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German Pages 245 [250] Year 2018
Von Hesiod bis Thomas Mann
CLASSICA MONACENSIA
Münchener Studien zur Klassischen Philologie Herausgegeben von Martin Hose und Claudia Wiener Band 53 · 2018
Andreas Patzer
Von Hesiod bis Thomas Mann Dreizehn Abhandlungen zur Literatur- und Philosophiegeschichte
Umschlagabbildung: Marmorsphinx als Basis. Neapel, Museo Nazionale, Inv. 6882. Guida Ruesch 1789. H: 91 cm INR 67. 23. 57. Su concessione del Ministero dei Beni e delle Attività Culturali e del Turismo – Museo Archeologico Nazionale di Napoli. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.dnb.de abrufbar.
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Martin Hose gewidmet
Muss ja doch nicht alles über alle Begriffe hinausgehen, die man nun einmal gefasst hat; es ist auch gut, wenn manches sich an den gewöhnlichen Sinn anschliesst. Goethe
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Hesiod als Rhapsode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Hesiod als Dichter. Das Proömium der Theogonie als Musenhymnus . . . . .
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Ausdrucksformen der frühgriechischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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De Alcmaenonis Crotoniatae apud Platonem uestigio & Additamentum Alcmaeonium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die übertiefe Tiefe (Empedokles 35, 3 – 5 & Physika I, 288 – 290) . . . . . . . . . .
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Platon über den Ursprung der Eleaten und Herakliteer . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Platons Selbsterwähnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Aἰσχίνου Μιλτιάδης . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Die Naevius-Ausgabe des Octavius Lampadio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Aulus Hirtius als Redaktor des corpus Caesarianum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Ad u.c. Segimerum Doepp de loco quodam Quintilianeo epistula . . . . . . . . . . . 164 Erwin Rohde in Bayreuth. Sieben ungedruckte Briefe an die Braut . . . . . . . 166 Ah Virgil, Virgil! – der Speichellecker des julischen Hauses. Die literarische Bedeutung des Lateinischen in Thomas Manns Zauberberg . . . . . . . . . . . . . 191
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Inhalt
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 In memoriam Uvo Hölscher. Rede, gehalten am 9. Mai 1997 in der Aula der Ludwig-Maximilians-Universität zu München . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 In laudem Werner Suerbaum. Rede, gehalten am 20. April 2016 auf einer Veranstaltung der Petronian Society im Lyrik-Kabinett zu München . . . . . . 230 Schriftenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
Vorwort Der vorliegende Sammelband enthält dreizehn wissenschaftliche Abhand‐ lungen, die der Verfasser in den Jahren von 1974 bis 2012 veröffentlicht hat; im Anhang finden sich zwei Reden, die in die Jahre 1997 und 2016 datieren. Der Band ergänzt und komplettiert so den Sammelband Studia Socratica, der im Jahre 2012 als 39. Band in der Reihe Classica Monacensia erschienen ist. Während dort zwölf Abhandlungen dem einem Thema Sokrates galten, haben die Abhand‐ lungen in diesem Sammelband ein disparates Ansehen, insofern sie, wie der Untertitel aussagt, sowohl der Literatur- wie auch der Philosophiegeschichte verpflichtet sind und auch chronologisch verschiedenen Epochen angehören, die von der frühen Epik der Griechen bis zum deutschen Roman des 20. Jahr‐ hunderts reichen. Ein solch disparates Material so anzuordnen, daß der Leser nicht vollends den Überblick verliere, war keine ganz leichte Aufgabe. Eine Anordnung der Ab‐ handlungen nach dem Zeitpunkt ihrer Enstehung verbot sich von selbst, da, wie das Motto deutlich genug anzeigt und der ursprünglich vorgesehene Gesamttitel Haud multa noch deutlicher angezeigt haben würde, die geistige Entwicklung des Verfassers hier nicht von Belang ist. So blieb die Wahl, die einzelnen Stücke entweder nach thematischen oder nach chronologischen Gesichtspunkten an‐ zuordnen. Vor diese Wahl gestellt, erwies sich die chronologische Anordnung als die bessere Lösung, da sie widerspruchsfrei und also auch übersichtlicher aus‐ fällt als eine thematische Anordnung. Hiernach ergab sich, daß jene acht Ab‐ handlungen, die der griechischen Literatur zuzuordnen sind, am Anfang stehen (Abh. 1 – 8); es folgen drei Abhandlungen, die der lateinischen Literatur zuzu‐ ordnen sind (Abh. 9 – 11); zwei Abhandlungen, die der deutschen Sprache und Literatur verpflichtet sind, bilden den Schluß (Abh. 12 f.). Im Anhang finden sich zwei Reden auf Personen, die für den Verfasser von besonderer Bedeutung ge‐ wesen sind. Der Text der einzelnen Abhandlungen wurde inhaltlich nicht verändert. Stattdessen bietet die Einleitung zu jedem Titel eine kurze recapitulatio oder auch retractatio, die zum weiteren Verständis der Texte ebenso beitragen sollen wie die ergänzenden Bibliographien, die einzelnen Beiträgen beigegeben wurden. Der Verfasser sagt den Herausgebern Claudia Wiener und Martin Hose ex animi sui sententia Dank, daß sie auch dieses Sammelwerk in die schöne Reihe Classica Monacensia aufgenommen haben. Dank auch an den Verlag und be‐
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Vorwort
sonders an Herrn Tillmann Bub für freundlich-fachkundige Hilfe bei der Druck‐ legung. Dank auch an Samuel Stöcklein für Hilfe beim Lesen der Korrektur. München im März 2018
Andreas Patzer
Einleitung Acht Abhandlungen zur griechischen Literatur und Philosophie (1 – 8)
Am Anfang der Sammlung und also am Anfang jener Abhandlungen, die der griechischen Literatur und Philosophie gelten, stehen zwei Abhandlungen, die dem frühgriechischen Epiker Hesiod gewidmet sind: Zum einen wird versucht, Hesiod als Rhapsoden zu kennzeichnen (Abh. 1), zum anderen wird Hesiod als Dichter gewürdigt durch eine Interpretation des Proömiums der Theogonie als Musenhymnus (Abh. 2). – Beide Abhandlungen verfolgen auf jeweils verschie‐ denen Wegen ein und dasselbe Ziel: Hesiod als frühen Rhapsoden darzustellen, der die agonale Form des öffentlichen epischen Vortrags an den Götterfesten der Polis insofern in singulärer Weise gestaltete, als er nicht, wie sonst der usus, literarisch vorgeprägtes episches Liedgut vortrug, sondern, wenn nicht nur, so doch jedenfalls auch eigene poetisch gestaltete hexametrische Poesie, die sich neben der etablierten Homerischen Epik im späteren Verlauf der rhapsodi‐ schen performance ein eigenes standing eroberte, insofern als sie nicht mehr den Heroenmythos zum Thema hatte, sondern den genealogischen Mythos der Des‐ zendenz der Götter und eine paränetisch gehaltene ethische Interpretation der Menschenwelt im Horizont der göttlichen Herrschaft des Zeus. – Im übrigen hofft der Verfasser sub reseruatione Iacobea in nicht allzu ferner Zukunft eine größere Studie über die Vermittlung der epischen Poesie bei den Griechen vorlegen zu können, in der die performance des Aöden einerseits und die performance des Rhapsoden und des Kitharoden andererseits als jeweils verschiedener soziokul‐ tureller Akt beschieben wird, demzufolge die epische Poesie einerseits als oral poetry bzw. als poetische ad hoc-Erfindung mit einfacher musikalischer Beglei‐ tung beim Festmahl im Königspalast in Erscheinung tritt, andererseits als lite‐ rarisch (schriftlich) vorgeformte sogenannte Homerische Epik Platz greift, die im agonalen Götterfest der Polis im Falle des Rhapsoden rein rezitativ, im Falle des Kitharoden musikalisch (melodisch, instrumental und gesanglich) gestaltet wird. Hauptdokument dieser epochalen Änderung des epischen Vortrags ist die Ilias, eine singuläre Leistung Homers, insofern hier die Manier der oral poetry zum ersten Male als Literatur in Kraft tritt, also als ein fraglos schriftlich kom‐ poniertes episches Erzählwerk, dessen poetische Qualität ebenso inkommensu‐ rabel ist wie seine schiere Quantität, die sich auf mehr als 15.000 Hexameter
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beläuft und so in toto weder für die performance des Aöden taugt noch für die performances der Rhapsoden oder Kitharoden, die jeweils immer nur eine Aus‐ wahl aus dem Text des Riesenwerkes zu Gehör bringen können. Womit nicht nur der produktionsästhetische, sondern auch der soziale Hintergrund der Ho‐ merischen Ilias in Frage steht, so daß die vielberühmte Homerische Frage wieder in den Vordergrund rückt, wenn auch in anderer Form und Weise als ehedem. Die folgenden drei Abhandlungen gelten der frühgriechischen Philosophie. Den Anfang macht die Abhandlung über die Ausdrucksformen der frügriechi‐ schen Philosophie (Abh. 3). – Ausgegangen wird hier von der Beobachtung, daß das frühgriechische Denken auf verschiedene Weise vermittelt worden ist: Ent‐ weder mündlich oder schriftlich, und wenn schriftlich, so entweder als Poesie oder in Prosa. Des weiteren ist zu konstatieren, daß der Wechsel von einem zum anderen Medium durchaus nicht kontinuierlich verläuft, sondern in Brüchen: So erfindet etwa Anaximander nicht nur die Philosophie, sondern zugleich auch die philosophische Prosa als angemessenen Ausdruck eines au fond nicht mehr mythischen Denkens, dessen Heimstatt vor allem die epische Poesie war. Das hindert nicht, daß Xenophanes seine aufklärerische Kritik an der mythischen Weltsicht als Rhapsode in Hexametern vorbringt, die metrisch durch jambische und wohl auch elegische Verse konterkariert werden. Parmenides wiederum greift auf das epische Lehrgedicht zurück, dem er neue Form verleiht, um seine radikale Ontologie als göttliche Offenbarung darstellen zu können und so gegen die hämische Einrede des common sense in Schutz zu nehmen. Heraklit wie‐ derum trägt seine Philosophie in einer eigenständigen Prosa vor, die so änig‐ matisch tiefsinnig ist, wie seine dialektische Sicht der Welt: In der Sprache ver‐ birgt und entbirgt sich das Geheimnis des Seins als Einheit des Gegensätzlichen. Daß Empedokles dann wieder zur später kanonischen oder Hesiodeischen Form des hexametrischen Lehrgedichts greift, erklärt seine Nähe zum ontologischen Denken des Parmenides, während die gedankliche Nähe ebendieses Denkens zur pythagorischen Geheimlehre der Metempsychose eigentlich Schweigen ge‐ boten hätte, wie es die eigentlichen Pythagoreer denn auch bis auf Philolaos streng gewahrt haben. Die Parmenideer Zenon und Melissos wiederum vertei‐ digen die poetisch begründete Ontologie ihres Meisters in gedanklich hochan‐ spruchsvoller Prosa, während ein so radikaler Herakliteer wie Kratylos die Am‐ bivalenz des Heraklitischen Denkens, kanonisch formuliert im sogenannten Flußgleichnis, in der Aphasie enden läßt. Erst Anaxagoras hat dann die philo‐ sophische Prosa, wie sie Anaximander erfunden und Anaximenes fortgeführt hatte, als angemessenen Ausdruck philosophischer Mitteilung endgültig etab‐ liert – ein Fortschritt, der sich in der vergleichsweise eleganten Prosa des Dio‐ genes aus Apollonia artikuliert und ihren Höhepunkt sodann in Demokrit findet,
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dessen philosophischen Stil eine kompetente antike Kritik ebenso hoch ein‐ schätzen zu sollen glaubte wie die freilich ganz anders geartete Platonische Prosa. Im übrigen markiert Demokrit nicht nur stilistisch, sondern auch philo‐ sophisch den Höhepunkt und zugleich auch das Ende der frühgriechischen Phi‐ losophie, die über die Atomlehre unmittelbar auf die moderne Physik verweist. – Platon wußte im übrigen sehr wohl, weshalb er Demokrit, der nicht nur ein Zeitgenosse des Sokrates war, sondern auch seiner selbst, nirgends erwähnte, während er Sokrates doch in allen seinen Schriften, die Nomoi ausgenommen, auftreten läßt, um sich selbst, aus welchen Gründen auch immer, als Erfinder einer ethischen Ontologie verbergen zu können, deren Ursprung im mündlichen Philosophieren des Sokrates wurzelt, das einen Neubeginn der griechischen Philosophie markiert, insofern es im neuen Horizont des Sozialen die mensch‐ liche Unwissenheit in betreff der ethischen Grundfrage nach dem Wesen des Guten immer wieder gesprächsweise konstatiert. – Es kann nach alledem keine Rede davon sein, daß sich die Ausdrucksformen der frühgriechischen Philoso‐ phie kontinuierlich entwickelt hätten. Das ist ein bedeutsamer Befund: Wenn das entwicklungsgeschichtliche Modell hier im Formalen nicht statt hat, so muß in jedem einzelnen Falle geprüft werden, weshalb ein Denker diese oder jene Form des Ausdrucks gewählt hat, um sich philosophisch mitzuteilen. Wenn aber, wie sich von selbst versteht, die äußere Form der Mitteilung mit dem gedank‐ lichen Gehalt, von dem sie kündet, jeweils in engem Konnex steht, so gibt jene der Interpretation je und je einen bedeutsamen Hinweis auf diesen, wie er anders so nicht zu erlangen wäre. – Eine solche Interpretation hat sich die vorliegende Abhandlung vorgenommen. Sie wiederholt in der komprimierten Form eines Handbuchartikels, was der Verfasser in seinem 2006 erschienenen Buch Wort und Ort. Oralität und Literarizität im sozialen Kontext der frühgriechischen Phi‐ losophie ausführlicher dargetan hat – ein Buch, das bis dato im wissenschaftli‐ chen Diskurs kaum Wirkung getan hat, wiewohl sein Grundgedanke, wie der Verfasser immer noch glaubt, durchaus neu und fruchtbar gewesen ist und immer noch ist. So mag er hier noch einmal einen Platz finden. – Wer im übrigen unter den späteren frühphilosophischen Prosaikern Archelaos aus Athen ver‐ mißt, wo er doch Diogenes aus Apollonia findet, konstatiert zu Recht eine In‐ konsequenz. Will er das Vermißte dennoch finden, so sei er auf des Verfassers Abhandlung über Sokrates und Archelaos aus dem Jahre 2006 verwiesen, die jetzt am bequemsten in dem Sammelband Studia Socratica (Tübingen 2012, S. 163 – 202) zugänglich ist. Quae sequitur dissertatio est de Alcmaeone Crotoniata (diss. 4). – Hac in dis‐ sertatione breuissime demonstrare conatus est auctor Platonem loco illo celeberrimo de historia philosophica (Soph. p. 242 ed. Steph.) occulte Alcmaeonem Crotoniatam
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significare inter eos philosophos qui duo principia rerum esse confirmauerint. Quae coniectura eo probatur, quod Isocrates, ubi philosophos simili modo recenset atque Plato (Antid. 268), Alcmaeonem philosophum nominatim dicit qui duo principia rerum esse censuerit. – Solet occulte loqui Plato. Quod si perspexeris suo quoque loco, cognitionem antiquae philosophiae haud paulum augere poteris. Die dritte Abhandlung über das frühgriechische Denken gilt der Emendation des Empedoklestextes, der vom Vordringen des Streites bis in die übertiefe Tiefe des Seins kündet, in die sich auch die Liebe zurückgezogen hat (Abh. 5). – Der Verfasser hat diese Abhandlung zusammen mit seinem Münchner Kollegen Oliver Primavesi erstellt, der durch die Edition der Straßburger Empedokles-Pa‐ pyri, die auch hier im Mittelpunkt stehen, der Empedokles-Interpretation neue Horizonte eröffnet hat. Hier handelt es sich um eine Konjektur, durch die der Verfasser versucht hat, den schadhaft bzw. fehlerhaft überlieferten Text über das Ende der Herrschaft des Neikos an zwei Stellen (Phys. I 288 & VS B 35, 3) zu emendieren. Dieser eingestandermaßen kühne Emendationsvorschlag (ὑπέρβαϑυ βένϑος bis) hat sich nicht durchsetzen können. Auf Einzelheiten ist hier nicht näher einzugehen. Es genügt der Hinweis, daß O. Primavesi in der nunmehr maßgeblichen Edition des ersten Buches der Empedokleischen Physika (Archiv für Papyrusforschung, Beiheft 22, 2008 p. 21 & 25) zweimal die Konjektur ἀνὑπέρβατα βένϑε᾽ in den Text aufgenommen hat. Daß diese Konjektur im ersten Falle (Phys. I 288) paläographisch besser paßt (Pierris 2005 p. 211) und daß hiernach die zweite Konjektur (VS B 35, 3) notwendig gegeben ist (Primavesi p. 25), steht auch für den Verfasser außer Frage. Indes berührt der Wechsel der Textgestaltung wegen der Ähnlichkeit der Sachaussage nicht eigentlich den ge‐ danklichen Duktus der Abhandlung, deren Interpretation, wie der Verfasser meint, durchaus auch ohne Rücksicht auf die obsolete Konjektur sehr wohl noch einen Beitrag zur Interpretation des Empedokles-Textes zu leisten vermag. Daß der Co-Autor rebus sic stantibus die Erlaubnis erteilt hat, diese Abhandlung noch einmal abzudrucken, dafür sei ihm von Seiten des Co-Autors an dieser Stelle herzlich gedankt. Die nächstfolgende Abhandlung über Platon und den Ursprung der Eleaten und Herakliteer legt dar, wie das frühgriechische Denken durch Vermittlung der So‐ phistik zu Platon gelangt ist (Abh. 6). – Ausgegangen wird von der Beobachtung, daß Platon im Sophistes und im Theätet jeweils einen Stammbaum vorführt, in dem die Eleaten als Vertreter der Lehre von der Einheit des Seins bzw. die He‐ rakliteer als Vertreter der Lehre vom ewigen fluxus des Seins bis in mythische Sphären zurückverfolgt werden. Dieses Denkmodell, das Platon nicht ohne Ironie vorführt, läßt sich zurückführen auf eine Schrift des Sophisten Hippias, die den programmatischen Titel Συναγωγή trug und unter einem Stichwort eine
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Fülle einschlägiger Zitate und Sentenzen aus ältester und jüngerer Zeit in Form doxographischer Stammbäume darbot als ein Vademekum der Bildung und Ge‐ lehrsamkeit, mit dem der Leser dann öffentlich und im Gespräch glänzen konnte. – Der Verfasser hat diesen Interpretationsansatz in seinem Buch Der Sophist Hippias als Philosophiehistoriker (Freiburg / München 1986) in extenso ausgeführt und so nachgewiesen, daß nicht wenige Nachrichten über Sachver‐ halte der frügriechischen Philosophie auf Hippias zurückzuführen sind, dessen kühne Zu-sammenführungen unter je einem Stichwort plus Zitat, von Platon nicht ohne Ironie angeführt, von Aristoteles aber bereits, sehr zum Schaden der Philosophiegeschichte, für bare Münze genommen werden. – Dieses Buch hat im wissenschaftlichen Diskurs durchaus Wirkung getan, aber die Wirkung wäre wohl größer gewesen, wenn der Verfasser Hippias im Titel nicht als Philoso‐ phiehistoriker bezeichnet hätte. Das war ironisch gemeint, aber Ironie ist im Falle einer Titelgebung nicht am Platze. Richtiger und besser wäre der Titel Hippias oder Über den Anfang der Doxographie gewesen, da so auf den ersten Blick er‐ kennbar gewesen wäre, daß Hippias der Erfinder jenes doxographischen Mo‐ dells gewesen ist, das Zitate bzw. Ansichten verschiedener Autoren unter einem selbstgewählten oder vorgegebenen Stichwort zu versammeln trachtet, um so die Fülle des Gesagten und Gedachten überschaubar zu machen. – Im übrigen muß der Verfasser bekennen, daß sein Lehrer Uvo Hölscher recht hatte, wenn er ihn daraufhinwies, daß das Adverb ἴσως im Proömium der Synagoge (VS 86 B 6) nicht colloquial abgeschwächt im Sinne anheimstellender Möglichkeit zu verstehen ist, sondern im eigentlichen Sinne eine veritable Gleichheit bzw. Ähn‐ lichkeit annonciert: Der sorgfältig komponierte programatische Anfangssatz erlaubt keinen abgeschwächten Wortgebrauch. – Wissenschaftliche Redlichkeit gebietet anzumerken, daß das Thema dieses Buches schon einmal Gegenstand einer wissenschaftlichen Studie gewesen ist: Georg Picht hat im Jahre 1951 eine Untersuchung verfaßt mit dem Titel Eine Schrift des Hippias von Elis. Die älteste Darstellung der vorsokratischen Philosophie. In dieser Schrift, die erst Jahrzehnte später veröffentlicht wurde (in: G. Picht, Die Fundamente der griechischen On‐ tologie, hrsg. von C. Eisenbart, Stuttgart 1996, S. 235 – 296) geht Picht teils die‐ selben, teils andere, meist waghalsigere Wege als der Verfasser. Worüber hierorts nicht en détail zu reden ist. Nur soviel sei eingestanden, daß der Verfasser jene kardinale Stelle in den Nomoi (7 p. 811 a), wo Platon ironisch auf die Synagoge des Hippias als ein Werk für die Knabenerziehung anspielt (Picht S. 258 f.), nicht hätte übersehen dürfen. Die folgendenden beiden Abhandlungen, die die Reihe jener Abhandlungen beschließen, die dem Griechentum gewidmet sind, gelten der Sokratik. – An erster Stelle steht eine Abhandlung über Platons Selbsterwähnungen (Abh. 7).
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Schon in der Antike ist aufgefallen, daß Platon sich selbst insgesamt nur dreimal mit Namen erwähnt: Zweimal in der Apologie, einmal im Phaidon. Diese extra‐ ordinäre literarische Geste der Selbsterwähnung schafft nun zwischen Apologie und Phaidon einen besonders engen Konnex, der durch weitere signifikante li‐ terarische und kompositorische Gemeinsamkeiten und auch Gegensätze nach‐ drücklich bekräftigt wird, so daß am Ende der gegenstrebige Befund zutage tritt, daß Platon in der Apologie im Horizont des historischen Sokrates spricht, im Phaidon aber den Platonischen Sokrates zu Worte kommen läßt. Weshalb er denn hier, anders als dort, literarisch nicht mehr als anwesend aufgeführt werden darf. – Aus alledem ist zu ersehen, wie weit die Interpretation solcher literari‐ scher Gesten (Formulierung: U. Hölscher) führen kann, die Platon seinen Schriften so sinnreich und zahlreich verwendet, daß sie nachgerade als Ariad‐ nefaden dienen können, anhand dessen man einen Weg in das Platonische Denken finden kann, das ja – den Siebten Brief ausgenommen – keine Ich-Aus‐ sage duldet, sondern sich immer nur in literarischer Verhüllung ausspricht, indem statt Platon andere reden, unter denen sich – die postumen Nomoi wie‐ derum ausgenommen – stets Sokrates befindet, der in der Apologie als Redner fungiert, in den Dialogen oft als Gesprächsteilnehmer oder als Gesprächsführer auftritt, bisweilen aber auch als mehr oder weniger schweigsamer Gast. Will man Sinn und Hintersinn dieser verhüllenden Form der Mitteilung ergründen, weil sich anders das Wesen der Platonischen Philosophie nicht erschließt, so muß man den Blick auf die literarische Form und die literarischen Formen richten, die die philosophische Aussage jeweils verhüllen, zugleich aber auch enthüllen – gesetzt, daß man genau hinsieht und für das ironische Spiel, das Platon als Literat mit der Philosophie treibt, einen Sinn entwickelt und sich bewahrt, weil anders jede Interpretation des Platonischen Schreibens und Den‐ kens notwendig in die Irre geht. – Wenn man die literarischen Gesten, die Platon im Großen wie im Kleinen so vielfach verwendet, um literarisch auf Philoso‐ phisches hinzuweisen, systematisch erforschen würde, so erhielte man am Ende womöglich auch eine Antwort auf jene kardinale Frage, die jede Interpretation Platons, die der Rede wert ist, stellen und zu beantworten versuchen muß, wes‐ halb nämlich Platon seine Philosophie nicht anders als in literarischer Verhül‐ lung und Verfremdung darstellen konnte, wollte oder mußte. Eine umfassende Studie über das einschlägige Thema, die etwa den Titel Literarischer Gestus und philosophischer Gedanke bei Platon führen könnte, ist und bleibt ein Desiderat der Platonforschung. Die folgende Abhandlung über den Miltiades des Sokratikers Aischines (Abh. 8) hätte eigentlich in dem Sammelband Studia Socratica (Tübingen 2012) Platz finden müssen. Was damals versehen wurde, will der Verfasser hier nachholen. –
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Die Abhandlung versucht eine Interpretation zweier Oxyrhynchos-Papyri (Nr. 2889 sq.), die den Anfang des bisher nur wenig bekannten Sokratischen Dialogs Miltiades überliefern. Der Verfasser war der erste, der sich nach der editio princeps zu diesen einigermaßen sensationellen Papyri, denenzufolge auch Euripides als Gesprächspartner des Sokrates auftrat, ausführlich geäußert hat. Wollte er auf alles eingehen, was seitdem zu diesen Texten geäußert wurde, so müßte er eine neue Abhandlung schreiben. Stattdessen findet sich am Ende des Aufsatzes eine Bibliographie, die alle wissenschaftlichen Untersuchungen ver‐ zeichnet, die über das einschlägige Thema seither erschienen sind. – Die Dis‐ kussion ist insofern von Belang, als Aischines derjenige Sokratiker ist, der die poetischen Möglichkeiten des Sokratischen Dialogs narrativ am intensivsten ge‐ nutzt hat und dabei – sehr merkwürdig – die literarisch-fiktionale Gestalt des Sokrates offenbar weniger mit eigenen bzw. fremden Philosophemen belastet hat als jeder andere Sokratiker. Hätten wir nur die Sokratischen Dialoge des Aischines und dazu etwa noch die Platonische Apologie, so hätte es die vielbe‐ rühmte Sokratische Frage wohl gar nicht gegeben. Drei Abhandlungen zur lateinischen Literatur (9 – 11)
Die nächstfolgende Abhandlung ist die erste von jenen drei Abhandlungen, die Themen aus der lateinischen Literatur gewidmet sind. Es handelt sich um die Naevius-Ausgabe des Octavius Lampadio, die Gelegenheit bietet über das altrö‐ mische Buchwesen nachzudenken (Abh. 9). – Wenn Lampadio, ein Zeitgenosse des Aristarch, das bellum Punicum des Naevius, das in einem uolumen ediert vorlag, auf sieben Bücher verteilte, so folgte er dem usus der Alexandrinischen Epoche, die für ein poetisches Buch einen Umfang von 700 bis 800 Hexame‐ terzeilen vorschrieb. Woraus sich, den kürzeren Umfang des Saturniers in Be‐ tracht gezogen, für das bellum Punicum ein Gesamtumfang von ca. 5.500 Satur‐ niern ergibt, die ursprünglich auf einer Papyrusrolle Platz fanden, die den poetischen Text ohne Rücksicht auf die Kolometrie continenti scriptura darbot, wie sie in Alexandria allein für Prosatexte in Gebrauch gewesen ist. – Sind diese Überlegungen richtig, so ist auch ein Blick auf die Odusia des Livius Andronicus belehrend sowie ein neuer Blick auf die sogenannte Großrollenhypothese, die Th. Birt in seinem klassischen Werk über Das antike Buchwesen (Berlin 1882) sei‐ nerzeit zum Mißfallen der Kritik aufgestellt hat. – Eine abweichende Interpre‐ tation vertritt W. Suerbaum (ZPE 92, 1992, 153 – 173), gegen den coram publico zu polemisieren der Verfasser nicht gemeint war. Die zweite Abhandlung aus dem Bereich der lateinischen Literatur trägt den programmatischen Titel Aulus Hirtius als Redaktor des corpus Caesarianum (Abh.
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10). – Im Mittelpunkt dieser Studie steht jene berühmt-berüchtigte praefatio, die Hirtius in Form eines fiktiven Briefes an Cornelius Balbus dem achten Buch De bello Gallico vorangestellt hat. Eine detaillierte Analyse dieses in vertracktem Latein geschriebenen und vielfach umstrittenen Textes führt zu dem Ergebnis, daß Hirtius geplant hat, Cäsars Schriften De bello Gallico und De bello ciuili miteinander zu verbinden und fortzusetzen vom Alexandrinischen Krieg bis zum Tode Cäsars. Dieser anspruchsvolle Plan, den der Balbus-Brief im Horizont der Fiktionalität als vollendet bezeichnet, kam wegen des alsbald erfolgten Todes des Hirtius im Jahre 43 nur zum kleineren Teil zur Ausführung: Hirtius schrieb die fiktive praefatio und das achte Buch De bello Gallico; ob er auch Cäsars Werk De bello ciuili edierte, das noch heute alle Anzeichen der Unfertigkeit trägt und also jedenfalls erst nach Cäsars Tod veröffentlicht wurde, steht dahin; keinesfalls aber kommt Hirtius als Verfasser jener eigenständigen Werke über den Ale‐ xandrinischen, den Afrikanischen und den Spanischen Krieg in Betracht, die wir jetzt an Stelle der commentarii des Hirtius im corpus Caesarianum lesen. Wahr‐ scheinlich fand jener Redaktor, der vollenden wollte, was Hirtius unvollendet hinterlassen hatte, diese in zunehmend rustikalem Latein verfaßten bella im Nachlass des Hirtius vor und edierte nun faute de mieux jene Texte, die Hirtius wohl lediglich aufbewahrt hatte, um sie als Subsidien für sein Geschichtswerk zu gebrauchen.Wer dieser Redaktor war, wissen wir nicht. Womöglich war es aber Cornelius Balbus, der mit den Plänen des Hirtius ja wohlvertraut war. Je‐ denfalls ließ der fortdauernde Bürgerkrieg es seitens der Cäsarianer als opportun erscheinen, die Sicht Cäsars auf das bisherige Kriegsgeschehen sobald als mög‐ lich der Öffentlichkeit kundzutun. – Die Bibliographia Hirtiana am Ende der Abhandlung wurde bis auf die neueste Zeit ergänzt. Sequitur tertio loco epistula perbreuis, quae ad amicum Segimerum Doepp scripsit auctor de loco quodam Quintilianeo (Inst. Or. 12. 10. 21), quem emendauit amicus uerbo modi deleto (diss. XI). quam emendationem adfirmare conatus est auctor Quintiliani elocutione accuratius inspecta. Zwei Abhandlungen über deutsche Kultur und Literatur (12 f.)
An erster Stelle findet sich hier unter dem Titel Erwin Rohde in Bayreuth eine kommentierte Edition jener sieben Briefe, die Erwin Rhode während der ersten Bayreuther Festspiele (1876) an seine damals sechzehnjährige Braut Valentine Framm geschrieben hat (Abh. 12). – Diese Briefe sind kultur- und geistesge‐ schichtlich von großer Bedeutung, da sie einen Einblick in das Getriebe der ersten Bayreuther Festspiele geben, vor allem aber auch einen Eindruck davon vermitteln, wie ein junger und hochgebildeter Wagnerianer, dazu auch ein enger
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Freund Friedrich Nietzsches, dieses kolossale Kunstereignis erlebt hat, an dem auch Nietzsche teilgenommen hat. – Edition und Kommentar dieser Briefe sind ein nicht ganz unwichtiges Seitenstück und eine Ergänzung zu der großen kom‐ mentierten Ausgabe des Briefwechsels zwischen Franz Ovberbeck und Erwin Rohde, den der Verfasser als ersten Band der Supplementa Nietzscheana im Jahre 1990 herausgeben hat. An zweiter und zugleich letzter Stelle firmiert eine Studie, die unter dem Titel Ah Virgil, Virgil! – der Speichellecker des julischen Hauses untersucht, was der Untertitel als Die literarische Bedeutung des Lateinischen in Thomas Manns Zau‐ berberg beschreibt (Abh. 13). – Sprachen nehmen in diesem im Jahre 1924 er‐ schienenen europäischen Weltroman, der in einem Schweizer Luxus-Sanato‐ rium in Davos spielt, ja eine besondere Stellung ein, insofern sie die internationale Hautevolee markieren, die hier die Tuberkulose kurieren läßt, die als europäische Modekrankheit zu Beginn des 20. Jahrhunderts à jour ist. In diesem Wirrwarr der modernen Sprachen findet nun überraschenderweise auch das Lateinische einen Platz, insofern sich der Humanist Settembrini wie auch der Jesuit Naphta, die beide um Hans Castorps Seele kämpfen, jeweils auf das Lateinische als Ursprung ihrer Weltanschauung berufen: Settembrini sieht im Klassischen Latein, wie es die Renaissance wiederentdeckt hat, den Ursprung des liberalen Denkens und des demokratischen Staates; Naphta sieht im mittel‐ alterlichen Latein, dem der spanische Loyola verpflichtet gewesen ist, den Ur‐ sprung der welterlösenden Revolution des Kommunismus. Wie sich jene beiden Interpretationen der Latinität an Vergil oder besser an der Vergilrezeption auf‐ weisen lassen, davon redet die vorliegende Studie. Anhang
Im Anhang fnden sich zwei Reden, die der Verfasser aus unterschiedlichen An‐ lässen auf zwei Personen gehalten hat, die für ihn von besonderer Bedeutung gewesen sind: Die erste Rede ist eine Trauerrede In memoriam Uvo Hölscher, die am 9. Mai 1997 in der Universität München gehalten wurde (Anh. 1); die zweite Rede ist eine Lobrede In laudem Werner Suerbaum, die am 20. April 2016 im Rahmen der Petronian Society ebenfalls in München gehalten wurde (Anh. 2). – Beide Reden sind gratissimo ex animo geschrieben und mögen als ein Zeugnis der Dankbarkeit an einen unvergeßlichen Lehrer und an einen vielbewährten Vorgesetzten, Kollegen und Freund hier am Ende der Sammlung einen Platz finden, den der Verfasser durchaus als Ehrenplatz verstanden wissen möchte.
1. Hesiod als Rhapsode Kernstück des Proömiums der hesiodeischen ‚Theogonie‘ (1 – 115) ist die soge‐ nannte Musenweihe (22 – 35), in der Hesiod erzählt, wie er, als er am Fuße des Helikon die Schafe weidete, von den Musen zum Dichter berufen wurde. Es soll hier nicht näher betrachtet werden, wie Hesiod dieses erstaunliche Stück Ich-Er‐ zählung in den kunstvollen Gesamtaufbau des Proömiums eingefügt hat; auch die vielumstrittenen Verse, mit denen die Musen den Dichter anreden (26 – 28), mögen vorderhand außer Betracht bleiben. Stattdessen soll gefragt werden, was die Musen tun, nachdem sie den Dichter angeredet haben. Die Tat der Musen (30 sq.): ϰαί μοι σϰῆπτρον ἔδον δάφνης ἐριϑηλέος ὄζον δρέψασαι (δρέψασϑαι var. lect.) ϑηητόν …
Man hat sich über die Aussage dieser Verse nicht genügend gewundert. Offenbar hat die Diskussion über die alte Textvariante δρέψασαι bzw. δρέψασϑαι so sehr alles Interesse auf sich gezogen, daß die sachliche Aussage der Verse gar nicht in den Blick kam. Aber wenn man die Sachaussage des Textes richtig interpre‐ tiert, so ergibt sich von selbst, daß die Lesart δρέψασαι, die hier probeweise vorausgesetzt wird, entschieden den Vorzug verdient, ja als die einzig richtige gelten muß. Die Musen also geben Hesiod ein σϰῆπτρον. Was ist das? Geht man von der Wortbedeutung aus, so bezeichnet das Substantiv σϰῆπτρον, entsprechend dem Verbum σϰήπτεσϑαι, von dem es deriviert, nichts anderes als ein Ding, auf das man sich stützen kann. Genaueres vermeldet Homer, der im ersten Buche der ‚Ilias‘ (234 – 239) eine Beschreibung gibt. Achill, erbittert über die von Aga‐ memnon angedrohte Wegnahme der Briseis, sagt den Griechen den Kampf auf und bekräftigt diese Entscheidung durch einen Schwur: ναὶ μὰ τόδε σϰῆπτρον, τὸ μὲν οὔ ποτε φύλλα ϰαὶ ὄζους φύσει, ἐπεὶ δὴ πρῶτα τομὴν ἐν ὄρεσσι λέλοιπεν, οὐδ᾽ ἀναϑηλήσει· περὶ γάρ ῥά ἑ χαλϰὸς ἔλεψε φύλλα τε ϰαὶ φλοιόν· νῦν αὖτέ μιν υἷες Ἀχαιῶν ἐν παλάμῃς φορέουσι διϰασπόλοι, οἵ τε ϑέμιστας πρὸς Διὸς εἰρύαται …
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Aus diesen Worten geht mit wünschenswerter Deutlichkeit hervor, daß ein σϰῆπτρον ein mehrfingerdicker und fast mannshoher Baumast oder ein junger Baumstamm gewesen ist, der, abgehauen und von Blättern, Zweigen und Rinde befreit, geeignet war, dem erwachsenen Mann als Stütze zu dienen. Hieraus aber folgt, daß die Lesart δρέψασϑαι unmöglich richtig sein kann. Denn das Verbum δρέπειν bzw. δρέπεσϑαι wird, ganz wie das deutsche Wort ‚pflücken‘, stets und ausnahmslos vom mühelosen Abbrechen eines Gegenstandes ausgesagt: von Blumen etwa (hymn. Cer. 425 – 430; Herod. 2.92.2), von Blättern (Hom. Od. 12.357; Eur. El. 778, Hel. 243) oder von Früchten (Plat. Tim. 91 d, Respubl. 401 c). Wie aber sollte ein solches Wort mit der Vorstellung eines σϰῆπτρον in Verbin‐ dung gebracht werden können? Hätten die Musen Hesiod angesonnen, sich einen mannshohen und mehrfingerdicken Stamm abzupflücken, er hätte ge‐ dacht, sie spotteten seiner. – Im übrigen läßt Achills Schwur keinen Zweifel daran, daß dem σϰῆπτρον nicht nur eine praktische, sondern auch eine sym‐ bolische Bedeutung zukam: Das σϰῆπτρον ist sichtbares Zeichen der von Zeus verliehenen Rechts- und Herrschaftsgewalt des Königs. In diesem Sinne werden bei Homer auch die σϰῆπτρα des Agamemnon (Il. 2.101 – 108, 9.99) und des Odysseus (Il. 2.186, 199, 265, 268) eigens erwähnt, und die Könige heißen ins‐ gesamt σϰηπτοῦχοι (Il. 2.86; Od. 2.231). Aber auch nichtkönigliche Menschen können ein σϰῆπτρον tragen, sofern sie mit besonderer Autorität ausgestattet sind: die Priester (Il. 1.15), die Herolde (Il. 7.277, 18.505) und die Redner in der Volksversammlung (Il. 23.568; Od. 2.37, 80). – Hier also verleihen die Musen einem Dichter ein solches σϰῆπτρον, um seine Autorität als Künder der Wahr‐ heit sinnfällig zu machen. Oder nicht? Die folgenden Worte Hesiods wecken Zweifel an einer solchen Auffassung. Für sich genommen zwar ist die Partizipialaussage ebenso eindeutig wie die Prädikatsaussage: Die Musen pflücken einen Zweig von starkspros‐ sendem Lorbeer. Aber wie das Verbum δρέπειν so (und nur so) seinen guten Sinn bewahrt, so wird der Gesamtsinn des Satzes fragwürdig, wenn man be‐ denkt, daß die Partizipialaussage die Prädikatsaussage näher bestimmt. Wie denn? Die Musen verleihen Hesiod ein σϰῆπτρον, indem sie einen frischen Lor‐ beerzweig pflücken? Der Dichter bedient sich hier offenbar einer Redefigur, die die Rhetorik später als ἀπροσδόϰητον bezeichnet: eine Wendung der Rede ins Unerwartete, ja gänzlich Unvermutete. Der mannshohe, fast armdicke Stützstab erweist sich – überraschenderweise – als Lorbeerzweig. – Der Dichter hat im übrigen alles getan, um die überraschende Wendung der Rede zu betonen. Ja, es hat ganz das Ansehen, als habe er seine Verse bewußt in Hinblick auf jene be‐ rühmte Iliasstelle formuliert, die eingangs zitiert wurde: Hieß es dort, das σϰῆπτρον Achills werde nie wieder Zweige (ὄζοι) tragen, so wird das σϰῆπτρον
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der Musen ausdrücklich als Zweig (ὄζος) bezeichnet; hieß es dort, Achills σϰῆπτρον werde nicht mehr aufsprossen (οὐδ᾽ ἀναϑηλήσει), so stammt das σϰῆπτρον der Musen ausdrücklich vom starksprossenden Lorbeer (δάφνης ἐριϑηλέος); wurde es dort durch den Abhau (τομή) gewonnen, so wird es hier gepflückt (δρέψασαι). – Hinter einer so bewußt anspielenden und auf die Über‐ raschung des Hörers angelegten Redeweise muß sich ein besonderer Sinn ver‐ bergen. Man kommt diesem Sinn am ehesten auf die Spur, wenn man bedenkt, daß das ἀπροσδόϰητον stets auf etwas Neues aufmerksam machen will. Damit dieses Neue aber möglichst stark als neu empfunden werde, wird es tunlich dem Üblichen gegenübergestellt. Was aber ist hier das Neue und was das Übliche? Trugen die Sänger vor und neben Hesiod traditionellerweise ein σϰῆπτρον oder einen Lorbeerzweig als Abzeichen ihrer poetischen Würde, und will Hesiod den Lorbeerzweig oder das σϰῆπτρον als eine besondere, nur ihm verliehene Aus‐ zeichnung der Musen verstanden wissen? Wie auch immer man diese Frage beantwortet, sicher ist, daß jene Sänger, die Hesiod im Auge hat, keine Sänger gewesen sein können, wie sie im homerischen Epos dargestellt werden. Die homerischen Aöden nämlich, Demodokos, der Sänger der Phaiaken, und Phemios, der gezwungenermaßen am Hofe des Odys‐ seus für die Freier singt, tragen weder ein σϰῆπτρον noch einen Lorbeerzweig als Kennzeichen ihres Dichtertums. Wie sollten sie auch, da sie ja die Phorminx in der Hand halten, eine viersaitige Vor- und Frühform der späteren siebensai‐ tigen Kithara, auf der sie den dichterischen Vortrag musikalisch akkompag‐ nierten (Od. 1.155, 8.67, 261 sqq., 22.332). Nicht also von den Aöden ist bei Hesiod die Rede, sondern von den Rhapsoden, die, da sie auf Instrumentalbegleitung verzichteten und nur noch rezitierten, die Hände frei hatten, um ein Abzeichen ihrer dichterischen Würde zu tragen. Spätere antike Gelehrsamkeit, die von Dionysios Thrax (gramm. 5) bis zu Eustathios (Comm. in Il. lib. I praef.) reicht, behauptet, daß die Rhapsoden eine ῥάβδος in der Hand gehalten hätten. Das Substantiv ῥάβδος, den lateinischen Substantiven uerbera und uerbena sprachverwandt und von der indogermani‐ schen Wurzel uer- sich herleitend (P OKORNY 1152 – 1156), bezeichnet in der Regel einen biegsamen Gegenstand und wird so von der Angelrute (Od. 12.251) ge‐ braucht, von der Leimrute (Aristoph. Av. 527), von der Reitgerte (Xen. De re equ. 8.4) und von den fasces der römischen Liktoren (Polyb. 11.29.6). Die ῥάβδοι der Athene (Od. 13.429, 16.172, 456), des Hermes (Il. 24.343; Od. 5.47, 24.2) und der Kirke (Od. 10.238, 319, 389) sind demnach – biegsame – Zaubergerten gewesen, nicht etwa – feststehende – Zauberstäbe; wogegen nicht streitet, daß die ῥάβδοι der Athene (Od. 16.172) und des Hermes (Od. 24.2) je einmal als „golden“
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(χρυσείη) bezeichnet werden: Auch Hera trägt goldene Sandalen (Od. 11.604), und hier wie dort ist nicht an massives Gold zu denken, sondern lediglich an eine Vergoldung, durch die ein profaner Gebrauchsgegenstand in göttliche Sphäre gehoben wird. – Aus alledem erhellt, daß ῥάβδος sehr wohl einen Zweig bezeichnen kann, nicht aber ein σϰῆπτρον. Wie denn von der (goldenen) ῥάβδος des Hermes auch einmal ausdrücklich gesagt wird, sie sei „dreiblättrig“ (τριπέτηλος) gewesen (hymn. Merc. 530). Mehr noch: Dionysios Thrax (1. c.) und Eustathios (1. c.) sowie die Scholien zur o. g. Stelle des Dionysios (p. 28 sq., 179, 315, 481 H ILGARD) und die Scholien zu Platons Ion 530 a (p. 181 G REENE) berichten übereinstimmend, daß die ῥάβδος der Rhapsoden „aus Lorbeer“ (δαφνίνη) gewesen sei. Womit vollends bewiesen zu sein scheint, daß die Rhap‐ soden, wenn sie aus den homerischen Epen vortrugen, einen Lorbeerzweig in der Hand gehalten haben. Allein, dieser Beweis trügt. Es spricht vielmehr alles dafür, daß die antike Grammatik ihr Wissen nicht der lebendigen Anschauung verdankt, sondern der gelehrten Ausdeutung jener Hesiodverse, die eingangs zitiert wurden. Pausanias (9.30.3) rügt, daß man Hesiod im Musentale am Fuße des Helikon sitzend abge‐ bildet habe, wie er eine Kithara in der Hand hält: δῆλα γὰρ δὴ ϰαὶ ἐξ αὐτῶν τῶν ἐπῶν, ὅτι ἐπὶ ῥάβδου δάφνης ᾖδεν. Daß Pausanias hier (wie oft) auf antike Ge‐ lehrsamkeit rekurriert, lehrt die Verwendung des Wortes ῥάβδος, durch das er den in späterer Zeit obsoleten hesiodeischen Ausdruck ὄζος paraphrasiert. Un‐ gleich näher hätte eine Paraphrase durch die gängigen attischen Substantive ϰλάδος bzw. ϰλών gelegen, wie sie die Paraphrase der Hesiodscholien (p. 211 F LACH; p. 5 G AISFORD) bietet. Aber Pausanias wählt stattdessen den ungewöhn‐ licheren Begriff ῥάβδος, weil es der gelehrten Quelle, die er zitiert, darauf ankam, das Wort ῥαψῳδός etymologisch zu erklären. So besteht der Verdacht, daß es etymologische Spekulation gewesen ist, die dem Rhapsoden eine ῥάβδος in die Hand gedrückt hat. So daß auch die Ausdeutung der eingangs zitierten Hesiodverse in diesem Sinne nichts anderes wäre als eine gelehrte Spekulation der antiken Grammatik, deren Glaubwürdigkeit erst noch zu beweisen wäre. Dieser Verdacht wird zur Gewißheit, wenn man näher betrachtet, was die antike Gelehrsamkeit zum Beweis ihrer Hypothese an Fakten vorzubringen weiß. Das ist nicht viel. – Porphyrios, ein spätantiker Kommentator des Diony‐ sios Thrax, von dem nicht mehr bekannt ist, als daß er mit dem gleichnamigen Neuplatoniker nicht identisch ist, rekurriert auf die rhapsodische Praxis (p. 180 H ILGARD): ϰατεῖχον δὲ ϰλάδους δαφνῶν οἱ Ὁμηρίδαι ἐν ταῖς χερσίν, ὅτε τοὺς Ὁμηριϰοὺς στίχους ἐν τῇ τοῦ Ἀπόλλωνος ἑορτῇ ἔψαλλον. Eine konfuse Notiz. Das Verbum ψάλλειν ist der terminus technicus für das Spielen eines Saiteninst‐ rumentes ohne Plektron (Herod. 1.155.4; Aristoph. Equ. 522; Plat. Lys. 209 b).
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Ein solches Instrument aber benutzten die Rhapsoden notorisch nicht, wenn sie aus Homer vortrugen – nicht zu reden davon, daß man nicht die Saite einer Kithara zupfen kann, wenn man einen Lorbeerzweig in der Hand hält; wie denn auch unerfindlich bleibt, weshalb dieser usus rhapsodischen Auftretens auf ein Apollonfest beschränkt gewesen sein soll. Der letztgenannte Anstoß belehrt im übrigen über den Ursprung der Konfusion: Weil man voraussetzte, daß die Rhapsoden einen Lorbeerzweig trugen, brachte man sie mit dem Apollonfest der Daphnephorien in Zusammenhang, anläßlich dessen die Festteilnehmer Lor‐ beerzweige in den Händen hielten (Procl. ap. Phot. bibl. 321 b; Schol. ad Clem. Alex. Protr. 1.10.2 p. 298 sq. S TÄHLIN). Schwerlich kann diese gelehrte Konstruk‐ tion der antiken Grammatik, die voraussetzt, was sie beweisen soll, und voller Widersprüche steckt, historische Glaubwürdigkeit beanspruchen. – Die Scho‐ lien zu Pindar Nem. 2.1 (3 p. 29 sq. D RACHMANN) und Eustathios (1.c.) zitieren aus Kallimachos, um zu beweisen, daß der Rhapsode eine ῥάβδος in der Hand hielt. Wie wir seit der Entdeckung des Papyrus Rylands 13 wissen, handelt es sich hierbei um ein verkürztes Zitat aus der Linoserzählung der ‚Aitia‘ (fr. 26,5 – 8 P FEIFFER): ϰαὶ τὸν ἐπ˻ὶ ῥάβδῳ μῦϑον ὑφαινόμενον ἀνέρες ε[ πλαγϰτὺν[ ἠνεϰὲς ἀε̣˻ίδω δειδεγμένος …
Leider verdunkelt der neugewonnene Kontext das Verständnis der Stelle mehr, als daß er es erhellte, da sich Text und Sinn der Lücke nicht einmal erraten lassen. Soviel aber ist sicher, daß Vers 5 nicht beweist, was er beweisen soll. Wie das Verbum ὑφαίνειν anzeigt, hat Kallimachos hier nicht die ῥάβδος der Rhapsoden im Auge, sondern ein Gerät zum Weben. Gemeint ist offenbar der zur Fixierung und Trennung der Kettenfäden dienliche Webeschaft, den die Griechen, da er aus biegsamem Rohr hergestellt wurde, in der Regel ϰανών (Hom. Il. 23.761; Aristoph. Thesm. 822; Poll. Onom. 7.35) nennen, während die Römer den Aus‐ druck harundo (Ov. Met. 6.55) nur selten verwenden und stattdessen das Wort radius (Lucr. 5.1353; Verg. Aen. 9.476; Ov. Met. 4.275) bevorzugen, so daß der für uns singuläre griechische Wortgebrauch des Kallimachos wenigstens im La‐ teinischen eine Entsprechung hat. Wenn Kallimachos hier den Ausdruck ἐπὶ ῥάβδῳ ὑφαίνειν von einem μῦϑος gebraucht, so will er offenbar sagen, daß jene Erzählung, insofern sie „auf dem Webeschaft gewoben“ ist, so kunstvoll nach den Regeln poetischer Technik gestaltet wurde, wie ein Stück Stoff nach den Regeln der Webekunst hergestellt wird. Der tiefere Sinn dieser an und für sich nicht ungewöhnlichen Metapher ließe sich nur dann erschließen, wenn man
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wüßte, welche Erzählung Kallimachos im Auge hatte und wie ihre poetische Textur gehalten war; gesetzt, daß es sich um die epische Formung eines my‐ thologischen Stoffes gehandelt hätte, so wäre es sehr wohl möglich, daß die im Griechischen anderwärts nicht nachweisbare Verwendung des Wortes ῥάβδος, wie sie hier vorauszusetzen ist, auch eine etymologische Anspielung auf das Wort ῥαψῳδός enthielte. Aber das ist nicht mehr als eine Vermutung; sicher ist allein, daß die Verse des Kallimachos nicht besagen, was ihnen die antike Gram‐ matik ablauschen zu können gemeint hat: daß die Rhapsoden beim Vortrag Ho‐ mers einen Lorbeerzweig in der Hand hielten. – Pindar sagt in der vierten ‚Isth‐ mischen Ode‘ (37 – 39) über Aias: ἀλλ Ὅμηρός τοι τετίμαϰεν δι᾽ ἀνϑρώπων, ὃς αὐτοῦ πᾶσαν ὀρϑώσαις ἀρετὰν ϰατὰ ῥάβδον ἔφρασεν ϑεσπεσίων ἐπέων λοιποῖς ἀϑύρειν.
Daß auch diese Stelle schon von der antiken Grammatik auf die Rhapsoden bezogen worden ist, lehren die einschlägigen Scholien zu Vers 55 (3 p. 232 sq. D RACHMANN): τὸ δὲ ϰατὰ ῥάβδον οἱ μὲν ἀντὶ τοῦ ϰατὰ ῥαψῳδίαν, οἷον· οὐϰ ἐάσας χαμαὶ πεσεῖν ἀνέστησεν ὡς ἄγαλμα ϰαὶ ϰατὰ ῥάβδον ἔφρασε, τουτέστιν ἐρραψῴδησεν. Auch diese Interpretation der antiken Grammatik trifft nicht das Richtige. Die ῥάβδος Homers, von der Pindar hier spricht, ist nicht die ῥάβδος des Rhapsoden, sondern die zauberkräftige ῥάβδος der Götter, wie sie aus dem homerischen Epos geläufig war. Dafür spricht einmal das Genitivattribut ϑεσπεσίων ἐπέων, durch das Pindar das gottähnliche Wirken der ῥάβδος Ho‐ mers auf das deutlichste anzeigt. Wen diese Konnotation nicht zu überzeugen vermag, der blicke auf den Gesamtzusammenhang. Der grausige Selbstmord des Aias, so heißt es, fand unter jenen Hellenen, die nach Troja gezogen waren, Tadel (μομφά), Homer aber hat die Tüchtigkeit des Aias „ins Lot gebracht“ (ὀρϑώσαις) und so bei den Nachgeborenen seine Ehre wiederhergestellt (τετίμαϰεν) „gemäß der Zauberrute … seiner göttlichen Verse“ (ϰατὰ ῥάβδον … ϑεσπεσίων ἐπέων). Das will besagen: Wie die Zauberrufe der homerischen Götter die Befindlichkeit des Menschen grundlegend zu verwandeln vermag, so daß er jünger wird oder älter, einschläft oder erwacht und sogar zum Schwein mutiert, so vermag die Zauberkraft der göttlichen Poesie Homers das Urteil der Menschen grundlegend zu verwandeln: Die Schande des Aias verklärt sich zu ehrenvollstem Ruhm. Wie denn Pindar überhaupt der erste ist, bei dem die Me‐ tapher von der Zauberkraft der Poesie begegnet, und es ist kein Zufall, daß er an jener Stelle, an der er diese Vorstellung am nachdrücklichsten artikuliert (Pyth. 1.13 sq.), das Verbum ϑέλγειν verwendet, das Homer (Il. 24.343; Od. 5.47, 24.3) gebraucht, um die Wirkung der ῥάβδος des Hermes zu charakterisieren.
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So fallen alle Zeugnisse, die die antike Gelehrsamkeit namhaft gemacht hat, um zu beweisen, daß der Rhapsode eine ῥάβδος getragen habe, dahin. Was bleibt, ist allein die Etymologie. Aber auch die erweist sich sprachwissenschaft‐ lich als unhaltbar: Es führt lautgesetzlich kein Weg von einem hypothetisch konstruierten Substantiv ῥαβδῳδός (Dion. Thrax cum schol. 1. c.; schol. ad Pind. Nem. 2.1; Eust. 1. c.) zu der überlieferten Wortform ῥαψῳδός. Sprachwissen‐ schaftlich haltbar ist allein (was hier nicht näher ausgeführt werden kann) die Ableitung von dem Verbum ῥάπτειν, wie sie bereits Pindar (Nem. 2.1 – 3) kennt, wenn er zwar nicht Homer, wohl aber die „Nachkommen Homers“ (Ὁμηρίδαι) als ῥαπτῶν ἐπέων … ἀοιδοί bezeichnet. Gegen die vorgenannte ῥάβδος-Hypothese ist schon in der Antike Kritik ge‐ äußert worden. Die bereits zitierten Scholien zu Pindar Isthm. 4.55 (3 p. 233 D RACHMANN) fahren fort: οἱ δὲ οὐϰ ἀϰούουσι νῦν ϰατὰ ῥάβδον, ἐπεὶ μετὰ βαϰτηρίας οἱ ῥαψῳδοὶ τὰ ποιήματα ἀπήγγελλον, ἀλλὰ ϰατὰ ῥάβδον ἀντὶ τοῦ ϰατὰ στίχον. Die Identität dieses kritischen Anonymus läßt sich ermitteln. In den bereits ebenfalls zitierten Scholien zu Pindar Nem. 2.1 (3 p. 31 D RACH‐ MANN ) heißt es: Μέναιχμος δὲ ἱστορεῖ τοὺς ῥαψῳδοὺς στιχῳδοὺς ϰαλεῖσϑαι διὰ τὸ τοὺς στίχους ῥάβδους λέγεσϑαι ὑπό τινων. Menaichmos aus Sikyon also, ein Zeitgenosse des Aristoteles, der u. a. eine musikgeschichtliche Spezialschrift mit dem Titel Περὶ τεχνιτῶν ( FGrH 131 F 3 sq.) verfaßt hat, suchte die Etymologie des Wortes ῥαψῳδός dadurch zu erklären, daß er ῥάβδος als Äquivalent zu στίχος auffaßte, und verwies in diesem Zusammenhang darauf, daß die Rhap‐ soden nicht eine ῥάβδος, sondern eine βαϰτηρία getragen hätten. Nun ist die ῥάβδος-στίχος-Hypothese fraglos noch weniger stichhaltig als die offenbar äl‐ tere ῥάβδος-ϰλάδος-Hypothese, gegen die sie polemisiert. Die Widerlegung liefert die Pindarstelle Isthm. 4.37 – 39, die Menaichmos als beweisend angesehen hat; denn wenn ῥάβδος tatsächlich als Äquivalent zu στίχος aufzufassen wäre, so hätte Pindar von dem Adverbiale ϰατὰ ῥάβδον niemals das Genitivattribut ϑεσπεσίων ἐπέων abhängen lassen können, da doch das Attributssubstantiv ἔπος seinerseits unstreitig als Äquivalent zu στίχος fungiert. Gleichwohl aber könnte Menaichmos darin Recht haben, daß die Rhapsoden eine βαϰτηρία ge‐ tragen haben. Diese Behauptung verdient um so mehr Aufmerksamkeit, als sie ihrerseits auf jene Verse der hesiodeischen ‚Theogonie‘ (30 sq.) zurückverweist, von denen die Untersuchung ihren Ausgang nahm: Wie ῥάβδος ein Äquivalent zum hesiodeischen Begriff ὄζος ist, so ist das Substantiv βαϰτηρία ein Synonym für das hesiodeische σϰῆπτρον (Aristoph. Ach. 682; Thuc. 8.84.2; Xen. Hist. Gr. 6. 2. 19). Während aber das Äquivalent ῥάβδος den umgangssprachlich näher‐ liegenden Wörtern ϰλάδος bzw. ϰλών vorgezogen wurde, um die Etymologie des Wortes ῥαψῳδός zu gewährleisten, wurde das Äquivalent βαϰτηρία of‐
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fenbar n icht gewählt, um eine etymologische Spekulation zu rechtfertigen, sondern weil es das geläufige attische Wort war, das für den poetischen Begriff σϰῆπτρον eintrat. Gleichviel also, ob Menaichmos auf Hesiod rekurrierte oder die lebendige Anschauung heranzog, bleibt zu prüfen, ob, was bei Hesiod an‐ gedeutet ist, nicht gängige Praxis gewesen ist: daß die Rhapsoden als Kennzei‐ chen ihrer musischen Berufung ein σϰῆπτρον trugen. Man wäre für die Beantwortung dieser Frage allein auf die Interpretation der Hesiodverse angewiesen, wenn nicht ein archäologisches Zeugnis erwünschte Klarheit brächte: ein Vasenbild auf einer rotfigurigen Amphora des frühen fünften Jahrhunderts, gemalt von der Hand des sogenannten Kleophradesmalers (siehe Abb. 1 u. 2).
Abb. 1 und. 2: Rhapsode. Rotfigurige Amphora aus Vulci. Frühes 5. Jahrhundert v. Chr. London, British Museum. E 207. Quellen: W. Schadewaldt, Von Homers Welt und Werk, Leipzig 1944, Abb. 1 / H. T. Wade-Gery, The poet of the Iliad, Cambridge 1952, Abb. 2.
Es ist dies die einzige gesicherte Darstellung eines Rhapsoden, die wir aus der Antike kennen. Mehr noch als das Hexameterfragment ὧδέ ποτ᾽ ἐν Τίρυνϑι, das dem Munde des Sängers entquillt, sprechen hierfür die Übereinstimmungen, die
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zwischen der bildlichen Darstellung des Kleophradesmalers und jener literari‐ schen Darstellung des Rhapsoden walten, die Platon im ‚Ion‘ gegeben hat: Hier wie dort steht der Rhapsode auf einem erhöhten Podest, dem sogenannten βῆμα (Plat. Ion 535 e); hier wie dort trägt er ein besonders geschmücktes Gewand und einen Kranz (Plat. 1. c. 535 d). Was aber hält er in der Hand? Hierüber unterrichtet allein das Vasenbild, das einen fast mannshohen, mehrfingerdicken Baumast zeigt, dessen Rinde abgelöst und dessen Seitenzweige abgeschlagen sind mit Ausnahme des obersten, der belassen wurde, um als Griff und Stütze für die Hand zu dienen – ein σϰῆπτρον, wie es im Buche steht. – Wenn man die Kon‐ stanz der Überlieferung bedenkt, wie sie zwischen Platon und dem Kleophra‐ desmaler waltet, dessen Darstellungstreue noch durch ein etwas älteres Vasen‐ bild (Abb. 3) offenbar bestätigt wird, wenn man ferner die historische Konstanz kultureller Erscheinungen in Betracht zieht, wie sie für das ältere Griechentum kennzeichnend ist, so wird man, die Kargheit unserer Informationen einge‐ rechnet, unbedenklich den Schluß ziehen dürfen, daß die Rhapsoden in klassi‐ scher und in archaischer Zeit als Kennzeichen ihrer musischen Berufung ein σϰῆπτρον in der Hand trugen, wenn sie epische Poesie zu Gehör brachten.
Abb. 3: Rhapsode (?). Rotfigurige Amphora. Spätes 6. Jahrhundert v. Chr. Oldenburg, Stadtmuseum. Quelle: H. A. Shapiro, Art and cult under the tyrants in Athens, Mainz 1989, Taf. 22.
Dies alles recht erwogen, erscheint, was Hesiod in der Musenweihe sagen will, nun in rechtem Lichte: Die Überreichung des σϰῆπτρον kennzeichnet das Üb‐ liche und Traditionelle, dessen sich jeder Rhapsode berühmen konnte; daß das
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σϰῆπτρον ein Lorbeerzweig ist, kennzeichnet das Überraschende und Neue, durch das die Musen Hesiod vor allen anderen Rhapsoden besonders aus‐ zeichnen. Ob Hesiod das σϰῆπτρον tatsächlich mit dem Lorbeerzweig ver‐ tauscht hat, um so für seine Person die Einzigartigkeit seiner Berufung sinnfällig zu demonstrieren, muß dahingestellt bleiben; sicher ist, daß der Dichter durch die Neuartigkeit der Musenauszeichnung, die er durch die Redeform des ἀπροσδόϰητον so stark hervorhebt, auf die Neuartigkeit seiner Poesie ver‐ weisen will, die er als anders empfindet als alle Poesie, wie sie vordem von den Rhapsoden vorgetragen worden ist. Genau dies aber ist es, was die Musen He‐ siod verkünden, und es fällt so von der Tat der Musen Licht auch auf die vielumstrittene Rede der Musen, die der Tat vorausgeht. Die Rede der Musen (Theog. 27 sq.): ἴδμεν ψεύδεα πολλὰ λέγειν ἐτύμοισιν ὁμοῖα, ἴδμεν δ᾽, εὖτ᾽ ἐϑέλωμεν, ἀληϑέα γηρύσασϑαι.
Will man diese Worte recht verstehen, muß man zuvörderst in Betracht ziehen, daß Vers 27 ein Zitat ist. Odysseus, als Bettler verkleidet, erzählt Penelope eine Truggeschichte, die seine unmittelbare Ankunft außer Zweifel stellt, ohne daß seine wahre Identität preisgegeben würde. Diese erzähltechnische Meisterleis‐ tung, die Penelope zu Tränen rührt, kommentiert der Dichter folgendermaßen (Od. 19.203): ἴσϰε ψεύδεα πολλὰ λέγων ἐτύμοισιν ὁμοῖα.
Selten wohl ist ein Vers tiefsinniger zitiert worden als dieser. Was Homer von Odysseus sagt: daß er das Trügerische so zu erzählen vermochte, daß es dem objektiv Wahren ähnelte, das sagt Hesiod von der Erzähltechnik jener Poesie aus, die, wie die ‚Odyssee‘, durch Darstellung des Wirklichen die Fiktion von Wahrheit zu erzeugen vermag. Und wie Odysseus für seine Erzählkunst gelobt wird, so ist auch jene poetische Begabung, die der odysseischen Erzählkunst so verwandt ist, durchaus als lobenswert anzusehen; denn die Musen geben nichts Schlechtes. Gleichwohl gibt es noch eine andere Form musischer Begabung. Von ihr spricht Vers 28, der aussagt, daß die Musen auch die unverhohlene Wahrheit verkünden können. So wie der erste Vers durch das Odysseezitat unverkennbar auf das homerische Epos anspielt, so unverkennbar soll der zweite Hesiods ei‐ gene, neuartige Poesie charakterisieren. Das lehrt nicht nur der Duktus der Ver‐ sabfolge, sondern vor allem die Bemerkung der Musen, sie verkündeten die Wahrheit, wenn sie wollten (εὖτ᾽ ἐϑέλωμεν). Das hier verwendete Verbum ἐϑέλειν ist ein semantisch feststehender Ausdruck, der signalisiert, daß mensch‐ liche Begnadung allein vom Willen und der Bereitschaft der Gottheit abhängt
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(Hom. Il. 10.556, Od. 3.231, 5.48, 14.445, 16.198, 23.186; Hes. Theog. 429 sq., 432, 439). Daß aber die Musen hier und jetzt zu solcher Begnadung bereit sind, das zeigt die Tat, die sie ihrer Rede folgen lassen: Sie überreichen Hesiod statt des traditionellen rhapsodischen σϰῆπτρον einen Lorbeerzweig, das Symbol des wahrheitskündenden Gottes Apollon, und verkünden so sinnfällig, daß sich die hesiodeische Poesie als Poesie der Wahrheit unterscheiden wird von der fiktiven Poesie Homers. Worin besteht die Wahrheit der hesiodeischen Poesie? Hierüber belehrt der Auftrag der Musen, der auf Rede und Tat folgt (Theog. 32 – 34). Göttliche Inspi‐ ration hätten die Musen ihm verliehen, sagt der Dichter, … ἵνα ϰλείοιμι τά τ᾽ ἐσσόμενα πρό τ᾽ ἐόντα.
Dieser Ausdruck – ebenfalls ein Homerzitat (Il. 1.70) – will, indem er das Zu‐ künftige dem Gewesenen gegenüberstellt, auf das Ewige als Gegenstand poe‐ tischen Rühmens verweisen. Was damit gemeint ist, lehrt der folgende Befehl, den die Musen an den Dichter ergehen lassen: ϰαί με ϰέλονϑ᾽ ὑμνεῖν μαϰάρων γένος αἰὲν ἐόντων, σφᾶς δ᾽ αὐτὰς πρῶτόν τε ϰαὶ ὕστατον αἰὲν ἀείδειν.
Den zweiten Teil des Befehls erfüllt der Dichter sogleich im Proömium (1 – 115), das als rhapsodischer Hymnus auf die Musen gestaltet ist, dergleichen wir auch in den sogenannten Homerischen Hymnen wiederfinden; der erste Teil des Be‐ fehls findet Erfüllung im folgenden Gedicht, das, überkommene Mythen ver‐ knüpfend und sinnend ausdeutend, dartut, wie die Deszendenz der Götter kul‐ miniert in der ewigen und gerechten Herrschaft des Zeus. Das Werden des Ewigen als Herrschaft der Ordnung und des Rechts – das ist die Wahrheit der Poesie, durch die sich Hesiod vor allen Dichtern von den Musen besonders aus‐ gezeichnet fühlte. Und er hatte Recht. Denn indem er nicht mehr die Taten von Helden erzählt, sondern darlegt, wie sich im Werden des Göttlichen eine ewige Ordnung en‐ thüllt, hat er alles überstiegen, was epische Dichtung vordem gewesen ist. Das epische Gedicht verliert seinen erzählerischen Charakter und wird zu einem Sinn- und Gedankengedicht, und Hesiod ist viel eher ein Vorläufer der vorso‐ kratischen Dichter-Philosophen denn ein Nachahmer Homers. Indem aber He‐ siod die epische Form mit neuem Gehalt erfüllt, gewinnt er das Persönliche als neue Möglichkeit dichterischen Ausdrucks hinzu. Das Persönliche wird sichtbar erstmals in der Musenweihe der ‚Theogonie‘, die überhaupt die erste Selbstäu‐ ßerung eines europäischen Menschen ist, und gewinnt dann vollends die Ober‐
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hand in den ‚Erga‘, die, derselben gedanklichen Grundidee gehorchend wie die ‚Theogonie‘, die Gerechtigkeit der Welt an einem persönlichen Rechtsstreit er‐ zieherisch-mahnend demonstrieren. Hesiod ist so nicht nur zum Archegeten der philosophischen Lehrdichtung geworden, sondern auch zum Archegeten lyri‐ scher Selbstaussage. Daß er das eine wie das andere in der Form der epischen Poesie zu leisten vermochte, die ursprünglich für ganz andere erzählerische In‐ halte und Zwecke bestimmt gewesen ist, grenzt an ein Wunder. Die Überliefe‐ rung wußte wohl, was sie tat, als sie aus dem Kreise der älteren Epiker außer Homer allein Hesiod der Erhaltung für würdig befand. Literaturhinweise
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2. Hesiod als Dichter Das Proömium der Theogonie als Musenhymnus Für Hellmut Flashar grato ex animo
Das Proömium der Theogonie gehört fraglos zu den großen Texten der europä‐ ischen Literatur. Denn hier sagt zum ersten Mal ein europäischer Mensch – der böotische Dichter Hesiod aus dem Dorfe Askra am Helikon – ›ich‹ und löst sich so als Individuum aus anonymer Gebundenheit, um von sich selbst zu künden. Die poetische Struktur dieses Textes zu interpretieren, ist kein leichtes Un‐ terfangen. Denn die formale Struktur des Textes ist im Rahmen der archaischen Epik ebenso einzigartig, wie sein gedanklicher Gehalt einzigartig ist. Die Athe‐ tese einzelner Verse oder auch ganzer Versgruppen, die als sachlich wider‐ sprüchlich oder ästhetisch minderwertig empfunden wurden, wie sie die ana‐ lytische Hesiodforschung – die jüngere Schwester der Homeranalyse – bis weit in das vorige Jahrhundert hinein gepflegt hat, um so, gewissermaßen aus ei‐ genem Rechte nachdichtend, den guten alten Text des Dichters wiederzuge‐ winnen, konnte der hochkomplizierten und voraussetzungsreichen Kompositi‐ onsform des Theogonieproömiums nicht gerecht werden. Aber auch nicht ein unitarisches Textverständnis, das sich darauf beschränkte, die Einheit des über‐ lieferten Textes gegen die Anstöße der Analyse zu verteidigen. In der apologe‐ tischen Tendenz, die die Mehrzahl der unitarischen Interpretationsversuche be‐ herrscht, beweist die Analyse vielmehr noch einmal ihre Macht, insofern der neu gewonnene Blick auf das Ganze durch das Bestreben, die viel bestrittene Einheit des Textes zu rechtfertigen, gewissermaßen geblendet wird: Anstatt die vorgegebenen poetischen Strukturen zu explizieren und zu interpretieren, wird der Text aufgrund von Kriterien beurteilt, die, gleichviel, ob sie als allgemein gültig vorausgesetzt oder ad hoc neu erfunden werden, einem unbefragten Ver‐ ständnis von Poesie verpflichtet sind. Allein, die poetische Struktur eines formal so hochorganisierten Textes er‐ schließt sich ästhetisch und auch historisch nur, wenn man ihn an seinen ei‐ genen Kompositionsgesetzen misst. Diese Kompositionsgesetze zu erschließen, ist die Aufgabe der gegenwärtigen Forschung. Da diese Aufgabe werkimmanent nicht geleistet werden kann, weil das Proömium der Theogonie auch im Werke
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Hesiods eine singuläre Stellung einnimmt, ist die Interpretation gehalten, das nächstverwandte Fremde heranzuziehen, um durch Vergleichen des Vergleich‐ baren – womöglich – jene ästhetischen Kriterien zu gewinnen, denen auch dieser singuläre Text verpflichtet ist. In diesem Sinne soll zunächst kurz und später noch einmal ausführlicher von den sogenannten Homerischen Hymnen die Rede sein. Dieser Umweg, den die Forschung nur zögernd betreten hat, um ihn alsbald wieder zu verlassen, führt, wenn nicht alles täuscht, wo nicht schneller, so doch sicherer zum Ziel als der unmittelbare Zugriff auf den Text, wie ihn die Forschung bisher, ohne durchschlagenden Erfolg, versucht hat. 1
Unter dem Namen Homers ist uns ein Buch von Hymnen überliefert, das, wie es uns heute vorliegt (der Anfang ist verstümmelt), dreiunddreißig verschiedene Preis- und Lobeslieder auf einundzwanzig verschiedene Götter enthält. Umfang und Entstehungszeit dieser Hymnen, die Homerisch nur heißen können, insofern sie sich der Stilmittel der homerischen Poesie bedienen, sind höchst unter‐ schiedlich: Die größeren Hymnen, die der Redaktor der Sammlung an den An‐ fang gestellt hat, umfassen jeweils mehrere hundert Verse; der Versbestand der nachfolgenden kleineren Stücke schwankt zwischen sechzig Versen und drei; der älteste Hymnus (auf den delischen Apollon) lässt sich in die Mitte des siebten Jahrhunderts datieren, der jüngste (auf Ares) gehört dem dritten Jahrhundert an, in dem auch die gesamte Sammlung redigiert worden sein dürfte. Wie verschieden diese Götterlieder nach Umfang und Entstehungszeit auch sind, so zeigen sie doch im Formalen eine bemerkenswerte Konstanz: Sie sind ausnahmslos hexametrisch komponiert und weisen (den späten Areshymnus und einige kleinere, offenbar defekt überlieferte Stücke ausgenommen) na‐ mentlich eine einheitliche Anfangs- und Schlussstruktur auf, dergestalt, dass der Dichter eingangs verkündet, welchen Gott er preisen will, und sich am Ende von der gepriesenen Gottheit grüßend verabschiedet. Anfangs- wie Schluss‐ verse sind jeweils stark formelhaft gestaltet: Zu Beginn finden – einzeln oder auch gemeinsam – die Verben ἀείδειν oder ἄρχεσϑαι Verwendung, die zualler‐ meist im Imperativ, im adhortativen Konjunktiv oder im Futur erscheinen; der Schluss wird in der Regel durch den Imperativ des Verbums χαίρειν eingeleitet. Kein Zweifel: Das ist dieselbe formale Struktur, der auch das Proömium der Theogonie gehorcht, an dessen Beginn sich der formelhafte Adhortativ ἀρχώμεϑ᾽ ἀείδειν (v. 1) findet, während die Schlussverse durch den ebenfalls formelhaften Imperativ χαίρετε (v. 104) eingeleitet werden. Und da auch das Metrum – der heroische Hexameter – hier und dort dasselbe ist und auch der Versumfang
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(115 Verse) nicht widerstreitet, so ist man doppelt und dreifach berechtigt, das Proömium der Theogonie als einen Hymnus auf die Musen zu interpretieren, der denselben oder doch vergleichbaren Kompositionsgesetzen folgt, wie sie in den Homerischen Hymnen zu finden sind. Wie sich denn auch – sehr beweisend – im Korpus der Homerischen Hymnen ein Hymnus auf die Musen und Apollon (h. 25) findet, der, recht betrachtet, nichts anderes ist als ein kurzes Exzerpt des Theogonieproömiums (h. Mus. 2 – 5 ∼ Theog. 94 – 97). Die Kompositionsstruktur der Homerischen Hymnen wird bestimmt durch die Art und Weise, wie die Gottheit jeweils gelobt wird. Analysiert man die ver‐ schiedenen modi des Götterlobes dieser hexametrischen Hymnen, so lassen sich dieselben drei typischen Grundformen konstatieren, wie sie auch der – litera‐ risch spätere, historisch und formal aber ältere – lyrische Kulthymnus aus den rühmenden Prädikationen des Götteranrufs im Gebet (invocatio) entwickelt hat: Erscheinung, Wirkung und Geschichte. Die Erscheinung der Gottheit manifes‐ tiert sich mit Vorliebe in einer typischen Situation oder Aktion; die Wirkung der Gottheit wird vor allem erfahren durch die Gaben an die Menschen, die der besonderen Macht und Ehrenstellung des Gottes verdankt werden; die Ge‐ schichte schließlich erzählt zumeist von der Geburt der Gottheit und ihrem ersten Auftreten im Kreise der anderen Götter, auf das nicht selten eine Großtat folgt, durch die der neue Gott seine Macht sinnfällig demonstriert. Es ist nun aber keineswegs so, dass jeder der Homerischen Hymnen jeweils alle drei Grundformen des Götterlobes, die übrigens bereits der antiken Rhetorik bekannt waren (locus classicus: Quintilian. Inst. orat. 3.7 – 9), kompositorisch aus‐ gestaltete. Vielmehr beschränken sich die kleineren Hymnen vielfach darauf, jeweils nur einen Lobestopos kompositorisch auszuführen: Erscheinung oder Wirkung oder Geschichte bestimmen jeweils maßgeblich den Götterpreis. Je‐ doch gibt es auch bei den kleineren Hymnen bisweilen eine kompositorische Mischung von zwei der drei Topoi. Diese Verknüpfung zweier Topoi wird dann in den größeren Hymnen die Regel, dergestalt, dass der Topos der Götterge‐ schichte als der erzählerisch fruchtbarste obligatorisch wird: Die Hymnen auf den delischen und pythischen Apollon (h. 3), die die Überlieferung zu einem Hymnus zusammengefasst hat, verbinden kompositorisch die Geschichte mit der Erscheinung des Gottes; die Hymnen auf Demeter (h. 2), Hermes (h. 4) und Aphrodite (h. 6), verknüpfen Geschichte und Wirkung. Niemals aber werden in den Homerischen Hymnen alle drei Topoi des Götterlobes kompositorisch aus‐ gestaltet noch gar mehrfach verwandt und in kunstvoller Doppelung zu höherer Einheit verbunden. Eine solche Kompositionsform aber findet sich im Proömium der hesiodeischen Theogonie, das also die Kompositionsform der Homerischen Hymnen sowohl erfüllt wie auch übersteigt.
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Zunächst lassen sich im Proömium der Theogonie jene typischen drei Formen des Götterpreises, wie sie sich für die Homerischen Hymnen nachweisen ließen, unschwer wiedererkennen. Zu Beginn wird die Erscheinung geschildert: Wie die Musen auf dem Gipfel des Helikon Chorreigen tanzen und dann des Nachts, in Nebel gehüllt, einherziehen und die Götter besingen (Theog. 2 – 21). Es folgt eine Geschichte: Wie die Musen einmal dem Schafhirten Hesiod begegnet sind, ihn scheltend über das Wesen der Poesie aufklärten und ihm als Abzeichen seiner Berufung zum Dichter einen Zweig vom frischen Lorbeer gaben, mit dem Auf‐ trag, die Götter zu besingen, eingangs aber und am Ende sie selbst (v. 22 – 34). Und wieder wird die Erscheinung geschildert: Wie die Musen auf dem Olymp den Sinn des Zeus erfreuen, indem sie von den Göttern singen (v. 36 – 52). Und wieder folgt eine Geschichte: Wie Zeus neunmal Beilager hielt mit Mnemosyne und wie diese ihm in Pierien neun Mädchen gebar und wie diese, die Götter besingend, erstmals zum Olymp kamen und das Herz ihres Vaters erfreuten (v. 53 – 80). Und endlich die Wirkung: Wie die Musen die Könige mit Rede begaben, dass sie milde Recht sprechen unter den Menschen, und wie sie die Sänger begnaden, deren süßer Gesang allen Kummer der Menschen vertreibt (v. 81 – 103). Die Analyse der poetischen Struktur lässt klar erkennen, dass Hesiod hier nicht nur alle drei Grundformen des Götterlobes miteinander verknüpft hat, sondern zwei dieser Formen (Erscheinung und Geschichte) sogar zweimal ver‐ wendet hat. Mehr noch: Die fünfteilige Gesamtkomposition wird deutlich in zwei Teile geteilt, insofern sich Hesiod, nachdem er die Geschichte von seiner Berufung zum Dichter erzählt hat, mit der halb unwilligen Selbstanrede τύνη (v. 36) unterbricht, um sodann den formelhaften Adhortativ ἀρχώμεϑα des Anfangs zu wiederholen, so dass nun gewissermaßen zwei Hymnen entstehen, deren erster, die helikonischen Musen preisend, Erscheinung und Geschichte verbindet (v. 1 – 34), während der zweite Hymnus, den olympischen Musen gewidmet, in steigernder Reihung Erscheinung, Geschichte und Wirkung miteinander ver‐ knüpft (v. 36 – 103). Die Hesiodanalyse hat diesen Befund dahingehend gedeutet, dass der Hymnus auf die helikonischen Musen, wenn nicht ganz, so doch in wesentlichen Teilen das echte gute Proömium Hesiods sei, der nachfolgende Hymnus auf die olympischen Musen dagegen ein poetisch minderwertiger Zusatz eines oder mehrerer Redaktoren aus späterer Zeit. Aber in Wahrheit waltet gerade hier die festeste Fügung. Denn was auch immer der berühmte Vers (v. 35) ἀλλὰ τίη μοι ταῦτα περὶ δρῦν ἢ περὶ πέτρην
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bedeuten mag, der zwischen dem ersten und dem zweiten Hymnus steht (man rätselt darüber bis heute), – dass dieser Vers einen abrupten Abbruch markiert, soviel ist wohl nicht zu bezweifeln. Auf einen solchen abrupten Abbruch aber kann unmöglich die ja ebenfalls abschließende Grußformel χαίρετε (v. 104) folgen noch gar schon das eigentliche Gedicht (v. 116), wenn anders man die traditionell vorgegebene formale Struktur des Hymnus nicht vollends zerstören will. – Wie sorgfältig ist demgegenüber die Verknüpfung beider Teile im über‐ lieferten Text gestaltet! Die helikonischen Musen erteilen in ihrer Scheltrede Hesiod ja ausdrücklich den Befehl, sie selbst zuerst stets und zuletzt zu besingen (v. 34): σφᾶς δ᾽ αὐτὰς πρῶτόν τε καὶ ὕστατον αἰὲν ἀείδειν
Ebendies aber tut der folgende Hymnus auf die olympischen Musen, so dass das göttliche Gebot an den Dichter, von dem der Dichter erzählt, von demselben Dichter im Gedicht sogleich sinnfällig erfüllt wird. – Musterhafter kann ein Dichter nicht komponieren. Die musterhafte Komposition des Ganzen darf jedoch nicht vergessen lassen, wie frei und kühn Hesiod die vorgegebenen traditionellen Formen verwendet hat. Schon die kompositorische Ausgestaltung aller drei Grundformen des Göt‐ terlobs ist in den Homerischen Hymnen ohne Beispiel. Dass zwei dieser Grund‐ formen wiederholt und in abbrechender Wiederaufnahme zu einer fünfteiligen Doppelstruktur verfugt werden, ist für die Hymnen vollends unerhört. So ist die Frage zu stellen, ob die freie Verwendung der vorgegebenen traditionellen Formelemente, die bei Hesiod zu konstatieren ist, die formale Gesamtstruktur, der diese Elemente verpflichtet sind, noch festhaltend bewahrt oder nicht viel‐ mehr übersteigend sprengt. Oder anders: Ist das Proömium der Theogonie ein Hymnus, wie die Homerischen Hymnen Hymnen sind, oder bedient es sich deren Kompositionsform nur, um eine andere, neue Form dichterischen Ausdrucks zu prägen? 2
Will man diese entscheidende Frage beantworten, die erst, nachdem die poeti‐ sche Struktur des Textes am Tage liegt, überhaupt gestellt werden kann, so ist ein Blick auf die kulturhistorischen Vorbedingungen nötig, denen die Homerischen Hymnen verpflichtet sind. Denn diese Vorbedingungen, denen die Forschung bisher nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt hat, bestimmen wesentlich die Gesamtkonzeption der Hymnen. Diese Gesamtkonzeption aber muss man
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kennen, wenn man das Proömium der Theogonie vergleichend an den Hymnen messen will. In den Homerischen Hymnen findet sich in der Regel nach der abschließenden Grußformel an die Gottheit noch ein Hinweis, dass der Dichter nun zu einem anderen Gesang (ἀοιδή) bzw. zu einem anderen Lied (ὕμνος) überzugehen ge‐ denke. Auch dieser Hinweis ist formelhaft gehalten: Entweder sagt der Dichter … ἄλλης μνήσομ᾽ ἀοιδῆς,
oder er sagt … μεταβήσομαι ἄλλον ἐς ὕμνον.
Aus beiden Formeln erhellt, dass die Homerischen Hymnen keine eigenständigen poetischen Schöpfungen gewesen sind, sondern nur in Verbindung mit anderer Poesie, der sie präludierten, Sinn und Existenzberechtigung hatten. Was jenes ›andere Lied‹ war, das auf die Hymnen folgte, wird in der Regel nicht eigens gesagt, da sich die Sache von selbst verstand. Aber der Hymnos auf Helios (h. 31.18 sq.) sagt es doch, wenn er abschließend verkündet, er werde das Geschlecht der Halbgötter-Männer rühmen: … κλήισω μερόπων γένος ἀνδρῶν ἡμιϑέων.
Noch schöner und noch genauer drückt es der Hymnus auf Selene (h. 32.18 sq.) aus, wenn er sagt, er werde die Ruhmestaten der Halbgötter-Männer besingen, deren Taten die Dichter rühmen: … κλέα φωτῶν ἄισομαι ἡμιϑέων ὧν κλείουσ᾽ ἔργματ᾽ ἀοιδοί.
Kein Zweifel: Es war epische Poesie, genauer: Es war poetisch bereits fixierte epische Heldendichtung, die einzuleiten die Hymnen bestimmt waren. Was der Helios- und der Selenehymnos deutlich genug andeuten, findet über‐ raschende Bestätigung von anderer Seite. Um zu beweisen, dass es bereits in alter Zeit musische Agone auf Delos gegeben habe, zitiert Thukydides (Hist. 3.104) zwei Passagen aus dem homerischen Apollonhymnus (h. 2.146 – 150 & 165 – 172). Hierbei bezeichnet er den Hymnus, den er für homerisch hält, zweimal expressis verbis als προοίμιον. Dieser Gattungsbegriff nun, der zuerst bei Pindar (Nem. 2.3) bezeugt ist, ist ungleich präziser als der Gattungsbegriff ὕμνος, unter dem die Homerischen Hymnen in der handschriftlichen Überlieferung firmieren. Das Simplex οἶμος bzw. οἴμη, von dem das Kompositum προοίμιον, wie schon
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die antiken Grammatiker erkannten, deriviert, bezeichnet in archaischer Sprache nicht nur den Weg, sondern, metaphorisch gebraucht, auch den Weg, den der Gesang nimmt. Diesen metaphorischen Wortgebrauch setzt das Kom‐ positum, das nach der sogenannten hypostasierenden Wortbildung aus Präpo‐ sition und Substantiv ein neues Substantiv bildet, zwingend voraus und be‐ zeichnet so dasjenige, was vor dem Gesange erfolgte: τὸ πρὸ τῆς οἴμης. Des Weiteren ist zu konstatieren, dass das Simplex in vorpindarischer Zeit, in der auch das Kompositum entstanden sein muss, da es Pindar schwerlich erfunden hat, in der Hauptsache zur Kennzeichnung epischen Gesanges verwendet wird: So heißt es in der Odyssee (8.479 – 481 & 22.347 sq.) sowohl von Demodokos, dem Sänger der Phaiaken, wie von Phemios, dem Sänger der Freier, die Muse habe sie ›Wege des Gesanges‹ (οἶμαι) gelehrt; dementsprechend nennt der Odyssee‐ dichter (8.73 – 75) auch jenes Gedicht über den Streit zwischen Achilleus und Odysseus, das Demodokos vorträgt, einen ›Sangesweg‹ (οἴμη). So schließt sich der Kreis: Der Gattungsbegriff des Thukydides stellt außer Zweifel, was die Hymnen auf Helios und Selene andeuten: Dass die Homerischen Hymnen ihren Platz grundsätzlich vor dem Vortrag epischer Poesie hatten und auch vorgetragen wurden allein in Zusammenhang mit dieser. Hiernach empfiehlt es sich, die Homerischen Hymnen als hymnische Proömien zu bezeichnen, um so jede Ver‐ wechslung mit dem eigenständigen lyrischen Kulthymnus auszuschließen. Auch über den sozialen Ort, für den sie bestimmt waren, schweigen sich die hymnischen Proömien in der Regel aus, da die Sache sich ebenso von selbst verstand wie das ›andere Lied‹, dem sie präludierten. Aber der zweite Aphro‐ ditehymnus (h. 6.19 sq.) verrät uns doch seinen angestammten Platz, wenn der Dichter betet, die Göttin möge ihm im Wettkampf den Sieg verleihen: … νίκην τῶιδε φέρεσϑαι.
δὸς δ᾽ ἐν ἀγῶνι
Der Agon also, dessen überragende Bedeutung für das archaische Griechentum als erste Jacob Burckhardt und Friedrich Nietzsche dargetan haben, ist der so‐ ziale Ort, an dem die hymnischen Proömien, als Einleitung in den epischen Wettgesang, vorgetragen wurden. Mehr noch: Der epische Agon, der spätestens in der ersten Hälfte des siebten Jahrhunderts entstanden sein muss, da ihn der Apollonhymnus, wie Thukydides richtig erkannt hat, bereits voraussetzt, hat das hymnische Proömium als literarische Form recht eigentlich erst hervorge‐ rufen. Denn wie alle anderen institutionalisierten Wettkämpfe der archaischen Zeit findet auch der epische Agon als Teil des musischen Agons in aller Regel an den Götterfesten statt und ist also kultisch begründet. Woraus folgt, dass jede
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maßgebliche Handlung, die in diesem kultischen Rahmen geschieht, namentlich auch und besonders die Wettkampfhandlung, sich grundsätzlich und expressis verbis des Wohlwollens jener Gottheit versichern muss, der die agonale Feier jeweils gilt. So gesehen erweisen sich die hymnischen Proömien als kultische Gebrauchsdichtung und werden als solche in der Regel auch anonym überliefert. Wie sehr der epische Agon kultisch bestimmt gewesen ist, erhellt im übrigen auch daraus, dass auch das Ende der epischen performance mit einer kurzen Gebetsformel beschlossen wurde, deren Text die Überlieferung (Hesych. Lex. N 28; Eust. Il. p. 2.339,21) glücklicherweise aufbewahrt hat: νῦν δὲ ϑεοὶ μάκαρες τῶν ἐσϑλῶν ἄφϑονοί ἐστε.
Die formelhafte Kürze dieses epischen Exodiums lässt vermuten, dass auch die hymnischen Proömien, als Korrelate des Exodiums, ursprünglich kurz und stark formelhaft gestaltet gewesen sind. Die kürzeren der Homerischen Hymnen re‐ präsentieren also den älteren usus, während die poetisch groß angelegten län‐ geren Hymnen, wiewohl älter als die kürzeren Stücke, formal gesehen, einer späteren Stufe der Entwicklung zuzuordnen sind, die sich jener Tendenz der archaischen Ästhetik verdankt, nicht etwa den Schluss, sondern den Anfang eines Werkes möglichst prunkvoll zu gestalten – eine Tendenz, die Pindar (Ol. 6.4 sq.) unvergleichlich schön so ausdrückt, dass der Beginn jedes Werkes ein ›weithinleuchtendes Antlitz‹ (πρόσωπον τηλαυγές) tragen müsse. Über die Personen schließlich, die den epischen Agon mit einem hymnischen Proömium einleiteten, bewahren die Homerischen Hymnen vollständiges Schweigen. Dafür sagt es Pindar (Nem. 2.1 – 3) um so deutlicher, dass es die Ho‐ meriden bzw. die Rhapsoden gewesen sind, die die epische performance durch ein Proömium eröffneten: ὅϑεν περ καὶ Ὁμηρίδαι, ῥαπτῶν ἐπέων τὰ πόλλ᾽ ἀοιδοί, ἄρχονται· Διὸς ἐκ προοιμίου …
Homeriden heißen jene Sänger, weil sie, archaischem Brauche folgend, eine ge‐ nealogische Verbindung mit dem Begründer und Archegeten jener Tätigkeit prätendierten, die sie als Kunst und Handwerk ausübten. So bezeugt diese frühe Namens- und Berufsbezeichnung, die fraglos auf die Sänger selbst zurückzu‐ führen ist, dass es im Wesentlichen homerische Heldenepik gewesen ist, die sie nach einem hymnischen Proömium und also in agonalem Kontext zu Gehör brachten. Aber noch eine andere Berufsbezeichnung ist in Pindars Text ver‐ steckt. Wenn Pindar die epische Poesie, die die Homeriden vortragen, als ›ge‐ nähte Verse‹ (ῥαπτὰ ἔπη) bezeichnet, so weist er, etymologisch anspielend, da‐
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rauf hin, dass jene Sänger, die sich Homeriden nannten, auch Rhapsoden (ῥαψωιδοί) genannt wurden – eine offenbar volkstümlich-spottende Berufsbe‐ zeichnung, die Pindar, als für den hohen Stil seiner Poesie unangemessen, un‐ verhüllt auszusprechen sich offenbar scheut. Der früheste unmittelbare Beleg für das Substantiv ῥαψωιδός findet sich bei Herodot (Hist. 5.67) und Sophokles (Oed. r. 391). Die Rhapsoden, von deren agonalem Auftreten der platonische Dialog Ion ein lebensechtes Bild zeichnet, das im Wesentlichen auch für die ältere Zeit gültig sein dürfte, sind nicht nur als Träger des agonalen Vortrags homerischer Poesie anzusehen, sondern auch als Dichter der hymnischen Proömien, die ja nirgends anders ihren Platz hatten als im epischen Agon, der seinerseits ausschließlich von Rhapsoden bestritten wurde. Diese Rhapsoden-Dichter haben sich aus praktischen wie aus ästhetischen Gründen entschlossen, für das hymnische Proömium die epische Form zu wählen, die durch den agonalen Vortrag der epischen Poesie nahegelegt wurde, wiewohl der Götterhymnus, als Ausdruck religiöser Ergriffenheit des Dichters, eigentlich der lyrischen Form bedurft hätte. Im Rahmen dieser Episierung des Lyrischen, die an das poetische Können der Rhapsoden keine geringen Anfor‐ derungen stellte, da es für die Vermischung zweier poetischer genera, wie sie hier erforderlich war, keinerlei Vorbilder gab, konnten die Dichter die hymni‐ schen Proömien offenbar weitgehend frei gestalten. Es war bereits eingangs davon die Rede, wie unterschiedlich der Umfang der einzelnen Hymnen ist und wie unterschiedlich die vorgegebene Lobestypologie jeweils verwendet wird. Ein weiterer Ausdruck dieser kompositorischen Freiheit ist es, wenn einige Hymnendichter dazu übergehen, das hymnische Proömium durch die Erzählung der epichorischen Kultlegende örtlich zu fixieren, wie dies namentlich der De‐ meterhymnus (h. 2) tut und die Hymnen auf den delischen und pythischen Apollon (h. 3); der Dichter des Hymnus auf den delischen Apollon wagt darüber hinaus sogar eine personale Fixierung des Proömiums, wenn er am Schluss (v. 165 – 176), in Form einer Sphragis, die delischen Mädchen bittet, des blinden Sängers aus Chios rühmend zu gedenken – eine Fixierung, die die Identität von Dichter und Rhapsoden, wie sie aus allgemeinen Erwägungen zu vermuten war, aufs schönste dartut. – Im Übrigen verdient in diesem Zusammenhang Erwäh‐ nung, dass der frühe Mythograph Akusilaos (VS 9 B 22) erwähnte, dass es auf Chios einen Geschlechterverband (γένος) von Homeriden gegeben habe; auch soll der Rhapsode Kynaithos, dem die Überlieferung (Schol. Pind. Nem. 2.1; Eust. prooem. Il. p. 6,39 – 41) die Abfassung des Apollonhymnus zuschreibt, aus Chios gestammt haben. Wir fassen hier Bruchstücke der Frühgeschichte rhapsodi‐ schen Dichtertums, von der wir gerne mehr wüssten.
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Wie frei die Dichter bei der Abfassung der hymnischen Proömien auch schalten konnten, eines verbot sich grundsätzlich: im hymnischen Proömium auf das Thema des folgenden epischen Vortrags hinzuweisen. Der Grund lässt sich nach dem Gesagten unschwer erraten. Der Text der homerischen Epen konnte im Rahmen einer agonalen Feier von einem Rhapsoden niemals voll‐ ständig vorgetragen werden; vielmehr erzwangen die Riesenmaße der Gro‐ ßepen, eine Auswahl vorzunehmen. Im platonischen Ion (p. 535 bc) werden ei‐ nige solche ausgewählten Glanzstücke genannt: Der Freiermord des Odysseus; Hektors Zweikampf mit Achill; die Rührszenen der Andromache, der Hekabe oder des Priamos. Auch spricht viel dafür, dass die inhaltlichen Titelüber‐ schriften, die die alexandrinischen Grammatiker, nachweislich aus älterer Tra‐ dition schöpfend, den einzelnen Büchern der Ilias und Odyssee beigegeben haben, auf diesen rhapsodischen usus der Themenauswahl zurückgehen, der seinerseits außer Frage stellt, dass die homerischen Epen ursprünglich für einen anderen Zweck bestimmt gewesen sein müssen, als der epische Agon ist. Das viel berufene Panathenäengesetz, das die Überlieferung (Diog. Laert. 1.57; Ps.Plat. Hipparch. p. 228 b; cf. Isocr. Paneg. 159; Lycurg. Leocr. 102; Plut. Per. 13.6) bald auf Solon, bald auf Hipparchos zurückführt, ordnete den gesamten Vortrag der homerischen Epen in originaler Reihenfolge (ἐξ ὑποβολῆς bzw. ἐξ ὑπολήψεως ἐφεξῆς) an und bekundet so das ästhetische Missvergnügen an der Auswahl von Einzelszenen aus den Großepen, wie sie die Regel war und blieb. Die Auswahl der Themen nun, wie sie die rhapsodische performance erzwang, konnte von den Rhapsoden unmöglich jeweils ad libitum getroffen werden. Um Überschneidungen und Wiederholungen zu vermeiden und so etwas wie ein agonales Programm zu gewährleisten, mussten sich die Rhapsoden, deren beim Agon in der Regel drei auftraten, vielmehr im Voraus über die Themen abspre‐ chen, oder – ungleich wahrscheinlicher – die Agonotheten legten die Themen‐ auswahl jeweils vorher fest. In jedem Falle machte die von Agon zu Agon wech‐ selnde ad-hoc-Fixierung des Themas es ganz unmöglich, im hymnischen Proömium das Thema des folgenden Gesanges zu nennen; ein solches Proömium wäre für den praktischen Zweck, dem es dienen sollte, schlechthin unbrauchbar gewesen: Es hätte die rhapsodische Tätigkeit gerade dort fixiert, wo unbedingte Flexibilität erforderlich gewesen wäre. Was sich für das hymnische Proömium verbot, mussten die Rhapsoden zu Be‐ ginn der Homerrezitation nachholen: die Hörer durch ein kurzes Proömium auf das Thema des folgenden ausgewählten Stückes hinweisen. Ein solches rhap‐ sodisches Teil- bzw. Gebrauchsproömium hat sich durch Zufall erhalten. Aris‐ toxenos (fr. 91 a Wehrli) berichtet, dass ›einigen zufolge‹ (κατά τινας) die Ilias folgendermaßen begonnen habe:
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ἔσπετε νῦν μοι, Μοῦσαι Ὀλύμπια δώματ ἔχουσαι, ὅπως δὴ μῆνίς τε χόλος ϑ᾽ ἕλε Πηλείωνα, Λητοῦς τ᾽ ἀγλαὸν υἱόν· ὁ γὰρ βασιλῆι χολωϑείς …
Dass diese wenig geglückten Verse nicht dazu bestimmt waren, die ganze Ilias thematisch einzuleiten, sondern allein das erste Buch, würde man auch dann vermuten, wenn der Rhapsode nicht durch die Temporalpartikel νῦν verriete, dass seine Verse nicht den Beginn einer Rezitation annoncieren, sondern ihren Neubeginn in größerem Rahmen. Was vorausging, war das hymnische Proö‐ mium, das der Rhapsode mit der Ankündigung des Themas ebenso wenig be‐ lasten konnte, wie er die Originalverse Homers nicht verwenden konnte, da sie nicht das erste Buch, sondern vielmehr das ganze Gedicht thematisch einleiten – ein Befund, der noch einmal außer Frage stellt, dass die homerischen Epen ur‐ sprünglich nicht für den agonalen Vortrag durch Rhapsoden bestimmt gewesen sein können, wie es in historischer Zeit die Regel gewesen ist. 3
Die Hesiodanalyse war der Ansicht, dass das Theogonieproömium ursprünglich ein selbständiges hymnisches Proömium gewesen sei, das, vielfach erweitert, später von einem Redaktor der Theogonie vorangestellt worden sei. Aber die Analyse irrt auch hier. Denn der Musenhymnus Hesiods lässt sich einzig und allein als Einleitung in die Theogonie interpretieren. Dies lehrt unwiderleglich der Befehl, den die Musen in ihrer Scheltrede (v. 33) an Hesiod ergehen lassen, dass er nämlich die unsterblichen Götter preisen solle: ὑμνεῖν μακάρων γένος αἰὲν ἐόντων.
Nach diesen Worten kann unmöglich der Vortrag eines für agonale Zwecke ausgewählten Stückes homerischer Heldenepik folgen; es kann nur folgen, was folgt: der Gesang vom γένος der Götter, die Theogonie. Wie der zweite Teil des Musenbefehls (v. 34) den ersten und zweiten Hymnus innerhalb des Proömiums fest verbindet, so verbindet der erste Musenbefehl (v. 35) den ganzen fest ge‐ fügten Musenhymnus fest mit dem folgenden Gedicht. Und damit auch hier die feste Fügung sichtbar werde, hat Hesiod am Ende des Hymnus, nach der ab‐ schließenden Grußformel an die Musen, exakt also an jener Stelle, an der in den hymnischen Proömien auf das ›andere Lied‹ verwiesen wird, expressis verbis das Thema des Gedichtes angekündigt. Diese Schlussverse (v. 104 – 115), in Form eines Gebetes komponiert und also noch Teil des Musenhymnus, wiederholen zunächst fast wörtlich den Befehl der
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Musen, wenn es heißt, dass die Musen im Folgenden der Unsterblichen heiliges Geschlecht rühmend besingen sollen: κλείετε δ᾽ ἀϑανάτων ἱερὸν γένος αἰὲν ἐόντων.
Sodann aber wird das vorgegebene Thema präzisiert: Die Abkömmlinge der Urgötter Gaia, Uranos, Nyx und Pontos sollen besungen werden sowie deren Abkömmlinge, die Geber guter Gaben, die die Ehrenstellen untereinander ver‐ teilten und den Olymp in Besitz nahmen. Und nachdem der Dichter die Musen noch einmal angerufen hat, kommt er noch einmal auf das Thema zurück: Auch das Uranfängliche, das, was das Erste war von allem, auch das sollen die Musen ihm künden. Mehr noch: Hesiod hat genauestens Sorge getragen, dass das Thema des fol‐ genden Gedichtes nicht nur am Ende, sondern auch innerhalb des Hymnus ein‐ gehend zur Sprache käme. Dies geschieht wiederum höchst kunstvoll. Wie der Dichter im Hymnus auf die olympischen Musen tat, was der zweite Befehl der helikonischen Musen verlangte, so tun die Musen nun selber, was zu tun sie dem Dichter im ersten Befehl aufgetragen haben: Sie singen vom γένος der Götter. Und damit sich dieses Thema dem Hörer recht einpräge, finden sich, der Dop‐ pelstruktur des Hymnus entsprechend, gleich zwei Theogonien: eine helikoni‐ sche (v. 11 – 21) und eine olympische (v. 43 – 52). Und in dieser Doppelung wie‐ derum die höchste Kunst: Einmal wird die Geschichte von der Entstehung der Götter von der Gegenwart aus erzählt, so dass Zeus an den Anfang, die Urgötter Gaia, Okeanos und Nyx ans Ende der Aufzählung zu stehen kommen; demge‐ genüber beginnt die zweite Theogonie mit den Urgöttern Gaia und Uranos und deren Abkömmlingen und führt dann zu Zeus, dem, als dem Mächtigsten, die Menschen als die Schwächsten und die Giganten als die vordem Stärksten sinn‐ fällig zur Seite gestellt werden. – Sorgfältiger und kunstreicher kann man das Thema eines Gedichtes nicht vorbereitend ankündigen, als Hesiod es getan hat im Proömium der Theogonie. Dies alles recht erwogen, lässt sich nun die entscheidende Frage, die eingangs gestellt wurde, beantworten wie folgt: Das Theogonieproömium ist kein hym‐ nisches Proömium, wie es die Homerischen Hymnen sind, auch wenn es deren Kompositionsstruktur auf das entschiedenste verpflichtet ist. Denn anders als die Homerischen Hymnen, die grundsätzlich so komponiert werden, dass sie als Einleitung für jeden beliebigen Vortrag epischer Dichtung geeignet sind, kann Hesiods Musenhymnus, da er das Thema des folgenden Gedichtes so deutlich wie möglich ankündigt, nurmehr als Einleitung in die Theogonie vorgetragen werden. Oder anders: Hesiod hat das hymnische Proömium seiner formalen Flexibilität beraubt, so dass es nun nicht mehr als kultische Einleitung für den
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agonalen Vortrag jedweder epischen Poesie geeignet ist, sondern nurmehr, orts‐ fest und werkgebunden, ein einziges episches Werk – sein Gedicht von der Ent‐ stehung der Götter – thematisch einzuleiten geeignet ist. Das aber heißt nichts anderes, als dass Hesiod die Form des hymnischen Proömiums gesprengt hat, um eine neue Form dichterischen Ausdrucks zu schaffen. Man kann die Kühnheit dieser neuen Form, der die Kühnheit in der Verwen‐ dung der traditionellen Formelemente aufs schönste entspricht, nur dann richtig ermessen, wenn man in Betracht zieht, dass die epische Poesie ja längst eine eigenständige Kompositionsform entwickelt hatte, die geeignet war, die epische Erzählung thematisch einzuleiten. Es sind die Einleitungsverse von Ilias (1.1 – 7) und Odyssee (1.1 – 10), die man spätestens seit Aristoteles (Rhet. p. 1415 a 10) ebenfalls als προοίμια zu bezeichnen pflegt, nachdem man schon früher den Beginn einer Rede so zu bezeichnen sich angewöhnt hatte (Aeschyl. Prom. 743; Eurip. Herc. fur. 1179; Critias VS 88 B 44; Plat. Phaedr. p. 266 d). Diese epischen Proömien weisen eine ebenso strenge wie eigentümliche Kompositionsstruktur auf, die auf mündliche Sangestradition zurückzuführen man wohl berechtigt ist: Ein pointiert an den Anfang gestelltes Themawort (μῆνιν bzw. ἄνδρα) wird re‐ giert von einer gebetsartigen Anrufung der Muse (ἄειδε ϑεά bzw. ἔννεπε Μοῦσα), sodann durch ein Adjektiv (οὐλομένην bzw. πολύτροπον) näher cha‐ rakterisiert und schließlich durch einen Relativsatz eingehend expliziert. Diese Form des Proömiums, die man um jede Verwechslung mit dem hymnischen Proömium zu vermeiden, als thematisches Proömium bezeichnen sollte, da sie die epische Poesie nicht hymnisch-kultisch, sondern thematisch-dihegematisch einleitet, wird dann offenbar, wie die homerische Dichtung überhaupt, als mus‐ tergültig empfunden und nachgeahmt: so etwa in der kyklischen Thebais (fr. 1 p. 22 Bernabé) und in der Kleinen Ilias (fr. 1 p. 76 B.), deren Eingangsverse sich zufällig erhalten haben. Wie frei sich Hesiod im Rahmen dieser strengen Tradition bewegt, die fraglos ungleich stärker und dichter gewesen ist, als die bruchstückhafte Überlieferung der archaischen Epik noch erkennen lässt, erweist sich schlagend, wenn man poetologisch beschreibt, was Hesiod poetisch getan hat: Er hat die kurze Ge‐ betsanrufung der Muse, die im episch-thematischen Proömium als traditionell vorgegeben war, durch einen veritablen Hymnus ersetzt, der, eben weil er die traditonelle Musenanrufung ersetzt, durchaus nur ein Musenhymnus sein konnte und, als Hymnus, wiederum den traditionellen Kompositionsgesetzen folgt, wie sie für das hymnische Proömium gelten. Zugleich aber wird die An‐ kündigung des Themas, die im epischen Proömium den Inhalt des Gebetswun‐ sches bildet, erzählerisch in den Hymnus aufgenommen, so dass sie ein neues
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Formelement des hymnischen Proömiums ist, dem sie ursprünglich so fremd gewesen ist, wie der hymnische Götterpreis dem epischen Proömium fremd ist. Diese Verknüpfung zweier heterogener Kunstformen zu einer neuen Form poetischen Ausdrucks – das epische Proömium, wie es Homer verwendet, um Ilias und Odyssee thematisch einzuleiten, komponiert als hymnisches Proömium, wie es die Rhapsoden verwendeten, um den agonalen Vortrag aus Ilias und Odyssee kultisch einzuleiten – das ist Hesiod ganz. Kein anfänglicher Naiver und auch nicht ein schwächlicher Nachahmer Homers, sondern ein eigenständiger Könner und kühner Neuerer, der die traditionellen Formen epischen Dichtens – das homerische Epos und seine rhapsodisch-kultischen Repräsentations‐ formen – in vielem bereits offenbar hinter sich hat; ein Spätling also viel eher, wiewohl so früh in der Zeit, den es drängt, das traditionell Überkommene, wie sehr er ihm im Einzelnen auch noch verpflichtet sein mag, in neue Formen zu verwandeln, die alles, was epischer Dichtung bisher möglich war, kühn über‐ steigen. Es bleibt zu fragen, wie sich die neue Form des hymnisch-thematischen Proö‐ miums, die Hesiod in der Theogonie kreiert hat, in den agonalen Kontext der rhapsodischen performance einfügen lässt. Will man diese Frage beantworten, so muss man einen Blick auf eine be‐ rühmte Stelle in den hesiodeischen Erga (v. 650 – 659) werfen: Hesiod erzählt hier, dass er nur ein einziges Mal zur See gefahren sei, vom böotischen Aulis nach Chalkis auf Euboia zu den Leichenspielen für König Amphidamas, die dessen Söhne ausrichten ließen, viele Kampfpreise im Voraus ankündigend; dort habe er, ›mit einem Liede siegend‹ (ὕμνωι νικήσαντα) einen Dreifuß gewonnen und ihn den helikonischen Musen an dem Ort als Weihegabe aufgestellt, an dem sie ihn zuerst auf den helltönenden Gesang stießen. Was ist jenes ›Lied‹, dem He‐ siod den Sieg verdankte? Die Erwähnung der sogenannten Musenweihe lässt keinen Zweifel daran, dass es die Theogonie gewesen ist, in deren Proömium (v. 22 – 35) erzählt wird, woran die Erga anlässlich der Weihgabe an die Musen rückblickend erinnern: Wie Hesiod, am Fuße des Helikon die Schafe hütend, von den Musen zuerst gescholten, dann aber mit einem Zweig vom Lorbeerbaum beschenkt und poetisch inspiriert worden sei, das Geschlecht der Götter zu be‐ singen. – Die Theogonie selbst aber gibt einen noch deutlicheren Hinweis, wenn sie im Proömium (v. 98 – 103) die Wirkung der Poesie als Gabe der Musen da‐ hingehend beschreibt, dass alsbald Trauer und Sorgen vergisst, wer, im Herzen bekümmert, dahindorrt, ›Trauer hegend im frischbetrübten Gemüte‹ (πένϑος ἔχων νεοκηδέι ϑυμῶι), wenn der Dichter ›die Ruhmestaten der Menschen und die seligen Götter rühmend besingt‹ (… κλεῖα προτέρων ἀνϑρώπων / ὑμνήσει μάκαράς τε ϑεούς …). Fraglos wird hier die kalmierende Kraft gepriesen, die die
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Poesie, genauer: die heroische und theogonische Epik, auf die Menschen im Allgemeinen auszuüben vermag. Ebenso steht aber außer Frage, dass auch auf den konkreten Fall Bezug genommen wird, in dem sich die lindernde Wirkung der Poesie alsbald bewähren wird: Die ›Frischbetrübten‹ sind die trauernden Söhne des Amphidamas; der Sänger, der alsbald ihren Schmerz lindern wird, ist Hesiod; das Lied aber, dem solche Linderung verdankt wird, ist die Theogonie, auf die Hesiod deutlich genug anspielt, wenn er als Gegenstand des Gesanges nicht nur die Ruhmestaten der Heroen, sondern auch die Götter nennt und so seiner theogonischen Dichtung bewusst oder vielmehr selbstbewusst denselben Rang zuschreibt wie der homerischen Heldendichtung. In der Tat hatte Hesiod auch Grund zu solchem Selbstbewusstsein: Während die anderen Rhapsoden, die mit ihm im Wettkampf standen, Stücke aus homerischer Heldenepik vor‐ trugen, präsentierte er ein eigenes episches Werk theogonischen Inhalts als Ganzes. Kein Wunder, dass er den Sieg davontrug. Der soziale Anlass also, für den die Theogonie und namentlich das Proömium der Theogonie gedichtet wurde, waren die Leichenspiele zu Ehren des Königs Amphidamas, bei deren Anlass auch ein musischer Agon veranstaltet wurde – der erste, der historisch bezeugt ist. Dieser Agon aber war kein Götterfest, son‐ dern hatte gewissermaßen einen profanen Anlass, insofern hier der Tod eines Menschen Anlass bot zu rühmender Erinnerung durch eine agonale Feier. Aus diesem Grunde (und allein aus diesem Grunde) konnte Hesiod die neue Form des Proömiums, wie es die Theogonie zeigt, zur Geltung bringen: Er war an diesem profanen Feste des Rühmens einer bestimmten Festgottheit überhoben und konnte so am Eingang des Gedichtes statt der Festgottheit die Musen als Helfergottheiten epischen Gesanges hymnisch rühmen wie sonst die Festgott‐ heit nur. Zugleich konnte er tun, was kein hymnisches Proömium, das einer Festgottheit galt, tun konnte: Er konnte in den Hymnus auf die Musen das Thema des folgenden Gesanges aufnehmen und so die hymnische Form des Proömiums mit der epischen Form des Proömiums verbinden zu einer neuen Form poetischen Ausdrucks, die im Rahmen der archaischen Epik so singulär ist wie der Anlass, dem sie sich verdankt. 4
Es wäre merkwürdig, wenn ein Dichter, der im Formalen als ein so kühner Neu‐ erer erscheint, nicht auch im Gedanklichen eigene und neue Wege gegangen wäre. So erhält das Theogonieproömium seine neue poetische Struktur nicht zuletzt deswegen, damit Hesiod erzählen kann, was ihm die Musen als grund‐ stürzend neue Erkenntnis offenbart haben (v. 27 sq.): Dass Poesie nicht nur aus‐
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zudrücken vermag, was der Wirklichkeit täuschend ähnlich ist (ψευδέα … ἐτύμοισιν ὁμοῖα), sondern auch Wahres zu verkünden vermöge (ἀληϑέα γηρύσασϑαι). Dass Hesiod hier seine eigene neue Poesie als Poesie der Wahrheit pointiert der homerischen Poesie gegenüberstellt, die die Wirklichkeit nur täu‐ schend ähnlich abzubilden vermag, hätte man nie bezweifeln sollen und ist hier nicht noch einmal ausführlich darzutun. Nur soviel sei bemerkt, dass der Wahr‐ heitsanspruch der hesiodeischen Poesie sinnfällig dargestellt wird dadurch, dass die Musen dem Dichter im Folgenden (v. 30 sq.) das Würdeabzeichen des Rhap‐ soden, den mannshohen Stab (σκῆπτρον), in Form eines Zweiges vom stark‐ sprossenden Lorbeer (δάφνης ἐριϑηλέος ὄζον) verleihen – eine paradoxe Tat, die die Neuheit der hesiodeischen Poesie ebenso bekundet wie ihren Wahr‐ heitsanspruch, der durch die folgende Inspirationsszene (v. 30 sq.) nachgerade prophetisches Gepräge erhält: … ἐνέπνευσαν δέ μοι αὐδήν, ϑέσπιν, ἵνα κλείοιμι τά τ᾽ ἐσόμενα πρό τ᾽ ἐόντα.
Das Ungenügen an einer poetischen Reproduktion der Welt, die die Wirklichkeit nur täuschend ähnlich wiedergibt, sowie das daraus entspringende Drängen auf eine wahre Interpretation der Welt als neue und eigentliche Aufgabe der Poesie – das ist ein poetisches Konzept, das entschieden auch ein philosophisches Gepräge trägt. Es ist kein Zufall, dass der Dichter-Philosoph Parmenides das Proömium seines Lehrgedichtes Περὶ φύσεως (VS 28 B 1) poetisch nach dem Vorbild des Proömiums der hesiodeischen Theogonie kontrafaktorisch gestaltet hat. Was die Göttin hier ihrem Adepten verheißt (B 1.28 – 30): dass er sowohl die Wahrheit (ἀλήϑεια) vernehmen werde wie auch die Meinungen der Menschen, denen wahre Gewissheit nicht zukommt (βροτῶν δόξας, ταῖς οὐκ ἔνι πίστις ἀληϑής), steht als philosophisches Konzept dem poetischen Konzept Hesiods gedanklich so nahe, wie sich poetische und philosophische Aussage nur nahestehen können. Philosophisch kann man denn auch die Aussage der Theogonie im Ganzen nennen, die überkommene Mythen genealogisch verknüpfend und sinnend deutend, darlegt, wie die gräuelhafte Geschichte von der Deszendenz der Götter mündet in die ewige und gerechte Herrschaft des Zeus: Im Werden des Göttli‐ chen also enthüllt sich das Sein der Welt als Herrschaft des Rechts. Von hier aus ist es nicht mehr gar so weit bis zu Anaximander (VS 12 B 1), der das Sein der Welt interpretiert hat als Werden und Vergehen der Dinge im Horizont des Rechts. Und wieder verdankt sich dieser neue gedankliche Gehalt neuer poeti‐ scher Form, insofern Hesiod die Stil- und Kunstmittel des homerischen Epos, das von den Großtaten der Heroen rühmend erzählt, verwandelt, um durch die gedankliche Deutung von Göttermythen die Ordnung der Welt zu erklären. So
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erweist sich im Großen noch einmal als Kennzeichen hesiodeischer Poesie, was die Interpretation des Theogonieproömiums vor Augen geführt hat: Wie Kühn‐ heit der Form als Konsequenz von Kühnheit des Denkens sich fügt zu neuer und musterhafter Einheit. Was sich für die Theogonie konstatieren lässt, wiederholt sich gesteigert noch einmal in den Erga: Hesiod zerbricht hier die neu geschaffene Form des hym‐ nisch-thematischen Proömiums wieder, insofern er, was als Musenhymnus be‐ ginnt, als Zeusgebet enden lässt und diesem Zeusgebet, in dem das Thema des Gedichtes, das Inhalt des Musenhymnus war, sich zu kultischem Anruf wandelt, das Versprechen der Wahrheitsaussage selbstbewusst in der Ich-Form gegen‐ überstellt. Und wie das Proömium der Erga (v. 1 – 10) die neu geschaffene Form des Theogonieproömiums übersteigt, so übersteigt auch die Erzählform Erga im Ganzen die neu geschaffene Erzählform der Theogonie, insofern jetzt der Ge‐ danke von der Ordnung der Welt durch das Recht nicht mehr an der Geschichte der Götter expliziert wird, sondern an einem rein persönlichen Rechtsstreit mit dem Bruder Perses, dem Hesiod mahnend darlegt, dass die Ordnung des Rechts, die Zeus der Welt garantiert, unter den Menschen allein gewährleistet wird durch Arbeit. Wenn Hesiod in der Theogonie als gedanklicher Vorläufer der vorsokra‐ tischen Philosophie erscheint, als welchen ihn bereits Aristoteles (Metaph. 1 p. 984 b 23 – 31) bezeichnet hat, so erscheint er in den Erga als Vorläufer der parä‐ netischen Ethik. Die Philosophie wird demnächst die Prosa als angemessene Ausdrucksform entdecken, die paränetische Ethik die Lyrik, namentlich das elegische Distichon. Nichts davon bei Hesiod. Wie sehr er auch die traditionelle epische Poesie formal und gedanklich übersteigt, er hält sich doch immer noch im Rahmen der vor‐ gegebenen epischen Konventionen, wiewohl diese Konventionen vom Dichter nachgerade gezwungen werden, ganz anderen Zwecken und Zielen dienstbar zu sein als jenen, für die sie ursprünglich erfunden worden waren. Dieses äuß‐ erste Ausreizen vorgegebener Form bis an ihre Grenzen, die Überwindung der epischen Poesie im Rahmen der epischen Poesie und mit den Mitteln der epi‐ schen Poesie, ist ein rezeptionsästhetisches Phänomen ersten Ranges und macht nicht zuletzt den eigentümlichen Reiz der hesiodeischen Poesie aus, den na‐ mentlich die hellenistischen Dichter, Artisten, die sie waren, so stark empfunden haben. Die antike Überlieferung, die so oft so blind urteilt – was die archaische Epik betrifft, so wusste sie wohl, was sie tat, als sie nicht nur Homer, sondern auch Hesiod (und Hesiod allein) der Erhaltung für wert erachtete und so nicht nur dem Vollender der epischen Poesie einen Platz verlieh in der Unsterblichkeit, sondern auch ihrem Überwinder, dem Dichter-Rhapsoden Hesiod aus Askra am Helikon.
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3. Ausdrucksformen der frühgriechischen Philosophie Die frühgriechischen Philosophen haben ihre Lehren teils mündlich, teils in Schriftform mitgeteilt, und zwar teils poetisch, teils in Prosa. Diese Inkonstanz im Formalen ist nicht entwicklungsgeschichtlich erklärbar. Die Oralität geht nicht der Literarizität voraus, und die Prosa folgt nicht auf die Poesie. Vielmehr stehen der frühgriechischen Philosophie von Anfang an alle Mitteilungsformen zur Wahl. Wie die Wahl jeweils getroffen wird, sagt um so mehr über die In‐ tention des Denkens aus, als die Form der Vermittlung jeweils auch den sozialen Ort festlegt, für den sie bestimmt ist: Das private Gespräch, das private Ver‐ sammlungslokal sowie die öffentliche Ratsversammlung sind die Orte oraler Mitteilung; die Vermittlung der (episch-didaktischen) Poesie findet im Rahmen des rhapsodischen Agons statt; die Prosa wird durch den Vortrag im privaten Hause, teils durch den Autor, teils durch eine andere Person vermittelt oder durch eigene Lektüre des sogenannten einsamen Lesers privatim rezipiert (aus‐ führlich dazu Patzer 2006 [* 87]). 1. Die mündliche Tradition
Obwohl die frühgriechische Philosophie aufs Ganze gesehen der Epoche der Schriftkultur angehört, gibt es einige Denker, die sich der Schriftlichkeit ent‐ zogen und ausschließlich mündlich gewirkt haben. Die Gründe, die sie zu dieser Form philosophischer Mitteilung, die in Sokrates ihren Höhepunkt findet, be‐ wogen haben, sind ebenso unterschiedlich wie die Gedanken und Lehren, die diese Philosophen jeweils vortragen. Thales hat seine Erkenntnisse nur mündlich dargelegt. Die Werke bzw. Werk‐ titel, die ihm die spätere Überlieferung (DK 11 B 14) zuschreibt, müssen als apokryph gelten. Thales war kein systematischer Denker. Seine Lehren er‐ schöpften sich in disparaten Äußerungen über einzelne Weltphänomene in einem neuen Denkhorizont, der nicht mehr mythisch, sondern rational be‐ stimmt ist. Doch stand gerade der Einzelfallcharakter solcher Erkenntnisse einer zusammenhängenden schriftlichen Fixierung hindernd im Wege. Insofern ist Thales eher ein Vorläufer philosophischen Denkens im Sinne der sogenannten Weisen (σοφοί), zu denen die ältere Tradition (Platon, Prot. 343a; Hipp. mai. 281b-c) ihn rechnet (Mosshammer 1976 [* 48], Rösler 1991 [* 68: 357 – 360],
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3. Ausdrucksformen der frühgriechischen Philosophie
Neschke 1993 [* 71]). Erst Aristoteles (Met. 983b6 – 33 = DK 11 A 12) sieht in Thales den Begründer der Naturphilosophie, weil er das Wasser als Urprinzip aller Dinge gesetzt habe. Diese These ist jedoch eine Konstruktion des Sophisten Hippias, dem Aristoteles hier folgt (Snell 1944 [* 16: 172 – 182], Mansfeld 1985 [* 57: 109 – 123], Patzer 1986 [* 61: 33 – 42]). Der Ort, an dem Thales seine Erkenntnisse öffentlich verkündete, dürfte das Panionion auf dem Vorgebirge Mykale nahe der Stadt Priene gewesen sein, wo alljährlich ein Fest stattfand, zu dem sich die gemeinsame Ratsversammlung der zwölf wichtigsten ionischen Stämme im Heiligtum des Poseidon Helikonios versammelte (Lenschau 1944 [* 15]). Herodot (1,70 u. 74 = DK 11 A 4. 5) lässt erkennen, dass Thales diesem Gremium angehörte und hier die Sonnenfins‐ ternis vom 28. Mai 585 v. Chr. «den Ioniern vorausgesagt hat» (Panchenko 1994 [* 76], Stephenson / Fatoohi 1997 [* 80]). Diese Prognose, deren Thales sich sehr sicher gewesen sein muss, verfolgte offenbar die politische Absicht, seine Lands‐ leute rechtzeitig vor unbegründeter Panik angesichts dieses ungewöhnlichen Naturereignisses zu warnen. Die Voraussage dieses spektakulären Ereignisses wie auch die anderen Manifestationen einer neuen, rationalistischen Weltsicht haben Staunen erregt und sich im kollektiven Gedächtnis der Ionier so lange gehalten, bis frühe Autoren wie Xenophanes (DK 21 B 19), Heraklit (DK 22 B 38), Herodot (1,74 – 75 u. 170 = DK 11 A 4 – 6), Hippias (Patzer 1986 [* 61: 33 – 42]), Aristophanes (Nub. 180; fehlt in DK) oder Demokrit (Diog. Laert. 1,23 = DK 22 B 38) sie schriftlich festhielten. Pythagoras und die älteren Pythagoreer. – Eine glaubwürdige antike Überlie‐ ferung (Neanthes FGrHist 84 F 26 = DK 31 A 1; Poseidonios fr. 419 Theiler = DK 14,18) bezeugt, dass Pythagoras und die älteren Pythagoreer bis auf Philolaos keine schriftlichen Aufzeichnungen hinterlassen haben. Die zahlreichen pseu‐ depigraphischen Schriften sind zumeist in der hellenistischen Epoche ent‐ standen (Thesleff 1965 [* 31: III-V]). Das Verharren in der Oralität über mehr als drei Generationen geht auf das Schweigegebot zurück, das Pythagoras seinen Anhängern verordnete (Petit 1997 [* 79]; Hauptquellen: Isocr. Bus. 29 = DK 14,4; Aristox. fr. 43 Wehrli; Di‐ kaiarch. ap. Porph. Vit. Pyth. 19 = DK 14,8a; ergänzend Arist. fr. 129 Rose = DK 14,7). Dieses Schweigegebot gehört nicht in die Sphäre der frühgriechischen Philosophie, sondern in den religiösen Kontext der Mysterienkulte, die verord‐ neten, dass strenges Schweigen über die Vorgänge während der Kultfeier zu wahren sei (Schneider 1979 [* 52: 7 – 8], Godwin 1981 [* 54: 9], Burkert 1987 [* 63: 7 – 9]). In der Tat weist die Lehre des Pythagoras eine religiös ausgerichtete, mystisch-magische, ja schamanistische Komponente auf. Der Anteil dieser Komponente an der Lehre des Pythagoras ist allerdings umstritten und wird
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zurückgedrängt durch die pythagorisierende Spätphilosophie Platons, die den Akademikern Speusippos und Xenokrates als Erfüllung und Vollendung der py‐ thagoreischen Philosophie erscheint. Auf diese interpretatio Platonica geht die gesamte Pythagorasauffassung über den Neupythagoreismus bis hin zum Neu‐ platonismus zurück. Lediglich Aristoteles hat im Gegenzug zur interpretatio Academica und im Bemühen um eine historische Würdigung streng zwischen Pythagoras und den Pythagoreern geschieden und dabei für Pythagoras selbst nur die Lehre von der Seelenwanderung und die sogenannten ‹Hör‐ sprüche› (ἀκούσματα) bzw. ‹Erkennungszeichen› (σύμβολα) in Anspruch ge‐ nommen (Burkert 1962 [* 26: 86 – 187]). Der Ort, an dem Pythagoras seine Lehre verkündete, war nicht öffentlich; es handelte sich vielmehr um einen esoterischen Bund, der im unteritalischen Kroton gegründet wurde und sich über sechs Generationen erhalten hat (vgl. das umfangreiche Namensverzeichnis der Pythagoreer bei Iambl. Vit. Pyth. 267 = DK 58A). Nach dem Bericht des Dikaiarchos (fr. 33 Wehrli = DK 14,8a) hat Py‐ thagoras den Senat von Kroton so von sich eingenommen, dass er gebeten wurde, Mahnreden (παραινέσεις) an junge Menschen zu halten. Dadurch ge‐ wann Pythagoras Anhänger, die er festhielt, indem er sie zu einem Bund zu‐ sammenschloss und an einem festen Ort, dem gemeinsamen Hörsaal (ὁμακοεῖον: Porph. Vit. Pyth. 20; Iambl. Vit. Pyth. 30. 74. 185), versammelte. Hier hat Pythagoras seine Lehre nicht nur oral, sondern auch autoritär vermittelt. Die berühmte Formel «Er selbst hat es gesagt» (αὐτὸς ἔφα, Cic. De nat. deor. 1,10; Diog. Laert. 8,46) ist dafür sinnfälliger Ausdruck. Kratylos und die Herakliteer. – Die meisten der sogenannten Herakliteer haben ihre Lehre durchaus auch schriftlich, und zwar in Form des Prosatraktates (σύγγραμμα) vorgetragen (Plat. Theaet. 179e-180b). Das ist insofern ein para‐ doxer Befund, als ihr radikaler Heraklitismus, die Lehre vom immerwährenden Fluss aller Dinge und die dadurch begründete Unmöglichkeit wahrer Aussage, als angemessenen Ort der Vermittlung eigentlich das mündliche Gespräch er‐ fordert hätte, das allein die Möglichkeit bietet, die Denkposition so schnell zu wechseln, wie es der radikale Skeptizismus der Lehre verlangte. Nur der Herakliteer Kratylos aus Athen wirkte ausschließlich oral. Der soziale Ort, an dem er die Skeptizismen der Herakliteer vortrug, war das Gespräch: Beispiel hierfür ist der platonische Dialog ‹Kratylos›, in dem Kratylos aus der radikalen These der Herakliteer eine Sprachtheorie entwickelt. Allerdings er‐ schien ihm schließlich selbst die mündliche Aussage als gedanklich unzulässige Fixierung ewigen Wandels: In Abwandlung des bekannten heraklitischen Fluss‐ gleichnisses (DK 22 B 91), demzufolge man nicht zweimal in denselben Fluss steigen kann, gelangte er zu der noch weitergehenden Position, dass man nicht
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3. Ausdrucksformen der frühgriechischen Philosophie
einmal nur einmal in den gleichen Fluss steigen könne. Der hiermit gegebenen Ablehnung nicht nur jeder wahren, sondern überhaupt jeder Aussage trug Kra‐ tylos, wie Aristoteles (Met. Γ 5, 1010a7 – 15 = DK 65,4) berichtet, hinfort dadurch Rechnung, dass er, um sich mitzuteilen, nicht mehr sprach, sondern nur noch den Finger bewegte (Kirk 1951 [* 18]). Damit fiel das Gespräch als sozialer Ort philosophischer Mitteilung dahin: Die Oralität endet in Aphasie. 2. Die literarische Tradition
Die meisten frühgriechischen Philosophen haben ihr Denken nicht mündlich, sondern schriftlich (literarisch) mitgeteilt: Die komplizierten Denk- und Er‐ kenntniszusammenhänge, wie sie bereits bei Anaximander zu finden sind, ließen sich nicht mehr oral vermitteln, sondern erforderten schriftliche Fixie‐ rung (Rath 1992 [* 69], Nieddu 1993 [* 72], Müller 1994 [* 75]). Zwei Formen schriftlichen Ausdrucks standen den frühen Philosophen zur Verfügung: die Poesie und die Prosa. Bis zur zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. hatte die Poesie die Prävalenz gegenüber der Prosa. Die Dichtung, verwirklicht in den drei großen Gattungen Epos, Lyrik und Drama, hatte einen festen sozialen, meist sogar kultisch bestimmten Ort in der Polis, während die Prosa – die politische Rede und die Gerichtsrede ausgenommen – keinen sozialen Ort in der Polis besaß. Entsprechend erstarkte die Prosa in den letzten Jahrzehnten des 5. Jahr‐ hunderts, als sich infolge des Peloponnesischen Krieges die sozialen Bindungen zu lockern begannen. Beispiel hierfür ist die in jener Zeit aufkommende rheto‐ risch ausgerichtete Bewegung der Sophistik, die, wie auch die gleichzeitig ent‐ stehende Fachwissenschaft, als Form der Mitteilung ausschließlich die Prosa wählt, die jetzt, aber erst jetzt auch für die frühgriechischen Philosophen, das verbindliche Ausdrucksmittel wird. 1. Die poetische Tradition
Wie schwach die Stellung der Prosa in älterer Zeit gewesen ist, lässt sich daran erkennen, dass, nachdem Anaximander und Anaximenes die Prosa als ange‐ messenen Ausdruck philosophischen Denkens gefunden hatten, diese neube‐ gründete Tradition alsbald wieder abreißt: Xenophanes greift auf die altbe‐ währte epische Poesie zurück, die schon Hesiod didaktischen Zwecken dienstbar gemacht hatte; Parmenides und Empedokles folgen ihm, so dass über drei Generationen hin drei namhafte frühgriechische Denker sich der Poesie als Darstellungsmittel bedienen, deren Vormachtstellung in der Blütezeit der frühen Philosophie unbestritten war (Wöhrle 1993 [* 74: 167 – 180], Most 1999 [* 83: 332 – 362]).
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Diese philosophische Epik kann als philosophisches Lehrgedicht bezeichnet werden, genauer: als ‘sachbezogenes’ Lehrgedicht (Effe 1977 [* 50: 26 – 37]), in‐ sofern Thema und Stoff identisch sind – anders als im formalen Lehrgedicht, in dem die Form nur Mittel für den Zweck ist, den Stoff (Inhalt) dem Publikum möglichst fasslich zu Gehör zu bringen. Das authentische, eigene Lehre vermit‐ telnde philosophische Lehrgedicht, von Xenophanes erfunden, von Parmenides weitergeführt, von Empedokles vollendet, erlebte eine nur kurze Blüte. Nach Empedokles zeigt kein griechischer Philosoph mehr Neigung, eigene Philoso‐ phie in Form eines Lehrgedichtes mitzuteilen. Es beginnt der Siegeszug der phi‐ losophischen Prosa. Xenophanes. – Wenn Xenophanes nach Anaximander und Anaximenes zur Poesie zurückkehrt, so erfolgt dies im Rahmen der epischen Tradition. Lässt man die sich auf historische Vorgänge beziehenden Titel ‹Die Gründung von Kolo‐ phon› und ‹Die Auswanderung nach Elea in Italien› als Erfindungen des Schwindelliteraten Lobon aus Argos (fr. 17 Crönert; vgl. von Wilamowitz-Moel‐ lendorff 1926 [* 6: 281]) beiseite, so werden hexametrische (epische) Verse des Xenophanes unter drei verschiedenen Titeln zitiert: ‹Sillen› (Σίλλοι, DK 21 B 17. 21a; vgl. A 20 – 23), ‹Parodien› (Παρωιδίαι, DK 21 B 22) und ‹Über die Natur› (Περὶ φύσεως; DK 21 A 36; B 30. 39). Keiner dieser Titel geht auf Xeno‐ phanes selbst zurück. Die beiden erstgenannten beziehen sich offenbar auf ein und dasselbe Werk, ein parodisches Spottgedicht. Die strittige Frage, ob der Titel ‹Über die Natur› ein eigenständiges Werk markiert, ist mit großer Wahr‐ scheinlichkeit zu verneinen (Steinmetz 1966 [* 35: 54 – 68]). Die älteste Überlieferung (Platon, Aristoteles, Timon) weiß nichts von einer systematischen Naturlehre des Xenophanes. Erst Theophrast hat den Versuch unternommen, die offenbar inkonsistenten Äußerungen des Xenophanes über Gott und Natur in eine systematische Ordnung zu stellen. Die nachtheophras‐ tischen Doxographen haben die Vorgaben Theophrasts verfestigt und in die Schemata eingefügt, mit denen sie die frühgriechische Philosophie im Ganzen erfassen zu können meinten. Tatsächlich aber sind die als naturphilosophisch aufgefassten Partien im Werk des Xenophanes jeweils einzelne Einreden, in denen sich empirische Erfahrung aufklärerisch und polemisch gegen eine my‐ thische Sicht der Natur zur Wehr setzt. Ein besonders lehrreiches Beispiel bieten die Verse des Xenophanes über die Iris (DK 21 B 32): Was die Menschen als Götterbotin auffassen, ist in Wirklichkeit eine farbige Wolke. Zitate mit der Ti‐ telangabe ‹Über die Natur› meinen demnach nicht das ganze Gedicht, sondern jeweils einen Passus, den die Doxographen als naturphilosophisch missdeu‐ teten. In derselben Weise markiert Plutarch (Vit. Sol. 3,6) zwei Verse aus den Elegien Solons (IEG 2 fr. 9.12, p. 125. 127 West) mit dem Ausdruck «In den Par‐
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tien über die Natur» (ἐν φυσικοῖς). Ein eigenständiges Gedicht des Xenophanes mit dem Titel ‹Über die Natur› hat es demnach nicht gegeben und konnte es auch nicht geben, da die empirischen Beobachtungen des Xenophanes nicht den Charakter einer konsistenten Naturlehre hatten. Das Gedicht des Xenophanes hatte einen beträchtlichen Umfang. Da ein Zitat aus dem fünften Buch der ‹Sillen› (Σίλλοι) stammt (DK 21 B 21 a), umfasste das Gedicht mindestens fünf Papyrusrollen. Vorausgesetzt, dass das Werk aus nicht mehr als aus fünf Büchern bestand und jedes Buch nur den Mindestumfang von 700 Hexametern aufwies, den die Statistik (Birt 1882 [* 2: 292]) für ein Werk poetischen Inhalts errechnet hat, muss das Gedicht mindestens 3500 Verse um‐ fasst haben. Erhalten sind nur 50 Hexameter und 2 Halbverse, also lediglich ca. 1,5 % des ursprünglichen Textes. Dieser Befund schränkt die Möglichkeit stark ein, näheren Aufschluss über die Komposition dieses Werkes zu erhalten. Eine Eigenart des Gedichtes wird jedoch deutlich: Ein zweizeiliges Fragment theo‐ logischen Inhalts (DK 21 B 12) beginnt mit einem jambischen Trimeter, auf den ein Hexameter folgt. Offenbar hat Xenophanes in sein hexametrisches Gedicht gelegentlich jambische Verse eingestreut (vgl. auch DK 21 A 14. 24; B 45 sowie Diog. Laert. 9,18 = DK 21 A 1 § 18). Xenophanes folgt hier offensichtlich dem Verfasser des ps.-homerischen ‹Margites› (IEG 2, p. 71 West), in dessen Dicht‐ werk sich notorisch Hexameter mit Jamben mischten. Nicht von ungefähr stammt der Sänger, der dieses Gedicht vorträgt, aus Kolophon, der Heimatstadt des Xenophanes (IEG 2 fr. 1, p. 72 – 73 West). Die poetische Absicht beider Ge‐ dichte war, durch gelegentliches Einstreuen des volkstümlichen Jambus in die heroischen Hexameter den hohen Ton der epischen Poesie zu durchbrechen und so mit der Demontage des epischen Versbaus zugleich auch den Gehalt der epi‐ schen Poesie zu demontieren. Xenophanes überbietet noch die polemische Pa‐ rodie des ‹Margites›, die der Demontage des epischen Heldenideals galt, inso‐ fern sich Kritik und Polemik jetzt gegen die mythische Weltsicht des Epos als Ganzes richten, um sowohl das Verständnis der Götter wie auch das Welt- und Naturverständnis, wie es der Mythos dem Epos vermacht hatte, ironisch ad ab‐ surdum zu führen (Rudberg 1948 [* 17]). Auch die Erzählform hat sich geändert: Der Dichter des ‹Margites› schweigt über sich selbst und lässt stattdessen die Personen reden, die in seinem Gedicht auftreten: Die Demontage des epischen Heldenideals erfolgt in der traditionellen Erzähltechnik des Epos. Xenophanes dagegen stellt sein Gedicht in den subjek‐ tiven Horizont der Ich-Aussage: Er belehrt seine Hörer, richtet aber, soweit wir sehen, das Wort nicht lehrhaft an eine Person des Gedichtes, wie wir dies bereits in den ‹Erga› Hesiods finden. Dieser bewusste Verzicht auf die poetische Her‐ stellung einer Lehrer-Schüler-Situation stellt das Gedicht des Xenophanes in
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den Horizont der Nichtfiktionalität. Diese neue Form ist eine Singularität im Bereich der frühgriechischen Hexameter-Dichtung, geschaffen aus dem kriti‐ schen Geist der Aufklärung, den sie vermittelt. Der nüchternen Erzähltechnik entspricht eine Nüchternheit des Stils, die von den traditionellen Schmuckmit‐ teln der epischen Sprache nur sparsam Gebrauch macht. Auch hier waltet das Pathos der Aufklärung, das nicht nur einen neuen epischen Stil, sondern auch eine neue epische Erzähltechnik als angemessene Form eines neuen Denkens hervorgebracht hat (Classen 1989 [* 64]). Es wird ausdrücklich überliefert (DK 21 A 1 § 19), dass Xenophanes «in ei‐ gener Person seine Verse rhapsodisch vortrug». Der soziale Ort, an dem Xeno‐ phanes sein Werk zur Aufführung brachte, war demnach der rhapsodische Agon, wie er an den Götterfesten stattfand (Patzer 2002 [* 85: 116 – 117]). Es war derselbe Ort, an dem traditionellerweise Homer und Hesiod rezitiert wurden – es zeugt vom Mut des Xenophanes ebenso wie von der geistigen Freiheit seiner Zeitgenossen, dass sie die massive Kritik an jenen Dichtern, die sie am liebsten hörten, an jenem Orte zuließen, an dem sie diese Dichter zu hören pflegten. Parmenides. – Das hexametrische Gedicht des Parmenides wird in der spä‐ teren Überlieferung (DK 28 A 9. 14; B 1) unter dem Titel ‹Über die Natur› (περὶ φύσεως) zitiert, obwohl es Kosmologie und Kosmogonie in den Bereich der bloßen Meinung verweist. Da in der Überlieferung nirgends von mehreren Bü‐ chern die Rede ist, reichte offenbar eine Papyrusrolle für das ganze Gedicht aus. Es war demnach erheblich kürzer als dasjenige des Xenophanes. Welchen Um‐ fang es hatte, lässt sich nicht genau ermitteln. Insgesamt sind 151 Hexameter ganz und 8 Hexameter zum Teil erhalten. Dieser Befund ist jedenfalls sehr viel günstiger als im Falle des Xenophanes und erlaubt einen Einblick in die kom‐ positorische Struktur des parmenideischen Gedichtes. Dieses gibt sich in der Hauptsache als die Rede einer Göttin an den Dichter und weist eine deutliche Zweiteilung auf (Deichgräber 1959 [* 23], Günther 1998 [* 81]). Aus dem ersten Teil, der sogenannten ‘Wahrheit’ (B 1 – B 8,49), sind fast doppelt so viele Verse erhalten, wie aus dem zweiten, dem ‘Doxa-Teil’ (B 8,53 – B 19), offenkundig deshalb, weil dieser ‘Gründungsurkunde des ontologischen Denkens’ das be‐ sondere Interesse späterer Philosophen, insbesondere Platons und der Neupla‐ toniker, galt, denen fast alle einschlägigen Zitate zu verdanken sind. Dagegen wurde das naturphilosophische System des zweiten Teils bald durch ausführ‐ lichere und besser fundierte Denkentwürfe (Empedokles, Anaxagoras, Demo‐ krit) ersetzt und hat demzufolge weniger Interesse gefunden. Der erste Teil kann kaum mehr als 100 Verse umfasst haben. Simplikios (DK 28 A 21) bezeugt, dass es «über das Eine Seiende nicht viele Verse des Parmenides gebe», und zi‐ tiert «wegen der Seltenheit des parmenideischen Buches» 52 zusammenhän‐
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gende Hexameter (B 8,1 – 52), in denen Parmenides das Wesen des Seins expli‐ ziert. Geht man davon aus, dass Parmenides über das Nichtseiende nicht mehr gesagt hat, so repräsentieren die 78 erhaltenen Hexameter, die man dem ersten Teil des Werkes zuweisen kann, fast den vollständigen Text dieses ersten Teiles. Vom zweiten Teil, der sehr viel umfangreicher gewesen sein muss, sind nur 43 vollständige und 4 bruchstückhafte Hexameter überliefert. Die poetische Struktur des Gedichtes entspricht nicht der klassischen Form des Lehrgedichtes, d. h., der Autor redet nicht einen anderen belehrend an, wie es Hesiod in den ‹Erga› poetisch vorgeführt hatte. Es handelt sich vielmehr formal um eine Erzählung, die sich poetisch an der sogenannten ‘Musenweihe’ der hesiodeischen ‹Theogonie› orientiert (Patzer 2002 [* 84: bes. 126]) – wie denn Parmenides Hesiod überhaupt zahlreiche gedankliche Anregungen verdankt (Schwabl 1963 [* 29], Pellikaan-Engel 1974 [* 44]). Ein bedeutsamer Unterschied zwischen den beiden poetischen Konzepten besteht darin, dass die persönliche Begegnung des Dichters mit der Gottheit bei Hesiod nur einen Teil des Proö‐ miums, bei Parmenides aber das ganze Proömium erfüllt, so dass aus einer Epi‐ sode in dienender Funktion die einleitende Haupterzählung geworden ist, die den weiteren Fortgang des Gedichtes als belehrende Rede der Göttin bestimmt. Im Zuge dieser erzählerischen Neuorientierung hat Parmenides zahlreiche Mo‐ tive des Referenztextes gleichsam spiegelverkehrt aufgenommen: Die hesiodi‐ schen Musen reden den Dichter scheltend an, Parmenides wird von der Göttin freundlich aufgenommen; die Musen verheißen Hesiod, die Wahrheit zu künden, nicht aber die trügerische Wahrscheinlichkeit; die Göttin verheißt Par‐ menides Kunde über die Wahrheit und über die trügerischen Meinungen der Menschen; Hesiod wird durch die Musen als Dichter-Rhapsode eingesetzt, Par‐ menides ist bereits ein eingeweihter Adept der Erkenntnis. Indes reicht der Rekurs auf Hesiod nicht aus, um zu erklären, warum Parme‐ nides die poetische Darstellung gewählt hat, nachdem Anaximander und Ana‐ ximenes die Prosa als angemessene Form der philosophischen Mitteilung ent‐ deckt hatten. Auch Xenophanes mit seinem ganz anders gearteten, nichtfiktionalen polemisch-parodischen Großgedicht kann nicht das Vorbild gewesen sein. Es ist vielmehr der spezifische Gehalt der parmenideischen Phi‐ losophie selbst, der die poetische Form erzwang. Die radikale Bestreitung des empirischen Augenscheins durch die revolutionäre Grundthese, dass nur Seiendes sei, Nichtseiendes aber nicht, und dass also auch alles Werden und Vergehen dem Nichtsein anheimfalle, hätte, ungeschützt in Prosa vorgetragen, die Gefahr in sich geborgen, der hämischen Einrede des sogenannten gesunden Menschenverstandes zum Opfer zu fallen und damit kein Gehör zu finden. Daher musste Parmenides Schutz im religiösen Bereich suchen und seine Phi‐
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losophie als Rede der Göttin konzipieren. So erhob er seine Philosophie in den Rang einer göttlichen Offenbarung, die außerhalb aller menschlichen Kritik stand. Allein der poetische Ausdruck war dem Rang der Sache angemessen (Buhl 1956 [* 22], Pfeiffer 1975 [* 46], Pieri 1977 [* 51]). Wenn auch ausdrückliche Zeugnisse fehlen, so ist doch anzunehmen, dass Parmenides seine Gedichte öffentlich vortrug bzw. vortragen ließ. Als einziger sozialer Ort, an dem ein solcher Vortrag hexametrischer Poesie möglich war, erscheint die agonale rhapsodische Aufführung. Das Publikum jener Zeit hat demnach nicht nur den Spott des Xenophanes über die epischen Dichter, son‐ dern auch die hochabstrakten Spekulationen des Parmenides über das Wesen des Seienden an jenem Ort rezipieren können, an dem traditionellerweise die epische Poesie vorgetragen wurde. Empedokles. – Das Werk des Empedokles bestand nach zuverlässiger antiker Überlieferung aus zwei hexametrischen Gedichten. Das eine wird mit wech‐ selndem Titel zitiert als ‹Über die Natur› (Περὶ φύσεως; DK 31 A 1 § 60), als ‹Über die Natur des Seienden› (Περὶ φύσεως τῶν ὄντων; A 2), zumeist aber als ‹Na‐ turschrift› (Φυσικά; A 25; B 8. 17. 34. 62. 96. 134); das andere Gedicht wird ein‐ hellig unter dem Titel ‹Reinigungen› (Καϑαρμοί) überliefert (A 1 §§ 54. 63. 77; A 12; B 110. 112. 153a und fr. 152 Wright). Beide Gedichte waren in mehrere Bücher bzw. Buchrollen untergliedert: Es findet sich ein Zitat aus dem dritten Buch der ‹Physika› (B 134) sowie ein Zitat aus dem zweiten Buch der ‹Ka‐ tharmoi› (fr. 152 Wright; nicht bei DK). Es lässt sich nachweisen, dass diese Zahlen nicht etwa den Mindestumfang markieren, sondern den tatsächlichen Buchumfang beider Werke zuverlässig anzeigen (A 1 § 77. A 2; vgl. Zuntz 1965 [* 32: 365], Primavesi 2006 [* 88]). Beide Gedichte erfüllen die poetischen An‐ forderungen des klassischen Lehrgedichtes, weil in beiden Werken der Dichter einen Adressaten anredet: im Falle des Naturgedichts Pausanias (B 1. B 5), im Falle des Reinigungsgedichts die Bürger seiner Heimatstadt Akragas (B 112). Die Anrede an Pausanias zu Beginn der ‹Physika› hat mit dem erklärenden Zusatz des Vaternamens Anchites den Charakter einer förmlichen Vorstellung, die wohl auch als Widmung zu verstehen ist. Ob die namentliche Anrede im Verlauf des Gedichtes noch öfter vorkam, ist unbekannt. Mehrfach belehrende Anreden in der zweiten Person Singular (B 2 – 6. 21. 23. 38. 71. 110. 111) dürften, auch wenn sie ohne Titel zitiert werden, in aller Regel Pausanias gegolten haben. Entspre‐ chend dürften Anreden in der zweiten Person Plural (B 114. 136. 145) an die Bürger von Akragas gerichtet sein und also in die ‹Katharmoi› gehören. In beiden Gedichten tritt Empedokles selbst als der Belehrende auf und hat so, anders als Xenophanes und anders als auch Parmenides, die in He‐ siods ‹Erga› begründete Form des Lehrgedichtes restituiert. Wie Hesiod ver‐
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wendet Empedokles, auch wiederum anders als Xenophanes und Parmenides, die Anrufung an die Muse. Ob die beiden Musenanrufe, die für Empedokles (B 3. 131) bezeugt sind, jeweils den Proömien beider Werke zugewiesen werden dürfen, lässt sich nicht strikt beweisen, da die Gesamtstruktur der Proömien nicht sicher rekonstruierbar ist und auch unbekannt bleibt, ob Empedokles Zwischenproömien verwendet hat. So gut wie sicher ist jedoch, dass Empe‐ dokles in seinen Gedichten nicht eine andere Person – etwa den angeredeten Adepten bzw. die Bürger von Akragas – in direkter Rede zu Wort kommen ließ. Er hat, wie Xenophanes, die Ich-Form des Vortrages streng festgehalten, sich aber, anders als dieser, nicht unmittelbar an die Hörer gewandt, sondern nur mittelbar durch die Herstellung einer fiktionalen Lehrer-Schüler-Situation. Antike wie moderne Stilurteile heben die poetische Qualität des empedoklei‐ schen Werkes hervor (Hershbell 1968 [* 38], van Groningen 1971 [* 42]). Als Dichter ist Empedokles der Antipode des Xenophanes. Der strengen Nüchtern‐ heit der xenophanischen Hexameter stellt Empedokles hexametrische Verse von sinnlicher Fülle und Kraft entgegen, die seiner tragischen Philosophie ebenso angemessen sind wie die Verse des Xenophanes dem polemischen Pathos der Aufklärung. Dass Empedokles seine philosophische Mitteilung noch einmal in poetischer Form konzipiert hat, ist in seinem Denken begründet: Empedokles war nicht nur Naturphilosoph, sondern zugleich Mystiker und Magier. Als Na‐ turphilosoph darf er als der Überwinder der parmenideischen Ontologie gelten, als magisch-mystischer Denker steht er in der Nachfolge des Pythagoras, dem er lobende Verse (B 129) gewidmet hat. Die beiden Denkansätze des Empedokles, der naturphilosophisch-physikalische und der magisch-mystische, lassen sich nicht voneinander trennen oder gar entwicklungsgeschichtlich erklären in dem Sinne, dass Empedokles zunächst reiner Physiker gewesen sei und sich dann später zum Pythagoreismus bekehrt habe (Diels 1898 [* 3: bes. 412 – 415], von Wilamowitz-Moellendorff 1929 [* 8: bes. 652 – 661]). Vielmehr handelt es sich um eine einheitliche Philosophie, die naturphilosophische Spekulation mit einem Dämonen-Mythos verbindet, wobei die Physik ein durchaus auch dämonisches Ansehen annimmt und der Dämonen-Mythos nichts anderes darstellt als eine Allegorese der Naturphilosophie, so dass man sagen kann, dass die ‹Physika› die eine Philosophie des Empedokles esoterisch darstellen, die ‹Katharmoi› exote‐ risch. Die Perspektive der Darstellung wechselt und mit der Perspektive auch der Kreis der Hörer; die Lehre bleibt dieselbe (Primavesi 2001 [* 84]). In der Einheit der empedokleischen Philosophie liegt auch der Grund, wes‐ halb Empedokles für beide Werke die poetische Form gewählt hat. Da der mys‐ tisch-magische Aspekt dieser Philosophie in der Physik begründet ist, insofern sie die enge Verwandtschaft aller Lebewesen und ihre existenziale Einbindung
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in den zyklischen Prozess aller Veränderung des Kosmos darlegt, stellt sich die Physik dar als Begründung der empedokleischen Mystik und Magie und nimmt so auch gewissermaßen deren Farbe an: Die naturphilosophischen Entitäten (Erde, Wasser, Feuer, Luft sowie Liebe und Streit) stehen als Gottwesen ebenso im Horizont der poetischen Allegorese wie der Sphairos. Hiernach hatte Em‐ pedokles gute Gründe, sowohl die exoterische Darstellung seiner Philosophie als auch deren esoterische Variante dem Schutz der Poesie anzuvertrauen, um die existenzialen Ungeheuerlichkeiten, die er zu Gehör bringen wollte, dem Publikum annehmbar zu machen. Man stelle sich vor, Empedokles hätte etwa das Proömium der ‹Katharmoi› (B 112), in dem er sich als gottgleiches Wesen und schamanischer Zeichendeuter vorstellt, oder jene Passage in den ‹Phy‐ sika› (B 111), in der er seinem Adepten schamanische Naturbeherrschung ver‐ heißt bis hin zur Totenerweckung, in Prosa verfasst und zu Gehör gebracht, und man wird alsbald erkennen, dass dergleichen Enormitäten allenfalls im Schutze der poetischen Sprache vermittelt werden können, nicht aber im hellen Licht der Prosarede. Etwas anderes kommt hinzu. Das mystisch-magische Denken, das in der em‐ pedokleischen Physik beschlossen liegt, ist ja auch eine Heilslehre, insofern es allein die Mittel und Wege weiß, wie der Mensch im unbarmherzigen Weltpro‐ zess möglichst leidlos würde bestehen können. Diese Heilslehre beschränkte Empedokles nun nicht wie Pythagoras auf eine Elite, sondern wollte sie allen Menschen verkündigen, für die Pausanias und die Bürger von Akragas die po‐ etischen Stellvertreter sind. Das geeignete Mittel aber, die Menschen zu errei‐ chen und öffentlich auf sie einzuwirken, war die epische Poesie. Hatte Xeno‐ phanes die epische Poesie in den Dienst der Aufklärung gestellt, so stellt sie Empedokles in den Dienst seiner Heilslehre, die durch die poetische Form vor ungläubiger Einrede ebenso geschützt war wie die Ontologie des Parmenides vor dem Spott des common sense. So geschützt konnte Empedokles seiner Heils‐ lehre im Rahmen der rhapsodischen Aufführung jene große Öffentlichkeit ver‐ schaffen, wie sie das Pathos dieser Welt- und Seelenrettungslehre forderte. Der soziale Ort, an dem die empedokleischen Gedichte zu Gehör gebracht wurden, war entsprechend der epischen Form der rhapsodische Vortrag. Der Peripate‐ tiker Dikaiarchos (fr. 81 Wehrli = DK 31 A 12; vgl. A 1 § 63) bezeugt ausdrücklich, dass der Rhapsode Kleomenes die ‹Katharmoi› in Olympia vorgetragen habe. Darf man hiermit die Nachricht (A 1 § 66) von einem spektakulären Besuch des Empedokles in Olympia zusammenbringen, so ergibt sich, dass Empedokles, anders als Xenophanes, seine Gedichte nicht bzw. nicht nur selbst vorgetragen, sondern sich für die Rezitation eines Fachmanns bedient hat, wie es später, wenn
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auch mit weniger Erfolg, Dionysios I. von Syrakus getan hat (Diodor, Bibl. 14,109). 2. Die prosaische Tradition
Die frühe griechische Prosa ist literarisch erst etwa zweihundert Jahre nach der Dichtung in Erscheinung getreten und konnte sich erst allmählich in einem weiteren Prozess von ungefähr hundert Jahren gegenüber der übermächtigen Poesie durchsetzen, um als vollwertiges Mittel des Ausdrucks, als Alternative und Pendant zur Poesie wahrgenommen und anerkannt zu werden. Sie verfügte zudem von Beginn an über keinen festen sozialen oder gar kultischen Ort in der Polis, der ihren Produktionen Halt und Öffentlichkeit hätte geben können (Aly 1929 [* 7], Schick 1955 [* 20], Lilja 1968 [* 39]; Wöhrle 1992 [* 70]). An der Ent‐ stehung der griechischen Prosa in der Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. hat die frühgriechische Philosophie maßgeblichen Anteil. Von Anaxagoras an (Mitte 5. Jh.) hat die Philosophie sich ausschließlich der Prosa bedient. Dazu hat auch die zu dieser Zeit neu entstandene Denkbewegung der Sophistik beigetragen, die sich, wie die gleichzeitig auftretende Fachwissenschaft, von Anfang an in der Form der Prosa mitteilte. Einen entscheidenden Sieg der Prosa über die Po‐ esie markiert Platon, dessen fiktionale philosophische Prosa einen Großteil jener Bedürfnisse erfüllte, die früher die Poesie erfüllt hatte. Anaximander ist sowohl der Erfinder der literarischen Prosa als auch des phi‐ losophischen Denkens im strengen Sinne. Die Emanzipation vom Mythos und die damit verbundene Dekonstruktion der Theologie in Verbindung mit einer im Gegensatz zu Thales kohärenten Weltdeutung in hochspekulativer Form er‐ zwang eine neue Form der Mitteilung, die auf das Schmuckmittel der epischen Poesie verzichtete und auch nicht mehr in der Oralität verharren konnte: die anaximandrische Prosa. Der Wechsel der Form ist hier angemessener Ausdruck eines grundlegenden Wechsels im Denken. Anaximander war aber nicht der Erfinder der Prosa schlechthin. Zu praktischen Zwecken war sie längst im Ge‐ brauch, zumal in Inschriften, die Anspruch auf öffentliche Wirkung stellten. Eine durchaus kunstvolle äußere Präsentation erreichten dabei umfangreichere Gesetzeswerke, wie etwa die ‹Nomoi› Solons, die im Jahre 594 / 93 v. Chr. in Athen öffentlich aufgestellt wurden. Dieses Gesetzeswerk hatte einen Gesamt‐ umfang von ca. 16 – 24 Seiten einer modernen Textausgabe (Teubner); die ein‐ zelnen Gesetze umfassten im Durchschnitt vier Zeilen (umgerechnet) und waren durch Überschriften und laufende Nummern deutlich voneinander abgesetzt (Ruschenbusch 1966 [* 34: 24 – 25]). An derartigen Gesetzestexten hat sich Anaximander offenbar orientiert. Das zeigt einmal der lapidare Duktus seiner Prosa-Darstellung, die ein späterer Be‐
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urteiler (DK 12 A 1 § 2) als summarisch (κεφαλαιώδη) kennzeichnet: Anaxi‐ mander bot offenbar seine Lehre in blockartig zusammengestellten, kurzge‐ fassten Sätzen dar, die jeweils den Kern eines Problems formulierten und so, Schritt für Schritt, die Weltordnung als Werden und Vergehen der unzähligen Welten auf dem Hintergrund des Einen Unbegrenzten (ἄπειρον) deutlich werden ließen. Bezeichnend ist außerdem, dass Anaximander sein Denken an der Sphäre des Rechts orientiert hat. Die Hauptprozesse des Naturgeschehens werden als Rechtsvorgänge erklärt (DK 12 B 1): Die Zeit wird als eine Richterin angesehen; der Wechsel von Entstehen und Vergehen wird mit Ausdrücken wie «Schuldigkeit» und «Zahlen von gerechter Strafe und Buße untereinander infolge der Ungerechtigkeit» gekennzeichnet. Anaximander verwendet also metaphorisch juridische Termini, um natürliche Prozesse zu beschreiben. Die spätere Doxographie (Theophrast fr. 226 A Fortenbaugh) hat zu Unrecht tadelnd vermerkt, dass sich Anaximander hier «mit allzu poetischen Wor‐ ten» (ποιητικωτέροις […] ὀνόμασιν) ausgedrückt habe. Vielmehr war es ein großer und fruchtbarer Gedanke Anaximanders, die Ordnung der Welt analog zur Ordnung der Polis durch gesetzmäßige Regeln gewährleistet zu sehen. Wenn die moderne Naturwissenschaft den Begriff Naturgesetz verwendet, so steht sie in der Schuld Anaximanders. Das Buch des Anaximander hat aller Wahrscheinlichkeit nach ein Proömium enthalten, in dem der Autor sich selbst vorgestellt und damit dem Buch ein unverwechselbares Siegel aufgedrückt hat, wie es im Rahmen der Dichtung zu‐ erst Hesiod getan hatte. Hierauf führt eine Notiz des Chronographen Apollodor (fr. 17 Jacoby = DK 12 A 1 § 2), der vermerkt, Anaximander, auf dessen Buch er zufällig gestoßen sei, habe im zweiten Jahr der 58. Olympiade das Alter von 64 Jahren erreicht. Das kann nur bedeuten, dass Anaximander selbst in seinem Buch, und zwar im Proömium, sein Lebensalter erwähnt hat. Möglicherweise hat er die Erwähnung des Lebensalters mit der Nennung eines markanten his‐ torischen Ereignisses verbunden, wie es später auch Demokrit (DK 68 B 5) getan hat. Man gewinnt hiernach zunächst das Jahr 547 / 546 v. Chr. (= zweites Jahr der 58. Olympiade) für die Datierung des Buches Anaximanders. Sodann wird Ana‐ ximander mit seinem Namen auch den seines Vaters (Praxiades) und den Namen seiner Heimatstadt (Milet) genannt haben. Damit werden die Umrisse eines Proömiums sichtbar, wie es in seiner Typik von der nachfolgenden Prosa über‐ nommen und weiterentwickelt wurde (Hekataios FGrHist 1 F 1; Alkmaion DK 24 B 1; Herodot 1,1; Antiochos aus Syrakus FGrHist 555 F 2; Thukydides 1,1). Mit einem derartigen Proömium stellt sich Anaximander dem Hörer oder Leser als Individualität vor und rückt sein Werk mit großem Selbstbewusstsein in den Rang eines historischen Ereignisses. Dabei steht sein Werk zweifellos
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nicht im Horizont der Fiktionalität. Vielmehr hat er seine Lehre faktual vermit‐ telt, unabhängig davon, ob er seine Gedanken objektiv oder in der Ich-Form vortrug. In der Nachfolge Anaximanders hat, so weit wir sehen, die gesamte Prosa der frühgriechischen Philosophie ein nichtfiktionales Gepräge ange‐ nommen. Allein Alkmaion aus Kroton hat sein Werk als fiktionale Wiederer‐ zählung eines früher gehaltenen Lehrvortrags konzipiert. So ist Anaximander in mehrfacher Hinsicht als großer Neuerer anzusehen: als Begründer der Phi‐ losophie im strengen Sinne des Wortes wie als Schöpfer einer philosophischen Prosa, die durch das persönlich gesiegelte Proömium und durch die gedankliche Strukturierung der Sache auf die philosophische und auch auf die nichtphilo‐ sophische literarische Prosa der Folgezeit maßgeblichen Einfluss ausgeübt hat. Anaximenes aus Milet ist dem Beispiel Anaximanders gefolgt und hat sein philosophisches Welterklärungsmodell ebenfalls in Prosa verfasst. Seine Prosa hat jedoch nicht die lapidare Wucht der Sprache Anaximanders, sondern war «in einfachem und schlichtem Ionisch» geschrieben (DK 13 A 1 § 3). Dem entspricht, dass er mit der Hypostasierung eines empirischen Elements (Luft) als Urgrund der Weltordnung auch gedanklich hinter Anaximander zurücksteht. Das Werk des Anaximenes wird in der Überlieferung nirgends mit einem Titel zitiert; es ist offenbar in Vergessenheit geraten, nachdem Diogenes aus Apol‐ lonia die Luft-Lehre des Anaximenes in sein eklektisches Denkmodell aufge‐ nommen hatte. So sind denn für Anaximenes auch nur zwei wörtliche Frag‐ mente erhalten, von denen das eine (DK 13 B 3) eine offenkundige Fälschung, das andere (B 2) hinsichtlich der Echtheit zumindest umstritten ist (Longrigg 1964 [* 30], Wöhrle 1993 [* 73: 63 – 66]). Angesichts dieser Überlieferungslage ist eine kritische Prüfung der antiken Angaben über Stil und Aussageform des Anaximenes nicht möglich. Heraklit. – Die philosophische Prosa der Milesier hat zunächst keine Nach‐ folge gefunden. Erst ein halbes Jahrhundert später greift Heraklit, ein Zeitge‐ nosse des Dichter-Philosophen Parmenides, wieder zur Prosa. Sein Prosastil ist jedoch gänzlich anders als der seiner Vorgänger: Er ist genuiner Ausdruck der heraklitischen Philosophie und wie diese ohne Vorbild. Zum ersten Mal in der Prosa der frühgriechischen Philosophen ist im Falle Heraklits der Anfang des Buches überliefert, dem allenfalls ein kurzes Proömium mit der namentlichen Vorstellung des Autors vorausgegangen sein kann (DK 22 A 4; B 1). Heraklit ist auch der erste philosophische Prosa-Autor, von dem wir wissen, dass er in der Ich-Form gesprochen hat. Gleich zu Beginn tritt die Ich-Aussage triumphal in Kraft, um dann in einer Reihe weiterer Fragmente (B 49. 50. 55. 101. 108) wie‐ derzukehren. Zweimal (innerhalb des überlieferten Textbestandes) lässt He‐ raklit andere Personen in direkter Rede zu Wort kommen (B 56. 121). Erzähl‐
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technisch für sich steht ein Fragment (B 121a), in dem Heraklit die Ephesier im Vokativ mahnend anredet. Von der Schrift Heraklits sind Texte in namhaftem Umfang erhalten (B 1 – 126. 129?). Diese nicht unerhebliche Anzahl wörtlicher Fragmente in ihrer ursprün‐ glichen Ordnung zu rekonstruieren, ist trotz zahlreicher Versuche (dazu unten § 15) nicht gelungen, da die Überlieferung vorwiegend erratische Einzelsätze bietet, die in der Regel für sich stehen. Überhaupt ist der bedeutungsvolle und gedankenschwere Satz die eigentliche Domäne der heraklitischen Sprache. He‐ raklit hat alle Varianten des Satzes (Gnome, Orakel, Rätsel, Sprichwort, Parä‐ nese) eingesetzt und den einzelnen Satz mit allen verfügbaren Stilmitteln (An‐ tithese, Paradoxon, Parallelismus, Chiasmus, Alliteration, Wortspiel, Rhythmus) ausgestattet und so eine künstlerische Prosa geschaffen, die aber mit der so‐ phistischen Kunstprosa, wie sie Gorgias inaugurierte, nichts gemein hat, inso‐ fern die Stilmittel der heraklitischen Prosa niemals Selbstzweck sind, sondern stets der Verdeutlichung des Gedankens dienen (Snell 1926 [* 5], Ramnoux 1959 [* 24], Deichgräber 1963 [* 28]). Die Inkommensurabilität der heraklitischen Prosa rührt daher, dass sie un‐ mittelbarer Ausdruck der Philosophie einer Einheit des Seins in der Einheit der Gegensätze ist. Seine allgemeine Formulierung findet dieser Gedanke in dem Diktum, dass «alles eins sei» (ἓν πάντα εἶναι; B 50). Diese Formel gilt für alle Weltphänomene und so auch für Sprache, in der die Einheit der Gegensätze sich gleichfalls manifestiert: nirgends so schlagend wie in jenem Fragment (B 48), in dem Heraklit aus der doppelten Bedeutung des griechischen Wortes ΒΙΟΣ (Bogen und Leben) die Einheit von Leben und Tod demonstriert. Daher ist, wie ein antiker Grammatiker (DK 22 A 1 § 7) konstatiert hat, Kürze (βραχύτης) und Wucht (βάρος) der angemessene Ausdruck heraklitischen Philosophierens. Es ist im Grunde jeweils nur ein Satz erforderlich, um die ganze Wahrheit des Logos sinnfällig zu machen. Die enigmatische Dunkelheit dieser Sätze fordert den Hörer bzw. Leser auf, nachdenkend den Sinn des Seins zu ergründen und bietet Schutz gegen die Einrede der von Heraklit so verachteten Vielen. Zu diesen Vielen würde Heraklit zweifellos auch die Kritiker seiner Sprache rechnen, die nach den Normen einer regelrechten Rhetorik die Dunkelheit des Stils bemängeln (Arist. Rhet. Γ 5, 1407b11; Ps.-Demetr. De eloc. 192 = DK 22 A 4) oder das Buch gar als «teils halbfertig, teils widersprüchlich formu‐ liert» finden und diesen Befund einer ‘Geistesstörung’ Heraklits zuschreiben (Theophrast fr. 232 Fortenbaugh = A 1 § 6). Dagegen hat Sokrates den Stil He‐ raklits angemessen gewürdigt durch das Bild vom delischen Taucher (SSR I D 1 § 22 = DK 22 A 4), das vermutlich in dem Dialog ‹Miltiades› des Sokratikers Aischines stand (SSR VI A 76 – 80) und wohl auf Sokrates selbst zurückgeht: So
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wie der delische Taucher tiefer ins Meer zu tauchen vermag als andere Men‐ schen, um wertvolles Gut vom Grunde emporzubringen, so kann allein der phi‐ losophisch begabte Hermeneut in den Tiefsinn des heraklitischen Textes ein‐ dringen, um sich dort kostbare Belehrung zu holen. Heraklit wird sein Buch vermutlich vorgelesen haben. Er hebt gleich zu Be‐ ginn seines Werkes (B 1) hervor, dass die Menschen seinen Logos nicht ver‐ stünden, weder bevor noch nachdem sie ihn vernommen hätten – eine starke Zumutung des Philosophen an sein Publikum. Möglicherweise lässt sich auf diesem Hintergrund die Nachricht (A 1 § 6) verstehen, Heraklit habe sein Buch im Tempel der Artemis als Weihgabe niedergelegt – wobei offenbleibt, ob die Deponierung des Buches in sakrosankter Sphäre als Sicherung und Bewahrung oder als Vermächtnis an die Nachwelt oder als eine pathetische Geste aufzu‐ fassen ist, in der sich die Verachtung der Vielen ausdrückt. Alkmaion aus Kroton, ein jüngerer Zeitgenosse des Pythagoras, nimmt als Prosaiker unter den frühgriechischen Denkern eine Sonderstellung ein. Das Proömium seines Werkes (DK 24 A 1; B 1) ist im Wortlaut erhalten: «Alkmaion aus Kroton, der Sohn des Peirithoos, hat das Folgende zu Brontinos, Leon und Bathyllos gesagt». Es ist dies das einzige persönlich gesiegelte Proömium aus dem Bereich des frühgriechischen Denkens, das sich wörtlich erhalten hat; alle anderen vergleichbaren Proömien, die überliefert werden, gehören in das Gebiet der Historiographie (Hekataios, Herodot, Antiochos, Thukydides). Das Proömium des Alkmaion ist aber auch in der Aussage singulär. Es kündigt nicht an, was im Folgenden dargelegt werden soll, sondern führt eine Wieder‐ erzählung dessen ein, was Alkmaion zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit zu dem im Proömium namentlich genannten Adressaten gesagt hat. Mit dieser Wiedererzählung eines Lehrvortrags, der nunmehr fraglos für ein großes Publikum bestimmt ist, stellt Alkmaion sein Werk erzähltechnisch in den Horizont der Fiktionalität. Die Lehrsituation wird nicht als ein aktuelles Ereignis dargestellt (wie schon in den ‹Erga› Hesiods und später bei Parmenides und Empedokles), sondern in die Vergangenheit verlegt. Warum Alkmaion diese singuläre Form der Mitteilung wählte, lässt sich nicht ermitteln. Einen Anhalt kann allenfalls die Bemerkung geben, es sei leichter, sich vor einem feindlichen Mann zu hüten als vor einem befreundeten (B 5). Sollte diese Warnung vor fal‐ schen Freunden im Proömium gestanden haben, dann könnte dies ein Fingerzeig gewesen sein für die spezifische Wahl der Erzählform. Leider können wir diesen Hinweis nicht deuten. Die singuläre Form verweist auf den singulären gedanklichen Gehalt des Werkes. Alkmaion war nicht so sehr Naturphilosoph als vielmehr Mediziner. Diogenes Laertios (8,83 = DK 24 A 1 § 83) berichtet sehr bestimmt, dass Alk‐
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maion «meistenteils über Medizin, bisweilen aber auch über die Natur gespro‐ chen habe». Diese Information bestätigen die Testimonien und Fragmente, die vor allem anthropologischen Problemen gelten, denen gegenüber naturphilo‐ sophische (kosmologische oder kosmogonische) Themen (A 4. 12) stark zurück‐ treten (Mansfeld 1975 [* 45]). Alkmaion muss demnach als der Begründer der philosophischen Medizin gelten. Die Rezeption der frühgriechischen Philoso‐ phie durch die Alte Medizin, deren Verhältnis Aristoteles (De sensu 436a19-b1) treffend dahingehend charakterisiert, dass die philosophische Medizin mit der Naturphilosophie beginne, die Naturphilosophie dagegen mit der Medizin ende, ist ein geistesgeschichtliches Ereignis ersten Ranges. Nirgends sonst hat die frühgriechische Philosophie so mächtig gewirkt wie hier, wie umgekehrt die frühgriechische Philosophie der Alten Medizin auch ihrerseits maßgebliche An‐ regungen verdankt (Edelstein 1952 [* 19], Longrigg 1989 [* 66], Wittern / Pel‐ legrin 1996 [* 77], Orelli 1998 [* 82]). Zenon. – Zenon und Melissos orientieren sich in ihrem Denken an Parme‐ nides, wechseln aber die äußere Form. Nachdem Parmenides die so anstößig erscheinende These vom Nichtsein des Werdens und Vergehens unter dem Schutz der Poesie in der Form einer göttlichen Offenbarung etabliert hatte, konnte diese These nunmehr ungeschützt in Prosa gegen polemische Einwände verteidigt (Zenon) oder gedanklich weitergeführt werden (Melissos). Zenon hat nur ein Buch geschrieben, das unter dem Standardtitel ‹Über die Natur› Περὶ φύσεως (DK 29 A 11. 15. 23) firmierte. Abweichende Informationen (A 1 § 26) sowie abweichende Titelzitate bzw. Zitate von Teiltiteln wie «Strei‐ tigkeiten», «Auslegung der Lehren des Empedokles» und «Gegen die Philoso‐ phen» (A 2) sind schwerlich als historisch anzusehen. Über dieses eine unzwei‐ felhaft echte Buch berichtet Platon in der Eingangsszene seines Dialogs ‹Parmenides› (127a-b = DK 29 A 11 – 12), Zenon habe in seinem Buche Parmenides zu Hilfe kommen wollen gegen die spöttischen Angriffe derer, die eine Vielheit seiender Dinge als selbstverständlich annehmen, durch den Nach‐ weis, dass eine derartige Annahme zu noch absurderen Konsequenzen führen würde als die nur scheinbar absurde These des Parmenides von der Einheit des Seienden (von Fritz 1974 [* 43], Vlastos 1975 [* 47]). Hierbei hat Platon das Thema des zenonischen Buches durch die Beschrän‐ kung auf die Problematik von der Einheit und Vielheit des Seienden im Hinblick auf das Thema seines eigenen Dialoges verengt. Denn aus der weiteren Über‐ lieferung (DK 29 A 13. 24) geht hervor, dass Zenon auch die Probleme von Gleichheit und Ungleichheit, Ruhe und Bewegung, Ort und Ortlosigkeit disku‐ tiert hat. Danach ist wahrscheinlich, dass Zenon auch alle anderen Prädikati‐ onen, die Parmenides (DK 28 B 8) dem Seienden zugeschrieben hatte, in die
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Diskussion einbezogen hat. Dabei soll Zenon nicht weniger als vierzig Beweis‐ gänge (λόγοι) vorgeführt haben (DK 29 A 15), und zwar offenbar so, dass er zehn Prädikationen in jeweils vier Beweisgängen präsentiert hat (A 25). Für die Re‐ konstruktion der zenonischen Schrift ist damit das eigentliche Gliederungsele‐ ment gefunden (Dillon 1986 [* 59]). Eine derart formale Anlage der Schrift ent‐ spricht dem stark formal ausgerichteten Denken Zenons. Das Beweisverfahren der deductio ad absurdum, das Zenon von Parmenides übernommen, und das Beweisverfahren des regressus in infinitum, das Zenon selbst erfunden hat, do‐ minierten als Denkformen offenbar so sehr, dass Aristoteles (fr. 65 Rose = DK 29 A 1 § 25. A 10) Zenon zum Erfinder der Dialektik erklärt hat. Die daraus entwickelte Auffassung antiker Grammatiker, Zenon habe als erster Dialoge verfasst (A 14), ist unwahrscheinlich. Doch ist Zenon Gesprächspartner des Protagoras in einem Dialog gewesen, dessen Verfasser unbekannt ist (A 29). Der Stil des zenonischen Buches muss, nach den wenigen Fragmenten (B 1 – 4) zu urteilen, hochabstrakt gewesen sein, frei von jedem rhetorischen Schmuck, allein auf die Kraft der Argumente vertrauend, in kristallklarer Rein‐ heit der Argumentation sich erschöpfend. Er muss dem Hörer bzw. Leser das Äußerste an Denkanstrengung abgefordert haben. Der platonische Dialog ‹Par‐ menides›, der den zenonischen Denkstil offenbar ironisch imitiert, kann davon einen Begriff geben. Zenon ist der erste Prosaiker unter den frühgriechischen Philosophen, von dem überliefert wird, wie er sein Werk vermittelt hat. Platon berichtet in der Eingangsszene des ‹Parmenides› (127a-b = DK 29 A 11), dass Zenon seine Schrift in Athen im Hause des Pythodoros vor dem jungen Sokrates und anderen interessierten Zuhörern vorgetragen habe. Mag die Szene fiktional sein, so darf doch die Sache als historisch gelten: die mündliche Vermittlung des Werkes durch den Autor in privatem Kreise – ein erstes und schlagendes Beispiel für die schwache soziale Bindung der Prosa in der Polis. Melissos aus Samos war jünger als Zenon und hatte offenbar keine persönli‐ chen Beziehungen mehr zu Parmenides. Ausdrücklich wird bezeugt (DK 30 A 13), dass er nur ein einziges Buch verfasst habe. Dieses Werk wird zitiert ent‐ weder unter dem einfachen Titel ‹Über die Natur› (Περὶ φύσεως; DK 30 A 2) oder unter dem Doppeltitel ‹Über die Natur oder das Seiende› (Περὶ φύσεως ἢ περὶ τοῦ ὄντος; DK 30 A 4). Mit der Konzeption, dass Seiendes sowohl zeitlich als auch räumlich als unbegrenzt anzusehen sei, modifizierte Melissos, anders als Zenon, die parmenideische Ontologie, bleibt aber ganz auf die ontologische Fragestellung fixiert, so dass sein Stil nicht minder abstrakt ist als der des Zenon. Davon zeugen die vergleichsweise zahlreichen und umfangreichen wörtlichen Fragmente (DK 30 B 1 – 10). Überraschend taucht darin einmal die Ich-Formel
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auf (B 8,2) – offenbar die einzige Konzession an Subjektivität und Empirie, die sich Melissos im abstrakten Kontext des Werkes gestattet hat. Die Prosa des Melissos verlangt dem Leser mindestens die gleiche Denkan‐ strengung ab wie die Diktion Zenons. Diese Anstrengung bleibt jedoch in der Regel unbelohnt, da Melissos vielfach mit abstrakten Argumenten hantiert, ohne über eine ausgebildete Syllogistik zu verfügen. Vielmehr fungieren seine frag‐ würdigen Schlüsse als scheinbar sicheres Fundament für weitere Schlüsse, deren gedankliche Tragfähigkeit noch fragwürdiger ist. Daher hat denn Aristoteles (Met. A 5, 986b 25 – 29; Soph. el. 5, 167b13 – 18 = DK 30 A 7. 10) Melissos wegen schwerer Denkfehler als bäurisch (ἄγροικος) und plump (φορτικός) angesehen, weil er hinter den Erfordernissen einer syllogistischen Methode, wie sie erst er selbst entwickelt hat, weit zurückgeblieben war. Indes geben die Fragmente des Melissos einen wertvollen Einblick in die Vorgeschichte der Logik und Erkennt‐ nislehre und verdienen so das besondere Interesse der Philosophiegeschichte (Heidel 1903 [* 4: 217 – 218], Klowski 1970 [* 40: 140], Preti 1976 [* 49]). Anaxagoras. – Auch Anaxagoras hat nur ein einziges Werk geschrieben, das unter dem Titel ‹Über die Natur› (Περὶ φύσεως; DK 59 B 4) oder unter der Ti‐ telvariante ‹Naturschrift› (Φυσικά, B 1. 16. 22) zitiert wird. Es umfasste min‐ destens zwei Bücher, da mehrfach ein «erstes» Buch zitiert wird (B 1. 4. 16. 17). Doch ist unwahrscheinlich, dass das Werk des Anaxagoras mehr als drei Bücher umfasst hat, weil kein Prosawerk eines frühgriechischen Philosophen diese Buchzahl überschreitet, auch nicht Demokrit. Größere Formate finden sich erst bei Platon (‹Politeia› und ‹Nomoi›, zehn bzw. zwölf Papyrusrollen umfassend). Will man den Umfang des anaxagoreischen Werkes ungefähr bestimmen, so muss man der Statistik (Birt 1882 [* 2: 442]) folgen, die für das philosophische Buch einen Umfang von durchschnittlich 1100 sogenannter Normalzeilen fest‐ gestellt hat, die sich nach dem Umfang des Hexameters bemessen. Umfasste das Werk des Anaxagoras zwei Bücher (2200 Zeilen), so war es etwas kürzer als das platonische ‹Symposion› (2356 Zeilen); lagen drei Bücher vor (3300 Zeilen), so war das Gesamtwerk des Anaxagoras etwas umfangreicher als der platoni‐ sche ‹Philebos› (3132 Zeilen) (Birt 1882 [* 2: 440 Anm. 2]). Die Steigerung des Textumfangs, wie sie für Anaxagoras zu konstatieren ist, hängt, nicht anders als bei Empedokles, mit der Überwindung der parmenideischen Ontologie und der damit verbundenen Rehabilitierung des Werdens zusammen. Der nunmehr wieder freie Blick auf die Totalität der Welt und der Weltprozesse, die sich an‐ gesichts zunehmender Erkenntnisse nicht mehr so kurz und bündig darstellen ließen wie in der Ära vor Parmenides, erforderte mehr Raum für die Darstellung. Die von Anaxagoras gewählte Prosa ist das angemessene Ausdrucksmittel für die Vermittlung eines Denkens, in dem der Geist (νοῦς) eine sinnvolle Ord‐
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nung der Welt gewährleistet hat, gewährleistet und gewährleisten wird und so, anders als die tragische Philosophie des Empedokles, ein entschieden optimis‐ tisches Weltbild vermittelt (Schofield 1980 [* 53: 3 – 35]). Der Anfang des anaxa‐ goreischen Werkes ist überliefert. Ihm ging womöglich ein kurzes persönliches Proömium voraus, in dem Anaxagoras den Namen seiner Vaterstadt (Klazo‐ menai) genannt und mitgeteilt haben wird, dass er seine philosophische Aus‐ bildung mit 20 Jahren begonnen habe (DK 59 A 1 § 7). Der Stil des Anaxagoras galt als angenehm (ἡδύς) und großartig (μεγαλοπρεπής; A 1 § 6), was die 22 wörtlichen Fragmente (B 1 – 22) bestätigen. Mit der Restituierung der Empirie verlässt die Prosa die Fixierung auf die Abs‐ traktion, wie sie bei Zenon oder Melissos zu beobachten war; sie wird gewis‐ sermaßen sinnlicher, gedanklich klarer und nachvollziehbar (Deichgräber 1933 [* 9: bes. 347 – 353], Schick 1955 – 1956 [* 21: 462 – 469], Ugolini 1985 [* 58]). So ist Anaxagoras als Erfinder der klassischen philosophischen Prosa anzusehen und hat als solcher auch vorbildhaft gewirkt, während die älteren Prosawerke eines Anaximander, Anaximenes, Heraklit, Zenon und Melissos aus unterschiedlichen Gründen so sehr Ausdruck je eigenen Denkens gewesen sind, dass sie nicht vorbildhaft wirken konnten. Über den sozialen Ort der Mitteilung des anaxagoreischen Buches gibt es das berühmte Zeugnis Platons (Phaid. 97b-98b = DK 59 A 47), wonach Sokrates davon berichtet, dass jemand (nicht der Autor) aus der Schrift des Anaxagoras vorgelesen habe, und zwar jene zentrale Passage über den Geist (νοῦς), der die Welt sinnvoll ordne und von allem die Ursache sei (B 12). Daraufhin habe Sok‐ rates sich die Bücher des Anaxagoras beschafft, die auf dem athenischen Buch‐ markt, der sich damals gerade etablierte, gekauft werden konnten (Plat. Apol. 26d = DK 59 A 35), sei aber nach gespannter Lektüre enttäuscht gewesen in seiner Hoffnung, Anaxagoras würde mit seiner Konzeption eines die Welt ordn‐ enden Geistes auch eine Antwort auf die Frage nach dem Guten geben. Dieses von Platon imaginierte Szenario gibt einen historisch durchaus glaubhaften Vorgang wieder, auch wenn das Vorlesen eines philosophischen Werkes durch einen anderen schwächer bezeugt ist als das spektakulärere Ereignis der Vorle‐ sung eines Prosatextes durch den Autor. In der persönlichen Lektüre eines Pro‐ sawerkes, wie sie Sokrates vornimmt, zeigt sich das Phänomen des soge‐ nannten ‘einsamen Lesers’, das zuerst im Rahmen der sozial ungebundenen Prosa und ihrer Beschränkung auf die Sphäre des Privaten entstand und nur hier entstehen konnte (Gavrilov / Burnyeat 1997 [* 78]). Diogenes aus Apollonia ist auf dem von Anaxagoras eingeschlagenen Weg weiter vorangeschritten. Sein naturphilosophisches Werk, das unter dem Stan‐ dardtitel ‹Über die Natur› (Περὶ φύσεως; DK 64 A 4; B 2 – 6. 9) zitiert wird, um‐
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fasste mindestens zwei Bücher (B 9). Die Tendenz zur Steigerung des Textu‐ mfanges setzt sich fort. Diogenes hat jedoch, wenn man dem Zeugnis des Simplikios (DK 64 A 4) nicht misstrauen will (Diels zu DK 59 B 1; Laks 1983 [* 56: 247 – 249]), noch drei weitere Werke geschrieben: ‹Gegen die Naturphiloso‐ phen› (Πρὸς τοὺς φυσιολόγους), eine ‹Meteorologie› (Μετεωρολογία) und eine Schrift ‹Über die Natur des Menschen› (Περὶ φύσεως ἀνϑρώπου). Simplikios berichtet, dass Diogenes die Naturphilosophen (φυσιόλογοι) als Sophisten (σοφισταί) bezeichnet habe. Er folgte demnach dem vorplatonischen Sprachgebrauch, demzufolge der Sophist ein Weiser ist, der auf geistigem oder künstlerischem Gebiet hervorragt. Die Änderung des Titels durch Einfügung des aristotelischen Neologismus ‘Physiologe’ (φυσιόλογος) (Bonitz, Index Aris‐ totelicus 835b41) erfolgte, nachdem der Begriff ‘Sophist’ durch die platonische und aristotelische Kritik so negativ besetzt worden war, dass die positive Kon‐ notation des Begriffs nicht mehr verständlich blieb. Der Titel bezeugt, dass das Wissensgebiet jener ‘Sophisten’, gegen die Diogenes polemisierte, die Natur‐ philosophie war. Nachdem Kritik und Polemik an Vorgängern und Zeitgenossen aller Art schon bei Xenophanes und namentlich bei Heraklit vorkommt, erfolgt die Kritik bei Diogenes nun systematisch als Hauptthema eines eigenständigen Werkes, das sich auf die Naturphilosophen beschränkt. Diogenes wird damit zum Begründer der kritischen Philosophiegeschichtsschreibung und zum Vor‐ läufer der Doxographie, die sich gegen Ende des 5. Jahrhunderts herauszubilden beginnt (Mansfeld 1986 [* 60: 40]). Mit den beiden anderen Schriften des Diogenes über Meteorologie und über die Physiologie des Menschen werden zwei Themenkomplexe, die seit Anaxi‐ mander zum Standardrepertoire der Naturphilosophie gehören, nun im Zuge der Spezialisierung des philosophischen Denkens in separaten Schriften jeweils monographisch behandelt. Diese drei Werke waren offenbar ein Präludium zu dem umfassenden Hauptwerk des Diogenes ‹Über die Natur› (Περὶ φύσεως). Sie lagen jedenfalls bereits vor und konnten so in die Gesamtkonzeption der Na‐ turphilosophie übernommen und eingearbeitet werden, an die Diogenes sich offenbar erst heranwagte, nachdem er die Tragfähigkeit seines philosophischen Standpunktes an zwei Spezialthemen erprobt und polemisch gegen seine Vor‐ gänger abgesichert hatte. Zum ersten Mal gewinnen wir so einen Einblick in die geistige und literarische Entwicklung eines frühgriechischen Philosophen. Das Hauptwerk des Diogenes begann, wie Simplikios bezeugt (DK 64 A 4; B 2 – 5), mit einem Proömium, in dem Diogenes neben den persönlichen Angaben (Name, Vater, Heimatstadt) jene drei Frühwerke erwähnt haben wird. In einem anschließenden kurzen Textstück (B1) hat er sich ausdrücklich über die Erfor‐ dernisse eines philosophischen Prosastils geäußert, in dem Sinne, dass die Aus‐
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drucksweise einfach (ἁπλῆ) und würdig (σεμνή) sein müsse. Die zehn wörtlich erhaltenen Fragmente (B 1 – 10) zeigen, dass Diogenes seiner programmatischen Forderung nachgekommen ist. Namentlich an dem umfangreichen zusammen‐ hängenden Text über das Adersystem des Menschen (B 6) lässt sich erkennen, wie Diogenes es versteht, einen komplizierten physiologischen Sachverhalt klar und souverän zu explizieren, so dass seine Prosa flüssiger und weniger befangen wirkt als noch der Stil des Anaxagoras (Deichgräber 1933 [* 9: bes. 353 – 355], Rudberg 1942 [* 13], Schick 1955 – 1956 [* 21]). Die so gewonnene Souveränität des Prosastils drückt sich nicht nur in den dreimal vorkommenden Ich-Aussagen (B 1. 2. 5) und einem Rückverweis aus (beides auch bei Anaxagoras), sondern auch in einem Vorverweis, in dem erst‐ mals durch die Wendung «in diesem Buche hier» (ἐν τῆιδε τῆι συγγραφῆι, B 4) selbstbewusst auf das eigene Werk verwiesen wird. Leukipp und Demokrit. – Die Grundlage des atomistischen Weltmodells hat Leukipp, ein Zeitgenosse des Anaxagoras, gelegt und in zwei Werken mit den Titeln ‹Große Weltordnung› (Μέγας διάκοσμος) und ‹Über den Geist› (Περὶ νοῦ) dargestellt, deren Zuweisung an Leukipp nach dem klaren Zeugnis Theo‐ phrasts (F 257 Fortenbaugh = DK 68 A 33; vgl. 67 B 1) und nach späterer, auf Theophrast zurückgehender Überlieferung (Dox. Gr. p. 321 = DK 67 B 2) ebenso wenig bezweifelt werden sollte wie die Existenz Leukipps überhaupt (Rohde 1880 [* 1], Luria 1936 [* 11]). Die Spezialisierung des nachparmenideischen Denkens beginnt demnach nicht erst mit Diogenes aus Apollonia, sondern bereits mit Leukipp. Sie hat ihren literarischen Ausdruck darin gefunden, dass die Prinzipienlehre einerseits und die Erkenntnislehre (einschließlich der Wahrnehmungslehre) andererseits in zwei eigenständigen Prosawerken dargestellt wurden. Über die Form dieser beiden Schriften lässt sich, anders als über den gedanklichen Gehalt, keine ge‐ naue Vorstellung gewinnen, da das einzige wörtlich erhaltene Fragment (DK 67 B 2) nur aus einem Satz besteht. Demokrit aus Abdera, ein ungefährer Zeitgenosse des Sokrates, war der erste Vielschreiber unter den frühgriechischen Philosophen. Sein außerordentlich umfangreiches Werk, das an Umfang das platonische Gesamtwerk übertrifft und hinter dem aristotelischen kaum zurücksteht, spiegelt die Universalität der phi‐ losophischen Interessen ebenso wider wie die inzwischen erreichte Spezialisie‐ rung der Wissensgebiete. Gegenstand der Philosophie Demokrits ist die Totalität aller erkennbaren Phänomene – ein philosophischer Anspruch, wie er erst wieder von Aristoteles erhoben wird. Im Zentrum dieses universalen Denkens steht die von Leukipp übernommene und fruchtbar weiterentwickelte atomis‐
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tische Physik; als neue und eigenständige Teile der Philosophie treten Mathe‐ matik, Ethik, Musik und Technik zur Physik hinzu. Die Masse der Schriften, in denen Demokrit den Universalitätsanspruch seines Denkens einzulösen unternahm, hat ein spätalexandrinischer Gelehrter, dessen Namen unbekannt ist, in Tetralogien geordnet – ganz ähnlich wie im Falle der platonischen Dialoge. Auf dem Wege über den frühkaiserzeitlichen Astrologen Thrasyll ist die Tetralogienordnung beider Philosophen in die Schrif‐ tenverzeichnisse aufgenommen worden, die Diogenes Laertios seiner Biogra‐ phie beigibt (Demokrit: Diog. Laert. 9,45 – 49 = DK 68 A 33; Platon: Diog. Laert. 3,57 – 61). In diese Tetralogienanordnungen wurden nur Werke aufgenommen, die antiker Gelehrsamkeit als echt galten – womit nicht gesagt ist, dass nicht auch Unechtes Aufnahme gefunden hätte. Da das Werk Platons in neun, dasje‐ nige Demokrits in 13 Tetralogien eingeteilt wurde, stehen den 36 als echt an‐ gesehenen Schriften Platons 52 Schriften Demokrits gegenüber, wobei in man‐ chen Fällen ein Werk Demokrits mehrere Bücher bzw. Schriftrollen umfasste (Tetr. VI 3. VIII 1; dazu Tetr. II 4. VI 4. VII 3. XI 4, wo jeweils die Angabe der Buchzahlen ausgefallen ist). Anders als bei Platon waren die verschiedenen Tet‐ ralogien im Katalog der Schriften Demokrits durch Überschriften zu größeren, thematisch und sachlich zusammengehörenden Gruppen zusammengefasst: ethische Schriften (Tetr. I, II), Schriften zur Physik (Tetr. III-VI), mathematische Schriften (Tetr. VI-IX), Schriften zur Musik (Tetr. X-XI) und Technik (Tetr. XIIXIII). Steht dabei zwar die Physik auch dem Umfang nach im Mittelpunkt, so überschreitet die demokritische Philosophie den Horizont der Physik doch bei weitem. Demokrit ist so Vollender der frühgriechischen Philosophie und mar‐ kiert zugleich auch ihr Ende – ein philosophiegeschichtlich bemerkens- und bedenkenswerter Befund. Der Verlust dieses enormen Werkes hängt an seiner inadäquaten Rezeption. Platon schweigt seltsamerweise über Demokrit, und Aristoteles hat mit seiner größeren und moderneren universalistischen Konzeption das Werk Demokrits, das er sehr wohl kennt, nennt und kritisiert, verdrängt. Schließlich hat Epikur die demokritische Physik vergröbert und in den Dienst seiner Lustlehre gestellt. Damit war es um das geistige Erbe Demokrits endgültig geschehen. Eine ungefähre literarische und gedankliche Vorstellung kann man sich al‐ lenfalls von der Schrift ‹Kleine Weltordnung› (Μικρὸς διάκοσμος, Tetr. III 2; DK 68 B 4c. 5) machen, verfasst in Anlehnung an die ‹Große Weltordnung› Leu‐ kipps, dessen atomistischer Grundansatz von Demokrit aufgenommen und wei‐ tergeführt wird bis hin zu einer Kosmologie, Zoogonie und Anthropologie samt einer Kulturentstehungslehre. In dieser zentralen Schrift hat Demokrit sich auch persönlich geäußert: Er sei jung gewesen, als Anaxagoras im Greisenalter stand;
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er sei 40 Jahre jünger als dieser und habe seine Schrift 730 Jahre nach der Ero‐ berung Troias verfasst (DK 68 B 5). Diese persönlichen Aussagen, die nirgends anders Platz gefunden haben können als im Proömium, erinnern stark an die persönlichen Äußerungen, wie sie sich schon im Werke Anaximanders (DK 12 A 1 § 2) konstatieren ließen – so dass der Erfinder der frühgriechischen Philo‐ sophie und ihr Vollender darin übereinstimmen, dass sie beide, in königlichem Stolz auf ihre Leistung, die Entstehungszeit ihrer Werke chronologisch datiert und fixiert haben, um so die Werke selbst jeweils in den Rang eines epochalen Ereignisses zu erheben. Der Stil der demokriteischen Prosa wird von der antiken Kritik uneinge‐ schränkt gelobt (DK 68 A 34. B 158) und hat schon bald das Interesse der ale‐ xandrinischen Grammatiker gefunden (A 32); Hegesianax aus Alexandria ver‐ fasste sogar eine Monographie mit dem Titel ‹Über den Stil Demokrits›. Die zahlreichen, zumeist aber kurzen wörtlichen Fragmente (DK 68 B 1 – 298) lassen den Glanz dieser Prosa noch ahnen. Vielfach, vor allem im Bereich der Ethik, verwendet Demokrit die Gnome als Ausdrucksmittel des Evidenten, das vorher Gedachtes in schlagender Formulierung auf den Punkt bringt. Allerdings war die Gnome, anders als die Überlieferung durch ihr Interesse an ethischen Sen‐ tenzen vermittelt, nicht, wie im Falle Heraklits, das dominante sprachliche Aus‐ drucksmittel Demokrits. Im Vordergrund stand wohl eine argumentierende dis‐ kursive nichtfiktionale Form der Darstellung, die die Ich-Aussage (B 35. 103. 116. 144a. 159. 165. 259. 276. 277) ebenso gerne verwendete wie Rückverweise (B 144a) und namentlich kühne Neologismen (z. B. ‘das Ichts’, τὸ δέν: B 156), die in der philosophischen Prosa Demokrits offenbar so sehr dominierten, dass Kalli‐ machos (2 p. 350 Pfeiffer = DK 68 A 32) ein spezielles Verzeichnis dieser Glossen anzulegen für gut befand (von Fritz 1938 [* 12: 12 – 38]). Die wenigen längeren Textstücke (B 164. 191. 228. 235. 252. 253. 259. 266. 277 – 279) lassen eine auf das Evidente gerichtete Luzidität und Eleganz des Stils erkennen, wie sie bei keinem philosophischen Prosaiker vorher zu finden sind. Die Literaturgeschichte hat den Verlust des demokritischen Werkes nicht minder zu beklagen als die Philosophiegeschichte. 3. Bibliographie
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I. W. Rath: Die griechische Polis als Bezugsrahmen des vorsokratischen Denkens. Ein Versuch der sozial-historischen Verankerung, in: Quaderni Urbinati di cultura classica 42 (1992) 63 – 81. G. Wöhrle: Zur Prosa der milesischen Philosophen, in: Würzburger Jahr‐ bücher für die Altertumswissenschaft, N. F. 18 (1992) 33 – 47. A. Neschke: Thales oder das Problem des Anfangs der Philosophie, in: C. Neumeister (Hg.): Antike Texte in Forschung und Schule. Festschrift für Willibald Heilmann (Frankfurt 1993) 39 – 55. G. F. Nieddu: Neue Wissensformen, Kommunikationstechniken und schriftliche Ausdrucksformen in Griechenland im sechsten und fünften Jh. v. Chr.: Einige Beobachtungen, in: W. Kullmann, J. Althoff (Hg.): Vermitt‐ lung und Tradierung von Wissen in der griechischen Kultur (Tübingen 1993) 151 – 165. G. Wöhrle (Hg.): Anaximenes aus Milet. Die Fragmente zu seiner Lehre (Stuttgart 1993). G. Wöhrle: War Parmenides ein schlechter Dichter? Oder: Zur Form der Wissensvermittlung in der frühgriechischen Philosophie, in: W. Kullmann, J. Althoff (Hg.): Vermittlung und Tradierung von Wissen in der griechi‐ schen Kultur (Tübingen 1993) 167 – 180. R. Müller: Philosophie und literarische Kommunikation in Griechenland im 5. Jh. v. Chr., in: Acta Antiqua Academiae Scientiarum Hungaricae 35 (1994) 25 – 60. D. V. Panchenko: Thales’ prediction of a solar eclipse, in: Journal for the History of Astronomy 25 (1994) 275 – 288. R. Wittern, P. Pellegrin (Hg.): Hippokratische Medizin und antike Philo‐ sophie (Hildesheim, Zürich, New York 1996). A. K. Gavrilov, M. F. Burnyeat: Techniques of reading in classical antiquity, in: The Classical Quarterly, N. S. 47 (1997) 56 – 73. 74 – 76. A. Petit: Le silence pythagoricien, in: C. Lévy, L. Pernot (éds): Dire l’évi‐ dence (Paris, Montréal 1997) 287 – 296. F. R. Stephenson, L. J. Fatoohi: Thales’ prediction of a solar eclipse, in: Journal for the History of Astronomy 28 (1997) 279 – 282. H.-C. Günther: Aletheia und Doxa. Das Proömium des Gedichts des Par‐ menides (Berlin 1998). L. Orelli: Vorsokratiker und hippokratische Medizin, in: Burkert 1998 [§ 1 * 81: 128 – 145].
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3. Ausdrucksformen der frühgriechischen Philosophie
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G. W. Most: The poetics of early philosophy, in: Long 1999 [§ 1 * 202: 332 – 362]. O. Primavesi: La daimonologia della fisica Empedoclea, in: Aevum Anti‐ quum, N. S. 1 (2001) 3 – 68. A. Patzer: Hesiod als Dichter. Das Proömium der Theogonie als Musen‐ hymnus, in: P. Neukam (Hg.): Weltbild und Weltdeutung (München 2002) 109 – 130. O. Primavesi: Lecteurs antiques et byzantines d’Empédocle. De Zénon à Tzétzès, in: Laks/ Louguet 2002 [§ 1 * 240: 183 – 204]. A. Patzer: Wort und Ort. Oralität und Literarizität im sozialen Kontext der frühgriechischen Philosophie (Freiburg, München 2006). O. Primavesi: Die Suda über die Werke des Empedokles, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 158 (2006) 61 – 75. M. Asper: Griechische Wissenschaftstexte. Formen, Funktionen, Diffe‐ renzierungsgeschichten (Stuttgart 2007).
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4. De Alcmaenonis Crotoniatae apud Platonem uestigio & Additamentum Alcmaeonium Plato in dialogo qui Sophista inscribitur p. CCXLII hospitem Eleaticum inducit narrantem quid veteres de rerum principiis censuerint: μῦθόν τινα ἔκαστος φαίνεταί μοι διηγεῖσθαι παισὶν ὡς οὖσιν ἡμῖν, ὁ μὲν ὡς τρία τὰ ὅντα, πολεμεῖ δὲ ἀλλήλοις ἐνίοτε αὐτῶν ἄττα πῃ, τοτὲ δὲ καὶ φίλα γιγνόμενα γάμους τε καὶ τόκους καὶ τροφὰς τῶν ἐκγὀνων παρέχεται· δύο δὲ ἕτερος εἰπών, ὑγρὸν καὶ ξηρὸν ἢ θερμὸν καὶ ψυχρόν, συνοικίζει τε αὐτὰ καὶ ἐκδίδωσι· τὸ δὲ παρ᾽ ἡμῖν Ἑλεατικὸν ἔθνος, ἀπὸ Ξενοφάνους καὶ ἔτι πρόσθεν ἀρξάμενον, ὡς ενὸς ὄντος τῶν πάντων καλουμένων οὕτω διεξέρχεται τοῖς μύθοις. Ἰάδες δὲ καὶ Σικελικαί τινες ὕστερον Μοῦσαι συνενόησαν ὃτι συμπλέκειν ἀσφαλέστατον ἀμφότερα καὶ λέγειν ὡς τὸ ὂν πολλά τε καὶ ἕν ἐστιν, ἔχθρᾳ δὲ καὶ φιλίᾳ συνέχεται κτλ. Platonem hoc loco certos quosdam viros eorumque libros vel doctrinas ante oculos habuisse ex eo colligi potest, quod Eleatici philosophi nominatim appel‐ lantur quodque sub Ionicarum Siciliensiumque Musarum nominibus Heraclitus Ephesius et Empedocles Acragantinus apertissime, ut ita dicam, latent. Restat ut eorum qui tria eorumque qui duo principia esse contenderunt nomina vel doctrinas investigemus. Potest autem utraque quaestio haud facile persolvi. Nam illi, quorum principia bella gerere, nuptias facere, liberos procreare eosque edu‐ care dicuntur, certe non sunt philosophi, sed poetae vel mythographi, qui eius modi fabulas libenter proferunt. Sed Plato utrum hoc loco Hesiodum respexerit an Pherecydem an Acusilaum, a quibus aut Χάος Γῆ Ἔρως aut Ζᾶς Χρόνος Χθονίη aut Χάος Ἔρεβος Νύξ tamquam genitores genetricesque omnium rerum excogitati sunt, vix diiudicari potest, praesertim cum Pherecydis et Acusilai opera paene tota perierint. Sed ut ad rem propositam veniam, nunc quaerendum est, quis sit, qui duo principia esse confirmaverit, humidum dico et aridum vel calidum et frigidum. Omnes, quantum video, Platonis commentatores omnesque philosophicae historiae scriptores consentiunt Platonem hoc loco Archelaum Atheniensem ante oculos habuisse. Vix recte. Obstat enim et aetas et doctrina Archelai. Neque enim Plato, cum Heraclitum et Empedoclem posterius quam ceteros quos dicit philosophos fuisse confirmaverit, hoc priore loco Archelaum attingere potuit Socratis fere aequalem illisque viris multo natu minorem. Et quamquam constat ab Archelao calidum et frigidum tamquam elementa naturae constituta esse, tamen humidi et aridi principia, quae Plato prius nominat quam illa, inter Archelai fragmenta vel testimonia nusquam reperies. Quod mirum non
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est, quoniam ex illis quattuor omnia nata esse nemo umquam philosophus do‐ cuit. Affert igitur Plato exempla tantum doctrinae cuiusdam philosophi, qui duo omnino principia esse existimavit, quorum alterum alteri oppositum esset. Quae cum ita sint, dubium esse non potest, quin alium atque Archelaum hoc loco respexerit Plato philosophum, qui ante Heraclitum Empedoclemque et ante Ele‐ aticos floruit quique duo principia esse contendit opposita inter sese et diversa. Philosophis illorum temporum percensis et de Pythagoreis et de Alcmaeone Crotoniata cogitandum est. Sed Pythagorei veteres decem constituerunt genera oppositorum, inter quae illa duo quae dicit Plato omnino desunt. Restat solus Alcmaeo, de quo Aristoteles Pythagoreis pertractatis in Metaphysicis p. CMLXXXV dicit haec: φησὶ γὰρ εἶναι δύο τὰ πολλὰ τῶν ἀνθρωπίνων, λέγων τὰς ἐναντιότητας οὐχ ὥσπερ οὗτοι διωρισμένας ἀλλὰ τὰς τυχούσας, οἷον λευκὸν μέλαν, γλυκὺ πικρόν, ἀγαθὸν κακόν, μέγα μικρόν. Vides, quantopere quae narrat Aristoteles illis respondeat quae sunt dicta a Platone! Uterque con‐ firmat ab Alcmaeone duo esse principia constituta contraria inter se et diversa; uterque ex innumerabili illorum numero exempla tantum exhibet, quod alter particula ἤ significat, alter adverbio οἷον declarat. Quam ob rem mirum non est, quin alia genera oppositorum ex Alcmaeone elegerit Plato, alia Aristoteles. Ae‐ tius quidem Placitorum libro quinto capite tricesimo testatur ab ipso Alcmaeone in sanitatis definitione cum ex illis quae apud Aristotelem sunt unum, tum eadem quae dicit Plato duo eodem insuper ordine adhibita esse: Ἀλκμαίων τῆς μὲν ὑγιείας συνεκτικὴν τὴν ἰσονομίαν τῶν δυναμένων, ὑγροῦ ξηροῦ, ψυχροῦ θερμοῦ, πικροῦ γλυκέος καὶ τῶν λοιπῶν. Quibus rebus demonstratis dubium esse non potest, quin Plato hoc loco Alcmaeonis Crotoniatae doctrinam desc‐ ripserit; praeterea, nisi fallor, συνοικίζειν et ἐκδιδόναι vocabula, quibus decla‐ rantur opposita inter se quasi nuptiis et matrimonio coniungi, Plato ad verbum ex Alcmaeonis libro deprompsit. Totus igitur hic locus testimoniis Alcmaeoniis inserendus est. Quae si percensueris, alterum iam locum Platonicum invenies, qui est in Phaedone p. XCVI, ubi Socrates celebrem illam de cerebro doctrinam Alcmaeonis paucis verbis perstringit. Neque hic neque illic philosophus Croto‐ niates nomine appellatur; sed solet apertissima quaeque obscuritate obtegere Plato. Annalium Wirceburgensium tomo nono p. LXXIX sp. Platonem in Sophista p. CCXLII, ubi dicit philosophum fuisse quendam, qui duo principia mundi esse contraria inter sese et diversa censeret, non Archelaum Atheniensem, sed Alc‐ maeonem Crotoniatam respexisse demonstrare conatus sum. Quibus rebus trac‐ tatis apud Isocratem incidi in locum hucusque a viris doctis haud satis animad‐ versum, quo quod sentio confirmari potest. Loquitur enim Isocrates in ea oratione, quae Περὶ τῆς ἀντιδόσεως inscribitur, c. CCLXVIII de veteribus phi‐
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losophis, quos appellat sophistas, enumeratque eorum de mundi principiis sen‐ tentias: ὁ μὲν ἄπειρον τὸ πλῆθος ἔφησεν εἶναι, τῶν ὄντων, Ἐμπεδοκλῆς δὲ τέτταρα καὶ νεῖκος καὶ φιλίαν ἐν αὐτοῖς, Ἴων δ᾽ οὐ πλείω τριῶν, Ἀλκμέων δὲ δύο μόνα, Παρμενίδης δὲ καὶ Μέλισσος ἕν, Γοργίας δὲ παντελῶς οὐδέν. Diffe‐ rant licet paulum scriptores, cum Isocrates numeris principiorum exhibitis quinque nominat philosophos, Plato omissis duorum nominibus affert tres eo‐ rundemque principia qualitatibus distinguit, tamen nemo non intelleget, quanto maior amborum sit consensus. Uterque enim de veterum philosophorum prin‐ cipiis loquitur; uterque ordinat illorum philosophorum seriem numeris princi‐ piorum adhibitis; uterque initium enumerandi facit ex summo principiorum nu‐ mero; uterque denique Parmenidem Melissumque sive Eleaticos nominat inter eos, qui unum tantum principium esse existimant. In tanto autem auctorum consensu maximi est momenti ab Isocrate, ubi de illo philosopho dicit, qui duo principia esse censeat, Alcmaeonem nominari. Locus enim Isocrateus, cum totus Platonico adeo respondeat, ut vix dubium esse possit, quin eodem ex fonte flu‐ xerit uterque, illum apud Platonem philosophum, qui duo esse principia opposita inter sese et contraria esse crediderit, neminem alium esse posse nisi Alcma‐ eonem Crotoniatam plane declarat. q. e. d.
5. Die übertiefe Tiefe (Empedokles 35, 3 – 5 & Physika I, 288 – 290) Für Harald Patzer
Der 1999 publizierte Straßburger Empedokles-Papyrus1 enthält mehrere Stellen, die zuvor schon als isolierte Zitate aus Empedokles bekannt waren, oder doch – im Rahmen der Empedokleischen Wiederholungstechnik – enge Parallelen zu solchen zitierten Stellen darstellen. In diesen Fällen ermöglicht der Text des Pa‐ pyrus durchweg die Heilung von Textverderbnissen der Zitatüberlieferung, die zuvor zwar diagnostiziert, aber nicht behoben worden waren.2 Die entgegen‐ gesetzte Möglichkeit, d. h. die Emendation von vermuteten Fehlern im Papyrus aufgrund der Zitatüberlieferung, hat demgegenüber in der editio princeps des Papyrus keine Rolle gespielt. Zwar war dort die Zitatüberlieferung des Empe‐ dokles häufig heranzuziehen, um durch mechanische Zerstörung entstandene Lücken des Papyrus zu füllen. Aber an keiner der sowohl im Papyrus als auch in der Zitatüberlieferung erhaltenen Textstellen („Kontaktstellen“) haben die Herausgeber der editio princeps eine vom Papyrus abweichende Lesart der Zi‐ tatüberlieferung als überlegen anerkannt. Wo der Papyrus im Bereich der Kon‐ taktstellen eindeutige Fehler aufweist, sind sie schon im Papyrus selbst durch den Schreiber oder eine spätere Hand korrigiert worden. Nun trifft der Eindruck, daß die Textform des Papyrus derjenigen der ein‐ schlägigen Zitatüberlieferung überlegen ist, im großen und ganzen fraglos zu: Sakrosankt sind die Lesarten des Papyrus darum nicht. Auch muß die Hilfe, die der Papyrus bei der Heilung von Korruptelen der Zitatüberlieferung erbringt, nicht immer darin bestehen, daß er an den ent‐ sprechenden Kontaktstellen einfach den richtigen Text bietet. Vielmehr kann der neue Textzeuge auch dann von Nutzen sein, wenn die Überlieferung hier 1 2
A. Martin / O. Primavesi (edd.), L’Empédocle de Strasbourg (P. Strasb. gr. Inv. 1665 – 1666): Introduction, édition et commentaire, Straßburg / Berlin / New York 1999. Im folgenden zitiert als: Martin / Primavesi (1999). O. Primavesi, Editing Empedocles. Some longstanding problems reconsidered in the light of the Strasburg papyrus, in: W. Burkert, L. Gemelli Marciano, Elisabetta Matelli, Lucia Orelli (edd.), Fragmentsammlungen philosophischer Texte der Antike (= Apore‐ mata Bd. 3), Göttingen 1998, 62 – 88. Im folgenden zitiert als Primavesi (1998). Vgl. das Résumé in Martin / Primavesi (1999) 342 – 345.
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wie dort, d. h. in der Zitatüberlieferung und im Papyrus, gestört ist – vorausge‐ setzt freilich, daß die Verderbnis jeweils in eine andere Richtung geht. In einem solchen Fall hätte man das Richtige zwar nach wie vor zu konjizieren, verfügte jetzt aber, als verläßlicheres Kriterium, über zwei verschiedene fehlerhafte Vari‐ anten derselben Empedokleischen Formulierung. Die Richtung, in der man die Emendation zu suchen hätte, wäre dann dadurch gewiesen, daß beide Fehl‐ formen gleichermaßen aus der – durch Konjektur ermittelten – richtigen Text‐ form ableitbar sein müssen. Ein solcher Fall soll im folgenden vorgelegt werden: eine unzweifelhaft kor‐ rupte Stelle in dem von Simplicius bewahrten Fragment B 35. Diese Stelle ver‐ suchte Primavesi (1998) mit Hilfe einer vom Papyrus bewahrten Parallelstelle – Physika I, 288 – 290 – zu emendieren.3 Dieser Versuch dürfte sein Ziel nur zum Teil erreicht haben, und zwar gerade deshalb, weil er der Textform, in welcher der Papyrus diese Parallelstelle präsentiert, zuviel Respekt entgegenbrachte. Eine Retractatio scheint geboten. 1
Zu Beginn des Fragments B 35 (1 – 3a) erklärt der Sprecher, er werde zu einer schon früher einmal exakt formulierten (κατέλεξα) Übergangsstelle seiner Ge‐ sänge (πόρος ὕμνων) – mit einer anderen Metapher könnte man von einer „Scharnierstelle“ sprechen – zurückkehren, um nunmehr durch eine neue Rede jene damalige Rede in eine andere Richtung zu leiten (λόγωι λόγον ἐξοχετεύων / κεῖνον).4 Angekündigt durch den zurückverweisenden Ausdruck λόγον … / κεῖνον, folgt dann ein temporales Satzgefüge (B 35,3b-5), das man mit Recht als Zitat jener früheren und nun neu fortzusetzenden Rede verstanden hat: 3b 4 5
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ἐπεὶ Νεῖκος μὲν ἐνέρτατον ἵκετο βένθος δίνης, ἐν δὲ μέσηι Φιλότης στροφάλιγγι γένηται, ἐν τῆι δὴ τάδε πάντα συνέρχεται ἓν μόνον εἶναι. Nachdem der Streit zur untersten Tiefe kam des Wirbels, und stets wenn die Liebe zur Mitte des Strudels gelangte, kommt in ihr dies alles zusammen, um nur Eins zu sein.
Primavesi (1998) 72 – 76; vgl. Martin / Primavesi (1999) 216 – 222. Zur Verteidigung der überlieferten Wendung λόγωι λόγον gegen Bergks Konjektur λόγου λόγον vgl. Martin / Primavesi (1999), 217 mit Anm. 4.
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5. Die übertiefe Tiefe (Empedokles 35, 3 – 5 & Physika I, 288 – 290)
Zum sachlichen Verständnis der Stelle sei hier nur soviel bemerkt, daß Empe‐ dokles sich ein kugelförmiges Universum denkt, in dem die Liebe immer vom Streit umgeben ist. Was sich ändert, ist lediglich der von beiden Mächten jeweils eingenommene Raum. Es alternieren Phasen wachsenden Streites und wach‐ sender Liebe. Wächst der Streit, dann dringt er von allen Seiten der Peripherie her in zentripetaler Invasion in das Kugelinnere vor und drängt die Liebe in der Mitte zusammen. Sobald aber die Liebe am Mittelpunkt komprimiert worden ist, schlägt die Entwicklung um: Die Liebe expandiert zentrifugal in alle Richtungen und verdrängt den Streit allmählich wieder an die Außenhülle der Kugel.5 Die Verse 3b-5 des Fragments beschreiben nun gerade den Augenblick dieses Um‐ schlags – dies der Grund für die Bezeichnung der Stelle als Übergangsstelle, als πόρος ὕμνων. Dabei entspricht die unterste Tiefe des Wirbels, zu der der Streit hier kommt, sachlich der Strudelmitte, in der die Liebe zusammengedrängt wird; die Formulierung bringt einmal die Perspektive des eindringenden Streites, dann die Perspektive der zurückweichenden Liebe zum Ausdruck. Der Hauptsatz in Vers 5 beschreibt sodann zusammenfassend die auf den Wendepunkt folgende Expansion der Liebe – soviel wird durch den Fortgang des Fragments B 35 außer Zweifel gestellt. Die Überlieferung des durch die Konjunktion ἐπεί eingeleiteten und durch die Partikeln μέν – δέ in zwei Teilsätze aufgespaltenen Nebensatzes ist nun aber ganz offensichtlich korrupt. Denn von den beiden Prädikaten des Nebensatzes steht das erste im Indikativ (ἵκετο), das zweite hingegen im Konjunktiv (γένηται). Ein solcher Moduswechsel innerhalb ein und desselben Nebensatzes ist unhaltbar, da er dem Prädikat des übergeordneten Hauptsatzes in B 35,5 zwei miteinander unvereinbare Bedeutungen zugleich zumutet: Während ein Indi‐ kativ Aorist im Nebensatz dazu zwingt, den durativen Indikativ συνέρχεται im Hauptsatz als einmaligen, gegenwärtigen Vorgang zu interpretieren, impliziert ein generell-prospektiver („iterativer“) Konjunktiv im Nebensatz, daß der Hauptsatz ein allgemeines bzw. gegenwärtig und zukünftig zu erwartendes Ge‐ schehen angibt. Somit setzt ein Nebensatz, der beide Prädikatstypen zugleich enthält, den Hauptsatz geradezu einer Zerreißspannung aus. Dieser Nebensatz muß korrupt überliefert sein: Empedokles hat entweder zweimal den Indikativ oder zweimal den Konjunktiv gesetzt, so daß eine der beiden Verbformen emen‐ diert werden muß. Die moderne Kritik hat das Problem sehr wohl bemerkt und drei verschiedene Emendationen vorgeschlagen. Merkwürdigerweise ist allen drei Vorschlägen
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Vgl. hierzu D. O’Brien, Empedocles’ Cosmic Cycle: A Reconstruction from the Frag‐ ments and Secondary Sources, Cambridge 1969, 116 – 117.
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gemeinsam, daß sie die erste Hälfte des Nebensatzes unverändert lassen und den Konjunktiv der zweiten Hälfte in einen Indikativ verwandeln: Den in B 35,4 überlieferten konjunktivischen Vers-Schluß στροφάλιγγι γένηται wollte Pe‐ tersen6 zu στροφάδι γεγένηται ändern, v. Wilamowitz-Moellendorff7 zu στροφάλιγγι γέγακε, van Groningen8 zu γένετο στροφάλιγγι. Eine solche Ent‐ scheidung ist jedoch keineswegs zwingend. Im Gegenteil: Bei rein temporalen ἐπεί-Sätzen im Indikativ der Vergangenheit pflegt auch der Hauptsatz in der Vergangenheit zu stehen,9 so daß der in B 35,5 stehende präsentische Hauptsatz eher einen konjunktivischen, nämlich generell-prospektiven Temporalsatz er‐ warten läßt. Daß der Temporalsatz nicht die Modalpartikel ἄν (oder κεν) auf‐ weist, ändert an dieser Einschätzung nichts; denn in der Sprache des Epos, auch der des Empedokles, ist der Gebrauch der Modalpartikel beim prospektiven Konjunktiv, anders als in der attischen Prosa, nicht obligatorisch.10 2
Angesichts dieser Problematik ist es ein besonders glücklicher Zufall, daß der Straßburger Papyrus zwar nicht dieselbe Stelle des Gedichts überliefert, wohl aber eben jene frühere Stelle ans Licht gebracht hat, die in B 35, 3 – 5 zitathaft wieder aufgenommen wird. Diese Stelle findet sich in den Zeilen 18 – 20 der zweiten Kolumne von Ensemble a des Papyrus: Es handelt sich dabei um die Verse 288 – 290 des ersten Buchs der Empedokleischen Physika. 11 288 [Ἀλλ᾽ ὅτ]ε̣ δὴ Νεῖκος [μὲν ὑ]περβατὰ βέν[θε᾽ ἵκηται] 289 δ[ίνη]ς, ἐν δὲ μέσ̣[ηι] Φ[ιλ]ότης στρο̣φά̣[λιγγι γένηται,]
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Chr. Petersen, Besprechung von: Chr. A. Brandis, Handbuch der Geschichte der grie‐ chisch-römischen Philosophie (Berlin 1835), Allgemeine Literatur-Zeitung 1837, Coll. 153 – 176, hier: Col. 163. U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Lesefrüchte Nr. 267 – 280, Hermes 65 (1930) 241 – 258 [Kleine Schriften IV 509 – 527], hier: 248 – 249 [516 – 517]. B. A. van Groningen, La composition littéraire archaïque grecque, Amsterdam 1958, 216 Anm. 2. Vgl. A. Rijksbaron, Temporal & Causal Conjunctions in Ancient Greek, Amsterdam 1976, 67 – 76. Zum Empedokleischen Gebrauch vgl. O’Brien (1969) 112: „We may note that the omis‐ sion of ἄν with the subjunctive in fr. 35 is for verse entirely acceptable. There are seven temporal subjunctives in fr. 100 (for Karsten’s emendation of line 8 to match line 25 may be taken as certain): and only once, line 6, is there an ἄν.“ Diese genaue Lokalisierung ist deshalb möglich, weil neben der Zeile a(ii) 30 des Pa‐ pyrus ein stichometrisches Zeichen steht, demzufolge diese Zeile die dreihundertste der Buchrolle ist; vgl. Martin / Primavesi (1999) 21 – 22.
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290 ἐν [τῆι] δὴ τάδε πάν̣τα συνέρχεται ἓν [μόνον εἶναι.] Aber stets wenn der Streit zu den überschrittenen (?) Tiefen kam des Wirbels, und die Liebe zur Mitte des Strudels gelangte, kommt in ihr dies alles zusammen, um nur Eins zu sein.
Daß hier wirklich exakt jene Passage vorliegt, die später in B 35,3b-5 ins Ge‐ dächtnis zurückgerufen werden wird, dafür spricht zum einen die Übereinstim‐ mung beider Stellen: Der zweite und der dritte Vers (289 – 290) entsprechen ohne jede Abweichung den Versen B 35,4 – 5, und auch im ersten Vers (288) ist jedenfalls wie in B 35,3 von der Ankunft des Streites in der Tiefe des Wirbels die Rede. Hinzu kommt, daß der Papyrus mit den an 288 – 290 anschließenden Versen 291 – 300 auch den Grund liefert, aus dem Empedokles vor der Notwendigkeit stand, jene drei Verse an einer späteren Stelle wieder aufzunehmen: Unmittelbar im Anschluß an diese Verse (d. h. in Vers 291) unterbricht der Lehrer die Expo‐ sition des kosmischen Geschehens und wendet sich seinem Schüler zu, um ihm in der uns umgebenden Natur an einer Reihe von Paradigmata die Evidenz der zuvor dargestellten kosmischen Entwicklung zu demonstrieren. Das Ende dieses didaktischen Exkurses, der über den Schluß von Ensemble a des Papyrus hinaus auch noch das Ensemble b und die Fragmente B 21, B 23 und B 26 einschloß,12 wurde dann mit den Versen B 35,1 – 3a markiert. Hierauf folgte zunächst in B 35,3b-5 das Zitat des Gedankens, bei dem die Darstellung unterbrochen worden war, und schließlich in B 35,4 – 17 die Fortsetzung der seinerzeit unterbrochenen Darstellung. In Anbetracht dieser eindeutigen Beziehung zwischen B 35,3b-5 und 288 – 290 ist nun aber der unterschiedliche Wortlaut des jeweils ersten Verses problema‐ tisch: 288 [Ἀλλ᾽ ὅτ]ε̣ δὴ Νεῖκος [μὲν ὑ]περβατὰ βέν[θε᾽ ἵκηται]13 B 35,3 κεῖνον· ἐπεὶ Νεῖκος μὲν ἐνέρτατον ἵκετο βένθος.
Daß der Vers-Anfang jeweils verschieden formuliert ist, kann nicht verwundern: Eine mechanische Wiederholung der einleitenden Konjunktion ἀλλά, welche 12 13
Martin / Primavesi (1999) 104 – 109. Die angegebene, von Primavesi (1998) 75 vorgeschlagene und in die editio princeps übernommene Ergänzung der Lücke am Vers-Schluß ist zwingend: Da in Vers 288 unmittelbar nach der bukolischen Diärese nicht, wie in B 35,3 überliefert, das Verb steht, sondern eine Form von βένθος, bleibt für das Verb in Vers 288 nur der Vers-Schluß; an dieser Stelle aber kann aus metrischen Gründen nicht der in B 35,3 überlieferte Indikativ ἵκετο stehen, sondern nur der Konjunktiv ἵκηται.
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innerhalb des ursprünglichen Gedankengangs die logische Stellung der Verse 288 – 290 markierte, hätte bei der Wiederaufnahme in B 35,3 unverständlich wirken müssen. Aus diesem Grund dürfte Empedokles in B 35,3 den Vers-Anfang umgestaltet haben. Er wählte das Demonstrativpronomen κεῖνον, das – im En‐ jambement – den vorangehenden Satz B 35,1 – 2 abschließt und kraft dieser her‐ vorgehobenen Stellung besonders deutlich macht, daß das folgende ein Zitat jenes früheren λόγος sein wird. Diese Änderung zog dann aus metrischen Gründen die Ersetzung der temporalen Konjunktion ὅτε δή durch ἐπεί nach sich. Ganz anders verhält es sich mit den auffälligen Abweichungen in der zweiten Vershälfte: In 288 hat im Papyrus ὑ]περβατὰ βέν[θε᾽ ἵκηται] gestanden, während Simplicius für B 35,3 ἐνέρτατον ἵκετο βένθος überliefert. Diese Differenz läßt sich keinesfalls als eine durch die Wiederaufnahme geforderte Adaptation er‐ klären. Ist sie dennoch authentisch? Betrachten wir zunächst die beiden Verbalprädikate, da hier der Fall klar liegt. Bei den divergierenden Formen ἵκηται in 288 und ἵκετο in B 35,3 handelt es sich offenkundig nicht um zwei von Empedokles selbst formulierte Varianten, son‐ dern vielmehr um eine richtige und eine verderbte Lesart. Der in Vers 288 sicher ergänzte Konjunktiv liefert nämlich, wenn man ihn auch an der Parallelstelle in B 35 einsetzt, die evidente Lösung für das erwähnte Textproblem an dieser Stelle: War es bisher unsicher, ob die unhaltbare Modusdiskrepanz zwischen den beiden Prädikaten des temporalen Nebensatzes in B 35,3 – 4 nach der Seite des Indikativs oder nach der des Konjunktivs hin auszugleichen ist, so wird jetzt aufgrund der durch den Papyrus überlieferten Parallelstelle 288 – 289 auch in B 35 die Option für den Konjunktiv entschieden nahegelegt. In der von Simplicius überlieferten Gestalt von B 35 lag der Fehler also nicht, wie bisher angenommen, bei dem Konjunktiv in B 35,4, sondern bei dem Indikativ in B 35,3: Dort muß, wie in 288, nach der bukolischen Diärese zunächst eine Form von βένθος und dann der Konjunktiv ἵκηται gelesen werden. Mit der Restitution des Konjunktivs ἵκηται am Vers-Ende von B 35,3 ist al‐ lerdings noch nicht ausgemacht, welche Form von βένθος dort vor ἵκηται zu lesen ist. Vielmehr stellt sich die Frage, ob bei der Emendation von B 35,3 dem überlieferten Wortlaut des Verses 288 auch darin zu folgen ist, daß man in B 35,3 den überlieferten Singular βένθος nach dem Muster von 288 durch den Plural βένθε᾽ ersetzt oder ob in B 35,3 der Singular βένθος, auch wenn er mit dem Prädikat den Platz tauschen muß, als solcher gehalten werden kann: Sowohl βένθος ἵκηται als auch βένθε᾽ ἵκηται wäre schließlich ein metrisch einwandfreier Vers-Schluß. Für sich betrachtet, stimmt der Singular eindeutig besser zum gedanklichen Zusammenhang als der durch die Parallelstelle im Papyrus suggerierte Plural:
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Die Tiefe nämlich, zu der der Streit auf dem Gipfel seiner Macht vordringt, ist ein Punkt, der Mittelpunkt des Universums; und zur Bezeichnung eines Punktes scheint der vage Plural βένθεα gänzlich fehl am Platze. Überdies wird ja im folgenden Vers B 35,4 der mit diesem Punkt sachlich identische Rückzugspunkt der Liebe ebenfalls mit einem singularischen Ausdruck (ἐν μέσηι στροφάλιγγι) angegeben. Indessen ist die Entscheidung über den Numerus in B 35,3 aufs engste mit der weiteren Frage verknüpft, welches Attribut vor der fraglichen Form von βένθος gestanden hat. War dieses Attribut nämlich ein Adjektiv der o-Deklination, gleichviel, ob es sich, wie in B 35,3 selbst überliefert, um eine Form von ἐνέρτατος handelte oder, wie an der Parallelstelle 288 vom Papyrus überliefert, um eine Form von ὑπερβατός, dann kann dieses Attribut aus metrischen Gründen vor βένθ- nicht im Singular gestanden haben; denn bei den Adjektiven der o-Deklination endet der Singular des Neutrums auf –ον, und diese Endung würde vor βένθ- eine Positionslänge bewirken und damit das Metrum zerstören. Aus der vom Papyrus nahegelegten, die Syntax rettenden Wiederherstellung der Abfolge am Vers-Schluß von B 35,3 (1. eine Form von βένθος, 2. der Kon‐ junktiv ἵκηται) ergibt sich also folgende Alternative. Entweder man bewahrt den an dieser Stelle überlieferten Singular von βένθος, dann war das zugehörige Attribut nicht ἐνέρτατον (oder ὑπερβατόν), sondern ein Neutrum-Singular-Ad‐ jektiv einer anderen Deklination, das eine offene, auch vor nachfolgendem Kon‐ sonanten kurze Endsilbe aufweist. Oder man wählt als Attribut ein Adjektiv der o-Deklination, dann muß dieses Attribut und mit ihm auch die als sein Bezie‐ hungswort fungierende Form von βένθος im Plural stehen. Vor diese Alternative gestellt hat sich Primavesi (1998) 76 dafür entschieden, in B 35,3 an dem überlieferten Lexem ἐνερτατ- festzuhalten und dafür den über‐ lieferten und sachlich eindeutig besseren Singular dieses Attributs und seines Beziehungsworts βένθος durch den Plural zu ersetzen: κεῖνον· ἐπεὶ Νεῖκος μὲν ἐνέρτατα βένθε᾽ ἵκηται.
So würde der Vers B 35,3 syntaktisch und strukturell dem parallelen Vers 288 angeglichen, während die lexikalische Diskrepanz zwischen den Attributen un‐ angetastet bliebe: ὑπερβατά in Vers 288, ἐνέρτατα in B 35,3. 3
Indessen erscheint es zweifelhaft, ob die vorgeschlagene Emendation wirklich schon das Richtige getroffen hat. Sie opferte den in B 35,3 überlieferten und sachlich überlegenen Singular dem in Vers 288 überlieferten Plural, ohne doch
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die Diskrepanz der Attribute in B 35,3 und in Vers 288 zu beseitigen. Aber gerade angesichts der Tatsache, daß die Überlieferung in B 35,3 ohnehin korrupt ist, wird man dort auch die lexikalische Abweichung des Attributs nicht einfach kritiklos hinnehmen: Zu offensichtlich ist die Möglichkeit, daß die in B 35,3 vorliegende Störung der Überlieferung neben dem bereits diagnostizierten So‐ lözismus auch die Diskrepanz der Attribute verschuldet haben könnte. Gewiß: Wenn man die Empedokleischen Verswiederholungen insgesamt durchmustert, dann zeigt sich, daß sie konsequent kleinere oder größere Varia‐ tionen aufweisen.14 Aber von dieser Regel gibt es eine für unsere Frage höchst signifikante Ausnahme: die Wiederholung von B 17,1 – 2 in B 17,15 – 17. Das Fragment B 17 beginnt mit der programmatischen Feststellung: 1 2
Δίπλ᾽ ἐρέω· τοτὲ μὲν γὰρ ἓν ηὐξήθη μόνον εἶναι ἐκ πλεόνων, τοτὲ δ᾽ αὖ διέφυ πλέον᾽ ἐξ ἑνὸς εἶναι Doppeltes werde ich sagen: Einmal vermehrte es sich, um nur Eins zu sein aus mehrerem, ein andermal wuchs es auseinander, um mehreres aus Einem zu sein.
In B 17,15 wird dann eine Wiederaufnahme dieses Gedankens angekündigt: 15 ὡς γὰρ καὶ πρὶν ἔειπα πιφαύσκων πείρατα μύθων Denn wie ich schon früher sagte, als ich die Umrisse meiner Darlegungen be‐ zeichnete.
Darauf folgt in B 17,16 – 17 ohne jede Variation eine exakte Wiederholung von B 17,1 – 2: 16 17
Δίπλ᾽ ἐρέω· τοτὲ μὲν γὰρ ἓν ηὐξήθη μόνον εἶναι ἐκ πλεόνων, τοτὲ δ᾽ αὖ διέφυ πλέον᾽ ἐξ ἑνὸς εἶναι,
an die dann, durch Nennung der vier „Elemente“, eine präzisierende Erweite‐ rung angeschlossen wird. Dieses singuläre Beispiel einer ohne Einschränkung wörtlichen Wiederholung stellt aber zugleich – unter den zahlreichen Parallel‐ enpaaren, deren beide Teile durch Zitate der indirekten Überlieferung erhalten sind – das einzige Beispiel für ein ausdrücklich als solches eingeführtes Selbstzitat dar. Das Zusammentreffen ist schwerlich zufällig; vielmehr scheint Empedokles 14
Dies zeigt für die Fragmente der indirekten Überlieferung das von O’Brien (1969) 151 n. 3 verzeichnete Parallelenmaterial; auch der Straßburger Papyrus hat an diesem Be‐ fund nichts geändert.
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seine Neigung zum Variieren gerade und nur dann zu zügeln, wenn er sich expressis verbis darauf festgelegt hat, eine frühere Formulierung zu wiederholen. Ein ebensolches explizites Selbstzitat liegt nun aber auch in dem erst durch den Papyrus vervollständigten Parallelenpaar 288 – 290 / B 35,3 – 5 vor: Der Spre‐ cher sagt in B 35,1 – 3 ausdrücklich, daß er einen bereits behandelten Zusam‐ menhang (dessen Darstellung er zum Zweck der Illustration des bis dahin Ge‐ sagten unterbrochen hatte), so wie er war, wieder ins Gedächtnis rufen wird. Also spricht im Hinblick auf B 17,16 – 17 viel dafür, auch in B 35,3 – 5 eine wört‐ liche Wiederholung zu erwarten. Zudem soll die Wiederholung in B 35,3 ff. ersichtlich dazu dienen, einen schon einmal erreichten Punkt der Darstellung möglichst genau zu bezeichnen, um dann an ihn anknüpfen zu können. Diesem didaktischen Zweck würde eine wesentliche, funktional nicht motivierte Abweichung vom Wortlaut der frü‐ heren Stelle strikt zuwiderlaufen. In den folgenden beiden Versen B 35,4 – 5 werden die entsprechenden Verse 289 – 290 denn auch ohne jede Änderung wieder aufgenommen: Sollte Empedokles dann ausgerechnet im ersten Vers des Selbstzitats, der doch beim Hörer die Wiedererkennung auslösen soll, geändert haben? Wenn nun der Vers-Schluß von B 35,3 ohnehin der Emendation bedarf, dann scheint es nach dem Gesagten geboten, im Rahmen eines Emendationsversuchs auch eine völlige Übereinstimmung des Attributs der Tiefe mit demjenigen in Vers 288 anzustreben. 4
Soll man demnach bei der Emendation von B 35,3 auch das Attribut ὑπερβατά von Vers 288 übernehmen? Diese Lösung kann bei näherem Hinsehen gleichfalls nicht überzeugen. Denn abgesehen von der Tatsache, daß der in B 35,3 überlieferte Singular dem in Vers 288 überlieferten Plural vorzuziehen ist, setzt ὑπερβατά besonders in lexikali‐ scher Hinsicht dem Verständnis schwere, ja unüberwindliche Hindernisse ent‐ gegen, die Primavesi (1998) aus Respekt vor dem Text des neuentdeckten Pa‐ pyrus, der ja in der Tat sonst vielfach dem der Zitatüberlieferung überlegen ist, unterschätzt haben dürfte. Die gewöhnliche Bedeutung von ὑπερβατός ist „überschritten“ bzw. „über‐ schreitbar“. Das ist nun aber exakt das Gegenteil dessen, was im Zusammenhang von 288 zu erwarten wäre. Denn der Mittelpunkt der Welt, zu dem der Streit auf dem Höhepunkt seiner Macht gelangt, ist zugleich die absolute Grenze seiner allseitigen, zentripetalen Invasion: Nach Erreichen dieser Grenze schreitet er
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nicht etwa noch weiter fort, wobei er ohnehin nur auf sich selbst träfe. Weit gefehlt: Er wird, wie aus B 35,6 – 17 eindeutig hervorgeht, von der Liebe uner‐ bittlich aus der Mitte vertrieben und schließlich wieder zurück zur Peripherie gedrängt. Zwar mag man darin, daß der Streit überhaupt so tief vordrang, durchaus eine „Überschreitung“ sehen, nämlich eine Überschreitung des ihm noch ohne die Strafe des Rückschlags betretbaren Raumes. Aber das rechtfertigt nicht, ausgerechnet die eherne Grenze dieser Überschreitung, die tiefste Tiefe, den Mittelpunkt der Welt, ihrerseits als „überschritten“ oder auch nur als „über‐ schreitbar“ zu bezeichnen. Auch die Möglichkeit, das in der Regel passivische Verbaladjektiv ausnahmsweise aktivisch zu verwenden (seine „Diathesenindif‐ ferenz“), hilft nicht weiter: Zwar gibt es für diesen Gebrauch auch bei ὑπερβατός ein frühes Beispiel,15 doch der vom Streit an unserer Stelle erreichte Extrem‐ punkt ist eben nicht nur nicht „überschreitbar“ oder „überschritten“, er über‐ schreitet auch nicht. Wollte man dem Verbaladjektiv ὑπερβατός an dieser Stelle überhaupt einen Sinn abgewinnen, so blieben nur zwei ziemlich abgelegene Auswege: Zum einen könnte man mit den (seltenen und umstrittenen) Fällen operieren, in denen das Verbaladjektiv sich von seiner passiven oder allenfalls aktiven Partizipialbe‐ deutung ganz löst und vielmehr eine freiere Relation zwischen Verbalbegriff und Beziehungswort anzeigt.16 So käme man an unserer Stelle auf die Interpretation: „Tiefen, die mit einer Überschreitung zusammenhängen“. Zum andern könnte man an der Bedeutung von ὑπερβαίνω ansetzen:17 Dieses Verb ist in der Euri‐ pideischen Medea einmal in der Bedeutung „durch Überschreitung betreten“ überliefert.18 Die Übertragung dieser Bedeutung auf das Verbaladjektiv, die sich
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17 18
Aischylos, Agamemnon 427 f.: τὰ μὲν κατ᾽ οἴκους ἐφ᾽ ἑστίας ἄχη / τάδ᾽ εστὶ καὶ τῶνδ᾽ ὑπερβατώτερα; vgl. Aristoteles, De divinatione per somnum 463 b 1 (von Träumen). P. Cauer, Grammatica militans, Berlin 1898, 9 mit Verweis auf Eur. Bacch. 1221 (σῶμα … ἐν ὕληι κείμενον δυσευρέτωι, was Cauer mit „Wald, der das Finden erschwert“ übersetzt, während Dodds ad loc. einfach eine poetische Umsetzung des eigentlich auf σῶμα zu beziehenden Verbaladjektivs diagnostiziert); Soph. El. 484 (ἁ … χαλκόπληκτος … γένυς; nach Cauer „das Beil mit ehernem Schlag“; Wakefield wollte freilich χαλκόπηκτος lesen); Aristot., Pol. 7, 5, 1327a 7 – 10 (ὁ δὲ λοιπὸς [scil. ὅρος ἐστὶ τ ὴν πόλιν εἶναι] πρὸς τὰς τῶν γινομένων καρπῶν παραπομπάς, ἔτι δὲ τῆς περὶ ξύλα ὕλης … εὐπαρακόμιστον, wo nach Cauer von einer Stadt „mit guter Zufuhr“ die Rede ist). So Martin / Primavesi (1999) 221 – 222. Euripides, Medea 381 – 383: ἀλλ᾽ ἕν τί μοι πρόσαντες· εἰ ληφθήσομαι / δόμους ὑπερβαίνουσα καὶ τεχνωμένη, / θανοῦσα θήσω τοῖς ἐμοῖς ἐχθροῖς γέλων. W. S. Barrett, Euripides: Hippolytus, Oxford 1964, 313 hat dieses ὑπερβαίνουσα gegen frühere Emen‐ dationsversuche unter Hinweis auf einen analogen Gebrauch von περᾶν verteidigt; Page, Diggle und v. Looy halten es im Text.
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freilich nur auf einen entsprechenden Gebrauch des zusammengesetzten Ver‐ baladjektivs εὐυπέρβατος in kaiserzeitlichen Urkundenpapyri stützen könnte,19 ergäbe für unsere Stelle die Interpretation „durch Überschreitung betretene Tiefen“. Beide Rettungsversuche kranken aber daran, daß, sie Empedokles, dem Voll‐ ender des philosophischen Lehrgedichts, einen kaum glaublichen didaktischen Mißgriff zuschreiben: Gesetzt selbst, man könnte eine erträgliche Bedeutung des Verbaldadjektivs zur Not erkünsteln – so bliebe es doch rätselhaft, warum Empedokles einen Ausdruck, der für das unbefangene Verständnis „über‐ schreitbar“ bzw. „überschritten“ bedeutet, ausgerechnet als Attribut eines Ortes verwendet haben sollte, auf dessen Unüberschreitbarkeit im gedanklichen Zu‐ sammenhang der Stelle alles ankommt. Die vom Papyrus für 288 überlieferte Lesart ὑπερβατά ist also nicht nur weit davon entfernt, sich als Emendation von B 35,3 zu empfehlen; vielmehr muß außer der Variante ἐνέρτατον in B 35,3, die aus metrischen Gründen mit dem Konjunktiv ἵκηται unvereinbar ist, nunmehr aus inhaltlichen Gründen auch ὑπερβατά selbst als korrupt gelten. Aus diesem Befund ergeben sich zwei Konsequenzen: Zum einen hat die auch formal anstößige Diskrepanz der beiden Attribute jetzt alle Glaubwürdigkeit verloren: Wenn man ohnehin an beiden Stellen emendieren muß, dann besteht kein Anlaß mehr, an der Verschiedenheit der beiden Attribute festzuhalten. Es ist also für beide Stellen nach einer gemeinsamen Emendation zu suchen. Zum zweiten: Wenn das vom Papyrus für Vers 288 überlieferte ὑπερβατά korrupt ist, dann kommt auch dem pluralischen Numerus dieses Attributs gegenüber dem in B 35,3 überlieferten singularischen Numerus kein Vorrang mehr zu. Vielmehr wird man bei der Suche nach einer gemeinsamen Emendation aus sachlichen Gründen den Singular vorziehen. Daher ist es auch keine Lösung, zu der seinerzeit für B 35,3 vorgeschlagenen Emendation ἐνέρτατα βένθε᾽ zurückzukehren und diesen pluralischen Ausdruck nunmehr an beiden Stellen einzusetzen. Überdies wäre in Vers 288 diese Kon‐ jektur auch überlieferungsgeschichtlich höchst unplausibel: Durch welchen me‐ chanischen Fehler oder durch welche bewußte Intervention hätte die lectio fa‐ cillima ἐνέρτατα βένθε᾽ zu ὑπερβατὰ βένθε᾽ verderbt werden können?
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P. Fay. 110,7 – 10 (94 n. Chr.); P. Oxy. 1272,13 – 18 (144 n. Chr.).
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Erforderlich ist vielmehr ein singularisches, in Vers 288 wie in B 35,3 zwischen der Mittelzäsur und dem Vers-Schluß βένθος ἵκηται einzusetzendes Attribut, das einen plausiblen Ausgangspunkt sowohl für die Korruptel ὑπερβατὰ βένθε᾽ ἵκηται in 288 als auch für die Korruptel ἐνέρτατον ἵκετο βένθος in B 35,3 dar‐ stellt. Es gibt in der Tat ein Adjektiv, das beide Bedingungen erfüllt: ὑπέρβαθυς „übertief“. Zum einen steht das Adjektiv ὑπέρβαθυς sozusagen auf der Schnittstelle zwischen ὑπερβατός und ἐνέρτατος: Seine Lautgestalt kommt der des in 288 überlieferten ὑπερβατός sehr nahe, seine Bedeutung entspricht weitgehend der‐ jenigen von ἐνέρτατος. Zum andern ergibt sich hinsichtlich des Numerus – gegenüber den beiden überlieferten Adjektiven ὑπερβατός und ἐνέρτατος – bei ὑπέρβαθυς gerade der entgegengesetzte Befund: Die Singular-Form ὑπέρβαθυ weist eine offene kurze Endsilbe auf, während die beiden Schlußvokale des Plurals ὑπερβάθεα – in Sy‐ nizese zusammengefaßt – als eine Länge zu messen wären.20 An unserer Stelle kommt demnach aus metrischen Gründen vor βενθ- allein die Neutrum-Sin‐ gular-Form von ὑπέρβαθυς in Betracht. Die Entscheidung für ὑπέρβαθυς er‐ möglicht es also, den in B 35,3 überlieferten und aus inhaltlichen Gründen ein‐ deutig vorzuziehenden singularischen Numerus von βένθος zu bewahren. Demnach ist sowohl in Vers 288 als auch in B 35,3 nach der Mittelzäsur zu lesen: ὑπέρβαθυ βένθος ἵκηται.
Nicht nur der Singular betont die Singularität des Ortes, den der Streit auf dem Höhepunkt seiner Macht erreicht hat: Vielmehr fügt die Junktur ὑπέρβαθυ βένθος als figura etymologica zwei stammverwandte Wörter zusammen und macht so die Tiefe der Tiefe noch sinnfälliger. Die gleiche Stilfigur findet sich mit einem strukturell baugleichen ὑπερ-Kompositum in Vers 744 des Gefesselten Prometheus, einer Tragödie, deren Nähe zur Empedokleischen Sprache auch sonst vielfach belegt ist:21 σὲ τὸν σοφιστήν, τὸν πικρῶς ὑπέρπικρον …
20 21
M. L. West, Greek Metre, Oxford 1982, 13: „Two vowels cannot contract into one short, unless the first is consonantalized“; im Griechischen können nur ι und υ konsonantisch werden. Martin / Primavesi (1999) 240 Anm. 5.
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Man könnte einwenden, daß ὑπέρ angesichts seiner räumlichen Grundbedeu‐ tung nicht besonders geeignet ist, ausgerechnet den Begriff der Tiefe zu ver‐ stärken. Aber dieser an sich berechtigte Einwand schlägt an den beiden Empe‐ dokles-Stellen nicht durch. Hier soll nämlich, anders als es das in B 35,5 eingedrungene ἐνέρτατον suggeriert, nicht lediglich festgestellt werden, daß der Streit regelmäßig an eine sehr tiefe Stelle gelangt; vielmehr soll deutlich werden, daß er mit seiner Invasion regelmäßig zu weit geht und damit stets wieder an den Wendepunkt stößt, von dem aus die Liebe wieder erstarken und ihn zu‐ rückdrängen wird. Dient somit das Präfix ὑπερ- in dem von Empedokles gebil‐ deten Kompositum nicht zur rein quantitativen Steigerung der Tiefe, sondern zur Bezeichnung eines Übermaßes, einer Übertretung, dann besteht auch keine Spannung zwischen „über“ und „tief“. Das Adjektiv ὑπέρβαθυς ist allerdings so selten, daß kein Wörterbuch es ver‐ zeichnet – auch nicht das 1996 erschienene revidierte Supplement zum Greek-English Lexicon von Liddell–Scott–Jones. Die einzige Belegstelle ver‐ danken wir der Gelehrsamkeit des Byzantiners Tzetzes, der die Verse 137 f. der Aristophanischen Frösche (εὐθὺς γὰρ ἐπὶ λίμνην μεγάλην ἥξεις πάνυ / ἄβυσσον) wie folgt paraphrasiert: εὐθὺς (v. 1. εὐθὺ) γὰρ επὶ λίμνην ἥξεις πάνυ ἄβυσσον καὶ ὑπερβαθυτάτην.22 In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß Tzetzes aus dem Werk des Empedokles ausgiebiger zitiert als jeder andere Autor nach Simplicius.23 Auch kennt er Verse und Stellenangaben, die uns sonst nirgends überliefert sind: Er allein vermag zu den Zitaten B 6 und B 134 die Fundstellen anzugeben, näm‐
22 23
W. J. W. Koster, Scholia in Aristophanem, Pars IV: Jo. Tzetzae Commentarii in Aristo‐ phanem, Fasc. III continens Commentarium in Ranas et in Aves; Argumentum Equitum, Groningen 1962, 741. B 6,1 – 3: Exeg. in Iliad. p. 53,23 – 25 Hermann. – B 6,2 – 3: Schol. in Carm. Iliac. (zu Ho‐ merica Vers 138), p. 59 Schirach. – B 8,1+3 (Paraphrase): Exeg. in Iliad. p. 54,25 – 26 Hermann. – B 8,3: Schol. ad Proleg. Allegor. Iliad. 285, p. 376 Boissonade. – B 17,6 – 8: Schol. in Carm. Iliac. (zu Homerica Vers 138), p. 59 Schirach. – B 50: Allegor. Iliad. O (15), Vers 86, p. 183 Boissonade. – B 57,1: Schol. in Lycophr. (zu Alexandra 507) II 183,13 – 15 Scheer. – Schol. in Lycophr. (zu Alexandra 711) II 232,27 – 28 Scheer. – Schol. ad Allegor. Iliad. D 33, p. 101 Boissonade. – B 61,2a: Schol. in Carm. Iliac. (zu Homerica Vers 138), p. 59 Schirach. – B 105,3: Exeg. in Iliad. p. 46,29 Lolos. – B 111,1 – 9: Hist. Nr. 58 (2. Tausend, Vers 909 – 917); p. 79 Leone. – B 112,4: Exeg. in Iliad. (Einl.) p. 29,24 – 25 Hermann. – B 122,4: Exeg. in Iliad. p. 44,29 – 45,1 Lolos. – Proleg in Aristoph. I, Z. 115 – 116; p. 28 Koster. – Hist. Nr. 428 (12. Tausend, Vers 569); p. 492 Leone. – B 134,1 – 5: Epist. 98; p. 143,16 – 20 Leone. – Hist. Nr. 464 (13. Tausend, Vers 74 – 78); p. 515 – 516 Leone. – B 134,4 – 5: Hist. Nr. 143 (7. Tausend, Vers 517 – 518); p. 276 Leone.
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lich das erste bzw. dritte Buch der Φυσικά;24 er allein zitiert einen Empedoklei‐ schen Vers (B 50), in dem das Wirken der Iris beschrieben wird.25 Aber mag nun die Verwendung des seltenen Wortes ὑπέρβαθυς durch Tzetzes eine Empedokles-Reminiszenz sein oder nicht – ausschlaggebend ist die Tat‐ sache, daß, wenn dieses Adjektiv auch erst im 12. Jh. n. Chr. bezeugt ist, so doch die Wortbildung, der es folgt, alt ist. Alter zwar und häufiger als die Verstärkung eines genuinen Adjektivs durch das Präfix ὑπερ ist die Adjektivbildung durch Verbindung des Präfixes mit einem Substantivstamm (Paradigma: ὑπέρβιος) oder einem Verbalstamm (Paradigma: ὑπεραής). Aber schon bei Aischylos findet sich die Wortbildung ὑπέρπολυς (Pers. 794) und der Autor des Gefesselten Pro‐ metheus bildet, wie wir sahen, ὑπέρπικρος. Also spricht auch formal nichts gegen die Möglichkeit, daß Empedokles, der dem Neologismus nicht weniger zugetan war als die frühe Tragödie, das Adjektiv ὑπέρβαθυς gebildet haben kann. 6
Die Emendation ὑπέρβαθυ βένθος ἵκηται ermöglicht es schließlich, die Genese der Korruptel ὑπερβατὰ βένθε᾽ ἵκηται in Vers 288 ebenso schlüssig zu erklären wie die Genese der Korruptel ἐνέρτατον ἵκετο βένθος in B 35,3. Das neologische und wohl überhaupt singuläre Adjektiv ὑπέρβαθυ dürfte wegen seiner oxymoronhaften Junktur von „über“ und „tief“ auf spätere Leser paradox, ja anstößig gewirkt haben. Es lag nahe, den ungewöhnlichen Ausdruck im Sinne jeweils einer seiner beiden Bedeutungskomponenten zu erklären, wo‐ möglich zu ersetzen. So opferte man in dem Überlieferungszweig, den der Papyrus repräsentiert, in Vers 288 die Tiefe der Überschreitung und ersetzte ὑπέρβαθυ durch das ge‐ läufige, überdies ähnlich klingende ὑπερβατόν, was zunächst auf *ὑπερβατὸν βένθος ἵκηται führte. Diese Änderung bewirkte aber, daß vor βένθος eine po‐ sitionslange Silbe zu stehen kam, die das Metrum zerstörte. Dieser Fehler konnte durch zweierlei Notbehelfe behoben werden: Entweder man setzte Adjektiv und Beziehungswort in den Plural, oder man schrieb statt βένθος ἵκηται vielmehr ἵκετο βένθος. In dem Überlieferungszweig, dem der Papyrus angehört, entschied man sich (jedenfalls in Vers 288) für die erste Möglichkeit, woraus schließlich das überlieferte ὑπερβατὰ βέν[θε᾽ ἵκηται] resultierte. 24 25
Zu B 6: Exeg. in Iliad. (zu A 1: θεά) p. 53,23 – 25 Hermann: ἐκ τοῦ πρώτου τῶν Φυσικῶν Ἐμπεδοκλέους. – Zu B 134: Hist. Nr. 143, 7. Tausend, Vers 514, p. 276 Leone: Ἐμπεδοκλῆς τῶι τρίτωι τε τῶν Φυσικῶν. B 50: Allegor. Iliad. O (15), Vers 86, p. 183 Boissonade.
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Auf viel höherem Niveau steht der Emendationsversuch, den in B 35,3 der Überlieferungszweig bewahrt hat, dem das von Simplicius benutzte Exemplar entstammt. Ein gelehrter Grammatiker,26 der in ὑπέρβαθυ lediglich einen – in‐ adäquaten – Ausdruck für die tiefste Tiefe sah, ersetzte diesen durch den der epischen Sprache vollkommen gemäßen, aber (im Gegensatz zum Komparativ ἐνέρτερος) höchst seltenen Superlativ ἐνέρτατον. Bezeichnenderweise ist uns dieser Superlativ (abgesehen von einer Hesych-Glosse)27 sonst nur durch eine Emendation Zenodots bezeugt, der in dem Iliasvers 5 (E) 898 statt ἐνέρτερος Οὐρανιώνων vielmehr ἐνέρτατος Οὐρανιώνων lesen wollte.28 Daß *ἐνέρτατον βένθος ἵκηται unmetrisch wäre, konnte dem Grammatiker nicht verborgen bleiben. Da nun die Umsetzung in den Plural schlecht zum Superlativ gestimmt hätte, wählte er den anderen der beiden möglichen Notbehelfe und schrieb ἐνέρτατον ἵκετο βένθος.29 Sobald ὑπέρβαθυ durch ein Adjektiv der o-Deklination verdrängt war, mußte, wer den richtigen Modus bewahrte, den falschen Numerus einführen und um‐ gekehrt: So kombinierte man entweder den falschen Plural mit dem richtigen Konjunktiv oder den falschen Indikativ mit dem richtigen Singular. Erst nachdem wir beide Fehlkombinationen kennen, sind wir in der Lage, den au‐ thentischen Vers-Schluß, in dem der inhaltlich angemessene Singular βένθος und der syntaktisch notwendige Konjunktiv ἵκηται vereint sind, in beiden Versen wiederherzustellen:
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Für gelehrte Arbeit am Empedoklestext sind in den sechziger Jahren des 20. Jahrhun‐ derts zwei neue Belege bekannt geworden: a) 1962 erkannte M. L. West, CR N. S. 12, 120, daß in einem Grammatikerpapyrus aus ptolemäischer Zeit (Pap. Ibscher 2) neben einem Odysseevers auch der Empedokles-Vers B 115,6 zitiert wird; der Grammatiker will mit den (gegen die Regel) kurzen Endsilben des Akk. pl. der a-Deklination (μυρίας ὧρας) die prosodische Kürzung (συστολή) illustrieren. b) 1967 entzifferte H. Hunger, Jahrb. d. Österr. byz. Ges. 16, 1 – 33, auf zehn Blättern einer Wiener Palimpsest-Hand‐ schrift Reste von Herodians Καθολικὴ προσωιδία; in fr. 9 (Hunger) weist Herodian darauf hin, daß bei Empedokles im zweiten Buch der Katharmoi das α in dem Adjektiv μανός lang gemessen werde, was auch an der Art der Komparativbildung deutlich werde; zum Beleg zitiert er zwei bisher unbekannte Empedokles-Verse (Fr. 85 Inwood mit CTXT-82). Hesych ε 2938; II 96 Latte. Scholia Graeca in Homeri Iliadem II 120 Erbse (eine Nachricht des Aristonikos). Die sich daraus ergebende Diskrepanz der Modi im Temporalsatz mochte er für tolerabel halten, da in Homerischen Gleichnissen ebenfalls Nebensätze vorkommen, in denen Konjunktiv und Indikativ gemischt sind – wenn auch in umgekehrter Reihenfolge, d. h. aufgrund eines Übergangs von der Hypotaxe in die Parataxe. Dieser scheinbare Paral‐ lelfall hat auch moderne Erklärer dazu verführt, die Modusmischung in B 35,3 – 4 für akzeptabel zu halten; vgl. hierzu Primavesi (1998) 73 f.
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288 ἀλλ᾽ ὅτε δὴ Νεῖκος μὲν ὑπέρβαθυ βένθος ἵκηται B 35,3 κεῖνον ἐπεὶ Νεῖκος μὲν ὑπέρβαθυ βένθος ἵκηται.
Universität München
Oliver Primavesi Andreas Patzer
6. Platon über den Ursprung der Eleaten und Herakliteer Für Monika
Es gibt wohl kaum eine Stelle im ganzen Corpus Platonicum, die bekannter und berühmter wäre als jene Passage im Sophistes, wo der eleatische Fremdling, kurz bevor er sich an die Prüfung des parmenideischen Satzes vom Nichtsein des Nichtseienden wagt, einen Überblick über die Seinsvorstellungen der früheren Denker gibt. Der eleatische Fremde läßt sich dort p. 242ce folgendermaßen ver‐ nehmen: „Ein Märchen scheint mir jeder von ihnen uns zu erzählen, gleichsam als wären wir Kinder: Der Eine, daß das Seiende dreierlei ist, bisweilen aber einiges davon mitei‐ nander Krieg führt irgendwie, dann aber auch wieder, nachdem ein Freundschafts‐ bund geschlossen, Ehen und Geburten und Aufzucht des Erzeugten ins Werk setzt. Ein anderer, indem er zweierlei namhaft macht, das Feuchte und das Trockene oder das Warme und das Kalte, und dieses zusammenbringt und verheiratet. Die eleatische Schar bei uns wiederum, von Xenophanes und noch früher beginnend, trägt ihre Märchen so vor, als ob nur Eines wäre, was man die Gesamtheit der Dinge nennt. Gewisse ionische und sikilische Musen aber haben später erkannt, daß es am unfehl‐ barsten sei, beides miteinander zu verbinden und zu behaupten, das Seiende ist Vieles sowohl wie auch Eines und wird durch Feindschaft und Freundschaft zusammenge‐ halten. Denn sich entzweiend vereinige es sich immer, sagen die strengeren Musen; die milderen aber haben abgelassen von der Behauptung, es verhalte sich immer so, und sagen, daß das Ganze im Wechsel bisweilen eines sei und freundschaftlich ver‐ bunden durch Aphrodite, bisweilen aber vieles und feindselig gegeneinander wegen irgendeines Streites.“
Es ist kein Wunder, daß diese Stelle, die ich der Einfachheit halber gleich über‐ setzt habe, so bekannt und berühmt ist. Platon gibt hier nichts Geringeres als einen chronologisch-systematischen Überblick über die vorsokratische Seins‐ spekulation, und dieser philosophiegeschichtliche Entwurf, der früheste übri‐ gens, von dem wir wissen, ist, ungeachtet seiner ironisch-parodischen Form, die Erbteil des sokratischen Dialogs ist, von solcher Präzision des Ausdrucks und solcher Schärfe des historischen Blicks, daß er einen Vergleich mit ähnlichen Entwürfen des Aristoteles keineswegs zu scheuen braucht.
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Platon stellt es so dar, daß die Einheitsphilosophie der Eleaten als der ent‐ scheidende Wendepunkt des frühen Denkens aufzufassen ist, auf die die spä‐ teren großen Denkansätze des Heraklit und des Empedokles eine Antwort zu geben versuchen, dergestalt, daß sie die Einheit des Vielen entweder als dau‐ ernden oder als alternierenden Zustand zu bestimmen versuchen. Hätte man diesem platonischen Entwurf nur so viel Vertrauen entgegengebracht, wie man im Falle des Aristoteles stets getan hat! Aber die Philosophiegeschichtsschrei‐ bung des 19. Jahrhunderts, die sich selber gern als kritisch bezeichnete, hat Pla‐ tons Thesen in allen Stücken nahezu auf den Kopf gestellt und Heraklits Philo‐ sophie als eine Philosophie des radikalen Werdens gekennzeichnet, auf die die Seinslehre des Parmenides eine ebenso radikale Antwort gegeben habe … Es ist Karl Reinhardt gewesen, der diese moderne communis opinio, die den Blick auf die Entwicklung der vorsokratischen Philosophie gründlich verstellt, nach‐ drücklich erschüttert, ja widerlegt hat, indem er Heraklit als den Philosophen der Einheit des Gegensätzlichen und die heraklitische Philosophie nicht als Folge, sondern als Antwort auf die parmenideische Seinslehre interpretiert hat. Und wenn sich die Thesen von Reinhardts epochemachendem Buch Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie (Bonn 1916), das während des Ersten Weltkrieges erschien, auch erst eine Generation später durchzusetzen begannen – daß Parmenides das zentrale Ereignis des vorsokratischen Denkens ist und daß die heraklitische Philosophie nicht eine Philosophie des Werdens ist, sondern die Philosophie von der Einheit der Gegensätze, deren Konzeption ohne Parmenides kaum möglich gewesen sein dürfte, dies bezweifelt heute wohl niemand mehr. Mit anderen Worten: Wir sehen heute, nach einem langen Irrweg, die Entwicklung des frühen griechischen Denkens im Grunde nicht an‐ ders, als sie Platon im Sophistes beschrieben hat. Wenn so über die Glaubwürdigkeit und die allgemeine Auffassung des pla‐ tonischen Entwurfs heute weitgehend Einigkeit erzielt ist, so bereitet der pla‐ tonische Text doch – merkwürdig zu sagen – im Einzelnen dem Verständnis noch erhebliche Schwierigkeiten. Ich greife zwei der hauptsächlichen Probleme heraus, um von dem ersten nur kurz, vom zweiten aber eingehender zu handeln. Es steht außer Frage, daß Platon in seinem Überblick über die frühen Denker jeweils ganz konkrete historische Personen im Auge gehabt hat. So nennt er ja die Eleaten samt ihrem Archegeten Xenophanes ausdrücklich mit Namen; und daß sich hinter den ionischen Musen Heraklit, hinter den sizilischen Empedokles verbirgt, ist so offensichtlich, daß es noch niemals bezweifelt worden ist. Nicht ganz so eindeutig läßt sich der Vertreter der Dreiprinzipienlehre er‐ mitteln, der die Aufzählung anführt. Wenn man die stark mythologisch geprägte Ausdrucksweise in Betracht zieht, die Platon hier beobachtet, so läßt sich an
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Hesiod (Theog. 116 – 122) denken, der die Welt aus der Götterdreiheit Chaos, Gaia und Eros hervorgehen läßt; es kann aber auch einer der frühen Mythographen und Genealogen in Frage kommen, vor allem Akusilaos (VS 9 B 1), der die Welt‐ werdung von Chaos, Erebos und Nyx ausgehen läßt, wie auch Pherekydes (VS 7 B 1), der die Göttertrias Zas, Chronos und Chthonie an den Anfang des Wer‐ dens stellt. Wer aber vertritt die Zweiprinzipienlehre, die das Feuchte und Trockene bzw. das Warme und Kalte miteinander verbindet? Die communis opinio denkt hierbei an Archelaos von Athen (VS 60 A 1, 4, 8), für dessen Kosmologie das Begriffspaar ϑερμόν-ψυχρόν als Ursache des Werdens ausdrücklich bezeugt ist. Gleichwohl ist diese Identifizierung alles andere als wahrscheinlich. Nicht nur daß bei Ar‐ chelaos jeder Hinweis auf das von Platon ebenfalls genannte Gegensatzpaar ὑγρόν-ξηρόν fehlt – Platon hätte im folgenden schwerlich sagen können, die ionischen und sizilischen Musen seien „später“ aufgetreten, wenn er bereits hier Archelaos im Auge gehabt hätte, der notorisch jünger gewesen ist als Heraklit und Empedokles. Wie denn auch ganz unerfindlich wäre, wieso Platon in der Aufzählung der kardinalen Denker der Frühzeit ausgerechnet auf diesen of‐ fenbar wenig bedeutsamen Spätling hätte verfallen sollen. Das richtige Ver‐ ständnis der Stelle erschließt sich, wenn man erkennt, daß die von Platon durch ἤ verbundenen alternativen Gegensatzpaare ὑγρόν-ξηρόν und ϑερμόν-ψυχρόν nur Beispiele darstellen, die das Prinzip der Gegensätzlichkeit schlechthin il‐ lustrieren sollen. Man vergleiche hierzu etwa Simplikios, Phys. p. 150,24: ἐναντιότητες δέ εἰσι ϑερμόν, ψυχρόν, ξηρόν, ὑγρὸν ϰαὶ τὰ ἄλλα. Es sind nun aus älterer Zeit zwei Vertreter einer Philosophie bekannt, die die Gegensätze zum Prinzip der Welterklärung erhoben haben: die älteren Pytha‐ goreer und Alkmaion von Kroton. Da die Pythagoreer aber insgesamt nur zehn Gegensatzpaare gelten ließen, die sogenannten Systoichien, in denen die oben‐ genannten Begriffspaare fehlen, so ist der Schluß unabweislich, daß Platon hier Alkmaion im Auge gehabt haben muß, von dem Aristoteles Metaph. p. 986a 30 – 34 ausdrücklich bezeugt, daß er, anders als die Pythagoreer, „jeden beliebigen Gegensatz“ (τὰς τυχούσας ἐναντιότητας) als Prinzip anerkannte. Hierzu stimmt, daß Isokrates an einer viel zu wenig beachteten Stelle seiner Antidosis 268 ebenfalls eine Aufzählung der frühen Philosophen gibt und hierbei ebenfalls Alkmaion als Vertreter der Zweiprinzipienlehre nennt. Wie denn auch die von Platon genannten Gegensatzpaare, vermehrt noch um die Dyas πιϰρόν-γλυϰὐ, in fast unveränderter Reihenfolge in Alkmaions Definition der Gesundheit wie‐ derkehren, die Aetios (VS 24 B 4) referiert. So erweist sich schließlich Platons eigentümlich bildhafte Ausdrucksweise von „im Hause zusammenbringen“ (συνοιϰίζειν) und „zur Ehe herausgeben“ (ἐϰδιδόναι) als eine parodische An‐
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spielung, da sich Alkmaion, als Arzt, besonders eingehend über die Fragen der Zeugung und Geburt ausgelassen hat. Von größerem Gewicht ist ein zweites Problem, das mit Platons Bemerkung über die Eleaten zusammenhängt. Platon behauptet, die eleatische Schar habe mit Xenophanes begonnen „und noch früher“ (ϰαὶ ἔτι πρόσϑεν). Ich kann nicht finden, daß man sich in der einschlägigen Literatur hinreichend über diese Be‐ merkung gewundert hat. Wie? Vertreter der eleatischen Einheitsphilosophie, die älter wären als Xenophanes, dessen Geburt sich mit ziemlicher Sicherheit auf das Jahr 580 fixieren läßt? Aber dann kämen ja allenfalls die milesischen Naturphilosophen in Betracht. Aber Thales, Anaximander und Anaximenes, der übrigens bereits ein Zeitgenosse des Xenophanes ist, haben zwar jeweils ein Urprinzip des Werdens angenommen, jedoch niemals die Einheit des Vielen im Sinne der Eleaten behauptet. Wie denn auch Aristoteles in der Metaphysik und auch sonst die Vertreter der Einprinzipienlehre streng von den eleatischen Ein‐ heitsphilosophen scheidet, die er mit dem Kunstwort ἑνίζοντες zu bezeichnen pflegt. Wenn aber die milesischen Physiologen ausscheiden – wie hat man sich die vorxenophanischen Eleaten vorzustellen? Folgen wir dem einzigen Hinweis, den die gelehrte Literatur an die Hand gibt. Er findet sich in L. Campbells klas‐ sischem Sophisteskommentar (Oxford 1867) und lautet: „This is conceived in the same spirit as the attempt in the Theaetetus to refer the Heraclitean dogma to an unknown antiquity.“ So wie sich der Sophistes auf weite Strecken hin mit der Seinslehre des Par‐ menides auseinandersetzt, so setzt sich der Theätet, der zusammen mit dem Kratylos als eine kritische Vorbereitung auf Platons dihäretische Dialoge auf‐ gefaßt werden kann, auf weite Strecken mit der heraklitischen oder genauer: mit einer heraklitisierenden Lehre vom Flusse aller Dinge auseinander. Sokrates führt diese Diskussion, um die erste These des Theätet, Erkenntnis sei Wahr‐ nehmung, philosophisch auf den Punkt zu bringen und damit zugleich zu wi‐ derlegen. So führt er aus, der Homo-mensura-Satz des Protagoras besage, recht betrachtet, nichts anderes, als daß es kein Sein, sondern nur ein ewiges Werden gebe. Er fährt p. 152e fort: „Und darüber mögen alle Weisen der Reihe nach, außer Parmenides, übereinstimmen, Protagoras, Heraklit und Empedokles, und von den Dichtern die Vortrefflichsten in beiden Dichtungsgattungen, in der Komödie Epicharm, in der Tragödie Homer, der, wenn er sagt ‚Okeanos, der Ursprung der Götter, und die Mutter Tethys‘, behauptet, daß alles erzeugt sei aus dem Flusse und der Bewegung.“
Dieselbe Vorstellung artikuliert Sokrates wenig später p. 160d noch einmal:
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„Und es läuft völlig auf dasselbe hinaus, daß nach Homer, Heraklit und dieser ganzen Ahnenreihe alles nach der Art von Flüssen bewegt wird, nach Protagoras, dem wei‐ sesten, daß der Mensch das Maß aller Dinge ist, und nach Theaitetos, daß, wenn sich dieses so verhält, die Erkenntnis Wahrnehmung ist.“
Und Theodoros nimmt später p. 179e dieselbe Vorstellung noch einmal auf, als er sich darüber ausläßt, daß von den Herakliteern keine befriedigende Auskunft über den Satz vom Werden zu erlangen sei: „Was diese Herakliteer betrifft oder, wie du sagst, Homereer und die noch älteren, darüber kann man sich selbst mit denen in Ephesos, soviele dort kundig zu sein vor‐ geben, nicht mehr in ein Gespräch einlassen als mit Leuten, die von einer Bremse gestochen worden sind.“
So müsse man den Satz selber prüfen, gleichsam als habe man sich dies zur Aufgabe gestellt. Worauf Sokrates p. 180cd entgegnet: „Ganz recht. Haben wir nun nicht diese Aufgabe übernommen von den Alten, die vermittels der Dichtung den Vielen verbargen, daß der Ursprung von allem anderen Okeanos ist und Tethys und so alles im Flusse ist und nichts feststeht, von den späteren sodann, die weiser waren und sich offen erklärten, damit auch die Schuster ihre Weis‐ heit verstünden … und sie nun, belehrt, daß alles sich bewegt, in Ehren hielten?“
Soweit die einschlägigen Zitate. Es ist ein merkwürdiges Spiel, das hier mit der Flußlehre gespielt wird. Sie erhält eine „Ahnenreihe“ (φῦλον), und diese Ah‐ nenreihe reicht von den „Jüngeren“ (ὕστεροι), von denen die Philosophen He‐ raklit und Empedokles namhaft gemacht werden, hinauf bis zu den „Alten“ (ἀρχαῖοι), von denen die Dichter Epicharm und Homer genannt werden. Und da sogar von „noch Älteren“ (ἔτι παλαιότεροι) die Rede ist, so muß man auch noch die Epiker Hesiod, Musaios und Orpheus in Betracht ziehen, die in älterer Zeit, trotz des wohlbegründeten Widerspruchs des Herodot (2, 53), als vorho‐ merische Dichter gelten. Daß diese Vermutung richtig ist, lehrt eine Stelle des platonischen Kratylos, die die Angaben des Theätet auf wünschenswerte Weise ergänzt. Sokrates führt dort p. 402bc aus, daß die heraklitische Lehre vom Flusse aller Dinge alt sei; bereits in den Götternamen Kronos und Rhea sei sie zu finden: „Wie andererseits Homer ‚Okeanos, der Ursprung der Götter‘ sagt ‚und die Mutter Tethys‘. Ich glaube aber auch Hesiod. Es sagt aber irgendwo auch Orpheus: ‚Okeanos, der schönfließende, begann als erster mit der Zeugung, der Tethys, sein Schwester mütterlicherseits, freite.‘ Sieh’ nur, wie dies miteinander übereinstimmt und alles sich auf die Lehre des Heraklit bezieht.“
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Faßt man alle diese Stellen zusammen, wie man darf und muß, da sie sich ge‐ genseitig erläutern, so ergibt sich, daß Platon für die Flußlehre die Ahnenreihe Orpheus – Hesiod – Homer – Epicharm – Empedokles – Heraklit voraussetzt, wobei die Dichter von Orpheus bis Epicharm als Archegeten gelten, während die Vorsokratiker Empedokles und Heraklit als jüngere, gewissermaßen mo‐ derne Vertreter der Flußlehre fungieren. Es wird auch deutlich, wie Platon zu dieser philosophiegeschichtlich einiger‐ maßen gewagten Konstruktion gekommen ist. Als Beweis dienen offenbar Kurzzitate. Im Falle Homers wird ein Vers aus der Ilias (14, 201) angeführt: Ὠϰεανόν τε ϑεῶν γένεσιν ϰαὶ μητέρα Τηϑύν,
während für Orpheus (VS 1 B 2) zwei Verse zitiert werden, deren Herkunft für uns nicht mehr faßbar ist: Ὠϰεανὸς πρῶτος ϰαλλίρροος ἦρξε γάμοιο, ὅς ῥα ϰασιγνήτην ὁμομήτορα Τηϑὺν ὄπυιεν.
Es steht außer Frage, daß es einigermaßen kühn, ja gewaltsam ist, diese Verse auf die Flußlehre zu beziehen, auch wenn man bedenkt, daß den Alten Okeanos ja nicht als Meer, sondern als Fluß galt. Aber dieser unbedenklich-ahistorische Umgang mit Texten gehört in die Zeit und findet sich noch bei Aristoteles wieder, der unsere Kenntnis der vorsokratischen Philosophie durch seine kühnen und nicht selten sogar falschen Textauslegungen nicht weniger ver‐ dunkelt als erhellt hat. Weitere Zitate fehlen. Es kann jedoch nicht den geringsten Zweifel geben, daß Platon auch für die anderen Deszendenten der Flußlehre ähnliche beweis‐ ende Kurzzitate vor Augen hatte, wie er für Orpheus und Homer anführt, und solche in der Regel bei seinen Lesern auch als bekannt voraussetzen durfte, weil diese anders das ganze philosophiegeschichtliche Konstrukt gar nicht hätten verstehen können. In der Tat lassen sich auch selbst in unserer so bruchstückhaften Überliefe‐ rung ohne Schwierigkeit Zitate finden, aus denen sich, jene interpretatorische Großzügigkeit, die man voraussetzen muß, vorausgesetzt, das Theorem der Flußlehre herauslesen läßt. Ich greife, nur um ein Beispiel zu geben, jeweils eine einschlägige Stelle heraus. Hesiod (Theog. 337): Τηϑὺς δ ᾽ Ὠϰεανῷ ποταμοὺς τέϰε δινήεντας,
Epicharm (VS 23 B 2): ἐν μεταλλαγᾷ δὲ πάντες ἐντὶ πάντα τὸν χρόνον,
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Empedokles (VS 31 B 8): ἀλλὰ μόνον μίξις τε διάλλαξίς τε μιγέντων ἔστι.
Von Heraklit schließlich, der dieser ganzen Denkrichtung den Namen gegeben hat, ließ sich passend zitieren, was Platon selbst im Kratylos p. 402a kurz vor der obengenannten Stelle zitiert, um die Flußlehre für Heraklit zu begründen: δὶς ἐς τὸν αὐτὸν ποταμὸν οὐϰ ἂν ἐμβαίης. Es bleibt die Frage, ob ein solcher genealogischer Stammbaum, der einschlä‐ gige Zitate jüngerer Philosophen mit solchen aus älterer Dichtung zusammen‐ stellt und so ein modernes Philosophem als altehrwürdige Dichterweisheit er‐ scheinen läßt, wie für die Flußlehre der Herakliteer so auch für die Seinslehre der Eleaten vorausgesetzt werden kann. Um diese Frage zu beantworten, muß man noch einmal zum Theätet zurückkehren. Sokrates erinnert dort, nachdem die Flußlehre ausführlich besprochen worden ist, an die entgegengesetzte Lehre der Eleaten, die keinerlei Werden, sondern nur das Sein gelten lassen. Beide Hypothesen müsse man prüfen und sich jener anvertrauen, die das Richtige zu behaupten scheine. Und er schließt p. 181b mit den Worten: „Sollte sich aber zeigen, daß beide nichts Rechtes vorbringen, so wäre es ja lächerlich, wenn wir, als einfache Leute, uns selbst zutrauten, etwas zu sagen, so uralte und hochweise Männer jedoch verwürfen!“
Es steht außer Zweifel, daß jene „uralten und hochweisen Männer“ (παμπάλαιοι ϰαὶ πάσσοφοι ἄνδρες) die alten Dichter sind, die die Theoreme der jüngeren Philosophen in ihrer Dichtung bereits vorweggenommen haben. Aber diese Dichter werden an dieser Stelle nicht nur für die Flußlehre, sondern auch für die eleatische Einheitslehre in Anspruch genommen, und also gab es wie für die Herakliteer so auch für die Eleaten eine stammbaumähnliche Ahnenreihe (φῦλον), in der die Philosophie des Parmenides auf alte poetische Archegeten zurückgeführt wurde. Es liegt nun auf der Hand, daß jene Stelle im Sophistes p. 242ce, von der die Untersuchung ihren Ausgang nahm, einen solchen Stammbaum der Eleaten im Auge hat, nur daß die Einzelheiten hier ungleich kürzer und anspielend vorge‐ tragen werden, als dies im Falle der Flußlehre im Theätet geschah. Gleichwohl läßt sich die Form der eleatischen Ahnenreihe, die Platon vorschwebte, noch deutlich genug erkennen. Wie im Falle der Herakliteer beginnt es mit den „Jün‐ geren“. Sie werden hier als „eleatische Schar“ (Ἐλεατιϰὸν ἔϑνος) bezeichnet. Dahinter verbirgt sich, unverkennbar, Parmenides mit seinen beiden Schülern Zenon und Melissos. Demgegenüber dürfte Xenophanes, den Platon als einzigen
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der Reihe mit Namen nennt, bereits zu den „Alten“ gehören, da er unter die Archegeten (ἀρξάμενος) der Einheitslehre gerechnet wird. Jene Unbekannten schließlich, die „noch früher“ (ἔτι πρόσϑεν) auftraten, lassen sich nun ganz ein‐ deutig als Dichter bestimmen, und da diese Dichter vor Xenophanes gelebt haben, so kommen, da an die Lyriker nicht wohl zu denken ist, ausschließlich die frühen Epiker in Betracht, denen die Einheitslehre der Eleaten ebenso ab‐ gewonnen wurde wie die Flußlehre der Herakliteer dem Homer, Hesiod oder Orpheus. Das aber heißt nichts anderes, als daß auch im Falle der Einheitslehre für die einzelnen Mitglieder des Stammbaumes einschlägige Zitate vorauszu‐ setzen sind, die Platon wie auch dem Leser gegenwärtig gewesen sein müssen, auch ohne daß sie eigens aufgeführt wurden. In der Tat lassen sich die einschlägigen Stellen in der Überlieferung denn auch ohne größere Schwierigkeiten bestimmen. Was Parmenides betrifft, so dürfte sich das entscheidende Zitat bei Platon selber im Theätet p. 180e finden, wo Sok‐ rates, von der Flußlehre zur Einheitslehre übergehend, folgenden Vers zitiert (VS 28 B 8,38): οὖλον ἀϰίνητον τελέϑει τῷ παντὶ ὄνομ᾽ εἶναι.
Von Zenon berichtet wiederum Platon im Parmenides p. 128d (VS 29 A 12), daß er in seinem Buche gelehrt habe, die Hypothese von der Einheit des Vielen sei leichter zu beweisen als jene von der Vielheit des Vielen. Und Melissos (VS 30 B 7) erklärt: οὕτως οὖν ἀίδιόν ἐστι ϰαὶ ἄπειρον ϰαὶ ἓν ϰαὶ ὅμοιον πᾶν. Und um in der Ahnenreihe weiter hinaufzusteigen, so ergab sich für Xenophanes selbst‐ verständlich das berühmte Zitat von der Einheit der Gottheit (VS 21 B 23): εἷς ϑεός, ἔν τε ϑεοῖσι ϰαὶ ἀνϑρώποισι μέγιστος.
Und von den vorxenophanischen Epikern ließen sich schließlich passend die altorphischen Verse anführen, auf die Platon in den Gesetzen p. 715e (VS 1 B 6) anspielt: Ζεὺς ἀρχή, Ζεὺς μέσσα, Διὸς δ ᾽ἐϰ πάντα τέτυϰται.
Es gibt jedoch ein viel schlagenderes Zeugnis, das bisher nur merkwürdiger‐ weise keine Aufmerksamkeit gefunden hat. Diogenes Laertios 1.3 (VS 2 A 4) berichtet über Musaios: „Er soll der Sohn des Eumolpos gewesen sein und eine Theogonie und eine Sphaira gedichtet haben als erster: und er behaupte, daß alles aus dem Einen entstanden sei und sich ebendorthin wieder auflöse.“
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Die letztgenannte Bemerkung, die einem Vers nicht der Sphaira, sondern der Theogonie abgewonnen sein dürfte, stellt Musaios, recht betrachtet, als einen Denker dar, der die Einheit des Vielen vertreten hat. Ebendieses Dogma aber ist es, was bei Platon den alten Epikern zugewiesen wird, und so ist die Wahr‐ scheinlichkeit groß, daß auch und gerade dieses (leider verlorene) Zitat aus Mu‐ saios benutzt wurde, um die älteren Epiker zu Vorläufern und Archegeten der eleatischen Einheitslehre zu machen. Wie denn umgekehrt die Existenz dieser Stelle beweist, daß die Ansicht, es habe dergleichen Zitate gegeben, um die Ein‐ heitslehre der Eleaten als urfrühes Dogma darzustellen, ihre Richtigkeit hat. Die Untersuchung hat sich unterderhand erheblich von Platon entfernt. Dies kommt nicht von ungefähr oder aus methodischer Willkür. Es ist vielmehr so, daß die besprochenen platonischen Texte, – jener des Sophistes mehr als jene des Theätet und des Kratylos, aber auch diese – so verkürzt und anspielungsreich gehalten sind, daß sie von sich aus auf einen größeren Sinnzusammenhang ver‐ weisen, vor dessen Hintergrund sie recht eigentlich erst verständlich oder doch jedenfalls verständlicher werden. Man denke etwa an das Rätsel der vorxeno‐ phanischen Eleaten. Was aber heute durch gelehrte Stellenvergleichungen und Kombinationen mühsam erschlossen und ins rechte Licht gerückt werden muß, das muß für Platon und Platons Leser (ich habe bereits mehrfach darauf hinge‐ wiesen) eine allgemein bekannte Überlieferung gewesen sein. Und da wegen der Spezialität, ja Exklusivität des Gedankenzusammenhanges an irgendwelche mündliche Tradition nicht zu denken ist, so ist der Schluß unabweisbar: Platon bezieht sich auf einen Text oder besser auf ein Buch, in dem das eleatische The‐ orem von der Einheit des Vielen und die heraklitisierende These vom Fluß aller Dinge anhand von einschlägigen Zitaten auf die Dichter, besonders auf die epi‐ schen Dichter der alten Zeit, zurückgeführt wurden. Läßt sich ein solcher Text ermitteln? Ich denke ja. Von dem umfangreichen literarischen Werk des Sophisten Hippias von Elis ist lediglich ein einziger Satz wörtlich erhalten. Er lautet (VS 86 B 6): „Hiervon ist das eine vielleicht von Orpheus gesagt worden, das andere von Musaios, von dem einen hier, von dem anderen dort, in Kürze, anderes von Hesiod, anderes von Homer, anderes von anderen Dichtern, manches wiederum in Prosaschriften, manches von Hellenen und manches von Barbaren. Ich aber habe aus alledem das Wichtigste und Verwandte zusammengestellt und werde daraus diese neuartige und vielgestaltige Schrift machen.“
Dieser Satz, in luzidem Ionisch geschrieben und gegen alle konjekturalen Ein‐ griffe in Schutz zu nehmen, verdient entschieden größere Aufmerksamkeit, als ihm bisher zuteil geworden ist.
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Es handelt sich hier, wie das Futurum ποιήσομαι lehrt, um ein Proömium oder besser um den Teil eines Proömiums, in dem das Programm einer Schrift expli‐ ziert wird, deren Titel nicht überliefert ist. Die ganze Passage zerfällt in zwei größere Abschnitte, die durch die pointierte Ichformel ἐγώ-δέ deutlich vonei‐ nander abgesetzt werden. Der erste Abschnitt formuliert, daß, was im Laufe der Schrift geboten wird, nicht neu ist, sondern in der literarischen Überlieferung bereits gesagt worden ist. Das literarische Material, das in Betracht gezogen werden soll, umfaßt so‐ wohl Dichter wie Prosaiker, inländische wie auch ausländische Autoren. Aus‐ drücklich namhaft gemacht werden allein die Epiker Orpheus, Musaios, Hesiod und Homer, die nach den chronologischen Vorstellungen des 5. Jahrhunderts als die ältesten Schriftsteller überhaupt galten und so zugleich auch die größte Au‐ torität für sich beanspruchen konnten. Daß neben diesen Vieren aber die ganze Fülle der damals vorhandenen Literatur herangezogen wurde, die Tragödie und Komödie also ebenso wie die Lehrdichtung, vielleicht auch die Lyrik, des wei‐ teren die Mythographen und Genealogen, Historiker und Fachschriftsteller, hier besonders die Vorsokratiker und wohl auch die Mediziner – diese Auffassung legt die parataktische Aufzählungsstruktur dieses Abschnitts nahe, die nach noch archaischem Verständnis nichts anderes ist als die konkrete Umschreibung einer Totalität. In dieselbe Richtung weist auch die Erwähnung der ausländi‐ schen Literatur, von der hier wohl überhaupt – sehr bedeutsam – zum ersten Male expressis verbis die Rede ist. Aus der ganzen Fülle dieses literarischen Ma‐ terials soll nun vorgeführt werden, was „an verschiedenen Stellen“ (ἀλλαχοῦ) von den einzelnen Autoren „in Kürze“ (ϰατὰ βραχύ) gesagt worden ist. Unter welchen Kriterien diese Auswahl von Kurzzitaten stattfand, lehrt der zweite Abschnitt des Einleitungssatzes. Hippias erklärt hier, daß die „Wichtigkeit“ (τὰ μέγιστα) und die „Verwandt‐ schaft“ (τὰ ὁμόφυλα) für die „Zusammenstellung“ (συνϑείς) der Einzelstellen leitende Kriterien gewesen sind. Was unter den μέγιστα zu verstehen ist, bleibt unbestimmt, und dies weist darauf hin, daß diese „wichtigen Punkte oder The‐ menkreise“, wie man vielleicht paraphrasieren darf, von so vielfältiger Art ge‐ wesen sind, daß sie sich einer genaueren Bestimmung entzogen. Wie denn Hip‐ pias seine Schrift weiter unten ja auch ausdrücklich als „vielgestaltig“ (πολυειδής) bezeichnen wird. Immerhin: Wenn Platon im Hippias maior p. 285cd (VS 86 A 11) Astronomie, Geometrie, Mathematik, Grammatik und jede Art von Altertumsforschung als hauptsächliche Interessengebiete des Hippias be‐ schreibt, so dürfte er, wenigstens in ganz groben Zügen, die zentralen Themen oder besser Oberthemen auch der vorliegenden Schrift umschrieben haben. Präziser ist der zweite Ausdruck τὰ ὁμόφυλα. Er lehrt, daß jeweils eine ganze
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Reihe thematisch verwandter Äußerungen nebeneinandergestellt wurden, um gemeinsam einen wichtigen Punkt zu erläutern. Die ganze Schrift war demnach so angeordnet, daß ein wichtiger Themenpunkt jeweils als Lemma fungierte, dem eine Anzahl einschlägiger Kurzzitate aus verschiedenen Autoren zuge‐ ordnet wurde, – ein für seine Zeit ganz einzigartiges, ja unerhörtes Unterfangen einer enzyklopädischen Anthologie der Wissenschaften, das Hippias mit Recht als „neuartig“ (ϰαινός) rühmen durfte. Es gilt nun, die Konsequenzen zu ziehen. Die allgemeine Denk- und Kompo‐ sitionsstruktur, wie sie sich für die Schrift des Hippias erschließen ließ, stimmt mit den konkreten Vorstellungen, wie sie Platon im Theätet und im Kratylos über die Flußlehre und im Sophistes über die Einheitslehre äußert, so genau überein, wie man es sich nur wünschen kann. Die „Stammbäume“, die Platon für beide Theoreme aufstellt, dergestalt, daß die vorsokratische Philosophie durch Zitate an die älteste Dichtung angeknüpft wird, sind nichts anderes als die „verwandt‐ schaftlichen Zusammenstellungen“ von Kurzzitaten verschiedener Autoren bei Hippias, und die Übereinstimmung geht so weit, daß hier wie dort zur Kenn‐ zeichnung der Sache dasselbe Wort verwendet wird, nämlich φῦλον bei Platon, ὁμόφυλα bei Hippias; die Theoreme selber wiederum sind jeweils nichts anderes als die „wichtigsten Punkte“ (μέγιστα), die diesen Zitatenreihen als Lemmata beigegeben wurden, doch wohl so, daß sie jeweils durch eine schlagende Kurz‐ formel ausgedrückt wurden, die Flußlehre durch eine Wendung wie πάντα ῥεῖ, die Einheitslehre durch eine Wendung wie πάντα ἕν. Mit anderen Worten: Jenes Buch, das als sinnstiftend hinter den verkürzten und anspielenden Äußerungen Platons über den Ursprung der Eleaten und Herakliteer vermutet werden mußte, erweist sich als die enzyklopädische Anthologie des Hippias, deren Einleitungs‐ satz uns ein glücklicher Zufall erhalten hat. Man muß das enzyklopädische Werk des Hippias, das wahrscheinlich den Titel Συναγωγή (VS 86 B 4) trug, richtig würdigen. Der Grundgedanke, der es beherrscht: daß das Neue im Grunde das Alte sei oder im Alten doch zumindest latent vorhanden, ein Gedanke, der aus heutiger Sicht als Gemeinplatz erscheint, war damals neu, und es gehörte die ganze Kraft und der ganze Mut der Sophistik dazu, sich von den vorgegebenen Traditionen geistig so weit zu emanzipieren, daß man die eigene Zeit als eine Moderne gegen das Altertum nicht nur abzu‐ heben, sondern das eine im anderen zugleich auch noch wiederzufinden ver‐ mochte. Und daß Hippias seinen Grundgedanken durch beweisende Zitate zu belegen versuchte, offenbar ohne eigene philosophische Intentionen einfließen zu lassen, auch dies läßt eine historisch-philologische oder kurz: wissenschaft‐ liche Betrachtungsweise erkennen, die sich von der zur gleichen Zeit aufkomm‐ enden allegorischen Textausdeutung vorteilhaft abhebt. Aber natürlich: Strenge
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Philologie im heutigen Sinne ist es nicht, was Hippias hier bietet oder auch nur bieten konnte oder wollte, sondern ein recht freizügiger Umgang mit Einzelzi‐ taten, die ad libitum herangezogen werden und so zu Ergebnissen führen, die historischer Kritik nicht standhalten. Ich würde dies nicht noch einmal betonen, wenn nicht die Gefahr bestünde, die kühnen Interpretationsversuche des Hip‐ pias, da sie so früh in der Tradition angesiedelt sind und dort so versteckt gela‐ gert, allein wegen ihres hohen Alters und aus Unkenntnis ihrer Herkunft schließlich eben doch als das aufzufassen, was sie nicht sind und nicht sein wollen: historisch-kritische Fakten. In der Tat ist der Wissenschaft ein solches Mißverständnis sowohl im Falle der Herakliteer und der Eleaten unterlaufen – in beiden Fällen mit erheblichen Folgen für die Deutung der herakliteischen und eleatischen Philosophie. So hat sich erwiesen, daß die Umdeutung der heraklitischen Philosophie von der Einheit der Gegensätze in eine Lehre des ewigen Werdens älter ist als Platon und auf Hippias zurückgeht; ja es ist nicht einmal ausgeschlossen, daß Hippias sogar der Urheber dieser Umdeutung ist. Aber auch wenn dafür nicht er, sondern die obskuren Herakliteer in Ephesos verantwortlich zu machen sind, die Platon im Theätet erwähnt – Hippias jedenfalls ist es gewesen, durch den diese Inter‐ pretation des Heraklit in die Überlieferung Eingang gefunden hat. Und so ergibt sich das merkwürdige Faktum, daß Hippias’ großzügige Ausdeutung des he‐ raklitischen Flußgleichnisses im Sinne der Flußlehre, die sich Platon spielerisch zu eigen gemacht hat, letzten Endes zu einer Verkennung der gesamten herak‐ litischen Philosophie geführt hat, die sich nur darum so erstaunlich lange halten konnte, weil sie so alt war und ihr Urheber im Dunkel lag. Ganz Ähnliches gilt für die Eleaten. Daß Xenophanes Begründer der eleati‐ schen Philosophie sei, gilt im wesentlichen auch noch heute für ausgemacht. Gleichwohl hat es immer Schwierigkeiten bereitet, die Lehre des Xenophanes mit der parmenideischen Philosophie irgendwie in Einklang zu bringen. Denn die erhaltenen Fragmente des Xenophanes zeigen so wenig eleatische Züge, ja recht eigentlich so wenig Philosophie überhaupt, und die frühe Sekundärüber‐ lieferung weiß so wenig Konkretes hierzu beizusteuern, daß schon früh der Verdacht aufkam, Xenophanes habe mit der eleatischen Philosophie des Par‐ menides im Grunde gar nichts oder doch nicht viel zu schaffen. Dieser Verdacht verstärkt sich nun entschieden, wenn man sieht, daß es Hippias gewesen ist, der Xenophanes als Archegeten der Eleaten gekennzeichnet hat. Es könnte sein, daß Xenophanes von Hippias aufgrund eines Zitats mit derselben großzügigen Un‐ bedenklichkeit in den Stammbaum der Eleaten eingefügt worden ist wie He‐ raklit oder, eher noch, wie Epicharm, Homer, Hesiod und Orpheus in jenen der Flußlehre. Wenn dies der Fall ist (und ich halte es für wahrscheinlich), so wäre
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Xenophanes, anders als die communis opinio will, nicht als Begründer der elea‐ tischen Philosophie anzusehen; statt dessen wäre der Weg frei für eine neue und unbefangenere Würdigung dieses seltsamen und wichtigen religiösen Denkers. Daß von hier aus auch neues Licht auf die vielumstrittene Frage nach der Glaub‐ würdigkeit der Schrift De Melisso Xenophane Gorgia fiele wie natürlich auch auf die Frage nach Ursprung und Originalität der parmenideischen Philosophie, sei nur am Rande bemerkt. Ich komme zum Schluß. Der Philologie stellt sich die schwierige, aber wich‐ tige Aufgabe, die Συναγωγή des Hippias zu rekonstruieren. Eine solche Rekon‐ struktion, zu der Bruno Snell kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges in einem viel zu wenig beachteten Aufsatz den Grund gelegt hat (Die Nachrichten über die Lehren des Thales und die Anfänge der griechischen Philosophie- und Li‐ teraturgeschichte; in: Philologus 96 [1944] S. 170 – 182), ist durchaus möglich. Hat man sich erst einmal einen Blick für die eigentümliche Denk- und Kompositi‐ onsform dieser Schrift gewonnen, so trifft man bei Platon und besonders auch bei Aristoteles und hier wieder besonders in der Metaphysik auf eine gar nicht so geringe Anzahl von Stellen, die sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Hip‐ pias zurückführen lassen, weil dort moderne Philosopheme an konkrete Zitate der alten Dichter und Prosaiker angeknüpft werden, die Aristoteles bekanntlich als πρῶτοι φιλοσοφήσαντες oder πρῶτοι ϑεολογήσαντες bezeichnet. Eine Ge‐ samtbetrachtung aller dieser Stellen, zu denen noch weiteres Material aus spä‐ terer Überlieferung hinzukommt, führt, wie ich mich überzeugt habe und dem‐ nächst darlegen werde, zu dem Ergebnis, daß Platon und Aristoteles die vorsokratische Philosophie gar nicht selten, jedenfalls öfter, als man bemerkt hat, aus der eigentümlichen Perspektive und Optik des Hippias betrachtet haben, die so auch in die spätere Tradition eingegangen ist. Wie das zuging und welche Konsequenzen sich daraus für die Auffassung der vorsokratischen Phi‐ losophie ergeben, dies wollte ich am Beispiel der Herakliteer und Eleaten vor‐ führen, und mit diesen Beispielen soll es denn auch für diesmal sein Bewenden haben.
7. Platons Selbsterwähnungen Für Uvo Hölscher zum 65. Geburtstag
Schon in der Antike ist notiert worden, daß Platon in zweien seiner Schriften den eigenen Namen nennt: ἑαυτοῦ τε Πλάτων οὐδαμόθι τῶν ἑαυτοῦ συγγραμμάτων μνήμην πεποίηται ὅτι μὴ ἐν τῷ Περὶ ψυχῆς ϰαὶ Ἀπολογίᾳ (Diog. Laert. 3.37). Die Stellen sind bekannt, doch mag eine kurze Erinnerung nützlich sein. Zunächst die ‘Apologie’. Sokrates macht geltend, daß viele Angehörige seiner Gefährten beim Prozesse zugegen seien, ohne doch den Vorwurf zu erheben, er verderbe die Jugend; so Kriton, der Vater des Kritobulos, Lysanias, der Vater des Aischines, Antiphon, der Vater des Epigenes, Nikostratos, der Bruder des The‐ odotos, Parhalios, der Bruder des Theages, „Adeimantos hier, der Sohn des Ariston, dessen Bruder Platon hier ist”,
Aiantodoros, der Bruder des Apollodor, und viele andere mehr. (p. 34a) Noch einmal die ‘Apologie’. Sokrates kann als Strafsumme nur eine Mine Silber an‐ bieten. „Platon hier aber, Athener, Kriton, Kritobulos und Apollodor fordern, ich solle mich auf 30 Minen schätzen, sie wollten hierfür bürgen. Ich schätze mich also so ein, und sie werden euch für das Geld vertrauenswürdige Bürgen sein.” (p. 38b)
Schließlich der ‘Phaidon’. Phaidon berichtet Echekrates, welche Athener anwe‐ send waren, als Sokrates starb: Apollodor, Kritobulos, Kriton, Hermogenes, Epi‐ genes, Aischines, Antisthenes, Ktesippos, Menexenos und einige andere, „Platon aber war, glaube ich, krank.” (p. 59b)
Soweit die einschlägigen Stellen. Daß ihnen Aufmerksamkeit gebührt, erhellt allein aus der Tatsache, daß Platon einzig hier das Schweigen gebrochen hat, das er in seinen philosophischen Schriften sonst über die eigene Person breitet. Ein solches Abweichen von selbstgesetzter Norm wäre bedeutsam auch dann, wenn es bei einem weniger bewußt gestaltenden Schriftsteller begegnete als bei Platon, der dergleichen niemals ohne Absicht und Hintersinn tut. Bliebe die Frage zu beantworten, welche Bedeutung den Selbsterwähnungen in ‘Apologie’ und ‘Phaidon’ zukommt.
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7. Platons Selbsterwähnungen
Naheliegend wären zunächst rein biographische Deutungsversuche: Platon habe erwähnt, daß er beim Prozesse anwesend gewesen sei und Bürgschaft ge‐ leistet habe, um zu bekunden, daß er seinen Freundes- und Treuepflichten gegen Sokrates nachgekommen sei; umgekehrt habe er seine Krankheit erwähnt, um sich gegen den Vorwurf zu verteidigen, er habe Sokrates in seiner Todesstunde nicht zur Seite gestanden. Daß solche Erklärungen zu kurz greifen, liegt auf der Hand. Wenn es Platon tatsächlich um dergleichen Treuebekundungen und Rechtfertigungsversuche zu tun gewesen wäre, so hätte er sich schwerlich damit begnügt, seine Person nur dreimal in nur zwei Schriften zu erwähnen, um sie dann auch noch, nach‐ gerade schamhaft, in katalogartigen Namenslisten zu verbergen. Wie es denn überhaupt ganz unantik ist und zu Platons Charakter am allerwenigsten paßt, Persönliches offen in ein philosophisches Sachgespräch einfließen zu lassen. Größeres Gewicht erhält die biographische Betrachtungsweise, wenn man ihr einen historisch-dokumentarischen Sinn unterlegt: Platon habe erwähnt, daß er selbst zugegen gewesen sei, als Sokrates vor Gericht sprach, von seinem Sterben aber nur durch Augenzeugen Kunde erhalten habe, weil er als redlicher Berichterstatter darauf hinweisen wollte, daß ‘Apologie’ und ‘Phaidon’ histori‐ sche Realität in unterschiedlichen Authentizitätsgraden wiedergäben. Doch auch diese Betrachtungsweise führt in die Irre. Gesetzt, die Selbster‐ wähnungen in ‘Apologie’ und ‘Phaidon’ müßten tatsächlich als Historizitäts‐ hinweise verstanden werden, so ist nicht einzusehen, wieso dergleichen in allen anderen Schriften fehlt. Und soll man aus diesem Fehlen auf die Ahistorizität all dieser Schriften schließen? Oder nicht? Das ‘Symposion’ jedenfalls gibt dem Leser mit seiner ausführlichen Beschreibung der Gewährsmänner erheblich de‐ tailliertere quellenkritische Informationen als der ‘Phaidon’. Und weiter: Daß die ‘Apologie’ eine mehr oder minder getreue Aufzeichnung jener Rede ist, die Sokrates tatsächlich vor Gericht gehalten hat, war eine be‐ liebte Anschauung des vorigen Jahrhunderts und ließe sich, als Hypothese, al‐ lenfalls auch heute noch hören. Aber der ‘Phaidon’ als Referat eines historischen Gesprächs? Allein die hochkünstlerische Form dieses Dialogs schließt einen solchen Gedanken von vornherein aus. Damit nicht genug, man wäre ge‐ zwungen, wie seinerzeit die Schottische Schule getan hat, Sokrates die Ideen‐ lehre zuzuschreiben. Aber wie erklärt sich dann die Tatsache, daß diese Lehre bei keinem anderen Sokratiker Spuren hinterlassen hat, ja daß sie Antisthenes sogar ausdrücklich bekämpft? Und Aristoteles behauptet stets und unmißver‐ ständlich, daß die Idee ein platonischer Gedanke sei. Zuletzt ließe sich vermuten, daß Platon, wenn er erklärt, er sei bei Sokrates’ Tode nicht anwesend gewesen, gerade auf die Ahistorizität des ‘Phaidon’ habe
7. Platons Selbsterwähnungen
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hinweisen wollen, während umgekehrt die Bekundung seiner Anwesenheit beim Prozesse die historische Authentizität der ‘Apologie’ verbürgen würde. Aber hier sind dieselben Fragen zu stellen: Wieso tragen gerade diese beiden Schriften und nur diese solche Authentizitätshinweise? Und was darf man aus dem Fehlen solcher Hinweise für die anderen Schriften folgern? Und schließlich: Daß die ‘Apologie’ eine historisch getreue Aufzeichnung der tatsächlichen Ver‐ teidigungsrede ist, ist alles andere als eine glaubwürdige Hypothese. Die mo‐ derne Forschung hat aus der raffiniert antirhetorischen Technik und Tendenz dieses Stückes längst einhellig den Schluß gezogen, daß es sich hier im wesent‐ lichen um ein bewußt und frei komponiertes Kunstwerk Platons handeln muß. Wenn so alle biographisch-historischen Erklärungsversuche scheitern, so bleibt zu fragen, ob den Selbsterwähnungen Platons am Ende nicht ein litera‐ risch-philosophischer Sinn abzugewinnen ist. Oder anders: Will Platon die Selbsterwähnungen als literarischen Gestus verstanden wissen, und hat er durch diesen Gestus darauf hinweisen wollen, daß ‘Apologie’ und ‘Phaidon’ vor allen anderen Schriften in besonderer Weise gedanklich zusammengehören? In der Tat hat eine solche Annahme alle Wahrscheinlichkeit für sich. Um zunächst vom Literarischen zu sprechen, so walten zwischen ‘Apologie’ und ‘Phaidon’ die engsten und auffälligsten Gemeinsamkeiten, denen bisher nur noch nicht genügend Aufmerksamkeit zuteil geworden ist. So ist die ‘Apologie’, die formal als Verteidigungsrede vor Gericht konzipiert ist, zugleich auch die kündende Abschiedsrede eines Sterbenden. Sokrates, nachdem das Todesurteil ergangen ist: „Dies will ich euch, die ihr gegen mich gestimmt habt, prophezeien – ich bin ja schon dort, wo die Menschen am ehesten prophezeien: wenn sie sterben müssen – : Ich be‐ haupte, daß ihr, die ihr mich getötet habt, sogleich nach meinem Tode eine ungleich größere Strafe erleiden werdet, als jene, die ihr mir durch den Tod zugefügt habt.” (p. 39c)
Es würden nun nämlich neue elenktische Philosophen auftreten, die um so un‐ nachsichtiger verfahren würden, als sie jünger seien. „Nachdem ich euch, die ihr gegen mich gestimmt habt, dies geweissagt habe, wende ich mich ab.” (p. 39d)
Hier wird die Grundsituation des ‘Phaidon’ beschrieben, exakt bis in die Wort‐ wahl hinein. Sokrates, nachdem er erklärt hat, warum die Schwäne singen, wenn sie sterben:
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7. Platons Selbsterwähnungen
„Ich glaube, auch ich bin ein Diener desselben Gottes wie die Schwäne und demselben Gotte heilig; ich besitze nicht weniger als sie die Wahrsagekunst von diesem Herrn und wende mich nicht weniger guten Mutes als sie vom Leben ab.” (p. 85b)
Umgekehrt ist der ‘Phaidon’, der als große Vermächtnisrede eines Sterbenden konzipiert ist, auch wieder eine Verteidigungsrede. Sokrates, nachdem Kebes gefragt hat, wie denn der Philosoph den Tod wünschen könne, wenn doch die Götter als gute Aufseher über ihm wachten: „‘Ihr habt recht!’, sagte er, ‘Ich glaube, ihr meint, ich müsse mich hiergegen verteidigen wie vor Gericht.’” (p. 63b)
Und wenig später: „‘Gut denn!’, sagte er, ‘Ich will versuchen, zu euch eine überzeugendere Verteidi‐ gungsrede zu halten als zu den Richtern.’” (ibid.)
Und später noch einmal: „Euch als meinen Richtern will ich nun Rechenschaft ablegen …” (p. 64d)
Und schließlich, nachdem der ganze Beweisgang abgeschlossen ist: „‘So’, sagte er, ‘Simmias und Kebes, verteidige ich mich, daß ich zu Recht nicht be‐ kümmert oder unwillig bin, wenn ich euch und die Herren hier verlasse. Denn ich bin gewiß, daß ich dort nicht weniger als hier gute Herren und Gefährten antreffen werde; die Menge aber glaubt das nicht. Wenn ich nun vor euch überzeugender gewesen bin in meiner Verteidigungsrede als vor den athenischen Richtern, dann ist es gut.’” (p. 69de)
Hier sind die Beziehungen auf die ‘Apologie’ so deutlich, daß sie nachgerade als zitathafte Anspielungen verstanden werden können. Mit diesen auffälligen formalen Parallelen nicht genug. Es finden sich auch die merkwürdigsten inhaltlichen Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Schriften. So enthält die ‘Apologie’ eingehende Überlegungen über den Tod und das Jenseits. Sokrates, in seiner Schlußrede zu den Richtern, die ihn freigesprochen haben: „Von zweien ist das Sterben eines: entweder ist der Tote ein Nichts und hat von nichts auch nur die geringste Empfindung, oder der Tod ist, wie erzählt wird, eine Verände‐ rung und eine Umsiedlung der Seele von hier nach einem anderen Ort.” (p. 40c)
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Und, nachdem beide Möglichkeiten, die nichtmythische und die mythische, sich als gut erwiesen haben: „Und so müßt auch ihr, ihr Richter, guten Mutes sein gegenüber dem Tode …” (p. 41c)
Ganz ähnlich gibt auch der ‘Phaidon’ am Ende einen ausführlichen Bericht über das Schicksal der Seele im Jenseits. Sokrates: „‘Dies’, sagte er, ‘Freunde, muß gerechterweise bedacht werden, daß die Seele, wenn sie unsterblich ist, der Fürsorge bedarf nicht nur in der Zeit, die wir Leben nennen, sondern in jeder Zeit, und jetzt erst erscheint die Gefahr groß, daß sie einer vernach‐ lässigt. Denn wenn der Tod eine Befreiung wäre von allem, wäre es ein Glück für die Schlechten, wenn sie beim Sterben zugleich von ihrem Körper und von der Schlech‐ tigkeit befreit würden zusammen mit der Seele. Jetzt aber, da die Seele unsterblich zu sein scheint, gibt es für sie keine andere Flucht und keine andere Rettung vor dem Schlechten, als daß sie möglichst gut und vernünftig wird.’” (p. 107c)
Und, nachdem ein großer mythischer Entwurf über die Beschaffenheit der Welt und des Jenseits gegeben worden ist: „Fest zu behaupten, daß es sich so verhält, wie ich beschrieben habe, kommt einem Mann, der vernünftig ist, nicht zu. Doch daß es sich so oder so ähnlich um unsere Seelen und ihre Wohnungen verhält, da ja die Seele unsterblich zu sein scheint, dies scheint mir, gehört sich, und es ist lohnend, die Gefahr auf sich zu nehmen, zu glauben, es verhalte sich so …” (p. 114d)
Des weiteren gibt Sokrates in der ‘Apologie’ einen ausführlichen Rechenschafts‐ bericht über sein philosophisches Tun. Auf die fiktive Frage eines Richters, woraus denn die eigentümliche Tätigkeit bestehe, die ihm soviel Feindschaft eingetragen habe, antwortet er: „Der Sprecher hat recht, und so will ich versuchen, euch zu erklären, was es denn ist, das mir den schlechten Namen und die Verleumdung eingetragen hat …” (p. 20d)
Und, nachdem er ausführlich über Ursprung und Wesen seines elenktischen Philosophierens gesprochen hat: „Da habt ihr, Athener, die Wahrheit. Ich habe vor euch in meiner Rede nicht das Ge‐ ringste verborgen oder verschwiegen.” (p. 24a)
Ganz ähnlich gibt Sokrates auch im ‘Phaidon’ einen Rückblick auf seine philo‐ sophische Entwicklung:
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7. Platons Selbsterwähnungen
„‘Keine schlechte Sache’, sagte er, ‘Kebes, verlangst du zu wissen. Denn man muß die Ursache von Werden und Vergehen im Ganzen durchnehmen. Ich will dir hierüber, wenn du willst, meine eigenen Erfahrungen berichten.’” (p. 95d)
Und, nachdem er seine Enttäuschung über die Naturphilosophie ausgedrückt und einen hypothetischen Entwurf der Ideenlehre gegeben hat: „Wenn du zu den Philosophen gehörst, wirst du es, glaube ich, so halten, wie ich sage.” (p. 102a)
Es ließe sich unschwer noch weiteres anführen. So vor allem die Tatsache, daß Sokrates in ‘Apologie’ und ‘Phaidon’ in besonderer Weise mit dem Gott Apollon in Verbindung gebracht wird. Aber genug der Parallelen und Wechselbezie‐ hungen! Sie dürften weniger zahlreich und weniger bedeutsam sein, als sie sind, und böten gleichwohl ein untrügliches Kennzeichen dafür, daß ‘Apologie’ und ‘Phaidon’ als eine zusammengehörige Einheit zu verstehen sind. Um den tieferen Sinn dieser Zusammengehörigkeit recht zu verstehen, ist es nötig, den Blick von den Gemeinsamkeiten auf die Unterschiede zu richten, die innerhalb dieser Gemeinsamkeiten zwischen beiden Werken bestehen. Sie fallen sofort in die Augen, wenn man die einschlägigen Stellen, die in Übersetzung und Referat vorgeführt wurden, noch einmal betrachtet. Zuerst der Gestus der Selbsterwähnung, von dem die Untersuchung ihren Ausgang genommen hat: Die ‘Apologie’ spricht von Platons Anwesenheit, der ‘Phaidon’ von seiner Ab‐ wesenheit. Sodann das Formale: Die ‘Apologie’ ist als Rede konzipiert, der ‘Phai‐ don’ als Dialog. Schließlich das Inhaltliche: Die Jenseitsüberlegungen der ‘Apo‐ logie’ wissen nichts von der Unsterblichkeit der Seele, jene des ‘Phaidon’ setzen sie voraus. Und die Rechenschaftsberichte: Der Sokrates der ‘Apologie’ gelangt durch einen göttlichen Orakelspruch zur Erkenntnis des radikalen Nichtwis‐ sens, und so gerät ihm Philosophie zu einem rein praktisch-pädagogisch aus‐ gerichteten Frageverfahren, dem es um nichts anderes zu tun ist als um die Destruktion von Wissensanmaßung; dagegen gelangt Sokrates im ‘Phaidon’, ausgehend vom Scheitern der Naturphilosophie, durch das mathematische Ver‐ fahren der Hypothese zur Begründung der Ideenlehre, die eine wissenschaft‐ liche Erkenntnis des Seienden zu leisten verspricht. Gerade das letztgenannte Beispiel macht deutlich, warum Platon ‘Apologie’ und ‘Phaidon’ durch so vielfältige formale und inhaltliche Bande miteinander verknüpft hat, wie sie innerhalb seines gesamten Werkes ohne Beispiel sind. Es werden in diesen beiden Schriften zwei grundsätzliche Entwürfe einer philoso‐ phischen Methode gegeben, die voneinander wesentlich verschieden und zu‐ gleich eng aufeinander bezogen sind, indem der zweite Entwurf eben jene
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Grundfragen zu beantworten unternimmt, die der erste gestellt hatte, ohne eine Antwort zu wissen. Beide Entwürfe geben sich als Entwürfe des Sokrates. Nichts wäre jedoch verfehlter, als hieraus eine historische Entwicklung des sokratischen Denkens rekonstruieren zu wollen, wie es seinerzeit die Schottische Schule getan hat. Es ist heute unstrittig, daß die Ideenlehre oder besser Ideenhypothese, wie sie der ‘Phaidon’ vorstellt, einen oder vielmehr den einen entscheidenden Grund‐ gedanken der platonischen Philosophie expliziert. Und umgekehrt hat die ge‐ genläufige Gemeinsamkeit zwischen beiden Schriften nur dann einen Sinn, wenn die ‘Apologie’ ihrerseits nicht eine Vor- oder Frühstufe platonischer Phi‐ losophie repräsentiert, sondern jenen philosophischen Standpunkt artikuliert, den Sokrates vertreten hat. Hiernach leuchtet unmittelbar ein, daß Platon die ‘Apologie’, eben weil sie einen vorplatonischen sokratischen Standpunkt repräsentiert, als einzige von allen seinen Schriften nicht als Dialog, sondern in Form einer Verteidigungsrede komponiert hat, so daß Sokrates Gelegenheit erhält – dieses eine Mal Gelegen‐ heit erhält – , unmittelbar und in größerem Zusammenhang über sich selbst zu sprechen. Umgekehrt ist es kein Zufall, wenn der ‘Phaidon’, der die platonische Ideenlehre begründet, nicht mehr die Form eines partnerschaftlichen Gesprächs aufweist, wie sie in den vorhergehenden Dialogen vorherrschte, sondern die Form des Lehrgesprächs neu entwickelt, in dem einer wissend mitteilt, was die anderen nicht wissen. Ähnliches gilt auch für die Darstellung der Sokratesgestalt. Die ‘Apologie’, wenn sie auch nicht die historische Verteidigungsrede darstellt, zeichnet Sok‐ rates doch bewußt in historischem Rahmen. Demgemäß versichert Sokrates mehrfach, er spreche jetzt nicht anders, als er es immer getan habe. So gleich am Anfang der Rede: „Wenn ihr hört, daß ich mit denselben Worten spreche, mit denen ich auch auf dem Markt und bei den Tischen der Geldwechsler zu sprechen gewohnt bin, … wundert euch nicht und macht deswegen keinen Lärm!” (p. 17c)
Und später, beim Verhör des Meletos, noch einmal: „Ihr aber, erinnert euch daran, worum ich euch zu Beginn gebeten habe: keinen Lärm zu machen, wenn ich in gewohnter Weise meine Worte setze!” (p. 27ab)
Dieser historische Einschlag bewirkt, daß die ‘Apologie’ immer die Tendenz hat, von der Rede in den Dialog umzuschlagen (und dies im Verhör des Meletos einmal auch wirklich tut), so daß schließlich statt einer Verteidigung, der es doch auf rhetorisch-psychagogische Überredung ankommen müßte, eine elenktische
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7. Platons Selbsterwähnungen
Prüfung von Richtern und Publikum herauskommt, die ebenso un- und anti‐ rhetorisch wie philosophisch ist. Der ‘Phaidon’ dagegen, wiewohl ebenfalls auf das stärkste an Sokrates’ Person interessiert, läßt solch historisches Kolorit bei‐ seite und stilisiert Sokrates statt dessen ins Mythisch-Heroische. Und Platons Kunst geht so weit, daß er auch auf diese Metamorphose durch einen literari‐ schen Gestus hingewiesen hat, wenn er Sokrates am Ende des philosophischen Gesprächs sagen läßt: „Mich aber ruft nun, würde vielleicht ein tragischer Dichter sagen, die Schicksalsnot‐ wendigkeit.” (p. 115a)
Der elenktische Sokrates, von dem Platon sagt, er habe seine Verteidigungsrede gehört, und der mythisch-heroisierte Sokrates, der, kurz vor seinem Tode, die Ideenlehre verkündet, als Platon „krank” war – dieses spielerisch-tiefsinnige Verstecken und Offenbaren gedanklicher Beziehungen durch literarischen Gestus: das ist Platon ganz. Man bekäme bedeutsame Aufschlüsse über Sinn und Absicht seines Denkens, wollte man auf dergleichen Gesten nur mehr achten.
8. Aἰσχίνου Μιλτιάδης Für Uvo Hölscher zum 60. Geburtstag in Dankbarkeit
E. Lobel hat im 39. Band der “Oxyrhynchus Papyri”1 unter Nr. 2889 und 2890 neue Bruchstücke eines Dialogs veröffentlicht, die er überzeugend dem “Milti‐ ades” des Sokratikers Aischines zuweisen konnte, so dass es jetzt möglich ist, die literarische Form, den äusseren Rahmen und den gedanklichen Gehalt dieses Gesprächs um einiges besser zu überblicken, als es die karge Überlieferung bisher erlaubte. Die literarische Form. Die neuen Papyrusfragmente enthalten Erzählformen wie: “sagte ich”2 oder “antwortete ich”,3 woraus eindeutig hervorgeht, dass der “Miltiades” ein dihegematischer Dialog gewesen ist. Es spricht im übrigen alles dafür, dass Sok‐ rates der Erzähler gewesen ist: Sokrates ist im “Alkibiades”4 ausdrücklich als Erzähler bezeugt und lässt sich für die “Aspasia”,5 den “Kallias”6 und den “Te‐ lauges”7 mit grosser Wahrscheinlichkeit als Erzähler erschliessen; wie denn
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London 1972, S. 47 – 50. Pap.Oxy. 2890 (back), Zeile 2. Ebenda (front), Z. 7. Vgl. hierzu B. Effe, “Platons ‘Charmides’ und der ‘Alkibiades’ des Aischines von Sphettos”, Hermes 99 (1971) S. 198 – 208; K. Gaiser, “Protreptik und Paränese bei Platon”, Tübinger Beiträge zur Altertumswissenschaft 40 (1959) S. 70 – 95; R. Applegate, “The Alcibiades of Aeschines of Sphettus”, Diss. Princeton 1949; A. E. Taylor, “Aeschines of Sphettus”, in: Philosophical Studies, London 1934, S. 10 – 19; H. Dittmar, “Aischines von Sphettos”, Philologische Untersuchungen 21 (1912) S. 97 – 159; H. Krauss, “Aeschinis Socratici reliquiae”, Leipzig 1911, S. 62 – 66; K. F. Hermann, “Disputatio de Aeschinis Socratici reliquiis”, Göttingen 1850, S. 21 – 24. Hierüber zuletzt B. Ehlers, “Eine vorplatonische Deutung des sokratischen Eros. Der Dialog ‘Aspasia’ des Sokratikers Aischines”, Zetemata 41 (1966), wo weitere Literatur verzeichnet ist. Vgl. hierzu jetzt H. Allmann, “Zum Dialog ‘Kallias’ des Sokratikers Aischines”, Philo‐ logus 116 (1972) S. 213 – 253, wo weitere Literatur. Vgl. hierzu Taylor, a. a. O., S, 23 – 27; Dittmar, a. a. O., S. 213 – 244; Krauss, a. a. O., S. 102 – 113; Hermann, a. a. O., S. 24 – 29.
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8. Aἰσχίνου Μιλτιάδης
Taylor8 scharfsinnig bewiesen hat, dass Aischines überhaupt alle seine Dialoge Sokrates in den Mund gelegt hat, weil anders Menedem und Idonmeneus schwerlich die Witz- oder Klatschgeschichte hätten aufbringen können, er habe Schriften des Sokrates, die er von Xanthippe erhalten, unter eigenem Namen als die seinen herausgegeben. Aischines dürfte die dihegematische Form des Dia‐ logs, über deren kompositorische Schwerfälligkeit sich Platon im “Theätet” p. 143c auslässt, deswegen bevorzugt haben, weil es ihm besonders auf die Dar‐ stellung der äusseren Szenerie ankam. Der äussere Rahmen. Die neuen Fragmente geben Auskunft auch über die äusseren Bedingungen, unter denen das Gespräch stattfand. Zunächst die Personen. Sokrates nennt eingangs in Pap.Oxy. 2889 der Reihe nach Hagnon, Euripides und Miltiades als Gesprächspartner; Euripides und Miltiades erwähnt er noch einmal 2890 (back), so dass kein Zweifel sein kann, dass diese beiden auch im weiteren Verlauf des Gesprächs anwesend gewesen sind; für Hagnon wird man dasselbe voraussetzen dürfen. Andere Personen sind nicht bezeugt und lassen sich auch nicht erschliessen. Hagnon wird in Pap.Oxy. 2889 vorgestellt als “des Theramenes Vater”.9
Hagnon, der in sokratischer Literatur anderwärts nicht erwähnt wird, hat vom Beginn der dreissiger Jahre bis zum Ende des Peloponnesischen Krieges im po‐ litischen Leben Athens auf Seiten der gemässigten Oligarchie als Stratege, Ko‐ lonisator, Gesandter und Probule eine hervorragende Rolle gespielt, die jener seines berühmten Sohnes an Bedeutung kaum nachsteht. Er fügt sich so als eine 8 9
A.a.O., S. 8. Die einschlägigen Testimonien bei Dittmar, a. a. O., S. 248. Z. 7 / 8. Quellenangaben zur Person bei J. Kirchner, “Prosopographia Attica”, 1. Bd., Berlin 1901, Nr. 171; vgl. J. Sundwall, “Hagnon”, RE 7 (1912) Sp. 2208 f. (Nr. 2), wo weitere Literatur verzeichnet ist. Hagnon ist 440 / 39 Stratege und nimmt teil an dem Feldzug gegen Samos; 437 / 36 leitet er die Gründung von Amphipolis; 431 / 30 hält er sich als Stratege in Thrakien auf; 431 / 30 stellt er beim Volk den Antrag auf Anklage des Perikles; 429 / 28 ist er wieder als Stratege in Thrakien; 421 beschwört er auf Seiten der Athener den Nikias-Frieden; 413 wird er in das Kollegium der Probulen gewählt; 404 steht er noch in hohem Ansehen beim Volke. Aischines hat übrigens den Theramenes, über den Platon und Xenophon in den sokratischen Schriften schweigen, im “Kallias” als Schüler des Prodikos erwähnt (frg. 34 Dittmar); vgl. hierzu E. Degani, “Arifrade l‘Anassagoreo”, Maia, 12 (1960) S. 190 – 217.
8. Aἰσχίνου Μιλτιάδης
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neue Figur in die lange Reihe namhafter athenischer Politiker, mit denen sich Sokrates bei den Sokratikern mit Vorliebe unterhält. Euripides wird an der gleichen Stelle vorgestellt als “der Dichter”.10
Kein Zweifel demnach, dass es sich um den berühmten Tragiker handelt. Auch er fügt sich zwanglos in die Reihe von Dichtern und Rhapsoden, die bei den Sokratikern nicht selten Gesprächspartner des Sokrates sind. In diesem Zusam‐ menhang verdient Erwähnung, dass der Peripatetiker Ariston von Keos11 zu berichten weiss, dass Sokrates, von Euripides um ein Urteil über das Buch des Heraklit gebeten, zur Antwort gegeben habe, es gefalle ihm, was er verstehe, gar herrlich in dem Buch, nur brauche es eines delischen Tauchers, um die Tiefe der Gedanken voll zu ermessen. Ariston hat diese kostbare Anekdote kaum selbst erfunden, und auch in einer Komödie wird er dergleichen schwerlich ge‐ lesen haben, so dass die Annahme nahe liegt, er habe das Aperçu im “Miltiades” des Aischines gefunden, wo sich Sokrates und Euripides in philosophischem Gespräch gegenüberstanden. Der dritte Gesprächsteilnehmer ist Miltiades. Über ihn gibt das schon be‐ kannte Fragment bei Stobaios II 31, 23 ausführlich Auskunft: Er ist ein Sohn des Stesagoras; als Knabe ertrug er willig die Strapazen der Vorbereitung für die Olympischen Spiele und kämpfte dann in Olympia erfolgreich gegen ältere Knaben, bis man ihn in der Endrunde aus dem Wettkampf nahm; er zeigte sich gehorsam gegen seine Vormünder, obwohl sie unterschiedlichen Alters und Charakters waren; desgleichen gegen seinen Pädagogen, obwohl dieser kein ganz ernstzunehmender Mensch war; im frühen Jünglingsalter erkannte er den Wert der Schweigsamkeit und war hinfort schweigsam; desgleichen liess er sich körperliche Ertüchtigung so angelegen sein, dass er sich von allen Altersge‐ nossen körperlich in der besten Verfassung befindet. Von diesem Manne, dessen Persönlichkeit Aischines so eindringlich schildert, ist anderwärts nirgends die Rede. Die Namen Miltiades und Stesagoras sind allerdings erblich in dem be‐ rühmten attischen Geschlecht der Philaiden, so dass die Vermutung manches für sich hat, auch die beiden von Aischines genannten Männer seien Philaiden, zumal Miltiades bei Aischines als Mann aus vornehmen Hause gezeichnet ist. 10 11
Z. 10 / 11. Die Zeugnisse bei F. Wehrli, “Die Schule des Aristoteles”, 6. Bd. (Lykon und Ariston von Keos), Basel 1952, S. 43 (frg. 29 und 30). Im übrigen stellt bereits die Komödie gern Sokrates und Euripides gegenüber, worüber C. Pascal, “Socrate nei frammenti dei comici greci”, Rendiconti dell’ Istituto Lombardo, Classe di Lettere, Scienze morali e storiche 34 (1923) S. 909 – 920, nachzulesen ist.
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8. Aἰσχίνου Μιλτιάδης
Ein Blick auf den Stammbaum des Geschlechts in Kirchners “Prosopographia Attica”12 lehrt freilich, dass sich die beiden Männer nicht in die bekannte Gene‐ alogie einordnen lassen, weil die Zeugnisse ausdrücklich versichern, Stesagoras, der Bruder jenes Miltiades, der die Perser schlug, sei kinderlos gestorben, so dass er als Vater des aischineischen Miltiades nicht in Frage kommt. Man wird aber kaum fehlgreifen, wenn man sich den Sohn des Stesagoras als jungen Mann aus vornehmen Hause vorstellt, der sich jetzt, nachdem er das Jünglingsalter hinter sich gelassen hat, zum ersten Mal im politischen Leben alleine zu bewähren trachtet. Über die Zeit, da das Gespräch stattgefunden haben soll, bemerkt Sokrates in Pap. Oxy. 2889: “Es fand gerade der Festzug an den Grossen Panathenäen statt”.13
Die Texte geben keine unmittelbare Auskunft darüber, die Panathenäen welchen Jahres Aischines hier im Auge gehabt hat. Das Datum lässt sich aber mit einiger Sicherheit erschliessen: Hagnon konnte schwerlich als Vater des Theramenes vorgestellt werden, wenn Theramenes nicht bereits als führender Kopf der Vierhundert im Jahre 411 allseits bekannt gewesen ist; Euripides verliess Athen im Jahre 408, um nach Makedonien zu gehen; die Grossen Panathenäen wurden jeweils im dritten Jahre einer Olympiade gefeiert, so dass sich, rechnet man alles zusammen, das Jahr 411 als fiktives Datum des Gesprächs ergibt. Im übrigen darf daran erinnert werden, dass auch das xenophontische “Symposion” I ii und das wiedererzählte Gespräch zwischen Sokrates und Parmenides im platoni‐ schen “Parmenides” p. 127a an den Grossen Panathenäen spielen; wie denn sok‐ 12
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A.a.O., 2. Bd., ebenda 1903, S. 91. Lysias nennt in der Rede “Gegen Eratosthenes, den Mörder seines Bruders” § 72 einen Miltiades, der, zusammen mit Philochares und Lysander aus Samos kommend, mass‐ geblich Anteil an jener berüchtigten Volksversammlung gehabt hat, in der Theramenes den Athenern die Verfassung der Dreissig aufzwang; es wäre immerhin nicht unmög‐ lich, dass dieser Miltiades mit jenem des Aischines identisch gewesen ist. Kirchner hat übrigens bei der Aufzählung der einschlägigen Namen (Nr. 10 205 – 10 216) den aischineischen Miltiades nicht aufgeführt. Z. 1 / 4, Dieser Festzug fand alle vier Jahre am 28. Hekatombaion statt. Man versammelte sich in aller Frühe auf dem Kerameikos und zog in feierlicher Prozession, von der der Parthenonfries einen Eindruck gibt, durch das Dipylon über die Agora und den Areopag auf die Burg, um der Athena Polias den heiligen Peplos zu überreichen. Genaueres bei L. Ziehen, “Panathenaia”, RE 18 (1949) Sp. 457 – 493; L. Deubner, “Attische Feste”, Berlin 1932, S. 22 – 35; A. Mommsen, “Feste der Stadt Athen im Altertum”, Leipzig 1898, S. 41 – 159. Die Stelle bei Aischines lehrt übrigens, dass Ziehen irrt, wenn er a. a. O., Sp. 458, behauptet, die Wendung τὰ μεγάλα Παναθήναια sei erst in nachchristlicher Zeit üblich gewesen.
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ratische Dialoge überhaupt gerne während, vor oder nach Götterfesten stattzu‐ finden pflegen. Über den Ort des Gesprächs schliesslich bemerkt Sokrates an gleicher Stelle: “Wir saßen in der Halle des Zeus Eleutherios”.14
In ebendieser Halle findet auch das wiedererzählte Gespräch zwischen Sokrates und Ischomachos im xenophontischen “Oikonomikos” 7. 1 statt, desgleichen der pseudoplatonische “Theages” p. 121a und der apokryphe “Eryxias” p. 392a; wie denn die Stoen bei den Sokratikern nächst den Gymnasien der Lieblingsaufent‐ halt des Sokrates sind, so dass sich der “Miltiades” auch in diesem Punkt in den traditionellen Rahmen sokratischer Literatur einfügt. Fragment 1 Pap. Oxy. Nr. 2889: [ΣΩΚΡΑΤΗΣ·]
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ἐτύγχανεν μ[ὲν] οὖσα πομπὴ τῶ[ν] μεγάλων Παν[α-] ϑηναίων, ἐϰα[ϑή-] μεϑα δὲ ἐν τῆι σ[το-] ᾶι τοῦ Διὸς τοῦ Ἐ[λε]υϑερίου ἐγὼ ϰ[αὶ] Ἅγνων ὁ Θηραμ[έ-] νους πατὴρ ϰα[ὶ] Εὐριπίδης ὁ πο[η-] τής, παρῆλ[ϑε δ᾽] οῦν παρ᾽ αὐτοὺ[ς] ἡμᾶς ε̤[ [Μι ]λτιάδης [ὥσπερ] [ἐπί]τηδες, ϰ[αὶ γάρ] [
]ων ̣[
14) Z. 5 / 7. Das Gebäude wurde nach den Persekriegen erbaut; es lag auf der Westseite der Agora, parallel zur Königshalle, und war mit Sitzbänken und Wandelgängen für das Publikum ausgestattet. Genaueres bei H. Hobein, “Stoa”, RE2 4 (1930) Sp. 22; W. Ju‐ deich, “Topographie von Athen”, 2. Aufl., München 1931, S. 339 f. Da die Zeushalle auf der Agora lag, über die die Panathenäenprozession führte, liegt die Annahme nahe, dass man sich dort versammelte, um den vorbeiziehenden Festzug zu betrachten. Es wäre möglich, dass auch Aischines dieses Motiv verwendet hat, wie es Platon am Anfang des “Staat” oder Xenophon am Anfang des “Symposion” getan haben.
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]σ̣νια̣ ̣ ̣[
4 / 6 zit. Priscian, Inst. gramm. XVIII 266 (II p. 320 Hertz): Αἰσχίνης· ἐϰαϑήμεϑα δὲ ἐν τῆι στοᾶι.
1 / 15 vgl. Ps.-Platon, Eryxias, p. 392a: ἐτυγχάνομεν περιπατοῦντες ἐν τῆι στοᾶι τοῦ Διὸς τοῦ Ἐλευϑερίου ἐγώ τε ϰαὶ Ἐρυξίας ὁ Στειριεύς· εἶτα προσηλϑέτην ἡμῖν Κριτίας τε ϰαὶ Ἐρασίστρατος κτλ.
Aischines, frg. 2 (Dittmar): ἐϰαϑήμεϑα μὲν ἐπὶ τῶν ϑάϰων ἐν Λυϰείωι, οὗ οἱ ἀϑλοϑέται τὸν ἀγῶνα διατιϑέασιν.
Die Ergänzung des Textes bietet insgesamt keine großen Schwierigkeiten, und Lobel hat in der Hauptsache bereits das Richtige gefunden. Zeile 13: Die Lücke wird sich schwerlich befriedigend ergänzen lassen. Es ist nicht wahrscheinlich, dass hier eine Apposition zu Miltiades Platz gehabt hat, die über die Persönlichkeit näheren Aufschluss gab, wie sie sich bei den beiden vorausgehenden Namen findet, weil Miltiades in frg. 2 ausführlich vorgestellt wird, so dass hier vorweggenommen würde, was später gesagt wird. Es wäre indes wohl möglich, dass in der Lücke ein Partizip gestanden hat, das über Art und Weise, wie Miltiades vorüberging, näheren Aufschluss gegeben hat; ebenso gut freilich könnte hier auch eine partizipiale Ergänzung zu ἡμᾶς oder eine adverbiale Ergänzung zu παρῆλ[θε Platz gehabt haben. Zeile 14: Die Lücke am Ende der Zeile lässt sich womöglich durch das Adverb ὥοπερ ergänzen, das sich zwanglos zu dem Adverb [ἐπί]τηδες fügt, das Lobel ohne Zweifel richtig ergänzt hat; dieselbe Wendung z. B. bei Platon, “Laches” p. 183c. Zeile 15: Der Hochpunkt in der Handschrift markiert den Beginn eines neuen Satzes, und wenn vorher gesagt wurde, Miltiades sei vorübergegangen, “als habe er es darauf angelegt”, so dürfte der folgende Satz hierfür die Begründung ge‐ geben haben, so dass es naheliegt, am Ende der Zeile die Kausalkonjunktion ϰ[αὶ γάρ] einzusetzen. Zeile 16: Die Buchstaben […]ων am Anfang der Zeile weisen auf ein Partizip, das sich appositional auf das Subjekt Miltiades bezogen haben wird.
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Der papyrologische Befund zeigt eindeutig, wie bereits Lobel15 gesehen hat, dass es sich hier um den Anfang des Dialogs handelt, und so erfährt man nicht nur, wer an dem Gespräch teilgenommen hat und wann und wo es stattgefunden, sondern auch, wie es dazu gekommen ist. Die Situation ist diese: Man sitzt im Kreise älterer Männer an einem Festtag in einer öffentlichen Halle beisammen, wartet womöglich auf den Festzug und unterhält sich währenddessen; da kommt Miltiades an der Dreiergruppe der sich wartend Unterhaltenden vorüber, “als habe er es darauf angelegt”. Hier bricht der Papyrus ab. Wie ging es weiter? Wenn nicht alles täuscht, schliesst das Fragment bei Stobaios II 31, 23 fast unmittelbar an. Fragment 2 (37 Dittmar; 11 Krauss; p. 10 Hermann). Stobaios, Floril. II, 31, 23 (II p. 205 s. Wachsm.-Hense): Aἰσχίνου Σωϰρατιϰοῦ· οὗτός ἐστι Μιλτιάδης ὁ Στησαγόρου, ὃς παῖς μὲν ὢν ἤσϰει Ὀλύμπια ϰαὶ ϰρείττων ἦν τοὺς πόνους πονῶν ἢ παιδοτρίβης ἐπιτάττων· ἐϰεῖ δὲ μείζους παῖδας αὑτοῦ ϰαὶ πρεσβυτέρους ϰατεμαχέσατο ϰαὶ ἀγωνιζόμενος ὑπὲρ τοῦ στεφάνου ἄϰων ὑπὸ τοῦ παιδοτρίβου ἐξήχϑη. ἔτι δὲ ἐπίτροποι αὐτοῦ ἐγένοντο οὔτε τὰς αὐτὰς ἡλιϰίας ἔχοντες οὔτε τοὺς αὐτοὺς τρόπους· ϰαὶ τούτων ἁπάντων ἦν ϰατήϰοος. παιδαγωγὸς αὐτῶι ἠϰολούϑει οὐ πάνυ σπουδαῖος· ϰαὶ τούτωι οὐδὲν πώποτε ἠναντιώϑη. ταῦτα μὲν παιδὶ ὄντι αὐτῶι ἐπιτετήδευται. ἐπεὶ δὲ μειράϰιον ἤρχετο γίγνεσϑαι, σιωπᾶν ϰαλὸν ἡγήσατο εἶναι· σεσιώπηται αὐτῶι μᾶλλον ἢ τοῖς χαλϰοῖς ἀνδριᾶσιν. τοῦ σώματος αὐτῶι καλὸν ἐδόκει εἶναι ἐπιμελεῖσϑαι· ἐπιμεμέληται τούτου, ὥστ᾽ ἔτι ϰαὶ νῦν τῶν ἡλιϰιωτῶν ἄριστα ἔχει τὸ σῶμα.
12 / 13 Vgl. Plutarch, De audiendo c. 4 (p. 39b Wyttenb.): πανταχοῦ μὲν οὖν τῶι νέωι ϰόσμος ἀσφαλής ἐστιν ἡ σιωπή, μάλιστα δ᾽ ὅταν ἀϰούων ἑτέρου μὴ συνταράττηται μηδ᾽ ἐξυλαϰτῆι πρὸς ἕϰαστον, ἀλλὰ ϰἂν ὁ λόγος ἦι μὴ λίαν ἀρεστός, ἀνέχηται ϰαὶ περιμένηι παύσασϑαι τὸν διαλεγόμενον, ϰαὶ παυσαμένου μὴ εὐϑέως ἐπιβάλληι τὴν ἀντίρρησιν, ἀλλ᾽ ὡς Αἰσχίνης φησί, διαλείπηι χρόνον, εἴτε προσϑεῖναί τι βούλοιτο τοῖς λελεγμένοις ὁ εἰρηϰὼς εἴτε μεταϑέσϑαι ϰαὶ ἀϕελεῖν. Aelius Aristides, De quattuorviris 249 (II p. 324 Dind.); Stobaios, Floril. III 34, 10 (III p. 684 Wachsm.-Hense)
Hier wird Miltiades vorgestellt; das Fragment gehört also sicherlich an den An‐ fang des Dialogs. Vermutlich hat einer der drei Zuschauer (unklar wer) die an‐
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A.a.O., S. 48.
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deren gefragt, wer denn der Jüngling sei, der da vorübergehe, worauf einer mit jenen Worten antwortete, die bei Stobaios erhalten sind. Anschliessend dürfte Miltiades von einem der drei herbeigeholt worden sein, sei es, dass man ihn herbeirief, wie es Menon im gleichnamigen platonischen Dialog p. 82ab mit dem Sklaven hält, sei es, dass man ihn durch einen Sklaven holen liess, wie es Kritias in Platons “Charmides” p. 155ab mit Charmides tut. Die Vorstellung des Miltiades ist ungewöhnlich ausführlich und geht vor allem auf des Vorgestellten Knaben- und Jünglingszeit ein, während vom Man‐ nesalter nur kurz die Rede ist. Gewiss ist das Absicht, und es spricht viel dafür, dass deshalb so ausführlich von der frühen Jugend die Rede ist, weil so im Bio‐ graphisch-Individuellen zugleich das allgemeine Thema des ganzen Gesprächs zur Sprache kommen konnte: die richtige Erziehung der Jugend, genauer: das richtige Verhältnis physischer und moralischer Eigenschaften in der Jugender‐ ziehung – bei den Sokratikern bekanntlich ein Lieblingsthema des Sokrates: Das Gespräch könnte sich hernach ungefähr so entwickelt haben, wie es sich Hermann16 gedacht hat: Sokrates fragt Miltiades, wie er, der doch als trefflich erzogener Jungling gelte, über die Erziehung der Jugend denke, wobei sich als‐ bald herausgestellt haben wird, dass Miltiades ebensowenig wie Hagnon und Euripides in der Lage ist, über diese Frage vernünftig Rechenschaft abzulegen. Es ist möglich, dass im Rahmen dieser Diskussion auch die Bemerkung des Plutarch über die schickliche Schweigsamkeit der Jugend gefallen ist, wie die Interpreten, nachdem Hermann17 dies vorgeschlagen hat, immer wieder ange‐ nommen haben. Wichtiger aber ist, dass Pap. Oxy. 2890 zwei Ausschnitte aus jener Diskussion über die Erziehung wiederzugeben scheint, auch wenn sich wegen der Kürze beider Ausschnitte nicht näher bestimmen lässt, an welcher Stelle des Gesprächs die Texte ihren Platz gehabt haben. Fragment 3 und 4. Liess sich die Zusammengehörigkeit der zwei erstgenannten Bruchstücke nur hypothetisch rekonstruieren, so kann es bei den beiden nächstfolgenden Frag‐ menten keinen Zweifel über einen solchen Zusammenhang geben, weil sich die Texte auf der Vorder- und Rückseite ein und desselben Papyrusblattes befinden. Die überzeugenden Ergänzungen einiger Zeilen in beiden Fragmenten zeigen, dass die Zeile einer Kolumne ungefähr fünfundzwanzig bis dreissig Buchstaben umfasst haben muss. Unklar bleibt dagegen, wieviele Zeilen die Kolumne ent‐ hielt und ob auf die Seite eine oder zwei Kolumnen zu stehen kamen, so dass
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sich nicht genau abschätzen lässt, wie gross der Zwischenraum zwischen beiden Fragmenten gewesen ist. Leider lässt sich auch nicht sicher entscheiden, wie das Blatt in den Kodex eingefügt gewesen ist, so dass die Reihenfolge beider Fragmente unklar bleibt. Lobel unterscheidet nach dem Faserverlauf des Papieres eine Vorder- (“front”) und eine Rückseite (“back”); aber da sich nicht entscheiden lässt, wie die erste Seite des Kodex gelegen hat, ist mit dieser Einteilung nichts gewonnen. So hängt alles davon ab, wie man den geraden linken Rand der Vorderseite, bzw. den geraden rechten Rand der Rückseite beurteilt, der bei Lobel im Anhang auf Tafel IV, bzw. II gut sichtbar ist. Dieser Rand kann der Aussenrand des Blattes gewesen sein, aber auch der Innenrand, an dem die gegenüberliegende Seite befestigt gewesen ist. Im ersten Fall, den Lobel für wahrscheinlich hält, käme die Rückseite des Blattes als recto vor die Vorderseite als verso zu stehen; im zweiten Fall, den die zerfaserte Struktur des Randes nahelegen könnte, wäre die Reihenfolge gerade umgekehrt. Bei solcher Unsicherheit wird man gut tun, beide Fragmente einzeln zu betrachten, ohne die Frage der Reihenfolge zu ent‐ scheiden, zumal sich auch inhaltlich weder auf die eine oder die andere. Weise ein zwingender oder auch nur befriedigender gedanklicher Zusammenhang zwischen beiden Stücken herstellen lässt. Fra gment 3. Pap. Oxy. Nr. 2890 (front): [ οἴϰοϑέν εἰσίν τε [ϰαὶ πλοῦν μέγαν πε-] πλεύϰασιν οὐϰ [ἐμπορίας ἕνεϰεν, ἀλλ᾽] ἵνα τήν τε Ἑλλάδ[α ἐρευνῶσι ϰαὶ] εἴ τίς ἐστιν ἀνὴρ [ἐπὶ σοϕίαι τετιμη-] μένος ἐν τοῖς Ἕλλ[ησιν, ὡς ὅτι] μάλιστα τὸ ἐϰείνω̣[ι δοϰοῦν πυνϑάνων-] ται̣. ἀπεϰρινάμη[ν οὖν αὐτῶι …] ὅτι οὐ ϑαυμάζοιμι [ἄν, εἰ ἄνδρες τοιοῦτοι] τῶι σφωτάτωι τῶν Ἑλ[λήνων τῶν νῦν] παιδεῦσαι ἄνϑρωπον [ἐπιϑυμοῖεν] συγγενέσϑαι, ἀλλὰ ϰαὶ [αὐτὸς ἂν ἐφα-] μην, ὅτι ϰαὶ πλοῦν τοσοῦ[τον ] …[ ]… …ι̣ov τηλιϰ[οῦτος
… ὡρμημένοι- …]
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Der schadhafte Text stellt die Rekonstruktion vor erhebliche Schwierigkeiten, und die vorgeschlagenen Ergänzungen sind nicht mehr als ein Versuch, dem Bruchstück trotzdem einen Sinn abzugewinnen. Zeile 1: Die Kopula verlangt eine verbale Ergänzung, und wenn man τε̣ als Ver‐ bindungspartikel auffassen darf, so muss diese Ergänzung in der vorhergeh‐ enden Zeile gestanden haben, die nicht überliefert ist; das Ortsadverb οἴϰοθεν lässt am ehesten an ein Verbum der Fortbewegung denken wie ὡρμημένοι. Er‐ gänzt man zu τε̣ das obligate ϰαί, so verbleibt eine Lücke von ungefähr zehn Buchstaben, in der man einen Hinweis auf die Länge der Reise vermuten darf, wie er sich auch in Zeile 12 findet; die Wendung μέγαν πλοῦν bietet sich als einfachste Lösung an. Zeile 2: Die Negation kann sich kaum auf das Verbum πε]πλεύϰασιν bezogen haben, schon gar nicht auf den Finalsatz, der in Zeile 3 beginnt. In diesem Fi‐ nalsatz wird aber die ungewöhnliche Absicht dieser langen Reise ausführlich beschrieben, und so mag vorher in einer kurzen adverbialen Wendung der üb‐ liche Zweck einer solchen Reise ausgeschlossen worden sein, damit das Unge‐ wöhnliche des vorliegendes Unterfangens um so deutlicher hervortrete; da man in der Antike lange Seereisen vor allem aus händlerischen Interessen zu unter‐ nehmen pflegte, könnte eine Wendung wie ἐμπορίας ἕνεϰεν, die von einer über‐ leitenden Adversativkonjunktion wie ἀλλά gefolgt wird, nicht unpassend er‐ scheinen. Zeile 3: Die Lücke muss das Verbum des Finalsatzes enthalten haben, da in Zeile 4 mit εἰ bereits ein neuer Nebensatz beginnt; man denkt am ehesten an ein Verbum des Erkundens wie σϰοπῶσιν oder besser noch ἐρευνῶσιν. Die Verbin‐ dungspartikel τε lehrt ausserdem, dass zu dem Akkusativobjekt Ἑλλάδ[α das von ἐρευνῶσιv abhängt, ein Äquivalent vorhanden gewesen ist; man wird schwerlich an einen zweiten Akkusativ denken können, weil hierfür kaum Raum zur Verfügung steht und im übrigen auch nicht einzusehen ist, was ausser Hellas noch das Interesse jener Reisenden gefunden haben könnte; so bietet es sich als naheliegend an, den folgenden εἰ – Satz als indirekten Fragesatz aufzu‐ fassen, der, verbunden durch ϰαί, ebenfalls von ἐρευνῶσιν abhängt und so zwanglos die notwendige Entsprechung zu Ἑλλάδ[α bildet. Zeile 4: Jener Mann, nach dem hier Ausschau gehalten wird, wird in Zeile 9 / 10 als Weiser in Erziehungsfragen beschrieben, so dass man in der Lücke eine ad‐ verbiale Wendung wie ἐπὶ σοφίαι vermuten darf, die von einem Partizip eines Verbums des Rühmens wie τετιμη]μένος gefolgt wird, wie dies bereits Lobel vorgeschlagen hat.
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Zeile 5 / 7: Die Buchstaben ται̣ am Anfang von Zeile 7 scheinen zu einer Verbal‐ endung gehört zu haben, und da nicht recht einzusehen ist, wie der indirekte Fragesatz hätte weitergehen sollen, liegt die Annahme nahe, dass in der Lücke von Zeile 5 ein weiterer Nebensatz begonnen hat, der die nähere Absicht der Suche nach jenem Weisen ausgedrückt haben dürfte, eingeleitet in Zeile 5 durch eine Konjunktion wie ὡς, beendet in Zeile 6 / 7 durch ein Verbum wie πυνθάνων]ται̣, von dem die Worte τὸ ἐϰείνω̣[ι, ergänzt durch das naheliegende Partizip δοϰοῦν, als Akkusativobjekt abhängig gewesen sind. Zeile 7: Der Hochpunkt markiert einen Sinneinschnitt, und das Verbum ἀπεϰρινάμη[ν legt nahe, dass Sokrates jetzt das Wort ergreift; in der Lücke wird ein Dativobjekt wie αὐτῶι Platz gehabt haben, ohne dass damit die Zeile aus‐ gefüllt wäre. Zeile 8: Es ist wahrscheinlich, dass von θαυμάζοιμι ein Konditionalsatz abhängig gewesen ist, der durch εἰ eingeleitet wurde. Ebenso vermutet man hier auch das Subjekt dieses Satzes, das durch eine allgemeine Wendung wie τοιοῦτοι ἄνδρες ausgedrückt worden sein könnte, wenn nicht die Reisenden konkret bezeichnet worden sind. Zeile 10: In der Lücke muss das Verbum des Konditionalsatzes, der in Zeile 8 beginnt, gestanden haben, und dieses Verbum dürfte ein starkes Begehren aus‐ gedrückt haben, wie es ἐπιθυμοῖεν tut, von dem zwanglos der Infinitiv συγγενέσθσι abhängen kann. Zeile 11 / 12: Die Buchstaben μην am Anfang von Zeile 12 weisen auf eine Ver‐ balendung, das folgende ὅτι lässt ein Verbum dicendi vermuten, und so mag die Wendung [αὐτὸς ἂν ἐφά]μην, “ich würde mich selbst dazu bereitfinden …“, das Richtige einigermassen treffen. Zeile 12 / 13: Der Sinn des Nebensatzes muss dahingehend gelautet haben, dass sich auch Sokrates zu einer so langen Reise verstehen würde, wie sie die vorher Genannten unternommen haben, um einen weisen Erzieher zu finden. Der ge‐ naue Wortlaut der Stelle lässt sich indes schwerlich herstellen, ausgenommen die Wendung τηλιϰ[οῦτος, “trotz meines Alters”. Gesetzt, die vorgeschlagenen Ergänzungen gehen nicht in die Irre, so bleibt der Text problematisch genug. Es lässt sich erkennen, dass einer der Unterredner berichtete, dass Reisende aus der Ferne nach Hellas gekommen seien, um einen weisen Erzieher zu finden, worauf Sokrates antwortete, er verstünde ein solches Unterfangen wohl und sei allenfalls, trotz seines Alters, selbst bereit, zu solchem Zwecke eine lange Reise auf sich zu nehmen. Aber es bleibt ganz ungewiss, wer
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der Sprecher gewesen ist, welche Reisenden er im Auge hatte und wohin man sie in Hellas gewiesen; desgleichen bleibt unklar, wie Sokrates hierauf antwor‐ tete, wenn es auch naheliegt, dass er der Ansicht gewesen ist, einen wirklich weisen Erzieher werde man unter den Menschen vergeblich suchen. Aber die Unsicherheit der Überlieferung lässt zu viele Möglichkeiten offen, als dass man sich auf eine Interpretation festlegen dürfte, und so muss man sich begnügen, dass auch hier die Erziehungsproblematik, die sich als Gesamtthema des Dialogs erschliessen liess, deutlich genug ausgesprochen wird. Fragment 4. Pap. Oxy. Nr. 2890 (back) [ ὠ]φελήσουσιν οὐ [ … οὐ …] δεινόν, ἔφην ἐγώ, [ἡμεῖς μὲν περὶ τούτου ἀ]ποροῦμεν, έϰεῖ[νος δέ, ὡς ἐμοὶ δοϰεῖν, ] οὐϰ ἀπορήσει, ϑαυ[μαστὸν γὰρ ἂν εἴη, εἰ μὲ]ν ἠρόμην Εὐριπί[δην δημιουργῶν] ὅτωι ξυνὼν ἂν Μιλ[τιάδης ἄριστ]α βουλεύοιτο ὅπως χρὴ [ὑποδήματα] ποιεῖν, εἶ[χ]εν ἂν μοι λέ[γειν ὅτι τοῖ]ς σϰυτοτόμοις ἢ ὅτωι ἂν [ξυνὼν ἄρ]ιστα βουλεύοιτο ὅπως [χρὴ οἰϰία]ν οἰϰοδομεῖν, ϰαὶ τοῦτ᾽ εἶ[χεν ἂν λέγ]ειν ὅτι τοῖς τέϰτοσιν, νῦν [δέ …
]
Der Wortlaut dieses Textes lässt sich im Grossen und Ganzen zufriedenstellend wiederherstellen. Zeile 1 / 4: Es ist naheliegend, wenn auch nicht sicher, dass sich der Ausdruck δεινόν in Zeile 2 auf die beiden folgenden Sätze [ἡμεῖς …ἀ]ποροῦμεν, ἐϰεῖ[νος …] οὐϰ ἀπορήσει bezogen hat, die Lobel unzweifelhaft richtig ergänzt hat; in diesem Falle dürfte jener Ausdruck verneint gewesen sein, da man schwerlich sagen kann, es sei schlimm, wenn einer nicht ratlos sein werde. Es wäre verlockend, die Negation οὐ am Ende von Zeile 1 zu δεινόν zu ziehen und Sokrates ungefähr so beginnen zu lassen: οὐ[δαμῶς τοῦτ᾽ ἐστι] δεινόν. Aber da die Handschrift bei deutlichen Sinneinschnitten sorgfältig interpungiert, wird man hier beim Fehlen einer solchen Interpunktion eine Zäsur zwischen ὠφελήσουσιν und οὐ nicht gut annehmen können, so dass man des Sokrates Rede samt Negation erst in Zeile 2 beginnen lassen kann. Unklar bleibt auch das genaue Verhältnis zwischen
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dem δεινόν-Satz und den beiden folgenden Verben. Lobel schlägt vor, beide Verben durch die Konditionalkonjunktion εἰ von δεινόν abhängig zu lassen. Aber die Wendung: “Es ist nicht schlimm, wenn wir ratlos sind, jener aber nicht ratlos sein wird” erscheint wenig glücklich. Besser wäre, man liesse lediglich das erste Verbum konditional von δεινόν abhängen, so dass der folgende Satz einen Hauptsatz bildete: “Es ist nicht schlimm, wenn wir ratlos sind: jener wird nicht ratlos sein”. Aber der Text wird so recht unruhig und abgehackt; wie denn gegen beide Vorschläge auch spricht, dass auch der folgende Satz ein Konditi‐ onalsatz ist. So erscheint es als das Beste, wenn man beide Verben, verbunden durch obligatorisches μέν – δέ, als Verben eines Hauptsatzes auffasst, der mit dem vorausgehenden δεινόν in lockerer Verbindung steht. Die verbleibenden Lücken in Zeile 3 und 4 lassen sich durch die beiden Wendungen περὶ τούτου und ὡς ἐμοὶ δοϰεῖν einigermassen befriedigend ausfüllen. Zeile 4 / 5: Die Buchstaben θαυ, die Lobel bereits zu θαυ[μα ergänzt hat, legen die Wendung θαυ[μαστὸν γὰρ ἂν εἴη nahe, die den vorhergehenden Satz treff‐ lich begründet und den nachfolgenden nicht schlecht einleitet; möglich wäre indes auch die Wendung θαυμάζοιμι γὰρ ἄν. Zeile 5 / 13: Diese Zeilen hat R. Merkelbach, “Zum ‘Miltiades’ des Aischines”, Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 9 (1972), S. 209, überzeugend ergänzt, nachdem Lobel erste Verbesserungsvorschläge gemacht hat, so dass hierauf im einzelnen nicht näher eingegangen werden muss. Sokrates ist ratlos und erwartet in seiner Ratlosigkeit Hilfe von einem anderen, und dieser andere kann nur Euripides gewesen sein, dessen überlegene Einsicht ein Gespräch beweisen soll, das Sokrates als Gespräch im Gespräch fingiert, wie er es in sokratischer Literatur bisweilen tut. Sokrates geht in dem fingierten Gespräch von der selbstverständlichen Tat‐ sache aus, dass Euripides wisse, wohin sich Miltiades wenden müsse, wenn er sich über die Herstellung von Schuhen oder über den Bau eines Hauses mög‐ lichst fachgerecht unterrichten wolle. So selbstverständlich er diese beiden Fragen beantworten könne, so selbstverständlich werde er wahrscheinlich auch jene Frage beantworten können, auf die man jetzt eben im Gespräch keine Ant‐ wort wisse. Was war das für eine Frage? Der Text bricht hier ab, so dass man auf Vermutungen angewiesen ist. Aber es liegt auf der Hand, dass nicht noch einmal nach einem technischen Handwerk gefragt worden ist, das mit jenem der Schuster oder Zimmerleute gleichgeartet ist, sondern nach einem Handwerk anderer Art, und zwar nach dem sittlichen Handwerk der Menschenbesserung, anders: nach der Erziehung zur ἀρετή; wie Sokrates es denn bei den Sokratikern liebt das technische Wissen des Handwerkers als Modell für das sittliche Wissen
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des Philosophen und Erziehers dialektisch vorzuführen, worauf besonders J. Hirschberger, “Die Phronesis in der Philosophie Platons vor dem Staat”,18 hin‐ gewiesen hat. Was mag Euripides geantwortet haben, als Sokrates fragte, wohin sich Mil‐ tiades wenden müsse, um sich fachgerecht beraten zu lassen, wie man Menschen erzieht? Auch hier kann man nur vermuten; wahrscheinlicherweise aber wird die Antwort kaum anders gelautet haben als: Zu den Sophisten! Die Sophisten jedenfalls waren die einzigen, die von sich behaupteten, sie wüssten, wie man Menschen für alle Erfordernisse des Lebens, zumal für die politisch-ökonomi‐ schen, wissenschaftlich-technisch tüchtig machen könne, und Euripides stand ihnen nicht fern. Es wird sich dann im weiteren Verlauf des Gesprächs wie oft in sokratischen Dialogen so auch hier herausgestellt haben, dass es mit diesem Anspruch nichts auf sich habe. Der pädagogische Aspekt der Diskussion liegt auch hier auf der Hand. Fragment 5. Der Vollständigkeit halber sei hier noch auf ein kurzes Fragment hingewiesen, das E. Orth in seinen “Curae criticae”19 im Hippokrateskommentar Galens ent‐ deckt hat. Galen, Comm. in Hippocr. de med. off. libr. I 3 (XVIII p. 657 Kuehn): p. 649 τῶν αἰσϑήσεων ἁπάσαις τὴν γνώμην ἐφεξῆς ἔταξεν (sc. Hippocrates), ὅπερ ἐστὶ τὴν διάνοιαν, ἥν τε ϰαὶ νοῦν ϰαὶ φρένα ϰαὶ λόγον οἱ ἄνϑρωποι ϰαλοῦσιν …
p. 657 … Αἰσχίνης δέ … ὁ Σωϰρατιϰὸς ἐν τῶι Μιλτιάδηι ϰατὰ τὸ αὐτὸ σημαινόμενον ϰέχρηται τῶι ὀνόματι …
Leider lassen sich aus dieser Nachricht keinerlei Schlüsse ziehen, weil der hier angeführte Gebrauch des Wortes γνώμη im vierten Jahrhundert ganz üblich ist, wie die zahlreichen anderen Beispiele deutlich machen, die Galen anführt. Die Testimonien. Abschliessend ein Wort über die Testimonien. Diogenes Laertius II 61 (p. 82 Long): 18 19
Philologus Supp. 25 (1932); vgl. neuerdings J. Kube, “ΤΕΧΝH und ΑΡΕΤH. Sophisti‐ sches und platonisches Tugendwissen”, Quellen und Studien zur Geschichte der Philo‐ sophie 12 (1969). Beide Arbeiten bieten reiche Stellenbelege aus sokratischer Literatur. Emerita 26 (1958) S. 201 – 213, bes. S. 202 f.
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οἱ δ᾽ οὖν τῶν Αἰσχίνου τὸ Σωϰρατιϰὸν ἦϑος ἀπομεμαγμένοι (sc. dialogi) εἰσὶν ἑπτά· πρῶτος Μιλτιάδης (διὸ καὶ ἀσϑενέστερόν πως ἔχει), Καλλίας, Ἀξίοχος, Ἀσπασία, Ἀλϰιβιάδης, Τηλαύγης, Ῥίνων.
Vgl. Suda, s.v. Αἰσχίνης (II p. 183 Adler). Dittmar20 bemerkt hierzu völlig richtig: “ die angabe über die stelle des dialogs in der reihenfolge der aischineischen produktion ist natürlich aus dem literari‐ schen urteil erschlossen”. Die Richtigkeit dieses ästhetischen Urteils lässt sich wegen der Trümmerhaftigkeit der Überlieferung nicht überprüfen, aber die neuen Texte des “Miltiades” zeigen dieselbe anmutige Schlichtheit der Rede, wie sie auch anderwärts bei Aischines zu beobachten ist, so dass man zweifeln darf, ob das antike Stilurteil seine Berechtigung gehabt hat; wie denn zum Beispiel Diogenes Laertius 3.38 berichtet, dass man auch den platonischen “Phaidros” für ein Jugendwerk gehalten habe, weil man jugendliches Stilgepräge zu er‐ kennen glaubte. Lukian, De paras. c. 32 (III p. 38 s. Jac.): Αἰσχίνης μέντοι ὁ Σωϰρατιϰός, οὗτος ὁ τοὺς μαϰροὺς ϰαὶ ἀστείους διαλόγους γράψας, ἧϰέ ποτε ἐς Σιϰελίαν ϰομίζων αὐτούς, εἴ πως δύναιτο δι᾽ αὐτῶν γνωσϑῆναι Διονυσίωι τῶι τυράννωι· ϰαὶ τὸν Μιλτιάδην ἀναγνοὺς ϰαὶ δόξας εὐδοϰιμηϰέναι, λοιπὸν ἐϰάϑητο ἐν Σιϰελίαι, παρασιτῶν Διονυσίωι ϰαὶ ταῖς Σωϰράτους διατριβαῖς ἐρρῶσϑαι ϕράσας.
Man würde diese Nachricht gerne glauben, wenn nicht der 23. Sokratikerbrief ausdrücklich versicherte, Aischines habe damals den “Alkibiades” vorgelesen und damit sein Glück gemacht. Nachtrag Spezialbibliographie zu Pap. Oxy 2889 & 2890 (bis 2015) E. Lobel (hrsg. & komm.), The Oxyrhynchus Papyri, 39. Bd., London 1972, 47 – 50: pap. 2889 – 2890 [editio princeps]. R. Merkelbach, Zum Miltiades des Aischines, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 9 (1972) 201. A. Patzer, Aἰσχίνου Μιλτιάδης, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 15 (1974) 271 – 287. S. R. Slings, Some remarks on Aeschines Miltiades, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 16 (1975) 301 – 308.
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A.a.O., S. 178.
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8. Aἰσχίνου Μιλτιάδης
L. Rossetti, Aspetti della letteratura socratica antica, Chieti 1977, 99 – 120: Sui ›Socratica‹ di Eschine di Sfetto: il ›Milziade‹. Lausdei & L. Rossetti, Su Pap. Oxy 2890 (front). Dal Milziade di Eschine socratico, in: Aegyptus 59 (1979) 91 – 96. L. Rossetti & C. Lausdei, Ancora sul Milziade di Eschine socratico. P. Oxy. 2890 (back), in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 33 (1979) 47 – 56. A. Esposito, I papiri di Eschine socratico, Università degli Studi di Salerno. Facoltà di Let‐ tere e Filosofia. Corso di Laurea in Lettere Classiche. Tesi di Laurea in Papirologia, o. O., 1979 – 1980, S. 95 – 152: Milziade (Pap. Oxy 2889 – 2890) 95 – 15 [Typoskript einzu‐ sehen beim Verf.]. L. Rossetti & C. Lausdei, Pap. Oxy. 2889 e il Milziade di Eschine socratico, in: Rheinisches Museum 124 (1981) 154 – 165. C. T. Mársico (hrsg., übers. & komm.), Filósofos socráticos. Testimonios y fragmentos, 2. Bd.: Antístenes, Fedón, Esquines y Simón, Buenos Aires 2014 [Text dem Verf. nicht zugänglich].
9. Die Naevius-Ausgabe des Octavius Lampadio Über die Naevius-Ausgabe des Octavius Lampadio berichtet Sueton (De gramm. 2.4) folgendes: C. Octauius Lampadio Naeuii Punicum bellum, quod uno uolumine et continenti scriptura expositum, diuisit in septem libros. Diese kostbare Notiz über die Frühzeit der lateinischen Philologie, deren Entstehung Sueton mit dem Auftreten des Krates von Mallos in Rom (wohl 168 v. Chr.) in Verbindung bringt, bietet einen erwünschten Anlaß, den Umfang des Naevianischen bellum Pu‐ nicum zu berechnen. Von der Alexanderzeit, in der die Bucheinteilung geregelt wurde (um alsbald auch ihrerseits Einfluß auf die Kompositionsform zu nehmen), bis weit in die römische Kaiserzeit hinein gilt die Regel, daß eine Papyrusrolle poetischen In‐ halts nicht weniger als 500 und nicht mehr als 1.000 Hexameterzeilen Umfang haben solle; als Standard- oder Normalgröße darf ein Umfang von 700 bis 800 Hexameterzeilen angesehen werden, die Zeile zu 35 Buchstaben gerechnet (vgl. T. Birt, Das antike Buchwesen, Berlin 1882, S. 291 – 293). – Es spricht alles dafür, daß sich auch Lampadio in Betreff des bellum Punicum an diese Norm‐ größe gehalten hat. Dafür spricht besonders die Anzahl der Bücher, in die er das Gedicht eingeteilt hat. Die Siebenzahl ist entschieden ungewöhnlich und (soweit ich sehe) für ein Werk poetischen Inhalts weder vorher noch nachher jemals als Buchzahl verwendet worden. Daß sich diese Zahl inhaltlichen Gründen ver‐ dankt, darf man ausschließen, wenn anders man Naevius nicht eine pythago‐ reisch-varronische Vorliebe für die Heptas unterstellen will. Waren es aber keine inhaltlichen, so waren es äußerliche, will sagen: buchtechnische Gründe, die Lampadio veranlaßten, das Ganze auf sieben Bücher zu verteilen: Das bellum Punicum war zu umfangreich, um sich bequem in sechs Standardrollen teilen zu lassen, zu kurz, als daß acht solcher Rollen nötig gewesen wären. Das ganze Werk besaß demnach einen Umfang von mindestens 4.900 und von höchstens 5.600 Hexameterzeilen. – Lampadio nahm diese Bucheinteilung vor, weil, was er vorfand, eine unerhörte Singularität war: ein poetisches Werk von mehr als 5.000 Hexameterzeilen Umfang, schriftlich fixiert und ediert auf einer einzigen Papyrusrolle! Das längste poetische Buch, das wir aus der Antike kennen, umfaßt nicht mehr als 1.779 Hexameter (Apollonios Rhodios, Argonautika 4), das längste lateinische Poesiebuch gar nur 1.455 Hexameter (Lukrez, De rerum natura 5). – Es wäre jedoch falsch, aus diesem Befund auf die grundsätzliche Länge und Fas‐ sungskraft einer Papyrusrolle zu schließen. Denn die antiken Prosabücher sind
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notorisch länger als die Bücher poetischen Inhalts (vgl. Isidor, Orig. 6.12; wohl nach Sueton). Noch die kürzesten antiken Prosabücher weisen einen Umfang von 1.100 bis 1.200 Hexameterzeilen auf; in der Regel gilt für das Prosabuch ein Umfang von 2.000 bis 4.000 Zeilen; größere Formate gehen jedoch auch über 5.000 Zeilen hinaus und belaufen sich bis auf 5.698 Zeilen (Belege bei Birt, a. a. O., S. 310 – 314). Buchtechnisch war es demnach durchaus kein Problem, ein Werk wie das bellum Punicum auf einer Papyrusrolle zu publizieren; eine solche Rolle wäre nicht größer, sondern eher kleiner ausgefallen als das fünfte Buch des Polybios (5.327 Hexameterzeilen), das man zur Zeit des Lampadio auch in Rom in Händen hielt. Ästhetisch war eine solche Publikation gleichwohl ein Unding. Denn es waren ja ästhetische, nicht buchtechnische Gründe, die für das poetische Buch engere und strengere Grenzen setzten als für das Prosabuch. Die metrische Gliederung der poetischen Sprache verlangte antikem Empfinden nach offenbar auch eine strengere und kürzere Gliederung des Buchumfanges, während es die ungebundene Sprache der Prosa erlaubte, das Buchformat auszudehnen, ohne sich an eine andere Obergrenze zu halten als jene, die Dicke und Schwere und Haltbarkeit der Rolle der praktischen Benutzbarkeit setzten. – Gegen diese äs‐ thetischen Kriterien verstieß Naevius, wenn er das bellum Punicum in einer Rolle publizieren ließ: Was ein Dichtwerk war, erschien in Form eines Prosabuches. Genau dies war offenbar der Fall. Denn nur wenn dies der Fall war, erklärt sich, weshalb Lampadio, als er eine retractatio des Naevianischen Werkes vornahm, die Buchzahl so änderte, wie er sie änderte: Er gehorchte einem ästhetischen Diktat des antiken Buchwesens, das Naevius mißachtet hatte. – Im Lichte dieser Überlegungen gewinnt auch die Bemerkung Suetons ihren vollen Sinn, die ur‐ sprüngliche Ausgabe des bellum Punicum sei continenti scriptura geschrieben gewesen. Diese Bemerkung bezieht sich offenbar nicht auf die fehlende Wort‐ trennung, sondern auf die fehlende Kolometrie: Der Text war als Prosa ohne kolometrische Trennung geschrieben, wie sie für das poetische Buch (nament‐ lich das hexametrische) verbindlich gewesen wäre. – Die ungefüge und unbe‐ holfene Gestalt, in der das bellum Punicum ursprünglich publiziert wurde, ge‐ währt uns einen unschätzbaren Einblick in den Zustand des frühen römischen Buchwesens, das sich, nicht anders als die Literatur selber, zunächst nur zögernd und tastend den griechischen Vorbildern annähert. Aber nachdem Ennius eine Generation nach Naevius den Hexameter in Rom heimisch gemacht hatte, der zwingend eine kolometrische Schreibweise erforderte, und nachdem derselbe Ennius in seinen Annales auch die poetische Komposition nach dem Buchum‐ fang ausrichtete, wie es die alexandrinischen Dichter taten, da mußte das bellum Punicum in der Form, wie es vorlag, alsbald als unmodern und unpraktisch er‐ scheinen. Diesem Mißstand suchte die retractatio des Lampadio abzuhelfen.
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Lampadio führte die Kolometrie ein und verteilte das Werk auf sieben Rollen, so daß das Ganze nun äußerlich den Erfordernissen entsprach, die ein an‐ spruchsvolleres Publikum an die Edition eines poetischen Werkes richtete. Gleichwohl hielt sich während der republikanischen Zeit neben der modernen Ausgabe des Lampadio auch noch die ältere Ausgabe. Jedenfalls hatte der Gram‐ matiker Santra (ap. Non.p. 250,17), der um die Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. lebte, noch beide Ausgaben des bellum Punicum vor Augen, wenn er bemerkt: quod uolumen unum nos lectitauimus et postea inuenimus septemfariam diuisum. Erst in der Kaiserzeit hat sich dann die Ausgabe des Lampadio endgültig durch‐ gesetzt, und dieser Ausgabe verdanken wir es, daß wir in der Lage sind, den Umfang des bellum Punicum auf ungefähr 5.000 Hexameterzeilen berechnen zu können; das ergibt, da der Saturnier ungefähr 1 / 10 kürzer ist als der Hexameter, einen Umfang von ungefähr 5.500 Saturniern. Was für Naevius gilt, gilt mutatis mutandis auch für Livius Andronicus. Es spricht alles dafür, daß die Odusia des Livius buchtechnisch ebenso ausgestattet war wie das bellum Punicum des Naevius, für das sie das poetische Vorbild ge‐ wesen ist. Gellius (Noct.Att. 18.9.5) erzählt folgende antiquarische Episode: of‐ fendi … in bibliotheca Patrensi librum uerae uetustatis Liuii Andronici, qui insc‐ riptus est Ὀδύσσεια. Jeder, der diesen Text unvoreingenommen liest, wird hier bestätigt finden, was der einfache Analogieschluß ohnehin als wahrscheinlich nahelegt: daß die Odusia des Livius, nicht anders als das bellum Punicum des Naevius, auf einer Papyrusrolle Platz gefunden hat. Die Odusia kann demnach nicht sehr viel umfangreicher gewesen sein als das bellum Punicum. Eher war sie erheblich kürzer; denn ein Zwang zur Bucheinteilung, wie er sich im Falle des bellum Punicum so früh bemerkbar gemacht hat, wurde hier nie fühlbar. Man hat die Odusia des Livius immer ohne Bucheinteilung gelesen. Weswegen auch eine genauere Bestimmung des Buchumfanges nach unten nicht möglich ist. Aber auch wenn man den größtmöglichen Buchumfang in Rechnung setzt (ca. 5.700 Hexameterzeilen), so kann die Nachdichtung des Livius doch immer nur knapp die Hälfte der Homerischen Odyssee umfaßt haben. Sie war demnach ein erheblich verkürzter Auszug, nicht eine wortgetreue Übersetzung. – Die Odusia des Livius, als auszugsweise Nachdichtung der Homerischen Odyssee in Satur‐ niern, genügte dem Geschmack der nachennianischen Zeit nicht mehr. Man veranstaltete daher eine moderne Überarbeitung, die in Hexametern gehalten war. Bezeichnend ist, daß diese moderne Neufassung, die wir aufgrund proso‐ discher Kriterien in die Gracchenzeit datieren können, eine Bucheinteilung besaß (vgl. Priscian 1 p. 321 & 151: Zitate aus Buch 1 und 6 bzw. 7). Die Neufassung der Odusia legt so auf ihre Weise Zeugnis ab von jenem tief‐ greifenden Wandel des römischen Buchwesens, von dem auch die Naeviusausgabe
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des Lampadio kündet. Während man aber im Falle des Livius die Modernisierung der Buchform mit einer Modernisierung auch der Metrik und also auch des In‐ halts verband, ließ man den Text des Naevius unangetastet. Der Grund ist un‐ schwer zu erraten. Wenn nicht alles täuscht, so war die Odusia des Livius auch qualitativ allerhöchstens eine halbe Odyssee; das bellum Punicum des Naevius aber, wiewohl dem Umfang nach nur halb so groß wie Vergils Aeneis, war, was die poetische Kraft und Originalität betrifft, die ganze Aeneis noch einmal – ein Weltgedicht, in dem das Historische und das Mythische einander durchdringen und neue Form einen neuen Sinn stiftet, den wir römisch zu nennen wohl be‐ rechtigt sind. Die Griechen kennen nichts Vergleichbares
10. Aulus Hirtius als Redaktor des corpus Caesarianum Probevorlesung, gehalten am 25. Februar 1992; den Studenten des Instituts für Klassi‐ sche Philologie der Universität München herzlich zugeeignet Hirtius nihil nisi considerate … acturus uidebatur. Cicero, Ad fam. 12.5.2
Das sogenannte corpus Caesarianum ist das früheste erhaltene Dokument rö‐ mischer Historiographie: vierzehn Bücher, in denen die Kriegsgeschichte der Jahre 58 bis 45 v. Chr. aus der Sichtweise Cäsars von Zeitgenossen erzählt wird. Daß dieses corpus eine längere und vergleichsweise komplizierte Entstehungs‐ geschichte gehabt haben muß, lehrt die Tatsache, daß es nicht weniger als fünf verschiedene Autoren in sich vereinigt: Die ersten sieben commentarii de bello Gallico stammen von Cäsar, der achte von Aulus Hirtius; die folgenden drei commentarii de bello ciuili hat wiederum Cäsar verfaßt, während die drei letzten Schriften, das bellum Alexandrinum, das bellum Africum und das bellum Hispa‐ niense, von drei verschiedenen Verfassern herrühren, deren Identität man bereits in der Antike nicht mehr kannte. Will man Näheres über die Entstehungsgeschichte dieses corpus erfahren, so muß man vor allem jene merkwürdige praefatio näher ins Auge fassen, die das achte Buch De bello Gallico eröffnet: ein Brief, in dem der Cäsarianer Aulus Hirtius dem Cäsarianer Cornelius Balbus auseinandersetzt, wie und warum er Cäsars commentarii verknüpft und fertiggestellt habe. – Der Text dieser Brief-praefatio ist ebenso interessant wie kontrovers – womöglich das rätsel‐ hafteste und umstrittenste Stück klassischer lateinischer Prosa überhaupt. Bei kaum einem anderen Text jedenfalls sieht sich die philologische Analyse vor eine solche Fülle sprachlicher und sachlicher Schwierigkeiten gestellt wie hier, und es ist wohl verständlich, daß in neuerer Zeit Stimmen laut geworden sind, die für eine Athetese dieses vertrackten Stückes Literatur eingetreten sind. Al‐ lein, die Hypothesen, die die Athetese stützen sollen, sind noch komplizierter als der Text selber, und wenn Hirtius nicht der Verfasser des Balbus-Briefes
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gewesen ist, sondern ein antiker Anonymus, der den echten Brief durch eine Fälschung ersetzte, so wird die Sachlage noch mysteriöser, als sie ohnehin ist. Ich gehe daher auf die Echtheitsfrage, die Luciano Canfora (Cesare continuato; Belfagor 25, 1970, 419 – 429) aufgeworfen hat, nicht näher ein, sondern analysiere die praefatio Satz für Satz, wenn nötig Wort für Wort, um dem Text womöglich ein genaueres Verständnis abzugewinnen, als die Forschung (auf deren Thesen ich, soweit für die Beweisführung von Belang, ad hoc eingehe) bisher vermocht hat. Sollte dieses Unterfangen gelingen, so wäre auch die Frage nach der Echtheit des Textes beantwortet. – Die Mühe einer so detaillierten Interpretation, wie sie im folgenden vorgetragen wird, lohnt; denn dieser Text, so schwierig er auch ist, gewährt nicht nur einen interessanten Einblick in die persönlichen, litera‐ rischen und politischen Probleme, vor die sich zwei maßgebliche Cäsarianer in der Zeit kurz nach Cäsars Tod gestellt sahen, sondern erlaubt auch ein Urteil über die Überlieferungsgeschichte der commentarii Cäsars, die kein Geringerer als Cicero (Brut. 75.262) als Musterstücke historiographischer Prosa gefeiert hat – mit welchem Recht, auch das erhellt aus der praefatio des Hirtius, die nicht nur Ciceros Lobesäußerungen wiederholt (§ 5), sondern in ihrer um den Ge‐ danken ringenden, schwerfälligen und schwerverständlichen Sprache auf ihre Weise an den Tag legt, welch ein Wunder an Intellektualität und sprachlicher Energie die Luzidität des cäsarianischen Lateins ist, gemessen an dem bemühten und befangenen Redestil eines Mannes, der immerhin Konsul und Imperator des Römischen Reiches gewesen ist. Vor der Einzelanalyse ist ein Blick auf die literarische Form des Ganzen nötig. Die Abschlußformel uale (§ 9), die allerdings nur der Hyparchetypus α bietet, stellt außer Zweifel, daß es sich um einen Brief handelt. Aber dann vermißt man die korrespondierende Einleitungsformel, die, anders als die Schlußformel, im lateinischen Brief (auch im fiktiven) obligatorisch ist, weil nur sie dem Emp‐ fänger den Absender kenntlich macht. Es ist naheliegend, daß diese Einlei‐ tungsformel (deren Wortlaut für die Gesamtinterpretation des Briefes nicht ohne Bedeutung wäre) im Zuge der Textüberlieferung mechanisch verlorenge‐ gangen ist. Dies geschieht bei lateinischen Briefen nicht selten (Beispiele: Cic., Ad fam. 1.2 – 8; 3.4; 4.15; 12.23 – 38, 30; 13.34, 36 – 39). Es konnte hier um so eher geschehen, als der Name des Absenders ja auch im Titel des Buches wiederkehrt, jener des Adressaten nach einem auch im klassischen Briefstil nicht unüblichen usus im Eingangssatz (§ 1) vokativisch wiederholt wird (vgl. Cic., Ad fam. 4.6; 6.12; 9.14; 10.16, 23; 11.14; 12.1; 16.16, 20), so daß der Verlust der Einleitungs‐ formel weder dem Abschreiber auffallen noch auch dem Leser fühlbar werden mußte.
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Wichtiger als dieser rein äußerliche Befund ist die Tatsache, daß die praefatio überhaupt in der Form eines Briefes gehalten ist. Otto Seel, dem wir die einge‐ hendste Analyse des Balbusbriefes verdanken (Hirtius, Leipzig 1935), bemerkt hierzu (S. 66 f.): „Daß die Vorrede in Briefform abgefaßt ist, bedeutet nichts Sin‐ guläres.“ Wirklich nicht? Wir kennen aus der Zeit vor Hirtius lediglich drei griechische Autoren, die ein Prosawerk durch einen Brief eingeleitet haben: Ar‐ chimedes, Apollonios von Perge und Hipparchos von Nikaia; erstere Mathema‐ tiker, letzterer Astronom, alle drei also hochspezialisierte Fachschriftsteller, deren usus nicht als typisch und stilbildend gelten kann. Und noch wichtiger: vor Hirtius läßt sich kein einziger römischer Autor namhaft machen, der diese Form der praefatio gewählt hätte. Vorreden in Briefform kommen vielmehr of‐ fenbar erst in flavischer Zeit auf, und Autoren wie Quintilian, Statius oder Mar‐ tial vermachen diese Praxis der Spätantike; erst in der Spätantike begegnet dann auch wieder ein Brief als praefatio eines historiographischen Werkes: die Ein‐ leitung des M. Iunianus Iustinus in die Epitome der Universalgeschichte des Pompeius Trogus. Die vorliegende Brief-praefatio ist demnach etwas durchaus Ungewöhnliches, und Ungewöhnliches mußte vorliegen, daß ein Mann wie Hirtius zu einer so ungewöhnlichen Form der Einleitung zu greifen sich ge‐ drängt fühlte. Davon erzählt der Brief, dessen Analyse ich mich nun zuwende. Im Einleitungssatz (§ 1) teilt Hirtius mit, gezwungen durch die unablässigen mündlichen Mahnungen des Balbus habe er, um dem Vorwurf der Trägheit zu entgehen, eine äußerst schwierige Sache auf sich genommen: difficillimam rem suscepi. So unproblematisch diese einleitende Bemerkung ist, so problematisch ist der folgende Satz (§ 2), der expliziert, was es mit jener res difficillima auf sich habe: Caesaris nostri commentarios rerum gestarum Galliae non comparantibus superi‐ oribus atque insequentibus eius scriptis contexui nouissimumque imperfectum ab rebus gestis Alexandriae confeci usque ad exitum non quidem ciuilis dissensionis, cuius finem nullum uidemus, sed uitae Caesaris. – Analysiert man diesen viel‐ umstrittenen Satz, um festen Boden zu gewinnen, grammatisch, so ist zunächst zu konstatieren, daß er zwei Prädikate aufweist (contexui und confeci), die durch eine Verbindungspartikel (-que) eng koordiniert werden. So klar diese gramma‐ tische Grundstruktur ist, so unklar ist der grammatische und also auch der in‐ haltliche Sinn beider Prädikatsaussagen; beide bedürfen daher gesonderter Be‐ trachtung. Was heißt contexui? Überblickt man den Wortgebrauch des klassischen Lat‐ eins (der auch später kaum Abweichungen duldet), so zeigt sich, daß das Verbum contexere, gleichviel, ob es sensu proprio oder metaphorisch verwendet wird, stets und überall signalisiert, daß etwas, was vorher geschieden war, mitei‐
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nander verbunden wird, nicht anders als es das deutsche Äquivalent verknüpfen tut. Die einschlägigen Lexika wissen jedoch auch von einem anderen Wortsinn, wenn sie das Verbum durch continuare (ThLL 4 col. 693) paraphrasieren oder durch to continue (Lewis-Short p. 448) bzw. durch fortsetzen (Klotz 1 col. 1107; Georges 1 col. 1606) übersetzen. Aber die Stellen, die angeführt werden, um diesen Wortgebrauch (der auch für Hirtius gelten soll) zu rechtfertigen, be‐ weisen das Gegenteil von dem, was sie beweisen sollen. Ich beschränke mich hier auf jene zwei Stellen klassischer Prosa, die als besonders beweiskräftig an‐ gesehen werden. Cicero, De legibus 1.3.9: … neque tam facile interrupta contexo quam absoluo instituta. Hier stellt das Objekt interrupta außer jeden Zweifel, daß die Vorstellung des Verknüpfens vorliegt: das fertig Geschriebene mit dem wegen einer Unterbrechung Ungeschriebenen und also noch zu Schreibenden zu verknüpfen ist schwieriger, als etwas Begonnenes fertigzustellen. Und noch einmal Cicero, Pro Caelio 8,18: ac longius mihi quidem contexere hoc carmen li‐ ceret. Das bedeutet unzweifelhaft: „Es stünde mir frei, dieses Gedicht weiter fortzuknüpfen bzw. fortzusetzen.“ Aber den Aspekt des Fortsetzens erhält das Verbum nur durch das Adverbiale longius, das für das Verständnis unerläßlich ist. Die einfache Junktur carmen contexere würde bedeuten: „ein Gedicht – aus einzelnen Versen – zusammenknüpfen, dichten“. Diese Junktur begegnet freilich nur bei Nemesian (ecl. 3.9); aber bereits Cornelius Nepos (Vit. Att. 16.3) nennt in ganz ähnlichem Sinne ein gedanklich durchkomponiertes Geschichtswerk his‐ toria contexta, und Quintilian (Inst. orat. 10.6.2) sagt von der Gedankenarbeit des Redners: contexit orationem. Tut man das Gebotene und legt jene Wortbedeutung, wie sie der klassische Sprachgebrauch ganz eindeutig bewahrt, auch für Hirtius zugrunde, so erhält der Satz sogleich ein bedenkliches Aussehen. Denn von dem Prädikat contexui hängt das Akkusativobjekt Caesaris nostri commentarios rerum gestarum Galliae ab. Aber die commentarii de bello Gallico konnte Hirtius unmöglich verknüpfen oder gar verknüpfend komponieren; denn die lagen, gleichviel, ob sukzessive oder – ungleich wahrscheinlicher – en bloc von Cäsar veröffentlicht, dem Pub‐ likum längst vor, so daß Cicero im Brutus (75.262), der im Jahre 46 erschien, ihrer bereits lobend Erwähnung tut. Um das offenbar Unverständliche verständlich erscheinen zu lassen, hat man zur Athetese gegriffen und den Genitiv Galliae, der den Genitiv rerum gestarum näher expliziert, als späteres Glossem getilgt. Und in der Tat: Wenn nicht nur von Cäsars commentarii de bello Gallico, sondern von den cäsarianischen com‐ mentarii schlechthin die Rede ist (also auch vom bellum ciuile), dann erhält das Prädikat contexui seinen vollen Sinn. Denn zwischen bellum Gallicum und bellum ciuile klafft ja tatsächlich eine Lücke, da Cäsar die Ereignisse der Jahre
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51 und 50 nicht erzählt hatte: so daß Hirtius, wenn er diese Ereignisse nacher‐ zählte (was er im achten Buche des bellum Gallicum notorisch getan hat), tat‐ sächlich sagen konnte, er habe die (bisher unverbundenen) commentarii Cäsars verknüpft. Gleichwohl ist dieser textkritische Eingriff, der auf Ludwig Vielhaber (ZöG 18, 1867, 618) zurückgeht und viel Beifall gefunden hat, unzulässig. Denn der Ausdruck rerum gestarum Galliae hat ein formales Pendant in dem wenig später folgenden Ausdruck ab rebus gestis Alexandriae, und man wird diesen Paralle‐ lismus um so weniger antasten dürfen, als Hirtius die inkriminierte Wendung später noch einmal fast wörtlich wiederholt (b. G. 8. 48. 10): … insequens annus … nullas res Galliae habet magno opere gestas. Ist der Ausdruck demnach gut Hir‐ tianisch und auch aus formalen Gründen gegen eine Athetese geschützt, so ist er gleichwohl infolge der Häufung der Genitive unschön und ungeschickt genug. Woraus folgt, daß Hirtius schwerlich den originalen Titel zitiert, den Cäsar dem bellum Gallicum gegeben hat. Dieser lautete offenbar einfach com‐ mentarii rerum gestarum, und erst Hirtius fügte den Zusatz Galliae (der auch im Brutuszitat Ciceros fehlt) hinzu, da er (wovon sogleich) das bellum Gallicum und das bellum ciuile unterscheiden mußte. Woraus wiederum folgt, daß das bellum ciuile entweder denselben Titel trug wie das bellum Gallicum – commentarii rerum gestarum – oder aber noch gar keinen eigenen Titel hatte, da es noch nicht erschienen war. – Aber ich greife vor und kehre zur sprachlichen Analyse des Satzes zurück. Es bleibt zu prüfen, ob der Sinn der Prädikatsaussage nicht durch den Zusatz non comparantibus superioribus atque insequentibus eius scriptis erhellt wird. Formal kann diese Zusatzbemerkung sowohl als Dativobjekt wie als ablatiuus absolutus aufgefaßt werden. Die erstgenannte Auffassung ist jedoch inhaltlich unmöglich. Denn was auch immer die vielumstrittene Stelle bedeuten mag, – daß Cäsars scripta superiora die commentarii de bello Gallico sind, die scripta insequentia die commentarii de bello ciuili, soviel läßt sich nicht wohl bestreiten. So daß Hirtius, wenn er ein Dativobjekt gesetzt hätte, sagen würde, er habe das bellum Gallicum mit dem bellum Gallicum und dem bellum ciuile verknüpft. Eine solche Aussage aber ist offenbar unsinnig, und es bleibt keine andere Wahl, als diese Zusatzbemerkung als ablatiuus absolutus aufzufassen, der ja im Latein‐ ischen stets als eine Art Adverbiale das Prädikat näher bestimmt – was Hirtius noch eigens betont, indem er (eine vergleichsweise ungewöhnliche Wortstel‐ lung) den ablatiuus absolutus zwischen Objekt und Prädikat stellt, mithin poin‐ tiert vor das Prädikat. So eindeutig sich das Subjekt der Ablativkonstruktion grammatisch und sachlich bestimmen läßt, so unklar ist das Ablativprädikat. Die Mehrzahl der
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Handschriften liest non comparantibus; der codex Amstelodamensis bietet als Va‐ riante die Lesart non conparentibus. Aber an diesem handschriftlichen Befund muß auch das konservativste Textverständnis scheitern. Denn das Verbum comparare, das in der Regel transitiv gebraucht wird, erscheint ja in zwei ver‐ schiedenen Grundbedeutungen: zusammenbringen, verschaffen, bereiten oder gleichmachen, gleichstellen, vergleichen (ThLL 3 col. 2010 – 2021; vgl. hierzu Walde–Hofmann 2 p. 250 sqq., Pokorny 817sq.); comparere dagegen, stets in‐ transitiv gebraucht, bedeutet soviel wie zum Vorschein kommen, sichtbar werden, erscheinen (ThLL 3 col. 2009 sq.). Welche Wortbedeutung man aber auch heran‐ zieht, in keinem Falle liefert der Prädikatsablativ eine sinnvolle Aussage über die Subjektsablative: Daß Cäsars frühere und folgende Schriften nicht ‘zusam‐ menbringen’ oder ‘vergleichen’, ist ebenso unsinnig, wie daß sie nicht ‘erschei‐ nen’. Es kann demnach nicht der geringste Zweifel bestehen, daß der überlieferte Text korrupt ist und philologischer emendatio bedarf. Der mutmaßliche Sinn der Korruptel läßt sich erraten, wenn man erkennt, daß die Ablativkonstruktion das Prädikat contexui offenbar begründend erläu‐ tert. Da contexere (wie gesagt) verknüpfen bedeutet, muß das korrupte Ablativ‐ prädikat, da es verneint ist, sachlich dasselbe oder etwas Ähnliches aussagen, wie contexere aussagt. Welcher Wortlaut aber verbürgt diesen Sinn? Man hat, um diese Frage zu beantworten, nicht weniger als ein Dutzend verschiedene Lösungsversuche vorgeschlagen. Die allermeisten dieser Konjekturen sind al‐ lerdings hinfällig, da sie so gewaltsam in den überlieferten Text eingreifen, daß sie jeder paläographischen Plausibilität entbehren. Besser steht es um die Vor‐ schläge cohaerentibus (Schneider), conspirantibus (Landgraf), conquadrantibus (Holder) und congruentibus (Peskett) – alle vier sachlich richtig und auch palä‐ ographisch nicht so weit vom überlieferten Text entfernt wie die anderen ge‐ lehrten Emendationsversuche, die aufzuführen ich mir hier versage. Die über‐ zeugendste Lösung hat indes Gottfried Bernhardy (Grundriß der Römischen Litteratur, 4. Aufl., Braunschweig 1865) gefunden, der, nachdem er früher die Lesart continentibus erwogen hatte, erklärt (S. 658): „ … competentibus liegt nahe“. Diese Emendation (die ich ohne Zögern in den Text einer kritischen Cäsaraus‐ gabe aufnehmen würde) ist darum so bestechend, weil sie paläographisch mit der Änderung von nur drei bzw. zwei Buchstaben auskommt; und weil das Verbum competere (zusammentreffen) genau die geforderte Bedeutung aufweist, zugleich aber in der klassischen Prosa (frühester und einziger Beleg: Varro, De ling. Lat. 6.25) und auch später vergleichsweise so selten gebraucht wird, daß wohl verständlich ist, wie ein Abschreiber auf den Gedanken kommen konnte, hier müsse berichtigend eingegriffen werden. So fand der Archetypus der Cä‐ sarhandschriften offenbar bereits die irrige Änderung comparantibus vor, und
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der Schreiber des cod. Amstelodamensis änderte die Änderung und schrieb statt comparantibus, das er – zu Recht – nicht verstand, conparentibus, unbekümmert darum, daß seine Verbesserung nicht besser war als das, was er zu verbessern für nötig befand. Aber daß dergleichen Schreiberkonjekturen auf den Gesamt‐ sinn des Textes keine Rücksicht nehmen, wenn nur das einzelne Wort plausibler erscheint, ist ja wohlbekannte Praxis. Es wird nach alledem nun auch verständlich, wie Hirtius auf die schwervers‐ tändliche Formulierung des Satzes verfallen konnte. Er hatte zunächst gesagt, was er verknüpft hat: Cäsars commentarii rerum gestarum Galliae; es folgte so‐ dann der Grund des Verknüpfens: daß Cäsars scripta superiora und insequentia nicht zusammentreffen. Aber damit war sachlich bereits auch ausgesagt, womit Hirtius die commentarii de bello Gallico verknüpft hat: mit Cäsars scripta inse‐ quentia; so fühlte sich Hirtius der Notwendigkeit überhoben, das sachlich bereits Gesagte noch einmal grammatisch korrekt zu wiederholen, und überließ es dem Leser, den richtigen Schluß zu ziehen. – Keinesfalls kann man eine solche Aus‐ drucksweise präzise nennen, und sie wirkt um so unpräziser, als der Leser ja erst im Fortgang des Satzes erfährt, was jene insequentia scripta denn seien: com‐ mentarii Cäsars, die bis zum Beginn des bellum Alexandrinum reichten. Mehr noch: Da Hirtius es auch versäumt hat anzuzeigen, wodurch er Cäsars commen‐ tarii verknüpft hat, so bleibt unklar auch, wo jene späteren Schriften Cäsars begannen, so daß auch unklar bleibt, was Hirtius selbst verknüpfend geleistet hat. So ins Ungefähre gerät die Rede wohl im mündlichen Gespräch; man kann so allenfalls auch schreiben – allein, ein Sprachmeister schreibt so nicht, sondern gibt überall der rhetorischen Grundforderung der perspicuitas den Vorrang: Das luzide Latein, das Cäsar in seinen commentarii de bello Gallico schreibt, ist hierfür das unerreichte Vorbild. Ein solcher Sprachmeister war Hirtius offenbar nicht. Und er muß sich dessen auch bewußt gewesen sein; denn uns wird berichtet, daß er im Jahre 46 bei keinem Geringeren als bei Cicero Unterricht in der Rhe‐ torik genommen hat (Cic. Ad fam. 7.33.1, 9.16.7; Quint. Inst. orat. 12.11.6; Suet. De gramm. 25). – Gleichwohl ist auch der zweite Teil des Satzes nicht präziser formuliert als der erste. Der Text des zweiten Satzes lautet: nouissimumque imperfectum ab rebus gestis Alexandriae confeci usque ad exitum non quidem ciuilis dissensionis, cuius finem nullum uidemus, sed uitae Caesaris. Zu diesem Text gibt es eine antike Para‐ phrase. Sueton (Diu. Iul. 56.1) berichtet, daß der Verfasser des bellum Alexand‐ rinum, des bellum Africum und des bellum Hispaniense unbekannt sei, und setzt hinzu: alii Oppium putant, alii Hirtium, qui etiam Gallici belli nouissimum im‐ perfectumque librum suppleuerit. Der oblique Konjunktiv suppleuerit stellt außer Zweifel, daß der Relativsatz nicht die Meinung Suetons wiedergibt, sondern die
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jenes Gewährsmannes, der die postcäsarianischen bella Hirtius zugeschrieben hat. Wer auch immer das gewesen sein mag (wir können den Namen nicht einmal erraten), er kann den Text des Hirtius, auf den er, wie die wörtlichen Anklänge nouissimum und imperfectum beweisen, rekurriert, nicht richtig ver‐ standen haben. Denn das letzte – achte – Buch des bellum Gallicum war kein liber imperfectus, sondern war überhaupt nicht vorhanden, so daß es Hirtius auch nicht (worauf suppleuerit führt) zu ergänzen, sondern eigens zu verfassen hatte. Wie denn auch die folgenden Zeitangaben bei Hirtius (ab rebus gestis Alexandriae etc.) nicht den geringsten Zweifel daran lassen, daß jenes unfertige Buch, das Hirtius vollendet haben will, nicht das achte Buch des bellum Gallicum gewesen sein kann. Der Gewährsmann Suetons ist hier in die Irre gegangen, weil er, ohne die Zeitbestimmungen näher in Betracht zu ziehen, das fehlende Objektssubstantiv, grammatisch vollkommen berechtigt, aus dem vorhergeh‐ enden Objekt zu contexui extrapolieren zu dürfen glaubte: und das waren die commentarii rerum gestarum Galliae. – So bezeugt noch die flüchtige Paraphrase, daß bereits jener anonyme Gewährsmann Suetons denselben Hirtiustext ge‐ lesen hat wie wir; womit die ebenso folgen- wie erfolgreiche Athetese des Ge‐ nitivs Galliae vollends fragwürdig wird. Anders als der Anonymus Suetons urteilt Otto Seel (S. 71): „Zudem sei darauf aufmerksam gemacht, daß zu nouissimumque imperfectum als Substantiv nicht commentarium, sondern doch wohl das unmittelbar vorhergehende scriptum zu ergänzen ist.“ Aber auch diese Interpretation hält nicht stand. Man blicke nur auf den Beginn des folgenden Satzes (§ 3): quos utinam qui legent scire possint, quam inuitus susceperim scribendos. Niemals hätte Hirtius den relativischen Satzanschluß im Maskulinum gewählt, wenn ihm zuvor als Objektssubstantiv scriptum und nicht vielmehr commentarius vorgeschwebt hätte. Nach alledem kann nicht zweifelhaft sein, wie die Stelle zu interpretieren ist. Hirtius bezieht die Adjektive nouissimum und imperfectum grammatisch auf das Objekt von contexui, sachlich jedoch auf jene Vorstellung, die er, durch den ablatiuus absolutus legitimiert, zu diesem Objekt als zusätzliche Bestimmung dem Leser hinzuzudenken aufgegeben hatte; oder anders: Hirtius spricht von dem letzten commentarius von Cäsars insequentia scripta, vom dritten Buche des bellum ciuile also, das ja tatsächlich unvollendet ist und genau dort abbricht, wo Hirtius fortgefahren zu sein behauptet: beim Anfang des Alexandrinischen Krieges. Diese erneute Konfusion von Sinn und Grammatik, die sowohl den antiken Anonymus wie Otto Seel in die Irre geführt hat, hat ihrerseits – wie nicht anders zu erwarten – wiederum eine unscharfe Satzaussage zur Folge. Denn der Satz nouissimum imperfectumque Caesaris commentarium confeci (so darf und muß
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man paraphrasieren) bedeutet strenggenommen: „Ich habe den letzten, unvoll‐ endeten commentarius Cäsars fertiggestellt.“ Aber das kann Hirtius unmöglich meinen. Denn der dritte commentarius des bellum ciuile umfaßt 112 Kapitel und ist so, wiewohl unfertig, eines der umfangreichsten lateinischen Prosabücher überhaupt. Wenn Hirtius diesen commentarius vom Beginn des Alexandrini‐ schen Krieges bis zum Ende Cäsars fortgeführt hätte, so hätte er die Ereignisse dieser vier Jahre – den Alexandrinischen Krieg, den Krieg gegen Pharnakes, den Afrikanischen und den Spanischen Krieg – ja nur in äußerster Abbreviatur, ge‐ wissermaßen stenographisch, erzählen können, wenn anders er den äußeren Umfang, den die Buchrolle dem Text zwingend vorschrieb, nicht vollends über‐ schreiten wollte; nicht davon zu reden, daß so die Erzählform des commentarius, die (wovon sogleich) streng dem Gesetz der Annuität gehorcht, zerstört worden wäre. Aber Hirtius meint auch hier wieder etwas anderes, als er sagt, dergestalt, daß sich das Vollenden (confeci) nicht, wie grammatisch indiziert, auf den letzten, unvollendeten commentarius des bellum ciuile bezieht, sondern auf die ganze Schrift, deren Unfertigkeit, manifestiert durch das unfertige letzte Buch, durch Weitererzählen behoben werden soll. So – und nur so – wird verständlich, daß der folgende Satz durch das Relativpronomen quos anknüpft. Wie Hirtius nicht das Maskulinum hätte wählen können, wenn ihm scriptum und nicht commentarius als Ergänzung des Prädikates confeci vorgeschwebt hätte, so hätte er nicht den Plural des Relativums setzen können, wenn er bloß eine kurzgefaßte Ergänzung des dritten Buches De bello ciuili folgen ließ; er mußte so reden, wenn er auf die drei commentarii des bellum ciuile eine Anzahl weiterer commentarii folgen lassen wollte, in denen jene Ereignisse, die Cäsar nicht mehr erzählt hatte, nacherzählt wurden. Wie viele solcher commentarii das Relativpronomen quos annonciert, läßt sich leidlich genau berechnen. Es ist ja ein Gesetz des cäsarianischen commentarius, daß nach Maßgabe der Annuität erzählt wird: commentarius und Konsulatsjahr sind grundsätzlich deckungsgleich und bilden jeweils grundsätzlich ein Buch. Dieses Kompositionsprinzip, das mit der prätendierten Objektivität des Erzähls‐ tils aufs engste zusammenhängt, wird von Cäsar streng befolgt. Die einzige Ausnahme bilden die beiden ersten Bücher des bellum ciuile, die beide die Ereig‐ nisse des einen Jahres 49 erzählen. Aber diese Bucheinteilung, die auf den Ar‐ chetypus unserer Cäsarhandschriften zurückgeht (abweichende Buchzäh‐ lungen sind überlieferungsgeschichtlich sekundär), ist nicht original, sondern wurde später (aber noch in der Antike) vorgenommen, da der Gesamtumfang der beiden Bücher (insgesamt 131 Kapitel) größer war, als es aus buchtechni‐ schen oder auch buchhändlerischen Gründen wünschenswert erschien. Anders hätte Hirtius nicht das sagen können, was er im achten Buche des bellum Gal‐
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licum (48.10) sagt: scio Caesarem singulorum annorum singulos commentarios confecisse; anders hätte sich Hirtius auch anschließend nicht so rechtfertigen können, wie er sich rechtfertigt: quod ego non existimaui mihi esse faciendum, quod insequens annus L. Paulo C. Marcello consulibus nullas res Galliae habet magno opere gestas. Hirtius bezeugt also, daß die cäsarianischen commentarii dem Prinzip der Annuität gefolgt sind; und indem er sich ausdrücklich recht‐ fertigt, daß er im achten Buche De bello Gallico gegen dieses Prinzip verstoßen habe, weil im Jahre 50 so wenig Erzählenswertes geschehen sei, bezeugt er auch, daß jene commentarii, die er als Fortsetzung des bellum ciuile ankündigt, ebenso dem Prinzip der Annuität hätten folgen sollen, wie ihnen Cäsars commentarii de bello ciuili folgen. Hirtius hätte demnach zum mindesten für die Jahre 47 bis 45, die jeweils eine Fülle von res gestae Cäsars enthielten (davon war bereits die Rede), jeweils einen commentarius verfassen müssen; das Jahr 44, von dem Cäsar ja nur knapp das erste Viertel erlebt hatte, hätte entweder (wie das Jahr 50) noch im vorausgehenden commentarius Platz finden können, oder es bildete, wenn Hirtius eine ausführlichere Schilderung von Cäsars innenpolitischen Maß‐ nahmen, seinen außenpolitischen Vorhaben und von seinem Tode plante, einen eigenen abschließenden commentarius für sich. Wie zwischen Cäsars bellum Gallicum und bellum ciuile, so klaffte auch eine Lücke zwischen Hirtius’ (vollendetem) commentarius über den Gallischen Krieg und den (geplanten) drei oder vier commentarii über den Bürgerkrieg. Wie jene, so muß Hirtius auch diese Lücke zu schließen bestrebt gewesen sein, denn an‐ ders wären diese zeitlich so disparaten Schriften sachlich kaum verständlich und literarisch kaum lebensfähig gewesen. Daß Hirtius plante, das Disparate etwa durch einen bloßen redaktionellen Verweis auf Cäsars bellum ciuile zu ver‐ binden, würde man auch dann nicht glauben, wenn er nicht im folgenden Satz (§ 3) ausdrücklich etwas anderes versicherte. Dort heißt es, er hoffe dem Vorwurf der stultitia und arrogantia zu entgehen, qui me mediis interposuerim Caesaris scriptis – „da ich mich mitten in Cäsars Schriften hineingestellt habe“. Diese Aussage trifft nicht zu, wenn Hirtius auf das achte Buch De bello Gallico unmit‐ telbar seine eigenen commentarii über den Bürgerkrieg hätte folgen lassen wollen, wohl aber dann und nur dann, wenn zwischen seinen eigenen, zeitlich disparaten commentarii Cäsars bellum ciuile zu stehen kam. Das aber heißt nichts anderes, als daß Hirtius geplant hat, im Rahmen seiner commentarii auch Cäsars commentarii de bello ciuili erscheinen zu lassen; oder anders: Die Edition von Cäsars bellum ciuile ist es gewesen, die Hirtius veranlaßt hat, das bellum ciuile an das bellum Gallicum anzuknüpfen und zugleich fortzusetzen bis zum Tode Cäsars.
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Wie denn auch nicht? Cäsars bellum ciuile kann ja, als Hirtius die epistula ad Balbum schrieb, schwerlich bereits publiziert gewesen sein. Cäsar selbst weist ja durch die Ausdrücke bello perfecto (b.c. 3.18.5), postea confecto bello (b.c. 3.57.5) und postea bello confecto (b.c. 3.60.4) nicht weniger als dreimal darauf hin, daß er das bellum ciuile erst nach Beendigung des Krieges verfaßt hat. Gleichviel, ob diese Bemerkungen dem Ende des pompejanisch-alexandrinischen Krieges im Frühjahr 47 gelten oder (was mir wahrscheinlicher ist) das Ende des gesamten Bürgerkrieges im Frühjahr 45 nach der Schlacht bei Munda annoncieren, in jedem Falle antizipieren sie, was erst noch erzählt werden sollte, und verweisen so auf die Unfertigkeit des Werkes. Hiermit stimmt überein, daß das Werk am Ende abrupt abbricht und auch sonst (worauf hier nicht näher eingegangen werden kann) in Stil und Komposition alle Züge eines vorläufigen Entwurfs trägt, der bisweilen nachgerade Stichwortcharakter annimmt und selbst vor Agrammatismen nicht zurückschreckt. Aus alledem folgt zwingend, daß man Cäsar für die Publikation dieses Textes nicht verantwortlich machen darf. Kein Autor würde einen unfertigen und so vorläufigen Text selber publizieren, am allerwenigsten ein so dezidierter Anhänger des sermo purus et Latinus, als wel‐ cher sich Cäsar in seiner Schrift De analogia theoretisch und in seinen commen‐ tarii de bello Gallico praktisch erweist. – Dies alles recht erwogen, ergibt sich eine einfache Rechnung: Da Cäsar am 15. März 44 ermordet wurde, die epistula ad Balbum jedoch (wie später zu zeigen sein wird) spätestens im Spätsommer desselben Jahres geschrieben worden ist, so sieht man nicht, wann jemand vor Hirtius die Edition und Publikation des bellum ciuile hätte bewerkstelligen können. Kein anderer als Hirtius selbst ist es gewesen, der den Plan gefaßt hat, Cäsars bisher unpublizierte commentarii de bello ciuili zu publizieren und durch eigene commentarii sowohl fortzusetzen wie auch an die commentarii de bello Gallico anzuknüpfen. Im Lichte dieser Überlegungen sind auch die beiden folgenden Sätze der epistula zu interpretieren (§§ 4 sq.). Hirtius spricht hier von der elegantia der Cäsarianischen commentarii und fährt fort: qui sunt editi, ne scientia tantarum rerum scriptoribus deesset, adeoque probantur omnium iudicio, ut praerepta, non praebita facultas scriptoribus uideatur. Um diesen Satz richtig zu würdigen, muß man heranziehen, wie Cicero im Brutus (75.262) über Cäsars commentarii urteilt: ualde quidem, inquam, probandos; nudi enim sunt, recti et uenusti omni ornatu orationis tamquam ueste detracta. sed dum uoluit alios habere parata, unde su‐ merent qui uellent scribere historiam, ineptis gratum fortasse fecit …; sanos quidem homines a scribendo deterruit; nihil est enim in historia pura et inlustri breuitate dulcius. Auch ein flüchtiger Vergleich beider Sätze stellt außer Frage, daß Hir‐ tius, was Cicero äußert, zwar nicht wörtlich, aber dem Sinne nach wiederholt:
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daß Cäsars commentarii, dem äußeren Anschein und auch dem Titel nach als bloße Materialsammlung für spätere Geschichtsschreibung konzipiert, gleich‐ wohl selber schon unübertreffliche historiographische Meisterwerke sind. Dieses Urteil kann sich bei Cicero, da der Brutus im Frühjahr 46 verfaßt wurde, nur auf das bellum Gallicum beziehen, das, da das bellum ciuile noch nicht er‐ schienen war, von Brutus einfach als commentarii rerum suarum bezeichnet werden kann. Aber auch Hirtius hat fraglos allein das bellum Gallicum im Auge; denn auf das unfertige und in vielem Betracht nur vorläufig konzipierte bellum ciuile ließ sich das enthusiastische Lob des Hirtius ebensowenig anwenden wie das Lob Ciceros, das Hirtius (der mit Cicero wohlbekannt war) anspielend und dem berühmten Manne gleichsam salutierend wiederholt, unbekümmert darum, daß jene Lobesäußerung, die sachlich allein dem bellum Gallicum galt und gelten konnte, sich grammatisch nun auch auf das bellum ciuile beziehen ließ. – Aber daß Ungenauigkeit des sprachlichen Ausdrucks ein Charakteristikum des Hir‐ tianischen Stils ist, hat sich ja bereits mehrfach erwiesen. Es bleibt zu fragen, wie der Arbeitsplan, den die epistula ad Balbum ankündigt, ausgeführt worden ist. Geleistet ist zunächst die Verknüpfung zwischen bellum Gallicum und bellum ciuile: der liber octauus de bello Gallico, der bei Sueton (Diu. Iul. 56.1) ausdrücklich als Werk des Hirtius bezeichnet wird, während die Cä‐ sarhandschriften (die subscriptio des codex Parisinus Lat. 5764 zum achten Buche De bello Gallico ausgenommen) den historischen lapsus begehen, das cognomen von Hirtius’ Mitkonsul des Jahres 43 – C. Vibius Pansa – einzuschwärzen, und so von einem Hirtius Pansa sprechen, den es nie gegeben hat. Es folgt (wie zu erwarten) die Edition des bellum ciuile, und zwar in der Form, in der man in der Antike nachgelassene Werke zu edieren pflegte: äußerst pietätvoll also, ohne daß der vorgefundene Text, wie unvollkommen auch immer, im geringsten an‐ getastet würde; allein der Schlußsatz (b.c. 3.112.12) verdankt sich einem Re‐ daktor, der das abrupte Ende sowohl markieren wie auch abmildern wollte: haec initia belli Alexandrini fuerunt. Nun müßten – laut Plan – die commentarii des Hirtius über die Ereignisse der Jahre 47 bis 44 folgen. Was folgt, ist das bellum Alexandrinum, das bellum Africum und das bellum Hispaniense, und die Frage ist zu stellen, ob diese bella jene commentarii sind, die Hirtius zu verfassen ge‐ plant hat. Über die Verfasser der postcäsarianischen bella bemerkt Sueton (Diu. Iul. 56.1): … Alexandrini Africique et Hispaniensis (sc. bellorum) incertus auctor est; alii Oppium putant, alii Hirtium, qui etiam Gallici belli nouissimum imperfec‐ tumque librum suppleuerit. Diese Notiz, die ältere Gelehrsamkeit resümiert, stellt außer Zweifel, daß man schon in der Antike die Verfasser jener drei bella nicht mehr gekannt hat. So riet man auf Cäsarianer, von denen man wußte, daß sie
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literarisch tätig gewesen sind, und verfiel einerseits auf C. Oppius, der eine uita Cäsars und eine uita des Cäsarmörders C. Cassius Longinus verfaßt hatte (HRR 2 p. 46 – 49), andererseits auf Aulus Hirtius, von dem nicht nur das achte Buch De bello Gallico stammte, sondern auch eine uituperatio des jüngeren Cato, die Cäsars Anticatones präludierte (3 p. 233 Klotz). Aber diese gelehrten Mutma‐ ßungen sind schon darum unglaubwürdig, weil sich die bella des corpus Caesa‐ rianum in Sprache und Stil so fundamental voneinander unterscheiden, daß sie unmöglich von ein und demselben Autor herrühren können, sondern drei ver‐ schiedenen Verfassern zuzuordnen sind. Dies als unstrittig zugestanden (obwohl auch dies bestritten worden ist), haben so namhafte Cäsarforscher wie Carl Nipperdey (De supplementis com‐ mentariorum C. Iulii Caesaris, Berlin 1846), Alfred Klotz (Cäsarstudien, Leipzig– Berlin 1910) und Jean Andrieu (La guerre d’Alexandrie, Paris 1954) den Versuch unternommen, wenigstens das bellum Alexandrinum für Hirtius zu reklamieren, da es in Sprache und Erzählstil Ähnlichkeiten mit dem achten Buche De bello Gallico aufweise. Allein, wenn es immer ein gewagtes Unterfangen ist, aufgrund rein sprachlicher Kriterien einen anonym überlieferten Text einem bekannten Autor zuzuweisen, so gibt es in diesem Falle sogar zwingende sachliche Gründe, die die Autorschaft des Hirtius ausschließen. Denn der Autor des bellum Ale‐ xandrinum verrät zweimal, daß er die Kriegsereignisse, die er beschreibt, selber miterlebt hat. So heißt es b.A. 3.1: ipsi homines ingeniosi atque acutissimi, quae a nobis fieri uiderant, ea sollertia efficiebant, ut nostri illorum opera imitati ui‐ derentur; und b.A. 19.6 steht zu lesen: pugnabatur a nobis ex ponte, ex mole. Hirtius dagegen versichert in seiner epistula (§ 8) ausdrücklich, am Alexandri‐ nischen Krieg nicht teilgenommen zu haben: mihi ne illud quidem accidit, ut Alexandrino atque Africano bello interessem. Es war nur konsequent, daß Nip‐ perdey, um diesen Widerspruch zu beseitigen, an den obengenannten Stellen des bellum Alexandrinum zweimal das überlieferte Personalpronomen nobis in nostris ändern wollte (S. 7): nemo dubitabit, quin … altero loco recte ante Ouden‐ dorpium ‘a nostris’ editum idemque priore ponendum sit. Aber so konsequent dieser Eingriff ist, so gewaltsam ist er auch, zumal er aus keinem anderen Grunde erfolgt, als daß bewiesen werden kann, was bewiesen werden soll. Gibt man jedoch der Methode die Ehre und schreckt davor zurück, aufgrund einer bloßen petitio principii in den überlieferten Text einzugreifen, so bleibt keine andere Auskunft, als daß Hirtius nicht der Verfasser des bellum Alexandrinum gewesen sein kann. Und noch weniger können das bellum Africum und das bellum His‐ paniense, die sich sprachlich und erzähltechnisch nicht nur voneinander, son‐ dern jeweils auch vom bellum Alexandrinum und vom achten Buche de bello Gallico grundlegend unterscheiden, als Werke des Hirtius angesehen werden.
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Wie denn auch? Hirtius hatte angekündigt, commentarii im Stile Cäsars zu schreiben. Die postcäsarianischen bella aber geben den Grundsatz der Annuität, den der commentarius zwingend fordert, auf und erzählen, ohne Rücksicht auf das Konsulatsjahr zu nehmen: Das bellum Alexandrinum reicht von Anfang Ok‐ tober 48 bis Ende September 47; das bellum Africum von Mitte Dezember 47 bis Ende Juli 46; das bellum Hispaniense von Anfang November 46 bis Mai 45. Wäh‐ rend das bellum Africum und das bellum Hispaniense eine rein thematisch-mo‐ nographische Erzählweise befolgen, erzählt das bellum Alexandrinum, anders als der Titel vermuten läßt, die Ereignisse des Jahres 48, sofern sie von Cäsar unerzählt geblieben waren, und die Ereignisse des Jahres 47 vollständig, also nicht nur den Alexandrinischen Krieg (c. 1 – 33), sondern auch die Kämpfe zwi‐ schen Domitius und Pharnakes (c. 34 – 41), die Ereignisse in Illyrien (c. 42 – 47) und in Spanien (c. 48 – 64) und schließlich Cäsars Sieg über Pharnakes (c. 65 – 78). Die Tendenz, die Ereignisse eines Jahres vollständig zu erzählen, ist dem com‐ mentarius eigentümlich, und auch die mehrfachen erzählerischen Rückgriffe auf Ereignisse des vorhergehenden Jahres lassen sich rechtfertigen, wenn man be‐ denkt, daß Cäsar den letzten commentarius de bello ciuili unvollendet hinter‐ lassen hatte. Gleichwohl kann das bellum Alexandrinum nicht als vollgültiger commentarius angesehen werden; denn der Verfasser hat es versäumt, die Dar‐ stellung durch die Erwähnung des Konsulatsjahres zu gliedern, so daß die Er‐ zählung ständig zwischen den Jahren 48 und 47 hin- und herspringt, so daß es erst historischer Kritik bedarf zu erkennen, in welchem Jahre die Erzählung jeweils spielt. Zieht man dagegen in Betracht, wie sorgfältig Hirtius im achten Buche De bello Gallico (48.10 sq.) durch Nennung der Konsuln den Leser infor‐ miert, daß die Erzählung vom Jahre 51 auf das Jahr 50 übergeht, so steht außer Zweifel, daß auch das bellum Alexandrinum nicht von Hirtius herrühren kann, da es, nicht anders als das bellum Africum und das bellum Hispaniense, die grundlegende Erzählstruktur des cäsarianischen commentarius aufgegeben hat. Die postcäsarianischen bella können mithin nicht als Werke des Hirtius gelten; sie sind vielmehr nichts anderes als ein Ersatz für das, was Hirtius zu leisten versprochen, aber zu leisten nicht mehr imstande gewesen ist: regelrechte, dem Gesetz der Annuität folgende commentarii über die Taten Cäsars aus den Jahren 47 bis 44. Dieser Befund ist um so merkwürdiger, als Hirtius ja in seiner epistula (§ 2) durch das Perfekt confeci außer Zweifel stellt, daß er jene commentarii, die Cä‐ sars bellum ciuile fortzusetzen und abzuschließen bestimmt waren, allesamt be‐ reits fertiggestellt habe. Diese uneingelöste Vorankündigung, die sich weder le‐ xikalisch noch grammatisch aus der Welt schaffen läßt, hat in der Forschung stets die größte Verwunderung ausgelöst. Die Sache an und für sich zwar ist so
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ungewöhnlich nicht. Zwei berühmte Beispiele mögen genügen. Thukydides er‐ klärt im fünften Buche seiner Historien (26.1) expressis uerbis, er habe die Ge‐ schichte des Peloponnesischen Krieges bis zur Niederlage Athens fertiggestellt (γέγραφε). Und Ovid betont im zweiten Buche der Tristien (249 sq.) ebenso aus‐ drücklich, er habe zwölf Bücher Fasti geschrieben (scripsi). Beide Behauptungen, wiewohl jeweils im resultativen Perfekt gehalten, stimmen mit dem tatsächli‐ chen Befund notorisch nicht überein. Was aber die Äußerung des Hirtius dem‐ gegenüber so unbegreiflich erscheinen läßt, ist die Tatsache, daß sie nicht in einem noch unfertigen Literaturwerk getan wird, sondern in einem Brief. Sie bleibt unbegreiflich allerdings nur so lange, wie man – was der überwiegende Teil der Forschung tut – den Balbusbrief als wirklichen Brief anzusehen geneigt ist. Das geht offenbar nicht an; denn Hirtius hätte ja beim nächsten brieflichen oder persönlichen Kontakt mit Balbus bekennen müssen, daß er noch gar nicht geleistet habe, was geleistet zu haben er schriftlich verkündet hatte. Die unein‐ gelöste Vorankündigung beweist vielmehr nachgerade schlagend, daß die epis‐ tula ad Balbum kein wirklicher, sondern ein fiktiver Brief gewesen ist, von vorn‐ herein dazu bestimmt, als Proömium zu fungieren und Rechenschaft zu geben über das Unterfangen, Cäsars bellum Gallicum durch einen eigenen commenta‐ rius mit dem bellum ciuile zu verknüpfen, das bellum ciuile zu publizieren und diese Publikation durch eigene commentarii fortzusetzen bis zu Cäsars Tod – entschieden ein ungewöhnliches Unterfangen, das durch die ungewöhnliche Form eines Briefes einzuleiten ein durchaus angemessener Gedanke war, mag auch die sprachliche Realisierung dieses Gedankens bisweilen unangemessen erscheinen. Wie denn auch die zahlreichen Bescheidenheitsbeteuerungen des Hirtius, die die ganze praefatio durchziehen (vgl. bes. §§ 1.3.9), nur verständlich sind, wenn der Brief zur Veröffentlichung bestimmt gewesen ist. Diese Beschei‐ denheitsbeteuerungen darf man im übrigen nicht als bloße rhetorische Topoi auffassen; sie verraten vielmehr echte Sorge, ja Furcht, an Cäsars Genialität gemessen zu werden, und diese Furcht, die Hirtius ehrt, dürfte das Ihre dazu getan haben, daß Hirtius hier so befangen und gewunden formuliert, während er im achten Buche De bello Gallico, wo er aus der Sache redet, zwar kein cäsa‐ rianisches, aber doch ein durchaus ansprechendes und wohlverständliches La‐ tein schreibt. Will man wissen, weshalb Hirtius unvollendet ließ, was er in seiner praefatio als vollendet ankündigt, so muß man einen Blick auf die äußeren Bedingungen werfen, die sein Leben nach Cäsars Tod am 15. März 44 bestimmt haben. Wir kennen diese Bedingungen vergleichsweise genau. Am 16. März 44 spricht sich Hirtius in der Ratsversammlung der Cäsarianer für eine gütliche Einigung mit den Cäsarmördern aus, und der amtierende Konsul Antonius pflichtet der An‐
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sicht des consul designatus bei und setzt sie auf der Senatssitzung vom 17. März ins Werk (Nicol. Damasc. Vit. Caes. 27.106). Am 19. und am 20. März verhandelt Hirtius in Rom mit Decimus Brutus über politische Garantien für die Cäsar‐ mörder (Cic. Ad fam. 11.1). Spätestens am 17. April befindet sich Hirtius in Pu‐ teoli (Cic. Ad Att. 14.8.1, 9.2), und dieser Aufenthalt dauert mindestens bis zum 16. Mai (Cic. Ad Att. 15.1.2 sq.). Während dieser vier Wochen verkehrt Hirtius nicht nur mit Cicero und seinem designierten Amtskollegen Vibius Pansa, son‐ dern auch mit Cornelius Balbus (Cic. Ad Att. 14.9.2 sq., 11.2, 12.2, 20.4, 21.4, 22.1; 15.1.2 sq.; de fato 1sq. 1 – 4). Mehr noch: Cicero berichtet am 11. Mai, daß Hirtius sogar mit Balbus zusammengewohnt habe (Ad Att. 14.20.4): … uiuit habitatque cum Balbo. Im Laufe dieses Kontuberniums ist offenbar geschehen, was Hirtius im ersten Satz der epistula ad Balbum (§ 1) berichtet: daß er durch die unabläs‐ sigen mündlichen Bitten (adsiduis … uocibus) des Balbus bestimmt worden sei, die commentarii Cäsars zu vollenden. Daß Balbus seinerseits gerade auf Hirtius verfiel, kann nicht wundernehmen; denn Hirtius war ein Jahr zuvor schon einmal für die Sache Cäsars literarisch tätig gewesen und hatte im Frühjahr 45 eine uituperatio des Cato Uticensis verfaßt, die bestimmt war, die laudatio Ci‐ ceros zu widerlegen (3 p. 233 Klotz). Wie damals, so waren es auch jetzt fraglos politische Gründe, die ein literarisches Eingreifen rätlich erscheinen ließen: Es war für die Anhänger Cäsars politisch von der allergrößten Bedeutung, daß möglichst bald nach Cäsars Ermordung, da die politische Entwicklung noch ganz ungeklärt war, eine vollständige Darstellung der Taten Cäsars an die Öf‐ fentlichkeit gebracht würde, damit das Publikum noch einmal publizistisch daran erinnert würde, wie Cäsar den Gallischen Krieg erfolgreich liquidierte und sodann, um seine dignitas als römischer Imperator zu wahren, nicht anders konnte, als sich gegen Pompeius und die Senatsaristokratie militärisch zu ver‐ teidigen, um schließlich, nachdem er seiner gerechten Sache immer wieder zum Siege verholfen hatte, heimtückisch von jenen ermordet zu werden, denen ge‐ genüber er immer wieder clementia hatte walten lassen. Zurück zur Chronologie. Gegen Ende Mai 44 schreibt Hirtius an Cicero, er habe Rom (wo er, rechnet man nach, kaum mehr als einige Tage verbracht haben kann) wieder verlassen und begebe sich auf sein Tusculanum (Ad Att. 15.6.2): ex urbe sum profectus, utilius enim statui abesse. has tibi litteras exiens in Tusculanum scripsi. Ein genaueres Datum liefert Cicero, der am 28. Mai meldet, daß Hirtius bereits in Tuskulum angekommen sei (Ad Att. 15.5.2): … iam in Tusculano est. In dieser Muße, die durch die politische Entwicklung in Rom erzwungen war (vgl. Cic. Ad Att. 15.5.2, 6.2, 8.1), dürfte Hirtius sein Vorhaben ins Werk gesetzt haben: Er schrieb die epistula ad Balbum (die, wenn auch fiktiv, gleichwohl eine räum‐ liche Trennung von Balbus voraussetzt) und das achte Buch De bello Gallico; daß
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er auch die Edition von Cäsars nachgelassenem bellum ciuile vornahm, ist wahr‐ scheinlich, wenn auch nicht erweislich. Sicher ist, daß Hirtius hoffte, er werde auch seine eigenen commentarii über den Bürgerkrieg, die die epistula als voll‐ endet bezeichnet, in absehbarer Zeit vollenden können. Diese Hoffnung war um so berechtigter, als er vieles von dem, was er schildern wollte, selbst miterlebt hatte und für den Alexandrinischen und den Spanischen Krieg, an denen er nicht teilgenommen hatte, auf mündliche Berichte Cäsars zurückgreifen konnte (praef. § 8): quae bella … ex parte nobis Caesaris sermone sunt nota. Es kam anders. Im Spätsommer 44 erkrankte Hirtius so schwer, daß an lite‐ rarische Aktivitäten offenbar nicht mehr zu denken war. Cicero berichtet in der ersten Philippischen Rede, die am 2. September gehalten wurde, ganz Italien sei wegen der Erkrankung des designierten Konsuls in Sorge (15.37): … num etiam hoc contemnitis, quod sensistis tam caram populo Romano uitam A. Hirti fuisse? satis erat enim probatum illum esse populo Romano, ut est; … tantam tamen sol‐ licitudinem bonorum, tantum timorem omnium in quo meminimus? Am 19. Sep‐ tember schreibt Cicero an Q. Cornificius, Hirtius erhole sich nur langsam (Ad fam. 12.22.2): Hirtius noster tardius conualescit. Wie schwer diese Erkrankung war und wie langwierig, geht daraus hervor, daß Hirtius, als er Anfang Januar 43, also kurz nach Übernahme des Konsulats, ins Feld zog, um in Oberitalien gegen Antonius zu kämpfen, immer noch nicht gesund war. Cicero äußert in der siebten Philippischen Rede Mitte Januar 43 (4.12): quid igitur profectus est uir fortissimus, meus conlega et familiaris, A. Hirtius consul? at qua imbecillitate, qua macie! sed animi uiris corporis infirmitas non retardauit. Ganz ähnlich resümiert die zehnte Philippische Rede (8.16): at horum alter (sc. Hirtius) nondum ex longi‐ nquitate grauissimi morbi recreatus quicquid habuit uirium id in eorum libertatem defendendam contulit quorum uotis iudicauit se a morte reuocatum. Das Konsulat aber und der Krieg gegen Antonius nahmen Hirtius im Jahre 43 vollends jede Möglichkeit zu literarischer Tätigkeit, und als er am 21. April 43 vor Mutina in siegreichem Kampfe fiel, da war von dem, was er geplant hatte, kaum die Hälfte fertig und nichts veröffentlicht. Was nun geschah, läßt sich nur mehr vermuten. Aber da es für die Cäsarianer im Frühjahr 43 nicht weniger wichtig und politisch opportun war, eine voll‐ ständige Darstellung der Taten des ermordeten Diktators an die Öffentlichkeit zu bringen, als im Frühjahr 44, so spricht viel dafür, daß nicht lange nach Hirtius’ Tod ein Freund und Vertrauter – man denkt sofort an Cornelius Balbus – den Entschluß gefaßt hat, das, was Hirtius geplant hatte, ins Werk zu setzen. Dieser Redaktor übernahm, was er vorfand: die Brief-praefatio des Hirtius, das achte Buch De bello Gallico und (wenn er sie nicht selber vornahm) die Edition von Cäsars bellum ciuile. Was fehlte – die Darstellung der Bürgerkriegsereignisse
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nach 48 – , ergänzte der Redaktor durch jene drei bella, die wir heute lesen: Erinnerungsschriften verschiedener, vielleicht schon damals namentlich nicht mehr bekannter Kriegsteilnehmer, die vermutlich unter den subsidia des Hirtius zu finden waren. Daß dieser Redaktor auch bereits das Hirtianische corpus (wenn dieser Ausdruck erlaubt ist) mit den bereits publizierten commentarii de bello Gallico Cäsars vereinigt hat, ist immerhin möglich; wahrscheinlicher aber ist, daß diese Gesamtvereinigung, durch die das corpus Caesarianum erst seine endgültige Form erlangt hat, erst später (aber noch vor Sueton) von gelehrter Hand vorgenommen wurde. Dergestalt stellt sich, alles recht erwogen, die Entstehungsgeschichte des corpus Caesarianum dar. Daß dieses corpus ursprünglich anders aussehen sollte, als es heute aussieht, lehrt die eigentümliche Brief-praefatio des Hirtius, die die Pietät des Redaktors, antikem usus folgend, unangetastet ließ, obwohl das, was dort angekündigt wird, nur zum Teil übereinstimmt mit dem, was tatsächlich vorzufinden ist. Aber dieser pietätvollen Inkonsequenz, die jeden Gedanken an eine spätere Fälschung ausschließt, verdanken wir, daß wir noch etwas erahnen können von der verwickelten Entstehungsgeschichte des corpus Caesarianum, das, zwei (wenn nicht drei) redaktionellen Entwürfen folgend, zwei unvollen‐ dete Werke zweier Autoren in sich birgt und drei Werke dreier anonymer Au‐ toren noch dazu und so auf seine Weise literarisch Kunde gibt von der politi‐ schen Unrast und Wandelhaftigkeit der Zeit des Bürgerkrieges, den Hirtius (§ 2), cäsarianischer Sprachregelung folgend (vgl. bes. b.c. 3.1.3, 88.2), verharmlosend als ciuilis dissensio bezeichnet, gleichwohl aber bekennen muß, man sehe das Ende nicht ab: finem nullum uidemus. – Wir wissen, daß das Morden, dem alsbald auch Hirtius zum Opfer fallen sollte, noch mehr als zwölf Jahre währte, bis ihm Cäsars Großneffe und Adoptivsohn C. Octauius, dereinst Augustus, ein Ende setzte in der Schlacht bei Aktium. Bibliographia Hirtiana Vorbemerkung: Die nachfolgende Bibliographie soll einen Überblick über die verwickelte Geschichte der Hirtiusforschung ermöglichen; sie ist daher chro‐ nologisch angelegt. Die einschlägigen Titel zu Hirtius werden (soweit er‐ reichbar) vollständig aufgeführt, die Literatur zu den postcäsarianischen bella in Auswahl, sofern sie für Hirtius von besonderer Bedeutung ist. Die unüber‐ sehbare Literatur zu Cäsar konnte nur in Ausnahmefällen berücksichtigt werden; statt dessen sei auf folgende Bibliographien und Literaturberichte ver‐ wiesen, die einen bequemen Überblick über die moderne Cäsarforschung er‐ lauben: H. Oppermann, Probleme und heutiger Stand der Caesarforschung; in: Caesar, hrsg. von D. Rasmussen, Darmstadt 1967 (3. Aufl., ebd. 1980),
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S. 485 – 522. – J. Kroymann, Caesar und das Corpus Caesarianum in der neueren Forschung: Gesamtbibliographie 1945 – 1970; in: Aufstieg und Niedergang der rö‐ mischen Welt 1.3 (1973), S. 457 – 487. – H. Gesche, Caesar, Darmstadt 1976. H. Dodwell:
W. Drumann:
C. Nipperdey:
L. Vielhaber:
E. Fischer: R. Petersdorff:
H. Schiller: Ders.: F. Becher: J. C. Laurer:
G. Landgraf: A. G. Peskett: O. Hirschfeld:
Dissertatio de auctore libri VIII de bello Gallico et Alexand‐ rino Africano atque Hispaniensi; in: F. Oudendorp (Hrsg.), C. Iulii Caesaris … commentarii, 2. Bd., Stuttgart 1822, S. 869 – 874. Geschichte Roms in seinem Übergang von der republikani‐ schen zur monarchischen Verfassung, 3. Bd., Königsberg 1837; 2. Aufl., hrsg. von P. Groebe, Leipzig 1906, S. 64 – 74: Hirtius. De supplementis commentariorum C. lulii Caesaris, Diss. Berlin 1846. – Wiederabdruck in: – , C. lulii Caesaris com‐ mentarii cum supplementis A. Hirtii et aliorum, Leipzig 1847, S. 1 – 151: Quaestiones Caesarianae. Beiträge zur Kritik und Erklärung lateinischer Schriftsteller; in: Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien 18 (1867) S. 614 – 622, bes. S. 618: Caes. b.G. VIII prooem. § 2. Das 8. Buch vom gallischen Kriege und das bellum Alexand‐ rinum, Gymn.-Progr. Passau 1880. Die Quellenfrage zu Caesars bel. Gal. lib. VIII, bel. Alex., bel. Afric. und bel. Hispan.; in: Zeitschrift für das Gymnasial‐ wesen 34 (1880) S. 215 – 219. Zur Hirtiusfrage; in: Blätter für das Bayerische Gymnasialund Realschulwesen 16 (1880) S. 246 – 252. Zu Caesar und seinen Fortsetzern; in: Blätter für das Baye‐ rische Gymnasial- und Realschulwesen 16 (1880) S. 393 – 399. Zu de bello Gallico VIII praef. 4; in: Philologus 42 (1884) S. 409 f. Zur Kritik und Erklärung von Caesars Büchern über den Gal‐ lischen Krieg. VIII. Buch (Hirtius), Gymn.-Progr. Schwabach 1886. Untersuchungen zu Caesar und seinen Fortsetzern, Gymn.-Progr. München 1888. Caesar b.g. VIII praef. § 2; in: Classical Review 2 (1888) S. 326. Zu römischen Schriftstellern; in: Hermes 24 (1889) S. 101 – 107, bes. 101 – 103: b.G. VIII praef. § 2.
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H. Schiller:
W. v. Hartel: H. Schiller: A. Widmann:
S. Dosson: J. Zingerle:
A. Daumann: H. Schiller: Ders.: Ders.: J. Forchhammer: H. Schiller: F. Vogel:
H. Walther:
F. W. Kelsey:
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Vom Ursprung des bellum Alexandrinum; in: Blätter für das Bayerische Gymnasialschulwesen 26 (1890) S. 242 – 251, 393 – 400, 511 – 523. Die Caesarausgabe des Hirtius; in: Commentationes Woelff‐ linianae, Leipzig 1891, S. 113 – 123. Zu Caesar und seinen Fortsetzern; in: Commentationes Woelfflinianae, Leipzig 1891, S. 49 – 56. Ueber den Verfasser des bellum Africanum und die Pollio-Hypothese Landgrafs; in: Philologus 50 (1891) S. 550 – 565. Hirtius de bello gallico, VIII, prooe. 2; in: Revue de Philologie 16 (1892) S. 40 f. Zur Frage nach der Autorschaft des bellum Alexandrinum und dessen Stellung im corpus Caesarianum; in: Wiener Stu‐ dien 14 (1892) S. 74 – 119. C. Iulii Caesaris commentariorum supplementa quomodo inter se cohaereant, Gymn.-Progr. Braunau 1893. Zu Caes. Bell. Gall. VIII; in: Blätter für das Gymnasial-Schul‐ wesen 29 (1893) S. 10. Die Cäsarausgabe des Hirtius; in: Philologus 6 Suppl. (1891 / 93) S. 395 – 399. Zu Hirtius Praefatio von Bell. Gall. VIII; in: Philologus 54 (1895) S. 191 f. Caesar, Hirtius og Pollio. Historisk-kritisk Undersøgelse; in: Nordisk Tidsskrift for Filologi 3.4 (1895 / 96) S. 28 – 49, 97 – 112. Über Entstehung und Echtheit des Corpus Caesarianum, Gymn.-Progr. Fürth 1899. Über die Entstehung des Bellum Gallicum; in: Neue Jahrbü‐ cher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Li‐ teratur 5 (1900) S. 217 – 220, bes. S. 217 f.: Stammt das VIII. Buch des B. G. von Hirtius? Über die Ächtheit und Abfassung der Schriften des Corpus Caesarianum. I: Bellum Gallicum – bellum civile – bellum Alexandrinum, Gymn.-Progr. Grünberg 1903. The title of Caesar’s work on the Gallic and Civil wars; in: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 36 (1905) S. 311 – 338.
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Curae Hirtianae, Diss. Rostock, Berlin 1906. Hirtius, Bell. Gall. 8.4.1; in: Revue de Philologie 30 (1906) S. 104. F. W. Kelsey: Hirtius’ letter to Balbus and the commentaries of Caesar; in: Classical Philology 2 (1907) S. 92 f. J. S. Reid: Note on the introductory epistle to the eighth book of Cae‐ sar’s Gallic war; in: Classical Philology 3 (1908) S. 441 – 445. M. L. Strack: Aulus Hirtius; in: Bonner Jahrbücher 118 (1909) S. 139 – 157. E. Kalinka: Zu Cäsars Schriften; in: Philologus 69 (1910) S. 479 – 488, bes. S. 482 – 486: Der Widmungsbrief vor dem VIII. commenta‐ rius de bello Gallico. A. Klotz: Cäsarstudien, Leipzig–Berlin 1910, S. 149 – 204: Hirtius. E. Kalinka: Die Herausgabe des bellum civile; in: Wiener Studien 34 (1912) S. 203 – 207. P. Von der Mühll: Aulus Hirtius Nr. 2; in: Pauly–Wissowas Realencyklopädie der classischen Altertumswissenschaft 8.2 (1913) Sp. 1956 – 1962. K. Kunst: Unvollendete Entwürfe; in: Wiener Studien 41 (1919) S. 97 – 101. A. Bojkowitsch: Hirtius als Offizier und Stilist; in: Wiener Studien 44 (1924 / 25) S. 178 – 188 & 45 (1926 / 27) S. 71 – 78, 221 – 232. E. Braun: Adnotationes philologicae; in: Mitteilungen des Vereins klas‐ sischer Philologen in Wien 6 (1929) S. 79 – 82, bes. S. 80: B. G. VIII praef. § 8. H. Pötter: Untersuchungen zum Bellum Alexandrinum und Bellum Af‐ ricanum, Diss. Münster, Leipzig 1932. O. Seel: Hirtius. Untersuchungen über die pseudo-caesarischen Bella und den Balbusbrief, Klio Beiheft 35, Leipzig 1935. F. Olivier: A propos d’Aulus Hirtius et de sa lettre-préface; in: Recueil de travaux publiés à l’occasion du 4e centenaire de la fondation de l’ Université de Lausanne, Lausanne 1937, S. 63 – 101. K. Barwick: Caesars Commentarii und das Corpus Caesarianum, Philo‐ logus Suppl. 31.2, Leipzig 1938, S. 172 – 215: Zum Corpus Ca‐ esarianum. – Resümee in: Forschungen und Fortschritte 15 (1939) S. 130 f. A. Kurfess: Zum Balbusbrief des Hirtius; in: Philologische Wochenschrift 61 (1941) S. 128. W. Dahms: L. Havet:
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L. W. Daly:
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Aulus Hirtius and the Corpus Caesarianum; in: Classical World 44 (1951) S. 113 – 117. F. Arnaldi: La subscriptio del 1. VIII Belli Gallici; in: Rendiconti della Accademia di Archeologia, Lettere e Belle Arti di Napoli 38 (1953) S. 305 – 309. L. Alfonsi: Nota irziana; in: Aevum 28 (1954) S. 377. B. Scholz–Wolff: Untersuchungen über Darstellungsformen des Hirtius im VIII. Buch über den Gallischen Krieg, Diss. Berlin 1956. – Dacty‐ logr. A. Haury: Autour d’Hirtius (littérature et politique); in: Revue des Etudes anciennes 61 (1959) S. 84 – 95. – Resümee in: Revue des Études Latines 34 (1956) S. 49. H. Schneider: Untersuchungen zur Darstellung von Ereignissen bei Cäsar und seinen Fortsetzern, Diss. Freiburg 1959. R. Renehan: Hirtius b.G. VIII 15,1; in: La Parola del passato 17 (1962) S. 384 f. G. Bartolini: La lettera prefatoria di Irzio all’ VIII libro del B. G.; in: Lanx Satura Nicolao Terzaghi oblata Miscellanea philologica, Genua 1963, S. 77 – 88. L. Canali: Problemi della prefazione irziana; in: Maia 17 (1965) S. 125 – 140. Ders.: Osservazioni sul Corpus cesariano; in: Maia 18 (1966) S. 115 – 137. L. Canfora: Cesare continuato; in: Belfagor 25 (1970) S. 419 – 429. W. Richter: Caesar als Darsteller seiner Taten. Eine Einführung, Heidel‐ berg 1977, S. 191 – 223: Die Fortsetzer der cäsarischen Bella. M. F. Buffa: Struttura e stile di B. G. VIII; in: Studi e Ricerche dell’Istituto di Civiltà classica cristiana medievale 7 (1966) S. 19 – 49. J. Kerschensteiner: Cicero und Hirtius; in: Studien zur Alten Geschichte, S. Lauffer zum 70. Geburtstag dargebracht, hrsg. von H. Kalcyk u. a., 2. Bd., Rom 1986, S. 559 – 575. P. R. Murphy: Caesar’s continuators and Caesar’s felicitas; in: Classical World 79 (1986) S. 307 – 317. J. Rüpke: Wer las Caesars bella als commentarii?; in: Gymnasium 99 (1992) S. 201 – 226.
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Nachtrag M. Adamczyk:
L. Canfora:
L. G. H. Hall:
D. Longrée:
L. Canfora:
C. Kraus:
L. Canali: G. Lieberg:
R. J. Panella:
Wojna aleksandryjska: autor i dzielo; in: Roczniki humanisty czne. Filologia klasyczn 36 (1988) S. 129 – 138 [Hirtius Verf. des Bellum Alexandrinum]. La Lettera a Balbo e la formazione della raccolta cesariana; in: Annali della Scuola Normale Superiore di Pisa. Classe di Lettere e filosofia 23 (1993) S. 79 – 103. Dito in: Studi di storia della storiographia romana (Documenti e Testi 15), Bari 1993, S. 39 – 62. Hirtius and the Bellum Alexandrinum; in Classical Quarterly N. S. 46 (1996) S. 411 – 415 [Hirtius Verf. des Bellum Alexand‐ rinum]. ›nec satis tutum fore arbitratur, nisi flumen Ligerim … co‐ pias traduxisset‹ ›ruptures‹ et ›rallonges‹ chez Hirtius; in: Mélanges G. Cresbron. Volume offert au professeur à l’occa‐ sion de son départ en retraite et de son soixantième anniver‐ saire, hrsg. von E. Foulon, Angers 1997, S. 67 – 74. Sulla formazione del corpus cesariano, in: Annali dell’ Isti‐ tuto Universitario di Napoli. Dipartimento di Studi del Mondo Classico e del Mediterraneo Antico 22 (2000) S. 419 – 428. Hair, hegemony and historiography: Cesar’s style and its earliest criticis; in: Aspects of the Language of Latin Prose, hrsg. von T. Reinhardt u. a., New York 2005, S. 97 – 115. Osservazioni sul corpus cesariano; in: Rivista di cultura clas‐ sica e medioevale 58 (2006) S. 267 – 286. Hat Caesar das Bellum Gallicum selbst herausgegeben? in: Dona sunt pulcherrima. Festschrift für Rudolf Rieks, hrsg. von K. Herrmann und K. Geus, Oberhaid 2008, S. 107 – 112 [praef. Bell.Gall. VIII]. Emperor Julian’s Gallic Commentary; in: New England Clas‐ sical Journal 36 (2009) S. 255 – 258 [Remeniszenz an Hirtius].
11. Ad u.c. Segimerum Doepp de loco quodam Quintilianeo epistula Tomo LXI ephemeridis, quae Glotta inscribitur, p. CCXXVIII sqq. demonstra‐ visti, amice doctissime, apud Quintilianum Institutionis oratoriae libro XII ca‐ pite decimo paragrapho XXI textum per codices manu scriptos perperam tra‐ ditum esse. Dicit hoc loco Quintilianus de Atticorum genere vituperatque eos, qui solos Atticos esse credunt frugalitate quadam dicendi contentos: Nam quis erit hic Atticus? Sit Lysias; hunc enim amplectuntur amatores istius nominis modum. Qua ex sententia verbum modum excludendum esse recte censuisti. Nullo enim modo illud verbum cum pronomine hunc, quod praecedit, coniungi potest, ita ut pure et Latine procedat sermo. Si enim pronomine illo pro adiectivo uti velimus, traiectio efficitur maxima, quae hoc loco, cum sit totus Annaeana quadam brevitate atque vigore compositus, tolerari non potest; sin pronomen substantivi loco positum esse credimus, verbum modi tamquam exemplum vel normam hominis intellegere cogimur. Quod fieri non posse Ciceronis Filastri‐ ique locis, quos afferunt commentatores et lexicographi, tractatis luculenter ex‐ posuisti. Addere autem possis argumentum alterum, quo quod ostendisti, con‐ firmari potest. Extant enim in litteris Latinis quattuor tantum loci, ubi auctores verbum amplectendi cum binis accusativis coniunxerunt. Cicero quartae in Ca‐ tilinam orationis capite secundo paragrapho tertia: … parvolus filius, quem mihi videtur amplecti res publica tamquam obsidem consulatus mei … Celsus librorum, qui sunt de medicina, praefationis paragrapho XXVII: Contra ii, qui se Empiricos ab experientia nominant, evidentes causas ut necessarias amplectuntur. Ammianus Rerum gestarum libro XVIII capite quinto paragrapho quarta: … auctore et in‐ citatore coetu spadonum, qui feri et acidi semper carentesque necessitudinibus ce‐ teris divitias solas ut filiolas iucundissimas amplectuntur. Augustinus Confessi‐ onum libro primo capite quinto paragrapho quinta: Quis dabit mihi, ut venias in cor meum et inebries illud, ut obliviscar mala mea et unum bonum meum am‐ plectar, te? Quos locos si percensueris, intelleges Augustinum accusativo adiecto pro appositione, Ciceronem Celsum Ammianum coniunctionibus tamquam vel ut adhibitis tralate usos esse. Sequitur, ut nemo umquam auctor Latinus verbum amplectendi cum duplici, qui vocatur, accusativo coniunxerit, nedum Quinti‐ lianus, puri ille et Tulliani sermonis admirator et imitator. Qua re cognita dixerit fortasse quispiam apud Quintilianum verbum modum aut appositionis loco ha‐ bendum aut cum aliqua, quae exciderit e libris nostris, coniunctione comparativa
11. Ad u.c. Segimerum Doepp de loco quodam Quintilianeo epistula
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coniungendum esse. Quod utrumque haud veri simile esse demonstrant omnes, quos attuli, auctores, siquidem apud omnes verbum amplectendi artissime cum appositione vel tralatione cohaeret eademque vel persona vel adiectivo expressa sunt. At apud Quintilianum contra traiectio est maxima alterque accusativus quamquam appellative, tamen non persona, sed re exprimitur, ita ut nequaquam Latine, nedum pure fluat oratio, nisi verbum istud, quod exhibent codices, eici‐ atur. Quo autem modo corruptela extiterit, utrum verba modus Lysiacus a scrip‐ tore quodam vel lectore in margine posita incorruptum in textum fluxerint, an aliter se habeat res, paulum interest, siquidem, quo modo locus ille Quintilianeus interpretandus sit, didicimus abs te. Vale.
12. Erwin Rohde in Bayreuth. Sieben ungedruckte Briefe an die Braut Die vorliegenden sieben Briefe, die Erwin Rohde (1845 – 1898) während der ersten Bayreuther Festspiele im Jahre 1876 an seine Braut Valentine Framm (1859 – 1901) gerichtet hat, sind Teil des Rohde-Nachlasses, der sich heute, in direkter Folge vererbt, im Besitz von Rohdes Enkelin Hedwig Däuble (Karlsruhe) befindet. Die Briefe ergänzen so den Briefwechsel zwischen Erwin Rohde und Franz Overbeck, den kürzlich Andreas Patzer als ersten Band der Supplementa Nietzscheana (SN 1) ediert und auführlich kommentiert hat (Berlin – New York 1990). Eine Publikation dieser bisher unbekannten Dokumente erscheint sowohl aus der Sicht der Wagner- wie auch der Nietzscheforschung als wünschenswert. Die Briefe zeigen einmal, wie ein deutscher Geisteswissenschaftler und Professor für Klassische Philologie, der sich dem Wagnerkreis verbunden fühlte, Wagners Festspielunternehmen persönlich erlebt hat; und da dieser Gelehrte zugleich auch der engste Freund Friedrich Nietzsches war, so ist in seinen Briefen mit‐ telbar auch von Nietzsches Bayreuth-Erlebnis die Rede, das, wiewohl von zent‐ raler Bedeutung, nur sehr spärlich dokumentiert ist, so daß jedes neue Zeugnis, das Licht in das Dunkel der Überlieferung zu bringen vermag, willkommen sein muß. Edition und Kommentar der vorliegenden Briefe folgen denselben Grund‐ sätzen, wie sie für den Briefwechsel Overbeck – Rohde aufgestellt wurden (SN 1, S. XXXIV f.); das dort vorgelegte Abkürzungs- und Literaturverzeichnis (S. 615 – 617) gilt entsprechend; weiterführende Literatur wird jeweils suo loco vollständig zitiert. Im Unterschied zum Overbeck – Rohde-Briefwechsel wurden in den hier vorgelegten Rohde-Briefen auf Wunsch Hedwig Däubles einige Kürzungen vorgenommen. Diese Kürzungen, die grundsätzlich durch Auslas‐ sungszeichen markiert werden, betreffen ausnahmslos persönliche und intime Äußerungen Rohdes gegenüber seiner damals sechzehnjährigen Braut und spä‐ teren Frau, die nicht zur Sache gehören und daher ohne Schaden für die Wis‐ senschaft unveröffentlicht bleiben können.
12. Erwin Rohde in Bayreuth. Sieben ungedruckte Briefe an die Braut
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Die Briefe 1. Erwin Rohde an Valentine Framm in Warnemünde
Adresse: Frau Prof. Lotzbeck, Rennweg 290
Bayreuth, 12. August 76 Abends 9 1 / 2
[…] Du machst Dir keine Idee welche Unordnung, Strapaze, Staub, Hitze, Hunger und Scheusslichkeit an den Pfaden dieser Herrlichkeiten ruht! Heute Abend angekommen schreibe ich Dir in einer Kneipe; bei einiger Ruhe mehr. Morgen um 4 erste Vorstellung […] 2. Erwin Rohde an Valentine Framm in Warnemünde
Bayreuth, 14. August 76 […] Die Stadt ist voll wie zu einer Weltausstellung, Kaiser und „Ferschten“ die Menge und alles Teufelszeug; Tag und Nacht Wagengerassel und äusserste Un‐ gemüthlichkeit. Ich wohne, sonst sehr gut, leider an der belebtesten Ecke und werde fortwährend durch Lärm gestört. – Gestern Abend erste Aufführung: Rheingold, ganz herrlich und weihevoll. Nun hat es doch einmal gelebt und kann, in unsrer Erinnerung wenigstens, nicht wieder sterben. Heute „Walküre“ und dann so weiter. – Nietzsche ist hier und sucht die Anstrengungen zu ertragen. Der arme geliebte Freund! heute hat ihn Frau Wagner mit Beschlag belegt, aber von morgen an werden wir viel zusammen sein. – Ich werde soweit möglich, meine Tage so einrichten, daß ich Vormittags in einem Walde oberhalb des The‐ aters, welches auf einem Hügel über der Stadt liegt, herumliege (mit wenigen Freunden zusammen), um 1 in einer Kneipe vor dem Walde esse und dann bis zur Theaterzeit (5 Uhr) wieder im Walde liege. Das wird das Erträglichste sein. – Im Uebrigen verweise ich dich wegen des Aeusserlichen auf die Beschreibungen der jüdischen Spione, die hier in Haufen herumkriechen und in ihre Schand‐ blätter schon lange bezahltes Zeug schreiben werden. Das Publicum ist, – das war wohl (trotz entgegengesetzter Mühe) nicht zu verhüten – ein ziemlich zu‐ fälliges: außer einer kleinen Rotte, von vielleicht 50 – 60 Menschen (zu denen ich mich ja wohl zählen darf) haben die Uebrigen kein inneres Verhältniß zu der Sache, und wissen und wollen nicht wissen, was eigentlich hier vorgeht […] Zu der „kleinen Rotte“ gehört z. B. auch Fräulein v. Meysenbug, die „Idealistin“ deren „Memoiren“ ich Dir gegeben habe […]
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12. Erwin Rohde in Bayreuth. Sieben ungedruckte Briefe an die Braut
3. Erwin Rohde an Valentine Framm im Warnemünde
Bayreuth, 15. August 76 […] ich liege nun wirklich im Walde (mit 2 Genossen) und habe den Text zum „Siegfried“ wieder durchgelesen. Jetzt will ich nur noch, um in „Reckenton“ zu bleiben, einige „Brief-runen ritzen“ damit du arme kleine Verlassene nicht meinst, ich habe dich ganz vergessen […] Gestern also „Walküre“, unsäglich herrlich und feierlich. Heute „Siegfried“: wie freue ich mich, zumal auf den wunderbaren Schluss, in welchem Brünhilde, von S›iegfried‹ geweckt, ihn fei‐ erlich, selig liebend begrüsst. Solche Klänge […] sind auf diesem Erdenballe noch nicht gesungen worden! – Im Uebrigen verlaufen die Tage mir ganz regelmäßig: ich stehe spät auf (um vom Schlaf einzuheimsen was irgend, zur Erneuerung der Nerven sich mir bietet), mache ein wenig Besuche. Dann gehen wir (durch eine entsetzliche Sonnengluth) herauf, essen und liegen stundenlag auf dem Moos im Tannenwalde, um gegen 4, wie die weisen Einsiedler des Gebirges, aus der Einsamkeit in das Menschengewimmel herunter zusteigen – und in die Wonne dieses Wunderwerkes unter zutauchen. – Der Kaiser ist zum Glück gestern Nacht abgereist, nun wird der, gar nicht zur Sache gehörige Neugierig‐ keits-schwindel ein wenig abnehmen. Bei der 2. und 3. Wiederholung wird es hoffentlich noch gemüthlicher: das werden im Wesentlichen nur eigentlich Be‐ rufene noch aushalten. – Nietzsche ist leider nicht mit im Wald, er hat seine Schwester bei sich, muss auch (als ein berühmter Mann) zu viele Bekannte und Verehrer (und -rinnen) abwarten. Er ist in einer Stimmung, die mich nicht freut: nach der übergroßen Spannung, Opferung und Anreizung aller Kräfte ist, (wie es mit dem „Glücke“ wohl meist geht, mein Kind) eine zu starke Ermüdung gerade im Moment der Erlangung des lang Ersehnten eingetreten. Und was noch sonst dazu kommt – du kannst es wohl nicht verstehen […] 4. Erwin Rohde an Valentine Framm in Warnemünde
Bayreuth 18. August 76 […] Ich bin die ganze Nacht vor Getümmel nicht zum Schlafen gekommen und in Folge dessen elend angegriffen […] Ein Unglück ist es daß ich eine so ent‐ setzlich spectakulöse Wohnung bekommen habe, in der Nacht und Tag Lärm und Geschrei, drinnen und auf der Straße ist. Indeß: pazienza! […] Also die 1. Aufführung ist (mit Unterbrechung durch einen Tag) gestern Abend zu Ende gekommen: es widersteht mir, von den Eindrücken dieses wunderbaren Werkes schon jetzt ein Wort zu sagen. Sonntag beginnt die 2. Aufführung. Hoffentlich schlafe ich bis dahin besser. – Kind, ich muss aufhören zu schreiben, eben rasseln wieder 4 Wagen auf Einmal bei mir vorüber! – Heute Abend Festmahl an dem
12. Erwin Rohde in Bayreuth. Sieben ungedruckte Briefe an die Braut
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wir Näherbefreundeten leider, um Wagners selbst willen, Theil nehmen müssen […] 5. Erwin Rohde an Valentine Framm in Warnemünde
Bayreuth, 20. Aug›ust‹ 76 […] Teufelslärm Tag und Nacht: seit 4 Nächten so gut wie gar kein Schlaf! Da soll Einer noch Briefe schreiben! Auch mit dem Walde ist’s nun nichts mehr: ich verkehre mit den liebsten Freunden recht herzlich und gemüthlich, aber da ists dann mit meiner wohlthätigen Waldeinsamkeit vorbei. – Denke Dir also […] mich in diesen Nöthen: sie wollen eben ertragen sein, und zuletzt wird mir doch eine goldig leuchtende Erinnerung an diese unsagbar herrlichen Dinge den Lohn geben. Ich muss aber hartes Kaufgeld geben […] Heute die 2. Aufführung von „Rheingold“: gleich wird es beginnen. Ob ich die 3. Aufführung, unter diesen Umständen, noch aushalte, ist fraglich. Die 2te werde ich jedenfalls durchsetzen, ohne die würde mir Alles nur halb deutlich sein, namentlich in der Musik […] Ueber die äussern Vorgänge findest du am Leidlichsten Nachricht in der Berliner „Volkszeitung“, die andern Blätter lügen meist wie ächte Judenblätter. 6. Erwin Rohde an Valentine Framm in Warnemünde
Bayreuth, 24. Aug›ust‹ 76 […] Die 2. Vorstellung ist nun auch vorüber – und meine Kräfte im Grunde nicht weniger. Ich bin wirklich recht sehr erschöpft – aber eigentlich nicht decimirt in meinen Facultäten, sondern nur von jener sonderbaren Art von Müdigkeit gefesselt, in der viele heftige begehrende und auffahrende Kräfte wie im Schlaf liegen, und die Fähigkeit zur Aufnahme geistiger Offenbarungen vielleicht fast grösser und inniger ist als sonst […] Kurz, ich bin sehr müde und spüre so eine tiefe Schwerfälligkeit in meinen innersten Organen. Für die allernächsten Tage werde ich vielleicht ein wenig verreisen: etwa nach Naumburg (das ich noch nie anders als im Regen gesehen habe) und dann auf 1 Tag nach Alexanderbad bei Wunsiedel […] Aber erst müsste das Wetter besser werden: seit gestern ist Regen und trüber Himmel, erwünscht genug nach der Hitze, aber nicht zur Reise taug‐ lich. Wahrscheinlich schwänze ich dann am Sonntag „Rheingold“ und komme nur zu den 3 übrigen Stücken. Ich will diese jedenfalls noch mitnehmen: nie vermuthlich wird man wieder die Intentionen dieses einzigen Genius so aus einer von ihm selbst geleiteten Vorführung seines größten Werkes empfinden können, und da darf man freilich die Gelegenheit nicht wegwerfen. Die Inten‐ tionen wenigstens erfährt man so, den mächtigen Geist des Ganzen: wenn auch freilich die Aufführung bei Weitem nicht die volle Seele des Meisters selbst wieder ertönen lässt. „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichniß“, solche stets
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mangelhafte Darstellungen eines grossen Innern empfängt ein wirklich Hör‐ ender durch das Gleichniß und wird es für sein ganzes Leben nicht wieder ver‐ gessen […] Hier ist auch ein Dr. Rée […] Er ist ein angenehmer, nachdenkender Mensch, in dessen Atmosphäre sich behaglich existirt. Ach, welches Wohlge‐ fühl, mit klugen Menschen umzugehen! wirklich klugen, d. h. solchen, die ihren Verstand nicht auf egoistisch praktische Zwecke richten. Mit Beschränkten zu‐ sammen stockt mir stets das Herz und sogar mein eigener Verstand. – Heute Nachmittag waren wir bei Frl. v. Meysenbug, die mit Familie Herzen hier ist: die friedlichste und einfach-vornehmste Atmosphäre umgiebt Einen da. Nietzsche phantasirte sehr schön am Clavier […] 7. Erwin Rohde an Valentine Framm in Warnemünde
Bayreuth, 27. August 76 […] ich bin noch immer hier, wie du siehst, und bin auch in den Pausetagen gar nicht fort gewesen. Es ist ganz abscheuliches Wetter hier geworden, Regen und scheußliche Kälte, so dass ich die Reisepläne, jeden Morgen neu gefasst, immer wieder an den Nagel gehängt habe. Ich habe während der 3 Tage mit Freunden recht angenehm verkehrt, auch an dem Dr. Rée von dem ich dir schon schrieb einen sehr angenehmen Gesellschafter und nachdenkenden Menschen kennen gelernt. Immer aufs Neue regt sich nach solchem Zusammensein mit bedeu‐ tenden und mir so sympathischen Menschen (an denen es in Jena gänzlich fehlt, wenigstens mir, in meiner Bekanntschaft fehlt) mein alter Wunsch, mit solchen Freunden zusammen einmal eine Colonie der „Weisen“ gründen zu können, in der man in ruhigster Beschaulichkeit ein gleichmäßig arbeitsvolles und still be‐ trachtendes Leben, fern von dieser öden Welt der „Jetztzeit“ führte. – Heute ganz früh ist leider Nietzsche (der in Basel wieder ins Amt muß) und mit ihm Rée abgereist. Nun warte auch ich nur noch die 3. Aufführung ab, um abzudampfen. Heute „Rheingold“, am Mittwoch wird alles zu Ende sein. Der König von Bayern ist heute Nacht gekommen und wird dieser 3. Aufführung neuen Glanz geben. Meine Nerven sind durch leidlicheren Schlaf ziemlich restaurirt und zu der 3. Aufführung wohl gerüstet. Ich vermuthe, daß in dieser Weise zu nächst nichts wieder zu Stande kommt. Wagner selbst wird dazu keinen Finger rühren, und die edlen Deutschen selbst sind, um etwas Künstlerisches ohne Eigennutz und Jux zu Stande zubringen viel zu stumpf, geizig und neidisch […] Kommentar 1. Rohde an Val. Framm am 12. August 1876
Postkarte.
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2 / 3 Frau Prof. Lotzbeck: Es handelt sich vermutlich um Charlotte Karoline v. Lotzbeck, geb. Kaiser, Ehefrau des Bayreuther Gymnasialprofessors Johannes Karl v. Lotzbeck; beider Sohn war der Mediziner Karl v. Lotzbeck (1832 – 1907), der seit 1883 als Generalstabsarzt der Bayerischen Armee fungierte. 5 Rennweg 290: Heute Richard-Wagner-Straße 28. – Vgl. Brief 2,4 / 5 und 4,3 / 5 mit Anm. 5 welche Unordnung etc.: Vgl. Brief 2,2 / 5; 4,2 / 5 und 9 / 11; 5,2. – Wie Rohde äußern fast alle zeitgenössischen Besucher Klagen über die chaotischen Zu‐ stände, die während der ersten Festspiele in Bayreuth herrschten. – Vgl. hierzu bes. Pjotr Tschaikowskij, der rückschauend folgende Schilderung gibt (abge‐ druckt in: Der Festspielhügel, hg. von H. Barth, München 1973, S. 19): „Die kleine Stadt gewährte zwar allen Fremden Obdach, aber für ausreichende Ernährung konnte sie nicht sorgen. Infolgedessen erfuhr ich am ersten Tag nach meiner Ankunft, was der Kampf um ein Stück Brot bedeutet. Da es nur wenige Hotels in Bayreuth gibt, hat der größte Teil der Zugereisten in Privatwohnungen Auf‐ nahme gefunden. Die verschiedenen Tables d’hôtes in den Gasthäusern können nicht alle Hungernden befriedigen. Jedes Stück Brot, jedes Seidel Bier muß er‐ kämpft werden mit unglaublichen Anstrengungen, durch List und eiserne Ge‐ duld. Hat man glücklich einen Platz an der Tafel erwischt, neue schwere Ent‐ täuschung; denn die lange erwartete Schüssel kommt in vollständig geleertem Zustand zu einem. Unter den Gästen herrscht eine chaotische Unordnung. Alles schreit durcheinander. Die ermatteten Kellner schenken selbst den berech‐ tigtsten Forderungen nicht die geringste Aufmerksamkeit. Es war der reine Zu‐ fall, wenn man die eine oder die andere Schüssel bekam. Neben dem Wagner‐ theater sind große Zeltrestaurants aufgeschlagen, die auf großen Plakaten für zwei Uhr mittags ein gutes Diner versprechen, aber es gehört wahrer Heroismus dazu, sich durch das Gewühl der Hungrigen hindurchzuarbeiten. Während der ganzen ersten Serie der Vorstellungen der Tetralogie bildete das Essen das all‐ gemeine Gesprächsthema und schwächte ganz bedeutend das Interesse für die Kunst ab. Man hörte mehr von Beefsteaks, Schnitzeln und Bratkartoffeln als von Wagners Leitmotiven.“ – Ganz ähnlich berichten u. a. Elisabeth Förster-N. (Nietzsche II 1, S. 249) und Wilhelm Marr (bei Janz I, S. 721). – Vgl. außerdem R. Gutman, Richard Wagner. Der Mensch, sein Werk, seine Zeit, München 1970, S. 394; H. Mayer, Richard Wagner in Bayreuth, Stuttgart–Zürich 1976, S. 37 f.; Janz I, S. 720 – 724; Gregor-Dellin, S. 717 f. 8 Morgen um 4 erste Vorstellung: Vgl. Brief 2,5 / 7 mit Anm.
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2. Rohde an Val. Framm am 14. August 1876
2 wie zu einer Weltausstellung: Die seit Mitte des 19. Jahrhunderts in den west‐ lichen Staaten veranstalteten Weltausstellungen hatten den Zweck, der Völker‐ gemeinschaft einen Überblick über die durch die Industrialisierung mächtig an‐ wachsenden technischen und wirtschaftlichen Errungenschaften zu ermöglichen. Im Jahre 1876 fand die sechste Ausstellung dieser Art in Philadel‐ phia statt. Vgl. C. Beutler, Weltausstellungen im 19. Jahrhundert, München 1973. 2 / 3 Kaiser und „Ferschten“ die Menge: Anläßlich der Festspiele hatte sich beinahe der gesamte deutsche und österreichisch-ungarische Adel eingefunden. – Co‐ sima Wagner notiert am 12. August 1876 (I, S. 998): „Ankunft des Kaisers, der Großherzogin von Baden, Anhalt-Dessau, Schwarzburg-Sondershausen etc. etc.; R›ichard‹ empfängt auch den Kaiser, welcher sehr freundlich gestimmt vom Nationalfest spricht. Endlich.“ – Weitere zeitgenössische Berichte über die ad‐ ligen Besucher, die besonders während des ersten Aufführungszyklus die Fest‐ spiele dominierten: Glasenapp (a. a. O., S. 449 – 451); Karl Frenzel (bei Mayer, a. a. O., S. 37 f.); Isidor Kastan (ebd.); Wilhelm Marr (bei Janz I, S. 721 f.). – Wagner selbst urteilt zwei Jahre später in seinem Rückblick auf die Bühnenfestspiele des Jahres 1876 (Ges. Schriften 10, S. 105): „Es schien sehr wahrhaftig, daß so noch nie ein Künstler geehrt worden sei; denn hatte man erlebt, daß ein solcher zu Kaiser und Fürsten berufen worden war, so konnte Niemand sich erinnern, daß je Kaiser und Fürsten zu ihm gekommen seien.“ – Vgl. im übrigen Janz I, S. 724; Gregor-Dellin, S. 716. – Vgl. außerdem Brief 3,16 und 7,17 / 18 mit Anm. 4 an der belebtesten Ecke: Rohdes Bayreuther Quartier war das Haus Rennweg 290 (heute Richard-Wagner-Straße 28) (vgl. Brief 1,1 / 4). – Der Rennweg verläuft in süd-westlicher Richtung parallel zum Hofgarten, und da zwischen Hofgarten und Rennweg Haus Wahnfried liegt, mußten die zahllosen Besucher, die Wagner ihre Aufwartung machten oder seinen Einladungen folgten, sofern sie nicht zu Fuß durch den Hofgarten gingen, an Rohdes Logis vorbeifahren. Lärm und Un‐ ruhe waren dementsprechend. Vgl. Brief 4,3 / 5 und 9 / 12 sowie 5,2. – Vgl. au‐ ßerdem E. Förster-N. (Nietzsche II 1, S. 252): „Wagner mußte Massenaudienzen ertheilen, da der Andrang der Besucher zu groß war; am ersten Festspieltag gaben 500 Menschen ihre Karten in Wahnfried ab.“ 5 / 6 erste Aufführung: Rheingold: Diese Aufführung, die die Festspiele eröffnete, fand am Sonntag, dem 13. August 1876, statt. – Der Theaterzettel mit Beset‐ zungsliste ist abgebildet bei Mayer, a. a. O., S. 45. – Abbildungen von Sängern und Bühnendekorationen bei Barth, a. a. O., S. 45 – 47; Mayer, a. a. O., S. 46 – 49; O. G. Bauer, Richard Wagner. Die Bühnenwerke von der Uraufführung bis heute, Frankfurt–Berlin–Wien 1982, S. 183 – 185. – Die Uraufführung des Rheingold
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hatte gegen den Willen Wagners auf Anordnung König Ludwigs II. am 22. Sep‐ tember 1869 in München stattgefunden. 6 ganz herrlich und weihevoll: Anders urteilt Cosima Wagner, die unter dem 13. August 1876 notiert (I, S. 998): „erste Rheingold-Aufführung mit vollstän‐ digem Unstern. Betz verliert den Ring, läuft zweimal in die Kulissen während des Fluches, ein Arbeiter zieht den Prospekt heraus und man sieht die Leute in Hemdärmeln da stehn und die Hinterwand des Theaters, alle Sänger befangen etc. etc. – Jeder kehrt seinerseits heim, R›ichard‹ zuerst sehr verstimmt, heitert nach und nach auf“. – Weitere zeitgenössische Urteile über diese Aufführung: Richard Fricke (bei Gregor-Dellin, S. 719); Paul Lindau (ebd.); Wilhelm Marr (bei Janz I, S. 722); Glasenapp (a. a. O., S. 452 f.); E. Förster-N. (Nietzsche II 1, S. 250); Camille Saint-Saëns (bei Barth, a. a. O., S. 21 f.). 6 / 7 Nun hat es doch einmal gelebt und kann […] nicht wieder sterben: Ganz ähnlich schreibt Rohde nach dem Ende der Bayreuther Vorproben des Ringes am 13. August 1875 an Nietzsche (KGB): „Nun ist es doch Einmal wenigstens dage‐ wesen und kann nicht mehr ganz untergehen.“ 7 / 8 Heute „Walküre“: Der Theaterzettel dieser Aufführung mit Besetzungsliste bei Mayer, a. a. O., S. 45. – Abbildungen von Schauspielern und Bühnendekora‐ tionen bei Barth, a. a. O., S. 51; Mayer, a. a. O., S. 43 und 48 f.; Bauer, a. a. O., S. 197 – 199. – Die Uraufführung dieser Oper fand, ebenfalls gegen Wagners Willen, am 26. Juni 1870 in München statt. – Vgl. im übrigen Brief 3,5 / 6 mit Anm. 8 und dann so weiter: Wagners Tetralogie Der Ring des Nibelungen wurde wäh‐ rend der ersten Bayreuther Festspiele insgesamt dreimal dargeboten. Der erste Aufführungszyklus dauerte vom 13. bis zum 17. August 1876, und zwar wurde am 13. August Das Rheingold aufgeführt, am 14. Die Walküre, am 16. Siegfried und am 17. Götterdämmerung; der zweite Zyklus dauerte (ohne Unterbrechung) vom 20. bis zum 23., der dritte vom 27. bis zum 30. August. Nietzsche ist hier: Nietzsche war bereits am 23. Juli 1876 in Bayreuth erschienen, um die Probenaufführungen des Bayreuther Ringes zu besuchen; Anfang August hatte er sich enttäuscht nach Klingenbrunn im Bayerischen Wald zurückge‐ zogen und kehrte erst am 12. August wieder nach Bayreuth zurück, um an der Uraufführung des Ringes teilzunehmen; er verließ Bayreuth noch vor Ende der Festspiele zu Beginn des dritten Aufführungszyklus am 27. August 1876. Vgl. Schlechta, S. 56; KSA 15, 69. – Die grundlegende Quellenuntersuchung über Nietzsches Bayreuth-Aufenthalt im Jahre 1876 findet sich bei E. Newman, The Life of Richard Wagner, 4. Bd., New York 1946, S. 490 – 539 (dort auch eine über‐ zeugende Analyse der Fälschungen, die E. Förster-N. in diesem Zusammenhang vorgenommen hat). Wichtig außerdem: C. von Westernhagen, Wagner, Zürich–
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Freiburg 1968, S. 456 – 461; Gutman, a. a. O., S. 398 – 408; Janz I, S. 719 – 726; Gregor-Dellin, S. 711 – 728; W. Ross, Der ängstliche Adler. Friedrich Nietzsches Leben, Stuttgart 1980, S. 464 – 474. 8 / 9 und sucht die Anstrengung zu ertragen: Die Rezeption von Wagners Riesen‐ werk Der Ring des Nibelungen erschöpfte unter den damals in Bayreuth obwal‐ tenden Umständen bereits Rohdes Kräfte (vgl. bes. Brief 5,8 / 10 und 6,3 / 8). Hiernach läßt sich ermessen, welche Qual die Teilnahme an den Festspielen für den schwer kopf- und augenleidenden Nietzsche bedeuten mußte, den überdies noch der Dissens mit Wagner seelisch belastete. Vgl. Newman, a. a. O., S. 519; Westernhagen, a. a. O., S. 457. – Vgl. im übrigen Brief 2,9 und 3,22 / 26 mit Anm. 9 der arme geliebte Freund: Diese Mitleidsbekundung läßt ahnen, in welch des‐ olater körperlicher und seelischer Verfassung Rohde Nietzsche in Bayreuth vor‐ fand. – Auch andere Augenzeugen berichten, daß Nietzsche während der Fest‐ spiele einen leidenden Eindruck gemacht habe. Edouard Schuré (bei Förster-N., Nietzsche II 1, S. 257): „Pendant les répétitions générales et les trois premières représentations de la tétralogie, Nietzsche parut triste et affaissé“; Ludwig Sche‐ mann (bei Janz I, S. 725): „Einen schmerzlichen Gegensatz zu der Hochstimmung dieser Stunden (wie zu seiner Schrift) bildete die Verfassung, in der ich Nietzsche bei seinem Besuche vom Morgen des 18. August antraf, und die Auslassungen, die ich von ihm zu hören bekam. Er war ersichtlich schon sehr leidend“; Hans von Wolzogen (bei Janz I, S. 725): „Nietzsche habe ihm damals einen Besuch gemacht; er sei dabei von seiner Schwester begleitet gewesen, die ängstlich da‐ rüber wachte, daß er sich durch Sprechen nicht überanstrengte, und er habe den Eindruck eines Schwerkranken gemacht“; Cosima Wagner (bei Westernhagen, a. a. O., S. 481): „Ich glaube fast, dass das ganze Nietzschesche Elend daher entsp‐ rang, dass er im Jahre 76 von den wütendsten Kopfschmerzen gepeinigt war.“ – Eine noch deutlichere Sprache sprechen die Briefe, die Nietzsche selbst unmit‐ telbar vor Beginn der Festspiele aus Bayreuth bzw. Klingenbrunn an die Schwester schrieb. So heißt es am 25. Juli 1876 (KGB): „fast habe ich’s bereut! Denn bisjetzt war’s jämmerlich. Von Sonntag Mittag bis Montag Nacht Kopf‐ schmerzen, heute Abspannung, ich kann die Feder gar nicht führen. Montag war ich in der Probe, es gefiel mir gar nicht und ich mußte hinaus.“ Ganz ähnlich lautet der Brief vom 1. August 1876: „es geht nicht mit mir, das sehe ich ein! Fortwährender Kopfschmerz, obwohl noch nicht von der schlimmsten Art, und Mattigkeit. Gestern habe ich die Walküre nur in einem dunkeln Raume mit an‐ hören können; alles Sehen unmöglich! Ich sehne mich weg, es ist zu unsinnig wenn ich bleibe. Mir graut vor jedem dieser langen Kunst-Abende“. Am 6. Au‐ gust 1876 heißt es: „Ich weiss ganz genau, dass ich es dort [sc. in Bayreuth] nicht aushalten kann, ja eigentlich hätten wir es vorher wissen sollen! Denke nur wie
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vorsichtig ich bisher leben musste, die letzten Jahre. Ich fühle mich von dem kurzen Aufenthalte dort so ermüdet und erschöpft, ich komme gar nicht wieder recht zu mir. Einen schlimmen Tag hier gehabt, zu Bette gelegen; aber immerfort Schmerzen im Kopf, wie in gewissen Baseler Zeiten […] Wie doch die Dinge laufen! Ich muß alle Fassung zusammen nehmen, um die grenzenlose Enttäu‐ schung dieses Sommers zu ertragen. Auch meine Freunde werde ich nicht sehen; es ist alles jetzt für mich Gift und Schaden.“ – Im Gegensatz zu all diesen Zeug‐ nissen behauptet E. Förster-N. (Nietzsche II 1, S. 262): „Ich kann nicht behaupten, daß Fritz in jenen Wochen in Bayreuth körperlich leidend gewesen sei, er hatte sogar sehr wenig Kopfschmerzen, um ihn aber zu entschuldigen, daß er so selten zu Wagner’s kam, gebrauchten wir öfters den Vorwand, zu sagen, daß er unwohl wäre.“ 9 / 10 heute hat ihn Frau Wagner mit Beschlag belegt: Inwiefern Cosima Wagner am 14. August 1876 auf Nietzsche aspiriert hat, läßt sich nicht ermitteln. Es ist jedoch wahrscheinlich, daß Nietzsche am Abend dieses Tages nach der Auffüh‐ rung der Walküre mit Wagner gesprochen hat. Vgl. E. Förster-N. (Nietzsche II 1, S. 250): „Wagner war an jenem Abend wirklich unglücklich und tief erregt über das Mißlingen dieser Aufführung, (so erzählte mein Bruder) und in dieser Stim‐ mung wurde von ihm verlangt, vor Sr. Majestät zu erscheinen und sich loben zu lassen – das war doch sicherlich eine harte Zumutung.“ 10 aber von morgen an werden wir viel zusammen sein: Dieser Vorsatz scheint nicht verwirklicht worden zu sein. Vgl. Brief 3,20 / 22 mit Anm. 11 / 12 in einem Walde oberhalb des Theaters: Rohde spricht von dem nördlich über dem Festspielhaus gelegenen Sankt-Georgen-Forst, der gemeinhin als Hohe Warte bezeichnet wird. – Über Wagners Theaterbau, an dessen Grundsteinle‐ gung am 22. Mai 1872 sowohl Nietzsche als auch Rohde teilnahm, handelt grundlegend Zdenko von Kraft, Das Festspielhaus in Bayreuth. Zur Geschichte seiner Idee, seines Werdegangs und seiner Vollendung, Bayreuth 1969. 13 mit wenigen Freunden zusammen: Wer diese Freunde waren, läßt sich nicht mehr ermitteln: Nietzsche jedenfalls gehörte nicht dazu (vgl. Brief 3,20 / 22 mit Anm.). 13 / 14 in einer Kneipe vor dem Walde: Es dürfte sich um das Restaurant Albert gehandelt haben, das in unmittelbarer Nähe des Festspielhauses gelegen war. Vgl. Förster-N. (Nietzsche II 1, S. 249): „In den langen Pausen der Festspiele gab es in dem Restaurant ‚Albert‘ Scenen, die in der That recht deutlich zeigten, wie nahe der Mensch dem Thiere steht, – so gierig und heißhungrig stürzte die Menge nach dem Buffet.“ 16 die Beschreibungen der jüdischen Spione: Ähnlich drastisch äußert sich über die Presse auch der Wagnerianer Glasenapp (a. a. O., S. 451): „Dazwischen über‐
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raschen wohl auch die confiscirten Gesichtszüge eines Berliner oder Wiener Winkelmusikreferenten, der sich auf diese oder jene Art als Vertreter der ‚Presse‘ den Zutritt erschlichen, und seit vierzehn Tagen durch Lectüre des ‚Libretto‘ auf seinen ‚Bericht‘ präparirt.“ Vgl. auch Cosima Wagner, die am 19. August 1876 notiert (I, S. 999): „Man erzählt, daß die Zeitungen ganz nichtswürdig berichten, die deutschen nämlich.“ – Einen guten Überblick über die in Bayreuth anwe‐ senden Journalisten gibt Gregor-Dellin (S. 717): „Die Presse war, so ungeliebt sie sich fühlen mußte, durch bekannte Journalisten vertreten. Vom Pariser Figaro kam der gefürchtete Albert Wolf; Eduard Hanslick, Ludwig Speidel, Daniel Spitzer, Eduard Schelle und Joseph Oppenheim vertraten Wien; Berlin sandte Gustav Engel von der Vossischen Zeitung, A. H. Ehrlich von der Gegenwart, Ehlert von der Rundschau, die Kladderadatsch-Mitarbeiter Ernst Dohm und Wilhelm Scholz. Paul Lindau vertrat die Schlesische Presse, Wilhelm Mohr schrieb für die Kölnische und Thiel für die Straßburger Zeitung. Dazu kamen Wilhelm Singer, Hugo Wittmann, Hans Herrig und Ludwig Pietsch.“ – Die über‐ wiegend ablehnenden Urteile dieser Musikkritiker resümiert Gregor-Dellin fol‐ gendermaßen (S. 725 f.): „Eduard Hanslick rühmte wenigstens die szenischen Wunder und technischen Kunststücke, ließ auch Wagners Rang gelten, fragte aber zugleich, ob es der Ehrgeiz von Opernkomponisten sein sollte, ‚zu einer Reihe von Zaubermaschinerien Musik zu machen‘. Wilhelm Mohr meinte: Auch wenn der ganze Zauber Fiasko gemacht hätte, Wagner habe die Schlacht ge‐ wonnen, sein Kunstwerk habe sie für ihn gewonnen, nicht seine Ideen. Musi‐ kalisch habe er gesiegt. Speidel resümierte nach der ‚musikalischen Pferdearbeit‘ der ersten beiden Festspielabende am 20. August 1876 im Wiener Fremdenblatt: Wagner ahme wirkliche Vorgänge nach, seine Musik sei ‚der geschickteste Affe der Realität‘! Schletterer wurde vom Rheingold in einen ‚der Seekrankheit ähn‐ lichen Zustand versetzt‘; er sprach vom ‚Leviathan‘ des zweiten Akts Walküre und hatte auch vom „unnatürlichen Liebesqualme‘ genug. Die unendliche Me‐ lodie sei der ‚Schrecken der Schrecken für jeden musikalisch gebildeten Hörer‘. Isaac Moses Hersch witzelte in ‚Herr Richard Wagner, der musikal’sche Stru‐ welpeter‘ nach den Festspielen: ‚Wagner ist konfuse und betorkelt, sowie er macht Musik, mit aanem Wort aane cumpenierende Schaute.‘ Und Speidel noch‐ mals am 15. Oktober im Wiener Fremdenblatt: ‚Wir möchten aber wohl wissen, was an Wagners Textbuch ›Der Ring des Nibelungen‹ national ist?‘ Das deutsche Volk habe mit dieser Affenschande nichts gemein, ‚und sollte es an dem falschen Golde des ›Nibelungen-Ringes‹ einmal wahrhaftes Wohlgefallen finden, so wäre es durch diese bloße Tatsache ausgestrichen aus der Reihe der Kulturvölker des Abendlandes‘. Formulierungen wie ‚Machwerk‘ und ‚Tollheit‘ waren keine Sel‐ tenheit.“ – Eine Sammlung weiterer Pressekritiken bietet W. Tappert (Hrsg.),
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Richard Wagner im Spiegel der Kritik. Wörterbuch der Unhöflichkeit, 2. Aufl., Leipzig 1903 (Neuausgabe München 1967). Vgl. außerdem Newman, a. a. O., S. 477; Gutman, a. a. O., S. 394 f.; Mayer, a. a. O., S. 37 f.; Janz I, S. 720 – 725; Ross, a. a. O., S. 467. 18 / 19 Das Publicum ist […] ein ziemlich zufälliges: Anders als Wagner in seinen Züricher Kunstschriften Das Kunstwerk der Zukunft (1850) und Oper und Drama (1852) theoretisch gefordert und noch in seiner Rede zur Grundsteinlegung des Festspielhauses (1872) praktisch verheißen hatte, waren die Bayreuther Fest‐ spiele des Jahres 1876 kein demokratisches Fest im Stile der Antike, sondern eine modern-exklusive Kulturveranstaltung, die von Adel und Großbürgertum dominiert wurde, denen mehr an Sensation und Repräsentation als am Erleben einer neuen Kunst gelegen war. Vgl. hierzu bes. Nietzsches rückschauende (und später wieder gestrichene) Äußerung im Ecce homo (KSA 14, 492 f.): „Nicht nur daß mir damals das vollkommen Gleichgültige und Illusorische des Wagner‐ schen ‚Ideals‘ handgreiflich deutlich war, ich sah vor Allem, wie selbst den Nächstbetheiligten das ‚Ideal‘ nicht die Hauptsache war, – daß ganz andre Dinge wichtiger, leidenschaftlicher genommen wurden. Dazu die erbarmungswürdige Gesellschaft der Patronatsherrn und Patronatsweiblein – ich rede aus der Sache, denn ich war selber Patronatsherr –, alle sehr verliebt, sehr gelangweilt und unmusikalisch bis zum Katzenjammer … – Man hatte das ganze müssiggänge‐ rische Gesindel Europas beieinander, und jeder beliebige Fürst gieng in Wag‐ ner’s Haus aus und ein, wie als ob es sich um einen Sport mehr handelte. Und im Grunde war es auch nicht mehr. Man hatte einen Kunst-Vorwand mehr zu den alten Vorwänden hinzuentdeckt, eine große Oper mit Hindernissen; man fand in der durch ihre geheime Sexualität überredenden Musik Wagners ein Bindemittel für eine Gesellschaft, in der Jedermann seinen plaisirs nachgieng.“ – Weitere zeitgenössische Aussagen über das Publikum der ersten Festspiele: E. Förster-N. (Nietzsche II 1, S. 251); Karl Frenzel (bei Mayer, a. a. O., S. 37 f.); Wil‐ helm Marr (bei Janz I, S. 719 – 725). Vgl. außerdem Gutman, a. a. O., S. 395; Gregor-Dellin, S. 716 – 718, 724, 726; Ross, a. a. O., S. 467 f., 470. – Vgl. im übrigen auch Anm. zu Brief 2,2 / 3. 19 / 20 außer einer kleinen Rotte: Rohde hat hier jene Besucher der Festspiele im Auge, die (wie er und Nietzsche) nicht aus Sensationslust nach Bayreuth ge‐ kommen waren, sondern aus künstlerischem Interesse an Wagners Werk. Rohde nennt in diesem Zusammenhang ausdrücklich nur Malwida von Meysenbug (vgl. Brief 2, 22 / 24, mit Anm.). Eine größere Liste von Festspielbesuchern, denen nach Herkunft und Bildung ein ernsthaftes Interesse an Wagners Kunst zuge‐ schrieben werden durfte, verzeichnet Gregor-Dellin (S. 716 f.): „Es kamen die Komponisten Camille Saint-Saëns, Guiraud und Duvernois aus Frankreich, aus
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Österreich der unauffällige Anton Bruckner und aus Rußland Pjotr Tschai‐ kowskij […] Unter den Musikern waren der belgische Komponist Franz Servais, ein Liszt-Schüler, die Schweizer Musiker Friedrich Hegar, Emilie und Ignaz Heim, Ernst Methfessel, Gustav Weber, Eugen Petzold und Georg Rauchenecker. Neben vielen Kapellmeistern wie Damrosch, Lassen und Levi sah man auch Nikolaus Rubinstein und den Konservatoriumsdirektor Stern. Außer Theater‐ direktoren kamen auch Schauspielerinnen wie Marie Seebach, Clara Ziegler, Marie Keßler und Clara Meyer, Schauspieler wie Joseph Lewinsky und Richard Kahle. Die Maler stellten die stärkste Abordnung: Makart und Angeli aus Wien; Lenbach aus München; Anton von Werner, Karl Becker, Adolf von Menzel und Paul Meyerheim aus Berlin; Schauß aus Weimar; die Kunsthistoriker Henry Thode und Conrad Fiedler. Aus England kam die Schopenhauer-Herausgeberin und Schriftstellerin Helen Zimmern, aus Riga der erste Wagner-Biograph Carl Friedrich Glasenapp […] Karl Hillebrand kam aus Florenz, Catulle Mendès aus Paris.“ – Weitere Einzelheiten bei W. Schüler, Der Bayreuther Kreis von seiner Entstehung bis zum Ausgang der Wilhelminischen Ära, Münster 1971. 20 / 21 zu denen ich mich ja wohl zählen darf: Diese Bemerkung lehrt, daß sich Rohde, anders als Nietzsche, während der ersten Bayreuther Festspiele noch ganz als Wagnerianer fühlte. Dieses Gefühl hielt indes nicht vor. Rohde weigerte sich im Jahre 1878, für die Bayreuther Blätter einen Beitrag zu schreiben (vgl. SN 1, S. 28, 264 – 266), und fühlte sich von da an in Wahnfried nicht mehr wohlge‐ litten. Vgl. Rohdes Brief an seine Frau vom 14. August 1882 (SN 1, S. 315): „Aber heute regnets, da wüsste ich in Bayreuth nichts mit mir zu machen […] da ich mit Wagners seit meiner Ablehnung an dem Wurschtblatt theilzunehmen, nichts persönlich gemein habe.“ 23 Fräulein v. Meysenbug: Malwida von Meysenbug, die sich seit Anfang Juli 1876 in Bayreuth aufhielt, hatte Wagner im Jahre 1855 in London kennengelernt und war in den Jahren 1860 und 1861 in Paris ständiger Gast im Hause Wagners, dem sie während des Tannhäuser-Skandals zur Seite stand und auch später unver‐ brüchliche Treue bewahrte. – Vgl. hierzu M. von Meysenbugs rückschauende Äußerung über ihr Pariser Wagner-Erlebnis (Memoiren einer Idealistin, 3. Bd., 9. Aufl., Berlin 1905, S. 261): „Nun ging mir auch das ganze Verständniß für den Mann auf, dessen gewaltiger Dämon ihn zwang, so unglaublich Großes zu schaffen. Von der Zeit an wußte ich, daß mich nichts mehr an ihm irre machen würde, daß er mir verständlich bleiben würde auch in dunkeln Stunden, in hef‐ tigen Aeußerungen seiner reizbaren Natur, in Sonderbarkeiten, welche die große Menge veranlassen würde, Steine auf ihn zu werfen. Ich wußte es, daß er von nun an auf mich rechnen könne in Noth und Tod, und daß sein Genius eine
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der wenigen Leuchten sein würde, deren Glanz mir überhaupt noch es wert‐ hmachen würde, zu leben.“ – Vgl. außerdem Brief 6,29 / 31 mit Anm. 23 / 24 die „Idealistin“ deren „Memoiren“ ich Dir gegeben habe: Anspielung auf M. von Meysenbugs Memoiren einer Idealistin, die 1875 in Stuttgart erschienen waren. – Rohde war durch Nietzsche auf dieses Buch aufmerksam gemacht worden. Vgl. Nietzsches Brief an Rohde vom 14. April 1876 (KGB): „hast Du die jetzt eben erschienenen 3 Bände ‚Memoiren einer Idealistin‘ gelesen? Ich bitte Dich sehr darum, es zu thun. Es ist das Leben unsrer herrlichen Freundin Frl v Meysenbug, ein Spiegel für jeden tüchtigen Menschen, in den man ebenso be‐ schämt als ermuthigt blickt, ich las lange Zeit nichts, was mich so innerlich umdrehte und der Gesundheit näher brachte […] Es ist etwas von der höchsten caritas darin.“ 3. Rohde an Val. Framm am 15. August 1876
2 ich liege nun wirklich im Walde (mit 2 Genossen): Vgl. Brief 2,11 / 15 mit Anm. 3 / 4 in „Reckenton“ […] „Brief-runen ritzen“: Scherzhafte Anspielung auf das he‐ roisch-germanische Ambiente und Kolorit von Wagners Siegfried. 5 Gestern also „Walküre“: Vgl. Brief 2,7 / 8 mit Anm. 6 unsäglich herrlich und feierlich: Nüchterner urteilt Cosima Wagner, die unter dem 14. August 1876 notiert (I, S. 998): „Walküre, diesmal ohne Not“. – Weitere zeitgenössische Urteile über diese Aufführung: Glasenapp (a. a. O., S. 453 f.); Förster-N. (Nietzsche II 1, S. 249 f.); Lindau (bei Gregor-Dellin, S. 719); Marr (bei Janz I, S. 723); Saint-Saëns (bei Barth, a. a. O., S. 22); Wolzogen (Gregor-Dellin, S. 720). – Vgl. im übrigen Brief 2,7 / 8 mit Anm. 6 Heute „Siegfried“: Die Bayreuther Uraufführung des Siegfried fand nicht, wie vorgesehen, am 15., sondern erst am 16. August 1876 statt, da der Sänger des Wotan indisponiert war. Vgl. Cosima Wagners Äußerung vom 15. August 1876 (I, S. 999): „Herr Betz läßt Siegfried absagen! Er wäre heiser, große Verstimmung; die Zeitungen, schon ungemein bösartig, werden Folgerungen daraus ziehen.“ – Vgl. auch Brief 4,6. – Theaterzettel mit Besetzungsliste der Uraufführung des Siegfried bei Mayer, a. a. O., S. 45. – Sänger und Dekorationen bei Barth, a. a. O., S. 46 f.; Bauer, a. a. O., S. 219. – Zeitgenössische Urteile über die Aufführung: Glasenapp (a. a. O., S. 455); Hanslick (bei Gutman, a. a. O., S. 396); Lindau (Gregor-Dellin, S. 720 – 722); Ludwig II. (Gutman, a. a. O.); Saint-Saëns (bei Barth, a. a. O., S. 22 f.); C. Wagner (I, S. 999). 7 auf den wunderbaren Schluss etc.: Am Schluß des Siegfried begrüßt Brünnhilde Siegfried, der sie wachgeküßt hat, mit folgenden Worten (3. Aufzug, 3. Szene): „Heil dir, Sonne! Heil dir, leuchtender Tag! –
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Lang war mein Schlaf; ich bin erwacht: wer ist der Held, der mich erweckt?“
– Vgl. hierzu Rohdes Brief an Nietzsche vom 13. August 1875, in dem es über die Bayreuther Vorproben heißt (KGB): „ich habe nie noch eine solche Entzückung, eine wirkliche Verzückung gespürt, wie bei den Klängen, unter denen Brünn‐ hilde zum Licht und zur Liebe erwacht, im 3. Acte des Siegfried.“ 11 / 12 mache ein wenig Besuche: Vgl. Brief 3,20 / 22 und 6,23 / 25 und 29 / 31 mit Anm. 13 im Tannenwalde: vgl. Brief 2,11 / 15 mit Anm. 16 Der Kaiser ist zum Glück gestern Nacht abgereist: Kaiser Wilhelm I. war am 12. August 1876 in Bayreuth erschienen, hatte am 13. August Rheingold besucht und war am 14., nach dem Besuch der Walküre, wieder abgereist, nicht ohne Wagner eine Audienz zu gewähren. – Vgl. hierzu die Aufzeichnung Cosima Wagners vom 14. August 1876 (I, S. 998 f.): „Er [sc. Wagner] wird vom Kaiser berufen, dieser rühmt alles sehr, sagt scherzend, wenn er Musiker gewesen, hätte ihn R›ichard‹ nicht dahinein bekommen (in das Orchester), bedauert, nicht länger als die zwei Aufführungen bleiben zu können, worauf R›ichard‹ erwidert: Die Gnade ist nicht an Zeit und Raum gebunden; die Großherzogin sagt aber, sie bliebe, R›ichard‹: Dann dehnen Sie die Gnade aus; der Kaiser scherzend: Das war ein Hieb. Er nimmt Abschied, geht einen Schritt zurück, merkt die Schwelle nicht, strauchelt so arg, daß R›ichard‹ nur mit dem größten Kraftaufwand ihn zurückhalten kann und überzeugt ist, daß dieser Fall rücklings der Tod des kai‐ serlichen Herrn gewesen wäre!“ – Weitere zeitgenössische Berichte: Glasenapp (a. a. O., S. 450 f., 454); Förster-N. (Nietzsche II 1, S. 248 f.); Marr (bei Janz I, S. 720 – 722). – Vgl. außerdem Brief 2,2 / 3 mit Anm. 18 Bei der 2. und 3. Wiederholung: Vgl. Brief 2,7 / 8 mit Anm. 19 das werden im Wesentlichen nur eigentlich Berufene noch aushalten: In der Tat war der Besucherandrang, besonders während des zweiten Aufführungszyklus, geringer als bei den Premierenveranstaltungen. – Vgl. Nietzsches Brief an die Schwester vom 28. Juli 1876 (KGB): „für den zweiten Cyclus sind noch nicht die Hälfte, für den dritten kaum ein Drittel der Plätze verkauft.“ – Etwas anders Cosima Wagner am 27. August 1876 (I, S. 1000): „Andrang zu der dritten Serie groß, die schlechten Gerüchte haben Zeit gehabt, sich zu widerlegen.“ – Vgl. auch Gutman, a. a. O., S. 394. 20 Nietzsche ist leider nicht mit im Wald: Vgl. Brief 2,11 / 15 sowie 3,2 und 12/ 15 mit Anm.
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er hat seine Schwester bei sich: Elisabeth Nietzsche war Anfang August 1876 aus Basel nach Bayreuth gekommen, während Nietzsche sich in Klingenbrunn auf‐ hielt; sie blieb auch nach Nietzsches Abreise am 27. August in Bayreuth und fuhr erst nach Ende der Festspiele Anfang September nach Naumburg weiter. – Während ihres Bayreuther Aufenthaltes verkehrte Elisabeth Nietzsche auch mit Rohde. Vgl. Elisabeths Brief an ihren Bruder vom 30. August 1876 (KGB): „Höre sag einmal ist der Herr von Senger, welcher hierherkam wirklich der richtige? Denke Dir nur wir mögen ihn Alle nicht. Ja – ich bin ordentlich ein wenig un‐ glücklich gewesen weil er mir solche thörichte Dinge sagte und mir ordentliche Scenen von Eifersucht aufführte jedenfalls ist er ein schlechter ‚Vater‘. Rohde ist förmlich golden als Vater gegen Senger […] Von allen zurückgebliebenen ist nur Gersdorff selig, er ist fabelhaft in die Gräfin Finoghetti verliebt und macht die ganze Welt zu seinem Vertrauten, ich mahne ein klein wenig ab denn mir sieht sie doch gar zu unbefangen aus. Ich finde sie übrigens höchst anziehend und angenehm, Rohde findet sie häßlich und außerdem behauptet er: Gersdorff dem armen Schächer stände es an der Stirn geschrieben, daß er einen Korb be‐ käme […] Uebrigens meint Rohde was Gersdorff anbetrifft, so hätte er ein Kalb zu schlachten wenn er einen Korb bekäme, er meinte das aber mehr aus allge‐ meinen Gründen als aus besonderen. Er findet jeder Mann hätte bei einem Korbe ein Freudenfest zu veranstalten denn er wäre einer großen Gefahr entgangen. Rohde und ich haben ziemlich amüsante Gespräche zusammen, er hat so etwas Komisches erzählt was die Schwester seiner Braut über Ree erzählt hat, Ree ist nämlich einmal in das Pensionat zum Besuch gekommen die Pensionärinnen haben ihn aber Alle nicht leiden mögen weil er so stolz gewesen wäre weil er immer in einer Stellung als Napoleon dagestanden hätte und weil – er sich gar nicht um die Pensionärinnen bekümmert hätte! […] Rohde hat eine fabelhafte Zuneigung für Ree, besonders auch nach seinem Buch welches er sich jetzt an‐ geschafft hatte und aus welchem wir uns jetzt immer erfreuten […] Heute früh nahm H. v. Senger Abschied […] Darauf nahm Rohde Abschied, das that mir nun mehr leid. Rohde ist so gut und war auch ein so braver Vater. Mein ästhetisches Wohlgefallen an Rohde machte H. v. Senger eifersüchtig ach und es war so na‐ türlich daß ich meine Rede lieber an Rohde richtete als an den lärmenden Senger […] Rohde amüsierte sich fabelhaft über seine Handwerksburschenga‐ lanterie er sagte immer bei Seite: ‚Er ist greulich, ein richtiger Bayer.‘“ – Beiläufig sei bemerkt, daß die Datierung dieses Briefes unrichtig ist. Elisabeth Nietzsche vermerkt als Datum: „Bayreuth Mittwoch 30 Aug. 1876“. Im Brief heißt es: „Ges‐ tern war nun Götterdämmerung zum letzten Mal!“ Demnach wurde der Brief am Donnerstag, dem 31. August 1876, verfaßt, die „Nachschrift“ vielleicht noch später.
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20 / 22 muss auch (als ein berühmter Mann) zu viele Bekannte und Verehrer (und -rinnen) abwarten: Diese Bemerkung zeigt, daß Nietzsche während der Fest‐ spiele von 1876 keineswegs unbeachtet bei Seite stand, sondern, trotz selbstau‐ ferlegter Zurückhaltung, als wichtige Persönlichkeit empfunden und behandelt wurde. – Welche Bekannten und Verehrer Nietzsches Rohde im einzelnen im Auge hat, läßt sich nicht ermitteln. Es hatte sich in Bayreuth jedoch eine größere Anzahl von Personen eingefunden, die mit Nietzsche mehr oder weniger eng befreundet bzw. bekannt waren. Außer Richard und Cosima Wagner, Elisabeth Nietzsche und Erwin Rohde sind in diesem Zusammenhang besonders zu nennen: Albert Brenner (Student und Schüler Nietzsches); Carl Fuchs (Musiker und Musikschriftsteller); Carl von Gersdorff (Schulfreund Nietzsches); Karl Hil‐ lebrand (Essayist und Historiker); Heinrich Köselitz (Musiker, Schüler Nietz‐ sches); Mathilde Maier (Freundin Wagners); Malwida von Meysenbug (Schrift‐ stellerin und Freundin Wagners); Gabriel Monod (Historiker); Olga Monod, geb. Herzen (Pflegetochter M. von Meysenbugs); Louise Ott (Freundin Nietzsches); Franz Overbeck (Freund und Universitätskollege Nietzsches); Ida Overbeck, geb. Rothpletz (Freundin und Vertraute Nietzsches); Paul Rée (Philosoph und Freund Nietzsches); Edouard Schuré (Musikkritiker und Schriftsteller); Hugo von Senger (Dirigent); Reinhart von Seydlitz (Maler und Schriftsteller). – Vgl. im übrigen auch Nietzsches Brief an die Schwester vom 28. Juli 1876 (KGB): „Ge‐ sehen habe ich ausser den Verwaltungsräthen Frau von Schleinitz, Porges, Ba‐ ligand, Lallas, Heckel, Richter. Ich muss mich aber sehr zusammennehmen und weise alle Einladungen, auch bei W›agner‹’s zurück. W›agner‹ fand dass ich mich rar machte.“ 22 / 23 nach der übergroßen Spannung, Opferung und Anreizung aller Kräfte: Rohde spricht davon, daß sich Nietzsche trotz schwerer gesundheitlicher Stö‐ rungen im Jahre 1875 die Schrift Richard Wagner in Bayreuth abgerungen hatte und diese, vielfach umgearbeitet, trotz anfänglicher Bedenken Anfang Juli 1876 als vierte Unzeitgemässe Betrachtung hatte erscheinen lassen (WB, KSA 1). – Vgl. hierzu Nietzsches Brief an Rohde vom 7. Juli 1876 (KGB): „Zur Schrift selber kein Wort, höchstens ein Aufathmen. – Es ging in diesem Jahre Deinem Freunde gar zu elend. Mein Glück ist gross, dass ich doch den Himmel einigemale blau gesehn habe.“ 24 eine zu starke Ermüdung: Vgl. Brief 2,8 / 9 mit Anm. 25 / 26 Und was noch sonst dazu kommt: Rohde spielt auf Nietzsches inneren Dissens mit Wagner an, der während der Festspiele unübersehbar zu Tage trat. – Vgl. hierzu Rohdes rückschauenden Brief an Elisabeth Förster-N., aus dem hier nur die die Festspiele betreffende Passage zitiert werden soll (SN 1, S. 541): „Daß ihm die Bayreuther Aufführung 76 solches Mißbehagen machte kam doch eben
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nur davon, daß er innerlich schon sich abgewendet hatte, nicht aber trug die Aufführung dazu bei […] den Bruch erst zu machen. Damals, 76, war er (jeder mußte es ja merken) in der unbehaglichsten Stimmung, deren Grund man nur nicht begreifen konnte: der Grund war, daß er eben nicht mehr zu Wagner ge‐ hörte und äußerlich doch, schon durch seine Anwesenheit in Bayreuth, sich noch zu ihm zu bekennen schien. Das konnte damals freilich von uns niemand wissen und begreifen; nachher kam es allzu plötzlich ans Licht. Aber Wagner hatte an all dem keine Schuld. Er blieb was er war; wer sich änderte, ebenfalls ohne Schuld, nach innerer Nothwendigkeit – war eben Nietzsche.“ 4. Rohde an Val. Framm am 18. August 1876
3 / 4 eine so entsetzlich spectakulöse Wohnung: Vgl. Brief 1,1 / 4 und 2,4 / 5 mit Anm. 5 pazienza: Ital.: Geduld. – Ein Lieblingsausdruck Rohdes. Vgl. SN 1, S. 166, 189, 502, 550. 6 / 7 die 1. Aufführung ist […] gestern Abend zu Ende gekommen: Der erste Auf‐ führungszyklus des Ringes endete am 17. August 1876 mit der Uraufführung der Götterdämmerung. – Theaterzettel mit Besetzungsliste bei Mayer, a. a. O., S. 45. – Sänger und Dekorationen bei Barth, a. a. O., S. 50; Bauer, a. a. O., S. 233. 6 mit Unterbrechung durch einen Tag. Vgl. Brief 3,6 mit Anm. 7 / 8 von den Eindrücken dieses wunderbaren Werkes: Cosima Wagner bemerkt über die Uraufführung der Götterdämmerung am 17. August 1876 (I, S. 999): „Götterdämmerung geht auch gut“. – Weitere zeitgenössische Urteile: Glas‐ enapp (a. a. O., S. 455 – 458); Lindau (bei Gregor-Dellin, S. 722 f.); Marr (bei Janz I, S. 723); Saint-Saëns (bei Barth, a. a. O., S. 23 f.). 8 / 9 Sonntag beginnt die 2. Aufführung: Der zweite Aufführungszyklus des Ringes begann am 20. August 1876. Vgl. Anm. zu Brief 2,7 / 8. 11 Heute Abend Festmahl: Wagner hatte am Abend des 18. August 1876 in den Sälen des Festspielrestaurants zur Feier der ersten Aufführung des Ringes ein Bankett gegeben, an dem 700 Personen teilnahmen. – Vgl. hierzu Cosima Wagner (I, S. 999): „Freitag 18ten Besuche, Diners, unerhörtes Hin und Her, abends Bankett; R›ichard‹, ohne jede Vorbereitung, spricht wundervoll, para‐ phrasiert den letzten Chor vom ‚Faust‘, alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis! Die Idee: Das ewig Weibliche zieht uns hinan. Sehr unglücklich spricht der Reichstagsabgeordnete, man könne nicht wissen, was die Zukunft von der Sache halten würde, das Streben aber sei anerkennenswert! Darauf Graf Apponyi in herrlicher Weise, vergleicht R›ichard‹ mit Siegfried, er habe die Tragödie wieder erweckt, weil er das Fürchten nicht gelernt. Ganz herrlich. Dann R›ichard‹ wundervoll meinem Vater ein Hoch gebracht, ohne ihn wüßte keiner etwas von ihm, R›ichard‹. – Sehr sehr schöner Abend!“ – Eine ausführliche Schilderung
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dieser Festveranstaltung bei Glasenapp, a. a. O., S. 458 – 462. Vgl. außerdem Wes‐ ternhagen, a. a. O., S. 452 f.; Gregor-Dellin, S. 723; Ross, a. a. O., S. 470. S. 11 / 12 an dem wir Näherbefreundeten leider, um Wagners selbst willen, Theil nehmen müssen: Daß Nietzsche und Rohde am Festbankett des 18. August 1876 teilgenommen haben, war bisher nicht bekannt. Die Tatsache beweist einmal mehr, daß Wagners Nietzsche während der Festspiele gesellschaftlich keines‐ wegs zurückgesetzt haben; die Zurückhaltung im geselligen Verkehr ging von Nietzsche aus. – Vgl. bes. Nietzsches Brief an die Schwester vom 28. Juli 1876 (KGB): „Ich […] weise alle Einladungen, auch bei W›agner‹’s zurück. W›agner‹ fand dass ich mich rar machte.“ Ganz ähnlich urteilt im übrigen auch E. Förster-N. (Nietzsche II 1, S. 255): „mein Bruder hatte nicht die geringste Ver‐ anlassung sich gekränkt zu fühlen. Wagner zeigte in der That stets das eifrigste Bemühen, ihn in jeder Beziehung zu ehren und auszuzeichnen; aber Fritz entzog sich diesen Ehrungen, wo er nur konnte, dieses laute, lärmende Lob Wagner’s war ihm zuwider.“ 5. Rohde an Val. Framm am 20. August 1876
3 / 4 Auch mit dem Walde ist’s nun nichts mehr: Vgl. Brief 2,11 / 15 mit Anm. 4 ich verkehre mit den liebsten Freunden: Rohdes engste Freunde in Bayreuth waren Nietzsche, Carl von Gersdorff, Paul Rée und Franz Overbeck, der mit seiner Frau Ida den zweiten Aufführungszyklus besuchte (vgl. SN 1, S. 332). 9 Heute die 2. Aufführung von „Rheingold“: Vgl. hierzu Cosima Wagner am 20. August 1876 (I, S. 1000): „Abends Rheingold, diesmal sehr gut, nur daß Herr Betz ungemein leblos ist.“ Vgl. auch Gregor-Dellin, S. 723. – Eine historisch al‐ lerdings fragwürdige Reminiszenz dieses Abends bietet E. Förster-N. (Nietzsche II 1, S. 261 f.): „Ich erinnere mich […] des Rheingold-Abends, als uns unsere Gäste verlassen hatten, die Leute auf der Straße lärmend nach dem Festspielhaus hi‐ nauszogen, die Wagen vorbeirasselten und langsam zurückkehrten und sich endlich eine tiefe Stille über Bayreuth lagerte. Wir plauderten […]; aber wir sagten kein Wort über Wagner und die Festspiele. Beim Thee, als sich draußen die Stille ganz seltsam bemerkbar machte, meinte ich doch: ‚Wie sonderbar das Alles ist, daß wir an einem Festspielabend in Bayreuth so allein zu Hause sitzen‘. ‚Das ist die erste gute Stunde, die ich hier verlebt habe‘, sagte Fritz mit einem merkwürdigen Ausdruck. ‚Fritz‘, meinte ich stockend, ‚es war doch viel schöner, als Du die Sachen auf dem Klavier spieltest und wir Alles so herrlich dazu vor‐ stellten, wie es werden würde‘. ‚Natürlich war es schöner‘, meinte Fritz traurig und schwieg dann lange, lange Zeit.“ 9 / 10 Ob ich die 3. Aufführung […] noch aushalte, ist fraglich: Rohde sah sich, trotz seiner Bedenken, auch den dritten Aufführungszyklus des Ringes an, der
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vom 27. bis zum 30. August 1876 dauerte. Vgl. Brief 6,13 / 17 und 7,15 / 16 mit Anm. 10 unter diesen Umständen: Vgl. Brief 1,5 / 6 mit Anm. 10 / 11 Die 2te werde ich jedenfalls durchsetzen: Anders als Rohde nahm Nietzsche am zweiten Aufführungszyklus, der vom 20. bis zum 23. August 1876 dauerte, nicht mehr teil. – Vgl. E. Förster-N. (Nietzsche II 1, S. 261): „Wir hatten zu dem zweiten Cyklus der Festspiele unsere Plätze an Verwandte abgegeben, da die Aufführungen doch außerordentlich angreifend waren.“ 13 in der Berliner „Volkszeitung“: Der Jahrgang 1876 der Berliner Volkszeitung ist in der Stadt- und Staatsbibliothek Berlin (DDR) bibliothekarisch nachgewiesen. Leider war es nicht möglich, die einschlägigen Nummern bis zum Abschluß der Drucklegung einzusehen. Sollte sich bei späterer Nachprüfung ergeben, daß dort wichtige Informationen zu finden sind, werden diese in geeigneter Form als Nachtrag veröffentlicht werden. 13 / 14 die andern Blätter lügen meist wie ächte Judenblätter: Vgl. Brief 2,15 / 18 mit Anm. 6. Rohde an Val. Framm am 24. August 1876
2 Die 2. Vorstellung ist nun auch vorüber: Vgl. Brief 5,9 und 10 / 12 mit Anm. 8 / 9 werde ich vielleicht ein wenig verreisen: Dieser Vorsatz wurde nicht ausge‐ führt. Vgl. Brief 7,2 / 5 mit Anm. 9 / 10 nach Naumburg (das ich noch nie anders als im Regen gesehen habe): Naum‐ burg an der Saale, ca. 130 km nördlich von Bayreuth in Preußen gelegen, war Nietzsches Heimatstadt; Rohde hatte Nietzsche dort während der Pfingstferien im Juni 1867 und dann noch einmal im August 1868 besucht (Schlechta, S. 27, 29). 11 Alexanderbad bei Wunsiedel: Wunsiedel liegt ca. 30 km nordöstlich von Bay‐ reuth in Oberfranken; unweit von Wunsiedel befindet sich der kleine Badeort Alexandersbad, den Rohde besuchen wollte, weil sich dort seine Mutter Bertha zur Kur aufhielt. 13 / 14 Wahrscheinlich schwänze ich dann am Sonntag „Rheingold“: Auch dieser Vorsatz blieb unausgeführt. Vgl. Brief 7,16 mit Anm. 15 / 17 nie vermuthlich wird man wieder die Intentionen dieses einzigen Genius so aus einer von ihm selbst geleiteten Vorführung seines größten Werkes empfinden können: In der Tat fand zu Wagners Lebzeiten keine weitere Aufführung des Ringes mehr in Bayreuth statt; die nächste Aufführung, die von Cosima Wagner inszeniert und von Felix Mottl, Hans Richter und Siegfried Wagner musikalisch geleitet wurde, datiert erst aus dem Jahre 1896.
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19 / 20 wenn auch freilich die Aufführung bei Weitem nicht die volle Seele des Meisters selbst wieder ertönen lässt: Wie Rohde stimmten nahezu alle verstän‐ digen Beobachter darin überein, daß die erste Bayreuther Inszenierung des Ringes, trotz größter Bemühung, musikalisch und vor allem dramaturgisch viel‐ fach den Intentionen Wagners nicht gerecht geworden sei. – Vgl. die zeitgenös‐ sischen Urteile bei Gregor-Dellin, S. 724 – 726. – Noch strenger urteilte Wagner selbst, der sich nach Aussage Cosima Wagners am 23. Juli 1878 rückschauend folgendermaßen über die Festspiele äußerte (II, S. 144): „Ich möchte das nicht wieder durchmachen! Es war alles falsch! […] Eine große Tätigkeit hat mich aufrechterhalten und während der Zeit alles Schlimme unbeachten [lassen], aber ich möchte es nicht wieder durchmachen.“ – Weitere kritische Äußerungen Wagners bei Newman, a. a. O., S. 484 – 486; Westernhagen, a. a. O., S. 454; Mayer, a. a. O., S. 49 – 52; Gregor-Dellin, S. 728. 21 „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichniß“: Schlußverse aus Goethes Faust II: „Alles Vergängliche Ist nur ein Gleichniss; Das Unzulängliche, Hier wird’s Ereigniss; Das Unbeschreibliche, Hier ist es gethan, Das Ewigweibliche Zieht uns hinan.“
– Diese Verse hatte auch Wagner anläßlich des Festbanketts zitiert, um die Un‐ zulänglichkeiten der Aufführung zu rechtfertigen. Vgl. Anm. zu Brief 4,11. 23 / 24 Hier ist auch ein Dr. Rée: Rohde scheint Paul Rée erst während der Fest‐ spiele persönlich kennengelernt zu haben, wahrscheinlich durch Vermittlung Nietzsches, der mit Rée seit 1873 befreundet war. – Vgl. im übrigen Brief 7,14 / 15 mit Anm. 24 Er ist ein angenehmer, nachdenkender Mensch etc.: Elisabeth Nietzsche schreibt am 30. August 1876 an den Bruder (KGB): „Rohde hat eine fabelhafte Zuneigung für Ree, besonders auch nach seinem Buch welches er sich jetzt angeschafft hatte und aus welchem wir uns jetzt immer erfreuten.“ – Vgl. auch Brief 7,5 / 8. – Die Hochachtung, die Rohde damals für Rée empfand, machte später, nachdem die Freundschaft zwischen Nietzsche und Rée wegen Lou Andreas-Salomé in die Brüche gegangen war, unverhohlener Abneigung Platz. Vgl. Rohdes Brief an Overbeck vom 1. September 1886 (SN 1, S. 107 f.): „So habe ich das Buch des Rée über Entstehung des Gewissens vor mir: eine schwerfällige Demonstration der trivialsten Sätze; so geht es diesen Aphoristikern wenn sie einmal nicht ihre
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unbewiesenen Unverschämtheiten schleudern sondern beweisen wollen. Ist das ein stümperhaftes Gemansche mit Citaten, noch dazu alle aus 2ter Hand! und ein Stöhnen und Stampfen der logischen Maschine! da doch ein verständiger Mensch auf 2 Seiten zu belehren war, was eigentlich Rée meint, und auch seine Einwendungen gegen diese Plattheiten gleich zur Hand hätte!“ 29 Heute Nachmittag waren wir bei Frl. v. Meysenbug: Malwida von Meysenbug hatte Nietzsche und Rohde durch Vermittlung Cosima Wagners im Mai 1872 bei der Grundsteinlegung des Festspielhauses in Bayreuth kennengelernt und beiden freundschaftliches Interesse entgegengebracht, das sich im Falle Nietz‐ sches im Laufe der Jahre zu wirklicher freundschaftlicher Zuneigung entwi‐ ckelte. – Weitere Einzelheiten bei E. Binder, Malwida v. Meysenbug und Friedrich Nietzsche, (Diss. Lausanne) Berlin 1917; Janz I, S. 675 – 692. mit Familie Herzen: Malwida von Meysenbug hatte Mitte der 50er Jahre in London den russischen Sozialrevolutionär Alexander Iwanowitsch Herzen (1812 – 1870) kennengelernt und die Kinder des frühverwitweten und frühvers‐ torbenen Mannes (Alexander Alexandrowitsch, Olga und Natalie) an Mutters Statt erzogen. Olga Herzen hatte im Jahre 1873 den französischen Historiker Gabriel Monod geheiratet, der auch mit Nietzsche bekannt war. 30 / 31 die friedlichste und einfach-vornehmste Atmosphäre umgiebt Einen da: Vgl. hierzu Nietzsches Briefe aus Bayreuth an die Schwester, in denen es am 25. Juli 1876 heißt (KGB): „Ich bin eingezogen, verlebe aber den Tag bei Frl. v. Mey‐ senbug, die einen schönen kühlen Garten hat. Da esse ich auch zu Mittag“. Am 28. Juli 1876 heißt es (KGB): „seit drei Tagen habe ich an meinem Befinden nichts mehr auszusetzen: dafür lebe ich auch bei Frl. v. Meysenbug, bin von früh an im Garten, trinke Milch, bade im Fluss und esse so wie es mir wohlthut.“ 31 Nietzsche phantasirte sehr schön am Clavier: Vgl. hierzu bes. Gersdorffs Brief an Heinrich Köselitz vom 14. September 1900 (Janz I, S. 96): „Ich glaube nicht, daß Beethoven ergreifender phantasieren konnte als Nietzsche, zum Beispiel wenn ein Gewitter am Himmel stand.“ 7. Rohde an Val. Framm am 27. August 1876
2 in den Pausetagen: Die Tage zwischen dem zweiten Aufführungszyklus, der am 23. August 1876 endete, und dem Beginn des dritten Zyklus, der auf den 27. August fiel. 4 die Reisepläne: Vgl. Brief 6,8 / 11 mit Anm. 6 mit Freunden: Vgl. Brief 5,4 mit Anm. 6 / 7 auch an dem Dr. Rée von dem ich dir schon schrieb: Vgl. Brief 6,23 / 25 mit Anm.
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9 / 10 an denen es in Jena gänzlich fehlt: Rohde war im Frühjahr 1876 von Kiel als ordentlicher Professor für Klassische Philologie an die Universität Jena berufen worden, an der er bis zum Frühjahr 1878 lehrte. – Wie sehr Rohde in Jena den Umgang mit geistig hochstehenden Freunden vermißte, lehren seine Äuße‐ rungen über Paul Rée, der Rohde im Mai / Juni 1877 in Jena besucht hatte, um sich zu habilitieren. So schreibt Rohde am 12. Juni 1877 an Valentine Framm (SN 1, S. 253): „Es thut mir leid, ihn entbehren zu müssen: er war mir sehr sympa‐ thisch, ‚unter Larven die einzige fühlende Brust‘; auch lag um ihn etwas von der Luft aus Nietzsches Nähe.“ Am 29. Juni 1877 schreibt Rohde an Overbeck (SN 1, S. 21): „Ich habe ihm sehr zugeredet, seine Habilitirungsabsichten nicht so schnell fallenzulassen; ich wünschte sehr daß er nun gerade hier sich ansiedelte; es wäre inmitten dieser fatalen akademischen Atmosphäre doch ein erquick‐ licherer Lufthauch.“ 11 / 12 mein alter Wunsch, mit solchen Freunden zusammen einmal eine Colonie der „Weisen“ gründen zu können: Dieser Wunsch geht zurück auf das Jahr 1870. Rohde hatte am 11. Dezember 1870 an Nietzsche geschrieben (KGB): „Unser‐ einer kann es nur in träumendem Verlangen als ein unmögliches Glück ersehen, in irgend einer entlegnen Einsamkeit sich ungestört, vom Willen befreit, stiller betrachtender Arbeit hinzugeben.“ Hierauf schlägt Nietzsche am 15. Dezember 1870 vor, die Lehrtätigkeit an der Universität aufzugeben und eine neue Aka‐ demie zu gründen (KGB): „Also wir werfen einmal dieses Joch ab, das steht für mich ganz fest. Und dann bilden wir eine neue griechische Akademie, Romundt gehört gewiß zu uns. Du kennst wohl auch aus Deinem Besuche in Tribschen den Baireuther Plan Wagners […] Sei es nun auch, daß wir wenig Gesinnungs‐ genossen bekommen, so glaube ich doch, daß wir uns selbst so ziemlich – freilich mit einigen Einbußen – aus diesem Strome herausreißen können und daß wir eine kleine Insel erreichen werden, auf der wir uns nicht mehr Wachs in die Ohren zu stopfen brauchen. Wir sind dann unsere gegenseitigen Lehrer, unsre Bücher sind nur noch Angelhaken, um jemand wieder für unsre klöster‐ lich-künstlerische Genossenschaft zu gewinnen. Wir leben, arbeiten, genießen für einander – vielleicht daß dies die einzige Art ist, wie wir für das Ganze arbeiten sollen.“ Rohde antwortet am 29. Dezember 1870 ablehnend (KGB): „Dein Plan kommt mir, nur als Wunsch betrachtet, natürlich durchaus nicht unerwartet […] Und so würde ich der βαναυσία mit Freude absagen, und ein wahrhaftes Musenleben in Deiner und andrer μουσοπόλοι Gemeinschaft als das letzte Ziel der Wünsche erstreben. Aber ach – ich würde nur. Zunächst, woher die Mittel nehmen? […] Was mich aber noch ernstlicher bedenklich macht, ist das Gefühl einer gänzlich passiven Anlage. Ich fühle stets, und immer mehr daß mir eigentliche Productivität, im wirklichen Sinne, gänzlich fehlt: wozu
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sich das verhehlen! […] solch ein bloß verstehender, selbst nichts schaffender Mensch hat nicht das Recht, sich in eine Welteinsamkeit zu flüchten, die dem schöpferischen Geiste freilich erst die Beruhigung zur Darstellung seiner innern Gesichte gewährt.“ 14 „Jetztzeit“: Eine Wortneuprägung des frühen 19. Jahrhunderts, die Rohde und Nietzsche, Schopenhauer folgend, gerne gebrauchten, um die geistige Unzu‐ länglichkeit der Gegenwart ironisch zu charakterisieren. Vgl. SN 1, S. 6, 108, 223. 14 / 15 Heute ganz früh ist leider Nietzsche […] und mit ihm Rée abgereist: Vgl. hierzu Nietzsches Brief an die Schwester vom 29. August 1876 (KGB): „Rückreise mit Schuré’s und Rée zusammen sehr angenehm.“ – Schuré berichtet rück‐ schauend über Nietzsches Verhalten während dieser Reise (bei Förster-N., Nietz‐ sche II 1, S. 258): „Quand nous partîmes ensemble, aucune critique, aucune parole de blâme ne lui échappa, mais il avait la tristesse résignée d’un vaincu. Je me souviens de l’expression de lassitude et de déception avec laquelle il parla de l’œuvre prochaine du maître et laissa tomber ce propos: ‚Il m’a dit qu’il voulait relire l’histoire universelle avant d’écrire son poème de Parsifal!‘ […] Ce fut dit avec le sourire et l’accent d’une indulgence ironique, dont le sens caché pouvait être celui-ci: ‚Voilà bien les illusions des poètes et des musiciens, qui croient faire entrer l’univers dans leurs fantasmagories et n’y mettent qu’eux-mêmes!‘“ der in Basel wieder ins Amt muß: Rohde spricht nicht von Nietzsches Lehrtätig‐ keit an der Universität, die erst im Oktober begann, sondern vom Unterricht am Baseler Paedagogium, zu dem Nietzsche ebenfalls verpflichtet war. Er gab dort im September 1876 seine letzten Stunden. – Weitere Einzelheiten bei H. Gut‐ zwiller: Friedrich Nietzsches Lehrtätigkeit am Basler Paedagogium 1869 – 1876, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 50 (1951), S. 147 – 224. 16 die 3. Aufführung: Der dritte Zyklus des Ringes dauerte vom 27. bis zum 30. August 1876. 16 um abzudampfen: Rohde verließ Bayreuth am 21. August 1876 und fuhr nach Leipzig. 17 / 18 Der König von Bayern ist heute Nacht gekommen: Ludwig II., der bereits die Generalproben vom 6. bis zum 9. August 1876 gesehen hatte, besuchte auch den dritten Zyklus des Ringes; Wagner saß während dieser Aufführung an der Seite des Königs in der Königsloge. – Vgl. hierzu Cosima Wagner, die am 5. November 1876 berichtet (I, S. 1013): „Abends Plaudereien mit R›ichard‹, wobei ich suche, allerlei Fremdartiges zu erzählen, das Gespräch immer auf den so traurigen Gegenstand zurückkömmt. R›ichard‹ erzählt, seine Hauptempfin‐ dung während der Aufführungen sei ‚nie wieder, nie wieder‘ gewesen. Er habe so gezuckt, daß der König ihn gefragt, was er habe, worauf er sich denn mit
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Gewalt zurückgehalten.“ – Weitere Einzelheiten bei Glasenapp, a. a. O., S. 464 – 467; Newman, a. a. O., S. 482 – 484; Westernhagen, a. a. O., S. 453 f.; Gregor-Dellin, S. 723 f.; – Vgl. außerdem: S. Röckl, Ludwig II. und Richard Wagner, 2 Bde., München 1913 – 1920; F. Herzfeld, Königsfreundschaft. Ludwig II. und Richard Wagner, Leipzig 1939. 20 / 21 Ich vermuthe daß in dieser Weise zu nächst nichts wieder zu Stande kommt: Rohde irrt. Auch wenn der Ring zu Wagners Lebzeiten nicht mehr in Bayreuth aufgeführt wurde (vgl. Anm. zu Brief 6,15 / 17), veranstaltete Wagner doch noch einmal, vom 26. Juli bis zum 29. August 1882, Festspiele in Bayreuth, in deren Verlauf insgesamt sechzehnmal Parsifal aufgeführt wurde.
13. Ah Virgil, Virgil! – der Speichellecker des julischen Hauses Die literarische Bedeutung des Lateinischen in Thomas Manns Zauberberg Für Werner Suerbaum zum 75. Geburtstag
Thomas Mann erwähnt in seinem literarischen Œuvre, das der Antike in allen ihren Epochen und Ausprägungen so viel Aufmerksamkeit entgegenbringt, den römischen Dichter Vergil nur in einem einzigen Werk: im Roman Der Zauber‐ berg, der 1924 erschienenen ist (GKFA 5.1 2002 ed. M. Neumann). Dieser Befund ist bemerkenswert und verdient eine genauere Betrachtung – ein erwünschter Anlaß, auch über die literarische Bedeutung nachzudenken, die dem Latein‐ ischen insgesamt in diesem Roman zukommt, der nicht von ungefähr mit einer lateinischen Formel schließt, die durch Majuskeln besonders hervorgehoben wird: FINIS OPERIS. Der Zauberberg gehört zur Gattung des Bildungsromans, der seinerseits eine moderne Spezies des älteren, bis in die Antike zurückreichenden Abenteurerund Schelmenromans ist. Der Autor selbst konstatiert diese Tatsache, wenn er in der Einführung (SGAW 1966 S. XV) rhetorisch fragt: „Und was ist denn wirk‐ lich der deutsche Bildungsroman, zu dessen Typ der Wilhelm Meister sowohl wie der Zauberberg gehören, anderes, als die Sublimierung und Vergeistigung des Abenteurerromans?“ Im Zauberberg geht es darum, daß ein junger Mann, der Hamburger Patrizier Hans Castorp, den der Autor expressis verbis als „einfach“ (GKFA S. 9 & 11), „simpel“ (S. 1085) und „mittelmäßig, wenn auch in einem recht ehrenwerten Sinn“ (S. 54) charakterisiert, während eines siebenjährigen Aufenthaltes in einem Schweizer Lungen-Sanatorium „Abenteuer im Fleische und Geist“ erlebt, die seine Einfachheit „steigerten“, so daß ihm „aus Tod und Körperunzucht ah‐ nungsvoll und regierungsweise ein Traum von Liebe erwuchs“ (S. 1085). So ge‐ steigert „durch hermetischen Zauber“ (S. 1074) wird „des Lebens treuherziges Sorgenkind“ (S. 1085; vgl. S. 467, 489, 499, 536, 552, 615, 736, 750, 826, 910) ent‐ lassen in das Grauen des Ersten Weltkrieges, den er wohl nicht überleben wird. „Deine Aussichten sind schlecht“, ruft ihm der Autor nach, „und wir möchten nicht hoch wetten, daß du davonkommst“ (S. 1085).
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Die „alchymistischen Abenteuer“ (S. 1074), denen der einfache Held seine „Transsubstantiation […] zum Höheren“, also seine „Steigerung“ (S. 902) ver‐ dankt, sind vielfältiger Art. Da ist zunächst der hermetische Ort der Geschichte, das Luxus-Sanatorium, in dem Müßiggang und Konkupiszenz, Krankheit und Tod gleichermaßen und gemeinsam obwalten; da ist die Erfahrung persönlicher Todesnot im Hochgebirgs-Schneesturm; da ist weiter die heillose erotische Ver‐ fallenheit an Clawdia Chauchat, eine russische Apartheit, die als Frau noch einmal jener schöne slawische Knabe ist, dem die erste stürmische Liebe des Schülers gegolten hat; da ist die Begegnung mit verstörenden Autoritätsper‐ sonen, mit Hofrat Behrens und Mynheer Peeperkorn, melancholischer Schwad‐ roneur der eine, der andere ein Mann von Format, vor dessen peremptorischer Gebärdensprache aller intellektueller Scharfsinn zuschanden wird; da ist die Bekanntschaft mit Dr. Krokowski, dessen psychoanalytisches Wühlen in den dunklen Bereichen der Seele schließlich in fragwürdigsten Okkultismus aus‐ artet; da ist endlich, aber nicht zuletzt die Konfrontation mit zwei extremen, einander diametral entgegengesetzten Weltanschauungen, deren Träger, der Humanist und Freimaurer Ludovico Settembrini und der Jesuit und Kommunist Leo Naphta, sich, wie es Hans Castorp vorkommt, pädagogisch um seine arme Seele raufen „wie Gott und Teufel um den Menschen im Mittelalter“ (S. 719). In jenen uferlosen Gesprächen, die die beiden „Widersacher im Geiste“ (S. 764) einzeln oder gemeinsam vom Zaune brechen, um Hans Castorps Seele zu gewinnen, kommt nun auch Vergil zur Sprache: Zweimal gedenkt Settembrini des Dichters namentlich im Gespräch mit Hans Castorp (S. 96 f. & 148), einmal ist Vergil Gegenstand eines dialektischen Streitgespräches zwischen Settembrini und Naphta (S. 783 f.), worüber sich der Autor im Nachhinein verwundert (S. 788). Das ist alles – gesetzt, daß man eine versteckte Anspielung auf einen Vergilvers nicht übersieht, die Settembrini in einem späteren Streitgespräch mit Naphta fallen läßt (S. 890). Will man recht verstehen, was es mit diesen zwar kargen, aber gleichwohl oder vielmehr ebendeshalb bedeutsamen Äußerungen über Vergil auf sich hat, so muß man sich der Persönlichkeit und der Weltanschauung jener beiden Kon‐ trahenten versichern, denen diese Äußerungen in den Mund gelegt werden. Ludovico Settembrini, der im Roman früher auftritt als sein Gegenspieler Leo Naphta und also längere Zeit gegenüber Hans Castorp ideologisch allein das Feld behauptet, ist, wie der Name kundtut, Italiener, ein politischer Literat, krankheitshalber ins Sanatorium verschlagen, das er jedoch, aus finanziellen Gründen, verlassen muß, um in einem bescheidenen Privatlogis Unterkunft zu finden.
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Mit großer Liebe und Ehrerbietung erzählt Settembrini von seinen Voreltern. Der Vater war ein Humanist, ein uomo letterario nach dem Geschmacke Boc‐ caccios, ein Meister der toskanischen Prosa, des idioma gentile, in dem er auch formvollendete Erzählungen zu verfassen wußte, zudem ein lateinischer Stilist von Rang. Anders der Großvater: ein Freiheitskämpfer oder carbonaro, Patriot, Redner und Agitator, nach einem Putschversuch in Turin gejagt von den Häschern Metternichs, im Exil für die Freiheit Spaniens und Griechenlands kämpfend, schließlich als Advokat und „Oppositionsmann“ in Mailand für die Einheit und Freiheit Italiens wirkend (S. 233 f.). Aus dieser Herkunft leitet Hans Castorp den Beruf oder besser die Berufung Ludovico Settembrinis ab: „Nicht umsonst war er ein Literat, das hieß: eines Politikers Enkel und Sohn eines Humanisten“ (S. 704). Diese geistvolle Deduk‐ tion verdankt Hans Castorp Settembrini selbst: In ihm, so doziert er, habe sich die politische Tendenz des Großvaters und die humanistische des Vaters ver‐ einigt, insofern er ein Literat und freier Schriftsteller geworden sei: „Denn die Literatur sei nichts anderes als eben dies: sie sei die Vereinigung von Huma‐ nismus und Politik, welche sich um so zwangloser vollziehe, als ja Humanismus selber schon Politik und Politik Humanismus sei“ (S. 242 f.). Und weiter: „Alle Sittigung und sittliche Vervollkommnung entstamme dem Geiste der Lite‐ ratur […], welcher zugleich auch der Geist der Humanität und der Politik sei. Ja, dies alles sei eins, sei ein und dieselbe Macht und Idee, und in einem Namen könne man es zusammenfassen […] er laute: Zivilisation!“ (S. 243 f.). Diese Äußerungen, denen sich unschwer noch andere ähnlicher Art hinzu‐ fügen ließen, stellen außer Zweifel, daß Settembrini ein „Zivilisationsliterat“ ist, wie er im Buche steht: Thomas Mann hat in den Betrachtungen eines Unpoliti‐ schen (1918) diesen besonderen Typus des politischen Literaten erfunden, um seine Position als unpolitischer bürgerlicher und deutscher Denker davon ab‐ zusetzen. Folgt man den sententiösen Ausführungen der Betrachtungen, so ist die geis‐ tige und politische Heimat des Zivilisationsliteraten Frankreich. Er bekennt sich zum aufklärerischen Denkens Rousseaus und Voltaires und verficht die jenem Denken verpflichteten Ideale der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und die damit eng verknüpften Ideen von Humanität, Hu‐ manismus, Pazifismus, Fortschrittsglaube, Demokratie und Weltbürgertum – ein Komplex von Ideen, die im Ideal der Zivilisation kulminieren, das durch Literatur im schönen Stil weltweit werbewirksam zu propagieren und siegreich zu etablieren das Hauptanliegen des Zivilisationsliteraten ist: ein politisches Anliegen au fond. Daher kann Settembrini auch sagen: „Der Menschenfreund
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kann den Unterschied von Politik und Nichtpolitik überhaupt nicht anerkennen. Es gibt keine Nichtpolitik. Alles ist Politik“ (S. 776). Zwar ist die geistige Heimat des Zivilisationsliteraten Frankreich – Ludovico Settembrini jedoch, in dem der Typus des Zivilisationsliteraten literarisch Form und Gestalt gewinnt, ist kein Franzose, sondern Italiener – eine nationale Me‐ tathese, über deren Gründe nachzudenken verlohnt. Ein Franzose als Repräsentant des französischen Geistes wäre ein vergleichs‐ weise platter Einfall gewesen, der dem ästhetischen Empfinden des Autors of‐ fenbar widerstrebte. Ein Russe oder ein Spanier kamen auch nicht in Frage, wenn anders sich Hans Castorp über die Geistesart jener beiden Völker so äußern sollte, wie er sich äußert: Beide Völker bildeten in Europa die „außerhumanis‐ tischen Lager“ (S. 761): Hier nämlich walte Weichheit als Formlosigkeit, dort Härte als Überform und Todesstrenge statt Todesauflösung. Auch ein Engländer kam nicht in Frage: Englische Geistesart ist zwar politisch, aber politisch-prag‐ matisch und ökonomisch und insofern der Ideologie des Zivilisationsliteraten unwillkommen; weshalb dieser auch, wie Settembrini, gegenüber allem Engli‐ schen ein nachgerade feindseliges Schweigen an den Tag legt. Verbliebe Deutschland. Das ging nun gar nicht. Der unpolitisch-bürgerliche deutsche Geist, so die Betrachtungen, steht dem französischen Geist so fremd und ab‐ wehrend gegenüber, daß er nachgerade ein Gegenentwurf und Konkurrenzmo‐ dell ist – es sei denn, er wäre bereits der zivilisationsliterarischen Propaganda erlegen. Aber dann hätte der Autor seinen Bruder Heinrich literarisch in Szene setzen müssen, wie er es schon einmal in dem Roman Königliche Hoheit (1909) getan hatte. Aber was vor dem Ersten Weltkrieg möglich gewesen war, das war nach dem Bruderzwist, der wegen und während des Krieges entstanden war, nunmehr durchaus undenkbar. – Also war es und mußte es ein Italiener sein, der den Zivilisationsliteraten literarisch verkörperte, Ludovico Settembrini also, der, als Romane, nicht minder einleuchtend demonstriert als ein Franzose, daß die Ideologie des Zivilisationsliteraten ihrer Herkunft und Substanz nach ein Erzeugnis des westlichen, um nicht zu sagen: des lateinischen Geistes ist, dessen klassische Luzidität Sprache und Denken der romanischen Völker ja so tiefgrei‐ fend bestimmt und kommandiert. Ludovico Settembrini erweist sich denn auch sogleich im Umgang mit der Sprache als rechter Romane. Daß er das Italienische „mit äußerstem Genuß“ (S. 148; vgl. S. 153) spricht, versteht sich beinahe von selbst. Aber auch das Deut‐ sche handhabt er „ohne fremden Akzent“ (S. 89), grammatisch einwandfrei, ohne sich zu versprechen „mit einem offensichtlichen, sich mitteilenden und heiter stimmenden Behagen“ (S. 98). Und weiter heißt es: „Die Worte kamen prall, nett und wie neuschaffen von seinen beweglichen Lippen“ (S. 98). Als Hans Castorp
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diese façon de parler zu beschreiben versucht, gibt ihm Settembrini das kenn‐ zeichnende Adjektiv „plastisch“ (S. 99) an die Hand, und von der prallen Plasti‐ zität und wohlgeformten Klarheit, mit der sich Settembrini im Deutschen aus‐ drückt, ist dann im Verlaufe des Romans immer wieder die Rede (S. 146, 152, 155, 298, 369, 495, 538, 576, 596, 681, 700, 997) – ein starker leitmotivischer rappel, der gewährleisten soll und gewährleistet, daß sich der Leser stets bewußt bleibt, daß, wer da so makellos Deutsch spricht, ein Zögling westlich-romanischer Kultur und Zivilisation ist und daß, was er spricht, sich dem Geiste jener kul‐ turellen und zivilisatorischen Sphäre verdankt, die Voltaire und Rousseau zu ihren Ahnherren zählt. Allerdings bringt es die Verschiebung der Nationalität mit sich, daß Settem‐ brini, um pädagogisch auf Hans Castorp im Sinne seiner Weltanschauung ein‐ zuwirken, mehr auf die italienische Geistes- und Kulturtradition zurückgreift als auf die französische, so hoch er diese auch achtet. Es ist eine stattliche Reihe von Namen und Personen aus der gesamten italienischen Kultursphäre, die Hans Castorp im Laufe der Erzählung von Settembrini zu hören bekommt: Car‐ ducci (1835 – 1907), der zweimal vorgestellt wird (S. 92 – 94 & 242), Petrarca (1304 – 1374) (S. 96), Boccaccio (1313 – 1375) (S. 147), Leopardi (1798 – 1837) (S. 153), Manzoni (1785 – 1873) (S. 242), Dante (1265 – 1321) (S. 242; vgl. S. 783), Brunetto Latini (ca. 1220 – 1295) (S. 243) und Aretino (1492 – 1556) (S. 564). Die kultur- und literaturgeschichtlichen Belehrungen Settembrinis fallen nicht auf unfruchtbaren Boden. Hans Castorp, dem jene belehrenden Informationen gelten, erinnert sich ihrer im Laufe der Erzählung immer wieder: So erwähnt er je einmal Petrarca (S. 615) und Leopardi (S. 337), dreimal Brunetto Latini (S. 535, 537, 789) und nicht weniger als fünfmal Carducci (S. 297, 337, 498, 537, 697). Der statistische Befund lehrt, daß der Autor der Person Carduccis besonderes Interesse entgegenbringt. Dieses Interesse kommt nicht von ungefähr. Giosuè Carducci, der 1906 den Nobelpreis für Literatur erhalten hatte, war eine der maßgeblichen geistigen Persönlichkeiten Italiens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Gegner der Romantik und des Katholizismus, Begründer einer neuheidnischen klassizistischen Poesie, auch ein großer Redner und Volkser‐ zieher, der Italien in Hinblick auf die große Vergangenheit des Imperium Ro‐ manum zu erneuern bestrebt gewesen ist. In alledem erweist sich Carducci als typischer Zivilisationsliterat, nicht an‐ ders als Settembrini auch, der sich nicht von ungefähr als Schüler Carduccis bekennt (S. 92) und den Ansichten seines Lehrers so ungeteilten Beifall zollt, daß außer Frage steht, daß Settembrini ein Pendant Carduccis ist und sein soll, die poetische Transformation einer historischen Person im Horizont zivilisations‐ literarischer Ideologie – einer Ideologie, die sinnfälligen Ausdruck findet in
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Carduccis berühmtem Gedicht Inno a Satana aus dem Jahre 1865, dessen Anfang Settembrini italienisch zitiert (S. 92 f.), um später noch einmal beifällig auf jenes Gedicht zurückzukommen (S. 242), dessen sich viel später auch Hans Castorp noch erinnert (S. 697). Damit nicht genug: Das Kapitel, in dem Settembrini Hans Castorp und dem Leser vorgestellt wird, trägt den Titel Satana (S. 88) und an‐ nonciert so im Vorgriff die geistige Identität, die zwischen Settembrini und Car‐ ducci waltet. Das Panorama des italienischen Geistes, das Settembrini vor Hans Castorps Augen entstehen läßt, um ihn pädagogisch und ideologisch zu beeinflussen, ist weit gespannt: Es reicht von der unmittelbaren Moderne (Carducci) bis in die Zeit der Frührenaissance (Latini, Dante, Petrarca), in der das Klassische Latein neu entdeckt wurde und sich zugleich das Italienische als eigenständige Sprache aus dem Lateinischen zu entwickeln begann – eine gegenstrebige Entwicklung, die besonders sinnfällig im Falle der Göttlichen Komödie zutage tritt, die Dante in italienischer Sprache gedichtet hat, nachdem er lange Zeit das Lateinische als Sprache für das Gedicht erwogen und favorisiert hatte. Kein Wunder hiernach, daß auch das Lateinische im Bildungshorizont Settembrinis und also auch im Bildungshorizont Hans Castorps eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Wie hoch Settembrini das Lateinische, die Mutter des Italienischen, schätzt, davon kündet eine ergötzliche Episode: Er – Settembrini – sei bei der Postaus‐ gabe Zeuge eines Streites geworden zwischen Staatsanwalt Paravant aus Düs‐ seldorf und einem Russen; innerlich habe er, ohne Kenntnis des Sachverhalts, sofort Partei für den Staatsanwalt ergriffen. Der Grund: „Er ist zwar ein Esel, aber er versteht wenigstens Latein.“ Im übrigen nennt Settembrini den streit‐ baren Russen einen „Iwan Iwanowitsch ohne Weißzeug“ (S. 366) und bekundet so, daß, wer kein Latein kann, auch in allen anderen kulturellen Belangen ein tiefstehender Mensch sei. Dieses doktrinäre Vorurteil gegen das „lateinlose Halbasien“ (S. 1077) tritt noch einmal in Kraft. Am sogenannten „Schlechten Russentisch“ trifft Settem‐ brini auf einen Medizinstudenten höheren Semesters, der des Lateinischen voll‐ kommen unkundig ist und nicht einmal weiß, was ein Vakuum ist. Er gehört zu jenen russischen Patienten, die dem Humanisten „lebhafte Abstandsgefühle“ (S. 347) erregen, denn: „Sie aßen mit dem Messer und besudelten […] die Toi‐ lette“. Womit der enge Konnex zwischen Latein und Zivilisation, wie ihn Set‐ tembrini vertritt, noch einmal unterstrichen wird. Hans Castorp teilt dieses Vorurteil nicht: Die Leute, die am Schlechten Russentisch speisten, bemerkt er ganz am Schluß der Erzählung, seien ehrenwerte Mitglieder der Menschheit, „wenn sie auch kein Latein verstanden und sich beim Essen nicht übertrieben zierlich benahmen“ (S. 1072).
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Ironischerweise ist der Humanist Settembrini nicht der erste, der sich im Roman der lateinischen Sprache bedient, sondern Hofrat Behrens: Er gibt Hans Castorp beim ersten Zusammentreffen „ganz sine pecunia“ (S. 74) den Rat, sich für die Zeit seines Aufenthaltes ebenso zu verhalten wie sein kranker Vetter. Dieser Ausdruck, der den Roman leitmotivisch durchzieht (S. 95, 226, 306, 499), um auf die Kostspieligkeit des Sanatoriumsaufenthaltes zu verweisen, steht am Anfang einer größeren Anzahl von Latinismen, die der Hofrat fraglos seinem Medizinstudium verdankt: „tuberculosis pulmonum“ (S. 74; vgl. S. 949), „ad pe‐ nates“ (S. 163; vgl. S. 448), „moribundus“ (S. 163; vgl. S. 164, 448, 460, 805, 953, 1078), „mortis causa“ (S. 265), „hilus“ (S. 271), „praeter-propter“ (S. 275), „ein Prä“ (S. 393), „libido“ (S. 628), „laryngea“ (S. 799), „locus minoris resistentiae“ (S. 799). Mit dem Mediziner- und Studenten-Latein, dessen sich der Hofrat mit Fleiß bedient, damit die Latinität in toto in den Blick des Lesers gerückt werde, hat das Latein, das Settembrini im Sinne seiner Weltanschauung propagiert, ebenso wenig gemeinsam wie das Theologen-Latein, das Naphta favorisiert. Bedeutsam und belehrend sind in dieser Hinsicht gleich die ersten latein‐ ischen Worte, die Settembrini gegenüber den Vettern äußert: „Mein Gott, ich bin Humanist, ein homo humanus“ (S. 93). Wenn der Autor den Sprecher bei seiner Selbstvorstellung so unvermittelt und ohne Not ins Lateinische fallen läßt, so signalisiert er, daß ein Humanist wie Settembrini im Grunde ein Lateiner ist und daß der Haupt- und Kerngedanke des Zivilisationsliteraten – der Humanismus – seine Heimat in jener lateinisch geprägten Geistessphäre hat, die die Humani‐ sten der Renaissance im Rückgriff auf die Antike und namentlich im Rückgriff auf das Klassische Latein, das in der Epoche des christlichen Mittelalters nahezu in Vergessenheit geraten war, gegen das christliche Denken neu gewonnen und nachhaltig etabliert haben: „Die Errungenschaften […] von Renaissance und Aufklärung“, konstatiert Settembrini sententiös, „heißen Persönlichkeit, Men‐ schenrecht, Freiheit!“ (S. 602). Die Neigung zum Klassischen Latein, der hier verdeckt, aber deutlich genug das Wort geredet wird, ist Settembrini von langer Hand auch familiär vorge‐ geben: Sein Vater nämlich, verkündet Settembrini rühmend, sei „ein lateinischer Stilist gewesen wie keiner mehr“ (S. 236). Die lateinische Bildung des humani‐ stischen Vaters eignet sich der Sohn an, um sie nunmehr politischen Zwecken dienstbar zu machen. Der Autor hat Sorge getragen, daß der ideologisch aufgeladene lateinische Begriff homo humanus dem Leser nicht aus dem Gedächtnis schwindet. Hans Castorp erinnert sich seiner nicht weniger als dreimal (S. 227, 301, 498) – ein leitmotivischer Topos, der gewährleistet, daß man nicht vergißt, wes Geistes
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Kind Settembrini sei: ein Zögling der lateinischen Kultur, ein Zivilisationsliterat also. Im übrigen muß weder Settembrini noch muß später Naphta befürchten, daß Hans Castorp die Latinismen, die der eine ebenso gern gesprächsweise in die Rede einfließen läßt wie der andere, nicht verstünde. Hans Castorp, ein Zögling des Wilhelminischen Realgymnasiums verfügt sehr wohl über nicht unbeträcht‐ liche Lateinkenntnisse. „in der Schule“, so erzählt er seinem Vetter, „haben wir immer bloß Tapferkeit gesagt, wenn virtus im Buche stand“ (S. 156). Schlecht kann dieser Schulunterricht nicht gewesen sein, wenn anders sich Hans Castorp imstande fühlt, die Schrift des Papstes Innozenz III. De miseria humanae condi‐ cionis, auf die ihn Naphta aufmerksam macht, im Original zu lesen: „Wenn ich mein Latein zusammennähme, vielleicht könnte ich sie lesen“ (S. 595). Auch zeigt sich Hans Castorp durchaus in der Lage, seinen Vetter über den Unter‐ schied zwischen Klassischem und Mönchslatein zu belehren (S. 445). Nicht davon zu reden, daß auch er seine Rede mit Latinismen schmückt, die er nicht von Settembrini oder Naphta gelernt hat: „requiescat in pace“ (S. 282; vgl. S. 445), „sit tibi terra levis. Requiem aeternam dona ei, Domine“ (S. 445; vgl. S. 677 f.), „valet“ (S. 489), „mulus“ (S. 499), „rite“ (S. 636), „exodus“, „exitus“ (S. 648), „Aurum potabile“ (S. 769) und „suicidium“ (S. 944). Im Vertrauen auf Hans Castorps vergleichsweise solide Lateinkenntnisse, die der Autor offenbar auch beim Leser voraussetzt, läßt sich Settembrini im Laufe des Gespräches unbesorgt immer wieder auf Lateinisch vernehmen. Die Latinismen, mit denen er seine Rede schmückt, sind vielfältiger Art. Es finden sich Reminiszenzen aus der scholastischen Philosophie wie „in abstracto“ (S. 100) oder „actu“ (S. 620), Titel aus derselben Sphäre wie „princeps scholasti‐ corum“ (S. 564) oder „Doctor angelicus“ (S. 768), eine etymologische Ableitung des Wortes Humor (S. 565), Zitate sprichwörtlicher Art wie „Roma locuta“ (Au‐ gustin, J.-B. Grécourt) oder „mundus vult decipi“ (S. Franck) und schließlich auch ein Ausdruck offenbar eigenständiger Prägung: „in Baccho et ceteris“ (S. 231). Alle diese Latinismen werden vorgetragen, ohne daß der Autor Sorge trüge oder Sorge tragen müßte, den Leser, sofern überhaupt möglich, über ihre Herkunft zu informieren. Ungenannt, aber nicht unerkannt bleibt der Autor auch in einem anderen Falle. Settembrini äußert zu Hans Castorp, um ihn zu sorgfältiger Nutzung der Zeit anzuhalten: „Carpe diem! Das sang ein Großstädter“ (S. 369). Dieses latei‐ nische Zitat verdankt sich, wie Hans Castorp und auch der Leser wissen bzw. wissen sollten, dem römischen Dichter Horaz (carm. 1,11,8), den Settembrini hier ebenso als Großstädter feiert, wie Carducci es mit Dante getan hatte (S. 242): Wie Carducci die Donna gentile e pietosa aus Dantes Vita nuova (cap. 36 & 38)
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nicht als die mystagogische Beatrice verstanden wissen will, sondern als Dantes lebensbejahende und lebenstüchtige Ehefrau, so will Settembrini hier Horazens Aufforderung zum unmittelbaren Lebensgenuß verstanden wissen als Auffor‐ derung zu sozial verantworteter Bewirtschaftung der Zeit – zwei Beispiele zi‐ vilisationsliterarischer Hermeneutik, deren Voreingenommenheit Hans Castorp im Falle des Horaz ebenso hätte durchschauen sollen und womöglich auch durchschaut hat wie im Falle Dantes, dessen Interpretation seitens Carducci er zu Recht sehr mißtraut „in Anbetracht der Windbeutelei des Vermittlers“ (S. 242). Verhüllten Ursprungs ist auch die lateinische Sentenz placet experiri, die Set‐ tembrini in einem frühen Gespräch mit Hans Castorp gleich zweimal – in ita‐ lienischer Aussprache – zitiert (S. 150 & 155) – ein literarisches Signal, das auf die Bedeutung hinweist, die dieser Sentenz im Roman zukommt: Hans Castorp zitiert diese Sentenz im Fortgang der Erzählung nicht weniger als viermal (S. 228, 483 f., 539, 960), einmal (S. 539) sogar ebenfalls in italienischer Aus‐ sprache. Der Autor unterstreicht am Ende noch einmal die Bedeutung dieser leitmotivischen Zitate: „Das Placet experiri […] saß fest in Hans Castorps Sinn; seine Sittlichkeit fiel nachgerade mit seiner Neugier zusammen […]: mit der unbedingten Neugier eines Bildungsreisenden“ (S. 997). Über die Herkunft dieser Sentenz erhält der Leser vergleichsweise spät und auch nur verdeckt Auskunft. Um seinen Verkehr mit Naphta zu rechtfertigen, bemerkt Hans Castorp: „Aber demgegenüber könne man ja Petrarca anführen mit seinem Wahlspruch, Herr Settembrini wisse schon“ (S. 615). Selbstredend weiß Settembrini, daß die Sentenz placet experiri, auf die Hans Castorp hier anspielt, auf Petrarca zurückgeht. Aber woher weiß es Hans Castorp? Settem‐ brini jedenfalls hat es ihm nicht gesagt. Er kommt zwar im ersten Gespräch mit Hans Castorp „im Nu“ auf Petrarca zu sprechen, den er den „Vater der Neuzeit“ (S. 96) nennt. Die lateinische Sentenz wird hier jedoch nicht erwähnt, sondern erst in einem späteren Gespräch (S. 150 & 155), ohne daß hier Petrarcas gedacht würde. Sollen wir glauben, daß Settembrini Hans Castorp unterderhand, ge‐ wissermaßen hinter dem Rücken des Lesers, über den Ursprung der Sentenz unterrichtet habe oder daß der Bildungshorizont Hans Castorps und also auch der des Lesers so fundiert sei, daß beide solcher Belehrung gar nicht bedurften? Beides ist unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist, daß der Autor in diesem Falle in der Textur seines Riesenwerkes eine Masche hat fallen lassen. – Es kommt hinzu, daß die Sentenz placet experiri durchaus nicht der „Wahlspruch“ Petrarcas gewesen ist, sondern ihm von zwei Gelehrten des ausgehenden 19. Jahrhunderts (P. de Nolhac 1892 & F. X. Kraus 1895) post festum vindiziert worden ist.
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Der einzige lateinische Autor, den Settembrini offen und ohne Umschweife mit Namen nennt, ist Vergil, dessen Name im Roman zweimal (S. 148 & 605) in der korrekten lateinischen Form zitiert wird, fünfmal (S. 96 f., 783 f., 788) dagegen in der von Spätantike und Mittelalter bevorzugten inkorrekten Form als Virgilius bzw. Virgil, ohne daß der Wechsel der Form eine literarische Ratio erkennen ließe. Wohl aber verweist die auffällige Bevorzugung, die Settembrini durch mehrfache Namensnennung Vergil zuteil werden läßt, darauf, daß Roms größter Dichter, wie in der abendländischen Tradition, so auch in der Ideologie des Zi‐ vilisationsliteraten eine herausragende Stellung einnimmt. Die Bewunderung Vergils findet sich bereits bei Settembrinis humanisti‐ schem Vater, von dem der Sohn erzählt: „Sein Gärtchen baute er nach dem Bei‐ spiele Vergils“ (S. 148). Das Beispiel, an dem sich Settembrinis Vater orientiert, findet sich im vierten Buche der Georgica (4,116 – 148) Vergil erwähnt hier in Form einer Praeteritio kurz den Gartenbau und erzählt bei dieser Gelegenheit, wie der Greis aus Korykos in der Nähe Tarents auf wenigem und kargem Boden erfolgreich Gartenbau betrieben hat, der ihm zu heiterer Autarkie verhalf. So verfährt also auch Settembrini, der Vater, die poetische Schilderung jenes be‐ scheidenen Gartens ins Praktische wendend – eine Hommage an Vergil, anrüh‐ rend wie kaum eine andere. Die Bewunderung, die der Sohn Vergil entgegenbringt, ist nicht praktisch, sondern ästhetisch und grenzenlos. Ausdrücklich vermerkt der Autor, daß Set‐ tembrini Vergil „abgöttisch liebte“ (S. 783). Es kann hiernach nicht wunder‐ nehmen, daß Settembrini im ersten Gespräch, das er mit Hans Castorp und Jo‐ achim Ziemßen führt, alsbald auf Vergil zu sprechen kommt. Nicht sofort allerdings. Zuvor nämlich greift Settembrini auf die griechische Mythologie zurück, indem er die beiden Anstaltsärzte als „Minos und Rada‐ manth“ (S. 90) bezeichnet und den Anstaltschef im weiteren Verlauf des Ge‐ spräches noch gleich zweimal „Radamanth“ (S. 94 f.) nennt. Hans Castorp über‐ nimmt diese Metapher in einem Selbstgespräch (S. 247) wie selbstverständlich, obwohl er sich über die Bedeutung der mythologischen Anspielung nicht recht im Klaren ist. In einem späteren Gespräch mit Settembrini kommt er, nun selber Patient und im Bette liegend, noch einmal auf die Sache zurück: Settembrini habe den Hofrat mit einem „Höllenrichter“ verglichen, mit „Radames“ (S. 296) nämlich. Worauf Settembrini berichtigend den vollen Namen der mythologi‐ schen Person nennt: „Radamanthys“ (296). Nun versteht Hans Castorp offenbar: „Radamanthys, natürlich! Minos und Radamanthys!“ (S. 297). Was Hans Cas‐ torp – man weiß nicht wie und warum – versteht, müßte oder muß auch der Leser wissen, ohne daß es ihm der Autor expressis verbis sagt: daß nämlich die Zeus-Söhne Minos und Rhadamanthys, Könige in Kreta, ob der Gerechtigkeit
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ihres irdischen Lebenswandels nach ihrem Tode in der Unterwelt als Richter eingesetzt wurden, um über Schuld und Unschuld der toten Seelen ein gerechtes Urteil zu fällen. Der Name des Unterweltsrichters Rhadamanthys begegnet dem Leser im Verlaufe des Romans nicht weniger als achtmal als Chiffre und Synonym für Hofrat Behrens, viermal in der Kurzform „Radamanth“ (S. 489, 633, 842 f.), viermal in der vollständigen Form „Radamanthys“ (S. 674, 795, 947, 1072), wobei überall die inkorrekte Schreibweise ohne aspirierten H-Laut (Rh) angewendet wird. Korrekte Orthographie war des Autors Sache notorisch nicht und offenbar auch nicht Sache des Lektors, der den Fehler hätte bemerken und emendieren müssen. Der Wechsel in der Namensform läßt hier ebenso wenig eine literarische Ab‐ sicht erkennen wie im Falle Vergils, wohl aber verfolgt die leitmotivische Ver‐ wendung der mythologischen Namens-Chiffre eine literarische Absicht, inso‐ fern der Leser immer wieder daran erinnert wird, was die hochgelegene Luxus-Lungen-Heilanstalt, in die es Hans Castorp verschlagen hat, recht ei‐ gentlich ist: ein unterweltlicher Ort au fond, in dem der leitende Arzt über die armen Seelen der Kranken ebenso inappellabel gebietet wie der Unterwelts‐ richter Rhadamanthys über die Schatten der Toten im Hades. Die mythologische Vorstellung von der Unterwelt, die die Nennung der my‐ thischen Totenrichter evoziert hat, wird im Verlauf des Gespräches festgehalten. Settembrini vergleicht nämlich Hans Castorp mit Odysseus: „Sie hospitieren hier nur, wie Odysseus im Schattenreich?“ (S. 90). Diese Anspielung auf die Un‐ terweltsfahrt des Odysseus, die der elfte Gesang der Odyssee erzählt, krönt Set‐ tembrini mit dem Zitat zweier Verse aus der berühmten Begrüßungsrede, die der tote Achill an Odysseus richtet (Od. 11.475 f.): „Welche Kühnheit, hinab in die Tiefe zu steigen, wo Tote nichtig und sinnlos wohnen“ (S. 90). Die deutschen Hexameter verdankt Settembrini, oder besser: verdankt der Autor der Odyssee-Übersetzung von Johann Heinrich Voss (1781), die im deutschen Bil‐ dungsbürgertum bis ins 20. Jahrhundert hinein ein nachgerade kanonisches An‐ sehen hatte. Wie Settembrini den Beginn des Gespräches in den Horizont antiker Unter‐ weltsmythen gestellt hat, so beendet er es auch, nun allerdings nicht aus grie‐ chischer, sondern aus römischer Poesie schöpfend. Joachim Ziemßen drängt zur Liegekur, und Settembrini willfährt seinem Drängen: „Gehen wir also. Wir haben den gleichen Weg, – ‘rechtshin, welcher zu Dis, des Gewaltigen, Mauern hinanstrebt’.“ (S. 96). Wie die Erwähnung des römischen Totengottes Dis anzeigt, entstammt dieses Hexameter-Zitat einer Unterweltserzählung, die in der latein‐
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ischen Literatur beheimatet ist. Den Autor nennt Settembrini sogleich: „Ah, Virgil, Virgil!“ (S. 96). Aus diesen Vorgaben kann und soll der gebildete Leser erschließen, daß das Zitat aus der Aeneis stammt, und zwar aus dem sechsten Buche, in dem Vergil, in konkurrierender Nachahmung Homers, die Unterweltsfahrt des Trojaners Aeneas schildert. Das Zitat selbst, dessen deutsche Fassung sich der Aeneis-Übersetzung von J. H. Voss (1822) verdankt, stammt aus der kurzen Rede der Prophetin Sibylla, die Aeneas auf seiner Fahrt begleitet und ihm den rich‐ tigen Weg weist: Nicht links solle er sich halten, wo im Tartaros die schweren Frevler büßen, sondern nach rechts gehen, um zum Palast des Dis und ins Ely‐ sium zu gelangen (Aen. 6,541). Tiefsinniger kann man kaum zitieren. Nach rechts sich wendend, wie Aeneas, gelangen Settembrini und die Vettern zum „Schreckenspalast“ (S. 96) des Unterweltsrichters Behrens, wo sie jene luxuriöse Atmosphäre erwartet, die man elysisch nennen kann, wenn man nicht vergißt, daß auch das Elysium Teil der Unterwelt ist und ausschließlich Tote beherbergt. Nachdem Settembrini den Namen Vergils vocativisch genannt hat, konstatiert er den singulären Rang dieses Dichters: „er ist unübertroffen“ (S. 96). Hierauf präzisiert er: „Ich glaube an den Fortschritt, gewiß. Aber Virgil verfügt über Beiwörter, wie kein Moderner sie hat“ (S. 96 f.). In dieser Auslassung ver‐ schränken sich zwei Gedanken, ein literarhistorischer und ein weltanschauli‐ cher: daß nämlich die poetische Singularität Vergils auch und vor allem in der Auswahl der Adjektive gründe und daß angesichts ästhetischer Vollkommenheit das zivilisationsliterarische Dogma vom Fortschritt suspendiert werden müsse. Weshalb der poetische Ruhm Vergils ausgerechnet auf dem Gebrauch der Ad‐ jektive beruhe, bleibt Settembrinis Geheimnis und also auch das Geheimnis des Autors – ein Geheimnis, das auch der weltberühmte Vergil-Spezialist, dem diese Studie gewidmet ist, nicht lösen zu können bekannt hat. Gar nicht rätselhaft ist demgegenüber Settembrinis Eingeständnis, daß der Fortschrittsgedanke, der dem Zivilisationsliteraten so teuer ist, außer Kraft ge‐ setzt wird, wenn man ihn mit einer als mustergültig anerkannten Tradition konfrontiert. Der Zivilisationsliterat pflegt diesem Dilemma auszuweichen, indem er die großen Texte im Sinne seiner Ideologie interpretiert: So hält es Settembrini mit Horaz (S. 369), so hielt es, wenn man Settembrini glauben darf, Carducci mit Dante (S. 242). Allein, diese ohnehin fragwürdige Ausflucht ver‐ sagt, wo es nicht um die inhaltliche, sondern um die formale Interpretation des Mustergültigen geht. In aestheticis gilt kein vermittelndes Ausweichen: Ent‐ weder man erkennt das Formal-Mustergültige an und gibt zumindest in diesem Punkte dem Fortschrittsgedanken Abschied, oder man leugnet das ästhetisch Vollkommene und erliegt so, bloß um der Fortschrittsideologie willen, einem
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unfruchtbaren Krittler- und Nörglertum. Es ehrt Settembrini, daß er, was Vergil, was besonders die Sprache Vergils betrifft, der ersten Alternative den Vorzug gegeben hat, auch wenn und weil die partielle Preisgabe des Fortschrittsgedan‐ kens eine geistige Schwäche und Inkonsequenz signalisiert, wie sie jeder in sich geschlossenen Ideologie notwendig innewohnt. Auf dem Heimweg trägt Settembrini lateinische Verse vor – zweifellos Ver‐ gilische Verse, und zwar, wie der Autor hinzufügt „in italienischer Aussprache“ (S. 97). Auch im Falle des Placet experiri hatte der Autor zweimal (S. 150 & 155; vgl. 539) darauf hingewiesen, daß Settembrini das Lateinische in italienischer Aussprache zitiere. Die literarische Absicht liegt auf der Hand: Dem Leser soll bewußt gemacht werden und bewußt bleiben, daß die geistige Heimat des Zi‐ vilisationsliteraten, die Latinität, eine Einheit ist, insofern die romanischen Sprachen und das Italienische ganz besonders dem Lateinischen sprachlich und also auch gedanklich zutiefst verpflichtet sind. Leo oder Leib Naphta, der geistige Widerpart und Gegenspieler Settembrinis, entstammt der Kultursphäre des östlichen Judentums. Sein Vater, in einem Dorf an der galizisch-wolhynischen Grenze beheimatet, war ein jüdischer Metzger (Schächter oder Schochet), zugleich ein rabulistischer Ausleger der Thora und ein medizinierender Wundermann (Zadikk). Er wird während eines Pogroms ermordet, und die Familie flieht in eine kleine Stadt in Vorarlberg (Feldkirch). Hier überwirft sich der junge Naphta, dessen scharfer und querulatorischer In‐ tellekt, ein Erbteil des Vaters, früh hervortritt, mit seinem Lehrer, dem Kreis‐ rabbiner, den die wühlerischen, bald auch revolutionär-gesellschaftskritischen Ansichten seines Zöglings zunehmend entsetzen. Den Entwurzelten gewinnt der Jesuitenpater Unterpertinger für den Katholizismus: Naphta konvertiert und findet Aufnahme im Jesuiten-Gymnasium in Feldkirch. Auch hier bewährt sich Naphtas überragende Intellektualität, so daß die Oberen seinem Wunsche, The‐ ologie zu studieren, willfahren. Das Studium an der Jesuiten-Universität im hol‐ ländischen Falkenburg muß Naphta jedoch krankheitshalber abbrechen und kehrt als Lehrer der Humaniora und der Philosophie in das Gymnasium in Feld‐ kirch zurück, ohne es in der Laufbahn des Ordens weiter als bis zum Subdiakonat zu bringen. Eine weitere Verschlimmerung des Lungenleidens erzwingt einen Kuraufenthalt im Hochgebirge, der, vom Orden bezahlt und durch eine Tätigkeit als Lateinlehrer am Krankengymnasium gerechtfertigt, nunmehr ins sechste Jahr geht, ohne daß ein Ende abzusehen wäre … (S. 663 – 673). Wie verschieden Naphta und Settembrini nach Herkunft, Lebenslauf und Denken auch sein mögen, so haben sie doch eines gemeinsam: daß ihr Lebens‐ plan – hier das Priesteramt, dort die praktische Tätigkeit als politischer Agi‐ tator – durch die Krankheit unterbrochen und vereitelt worden ist, so daß der
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Autor die beiden geistigen Kontrahenten nicht von ungefähr in ein und der‐ selben bescheidenen Privatunterkunft angesiedelt hat, fernab vom Sanatorium, dessen finanziellen Ansprüchen sie auf Dauer nicht nachkommen können, auch wenn es Naphta bei alledem vergleichsweise komfortabel getroffen hat, kom‐ fortabler jedenfalls als der mittellose Settembrini, der Hans Castorp eröffnet, Naphta werde durch den Jesuitenorden „von hinten“ versorgt (S. 618; vgl. S. 910). Daß der jüdische Konvertit und Jesuit Naphta anders denken würde als der in der liberalen Sphäre des italienischen Humanismus erzogene Settembrini, hätte man sich gedacht. Der Autor aber hat gewollt, daß der eine nicht nur anders denkt als der andere, sondern daß beider Denken in diametralem Gegensatz stehe – ein Antagonismus, der dadurch zustande kommt, daß beide ihre Welt‐ anschauung, die durch die Aufnahme fremder Denkinhalte jeweils ein durchaus originelles Gepräge annimmt, durch den dialektischen Wettstreit befeuert, je‐ weils in extremis formulieren und artikulieren. Die Weltanschauung Naphtas erschließt sich am besten, wenn man ihre Kernbegriffe mit jenen Kernbegriffen kontrastiert, die der Zivilisationsliterat Settembrini favorisiert: An die Stelle der Politik, in der sich für Settembrini Denken und Handeln erfüllt, setzt Naphta die Religion, an die Stelle der Freiheit den Terror, und der fortschrittlichen Weltzivilisation stellt Naphta die klassen‐ lose Gesellschaft gegenüber, in der sich die Gotteskindschaft des Menschen, von der das Mittelalter geträumt habe, endlich verwirklichen werde. Das Religiöse vertritt Naphta in jener extremen Form eines militanten Ka‐ tholizismus, wie ihn der Gründer des Ordens, Ignatius von Loyola (1491 – 1556), geprägt hat, der für Naphta als geistiger Führer eine ähnliche Rolle spielt wie Carducci für Settembrini. Die Militanz der jesuitischen Theologie, die im Ordensreglement, das Ignatius selbst entworfen hat, Ausdruck gefunden hat, richtet sich sowohl nach innen wie nach außen: nach innen gegen die Mitbrüder des eigenen Ordens, denen unbedingtester Gehorsam gegenüber den Oberen, dem Papst und der Kirche abverlangt wird bis hin zur Selbstaufgabe der Persönlichkeit – der berüchtigte Kadavergehorsam (vgl. S. 688); nach außen gegen alle Gegner und Feinde des orthodoxen römischen Katholizismus, gegen die alle Mittel erlaubt sind, sie zu vertilgen, namentlich auch Lüge und sogar Mord. Im Sinne dieses extremen geistlichen Reglements verwirft Naphta den de‐ mokratischen Individualismus, das Palladium des Zivilisationsliteraten, und propagiert und favorisiert stattdessen den politischen Terror: „Nicht Befreiung und Entfaltung des Ich sind das Geheimnis und das Gebot der Zeit. Was sie braucht, wonach sie verlangt, was sie sich schaffen wird, das ist – der Terror“ (S. 604). Den Geist des politischen Terrors findet Naphta wieder in der modernen
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Bewegung des Kommunismus, dessen antikapitalistische Stoßrichtung gegen die liberale und bürgerliche Verrottung ziele und danach trachte, die von der Kirche des Mittelalters propagierte Gotteskindschaft des Menschen wiederauf‐ zurichten oder doch ihrer Wiederaufrichtung vorzuarbeiten. Die Diktatur des Proletariats erweise sich so als „politisch-wirtschaftliche Heilsforderung der Zeit“, und ebensowenig wie die Kirche unter Gregor VII. (1073 – 1085) werde das Proletariat seine Hand „zurückhalten dürfen vom Blute“ (S. 608 f.). Denn: „Seine Aufgabe ist der Schrecken zum Heile der Welt und zur Gewinnung des Erlö‐ sungsziels, der staats- und klassenlosen Gotteskindschaft“ (S. 609). Die Verbindung zwischen jesuitischer Theologie und kommunistischer Ide‐ ologie, der Naphta das Wort redet, ist entschieden eine kühne gedankliche Kon‐ struktion – viel kühner als die Verbindung zwischen der zivilisationsliterari‐ schen Weltanschauung mit dem Freimaurertum, wie sie Settembrini vertritt. Die Freimaurerei, die Naphta in einem Vier-Augen-Gespräch mit Hans Cas‐ torp einmal bissig als „die bourgeoise Misere in Klubgestalt“ (S. 773) bezeichnet, läßt sich sehr wohl mit der Ideologie des Zivilisationsliteraten vereinigen; sie ist gewissermaßen deren geheimbündlerischer Ausdruck – ein merkwürdiges Phänomen, insofern sich die Aufklärung in Form eines Geheimbundes darstellt, der, wenn man Naphta glauben darf, zu Zeiten nicht davor zurückgeschreckt sei, sich mit der mittelalterlichen Alchemie einzulassen, aus deren Fachsprache Naphta Hans Castorp die lateinischen Termini „physica mystica“, „lapis philo‐ sophorum“, „res bina“ und „prima materia“ zu Gehör bringt (S. 769 f.). Jesuitische Theologie hingegen läßt sich mit der prononciert atheistisch-ma‐ terialistischen und sozioökonomisch orientierten Ideologie des Kommunismus nicht in Einklang bringen – es sei denn im gedanklichen Horizont des antiin‐ dividuellen und antikapitalistischen religiösen Terrorismus, wie ihn Naphta hier künstlich herstellt. Ganz richtig bemerkt denn auch Settembrini zu Hans Cas‐ torp über die kühnen Theorien Naphtas, jener trachte „nach neuen Kombinati‐ onen, Anpassungen, Anknüpfungen, zeitgemäßen Abwandlungen“ (S. 619). Es liegt auf der Hand, daß das Lateinische und die Latinität in Naphtas ter‐ roristischem Denken eine ganz andere Rolle spielen und ganz anderen Zwecken dienstbar gemacht werden, als sich der Zivilisationsliterat, geborgen und etab‐ liert im Horizont eines lateinischen Humanismus und lateinischer Humanität, auch nur vorzustellen in der Lage ist. Das wird besonders deutlich im Falle des Exerzierreglements des Ignatius, das der Autor nicht nur ausführlich referiert, sondern auch wörtlich zitiert. Aus der lateinischen Übersetzung des Reglements (Exercitia spiritualia, er‐ schienen 1548) führt der Autor Kernbegriffe auch auf Lateinisch an: „insignes esse“, „ex supererogatione“ „rebellio carnis“, „agere contra“ und „resistere“
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(S. 675). Wenig später ergänzt Naphta diese Liste im Gespräch noch durch vier weitere lateinische Zitate aus derselben Quelle (S. 677 & 683). Damit nicht genug. Der Autor zitiert auch aus dem spanischen Urtext des Reglements (Exercicios espirituales, verfaßt 1521 – 1523, endgültig niederge‐ schrieben 1541, erschienen 1671). Naphta, so heißt es, habe sich mit Vorliebe spanischer Ausdrücke bedient: Er spricht von den „dos banderas“, den beiden Fahnen, unter denen sich in endzeitlicher Schlacht die geistlichen Truppen vor Jerusalem unter Christus als „capitán general“ sammeln würden, während Lu‐ zifer als „caudillo“ die höllischen Regimenter vor Babylon kommandiere (Exer‐ cicios espirituales, 2. Woche, 4. Tag, 1. Betr.) (S. 674 f.; vgl. S. 705 f.). Es leidet keinen Zweifel, daß der Autor diese Fülle fremdsprachlicher Zitate mit Vorbedacht angeführt hat. Denn indem neben dem Lateinischen auch das Spanische in Kraft tritt im Denken Naphtas, wiederholt sich mutatis mutandis jene Konstellation, die für das Denken Settembrinis kennzeichnend war, inso‐ fern hier das Lateinische in Verbindung mit dem Italienischen auftrat. Aber während sich das Italienische mit dem Lateinischen verbindet, um im Horizont der Latinität die demokratisch-humanitäre Weltanschauung des Zivilisationsli‐ teraten zu gewährleisten, verbindet sich das Lateinische mit dem Spanischen zu einer ganz anderen Latinität, welche nicht zivilisationsliterarischer Menschen‐ freundlichkeit, sondern militantem, menschenverachtendem Terror das Wort redet. Der Dissens liegt darin begründet, daß die beiden Kontrahenten jeweils auf eine andere Epoche des Lateinischen rekurrieren, um Sprache und Geist jener Epoche jeweils ihren ideologischen Zwecken dienstbar zu machen. Das Spanische beherrscht Naphta, anders als Settembrini das Italienische, nicht als native speaker, sondern nur bruchstückhaft und partiell, theologische Leitbegriffe des spanischen Ordensgründers zitierend. Im Lateinischen dagegen ist Naphta nicht weniger firm als Settembrini, auch wenn er diese tote Kultur‐ sprache ganz anders erlernt hat als jener. Bereits der Kreisrabbiner in Feldkirch hat Naphta nicht nur im Hebräischen, sondern auch in den Klassischen Sprachen unterrichtet (S. 666). Daß er auf dem Jesuiten-Gymnasium in Feldkirch gründlich Latein gelernt hat, versteht sich von selbst. Im Novatiathaus in Tisis sprach man dann offenbar ausschließlich La‐ teinisch. „Ad haec quid tu?“, fragt Naphta querulatorisch seinen Exerzitien‐ meister im dialektischen Diskurs; worauf jener ihn zum Gebet vermahnt, nicht ohne den Zweck des Gebetes lateinisch zu formulieren: „ut in aliquem gradum quietis in anima perveniat“ (S. 672). Dieser gründlichen Ausbildung im Latein‐ ischen, die sich während des Theologie-Studiums in Falkenburg noch vertieft haben muß, verdankt Naphta seine Anstellung als Lateinlehrer am Kranken‐ gymnasium Fridericianum in Davos, durch die der Zwangsaufenthalt des Lun‐
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genkranken im Hochgebirge „beschönigt“ (S. 673) wird (vgl. auch S. 467, 617, 784). Hiernach kann nicht verwundern, daß Naphta im Gespräch immer wieder das Lateinische heranzieht und verwendet, zumal er darauf vertrauen kann, daß Settembrini, aber auch Hans Castorp in dieser Sprache hinlänglich bewandert sind, um zu verstehen, was er sagt. Das Lateinische tritt im ersten Streitgespräch zwischen Naphta und Settem‐ brini sogleich in Kraft, insofern Settembrini Naphta den Vettern als „princeps scholasticorum“ (S. 564) vorstellt und so zugleich jene Epoche der Latinität kennzeichnet, die Naphta favorisiert. Das Spiel mit dem Lateinischen setzt sich alsbald fort, indem Naphta Settem‐ brini ironisch um eine lateinische Übersetzung des Wortes ‘Feuchtigkeit’ (humor) ersucht (S. 565). Wenig später zitiert Naphta dann einen vollständigen lateinischen Satz: „Solet Aristoteles quaerere pugnam“ (S. 566). Daß dieser Satz aus Lessings Hamburgi‐ scher Dramaturgie (70. Stück) stammt, muß nicht einmal der Sprecher wissen, geschweige denn der Leser, wenn er nur, wie Settembrini und Hans Castorp, hinreichend Latein versteht, um den Sinn des Satzes zu verstehen. Wiederum wenig später befürchtet Naphta – ebenfalls ironisch – , Settembrini werde ihn einen „Feind der Menschheit“ nennen und fügt diesem Tadelwort, das sich der Kriegspolemik der Entente gegen Deutschland verdankt, sogleich die lateinische Übersetzung bei: „inimicus humanae naturae“ (S. 568), auf daß der Horizont der Latinität in seinen Ausführungen nicht in Vergessenheit gerate. Sehr prononciert erscheint das Lateinische sodann, als Naphta von der „Idee des Homo Dei“ (S. 570) spricht. Gelehrter Spürsinn hat festgestellt, daß dieser Ausdruck auf den Bußprediger Berthold von Regensburg (um 1210 – 1272) zu‐ rückgeht, der so die Gottesebenbildlichkeit des Menschen interpretiert, von der die Genesis (1,26) spricht: „Homo Dei, gotes mensche“. Wichtiger indes als die Herkunft der Formel ist ihre leitmotivische Verwendung im weiteren Verlauf des Romans (S. 589, 621, 719) als Chiffre für den religiös beunruhigten, such‐ enden Menschen. Die Reminiszenz an das Alte Testament wird beschlossen durch ein Zitat: „as‐ sument pennas ut aquilae“ (S. 577), zitiert Naphta aus den Prophezeiungen des Jeremias (40,30 f.), um ironisch auf Settembrinis Neigung zum Zivilisationskrieg gegen Österreich-Ungarn anzuspielen – eine Anspielung, die auch der Gebildete nicht ohne weiteres identifizieren können wird; auch hier genügt, daß er den lateinischen Text versteht. Daß Naphta hier das Alte Testament (wie später noch zweimal das Neue) lateinisch zitiert, ist allerdings bedeutsam, weil es den Ka‐ tholiken und Jesuiten kennzeichnet: Der Rückgriff auf die lateinische Überset‐
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zung des hebräischen bzw. griechischen Urtextes gewährleistet die dogmatische Deutungshoheit der Römischen Kirche über den Text der Heiligen Schrift. Weniger entschieden tritt die Lateinische Sprache im zweiten Streitgespräch in den Vordergrund, das Naphta und Settembrini miteinander führen. Allerdings gebraucht Naphta gleich zu Beginn des Gespräches, noch bevor Settembrini an‐ wesend ist, gegenüber den Vettern den lateinischen Ausdruck „Signum morti‐ ficationis“ (S. 594), um die gotische Pietà in seiner Wohnung als „Mahnzeichen zur Abtötung“ zu kennzeichnen. Wenig später verweist Naphta Hans Castorp auf die Schrift des Papstes Innozenz III. De miseria humanae condicionis (aus dem Jahre 1195), in der der pessimistisch-asketische Geschmack der Gotik, wie ihn die Pietà bildlich zeige, literarischen Ausdruck finde (S. 594). Hans Castorp zeigt sich interessiert an der Lektüre dieses lateinischen Werkes und erhält denn auch am Ende des Gespräches das Werk, „einen morschen Pappband“ (S. 611), leihweise von Naphta ausgehändigt. Nach diesem Präludium spricht Naphta im weiteren Verlauf des Gespräches, an dem nun auch Settembrini teilnimmt, nur noch einmal lateinisch: Er zitiert, um das voluntaristische Element nachzuweisen, das jedem Beweise innewohne, auf Lateinisch die berühmte Schlußformel, die antike und mittelalterliche Ge‐ lehrsamkeit dem griechischen Mathematiker Eukleides (um 300 v. Chr.) abge‐ lauscht hat: „quod erat demonstrandum“ (S. 599). Im dritten Streitgespräch, das gleich die lateinische Überschrift Operationes spirituales (S. 663) trägt, tritt das Lateinische in Naphtas Rede wieder stärker hervor. Er zitiert, wie zuvor schon der Autor (S. 675), Kernbegriffe aus der la‐ teinischen Übersetzung der Exerzitien des Ignatius von Loyola: „amor carnalis“ und „commoda corporis“ (S. 677) sowie „in statu degradationis“ und „pudoris et confusionis sensus“ (S. 683), nicht ohne am Schluß noch einmal expressis verbis darauf hinzuweisen, was den Gesprächsteilnehmern bzw. dem Leser womöglich entgangen sein könnte: daß alle jene Formeln und Begriffe dem theologischen Regelwerk des Heiligen Ignatius entstammen. Wenig später zitiert Naphta aus der Bibel, diesmal aus dem Neuen Testament: „Quis me liberabit de corpore mortis hujus?“ (S. 684). Anders als im Falle des Jeremias-Zitates dürfte hier nicht nur der Gelehrte, sondern auch der bibelfeste Leser gewußt haben, daß dieses Zitat aus dem Römerbrief (7.24) des Apostels Paulus stammt, den Naphta selbstredend in der kanonischen lateinischen Über‐ setzung des Kirchenvaters Hieronymus anführt. Im übrigen verfügt auch Hans Castorp über ein lateinisches Paulus-Zitat (1. Kor. 7,31), in dem sich ebenfalls die weltverneinende Theologie des frühen Christentums ausspricht, der Naphta das Wort redet: „Praeterit figura hujus mundi“, sagt er zu sich selbst in der Schneeinsamkeit; „in einem Latein, das nicht
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humanistischen Geistes war“, fügt der Autor hinzu. Und er fügt noch hinzu, was den Leser kaum überraschen dürfte: „er hatte die Redensart von Naphta gehört“ (S. 720). In der Tat: Das Latein, das Naphta vorbringt, ist nicht humanistischen Geistes; es stammt aus der Sphäre spätantiker und vor allem scholastisch-mystischer Geistigkeit, die Naphta einmal, zur Empörung Settembrinis, als „klassisches Mittelalter“ (S. 566) bezeichnet, insofern man damals dem Geiste und dem Glauben gelebt und dem Heile der Seele höheren Wert zuerkannt habe als dem Körper und allen weltlichen und diesseitigen Belangen. Über Art und Ursprung dieses Lateins, das die Philologie als Mittellatein be‐ zeichnet, um es gegen das antike Latein einerseits und andererseits gegen das Neulatein der Humanisten abzugrenzen, belehrt Hans Castorp seinen Vetter und also auch den Leser sehr gründlich, als er am Totenbett des Herrenreiters steht: „Requiescat in pace […]. Sit tibi terra levis. Requiem aeternam dona ei, Domine. Siehst du, wenn es sich um den Tod handelt […], so tritt auch wieder das Latein in Kraft […]. Aber es ist nicht aus humanistischer Courtoisie, daß man Lateinisch redet zu seinen Ehren, die Totensprache ist kein Bildungslatein […], sondern von einem ganz anderen Geist, einem ganz entgegengesetzten, kann man wohl sagen. Das ist Sakrallatein, Mönchsdialekt, Mittelalter“. Und er fügt hinzu: „Set‐ tembrini fände keinen Gefallen daran, es ist nichts für Humanisten und Repub‐ likaner und solche Pädagogen“ (S. 445). Hiernach kann nicht verwundern, daß die lateinischen Autoritäten, die Naphta im Gespräch anführt, um seine terroristisch-kommunistisch inspirierte Theologie zu rechtfertigen und zu befestigen, nicht dem Klassischen Latein ent‐ nommen sind, sondern vielmehr teils aus der Spätantike, teils aus der frühen Neuzeit stammen, vor allem aber der Sphäre der mittelalterlichen Theologie angehören. Was die Spätantike betrifft, so verweist Naphta einmal auf die Väter der Kirche im allgemeinen (S. 607), einmal auf die Lehrer der „jungen Kirche“, die sogenannten Apologeten (S. 784); namentlich erwähnt er den Apologeten Lak‐ tanz (um 300) (S. 600 f.) und den Kirchenvater Augustin (354 – 430) (S. 599). Ins Hohe Mittelalter, die Blütezeit der Scholastik wie der Mystik, gehören Gregor VII. (1073 – 1085) (S. 606 f., 609), Bernhard von Clairvaux (1090 – 1153) (S. 568), Innozenz III. (1160 – 1216) (S. 594, 611), Bonaventura (1221 – 1274) (S. 566) und Thomas von Aquin (1225 – 1274) (S. 566, 608). Der frühen Neuzeit schließlich gehört Ignatius von Loyola (1491 – 1556) an, der Begründer des Jesuitenordens, den der Jesuit Naphta – ironischerweise – nur einmal namentlich zitiert (S. 683), sowie der Mystiker Miguel de Molinos (1640 – 1697), der ebenfalls nur einmal zitiert wird (S. 569).
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Gegenüber dem Klassischen Latein bewahrt Naphta ein entschieden feind‐ seliges Schweigen, das an Mißachtung grenzt. Er nennt und zitiert aus dieser Sprachsphäre nur einen einzigen Autor mit Namen: Vergil. Nicht anders hatte es Settembrini gehalten. Diese Übereinstimmung ist kein Zufall, sondern lite‐ rarisch gewollt: Vergil, der größte römische Dichter, fungiert als pièce de résis‐ tance, an der sich die hermeneutischen und also auch ideologischen Gegensätze der beiden Kontrahenten im Geiste besonders eindrucksvoll und nachdrücklich manifestieren können und sollen. Anders als Settembrini kommt Naphta nicht sogleich auf Vergil zu sprechen, sondern erst im Verlaufe des zweiten Streitgespräches, das er mit Settembrini vor den Vettern führt. Die Rede ist vom nationalen Staat, den Naphta verachtet, Settembrini aber für einen erwünschten Zwischen- und Vorzustand der demo‐ kratischen Weltrepublik ansieht. Naphta zeigt sich über Settembrinis Hoch‐ schätzung des Nationalstaates orientiert und zitiert: „‘Über alles geht die Vater‐ landsliebe und die grenzenlose Ruhmesbegier’“. Nachgerade wegwerfend fügt er hinzu: „Das ist Vergil“ (S. 605). In der Tat zitiert Naphta hier, diesmal in Prosa, einen berühmten Vers aus dem sechsten Buch der Vergilischen Aeneis (6,823): Anchises, der Aeneas in der Un‐ terwelt einen Vorblick auf die römische Geschichte gibt, erzählt, daß der Frei‐ heitskämpfer Brutus im Namen der Freiheit seine Söhne wird hinrichten lassen, da sie einen bewaffneten Umsturz planten. „Der Unglückliche!“ – Infelix! – kommentiert Anchises oder vielmehr der Dichter. Wie auch immer die Nachwelt über diese Taten urteilen möge: vincet amor patriae laudumque immensa voluptas.
Dieser Vers kontrastiert die wahren Motive des Brutus mit dem Urteil der Nach‐ welt und begründet so das Unglück, das ihm zuteil werden wird: Nicht Vaterliebe wird sein Handeln bestimmen, sondern Liebe zum Vaterland und unermeßliche Begierde nach Ruhm – ein durchaus kritischer Kommentar des Dichters, ganz dazu angetan, die Tat des Brutus und das lobende Urteil der Nachwelt über Brutus in fragwürdigem Licht erscheinen zu lassen. Die kritische Reserve gegen das traditionelle Brutus-Lob, wie sie der Dichter hier unüberhörbar zum Aus‐ druck bringt, hat selbstredend nicht verhindert, daß man jenen Vers, in dem sie sich ausspricht, aus dem Zusammenhang gerissen hat, um ihn für die Zwecke einer platten nationalistischen Ideologie zu mißbrauchen. Naphta folgt dieser mißbräuchlichen Inanspruchnahme des Verses, um seinerseits Vergil, wenn nicht als gedanklichen Erfinder, so doch als maßgeblichen Propagator des nati‐ onalen Staates in Anspruch zu nehmen. Hiernach hat Settembrini nicht mehr viel zu tun, um Vergil vollends für die zivilisationsliterarische Ideologie zu ver‐
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einnahmen: „Sie korrigieren ihn [Vergil]“, bemerkt Naphta zu Settembrini, „durch etwas liberalen Individualismus, und das ist die Demokratie“ (S. 605). Die ebenso unverhohlene wie unberechtigte Kritik an Vergil als Kronzeugen für den nationalen Staat ist das Präludium einer ungleich massiveren Kritik, die Naphta zu Beginn des dritten Streitgespräches äußert und den heftigen Wider‐ spruch Settembrinis hervorruft, so daß Vergil hier und jetzt unmittelbar in den Streit der beiden Geistes-Kontrahenten hineingezogen wird. Dieser beginnt damit, daß Settembrini die Rückkehr der Madame Chauchat zum Anlaß nimmt, auf Dantes Göttliche Komödie anzuspielen: „Ihre Beatrice kehrt wieder?“, bemerkt er zu Hans Castorp, „Nun, ich will hoffen, daß Sie auch dann die leitende Freundeshand Ihres Virgil nicht ganz verschmähen werden!“ (S. 783). Diese Äußerung Settembrinis, die der Autor selbst als „harmlos“ be‐ zeichnet, führt zu einem „unerschöpflichen Geisteszwist“ (S. 783), der das Ge‐ spräch in der nächsten Zeit beherrscht. Es beginnt damit, daß Naphta, der, wie dem Leser hier mitgeteilt wird, gegen Vergil und gegen die lateinische Poesie überhaupt „schärfste Geringschätzung“ (S. 783) bekundet hatte, die Gelegenheit wahrnimmt, um über den römischen Dichter Vergil, den Settembrini über alles schätzte, herzuziehen. Es sei eine „äu‐ ßerst gutmütige Zeitbefangenheit des großen Dante“ gewesen, bemerkt Naphta, diesen „mittelmäßigen Versifex“ (S. 783) in seinem Gedichte so hoch zu ehren. Naphta weiter: „Was es denn weiter auf sich gehabt habe mit diesem höfischen Laureatus und Speichellecker des julischen Hauses, diesem Weltstadtliteraten und Prunkrhetor ohne einen Funken Produktivität, dessen Seele, wenn er eine gehabt habe, jedenfalls aus zweiter Hand gewesen, und der überhaupt kein Dichter, sondern ein Franzose in augusteischer Allongeperücke gewesen sei!“ (S. 784). Auf diese grobe Attacke entgegnet Settembrini, er zweifele nicht daran, daß Naphta seine „Verachtung der römischen Hochzivilisation“ (S. 784) mit seinem Amte als Lateinlehrer in Einklang zu bringen wisse. Auch möge er – Naphta – bedenken, daß das von ihm so hochgehaltene Mittelalter der Größe Vergils auf seine einfältige Art salutiert habe, indem es aus ihm einen „weisheitsmächtigen Zauberer“ (S. 784) gemacht habe. Falsch, so Naphta, vielmehr habe hier das Mittelalter einmal mehr seine Schöpferkraft bewährt „in der Dämonisierung des Überwundenen“ (S. 784). Auch seien die Lehrer der „jungen Kirche“ nicht müde geworden, vor den heid‐ nischen Philosophen und Dichtern zu warnen, namentlich davor, „sich mit der üppigen Beredsamkeit des Virgil zu beflecken“ (S. 784). In der heutigen Zeiten‐ wende könne man diesen Protest wieder nachfühlen. Settembrini solle über‐ zeugt sein, daß er – Naphta – sein Amt als Lateinlehrer mit jener „reservatio
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mentalis“ (S. 784) betreibe, wie sie einem klassisch-rhetorischen Erziehungsbe‐ trieb gegenüber geboten sei, dessen Abschaffung nur noch eine Frage der Zeit sei. Die Frage sei nämlich an der Tagesordnung, ob die klassisch-humanistische Überlieferung, anders als sie glaube, nicht menschlich-ewig sei, sondern bloß Zubehör der bürgerlich-liberalen Epoche und mit ihr sterben werde. Es sei nicht ausgemacht, daß die Entscheidung in dieser Sache im Sinne jenes „lateinischen Konservatismus“ (S. 785) fallen werde, wie ihn Settembrini vertrete. Mit dieser boshaften Äußerung gerät das Gespräch schließlich vollends in die Weite, nicht ohne daß der Autor rückblickend anmerkt, daß Settembrini „mit seinem kleinen Scherz vom Lateiner Virgil“ (S. 788) den Anstoß gegeben habe zu solchen ge‐ danklichen Weitläufigkeiten. Daß Naphta Vergil geringschätzt, hat der Leser bereits erfahren. Neu für den Leser ist, daß Naphta der lateinischen Poesie in toto „schon mehr als einmal“ (S. 783) Geringschätzung bekundet habe – eine Generalverdammung, die Naphtas allerdings krassen Widerwillen gegen Vergil mit dem Tonzeichen des Exemplarischen versieht: Naphta verachtet und verwirft die römische Hochzi‐ vilisation, wie sie sich in der heidnischvorchristlichen Epoche etabliert hat, ebenso kompromißlos und radikal, wie er Vergil verwirft, ihren hervorra‐ gendsten Repräsentanten. Über Herkunft und geistigen Ursprung dieser negativen Auffassung des Rö‐ mertums gibt der Autor einen Fingerzeig. Am Ende seiner fulminanten Invektive leugnet Naphta, daß Vergil überhaupt ein Dichter gewesen sei und nicht viel‐ mehr ein Franzose in augusteischer Allongeperücke (S. 784). Mit dieser einiger‐ maßen überraschenden Schlußbemerkung nimmt Naphta den römischen Dichter und mit ihm im Grunde die ganze Augusteische Kultur für die franzö‐ sische Kultur der Epoche Ludwig XIV. in Haft, in der die Allongeperücke no‐ torisch à la mode gewesen ist. Die Kritik an der Kultur und namentlich an der Literatur jener Epoche, wäh‐ rend der das Französische ganz Europa dominiert hat, ist nun ein fundamentales Ereignis der deutschen Geistesgeschichte. Gotthold Ephraim Lessing (Briefe, die Neueste Litteratur betreffend, 1759 – 1765; Laokoon, 1766; Hamburgische Drama‐ turgie, 1767 – 1769) und Johann Gottfried Herder (Fragmente zur deutschen Lit‐ teratur, 1767) haben in ihren literaturtheoretischen und literaturkritischen Schriften mit Verve gegen die damals als mustergültig angesehene französische Literatur – namentlich gegen das französische Drama – polemisiert und dieser reglementierten und rhetorisch orientierten klassizistischen Form der Dichtung die Griechen und Shakespeare als die wahren literarischen Musterbilder gegen‐ übergestellt.
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Die Kritik Herders und Lessings war in Deutschland überaus folgen- und erfolgreich: Shakespeare und die Griechen bestimmen im 19. Jahrhundert im wesentlichen die geistige Kultur Deutschlands und verhelfen ihr zu triumphaler Eigenständigkeit und Größe, nachdem sie im 18. Jahrhundert wegen der Domi‐ nanz des Französischen kaum zu eigener Entwicklung zu gelangen vermochte. Noch bedeutsamer als die Begegnung mit Shakespeare, der durch die Über‐ setzung August Wilhelm Schlegels (1797 – 1810) nachgerade auch ein deutscher Autor geworden ist, war die Begegnung mit den Griechen. Daß die Griechen – um mit Jacob Burckhardt zu reden – das „geniale Volk auf Erden“ seien, die „in allem Geistigen“ Grenzen erreicht haben, „hinter welchen die Menschheit […] nicht mehr zurückbleiben darf“, ist eine Entdeckung des deutschen Geistes, wie er sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts machtvoll etabliert und vielfältig mani‐ festiert hat: poetisch in Goethe, Schiller und Hölderlin (um nur diese zu nennen), philosophisch in Fichte, Schelling und Hegel, literaturästhetisch und sprach‐ wissenschaftlich in den Brüdern Schlegel und Wilhelm von Humboldt, philolo‐ gisch in Friedrich August Wolf, August Boeckh, Gottfried Hermann und Fried‐ rich Gottlieb Welcker. Diese Entdeckung des Griechischen Wunders, wie die Historiker dieses Phänomen zu recht nennen, da sie es nicht erklären können, dominiert die deutsche Geistesgeschichte dann während des ganzen Jahrhun‐ derts und kulminiert in der existential-ästhetischen Philosophie Friedrich Nietz‐ sches, die dem archaischen Griechentum und besonders den Vorsokratikern, die er nachgerade entdeckt hat, entscheidende Denkanstöße verdankt. Was die Griechen an Hochschätzung gewannen, das verloren, wie nicht an‐ ders zu erwarten, die Römer, die bis dahin als Maßstab und Musterbild der eu‐ ropäischen Kultur galten und bei den romanischen Völkern im Grunde heute noch gelten. Nicht so bei den Deutschen: Die Adaptation der griechischen Kultur durch die Römer, die damit gegebene stark klassizistisch und formalistisch aus‐ gerichtete Art ihrer Hervorbringungen, das Vorwalten von Politik, Geschichte und Rhetorik bei gleichzeitigem von Unfähigkeit kommandiertem Widerwillen gegen philosophisches Denken verfiel dem Verdikt des deutschen Geistes und mußte ihm verfallen, nachdem dieser sich so entschieden auf die Griechen ein‐ gelassen hatte. Es ist dieser im deutschen Denken tiefverwurzelte soupçon gegen die Latinität, in der Naphtas Verachtung der lateinischen Poesie und namentlich die Verach‐ tung Vergils gründet. Die tadelnden Äußerungen über Vergil, die die Radikalität, wo nicht Brutalität, die Naphtas terroristisches Denken kennzeichnet, einmal mehr hervortreten lassen, versammeln denn auch alle jene Verdikte, die die deutsche Literaturkritik gegen die römische Literatur in toto vorgebracht hat: die allzu glatte und gekonnte Manier des Versbaus („Versifex“), das Vorwalten
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der Rhetorik („Prunkrhetor“), die Einbeziehung der Politik in die Poesie („höfi‐ scher Laureatus“, „Speichellecker des julischen Hauses“) und, als Gipfel, der Vorwurf seelenloser Unproduktivität („ohne einen Funken von Produktivität“, „Seele aus zweiter Hand“). Settembrini hat dieser scharfen Invektive nicht viel entgegenzusetzen, inso‐ fern sein penchant zur Klassischen Latinität nicht auf den festesten Füßen steht. Der Autor deutet das an, indem er bemerkt, daß Settembrinis „abgöttische Liebe“ zu Vergil dazu geführt habe, daß er Vergil noch „über Homer stellte“ (S. 384) – entschieden ein exzessives ästhetisches Urteil, nur zu erklären aus dem Geiste der Latinität, die Settembrinis zivilisationsliterarisches Denken prägt bis hin zu einer manifesten Voreingenommenheit in aestheticis, wie sie auch die roman‐ ischen Völker heute wohl nicht mehr billigen würden. Entsprechend schwach fällt denn auch Settembrinis Replik aus: Er verweist auf Naphtas Amt als Lateinlehrer, das dergleichen kritische Ansichten über Roms größten Dichter wohl schwerlich erlaube – ein Argumentum ad ho‐ minem, das Naphta zu widerlegen ebenso leicht fällt wie im Falle von Settem‐ brinis Verweis auf die mittelalterliche Legende vom Zauberer Vergil. Aber auch Naphtas Argumentation ist durchaus nicht schlüssig. Wenn er da‐ rauf verweist, daß die apologetischen Väter vor der Beredsamkeit Vergils ge‐ warnt hätten, so könnte er sich auf den Rigoristen Tertullian (um 160 – nach 220) berufen, muß aber verschweigen, daß dessen bildungsfeindliche Tendenz in der frühen Kirche durchaus nicht unumstritten gewesen ist: Die Stellung der lateinischen Apologeten zu Vergil bzw. zur heidnischen Literatur und Kultur überhaupt ist durchaus ambivalent, und durchgesetzt hat sich schließlich nicht die bildungsfeindliche Tendenz, sondern eine maßvolle, teils sogar bewun‐ dernde Anerkennung jener kulturellen Leistungen, die das Heidentum voll‐ bracht hatte, bevor Christus die Welt erleuchtete. Wäre es anders gewesen, so wäre die vorchristliche lateinische Literatur wahrscheinlich spurlos unterge‐ gangen. Der Streit um Vergil hat noch ein Nachspiel. Es ist noch einmal, wenn auch verdeckt, von Vergil die Rede im Roman, in einem jener späteren Streitgespräche zwischen Settembrini und Naphta, an denen nun auch Mynheer Peeperkorn teilnimmt, dessen überwältigende Persönlichkeit der Brisanz des Diskurses, wie Hans Castorp mit Erstaunen wahrnimmt, „den Stempel des Müßigen“ (S. 887) aufdrückt. Naphta verteidigt gegen Settembrini den Demokratismus der Kirche, die, an‐ ders als Römer und Germanen, auch Sklaven, Kriegsgefangenen und Unfreien die Sukzessions- und Testierfähigkeit zugestanden habe. Das sei wohl nicht ohne Seitenblick auf den Anteil geschehen, der der Kirche bei jeder Nachlaßverfügung
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zugestanden habe (portio canonica), entgegnet Settembrini. Und weiter: Solche „Pfaffendemagogie“ beweise ihre ungezügelte Machtgier eben gerade dadurch, daß sie versuche, „die Unterwelt in Bewegung zu setzen, wenn die Götter be‐ greiflicherweise nichts von einem wissen wollten“ (S. 890). Settembrini spielt hier, dem gebildeten Leser wohl bemerkbar, frei auf einen berühmten Vers aus dem siebten Buch der Aeneis (7,312) an: Juno, empört über das Bündnis zwischen Latinern und Trojanern, das ihre Rachepläne endgültig scheitern zu lassen droht, beschließt, um dennoch Unfrieden und Blutvergießen zu bewirken, die Unterweltsfurie Allecto heraufzurufen: flectere si nequeo superos, Acheronta movebo.
So wie Juno hat sich auch die Kirche, wenn man Settembrini glaubt, schließlich nicht anders zu helfen gewußt, um ihren Herrschaftsanspruch durchzusetzen, als durch die Präokkupation des Jenseits und der Schrecknisse seiner Strafen. Denselben Vergilvers hat übrigens, wie der Autor sehr wohl wußte, kein Ge‐ ringerer als Sigmund Freud als Motto seinem epochemachenden Buch Die Traumdeutung (1900) vorangestellt. Das Motto kennzeichnet die Psychoanalyse als Heraufrufung unterweltlicher Entitäten – ein Gedanke ganz im Geiste des Romans; denn auch Dr. Krokowski, der Seelenzergliederer und spätere Okkul‐ tist, fungiert ja, nicht anders als sein Herr und Meister, Hofrat Behrens, als Un‐ terweltsrichter (S. 90). Aus alledem erhellt, daß sowohl Naphta wie auch Settembrini Vergil als pièce de résistance heranziehen, um den größten römischen Dichter jeweils in den Dienst ihrer Weltanschauung zu nehmen. Daß diese Indienstnahme jeweils nicht ohne hermeneutische Verbiegungen, ja Gewaltsamkeiten abgeht, versteht sich von selbst und wird besonders verständlich, wenn man in Betracht zieht, daß die Lateinische Philologie, die solche ideologischen Kontroversen, wie Naphta und Settembrini sie austragen, nicht austragen muß, ihrerseits dennoch durchaus nicht im Stande war und ist, auch nur ansatzweise über Vergil einen hermeneutischen Konsens herzustellen. Deutlich ist auch soviel, daß Vergil im Roman nur als Chiffre und Paradigma fungiert für die Klassische Latinität, die für Settembrini ewiggültiger Ausdruck der Menschheitskultur ist, für Naphta dagegen nur ein Versatzstück der bür‐ gerlich-liberalen Epoche, die demnächst abgelöst werden wird durch die Dik‐ tatur des Proletariats, das berufen ist, die Gotteskindschaft des Menschen, von der die frühchristliche und mittelalterliche Latinität geträumt hat, ins Werk zu setzen. Hiernach dient die Latinität in größerem Maßstabe denselben Zwecken wie das Paradigma Vergil: Sie eröffnet den beiden ideologischen Kontrahenten je‐
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weils einen kulturellen Horizont, in dem sie ihre Weltanschauung jeweils ent‐ wickeln und rechtfertigen können. Indes wohnt dem Rückgriff auf die Latinität noch ein anderer, literarischer Sinn inne, der offenbar wird, wenn man in Betracht zieht, daß der Autor im Rahmen der Latinität die lateinische Sprache in einem Maße zu Wort kommen läßt wie wohl kein anderer zeitgenössischer Romanschriftsteller, auch nicht Heimito von Doderer, in dessen Dämonen (1956) das Lateinische ebenfalls eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Die großzügige Zulassung oder besser die bewußte Heranziehung der latein‐ ischen Sprache ist wiederum Teil einer größeren literarischen Konzeption, die sich darin ausdrückt, daß fremde Sprachen – moderne Fremdsprachen – im Text immer wieder hervortreten und so den Text nicht unmaßgeblich formen und bestimmen. Das „Internationale Sanatorium Berghof“ (S. 15, 60, 541) macht seinem Epi‐ theton alle Ehre. Gleich eingangs bemerkt Joachim Ziemßen zu Hans Castorp, es sei nicht leicht, im Sanatorium Bekanntschaften zu machen, „schon weil so viele Ausländer unter den Gästen sind“ (S. 67). Hofrat Behrens zeigt sich dieser internationalen Klientel durchaus gewachsen: „er beherrschte alle Sprachen, auch Türkisch und Ungarisch“ (S. 660). Auch die Oberin erweist sich entschieden als polyglott; sie redet den erkälteten Hans Castorp beim ersten Eintreten fran‐ zösisch, englisch und russisch an, um dann ins Deutsche zu fallen (S. 253). In der Tat ist es kaum glaublich, aus wie vielen Ländern, Völkern und Staaten sich Patienten im Sanatorium zusammenfinden. Wenn man dem Alphabet folgt, ergibt sich folgende stattliche Liste: Ägypten, Amerika, Armenien; Belgien, Bu‐ charien, Bulgarien; China; Dänemark, Deutschland; England; Finnland; Gali‐ zien, Georgien, Griechenland; Holland; Italien; Kurdistan; Mexiko; Österreich; Polen; Rumänien, Rußland; Spanien, Schweden; Tschechien; Ungarn. Hiernach muß im Sanatorium ein nachgerade babylonisches Sprachengewirr geherrscht haben. Selbstredend sind nicht alle Sprachen aller dieser Völker literarisch relevant; vielmehr hebt der Autor aus dem internationalen Sprachengemisch einige Spra‐ chen als für seine literarischen Zwecke mehr oder minder bedeutsam hervor. Auffällig geringes Interesse findet das Englische. Zwar gibt es in Davos ein „Englisches Viertel“ (S. 213). Aber unter den Patienten findet sich nur eine ein‐ zige Engländerin, Miss Robinson, mit der sich Hans Castorp in englischer Kon‐ versation versucht (S. 70 f., 113). Die Sprache selbst tritt dann einmal in Kraft in dem geistlosen Satz „Did you ever see the devil with a night-cap on?“ (S. 958), der reihum geht. Zweimal sind es dann, bezeichnenderweise, keine Engländer, die englisch sprechen, sondern einmal ein Deutscher, Joachim Ziemßen nämlich,
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der Hans Castorp mit den Worten „Na, go on“ (S. 24) zum Essen drängt; ein anderes Mal ist es ein Chinese, der Mynheer Peeperkorns abgerissene Expek‐ torationen mit dem Lobesausruf „Very well!“ (S. 832) kommentiert. Das ist alles, und es ist wenig genug. Auch wenn man berücksichtigen muß, daß die Welt‐ geltung der englischen Sprache als Lingua franca zur damaligen Zeit noch wenig ausgeprägt war, so ist ihre Vernachlässigung dennoch auffällig: Sie verdankt sich offenbar der Tatsache, daß das politisch praktische und ökonomisch ori‐ entierte Denken Englands nicht in das geistige Konzept paßt, das dem Roman zugrunde liegt. Die Lingua franca der Epoche war nicht das Englische, sondern das Franzö‐ sische, dem denn auch in der Erzählung eine sehr viel größere Bedeutung zu‐ kommt als dem Englischen. Französisch spricht der Türhüter zu Hans Castorp, als er sich zu spät zu Dr. Krokowskis Vortrag einstellt (S. 190). Französisch ra‐ debrecht die Mexikanerin, „tous-les-deux“ genannt, weil ihre beiden Söhne an Tuberkulose erkrankt sind (S. 65 f., 166 – 168, 468 f.). Französisch spricht auch der theatralische Sohn der Mexikanerin, als er gegenüber den Vettern torerohaft seinen Todesmut bekundet (S. 469). Hans Castorp drückt der trostlosen Mutter sein Bedauern ebenfalls auf französisch aus und versucht, wenn auch vergeblich, mit Madame Chauchat französisch zu sprechen (S. 325). Madame Chauchat, von Hause aus Russin, ist zwar auch – wenn auch mit Einschränkungen – des Deut‐ schen mächtig, spricht aber lieber Französisch und flicht immer wieder franzö‐ sische Sätze in ihre deutsche Rede ein. Triumphal tritt dann das Französische in Kraft in dem langen Gespräch, das Hans Castorp mit Madame Chauchat anläß‐ lich der Faschingsfeier führt (S. 504 – 520) – ein Gespräch, in dem das Französi‐ sche das Deutsche immer mehr dominiert und kulminiert in Hans Castorps flammender Liebeserklärung, die er ganz auf Französisch vorträgt, weil er das im doppelten Sinn des Wortes Ungeheure, das er zu sagen hat, im angestammten Deutsch wohl niemals über die Lippen bringen würde (S. 517 – 520). Im übrigen setzt der Autor wie bei allen fremdsprachlichen Auslassungen so auch hier still‐ schweigend voraus, daß der Leser Hans Castorp riskiertes und exaltiertes fran‐ zösisches Liebesgestammel verstehe. Es ist daher keine kleine Insipidität, wenn die neueste kritische Ausgabe des Zauberbergs das französische Liebesgespräch zwischen Hans Castorp und Madame Chauchat in deutscher Übersetzung als Anhang abzudrucken für nötig befunden hat (S. 1086 – 1098). Auch das Spanische findet vergleichsweise großes Interesse. Zwar findet die Mexikanerin tous-les-deux niemanden, der mit ihr Spanisch spricht (S. 66), aber ein buckliger Landsmann, der sich später einstellt und die Umwelt durch Asth‐ maanfälle ängstigt, kommt immerhin einmal in den Genuß einer spanischen Unterhaltung, die der polyglotte Hofrat mit ihm führt (S. 310, 660). Mehr Ge‐
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wicht erhält das Spanische dadurch, daß der Autor aus der spanischen Urfassung der Exerzitien des Ignatius von Loyola wörtlich zitiert (S. 674 f.; vgl. S. 703, 705 f., 761). Das Spanische tritt so in Verbindung mit der terroristischen Ideologie des Jesuiten Naphta, und Spanien selbst erscheint als westlicher Vertreter außer‐ humanistischer Denk- und Lebensformen: Mit seiner vornehmen Formhaftig‐ keit und Todesstrenge ist es Gegenbild und Kontrapost zum slawischen Osten, der ebenfalls, wenn auch in gegensätzlichem Sinne, von der humanistischen Mitte Europas abliege (S. 760 f.; vgl. S. 446). Hiernach kann nicht verwundern, daß der Autor dem Russischen großes In‐ teresse entgegenbringt. Die Russen stellen dem Sanatorium offenbar auf Dauer ein besonders großes Kontingent an Patienten. Das zeigt sich an der Institution des „Guten“ und des „Schlechten Russentisches“, die im Verlauf der Erzählung immer wieder in Erinnerung gebracht wird (S. 120, 206, 219, 319, 438, 453, 455, 641. 830 & 316, 320, 347, 494, 797, 1072, 1083). Dementsprechend viel wird denn auch im Sanatorium Russisch gesprochen. Gleich zu Anfang trifft Hans Castorp auf eine große Familie mit Kindern, die Russisch sprechen (S. 71). Russisch spricht auch Dr. Krokowski (nomen est omen) mit dem unmanierlichen russi‐ schen Ehepaar, an dessen geschlechtlichen Aktivitäten zur Morgenstunde Hans Castorp Anstoß genommen hatte (S. 125 f., vgl. S. 22, 63 f.). Russisch, und zwar ausschließlich, spricht das Mädchen Marusja (S. 106 f.) – die letzte Liebe Joachim Ziemßens, der seinerseits Russisch lernt, weil er sich davon Vorteile im militär‐ ischen Avancement verspricht (S. 101). Russisch, wenn auch nicht ausschließ‐ lich, spricht natürlich die Russin Clawdia Chauchat, der Hans Castorp in heil‐ loser Liebesleidenschaft verfallen ist. Aus Liebesinteresse läßt er sich denn auch von Anton Karlowitsch Ferge Madame Chauchats Muttersprache vorsprechen und läßt das „wildfremde, verwaschene und knochenlose Idiom“ auf sich wirken (S. 472). So oder so ähnlich charakterisiert der Autor die russische Sprache noch an zwei anderen Stellen (S. 177 & 347). Der äußere Eindruck der Sprache wird betont, weil er auf den Geist verweist, dem sie dient, als welcher ein Geist nach‐ lässiger Weichheit und Formlosigkeit sei, ein Geist der Todesauflösung und in‐ sofern das außerhumanistische östliche Pendant und Gegenstück zur außerhu‐ manistischen Formenstrenge Spaniens (S. 760 f.). Der Italiener Settembrini repräsentiert die Italianità so vollkommen, daß an‐ dere Italiener neben ihm erst gar nicht erscheinen und ebensowenig erscheinen können wie Franzosen, weil das Französische als eigentlicher Träger der zivili‐ sationsliterarischen Ideologie eben durch das Italienische ersetzt wird und statt‐ dessen als Lingua franca der Sanatoriumseinwohner fungiert. Dementspre‐ chend bedeutend ist die Rolle, die dem Italienischen als Stellvertreter des Französischen im Roman zukommt.
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Als typischer Romane spricht Settembrini seine Muttersprache gerne und mit lustvollem Behagen. Schlagendes Beispiel: Er zitiert Verse des Dichters Leopardi in schönster Aussprache, ganz unbekümmert darum, daß die Vettern den vor‐ getragenen Text (den der Autor dem Leser vorenthält) gar nicht verstehen (S. 153). Auch in Augenblicken innerer Erregung fällt Settembrini gerne ins Ita‐ lienische: so anläßlich Hans Castorps abenteuerlicher Hinwendung zu Madame Chauchat in der Faschingsnacht (S. 504; vgl. S. 719, 878), beim Selbstmord Naphtas (S. 1070) oder beim endgültigen Abschied von Hans Castorp (S. 1080). Aber auch sonst ist das Italienische in seiner Rede so allgegenwärtig, daß man sich wundert, wieso er überhaupt Deutsch redet. Aber dieses, das Deutsche, beherrscht er wiederum so hervorragend und spricht es so fehlerfrei und ma‐ kellos, daß der Leser fast wieder vergißt, daß es ein Italiener ist, der zu ihm spricht, wäre da nicht die allzu große Akkuratesse in Aussprache und Wortwahl, die schließlich doch wieder den Romanen verrät. Das Ganze ist ein nachgerade genialer Kunstgriff des Autors, der so das Deutsche als Grundsprache in Set‐ tembrinis weitläufigen zivilisationsliterarischen Expektorationen beibehalten kann, ohne daß je in Vergessenheit geriete, daß die Ideologie des Zivilisations‐ literaten, die hier so beredten Mundes vorgetragen wird, Ursprung und Heimat hat im westlichen Denken, im Geiste nichtdeutscher Latinität. Daß den modernen Sprachen im Roman so viel Raum eingeräumt wird, ist ebenso erstaunlich wie literarisch sinnvoll. Der hermetische Ort, der Zauber‐ berg, in dem der Siebenschläfer Hans Castorp gefangen ist, erscheint nicht und soll nicht als einsame Höhle erscheinen, sondern als internationale Begeg‐ nungsstätte sowohl medizinischer wie mondäner Art, eine Luxusklinik, in der sich gewissermaßen toute l’Europe zusammenfindet, um, unter günstigsten äu‐ ßeren Bedingungen, Heilung zu finden von der schlimmsten inneren Krankheit der Zeit, der Tuberkulose. Daß dieser hermetische Ort ein mondäner Ort europäischen Zuschnitts ist, ja recht eigentlich sein muß, liegt darin beschlossen, daß die Geschichte, die Hans Castorp hier als Bildungsreisender erlebt, recht betrachtet, ja nichts an‐ deres und nichts Geringeres ist als die Bildungsgeschichte der europäischen Seele, die durch die Erfahrung von Tod und Erotik – wenn sie denn solche Er‐ fahrungen zu machen gewillt ist – zu einer neuen Humanität finden könnte, die jenseits liegt von bürgerlichliberaler und kommunistisch-totalitärer Gesinnung: „Der Mensch soll um der liebe und Güte willen“, heißt es in herausgehobenem Druck, „dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken“ (S. 748). Diese Erkenntnis wird Hans Castorp zuteil, dem aufnahmelustigen deutschen Jüngling, in der Todesnot des Schneesturms. Aber er vermag sie nicht – noch
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nicht? – festzuhalten: „Was er gedacht, verstand er schon diesen Abend nicht mehr so recht“ (S. 751). Um aber zu solcher Erkenntnis gelangen und sie womöglich dermaleinst festhalten zu können, mußte die europäische Seele, die in Hans Castorp langsam und zögernd-unvollkommen neue Gestalt annimmt, ursprünglich und grund‐ sätzlich jene Form und Fasson erhalten haben, die sie als spezifisch europäisch kennzeichnet und womöglich auch auszeichnet. Daß sie jene Form und Fasson der Latinität, will sagen: der lateinischen Kultur und Sprache verdankt, wer wollte es leugnen? Der Autor gewiß nicht; anders hätte er, neben den modernen Fremdsprachen, dem Lateinischen nicht so großen Raum eingeräumt in seiner Erzählung. Das Lateinische repräsentiert, wenn man eine Formel will, die in‐ ternationale Vergangenheit Europas, ohne welche Europa gar nie eine kulturelle und geistige Einheit hätte werden können. Im Streit der Ideologien um die moderne Seele Europas wird das Lateinische im Roman in Anspruch genommen von beiden Seiten, der bürgerlich-liberalen und der totalitär-terro‐ ristischen. Ob es auch die Macht hätte, jene neue Humanität zu stützen und zu fördern, die Hans Castorp im Schneesturm ahnungsweise als Idee vorschwebte? Quaeritur. Literaturhinweise 1. Ausgaben Fischer, Gottfried B.: Thomas Mann. Der Zauberberg, Stockholmer Gesamtausgabe der Werke von Thomas Mann (SGW), Stockholm (1939) 1966. Neumann, Michael (Hg): Thomas Mann. Der Zauberberg. Große kommentierte Frank‐ furter Ausgabe (GKFA), Bd. 5.1, Frankfurt a. M. 2002.
2. Kommentar Neumann, Michael: Thomas Mann. Der Zauberberg. GKFA 5.2: Kommentar, Frankfurt a. M. 2002.
3. Verzeichnis der einschlägigen Literatur (in Auswahl) Balonier, Hendrik: Schriftsteller in konservativer Tradition. Thomas Mann 1914 – 1924, Frankfurt a. M. 1983. Banuls, André: Thomas Mann und sein Bruder Heinrich, Stuttgart 1968. Breuer, Stefan: „Ein Mann der Rechten? Thomas Mann zwischen „konservativer Revo‐ lution“, ästhetischem Fundamentalismus und neuem Nationalismus“; in: Politisches Denken. Jahrbuch, Stuttgart u. a. 1997, 119 – 140. Buck, August: Humanismus. Seine europäische Entwicklung in Dokumenten und Dar‐ stellungen, Freiburg u. a. 1987.
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Bulst, Walther: Über die mittlere Latinität des Abendlandes, Heidelberg 1946. Cerf, Steven R.: „Thomas Mann’s Leo Naphta“, Seminar 25, 1989, 223 – 240. Dierks, Manfred: „Dr. Krokowski und die Seinen. Psychoanalyse und Parapsychologie“, in Thomas Manns Zauberberg“, Thomas Mann Studien 11, 1995, 173 – 195. von Eicken, Heinrich: Geschichte und System der Mittelalterlichen Weltanschauung, Stuttgart u. a. 1887 (Nachdr. 1913 & 1923). Finck, Jean: Thomas Mann und die Psychoanalyse, Paris 1973. Frizen, Werner: „Thomas Manns Zauberberg und die ‚Weltgedichte’ der Zeitenwende“, Arcadia 22, 1987, 244 – 269. Galvan; Elisabeth: „Bellezza und Satana. Italien und Italiener bei Thomas Mann“, Thomas Mann Jahrbuch 8, 1995, 109 – 138. Gothein, Eberhard: Ignatius von Loyola und die Gegenreformation, Halle 1895. Grenville, Anthony: „‚Linke Leute von rechts’. Thomas Mann’s Naphta and the Ideolo‐ gical Confluence of Radical Right and Radical Left in the Early Years of the Weimar Republic“, Deutsche Vierteljahresschrift 59, 1985, 651 – 675. Hartmann, Peter C.: Die Jesuiten, München 2001. Heftrich, Eckhard: „Die Welt ‘hier oben’. Davos als mythischer Ort“, Thomas Mann Stu‐ dien 9, 1996, 225 – 247. Heftrich, Urs: „Thomas Manns Weg zur slawischen Dämonie“, Thomas Mann Jahrbuch 8, 1995, 71 – 91. Janson, Tore: Latein. Die Erfolgsgeschichte einer Sprache, Hamburg 2006. Jonas, Ilsedore B.: Thomas Mann und Italien, Heidelberg 1969. Koopmann, Helmut: „Die Kategorie des Hermetischen in Thomas Manns Roman Der Zauberberg“, Zeitschrift für deutsche Philologie 80, 1961, 404 – 422. Koopmann, Helmut: „Die Lehren des Zauberbergs“, Thomas Mann Studien 11, 1995, 59 – 80. Koppen, Erwin: „Quest’ idioma celeste. Thomas Manns Rezeption der italienischen Sprache“, Arcadia 1 (1966) S. 192 – 209. Kraus, Franz Xaver: „Francesco Petrarca in seinem Briefwechsel“, Deutsche Rundschau 85, 1895, 345 – 374. Kurzke, Hermann: „Die Quellen der Betrachtungen eines Unpolitischen“, Thomas Mann Studien 7, 1987, 291 – 310. Lehnert, Herbert: „Leo Naphta und sein Autor“, Orbis Litterarum 37, 1982, 47 – 69. Loose, Gerhard: „Ludovico Settembrini und Soziologie der Leiden“, Modern Language Notes 83, 1968, 420 – 429. Loose, Gerhard: „Naphta. Über das Verhältnis von Prototyp und dichterischer Gestalt in Thomas Manns Zauberberg“, in: Peter, Klaus/ Baron, Lawrence (Hgg): Ideologiekriti‐ sche Studien zur Literatur, Frankfurt a. M. 1972, 215 – 250.
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Anhang 1. In memoriam Uvo Hölscher Rede, gehalten am 9. Mai 1997 in der Aula der Ludwig-Maximilians-Universität zu München Hochverehrte Frau Dorothea! Verehrte Angehörige der Familien Hölscher und Schmidt! Verehrte Damen und Herren! Liebe Studentinnen und Studenten! Wir haben uns heute in der Aula der Universität versammelt, um Uvo Hölschers zu gedenken, der am letzten Tag des vergangenen Jahres gestorben ist. So ist heute die rechte Zeit, seiner zu gedenken. Ist ja das Gedenken gewissermaßen die jüngere und sanftere Schwester der Trauer, die jener, wenn man Glück hat, auf dem Fuße folgt und, anders als jene, nicht so sehr den Verlust empfindet, den man erlitten hat, sondern vielmehr die Dankbarkeit, ja wohl auch Freude, daß, was man verloren hat, unverlierbar ist in der Erinnerung. In diesem Sinne möchte ich heute meines großen Lehrers gedenken; denn mein Verhältnis zu Uvo Hölscher war das des Schülers zum Lehrer – ein beson‐ deres Verhältnis, in dem sich Distanz und Nähe wundersam verquicken, insofern als es die Gelehrsamkeit ist, in der sich Individualität und Humanität des Lehrers dem Schüler offenbaren – sich unvergeßlich offenbart haben; denn es war ein außerordentlicher und wunderbarer Mensch, durch den mir die Erfahrung des Menschlichen in der Gelehrsamkeit zuteil geworden ist. Als ich (es sind nun 33 Jahre her) als junger Student das erste Mal vor Uvo Hölscher stand, auf dem Heidelberger Universitätsplatz, in der Maisonne, da erschrak ich: Daß das Beiwort ‘schön’ auch auf einen Mann angewendet werden könne, war mir zwar aus der Kunstgeschichte bekannt, ich dachte aber nicht, dergleichen einmal im Leben zu begegnen. Hier aber wurde es wirkliches Er‐ eignis: Ein unzweifelhaft schöner Mann stand vor mir, weder groß noch klein, gertenschlank, mit ausgeprägtem Kopfe, einer edel gebogenen Nase und großen graublauen Augen, wie ich sie vorher und nachher bei keinem anderen Men‐ schen jemals wieder gesehen habe. – Der körperlichen Erscheinung entsprach die Kleidung, die von gewissermaßen legerer Distinktion war, wobei besonders
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die lässig gebundene Fliege ins Auge fiel, die damals außer ihm niemand trug. – Und als wir dann miteinander ins Gespräch kamen, da erwies sich seine leise, in unfehlbar reinem Hochdeutsch sich haltende Redeweise, die von sparsamer Gestik begleitet wurde, als vollkommen mit der äußeren Erscheinung im Ein‐ klang. Der Gesamteindruck, der sich einem nach kurzer Zeit aufdrängte, war der, daß man einem Herrn gegenüberstand. Hatte man vorher nicht gewußt, was ein Herr ist, so wußte man es jetzt. Die Begegnung mit einem so außergewöhnlichen Manne nun, der seiner selbst sicher ist und sicher sein darf, erweckt in ungefestigter Jugend – selbst‐ redend – Beklommenheit, ja Verstörung. Er sah es – und lächelte, wie ich ihn später immer wieder habe lächeln sehen: ironisch-distanziert sowohl wie aber auch freundlich-begütigend, so daß man sich in der Distanz sogleich aufgehoben fühlte. – Daß dieser Herr, der ohne weiteres Diplomat, Bankier oder Minister hätte sein können, ein namhafter Gelehrter war, auch noch ein Klassischer Phi‐ lologe (den Ausdruck Altphilologe haßte er, und man durfte ihn in seiner Ge‐ genwart nicht gebrauchen), kam mir wunderbar vor; noch wunderbarer aber war die Vorstellung, daß dieser Mann auch als Universitätslehrer tätig sein sollte. Als ich nun – neugierig genug – die Vorlesungen und Seminare Hölschers besuchte, da erwies sich (man hätte es sich denken können!), daß dieser außer‐ gewöhnliche Herr und Gelehrte auch ein ganz außergewöhnlicher Lehrer war: Er sprach nicht laut, doch stets verständlich, niemals überhastet, eher bedächtig oder besser behutsam: Sein Tempo war das Andante, in dem seine Rede stets vollkommen frei, ohne Stocken, wenn auch nicht ohne kunstvoll kalkulierte Pausen, in vollkommener Klarheit und Präzision ihren Lauf nahm. – Wer aber so besonders redet, denkt auch besonders. Das Besondere seines Denkens aber, das ihn von den meisten der anderen Professoren unterschied, war, daß er nicht überreden wollte, sondern zum Mitdenken aufforderte: Es gab keine festen Thesen, keine Dogmenbildung, auf die die Schüler etwa eingeschworen wurden; alles, was er vortrug, stand vielmehr im Horizont der Offenheit, als ob er sagen wollte: "Seht her, so verstehe ich diesen Text, meint ihr nicht auch, daß er so oder so ähnlich richtig verstanden ist?" – Diese Offenheit seiner Lehre, die seinen Schülern viel abverlangte, weil sie sofort zum Mitdenken gezwungen wurden, hatte zur Folge, daß er zuhören konnte. Ich habe nie einen Menschen von so großer Fähigkeit des Zuhörens gesehen: Noch die verfehlteste Einlassung junger Semester nahm er geduldig auf, prüfte sie und tat alles, um auch noch im Verfehlten jenes Körnchen von Wahrheit aufzuzeigen, das ihm innewohnte. – Diese Liberalität im Umgang mit uns Unfertigen stach von der oft schroffen Kritik, die uns anderwärts von oben herab zuteil wurde, wohltuend ab und machte die anstrengende Mitarbeit, die seine Lehre einforderte, auch wieder
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zum Vergnügen. Nach der ersten Stunde wußte ich – und wußten viele an‐ dere – , daß wir einen Lehrer gefunden hatten, den wir nicht mehr verlassen würden. Und unsere Anhänglichkeit wurde reich belohnt: Im Laufe der Zeit bekamen wir auf jene behutsame und zum Mitdenken auffordernde Art, von der ich ge‐ sprochen habe, die ganze Literatur der Klassischen Zeit nahegebracht, wobei alsbald deutlich wurde, daß sein Herz besonders Homer und den Vorsokratikern zugetan war. Unvergeßlich bleibt mir vor allem ein Oberseminar (oder war es ein Colloquium?), das Uvo Hölscher zusammen mit Hans-Georg Gadamer ver‐ anstaltete, im alten Weinbrennerbau, der damals das Seminar für Klassische Philologie beherbergte und wenig später von einer verblendeten Bürokratie ab‐ gerissen wurde. Dort also fand besagte Veranstaltung statt, und zwar am Samstag, um 9 Uhr s. t. Wenn die Glocken von der Heiliggeistkirche 12 Uhr schlugen, war es eigentlich vorbei; indes waren die beiden Herren in ihr Nach‐ denken über die fragmentarischen Sätze des Dunklen so vertieft, daß man nicht leicht eher als gegen 14 Uhr nach Hause kam. Aber das Erlebnis, wie hier ein frühgriechischer Philosoph ‘nachgedacht’ wurde, wobei die unterschiedliche Geistesart und Geistesprägung beider Männer sichtbar hervortrat – das Erlebnis eines deutenden Nachdenkens auf so hohem Niveau hielt uns in seinem Banne, so daß Hungergefühle fast gar nicht erst aufkamen. Außer der Wissenschaft, die Uvo Hölscher ex professo betrieb, lernte man bei ihm indes noch mehr: Zur Offenheit seiner Lehre (von der ich sprach) gehörte auch, daß er die antike Literatur nicht als autark betrachten, sondern sie immer im Horizont späterer Anverwandlung und Neubegründung sehen lehrte, wobei unter den Dichtern Goethe und Hölderlin besondere Beachtung erfuhren, unter den Denkern aber Friedrich Nietzsche und Jacob Burckhardt, die ja als die ei‐ gentlichen Entdecker des archaischen Griechentums gelten müssen. Bei dieser Gelegenheit möchte ich erwähnen, daß Uvo Hölscher der einzige Klassische Philologe gewesen ist, den ich mit Ehrfurcht habe über J. Burckhardt reden hören: Er stand ihm innerlich nahe. – Die unspezialisierte Weite der Betrach‐ tung, die er übte, lange bevor der Begriff der Rezeptionsgeschichte Mode wurde, wirkte besonders erzieherisch, insofern man sehr bald inne wurde, daß es, um ein guter Philologe zu werden, nicht genüge, über bloßes Fachwissen zu ver‐ fügen, sondern daß man daneben und darüber hinaus zu werden wenigstens versuchen müßte, was er war: ein gebildeter Mensch. Daß das Ideal der Bildung, in dessen Zeichen ja die Wiederentdeckung der Antike in Italien und in Deutsch‐ land geschehen war, im Laufe der Jahrzehnte der Universität durch Verschulung und Verbürokratisierung des Studiums immer mehr abhanden gekommen ist, war nicht nach seinem Sinne, und er hat dagegen gekämpft, solange er konnte.
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Wie wir denn überhaupt mit Erstaunen erkennen mußten, daß dieser feine und hochgebildete Mann die Politik durchaus nicht mied. Er war politisch viel‐ mehr höchst interessiert, ja recht eigentlich engagiert, innerhalb der Universität, aber auch außerhalb: Gegen die Zerschlagung der Fakultäten hat er sich ge‐ wehrt, solange nur irgend Aussicht auf Erfolg bestand, und wenn sie zur falschen Zeit die falschen Raketen aufstellen wollten, so fand man ihn als Protestanten sitzend inmitten der Jungen. Unvergeßlich ist mir, wie er, nachdem der Student Benno Ohnesorg erschossen worden war, vor den Heidelberger Studenten eine Rede hielt: Vor einem tausendköpfigen Publikum, das zum größten Teil höchst radikalisiert war, zu sprechen, dazu hätte schwerlich ein anderer den Mut ge‐ habt, und die Autorität auch nicht. Er hatte beides, und wir waren stolz auf ihn. Ich täte unrecht, wenn ich nicht auch noch die noble Gastlichkeit erwähnte, die man – auch als junger Student – bei ihm genoß. In Uvo Hölschers Haus auf dem Berge über Heidelberg zu Gast zu sein war einfach ein Glück. Wer von uns noch nicht gewußt hatte, was häusliche Kultiviertheit bedeutet, der lernte es hier: Es war alles von untrüglichem Geschmack, und wer Sie, verehrte Frau Dorothea, hier kennenlernte und hier walten sah, der wußte sofort, daß in diesem Hause der noble Geschmack zweier Menschen sich ausdrückte, die so zueinander paßten, wie alles andere zu ihnen. Was die Gäste betraf, die man in diesem Hause kennenlernte, so herrschte auch hier der Geist der Offenheit und Weite; denn Hölschers luden zu Studenten und Fachkollegen auch immer Men‐ schen aus ganz anderen Sphären und Lebensbereichen ein, und es konnte einem passieren, daß man als junger Student vor einer Zelebrität aus Kunst, Kultur oder Politik stand, die man leibhaftig zu sehen nie gedacht hätte. So wurde uns denn in der Gastlichkeit des Hauses Hölscher noch einmal das Erlebnis der Of‐ fenheit und Weite zuteil: diesmal nicht als Zurückhaltung im wissenschaftlichen Denken und nicht als Bildung, sondern als persönliche Lebenskultur. Wer ge‐ nauer hinsah, konnte bemerken, daß alles dies innig zusammenhing und zur Einheit gebracht wurde durch die unverwechselbare Persönlichkeit des Mannes, dessen wir heute gedenken. Im Jahre 1970 folgte Uvo Hölscher dem ehrenvollen Ruf an die Münchner Universität, an der er bis zu seiner Emeritierung lehrte. Ich war nun kein Student mehr, weiß aber aus vielen Erzählungen, daß junge Studenten in München ganz ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie wir damals in Heidelberg. In München hielt er mich und meinen Freund und Kollegen Dieter Bremer, der aus Tübingen zu ihm gekommen war, an seiner Seite: Semester für Semester, wohl zehn Jahre lang, haben wir im Kreise ausgewählter Studenten und Dok‐ toranden unter seiner Leitung Kolloquien veranstaltet, die vor allem den Vor‐ sokratikern und dem von ihm so geliebten Hölderlin galten. Wir beide haben in
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diesen Kolloquien, in denen er die jungen Doktoren, bei so großem Abstand an Wissen und Würde, als gleichberechtigte Partner behandelte, noch einmal un‐ endlich viel gelernt, und manches, was wir später geschrieben haben, hätten wir ohne diese Belehrung wohl nicht so schreiben können. Nach seiner Emeritierung im Jahre 1982 hat sich Uvo Hölscher aus dem en‐ geren Universitätsleben klüglich zurückgezogen. Trotzdem war er präsent, wir konnten ihn sehen, mit ihm sprechen und ihn um Rat fragen, wann immer es seine Zeit zuließ. Mit der Zeit allerdings kargte er zunehmend, um sich ganz der Fertigstellung seines großen Odysseebuchs widmen zu können (das nun für uns zu seinem wissenschaftlichen Vermächtnis geworden ist) und um – zusammen mit seiner Frau – Goethe zu interpretieren und immer wieder Hölderlin, dem auch der letzte Brief galt, den er schrieb. Die wohlbekannte schöne Handschrift dieses Briefes für den Empfänger in Maschinenschrift zu übertragen war der letzte Liebesdienst, den ich für ihn tun konnte. Ich habe Uvo Hölscher an seinem Krankenbett in Prien und dann in München öfter besucht. Bei einem meiner letzten Besuche, kurz vor Weihnachten, nahm ich, wie immer, zum Abschied seine Hand; da sagte er, dem die grausame Krank‐ heit die Sprache genommen hatte, plötzlich und unvermittelt mit vollkommen klarer Stimme: "Auf Wiedersehen" – und lächelte. – Ich weiß nicht, ob dieser Wunsch in Erfüllung geht und ob wir uns alle dermaleinst im Paradiese wie‐ dersehen werden. Das steht bei Gottes Gnade, auf die wir alle angewiesen sind. Aber daß ich diesen wunderbaren Menschen nicht vergessen werde, solange ich lebe, und auch kein anderer seiner Schüler, Kollegen und Freunde, daß wir alle, die ihn gekannt haben, ihm stets und immer ein tiefgefühltes und lebhaftes An‐ gedenken bewahren werden, daran ist nicht der geringste Zweifel möglich. – Aber nach dem Verständnis der Griechen, dem ja ein Gutteil des Dichtens und des Trachtens des Verstorbenen galt, ist ja das Nicht-Vergessen-Werden die Un‐ sterblichkeit. Über den geheimnisvollen Konnex zwischen Tod und Unsterb‐ lichkeit aber hat keiner tiefer nachgedacht als Heraklit, und mit einem Worte Heraklits, das Uvo Hölscher vor allen liebte und das damals auch zu Häupten der Traueranzeige stand, möchte ich schließen: ἀθάνατοι θνητοί, θνητοὶ ἀθάνατοι, ζῶντες τὸν ἐκείνων θάνατον, τὸν δὲ ἐκείνων βίον τεθνεῶτες.
2. In laudem Werner Suerbaum Rede, gehalten am 20. April 2016 auf einer Veranstaltung der Petronian Society im Lyrik-Kabinett zu München Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Freundinnen und Freunde! Liebe Symposiastinnen und Symposiasten! Lieber Herr Kollege Holzberg! Liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen! Liebe Renate! Lieber Werner! Wer den Mann, der heute zu uns sprechen wird, persönlich kennenlernen will, muß nicht weit laufen. Ein Haus weiter, da wohnt er; allerdings im vierten Stock, ohne Lift. Die lateinische Sentenz per aspera ad astra trifft hier zu wie selten: Es droht nämlich der Ausbau des Dachgeschosses und die Möglichkeit besteht, daß man demnächst tatsächlich die Sterne wird sehen können druch das abgetragene Dach. Von dem Ärgernis des unerwünschten Sternenanblickes abgesehen, taugt die lateinische Sentenz auch vortrefflich, metaphorisch auf jenen Mann zu ver‐ weisen, der heute zu uns reden wird. Es handelt sich um – ich enthülle ein Geheimnis, das wir alle schon kennen – , es handelt sich um Werner Suerbaum, genauer: um Professor Werner Suerbaum, einen Latinisten und homo Latinis‐ simus, wie es sobald keinen mehr geben wird. Werner Suerbaum wurde 1965 auf einen außerordentlichen, 1970 auf einen or‐ dentlichen Lehrstuhl berufen für die Forschungsrichtung Klassische Philologie, und zwar, wie es fast verschämt heißt, insbesondere Latein. Wenn die gewußt hätten! – Das Amt endete im Jahre 2001. Das sagt sich so leicht dahin. Aber das sind, wenn ich richtig rechne, 36 Jahre oder 72 Semester strengen Dienstes in Forschung, Lehre und universitärer Selbstverwaltung, gemildert das Ganze durch das eine oder andere, im Vergleich zu heute, seltene Freisemester. Lehre, Forschung und Selbstverwaltung – das waren die drei Säulen, auf denen die amtliche Tätigkeit eines Ordinarius damals ruhte – und Werner Su‐ erbaum nahm sie alle ernst, bitter ernst sogar. Unter ihm zu dienen, wie es mir dreißig Jahre lang in wechselnden Positionen beschieden war, das war, mit Thomas Mann zu reden, ein strenges Glück. Streng, weil die unbestechliche Ge‐
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nauigkeit in allen Geschäften bisweilen förmlich weh tat – ein späterer Gym‐ nasialprofessor verließ eine der legendären Sitzungen, die durchaus 50 Einzel‐ punkte umfassen und vier bis fünf Stunden dauern konnten, mit einem Weinkrampf. Aber wer genauer hinschaute, der erkannte alsbald auch die glück‐ liche Kehrseite dieser Strenge – einen unfehlbaren Gerechtigkeitssinn, gerade und besonders den Schwachen und Unglücklichen gegenüber, und eine souve‐ räne Art, Kritik an der eigenen Person hinzunehmen, die mit jovialer Noncha‐ lanche gepaart war und echtem Humor, deren man sich nicht so leicht versehen hätte. – Ich selber, aus ganz anderen Sphären kommend und von jeher eher zu libertiner Flatterhaftgkeit neigend, habe von diesem strengen Vorbild viel ge‐ lernt, und so sind wir, allen Unterschieden zum Trotz, Freunde geworden und sagen seit gefühlten Jahrzehnten Du zueinander – noch heute eine Auszeich‐ nung für mich und auch ein Glück. Wer nun, wie Werner Suerbaum, die Lateinische Philologie zu seinem Spezi‐ algebiet erkiest, der hat, wenn er geistig so wach ist wie unser Mann, ein Problem. Das Problem sind die Griechen. Sie waren früher da als die Römer und ihre kulturellen Manifestationen in Literatur, Historiographie, Philosophie und Naturwissenschaften sind schlechthin inkommensurabel. Das evoziert rezept‐ ions- und wissenschaftsgeschichtlich nicht selten – insbesondere gerne in Deutschland, das die Griechen wiederentdeckt hat und keinen lateinischen Di‐ alekt spricht – zu einem gräzistischen Dünkel gegenüber der Latinistik, gegen den man sich behaupten muß, um als Latinist mit seinem Tun ins Reine zu kommen. Werner Suerbaum ist einer der wenigen Latinisten, der dies offen getan hat in einem mir besonders lieben und teuren Aufsatz aus dem Jahre 2002, der den trotzig-subjektiven Titel trägt: Lob des Zweiten. Die Römer und ich. Hier räumt der Verfasser theoretisch und praktisch mit dem Vorurteil auf, daß der Zweite immer und notwendig auch der Mindere und Schlechtere sein müsse. In der Tat sollten die Gräzisten, zu denen auch ich mich zähle, nicht gar so schön tun gegen die Lateiner. Auch wenn es richtig ist, daß das Erscheinen der Griechen in jedem Betracht einen Quantensprung bedeutet in der Ge‐ schichte der europäischen Kultur – Die ersten waren sie auch nicht, sondern vielmehr Spätlinge ihrerseits, aufbauend auf den Hochkulturen des Alten Ori‐ ents, ohne deren Leistungen sie nicht so hoch hätten steigen können, wie sie taten. Und da ich nun einmal in Fahrt bin: Daß die Römer angesichts der grie‐ chischen Kultur nicht resigniert haben, sondern im Rückgriff auf diese Kultur, der nicht nur ihnen nicht erspart blieb, eine eigene Kultur in eigener Sprache erschufen, die sich denn ihrerseits im Weltmaßstab doch wohl sehen lassen kann – das stellt den Römern, finde ich, ein Zeugnis geistiger und ästhetischer
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Tapferkeit aus, die ihrer notorischen Tapferkeit in rebus bellicis et politicis in nichts nachsteht. Die universitäre Selbstverwaltung nun nahm Werner Suerbaum so ernst wie kein anderer. Wenn er im rollierenden System der Professoren Geschäftsführ‐ ender Vorstand wurde – so hieß das damals – gab es Mehrarbeit nicht nur für mich, sondern für alle. Der Haushalt mußte exakt festgelegt und rechtzeitig beantragt werden, Veranstaltungen dito, die Personalia mußten besprochen und jeweils ins Werk gesetzt werden oder aber – für mich noch heute in der Rück‐ schau ein schreckhaftes Ereignis – alle Studienordnungen mußten in toto über‐ prüft und gegebenfalls geändert bzw. vereinheitlicht werden – das alles ohne Computer händisch auf der Schreibmaschine. Es gibt noch ein Exemplar dieses Jahrhundertwerkes, einzusehen im Geschäftszimmer, ein blauer Hefter. Die Jüngeren unter uns sollten sich das Teil einmal ansehen, um zu verstehen, was die Alten damals ohne IT-Hilfsmittel leisten konnten, – wenn sie denn, wie in diesem Falle zu solch entsagungsvollem Tun dienstlich angehalten wurden. Die Strenge dieses Regiments wurde nun zwar durch Eröffnungs- und Schluß‐ feiern, durch Gastvorträge, Exkursionen, legendäre Einladungen im Hause bei Frau Renate, die nie vor 5 Uhr früh endeten, und auch durch ebenso legendäre Faschingsbälle, auf denen Werner Suerbaum zu niemandes Überrschung mit Vorliebe als Kapitän oder Renaissancefürst erschien, gemildert. Aber trotz dieser wohltuend ins Amöne gerichteten Festivitäten blieb die Strenge des Regiments dennoch durchaus spürbar. Keiner hätte sich erlaubt, am nächsten Tag aufgrund von Schlafmangel und Kopfscherzen zu spät oder etwa gar nicht zum Dienst zu erscheinen. Was war das? Was trieb diesen hochgelehrten Mann und beliebten Univer‐ sitätslehrer dazu, sich in rebus politicis et oeconomicis so sehr zu engagieren, wie es kein anderer tat? Ich sage Euch: Es war nicht Pedanterie und Herrschsucht schon gar nicht, es war das, was die Franzosen (das sind auch Lateiner!) so schön und treffend als point d’honneur bezeichnen. Es war für diesen Mann eine Eh‐ rensache, den Freiraum, den Staat und Universität damals dem einzelnen noch gewährten, wenn er ein Amt hatte, zu gestalten und auszufüllen bis zum letzten, um der Sache willen, d. h. um des Faches willen, das er vertrat. So rieb er sich förmlich auf in seinem als Pflicht empfundenden Tun, während andere – die meisten – beiseite standen, um sich die feinen Gelehrtenhände nicht mit den Realitäten und Kruditäten der Instituts- und Kulturpolitik zu verunzieren. – Solche kämpferischen Leistungen pflegt die Mitwelt nicht zu honorieren und die Nachwelt zu ignorieren. Mir widersteht beides, und ich tue heute von beidem das Gegenteil und behaupte, daß die Abteilung für Griechische und Lateinische Philologie nicht wäre, was sie heute ist, wenn nicht Werner Suerbaum am In‐
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stitut für Klassische Philologie über dreißig Jahre lang im Sinne des point d’hon‐ neur und des esprit de corps so gewirkt hätte, wie er gewirkt hat. Dixi. Ein Blick auf die Akademische Lehre. Daß Werner Suerbaum ein sehr beliebter und also wohl auch ein guter akademischer Lehrer gewesen ist, dafür gibt es ein statistisches und also untrügliches Indiz – die Anzahl derer, die bei ihm das Staatsexamen angelegt haben. Sie beläuft sich auf praeterpropter 1.200 Einzel‐ fälle. Das ist in der Tat ein stupendes, ja sensationelles Ergebnis. Herunterge‐ brochen auf die ca. 70 Semester Lehrveranstaltungen entfallen ca. 17 oder 18 Prüfungen auf ein Semester. Will man diesen rechnerischen Befund inter‐ pretieren, so läßt sich sagen, daß Werner Suerbaum – er ganz allein! – für eine Grundversorgung ganz Bayerns mit Lateinlehrern gesorgt hat – Jahr für Jahr, über eine Generation hin. Und dabei ist von den Promotionen, die sich nach meiner Schätzung eher auf drei als zwei Dutzend belaufen, noch gar nicht die Rede: Auch für den wissenschaftlichen Nachwuchs hat Werner Suerbaum treu‐ lich und entschieden Sorge getragen. – Wie gut das Verhältnis zu den Schülern gewesen ist, von denen die meisten Lehrer, einige aber auch gestandene Gelehrte geworden sind, ist auch daraus zu ersehen, daß Werner Suerbaum nicht weniger als drei Festschriften dediziert bekommen hat: Ut pictura poesis, 2 Bde., zum 60., Altera ratio zum 70. und Vestigia Vergiliana zum 75. Geburtstag – auch dies, soweit jedenfalls mein Blick reicht, ein exzeptioneller Befund! Dies alles recht erwogen, drängt es mich, mein Erstaunen (um dieses zurück‐ haltende Wort zu verwenden und kein stärkeres) darüber zu äußern, daß das Land Bayern diesen hocheffizienten, hochgelehrten und unbestechlich pflicht‐ treuen Professor und Beamten nicht durch eine äußeres Zeichen der Wertschät‐ zung und des Dankes ausgezeichnet hat. Gottseidank sind wenigstens die Itali‐ ener auf dem Posten: Die Accademia Nazionale Virgiliana in Mantua hat Werner Suerbaum im Jahre 2015 mit dem Premio internazionale VERGILIUS ausge‐ zeichnet – keine kleine Ehre! Ich komme zum Schluß und zur Hauptsache zugleich. Die Hauptsache aber ist, wie sich bei einem Gelehrten von selbst versteht, das wissenschaftliche oeuvre. Auch hier frappiert wieder auf den ersten (und nicht nur auf den ersten) Blick die Fülle der gelehrten Produktion: Das Gesamtwerk umfaßt (falls ich nichts übersehen habe) 142 Titel, das meiste natürlich Aufsätze, aber auch 12 Bücher, dabei solche von wissenschaftlichem Schwergewicht. Will man wissen, was diese Zahlen bedeuten, so füge ich noch hinzu, daß Werner Suern‐ baum seit dem Ruhestand im Jahre 2001 nicht weniger als 33 verschiedene Pub‐ likationen vorgelegt hat, davon sieben in Buchform. Manche Gelehrte wären froh, wenn sie in ihrer Amtszeit soviel veröffentlicht hätten wie dieser Mann im Ruhestand!
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Am Anfang steht, wie sich das gehört, die Dissertation: Vom antiken zum frühmittelalterlichen Staatsbegriff, Münster 1959, als Buch erschienen ebenda 1961. Das Buch bietet eine detaillierte Untersuchung der politischen Kernbe‐ griffe res publica, regnum, imperium und status von Cicero bis Jordanis. Gleich hier zeigte der Löwe seine Krallen: Das Buch tat entschieden Wirkung und wurde 1970 zum zweiten, 1977 zum dritten Male aufgelegt, nunmehr, erheblich erweitert, 492 Seiten umfassend. Ich kenne kaum eine andere latinistische Dis‐ sertation, der eine so ruhmreiche Karriere in der Wissenschaftsgeschichte be‐ schieden gewesen wäre. Auf die Dissertation pflegt die Habilitation zu folgen. So auch hier, wo trotz höchster Leistung alles kanonisch zugeht. Auch die Habilitation wurde – was wiederum gar nicht selbstverständlich war und ist – als Buch veröffentlicht: Untersuchungen zur Selbstdarstellung älterer römischer Dichter: Livius Andro‐ nicus – Naevius – Ennius, erschienen 1969 in Hildesheim, 393 Seiten umfas‐ send. – Das ist ein Buch, das ich mit wahrem Vergnügen gelesen habe angesichts der methodisch traumhaft sicheren maniera, die fragmentarischen Selbstaus‐ sagen der frühen römischen Dichter auf dem Hintergrund der ebenfalls frag‐ mentarischen griechischen Vorbilder in Erscheinung treten zu lassen. Wenn von Euch Jüngeren jemand wissen will, wie Philologie geht, der möge dieses opus gründlich studieren. Da lernstu was, ehrlich! Einen Schwerpunkt im wissenschaftlichen oeuvre Werner Suerbaums haben wir mit der Habilitationsschrift bereits benannt. Es ist das ältere oder auch Alt‐ latein, das die gelehrte communis opinio in einer Epochengliederung, über die sich trefflich streiten läßt, von den Anfängen der literarischen Überlieferung (ca. 250 v. Chr.) bis zum Tode Sullas (78 v. Chr.) datiert. Keinen Dichter aus dieser Epoche hat Werner Suerbaum so geliebt wie den Dichter Q. Ennius. Ihm widmet er insgesamt acht, teilweise sehr witzige Aufsätze und, was mehr ist, eine ei‐ genständige bibliographie raisonnée, die den Titel trägt Ennius in der Forschung des 20. Jahrhunderts, 2003 in Hildesheim erschienen und 280 Seiten umfassend. Dazu muß man wissen, daß Werner Suerbaum auch das undankbare und unbe‐ dankte, wiewohl notwendige Geschäft des Bibliographierens mit Energie und Hingabe betrieben hat und noch bestreibt, so daß man sagen kann, daß er die Autoren besonders liebt, die er auch bibliographisch behandelt oder vice versa. – Das gilt so denn auch für Cato Censorius, auch wenn ihm, wie Naevius, nur zwei Aufsätze gelten. Aber anders als Naevius, dem nur ein für diesen Gelehrten bescheidener Forschungsüberblick zuteil wird, erhält Cato, nicht anders als En‐ nius, eine umfangreiche kommentierte Bibliographie: Cato Censorius in der For‐ schung des 20. Jahrhunderts, erschienen 2003 wiederum in Hildesheim und 312 Seiten umfassend. Gibt es im Sinne des Autors einen größeren Liebesbeweis
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als diesen? Schwerlich. Und ich meine auch zu erahnen, was die Quelle ist. Cato hielt ja eisern an der Rolle des alten Römers fest, als es um ihn herum schon gar keine solchen Römer mehr gab. Der charaktervolle ductus dieses Mannes, seine unbeugsame patientia und duritia uirilis haben Werner Suerbaum gefallen, darin erkannte er sich wieder – wobei man bedenken muß, daß er zwar kein Römer, wohl aber ein Niedersachse ist, also einer von denen, die, wie Hymne lehrt, sturmfest und erdverwachsen sind, also germanische Männer von echt catoni‐ schem Zuschnitt. – Wie sehr Werner Suerbaum die Epoche der vorsullanischen Latinität geschätzt hat, davon kündet auch der erste Band des Handbuchs der lateinischen Literatur der Antike, erschienen 2002 in München, 611 Seiten um‐ fassend. Werner Suerbaum hat diesen Band im Rahmen des monumentalen Handbuchs der Alterumswissenschaft herausgegeben und etwa zu zwei Dritteln auch verfaßt, im Grunde alles außer Tragödie und Komödie, die ihm im übrigen ebenso fremd zu sein scheint wie mir. Wer weiß, was es heutzutage bedeutet ein oder vielmehr das maßgebliche Handbuch zur lateinischen Literaturgeschichte, den Nachfolger des legendären Schanz-Hosius, nicht nur herauszugeben, son‐ dern zum größten Teil auch neu zu schreiben, der weiß, daß es dazu nachgerade herkulischer Kraft und Stärke bedarf, von guten Nerven erst gar nicht zu reden. Werner Suerbaum verfügt offenbar über beides; anders hätte er dieses monu‐ mentale Werk, ein Markstein in der Geschichte der frühen lateinischen Literatur, gar nicht zustande gebracht, ja nicht einmal in Angriff genommen. Eine Reve‐ renz vor dieser singulären Leistung ist hier am Platze! Ich komme zum zweiten Schwerpunkt der wissenschaftlichen Produktion, der recht eigentlich ihr Haupt- und Angelpunkt ist. Das ist – jeder weiß es – Vergil. Wie sehr das Interesse an Vergil prävaliert, ist daraus zu ersehen, daß die Hälfte der Buchpublikationen (6) und ein Drittel aller Aufsätze (40) Vergil gelten, und da sind die besonders schönen und besonders arbeitsaufwendigen 5 Bei‐ hefte zur Münchner Vergil-Austellung Vergil visuell noch gar nicht mitgezählt. Überblickt man die Fülle der Vergil-Literatur, so fällt ins Auge, daß sie zwei unterschiedlichen Grundtendenzen folgen, die einander ungefähr die Waage halten: Es gibt Arbeiten, die im engeren Sinn als philologisch gelten können und solche, die man mit einem Begriff aus der Kunstgeschichte als ikonographisch bezeichnen kann und muß. Werner Suerbaums philologische Auseinandersetzung mit Vergil beginnt nach zwei kurzen Vorspielen – Aeneas zwischen Troja und Rom (1979) und Re‐ zeption der Aeneis in der Schule (1980) – mit der kanonischen Liebeserklärung des Autors an den Autor, also mit einer monumentalen zweiteiligen Bibliogra‐ phie: 100 Jahre Vergil-Forschung, erschienen 1980 in dem bekannten Sammel‐ band ANRW (hier Abt. II Bd. 31.1); die Aeneis- Bibliographie umfaßt 355, die
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Georgica-Bibliographie 100 Seiten, jeweils eng gedruckt. Dazu tritt im folgenden Band desselben Sammelwerkes (31.2), erschienen 1981, noch eine hundertseitige kommentierte Ausgabe, enthaltend die Vitae Vergilianae, die sogenannten Ac‐ cessus Vergiliani und die Texte über den Zauberer Vergil. Daß dazu noch ein Namensverzeichnis tritt, das seinerseits schon wieder 40 Seiten umfaßt, er‐ wähne ich nur, damit uns noch einmal und endgültig klar wird, was dieser Ge‐ lehrte geleistet hat. Die philologische Interpretation Vergils gewinnt Werner Suerbaum vor allem der Kritik an einer damals hochvirulenten Hypothese der angelsächsischen Aeneis-Forschung ab. Ich meine die sogenannte Two-voices-theory, derzufolge der Text der Aeneis einen Subtext enthalte, der jenen erst recht eigentlich er‐ schließe: Was als ästhetisch gekonnte epische Darstellung daherkomme, um dem Julischen Hause poetisch-politisch zu schmeicheln, das sei, recht betrachtet, eine Anklage und Abrechnung mit dem Prinzipat und seinem Erfinder, dem Blutsäufer Augustus. Die deutsche Forschung hat diese epochemachende The‐ orie nicht eigentlich abgelehnt, sondern gar nicht erst ad notam genommen – ganz so, wie dies im Falle Homers auch mit der Oral-poetry getan hat. Werner Suerbaum hat alles versucht, um seine verstockten Kollegen auf diese Theorie hinzuweisen, der er selber entscheidende Anregungen für seine eigene Aeneis-Interpretation verdankt. Diese ist nun, nach so vielen Vorbereitungen und Vorspielen von vielen ersehnt, im Jahre 1999 erschienen: Vergils Aeneis. Epos zwischen Geschichte und Gegenwart. Dieses Werk kommt, trotz dem erheblichen Umfang von 425 Seiten, bescheiden daher wie Aschenputtel im gelben Gewande eines Reclam-Heftchens, Nr. 17 618. Laßt Euch nicht täuschen! Das ist ein hoch‐ wichtiges Buch, das die gelehrte Quintessenz eines großen Gelehrten enthält, der sein Leben lang über Vergil nachgedacht hat. – Also: Gleich kaufen! Kostet nicht viel, aber enthält viel! Die ikonographische Tendenz in Werner Suerbaums Aeneis-Interpretation beginnt 1983 mit dem Aufsatz: Ein neuer Aeneis-Zyklus: Darkness visible. Thema sind 12 Illustrationen, die der Künstler Barry Moser 1981 den einzelnen Büchern der sogenannten Bimillenia Edition der Aeneis jeweils vorangestellt hat. Die Zeichnungen stehen vollkommen im Banne der Two-voices-theory und und prä‐ sentieren ein radikal reduziertes Bild einzelner Szenen, das an herber Strenge, ja Grausamkeit nicht wohl zu überbieten ist. Man merkt es Werner Suerbaum an, wie sehr ihn diese Manifestationen der bildenden Kunst ergriffen, ja be‐ troffen haben: Der ohnehin subjektive Stil seiner wissenschaftlichen Prosa, der mich immer wieder verblüfft und auch erheitert hat, – dieser Stil nimmt hier eine Wendung ins Dunkel-Empathische, der aufhorchen läßt. Es ist gar keine Frage, daß dieser Aufsatz ein Schlüsselwerk im wissenschaftlichen œuvre
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Werner Suerbaums gewesen ist: Von da an datiert das ikonographische Interesse an Vergil, das im Laufe der Zeit gleichberechtigt neben den philologischen In‐ terpretationen steht, um dann seit den letzten zehn Jahren die Oberhand zu gewinnen. Dokument dieser Entwicklung ist, abgesehen von nicht weniger als zwanzig einschlägigen Aufsätzen, das im Jahre 2008 erschienene Handbuch der illustrierten Vergil-Ausgaben 1502 – 1840, 648 Seiten umfassend und zwei Daten‐ träger enthaltend – eine iconographie raisonnée von einer solchen Wucht und Gelehrsamkeit, daß es auch dem Fachmann schier den Atem nimmt. Und als sei es damit noch nicht genug, so hat Werner Suerbaum diesem opus maximum noch zwei opera magna folgen lassen, diesmal in Zusammenarbeit mit dem Sammler Ulrich Wilke: Vergil Aeneis. Kupferstiche 1688, erschienen 2011 und 120 Seiten umfassend, und: Vergils Aeneis. Buchillustrationen des 16. und 17. Jahrhunderts, erschienen 2014, 530 Seiten umfassend. Ich sage Euch: Das macht dem Manne keiner nach. Ich komme zum dritten und letzten Schwerpunkt in diesem wissenscaftlichen oeuvre, und das ist Tacitus. – Als obligatorischen Liebesbeweis haben wir auch hier einen bibliogaphischen Überblick: 42 Jahre Tacitus-Forschung. Systemati‐ sche Gesamtbibiliographie zu Tacitus’ Annalen 1939 – 1980, erschienen 1990, in ANRW II. 33.2 (wo sonst?), 444 Seiten umfassend. – Die Abhandlungen vor und nach diesem Markstein verraten zwar ein stetiges Interesse an Tacitus, das mit dem Interesse an Vergil jedoch nicht konkurrieren kann: Vor dem Forschungs‐ bericht von 1990 zähle ich drei Publikationen zu Tacitus, danach wiederum drei bis zum Jahre 2015, als Werner Suerbaum uns alle paukenschlagmäßig über‐ rascht hat durch eine wahrhaft monumentale Monographie über Tacitus mit dem Titel Skepsis und Suggestion, wie gesagt 2015 erschienen und N.B! 650 Seiten stark. Was es mit dem Titel auf sich hat, lehrt, wie zu erwarten, der Untertitel: Tacitus als Historiker und Literat. Die Lektüre dieses gedankenreichen und ge‐ dankenschweren Mega-Werkes verlangt dem Leser viel ab: Ich, der ich ver‐ gleichsweise schnell lese, habe mehr als vier Wochen für die Lektüre gebraucht. Aber die Lektüre lohnt wahrhaftig. Man wird en gros und en détail darüber be‐ lehrt, in welchem Maße die literarische Absicht den historischen Befund beein‐ flußt, kommandiert und dominiert, so daß man am Ende fast geneigt ist zu glauben, daß es so etwas wie ein historisches Substrat schon für Tacitus nicht mehr gegeben hat und also uns Nachgeborenen gewiß nicht mehr gegeben ist. Hätte ich etwas zu sagen, so würde ich dieses tiefschürfende und geistvolle Buch als Pflichtlektüre für Historiker auf den Lehrplan setzen, auf daß sie ein für alle mal verstünden, daß es keine historische Fakten gibt, sondern nur die fiktionale Interpretation von Fakten und daß Geschichtsschreibung nichts anderes ist als
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die Interpretation dieser Interpretationen. By the way: Der historische Sokrates läßt grüßen! Soweit meine tour d’horizon über Werner Suerbaums wissenschaftliches Werk. Sie mußte kürzer ausfallen, als ich wollte und als es die Größe des Ge‐ genstandes verlangt hätte. Aber wenn ich alles, was dieser Mann außerhalb der drei vorgenannten Schwerpunkte noch veröffentlicht hat über Cäsar, Cicero, Horaz, Lukrez, Ovid, Plinius, Properz und Sallust – um von den zahlreichen Publikationen zur Fachdidaktik gar nicht zu reden – wenn ich dies alles auch nur erwähnen würde, wir säßen noch Stunden hier! Wir wollen jetzt aber den Meister selber hören, wie er das Ikonographische, das bisher Vergil galt, auf Tacitus anwendet, der nächst Vergil ja sein Lieblingsautor ist. Hören wir also jetzt Werner Suerbaum, wie er uns erklärt, wie die moderne Mal- und Grabmalkunst sich die erschütternde Taciteische Szene Agrippina mit der Asche des Germanicus anverwandt hat. Einen kompetenteren Redner gibt es nicht! Werner, Dein Podium! Bibliographischer Hinweis Der flüssige gutgelaunte Duktus der Rede, den der Verfasser nicht antasten wollte, erforderte, daß die einzelnen wissenschaftlichen Werke nur en passant erwähnt werden konnten. Wer genauere oder auch ausführlichere Information über das wissenschaftliche oeuvre Werner Suerbaum erhalten möchte, möge die folgenden zwei bibliographischen Übersichten zu Rate ziehen: C. Leidl und S. Döpp (hrsg.), In Klios und Kalliopes Diensten. Kleine Schriften von Werner Suerbaum, Bamberg 1993, S. 458 – 464: Schriftenverzeichnis von Werner Suerbaum für 1961 – 1993. T. Burkard, M. Schauer, C. Wiener (hrgs.), Vestigia Vergiliana. Vergil-Rezeption in der Neu‐ zeit, Berlin / New York 2010, S. 455 – 463: Werner Suerbaum. Publikationen 1993 – 2009.
Nachzutragen sind folgende drei Titel: W. Suerbaum, Vergil. Aeneis. Kupferstiche 1688, Neukirchen 2011 (120 p.). Ders., Vergils Aeneis. Buch-Illustrationen des 16. Und 17. Jahrhunderts, Neukirchen 2014 (529 p.). Ders., Skepsis und Suggestion. Tacitus als Historiker und als Literat, Heidelberg 2015 (650 p.).
Schriftenverzeichnis Vorbemerkung: Das Kürzel Stud. Socr. bezieht sich auf den Sammelband Studia Socratica, den der Verf. als 39. Band in der Reihe Classica Monacensia veröffent‐ licht hat (München 2012). – Vgl. unten Nr. 40.
1. Antisthenes der Sokratiker. Das literarische Werk und die Philosophie, darge‐ stellt am Katalog der Schriften, Diss. Heidelberg 1970. 2. Aἰσχίνου Μιλτιάδης. In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 15 (1974) S. 271 – 288. 3. TI EΣTI bei Sokrates? In: Dialogos. Für Harald Patzer zum 65. Geburtstag von seinen Freunden und Schülern, hrsg. von J. Cobet, R. Leimbach und A. B. Neschke-Hentschke, Wiesbaden 1975, S. 49 – 57. 4. Apophoreta für Uvo Hölscher zum 60. Geburtstag, hrsg. von A. Patzer, Bonn 1975 (205 p.). 5. Resignation vor dem historischen Sokrates. In: Apophoreta für U. Hölscher, hrsg. von A. Patzer, Bonn 1975, S. 145 – 156. 6. Mutmaßungen über den historischen Sokrates. In: Dialog Schule-Wissen‐ schaft. Klassische Sprachen und Literaturen, 12. Bd.: Verpflichtung der An‐ tike, hrsg. von P. Neukam, München 1979, S. 50 – 70. 7. Platons Selbsterwähnungen. In: Würzburger Jahrbücher für die Altertums‐ wissenschaft N. F. 6b (1980) S. 21 – 27. 8. De Alcmaeonis Crotoniatae apud Platonem uestigio. In: Würzburger Jahrbü‐ cher für die Altertumswissenschaft N. F. 9 (1983) S. 79 f. 9. Additamentum Alcmaeonium. In: Würzburger Jahrbücher für die Alterums‐ wissenschaft N. F. 10 (1984) S. 45. 10. Ad u.c. Segimerum Doepp de loco quodam Quntilianeo epistula. In: Glotta 62 (1984) S. 251 f. 11. Sokrates und Iphikrates. In: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswis‐ senschaft N. F. 11 (1985) S. 45 – 62 [Wiederabdruck: Stud. Socr. 248 – 265]. 12. Bibliographia Socratica. Die wissenschaftliche Literatur über Sokrates von den Anfängen bis auf die neueste Zeit in systematisch chronologischer Anord‐ nung, Freiburg / München 1985 (365 p.)
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13. Wissenschaft und Existenz. Ein interdisziplinäres Symposium (Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft N. F. Beiheft 1) hrsg. von D. Bremer und A. Patzer, Würzburg 1985 (111 p.). 14. Der Sophist Hippias als Philosophiehistoriker, Freiburg / München 1986 (128 p.). 15. Der historische Sokrates (Wege der Forschung Bd. 585), hrsg. von A. Patzer, Darmstadt 1987 (473 p.). 16. Einleitung [in die Sokratesforschung]. In: Der historische Sokrates, hrsg. von A. Patzer, Darmstadt 1987, S. 1 – 40. 17. Sokrates als Philosoph. In: Der historische Sokrates, hrsg. von A. Patzer, Darmstadt 1987, S. 434 – 452. 18. Platon über den Ursprung der Eleaten und Herakliteer. In: Dialog Schule-Wissenschaft, 21. Bd.: Klassische Sprachen und Literaturen, hrsg. von P. Neukam, München 1987, S. 109 – 121. 19. Streifzüge durch die antike Welt. Ein historisches Lesebuch (Beck’sche Reihe 390) hrsg. von A. Patzer, München 1989 (2. Aufl. ebend. 1991) (373 p.). 20. Gissingen omtrent de historische Socrates, übers. M. F. Fresco. In: Wijsgerig perspectief op maatschappij en wetenschap 30 (1989 – 1990) S. 26 – 33. 21. Franz Overbeck – Erwin Rohde. Briefwechsel (Supplementa Nietzscheana 1) hrsg. und komm. von A. Patzer, Berlin / New York 1990 (645 p.). 22. Sokrates: Das Gute. In: Grundprobleme der großen Philosophen, 1. Bd.: Phi‐ losophie des Altertums und des Mittelalters, hrsg. von J. Speck, 4. Aufl. Göt‐ tingen 1990, S. 9 – 37 [Wiederabdruck: Stud. Socr. 8 – 31]. 23. Erwin Rohde in Bayreuth. Sieben ungedruckte Briefe an die Braut. In: Nietz‐ sche-Studien 20 (1991) S. 359 – 384. 24. Die Wolken des Aristophanes als philosophiegeschichtliches Dokument. In: Dialog Schule-Wissenschaft. Klasssische Sprachen und Literaturen, 27. Bd.: Motiv und Motivation, hrsg. von P. Neukam, München 1993, S. 72 – 93 [Wie‐ derabdruck: Stud. Socr. 32 – 53]. 25. Aulus Hirtius als Redaktor des corpus Caesarianum. In: Würzburger Jahrbü‐ cher für die Altertumswissenschaft 19 (1993) S. 111 – 130. 26. Hesiod als Rhapsode. In: Ut poesis pictura. Festschrift für Werner Suerbaum, hrsg. von F. Maier und N. Holzberg, 2. Bd. (Auxilia Bd. 33) München 1993, S. 83 – 98. 27. Die Naevius-Ausgabe des Octavius Lampadio oder Versuch über das altrö‐ mische Buchwesen. In: Varia antiquaria. Festschrift für Karl Hartung, Mün‐ chen 1994, S. 107 – 110.
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28. Sokrates in den Fragmenten der Attischen Komödie. In: Orchestra. Festschrift für Hellmut Flashar, Leipzig 1994, S. 50 – 81 [Wiederabdruck: Stud. Socr. 64 – 102]. 29. In memoriam Uvo Hölscher. In: Uvo Hölscher. Gedenkfeier des Instituts für Klassische Philologie der Universität München, hrsg. von J. Latacz, Basel 1997, S. 19 – 27. 30. Sokrates in der Tragödie. In: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswis‐ senschaft, N. F. 22 (1998) S. 33 – 45 [Wiederabdruck: Stud. Socr. 103 – 116]. 31. Sokrates als Soldat. Historizität und Fiktion in der Sokratesüberlieferung. In: Antike und Abendland 45 (1999) S. 1 – 35 [Wiederabdruck: Stud. Socr. 203 – 247]. 32. Der Xenophontische Sokrates als Dialektiker. In: Der fragende Sokrates (Colloquium Rauricum 6), hrsg. von K. Pestalozzi, Stuttgart / Leipzig 1999, S. 50 – 76 [Wiederabdruck: Stud. Socr. 135 – 162]. 33. Die Platonische Apologie als philosophisches Meisterwerk. In: Meisterwerke der antiken Literatur. Von Homer bis Boethius, hrsg. von M. Hose, München 2000, S. 54 – 75 [Wiederabdruck: Stud. Socr. 117 – 134]. 34. Die übertiefe Tiefe (Empedokles B 35,3 – 5 und Physika I, 288 – 290. In: Zeit‐ schrift für Papyrologie und Epigraphik 135 (2001) S. 1 – 35. – Verfaßt zu‐ sammen mit O. Primavesi. 35. Hesiod als Dichter. Das Proömium der Theogonie als Musenhymnus. In: Dialog Schule-Wissenschaft. Klassische Sprachen und Literaturen, 36. Bd.: Weltbild und Weltdeutung, hrsg. von P. Neukam, München 2002, S. 109 – 130. 36. Beim Hunde! – Sokrates und die Rhadamanthischen Eide. In: Altera Ratio. Festschrift für Werner Suerbaum zum 70. Geburtstag, hrsg. von G. Thome und M. Schauer, Wiesbaden 2003, S. 93 – 107 [Wiederabdruck: Stud. Socr. 266 – 282]. 37. Sokrates und Archelaos. Historische und fiktionale Texte über den jungen Sokrates. In: Sokrates im Gang der Zeiten (Sokrates-Studien 6), hrsg. von W. von der Weppen und B. Zimmermann, Tübingen 2006, 9 – 56 [Wiederab‐ druck: Stud. Socr. 163 – 202]. 38. Wort und Ort. Oralität und Literarizität im sozialen Kontext der frühgriechi‐ schen Philosophie, Freiburg / München 2006 (214 p.). 39. Ah Virgil, Virgil! – der Speichellecker des julischen Hauses. Die literarische Bedeutung des Lateinischen in Thomas Manns Zauberberg. In: Vestigia Ver‐ giliana.Vergil-Rezeption in der Neuzeit (Göttinger Forum für Altertumswis‐
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senschaft. Beihefte. N. F. 3. Bd., hrsg. von T. Burkard, M. Schauer und C. Wiener, Berlin / New York 2010, S. 315 – 347. Studia Socratica. Zwölf Abhandlungen über den historischen Sokrates (Classica Monacensia 39) Tübingen 2012 (369 p.). Sokrates in den Vögeln und in den Fröschen des Aristophanes. In: Studia Socratica, hrsg. von A. Patzer, München 2012, S. 54 – 63. Sokrates und die Dreißig. In: Studia Socratica, hrsg. von A. Patzer, München 2012, S. 283 – 317. Ausdrucksformen der frühgriechischen Philosophie. In: Grundriss der Ge‐ schichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike, 1. Bd., hrsg. von H. Flashar, D. Bremer und G. Rechenauer, Basel 2013, S. 126 – 149. In laudem Werner Suerbaum. Rede, gehalten am 20. April 2016 auf einer Veranstaltung der Petronian Society im Lyrik-Kabinett zu München [Erst‐ veröffentlichung].
Quellenverzeichnis 1. Hesiod als Rhapsode Erstveröffentlichung in: Ut poesis pictura. Festschrift für Werner Suerbaum, hrsg. von F. Maier und N. Holzberg, 2. Bd. (Auxilia Bd. 33) [C. C. Buchners Verlag. Bamberg] München 1993, S. 83 – 98. 2. Hesiod als Dichter Das Proömium der Theogonie als Musenhymnus Erstveröffentlichung in: Dialog Schule-Wissenschaft. Klassische Sprachen und Li‐ teraturen, 36. Bd.: Weltbild und Weltdeutung, hrsg. von P. Neukam [Bayerischer Schulbuchverlag] München 2002, S. 109 – 130. 3. Ausdrucksformen der frühgriechischen Philosophie Erstveröffentlichung in: Grundriss der Geschichte der Philosophie, 1. Bd., Früh‐ griechische Philosophie, hrsg. von H. Flashar, D. Bremer und G. Rechenauer [Schwabe Verlag. Basel] Basel 2013, S. 126 – 149. 4. De Alcmaenonis Crotoniatae apud Platonem uestigio & Additamentum Alcmaeonium Erstveröffentlichung in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft N. F. [Kommissionsverlag Ferdinand Schöningh. Würzburg] 9 (1983) 79 f. & 10 (1984) S. 45. 5. Die übertiefe Tiefe (Empedokles 35, 3 – 5 & Physika I, 288 – 290) Erstveröffentlichung (zusammen mit O. Primavesi) in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik [Rudolf Habelt Verlag. Bonn] 135 (2001) S. 1 – 10. 6. Platon über den Ursprung der Eleaten und Herakliteer Erstveröffentlichung in: Dialog Schule-Wissenschaft. Klassische Sprachen und Li‐ teraturen, Bd. 21: Exempla classica, hrsg. von P. Neukam [Bayerischer Schul‐ buchverlag] München 1987, S. 109 – 121.
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Quellenverzeichnis
7. Platons Selbsterwähnungen Erstveröffentlichung in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft N. F. [Kommissionsverlag Ferdinand Schönigh. Würzburg] 6 b (1980) S. 21 – 27. 8. Aἰσχίνου Μιλτιάδης Erstveröffentlichung in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik [Rudolf Ha‐ belt Verlag. Bonn] 15 (1974) S. 271 – 287. 9. Die Naevius-Ausgabe des Octauius Lampadio Versuch über das altrömische Buchwesen Erstveröffentlichung in: Varia antiquaria. Festschrift für Karl Hartung, München 1994, S. 107 – 110. 10. Aulus Hirtius als Redaktor des corpus Caesarianum Erstveröffentlichung in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft N. F. [Kommissionsverlag Ferdinand Schönigh. Würzburg] 19 (1993) S. 111 – 130. 11. Ad u.c. Segimerum Doepp de loco quodam Quintilianeo epistula Erstveröffentlichung in: Glotta [Verlag Vandenhoek und Ruprecht. Göttingen] 62 (1984) S. 51 f. 12. Erwin Rohde in Bayreuth. Sieben ungedruckte Briefe an die Braut Erstveröffentlichung in: Nietzsche-Studien [Walter de Gruyter. Berlin / New York] 20 (1991) S. 359 – 384. 13. Ah Virgil, Virgil! – der Speichellecker des julischen Hauses. Die literarische Bedeutung des Lateinischen in Thomas Manns Zauberberg Erstveröffentlichung in: Vestigia Vergiliana. Vergil-Rezeption in der Neuzeit, hrsg. von Th. Burkard, M. Schauer und C. Wiener (Göttinger Forum für Altertumswis‐ senschaft. Beihefte N. F. Bd. 3) [De Gruyter-Verlag] Berlin / New York 2010, S. 351 – 347.
Quellenverzeichnis
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Anhang 1. In memoriam Uvo Hölscher Rede, gehalten am 9. Mai 1997 in der Aula der Ludwig-Maximilians-Universität zu München Erstveröffentlichung in: Gedenkfeier des Instituts für Klassische Philologie der Universität München am 9. Mai 1997, hrsg. von J. Latacz [Seminar für Klassische Philogie der Universität Basel und die Autoren] Basel 1997, S. 19 – 24. 2. In laudem Werner Suerbaum. Rede, gehalten am 20. April 2016 auf einer Veranstaltung der Petronian Society im Lyrik-Kabinett zu München Erstveröffentlichung.
Classica Monacensia Münchener Studien zur Klassischen Philologie herausgegeben von Martin Hose und Claudia Wiener Bisher sind erschienen: Band 20 Stephen M. Wheeler Narrative Dynamics in Ovid’s Metamorphoses 2000, VIII, 174 Seiten €[D] 44,00 ISBN 978-3-8233-4879-5 Band 21 Peter von Möllendorff Auf der Suche nach der verlogenen Wahrheit Lukians Wahre Geschichten 2000, XII, 622 Seiten €[D] 74,00 ISBN 978-3-8233-4880-1 Band 22 Gerlinde Bretzigheimer Ovids Amores Poetik in der Erotik 2000, 310 Seiten €[D] 48,00 ISBN 978-3-8233-4881-8 Band 23 Sven Lorenz Erotik und Panegyrik Martials epigrammatische Kaiser 2001, X, 302 Seiten €[D] 48,00 ISBN 978-3-8233-4882-5 Band 24 Christos Karvounis Demosthenes Studien zu den Demegorien orr. XIV, XVI, XV, IV, I, II, III 2002, 383 Seiten €[D] 58,00 ISBN 978-3-8233-4883-2
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Band 30 Niklas Holzberg (Hrsg.) Die Appendix Vergiliana Pseudepigraphen im literarischen Kontext 2005, XX, 294 Seiten €[D] 58,00 ISBN 978-3-8233-6202-9 Band 31 Regina Höschele Verückt nach Frauen Der Epigrammatiker Rufin 2005, XII, 156 Seiten €[D] 48,00 ISBN 978-3-8233-6205-0 Band 32 Gunther Martin Dexipp von Athen Edition, Übersetzung und begleitende Studien 2006, XII, 287 Seiten €[D] 58,00 ISBN 978-3-8233-6242-5 Band 33 Patrizia Marzillo Der Kommentar des Proklos zu Hesiods „Werken und Tagen“ Edition, Übersetzung und Erläuterung der Fragmente 2010, LXXXVIII, 458 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-6353-8 Band 34 Helmut Löffler Fehlentscheidungen bei Herodot 2008, X, 242 Seiten €[D] 58,00 ISBN 978-3-8233-6381-1 Band 35 Gregor von Nazianz Über Vorsehung Περὶ Προνοίας Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Andreas Schwab 2009, 142 Seiten €[D] 39,9,00 ISBN 978-3-8233-6418-4
Band 36 Peter Grossardt Achilleus, Coriolan und ihre Weggefährten Ein Plädoyer für eine Behandlung des Achilleus-Zorns aus Sicht der vergleichenden Epenforschung 2009, XII, 159 Seiten €[D] 39,9,00 ISBN 978-3-8233-6483-2 Band 37 Regina Höschele Die blütenlesende Muse Poetik und Textualität antiker Epigrammsammlungen 2010, X, 375 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-6552-5 Band 38 Alexander Müller Die Carmina Anacreontea und Anakreon Ein literarisches Generationenverhältnis 2010, VIII, 300 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-6575-4 Band 39 Andreas Patzer STUDIA SOCRATICA Zwölf Abhandlungen über den historischen Sokrates 2012, X, 370 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-6579-2 Band 40 Maria Gerolemou Bad Women, Mad Women Gender und Wahnsinn in der griechischen Tragödie 2011, X, 442 Seiten €[D] 98,00 ISBN 978-3-8233-6580-8
Band 41 Karin Mayet Chrysipps Logik in Ciceros philosophischen Schriften 2010, 340 Seiten €[D] 78,00 ISBN 978-3-8233-6581-5 Band 42 Nikolaos Vakonakis Das griechische Drama auf dem Weg nach Byzanz Der euripideische Cento Christos Paschon 2011, 184 Seiten €[D] 48,00 ISBN 978-3-8233-6582-2 Band 43 Evanthia Tsigkana Studien zu Euripides’ Elektra Das Motiv der Erwartung im griechischen Drama 2012, 320 Seiten €[D] 78,00 ISBN 978-3-8233-6724-6 Band 44 Margot Neger Martials Dichtergedichte Das Epigramm als Medium der poetischen Selbstreflexion 2012, 392 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-6759-8
€[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-6813-7 Band 47 Fabian Horn Held und Heldentum bei Homer Das homerische Heldenkonzept und seine poetische Verwendung 2014, IV, 388 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-6837-3 Band 48 Jan-Markus Pinjuh Platons Hippias Minor Übersetzung und Kommentar 2014, 264 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-6849-6 Band 49 Olga Chernyakhovskaya Sokrates bei Xenophon Moral – Politik – Religion 2014, XII, 279 Seiten €[D] 58,00 ISBN 978-3-8233-6863-2 Band 50 Lukians Apologie Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Markus Hafner 2017, 159 Seiten €[D] 38,00 ISBN 978-3-8233-8071-9
Band 45 Isabella Wiegand Neque libere neque vere Die Literatur unter Tiberius und der Diskurs der res publica continua 2013, XIV, 362 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-6811-3
Band 51 Manuel Caballero González Der Mythos des Athamas in der griechischen und lateinischen Literatur 2017, 628 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-6991-2
Band 46 Sophia Bönisch-Meyer/Lisa Cordes/ Verena Schulz/Anne Wolsfeld/Martin Ziegert (Hrsg.) Nero und Domitian Mediale Diskurse der Herrscherrepräsentation im Vergleich 2014, VIII, 485 Seiten
Band 52 Philipp Weiß Homer und Vergil im Vergleich Ein Paradigma antiker Literaturkritik und seine Ästhetik 2017, 392 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-8110-5