e x t e n d s t h r o u g h all e x t e n t , Spreads undivided, operates unspent; Breathes in our soul, informs our mortal part, As full, as perfect, in a hair as heart; 275 As full, as perfect, in vile Man that mourns, As the rapt Seraph, that adores and burns: To him no high, no low, no great, no small; He fills, he bounds, connects, and equals all.262

In der Basler Textausgabe von 1803 werden die Verse 266-268 sowie V. 274 vom Pope-Biographen Joseph Warton wie folgt kommentiert: VER. 266. The great directing Mind, &c.] 'Veneramur autem et colimus ob dominum. Deus enim sine dominio, Providentia et causis finalibus, nihil aliud est quam FATUM et NATURA.' Newtoni Princip. Schol. gener. sub finem. VER. 267. All are but parts] These are lines of a mervellous energy and closeness of expression. They are exactly like the old Orphic verses quoted in Aristotle, De Mundo. Edit. Lugd. folio, 1590, p. 378.; and line 289 as minutely resembles the doctrine of the sublime hymn of Cleanthes the Stoic; not that I imagine Pope or Bolingbroke ever read that hymn, especially the latter, who was ignorant of Greek. VER. 268. Whose body Nature is, &c.] Mr. de C r o u s a z r e m a r k s , on t h i s line, t h a t Ά S p i n o z i s t w o u l d e x p r e s s himself in t h i s m a n n e r . ' I believe he would; for so the infamous Toland has done, in his Atheist's Liturgy, called PANTHEISTICON: But so would St. Paul likewise, who, writing on this subject, the omnipresence of God in his Providence, and in his Substance, says, in the words of a pantheistical Greek Poet, In him we live, and move, and have our being; i. e. we are parts of him, his offspring: A n d t h e R e a s o n is, b e c a u s e a r e l i g i o u s t h e i s t and an i m p i o u s p a n t h e i s t b o t h p r o f e s s to b e l i e v e t h e o m n i p r e s e n c e of G o d . But would Spinoza, as Mr. Pope does, call God the great directing Mind of all, who hath intentionally created a perfect Universe? Or would a Spinozist have told us, 'The workman from the work distinct was known?' a line that overturns all Spinozism from its very foundations. B u t t h i s s u b l i m e d e s c r i p t i o n of t h e G o d h e a d c o n t a i n s n o t only t h e divinity of St. P a u l ; b u t , if t h a t will n o t s a t i f y t h e M e n he w r i t e s a g a i n s t , t h e philosophy l i k e w i s e of Sir I s a a c N e w t o n . The Poet says, 'All are but parts of one stupendous whole. Whose body Nature is, and God the soul;' &c. The philosopher? - 'In ipso continentur et moventur universa, sed absque mutua passione. Deus nihil patitur ex corponim motibus; illa nullam sentiunt resistentiam ex omnipraesentia Dei. - Corpore omni et figura corporea destituitur. - Omnia regit et omnia cognoscit - Cum unaquaeque Spatii partícula sit semper, et unum-

262

Vgl. Alexander Pope: An Essay on Man, in Four Epistels Το Η. St. John, Lord Bolingbroke, Ep. I, w. 265-280. In: The Works of Alexander Pope, Esq. in nine Volumes, Complete. With Notes and Illustrations By Joseph Warton, D. D. and others. Volume the Third., Basel 1803, S. 38-41.

462 quodque Durationis indivisibile momentum, ubique certe rerum omnium Fabricator ac Dominus non erit nunquam, nusquam.' Mr. Pope; 'Breathes in our soul, informs our mortal part, 'As full, as perfect, in a hair as heart; 'As full, as perfect, in vile Man that mourns, 'As the rapt Seraph, that adores and burns: 'To him no high, no low, no great, no small; 'He fills, he bounds, connects, and equals all.' Sir Isaac Newton; - 'Annon ex phaenomenis constat esse entem incorporeum, viventem, intelligentem, omnipraesentem, qui in spatio infinito, tanquam sensorio suo, res ipsas intime cernât, penitusque perspiciat, totasque intra se praesens praesentes complectatur.' But now admitting there were an ambiguity in these expressions, so great a Spinozist might employ them to express his own particular principles; and such a thing might well be, because the Spinozists, in order to hide the impiety of their principle, are wont to express the Omnipresence of God in terms that any religious Theist might employ; in this case, I say, how are we to judge of the Poet's meaning? Surely by the whole tenor of his argument. Now take the words in the sense of the Spinozists, and he is made, in the conclusion of his epistle, to overthrow all he had been advancing throughout the body of it: For S p i n o z i s m is t h e d e s t r u c t i o n of an U n i v e r s e , w h e r e e v e r y t h i n g t e n d s , by a f o r s e e n c o n t r i v a n c e in all its p a r t s , t o t h e p e r f e c t i o n of t h e W h o l e . But allow him to employ the passage in the sense of St. Paul, That we and all creatures live, and move, and have our being in God; and then it will be seen to be the most logical support of all that had preceded. For the Poet having, as we say, laboured through his Epistle to prove, that every thing in the universe tends, by a foreseen contrivance, and a present direction of all its parts, to the perfection of the Whole; it m i g h t be o b j e c t e d , t h a t s u c h a d i s p o s i t i o n of t h i n g s i m p l y i n g in G o d a p a i n f u l , o p e r o s e , a n d i n c o n c e i v a b l e e x t e n t of P r o v i d e n c e , it c o u l d n o t b e s u p p o s e d t h a t such c a r e e x t e n d e d to all, but was c o n f i n e d to t h e m o s t n o b l e p a r t s of t h e c r e a t i o n . This g r o s s c o n c e p t i o n of t h e First C a u s e t h e p o e t exp o s e s , b y s h e w i n g t h a t God is e q u a l l y a n d i n t i m a t l y p r e s e n t t o e v e r y p a r t i c l e of M a t t e r , to e v e r y s o r t of S u b s t a n c e , a n d in e v e r y i n s t a n t of Being. Wfarton]

[...] VER. 274. Operates unspent;] To Lucretius, who, in these very bold and magnificent lines, has asked, Quis? regere immensi summam; quis habere profundi Indu manu validas potis est moderanter habenas? Quis pariter coelos omneis convertere? et omneis Ignibus aetheriis terras suffire feraceis? Omnibus inque locis esse omni tempore praesto? To this question, I say, we may answer, 'That Great Being who is so powerfully described by Pope in this passage.' See on this subject the fine and convincing Discourse of Socrates with Aristodemus, in the first book of Xenophon's Memorabilia. 263

Das sich in theologischer Hinsicht konstituierende Problem bestand also in der sich auf terminologischer Ebene ergebenden Konvergenz der Positionen des Theisten und des >ungläubigen< Pantheisten bzw. Spinozisten bezüglich 263

Vgl. Pope (1733/34, 1803), Notes, S. 38-40.

463 der Annahme der Omnipräsenz Gottes in der Welt, durch welche die logische Grenze zwischen Gott und Welt, von welcher der Theist ausging, gefährdet erschien. Die Gefahr einer solchen Grenzverwischung war möglich, obwohl den beiden Positionen eine unterschiedliche Interpretation des Wortes >Omnipräsenz< zugrundelag. Die theistische Konzeption der Omnipräsenz, wie sie in der Physikotheologie der Frühaufklärung vorhanden war, wurde im Sinne des >intermediären< Modells zwischen der Transzendentalisierung und dem innerweltlichen Wirken Gottes auf die causae secundae der Natur verstanden. 264 Die bis in die frühe Neuzeit und Renaissance zurückzuverfolgenden Hintergründe dieses Modells wurden oben in mentalitätsgeschichtlicher Perspektive rekonstruiert. 265 Aufgrund der gemeinsamen antiken und frühchristlichen monistischen Substrate ergab sich nun aber eine Kontamination zwischen dem Natur-, Gottes- und Substanzbegriff in der Philosophie Spinozas und den Grundprinzipien der Naturphilosophie Newtons, die um 1750 in den >Wissenschaften des Lebens< virulent wurde. Im Rahmen einer Darstellung von Fiktionen zu der Entstehung von Erkenntnis und Wissen in Gestalt einer Mythologie schildert der gewöhnlich als Ästhetiktheoretiker bekannte Charles Batteux in seiner Histoire des Causes Premières von 1769 den Wandel philosophischer Prinzipien der Welterklärung in der Abfolge dreier Epochen. Von einem frühen Stadium in der Philosophie der orientalischen, jüdischen und griechischen Völker verfolgt er die Entwicklung der philosophischen Idee der Ursache bis in das Spätstadium des 17. Jahrhunderts, in dem die rationalistischen Systeme von Descartes, Malebranche, Leibniz und Spinoza sowie die naturphilosophischen Ansätze von Cudworth und Jean Le Clerc auftreten. Die Prinzipien der Naturphilosophie Newtons, in der die Idee der Ursache durch die Idee der Wirkung vermittelt wird, bilden den Endpunkt dieser Entwicklung. Im Rahmen theoretischer Vorüberlegungen zu dem Kapitel über die Systeme der Pythagoräer erläutert Batteux die Prinzipien von Entstehung und Wandel animistischer Grundkonzepte, die er dem ursprünglich-subjektivischen Erkenntnisschema der Wirklichkeitsauffassung zuordnet. Die Attraktionskraft als Ursache von Phänomenen, die Batteux als eine Modifikation der Grundidee des Systems der Weltseele begreift, wird als ein Endstadium in dem - mit Max Weber gesprochen - fortschreitenden Prozeß der Rationalisierung bzw. »Entzauberung« der Wirklichkeit dargestellt: 264

265

In einem Brief an Remond schreibt Antonio Conti aus seinem Londoner Aufenthalt, wo er mit Isaac Newton Gespräche führte, über dessen Meinung zum Verhältnis von Gott und Natur folgende Zeilen: »II [sc. Newton] croit qu'on peut fort bien demonstrer par les phenomenes que Dieu existe mais il distingue la nature et Dieu. La nature n'a point de domaine ni de providence et elle n'agit point pour des causes finales. Dieu au contraire a tout cela.« Vgl. Brief vom 12. August 1715. In: Robinet (1957), S. 21. Vgl. Teil II, Kap. 3, 8.

464 Avant que de parier de la manière dont quelques Pythagoriciens ont prétendu expliquer l'action d'une Ame du Monde, répandue dans toutes ses parties, nous ne pouvons guères nous dispenser de dire un mot de l'origine & des progrès de cette opinion. Nous la regardons aujourd'hui comme une des plus bisarres & des plus risibles qui aient pu tomber dans les têtes humaines: effet de l'habitude! les peuples & les Sages la regardoient autrefois comme la seule sensée. [...]. On peut [...] dire que le soleil, ainsi que tous les astres, n'est dans son espece qu'une machine à ressort, sortie de la main d'un ouvrier infiniment habile & puissant. L'idée de ces ressorts est-elle plus philosophique que celle des ames? Le calcul auquel on les soumet n'en démontre point l'existence; parcequ'on n'en calcule que les effets, & qu'il est telle ame possible, dont les actes toujours uniformes, pourroient être calculés comme ceux d'une machine. D'ailleur pour concevoir, par exemple, que la terre tourne par ressort autour du soleil, il faudroit concevoir dans ce ressort une force, pour la tenir suspendue toujours la même distance du centre; une autre pour la tenir en équilibre sur ses deux poles, une autre pour son mouvement diurne, une autre pour son mouvement annuel, & c. Point du tout: il n'en faut que deux, & même qu'une: le mouvement de projection une fois imprimé, la force attractive suffit. Soit. Mais si on ne peut concevoir la durée du mouvement de projection sans le vuide, ni l'attraction sans le plein, ou l'intervention de quelque corps; si on ne peut concevoir la continuation d'aucun mouvement sans la continuation de l'impression qui le cause, ni la continuation de cette impression sans quelque force qui ressemble à celle d'une ame, les prétendus ressorts & leur manière d'agir ne sont pas plus intelligibles que les ames. Ils le sont moins: parceque nous avons par le sentiment intime, l'idée d'une ame qui meut un corps, & que nous n'avons pas celle d'une pure machine qui s'entretienne & se remonte elle-même. [...]. Tout ce qui put être représenté par une image eut un corps, & ce corps eut une ame. Ce n'étoit pas encore la matiere, c'étoit la Divinité, divisible à l'infini. [...]. Le genre humain en étoit-là, quand les Philosophes parurent. [...]. Les plus anciens & les plus sensés s'en tinrent à regarder Dieu comme auteur, maître & roi de l'Univers, formant, mouvant, gouvernant tous les êtres; sans rechercher trop curieusement quelle pouvoit être la maniere dont il intimoit ses ordres aux différentes parties. Après ceux-ci il en vint d'autres qui se crurent plus habiles, & qui voulurent savoir le comment. Ils inventerent une Ame universelle, comme un ressort général, & en même temps comme un fonds commun de substance active, d'où se tiroient les ames particulières. De ces ames, dont l'invention paroissoit peu philosophique, & qui d'ailleurs abrégeoient trop le plaisir de disputer, on descendit aux natures ou formes substantielles, motrices, productrices, nourrices, altératrices, &c. sur lesquelles on pouvoit raisonner sans fin, parceque les-mots étaient susceptibles de plusieurs sens, & les effet de plusieurs causes. De-là on passa aux qualités, simples & contraires les unes aux autres dans les élémens; composées & d'accord, dans les mixtes; manifestes, à ce qu'on croyoit, dans quelques genres; magiques & occultes dans plusieurs autres. Tout ce qu'on ne pouvoit pas expliquer plausiblement, c'est-à-dire, de manière à contenter une imagination qui se prêtait, étoit attribué à des sympathies ou à des antipathies résidentes dans les êtres; à des amours, à des haines, à des appétits, à des répugnances, à des lois intimées aux corps, e n f i n à des f o r c e s a t t r a c t i v e s ou i m p u l s i ves, c e n t r i f u g e s ou c e n t r i p e t e s , à l ' h o r r e u r du v u i d e , &c. M a i s p a r t o u t e s ces m o d i f i c a t i o n s , on n e s o r t o i e n t q u ' e n a p p a r e n c e du s y s t è m e d e s a m e s , q u i n ' é t o i e n t g u è r e s q u e d é g u i s é e s p a r ces n o u v e a u x noms. C'étaient toujours des forces qu'on ne pouvoit expliquer par les qualités méchanique des corps. Enfin il arriva un moment où on osa dire assez haut, que dans l'Univers, tout se faisoit sans cause & sans Dieu. Ce fut le dogme d'Epicure, qui seul coupa net le

465 fil des idées anciennes, en ne faisant du Monde entier qu'une grande machine, montée telle qu'elle est, & entretenue par le hasard. Dans tous les autres systèmes, il y avoit des causes finales, plus ou moins développées; dans celui-ci, ce fut le méchanisme pur, sans fins, ni moyens prévus. (I) Tel a été le progrès des opinions sur l'Ame du Monde. Passons aux différentes manieres d'expliquer l'action de cette Ame. 266 (I) Voyez le Diet, de Bayle, Cainites, D. Mit der Übertragung der Attraktionskraft auf die Sphäre des Lebendigen war somit der Konflikt, der sich bei der Uminterpretation theistischer A n nahmen zugunsten einer pantheistisch-spinozistischen bzw. neospinozistischmaterialistischen Auffassung der Natur ergeben konnte, bereits angelegt. D i e theistische Vorstellung der Omnipräsenz Gottes in der Welt, derzufolge die Naturprozesse nach göttlichen Gesetzen ablaufen, konnte aufgrund der antiken animistischen Bedeutungssubstrate der Attraktionskraft leicht in eine spinozistische Vorstellung umkippen. D e r Spinozismus wurde seinerseits mit d e m Hylozoismus der Antike assimiliert, bei dem » D i e u s'assimile à la matière en devenant une excroissance inutile.« 267 D i e s e sich allmählich anbahnende Tendenz hatte sich um 1750 in französischen Intellektuellen- und Naturforscherkreisen bereits durchgesetzt: Vers 1750, le panthéisme de Spinoza a paru aux yeux de tous les matérialistes comme une préfiguration séduisante. Les uns l'avouent crûment comme La Mettrie [...] le matérialisme dominé par l'idée d'évolution s'impose comme une hypothèse de travail à Diderot et même à Buffon; [...]. 268 In der Analyse von Paul Vernière sind es die Theologen selbst gewesen, die der Assimilation des Spinozismus mit dem antiken Hylozoismus Vorschub geleistet haben: Les théologiens sont pris à leur propre piège; c'est grâce à eux que le spinozisme a été assimilé à l'hylozoïsme des anciens, c'est grâce à eux que l'univers de Y Ethique est apparue - frauduleusement peut-être, mais il est bien tard pour revenir sur des analyses acceptées par Bayle et que reprendra l'Encyclopédie - comme un organisme étrange où toute parcelle de matière était pénétrée, >sous-tenduescheletro< di base e quindi l'elaborazione delle forme fisiche che l'embriogenesi può assumere.270 Diese Erklärung ist korrekt, sie bedarf aber einer Ergänzung im Hinblick auf Hallers Motivierung einer solchen Einschränkung des embryogenetischen Prozesses, die an die Seite der von Haller selbst gegebenen wissenschaftlichen Begründung zu stellen ist: Diese wird von der Haller-Forschung als »membrane-continuity-proof« 271 bezeichnet und vom Physiologen als >Beweis< für die unsichtbare präexistente Struktur im bebrüteten Hühnerei angeführt. U n sere Ergänzung geht vom wissenschaftstheoretischen Status der vis adtractrix als hypothetischer Ursache des embryogenetischen Prozesses aus und erklärt, warum diese Hypothese für Haller nicht mehr in Betracht gezogen werden konnte und warum diese aus theologischer Sicht durch die Materialismus- und Atheismusgefahr bereits um 1750 problematisch zu werden begann. 270

271

Vgl. Monti (1990), S. 208, die hier auf die Analyse von Shirley A. Roe: Matter, Life, and Generation. Eighteenth-century embryology and the Haller-Wolff debate, Cambridge 1981, bes. S. 89-123, zurückgreift. Vgl. auch M. T. Monti: Itinerari della scoperta scientifica in Haller. Una >praelectio< e protocolli inediti (1763-1764). In: Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento, XVI (1990), S. 371-427, bes. S. 375-383. Vgl. hierzu Monti (1990), S. 182-197 u. den Brief Hallers an Bonnet vom 23. April 1765: »II paroit dans la figure veineuse des traits et des points avant qu'il y ait des vaisseaux complets et suivis. Je prens ces traits pour de véritables vaisseaux, dont une partie est transparente. M. Wolf les prend pour des chemins par laquelle les grains de la substance veineuse mis en solution se portent au fetus. Noté[s] que cette substance est la membrane du jaune pliée, qui persiste et qui s'etend.« Vgl. Sonntag (1983), Brief Nr. 284, S. 421.

468 In wissenschaftstheoretischer Hinsicht war für Haller die Ursache der Attraktionskraft als einem von göttlichen Gesetzen gesteuerten vermittelnden natürlichen Faktor des embryogenetischen Prozesses eine Hypothese; sie hatte zwar einen hohen Wahrscheinlichkeitsgrad, blieb aber dennoch hypothetisch und war somit durch einen fiktionalen Erkenntnisstatus charakterisiert. Es mußten also weitere Faktoren hinzutreten, um diese Hypothese, die als heuristisches Erkenntnisinstrument stets allein auf die Gedanken des Forschers und nicht auf die Faktizität der Natur bezogen war, aufzugeben. Im Zusammenhang mit Hallers naturrechtlicher Konzeption des >moralischen< Menschen und dessen Stellung in der >bürgerlichen< Staats- und Gesellschaftsordnung, die für Haller spätestens im September des Jahres 1757 gemäß seiner Äußerungen gegenüber Voltaire und Pope akut in Gefahr geraten zu sein schien, wurde die Rolle des antiken Wissens und dessen Assimilierung in den Denkhorizont des Spinozismus sowohl auf moralischem als auch auf natürlichem Gebiet zu einem relevanten historischen Faktor, der nun plötzlich zu der Konstituierung einer ernsthaften Problematik beitrug. Es ist wiederum Charles Batteux, der in seiner scharfsinnigen Analyse der Rolle des antiken monistischen Wissens in der >modernen< Welt auf einen wesentlichen Unterschied zwischen dem >antiken< und dem >modernen< Menschen aufmerksam gemacht hat: Dieser Unterschied betrifft die moralischen und politischen Implikationen des Naturbegriffs für den >Bürger< in der Mitte des 18. Jahrhunderts, die für den Menschen der Antike nicht in dieser Weise gegolten haben: On ne sait pas même si dans le livre d'Aristote, où il est traité Des opinions de Xenophane, de Zénon, de Gorgias, les noms n'ont pas été transposé. Xenophanes disoit que l'Être unique étoit le Monde; Melissus, que c'étoit la Matière; Parménide, que c'étoit Dieu seul, parceque tout le reste étoit périssable. Il n'étoit guère possible que Zénon, dans le fait, ne se rapprochât de quelqu'un des trois. Ils cherchoient tous la vérité quand ils méditoient; mais quand ils disputoient, il ne cherchoient qu'à vaincre ou à tromper leurs adversaires. Le vrai dénouement de leurs difficultés eût été le dogme de la création, dont les Philosophes même ont senti la nécessité, quand ils en on connu le fait. Ils auroient vu alors un seul Être essentiell, dominant sur d'autres êtres produit par une force ineffable; & la dualité se seroit aisément concilié avec l'unité. Cependant quand les Philosophes d'Elée seraient parvenus à cette grande vérité, qui est la clé de tant d'autres, ils auroient pu encore ne rien changer à leur langage, parcequ'ils pouvoient prendre l'unité dans un sens ou métaphysique ou physique, qui n'excluoit pas la multiplicité dans un autre genre: remarque qui suffirait seule pour empêcher de dire trop affirmativement que les Eléatiques étoient Spinozistes. [...]. Mais il semble qu'à regarder les choses de près, & sans prévention, il n'y avoit guères que la ressemblance des mots: les explications, les raisonnemens, les point de vue sur tout étoient différens. L'Être de Spinosa, est la vraie & réelle substance des êtres, la substance dont ils sont composés; qui se meut, qui se change, qui se modifie de toutes les manières, qui est corps & esprit, cause & effet. L'Être des Eléatiques étoit, ou la somme entière des substances qui composent le Monde, ou une sorte d'être de raison, en qui ils ne concevoient d'autre attribut

469 que d'être, & dont ils écartaient par abstraction toute idée de cause et d'effet, de mouvement, de modification, de forme: c'était quelque chose qui était; ils s'arrêtaient là: [...]. Il est vrai que les expressions qu'ils employient peuvent se rapporter au Spinosisme. Mais où ne peut-on pas trouver de ce rapports? Spinosa lui-même ne s'étaye-t-il pas de S. Paul, parceque l'Apôtre a dit, que nous vivons dans Dieu, que nous marchons, que nous sommes dans lui? (I) Il y a au moins une d i f f é rence t r è s - e s s e n t i e l l e entre les E l é a t i q u e s & les m o d e r n e s Unitaires: c'est que les A n c i e n s ne f a i s o i e n t n u l l e m e n t dépendre leur morale de leur m é t a p h y s i q u e , & qu'ils r e g a r d o i e n t leurs s y s t è m e s abstraits c o m m e de simples conjectures, c o m m e des s p é c u l a t i o n s i n g é n i e u s e s , qui p o u v a i e n t aiguiser l'esprit dans leurs e n t r e t i e n s p h i l o s o p h i q u e s , mais sur l e s q u e l s il ne f a l l o i t point appuyer la c o n d u i t e de l'état, ni celle du c i t o y e n . Il c o n v e n o i e n t tous que la nature intérieure des êtres étoit impénétrable, que la s c i e n c e avoit ses bornes très près de nous, & qu'ainsi les disputes sur les Causes ne p o u v o i e n t être regardée que c o m m e des a m u s e m e n s ou des jeux p h i l o s o p h i q u e s , dans lesquels les esprits p o u v o i e n t s'exercer à l'ombre de la vérité, sans tirer à c o n s é q u e n c e pour la conduite. 2 7 2 (I) In ipso vivimus, movemur & sumus.

In der Mitte des 18. Jahrhunderts war im Rahmen des naturrechtlichen Weltbildes die Relevanz der Naturerklärung für die Interpretation der Moral des Menschen noch konstitutiv gegeben und sie läßt sich in der Domäne der >Wissenschaften des Lebens< besonders gut zeigen. Weil dem theoretischen Explikationsmodells der Embryogenese im Hinblick auf die Konstituierung bzw. Aufrechterhaltung eines Weltbildes Bedeutung zukam (das metaphysische System der Präformation wurde beispielsweise mit einem mechanistischen Weltbild identifiziert, das einen Schöpfergott voraussetzte), wurde von der Wahl eines Systems der Generation zugleich ein moralisches Wertesystem abhängig gemacht, das eine Idee von Religion, Gesellschaft und Staat implizierte. Es kann somit aufgrund dieser Tatsache nicht so sehr erklärt werden, warum Haller sich entschieden hat, die Brille des Präformationisten aufzusetzen, als vielmehr, warum er die Hypothese der vis adtractrix als vermittelnden ursächlichen Faktor des embryogenetischen Prozesses nicht einmal mehr als Hypothese aufrechterhalten konnte. Obwohl der Schweizer Physiologe die Hypothese der Attraktionskraft in der Embryologie im Rahmen eines theistischen Modells der Wirklichkeitsauffassung konzipiert hatte, das einer Ursprungs-und-Emanationslogik folgte, sah er sich aufgrund ihrer gefährlichen monistischen bzw. neospinozistischen bzw. materialistisch-atheistischen Implikationen gezwungen, diese zwischen dem September 1757 und dem Mai 1758 definitiv aufzugeben. Der monistisch-vitalistische Naturbegriff des Neospinozismus hob die zentrale theistische Annahme der Ursprungsund-Emanationslogik - der Ursprung der Welt und des Menschen in Gott und dessen innerweltliches Wirken auf die causae secundae der Natur - auf, 272

Vgl. Batteux (1769), Seconde Epoque, Sect. II, Art. I. (L'École d'Elèe, ou L'unité de l'Être), S. 241-244.

470 indem er Gott in die Welt bzw. in die Materie hineinzog und mit dieser identifizierte. In dieser Phase gewann bei Haller also die Überzeugung Oberhand, daß ein experimenteller Beweis der Hypothese der bildenden Kräfte der Materie, wie es sich später aus der Rekonstruktion seiner Position in dem Briefwechsel mit Caspar Friedrich Wolff herausstellte, vor allem eine theologische Katastrophe bedeutete. 2 7 3 D e r theologische Faktor aber - und dies ist der entscheidende Punkt - implizierte für Haller eine Reihe von Konsequenzen auf moralischem Gebiet. Caspar Friedrich Wolffs Äußerung in dem zitierten Brief an Haller enthält bereits den Kern der Problematik, schränkt diese aber auf die Beziehung Natur-Gott ein. Wolff schreibt in dem Brief an Haller, daß die Naturkräfte und deren Ursachen bzw. die Natur selbst und die organischen Körper eines Urhebers ihrer selbst bedürfen; sie sind also für ihn - aus theologischer Perspektive - nicht Ursache ihrer selbst (causa sui). Im naturwissenschaftlichen Kontext bilden aber nach Wolff Naturkräfte Lebewesen aufgrund einer natürlichen Kausalität, wobei theologische Argumente ausgeklammert bleiben. Spinoza bezieht in der Ethica den Begriff der causa sui auf Gott, der causa sui existiere. Damit ist in Wolffs Äußerung ein Modell der Naturerklärung implizit mitformuliert, deren letzte logische Konsequenz d'Holbach im Système de la nature von 1770 ziehen wird. Dort vertritt der französische Materialist die Auffassung von der Identität von Gott und Natur als Folge der für den Menschen einzig möglichen natürlichen Gottesidee im Gegensatz zu den Annahmen der orthodoxen Theologie und des cartesianischen Dualismus: L'homme est un être matériel; il ne peut avoir des idées quelquonques que de ce qui est matériel comme lui, c'est-à-dire de ce qui peut agir sur ses organes ou ce qui a du moins des qualités analogues aux siennes. En dépit de lui-même il assigne

273

Vgl. zu der Darstellung der im Briefwechsel von Haller und Wolff eingenommenen Positionen Robert Herrlingers Einführung zum Ndr. der Ausg. von Caspar Friedrich Wolffs Theorie von der Generation (Berlin 1764) und Theoria Generationis (Halle 1759), Hildesheim 1966, S. 4-28, bes. S. 17f. Von Haller auf den theologischen Aspekt der Epigenese angesprochen, antwortet Wolff in dem Brief vom 17.4.1767 so: »Jetzt bekenne ich, daß Deine Beweise, die Du zur Ausarbeitung der Evolutionshypothese vorgebracht hast, in jeder Hinsicht von größter Bedeutung und mir so gewichtig sind, daß ich beinahe nicht weiß, was ich in Zukunft hinsichtlich der Entwicklung der Generationstheorie machen soll. Wenngleich mir nicht verborgen geblieben, daß die Evolution der organischen Naturkörper gleichsam als hervorragendes Zeugnis des göttlichen Urhebers wider die Gegner angeführt werden kann, das umgestoßen werden würde, wenn die Epigenese bewiesen wäre, so habe ich doch nicht die ganze Angelegenheit, wie Du, hoher und höchst verehrungswürdiger Herr, sie mir auseinandergesetzt hast, durchschaut und nicht alles hinlänglich erwogen. [...].« Der Gefahr ausgesetzt, des Atheismus bezichtigt zu werden, bemüht sich Wolff Haller gegenüber zu präzisieren, daß es für ihn unzweifelhaft sei, daß »Naturkräfte [...] und deren Ursachen, ja die Natur selbst für sich in gleicher Weise einen Urheber ihrer selbst fordern wie die organischen Körper [...].« Vgl. Herrlinger (1966), Einführung, S. 18.

471 toujours des propriétés matérielles à son dieu, que l'impossibilité de le saisir lui a fait supposer spirituel e distinguer de la nature ou du monde matériel.274

Damit steht für d'Holbach der Mensch aufgrund seiner Einordnung in die Natur, seiner vollständigen Naturalisierung und der daraus resultierenden Erkenntnisfähigkeit, die von seiner psychophysischen Konstitution bedingt ist, im Widerspruch zu Theologie und Philosophie, die eine dualistische Konzeption der Natur des Menschen postulieren. Den abstrakt-metaphysischen Begriffen der Theologie und Philosophie - besonders der »Immaterialität Gottes« und der »Immaterialität der Seele« - steht der Mensch d'Holbach zufolge vollkommen verständnislos gegenüber. Die Unmöglichkeit, die »Immaterialität Gottes« zu begreifen, zwingt den Menschen, der Gottheit materielle Eigenschaften (qualités morales) zuzuschreiben, wodurch d'Holbach den grundsätzlich anthropomorphen Charakter der abstrakt-metaphysischen Begrifflichkeit der Theologie entlarvt: Ramenons donc les mortels égarés aux autels de la nature; détruisons pour eux les chimères que leur imagination ignorante et troublée a cru devoir élever sur son trône. Disons-leur qu'il n'est rien, ni au-dessus d'elle, ni hors d'elle; apprenons-leur qu'elle est capable de produire, sans aucun secours étranger, tous les phénomènes qu'ils admirent, tous les biens qu'ils désirent, ainsi que tous les maux qu'ils appréhendent.275

Die Idee der Gottheit kann der Mensch somit nur in der Natur, d.h. als etwas in der Natur Immanentes, begreifen, was durch die Identifikation von Gott und Natur einem Pantheismus im spinozistischen Sinne gleichkommt: »Quand nous voudrons en avoir une idée, disons que la nature est Dieu; [...].« 276 Dennoch haben d'Holbachs Naturbegriff im Système de la nature und Buffons »Betrachtungen über die Natur« {Première/Seconde Vue de la Nature (1764/1765) in der Histoire naturelle, die um 1770 in deutscher Übersetzung in Leipzig veröffentlicht wurden, in Goethes Faust I (u.a. in der Szene »Wald und Höhle«) sowie in dessen naturwissenschaftlichen Schriften (Typenlehre) bereits um 1780 deutliche Spuren hinterlassen; und dies trotz der späteren Absetzung Goethes vom verfemten Autor der Schrift über das Natursystem im elften Buch von Dichtung und Wahrheit,277 Anders als bei Wolff Schloß bei Haller die Beziehung der Natur zu ihrem Urheber Gott konstitutiv die Beziehung des Menschen zu Gott, Staat und Gesellschaft mit ein. Die vollständige Unabhängigkeit der Natur von Gott,

274

275 276 277

Vgl. d'Holbach (1770,1821), Bd. 2, Kap. IV (Du panthéisme ou idées naturelles de la Divinité), S. 146t Vgl. ebd., S. 154. Vgl. ebd., S. 156. Vgl. hierzu Wolfgang Proß: Die Idee der Evolution im 18. Jahrhundert und die Stellung des Menschen in der Natur bei Goethe und Herder. In: Goethes Beitrag zur Erneuerung der Naturwissenschaften, hg. v. Peter Heusser, Bern, Stuttgart, Wien 2000, S. 271-311.

472 ihre vollständige Autonomie, wodurch diese causa sui und daher nicht mehr Trägerin von Beweisen der Existenz Gottes wäre, implizierte somit bei Haller auch die vollständige Autonomie bzw. die absolute Freiheit des Menschen in der Sphäre des Moralischen, so daß nicht mehr die christliche Religion, sondern das spinozistische >Recht der Natur< das System der menschlichen Moral bestimmen und begründen würde. Die Funktion der Religion für die Erhaltung der societas civilis und des politischen Systems des aufgeklärten Absolutismus (»philosophische Monarchie«) war deshalb für Hallers Weltbild und seine Konzeption des >moralischen< Menschen, die den Prinzipien des naturrechtlichen Denkens verpflichtet blieb, absolut zentral. In der Aufgabe der Religion durch den Menschen sowie in dem Überhandnehmen einer Gesellschaft von Ungläubigen sah Haller die Prinzipien und die Regeln, die gemäß der naturrechtlichen Pflichtenlehre das Zusammenleben der Menschen in der Gesellschaft ermöglichen sollten, ernsthaft gefährdet. Die Aufhebung der Pflichten des Menschen gegenüber Gott führte nach Haller zur Aufhebung der Pflichten des Menschen a) gegenüber den anderen Menschen in der Gesellschaft, angefangen bei den engsten Verwandten und Bekannten (Familie, Ehe, Freunde etc.), b) gegenüber dem Fürsten im Staat und im Krieg sowie c) gegenüber sich selbst, womit z.B. der Selbstmord erlaubt wäre. Kurz, die Durchsetzung einer Gesellschaft von Gottlosen hätte ihre Auflösung als letzte Konsequenz zur Folge. Diese Überlegungen formulierte Haller bereits in der vom 26. Dezember 1750 datierten Vorrede zu der von Jean Henri Samuel Formey und ihm selbst verfaßten Schrift Prüfung der Secte, die an allem zweifelt (Göttingen 1751); das Skandalon um den deklarierten Atheisten bzw. >Spinozisten< La Mettrie und sein provokativer Affront gegenüber Haller selbst lagen somit zeitlich noch nicht weit entfernt: Man müßte weder Gott noch die Menschen lieben, wenn man sich nicht über die unselige Wirkung betrügen sollte, die die Freygeisterey in den Ländern gehabt hat, wo sie Überhandnimmt. Ein Shaftesbury, ein Bayle mag die theoretische Atheisterey beschönigen, sie mögen eine Gesellschaft von Gottesleugnern so tugendhaft abmalen als sie wollen; die lebhaftesten Farben können ihrem Gemälde eine Schönheit, aber keine Aehnlichkeit geben. Erfahrung und Vernunft stimmen hier zusammen, und wir wollen ihre vereinigten Beweise kürzlich vortragen. [...]. Der Mensch handelt nach Absichten, er sucht sein Glück, und folgt ihm auf dem Wege, den ihm seine Erkenntnis als den leichtesten, den kürzesten und den gewissesten vormahlt. Die Verleugner eines rächenden Gottes und eines ewigen Lebens, schränken unsere Glückseligkeit auf die kurze Dauer unsrer wenigen Jahre, und auf den Genuß der Wollust, der Ehre, und mit einem Worte, auf angenehme Empfindungen ein. Der unselige Verfasser des Traité de la Vie heureuse [sc. La Mettrie, S. DeA.], hat in soweit der Welt einen Dienst gethan, daß er, mit abgeworfener Larve, den Menschen die wahre Gestalt eines Gottesleugners, und die natürlichen Folgen der bisher noch so sehr beschönigten Theorie entdeckt hat. >Die Glückseligkeit, sagt er, ist das Recht eines jeden Menschen, er muß sie finden wo sie ist, sie gehört dem Lasterhaften sowohl und so billig, als dem Besten. Der Genuß der Liebe in seinem natürlichen und den Thieren vernemlichen [...] Verstände, die feinste Kitzelung der Sinne, ist unser einziges Gut, es macht allein, auch ohne die Ehre und den Beyfall

473 der Welt, uns glücklich. Dieses zu erhalten, muß ihn die Pedantin, die Tugend nicht hindern. Sie ist ein Hirngespinst, eine Brut der Kunst und ein fremdes Gewächse, das in unserm Herzen nicht von Natur keimt. Die Reue, die so hartnäckig ist, uns zu verfolgen, muß man aus den Gedanken verbannen, und das unbequeme Gewissen, eine Frucht der in unsrer Kindheit empfangenen Schläge und eingesogener Vorurtheile, muß man betäuben, schweigen heissen, und so lange ihm den Mund stopfen, bis es nicht mehr sprechen kann. An Gott ist nicht zu gedenken, und daß es kein anderes Leben gebe, ist erwiesen; also hat man nichts zu fürchten, als das einzige Wesen, das unserm Glücke im Wege ist: den Henker - vor diesem Richter muß der Philosoph freylich sich in Acht nehmen, da er sonst nichts weder über der Erde noch unter derselben scheuet. < Wenn der Unglaube so sehr überhand nehmen sollte, daß er herrschend würde, so werden unfehlbar dieß die ersten Folgen seyn, daß man die allgemeine Theorie in die Uebung brächte. Im Fortgange unserer Betrachtung werden wir zeigen, daß es schon jetzt geschiehet, da die Gottesleugner noch unter einem Stande des Drucks, und unter Königen stehen, und mit anderen Menschen gesellig leben, die einen Gott glauben, und an Mord, Blutschande, Vergiften, und andern sichern Mittel zu unserm Glücke kein Gefallen tragen. Wenn aber ganz Europa diese Lehrsätze wird angenommen, wenn ein neuer Flaminius öffentlich den Völkern wird bekannt gemacht haben: >Ihr seyd frey von dem Gott, den ihr gefürchtet habt, lebet hinfüro nach eurer WillkührWahrheitWissenschaften des Lebens< um 1750, für die Hallers Aufgabe der Hypothese der Attraktionskraft in der Embryogenese symptomatisch war, bedeutete somit auf ideengeschichtlicher Skala, daß in der Mitte des 18. Jahrhunderts das naturrechtliche Weltbild in einen >Krisenzustand< getreten war. Zu diesem Zeitpunkt war in Ansätzen bereits ein Auflösungsprozeß der Elemente dieses Weltbildes in Gang gekommen, der durch das Auftreten der rationalen Philosophie Kants 279

Vgl. Pufendorf: De jure naturae et gentium (Lund 1672, Frankfurt 21684, Amsterdam 31688), Lib. III, Cap. VI, § 9. Zit. nach Pufendorf (1998), S. 278. Detlef Döring hat in der jüngeren Pufendorf-Forschung aufgrund der Aufarbeitung von Quellenmaterial sich gegen die These des Pufendorfschen Naturrechts als >Vorläufer< der Säkularisierung gewendet und u. a. darauf hingewiesen, daß Pufendorfs letztes Ziel in einer moralischen Erneuerung der christlichen Gesellschaft bestanden habe; vgl. D. Döring: Säkularisierung und Moraltheologie bei Samuel von Pufendorf In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 90 (1993) Heft 2, S. 156-174, bes. S. 167f., sowie ders: Pufendorf-Studien. Beiträge zur Biographie Samuel von Pufendorfs und zu seiner Entwicklung als Historiker und theologischer Schriftsteller, Berlin 1992, S. 73£ Allerdings wird bei einer solchen Einschränkung übersehen, daß in Pufendorfs anthropologischem Ansatz des Naturrechts >säkularisierende< Elemente des zivilen Ethos, wie z. B. der Rückgriff auf medizinische Studien zur Begründung der >socialitas< bzw. Recht, Moral, Politik etc. auf der geist-physischen Konstitution des Menschen - s. die Angaben über die Bestände seiner Bibliothek bei Palladini (1996) - , neben religiös-theologischen Annahmen und christlichen Moralvorstellungen koexistieren, die nicht nach einer aus heutiger Perspektive zugrundegelegten Logik des Widerspruchs beurteilt werden können.

280

Vgl. hierzu Teil II, Kap. 3, 6, S. 382 dieser Studie.

476 am Ende des Jahrhunderts sowie im Kantianismus des frühen 19. Jahrhunderts eine Endphase erreichen sollte, wobei der Historismus des 19. Jahrhunderts das Weltbild des Naturrechts endgültig ersetzen sollte. Die Auflösung des Zusammenschlusses der Wissenschaften von der Natur und der Wissenschaften des Menschen, deren Analogie von der naturrechtlichen Matrix begründet wurde, erscheint für Haller plausibel, als allgemeines Urteil über die Epoche ist diese Feststellung aber im Blick auf das Wirken Ernst Platners oder Herders Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-1791) mit ihrer Uminterpretation Hallers in Richtung auf einen vitalistischen Ansatz jedoch zu relativieren. 281 In der Epoche der Frühaufklärung hatte 'sGravesande die für den Empirismus umgedeutete Newtonsche Naturwissenschaft und Forschungsmethode noch problemlos in das naturrechtliche Weltbild integrieren können; er vermochte die evidenztheoretischen Prinzipien empirischer Naturforschung sogar auf naturrechtlicher Basis zu begründen. Der 'sGravesandeschen Lehre folgend hatte Haller die Newtonsche Attraktionskraft auf seine empirische Wissenschaft der Physiologie übertragen und ihr den Status einer Grundkraft zugewiesen. Um 1750 war aber in der Sphäre des Lebendigen der Newtonsche Natur- und Kraftbegriff aufgrund seiner neospinozistischen Implikationen zur Gesellschafts- und Morallehre des Naturrechts in Widerspruch getreten. Die Hypothese der Attraktionskraft, die Haller als Beweis des innerweltlichen Wirkens Gottes verstanden und als eine zwischen Gott und der Materie vermittelnde Ursache der Embryogenese für wahrscheinlich gehalten hatte, konnte somit nicht länger aufrechterhalten werden. Dies war der Moment, in dem Haller zur Erklärung der Entstehung von Leben auf eine >rationalere< Hypothese zurückgreifen mußte. Dies war auch die Phase, in der mit Haller und Bonnet die >Wissenschaften des Lebens< im Rahmen eines mechanistischen Weltbildes einen Rationalisierungsschub erfuhren, der bis ins 19. Jahrhundert andauern sollte. Durch die >Evolutionshypothese< (Präformation) restituierte Haller zwar den Ursprung des Menschengeschlechts im Schöpfergott, aber um den Preis seiner im physikotheologischen Sinne verstandenen Omnipräsenz in der Natur. Gott verblieb somit nicht nur außerhalb der Welt in der Transzendenz, es wurde implizit auch zugegeben, daß er in der Welt, sowohl in der physischen als auch in der moralischen, keine Wirkung mehr hatte. Dies entlastete Gott von dem Übel in der Welt und belastete dafür umso mehr den Menschen. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung kann die Erklärung von Hallers Verteidigung der >Evolutionshypothese< in der Endphase seiner embryologischen Forschungstätigkeit, in der die Jahre 1757/58 bestimmt einen Einschnitt bildeten, um einen weiteren relevanten Gesichtspunkt ergänzt werden: Indem die >Evolutionshypothese< 281

Vgl. hierzu W. Proß: Jean Pauls geschichtliche Stellung, Tübingen 1975 sowie Proß (1997) und v.a. Proß (2002).

477

in generationstheoretischer Hinsicht zu der einzigen logischen und rationalen Möglichkeit geworden war, gegen den Materialismus den Beweis der Existenz eines Schöpfergottes zu restituieren, war sie in weltanschaulicher Hinsicht ein Versuch, die Elemente eines sich auflösenden Weltbildes, in dem es vor allem um eine Idee des Menschen und seiner Stellung in der societas civilis ging, zu rekonstituieren und aufrechtzuerhalten. Gerade deshalb wäre es verfehlt, Hallers Haltung in religiösen Fragen - insbesondere auch in der letzten Periode seines Lebens - als >reaktionär-moralistisch< und als abgedroschene Frömmelei eines pedanten Christen abzuqualifizieren und seine Verteidigung des Systems der Präformation, etwas simplifizierend, bloß als eine Indienstnahme der Wissenschaft für die Zwecke der Religion zu betrachten. Die >Evolutionshypothese< war daher vielmehr ein letzter verzweifelter Versuch, die Geschichte der Natur und besonders die Geschichte des Menschen in seinem vergesellschafteten Zustand als ein Projekt des Willens des Schöpfers sinnhaft zu verstehen und nicht als ein notwendiges Produkt des >blinden< Zufalls, dem auch jederzeit drohte, von ihm, dem Zufall, der Natur und der Geschichte, nicht von Gott, zerstört zu werden.282

282

So betrachtet ist die >Evolutionshypothese< für den gläubigen Naturforscher gewissermaßen auch ein Trost. Vgl. hierzu La Vergata (1990), bes. Kap. II (L'equilibrio della natura, il male e le consolazioni del naturalista e del filosofo), bes. S. 89-115.

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