Der Todesgenius in der deutschen Literatur: Von Winckelmann bis Thomas Mann [Reprint 2015 ed.] 9783110916010, 9783484102255


216 74 8MB

German Pages 123 [124] Year 1975

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Einleitung
Wie die Alten den Tod gebildet - Erörterung
Winckselmann
Lessing
Herder
Goethe
Erstarrung und Entwertung
Seine Fackel senkt’ ein Genius - Dichterische Gestaltung
Vorbemerkung
Lessings Zeitgenossen
Goethe und Schiller, ihre Zeit und ihr Echo
Lehrlinge und Epigonen
Späte Zeugnisse und Spuren
Abkürzungsverzeichnis
Register der Autoren und Werke
Recommend Papers

Der Todesgenius in der deutschen Literatur: Von Winckelmann bis Thomas Mann [Reprint 2015 ed.]
 9783110916010, 9783484102255

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 12

Ludwig Uhlig

Der Todesgenius in der deutschen Literatur von Winckelmann bis Thomas Mann

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1975

ISBN 3 - 4 8 4 - I O 2 2 J - X

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1975 Alle Rechte vorbehalten. Printed in Germany Satz und Drude: Wörner GmbH Stuttgart Einband von Heinr. Koch Tübingen

Inhalt

Einleitung

i

Wie die Alten den Tod gebildet - Erörterung

5

Windcelmann

5

Lessing

9

Herder

19

Goethe

29

Erstarrung und Entwertung

36

Seine Fackel senkt' ein Genius - Dichterische Gestaltung . . . .

48

Vorbemerkung

48

Lessings Zeitgenossen

jo

Goethe und Schiller, ihre Zeit und ihr Edio

59

Lehrlinge und Epigonen

8j

'

Späte Zeugnisse und Spuren

92

Abkürzungsverzeichnis

113

Register der Autoren und Werke

IIJ

V

Todesgenius an einem Riefel-Sarkopbag (Photo: Verf.)

des Thermenmuseums in Rom.

Einleitung

Lessings Abhandlung Wie die Alten den Tod gebildet legt dar, daß die Personifikation des Todes in der Antike nicht die seit dem Spätmittelalter übliche Gestalt des Gerippes hatte, sondern vielmehr die eines jungen Genius, der eine Fackel senkt und damit auslöscht und der als Bruder des ähnlich dargestellten Schlafs betrachtet wurde. Scheinbar beiläufig, im Zusammenhang mit anderen antiquarischen Studien, entstanden, enthält die schmale Schrift Lessings »das Persönlichste über sein Todempfinden und das seiner Zeit«. 1 Sie erweckte ein lautes Echo unter Lessings Zeitgenossen. Das antike Bild des Todes, das hier gezeichnet wurde, prägte sich den folgenden Generationen tief ein. Es wurde von der klassizistischen Kunst aufgegriffen 2 und ging in das Idealbild der Antike ein, das Goethe und Schiller vorschwebte und seither die Aufmerksamkeit deutscher Dichter fesselte. Länger als ein Jahrhundert blieb das Motiv in der deutschen Literatur am Leben, es hat hier eine weit verzweigte Geschichte, die bisher noch nicht umfassend dargestellt worden ist.3 Auch den neuerlichen Versuchen, die Wir-

1

2

3

Walther Rehm: Der Todesgedanke in der deutschen Dichtung vom Mittelalter bis zur Romantik. 2. Aufl. Tübingen: Niemeyer 1967. S. 272. Vgl. ders.: Götterstille und Göttertrauer. Bern: Francke 1 9 5 1 . S. 1 1 1 . Vgl. Hellmut Sichtermann: Lessing und die Antike. In: Lessing und die Zeit der Aufklärung. Göttingen: Vandenhoedk & Ruprecht 1968. S. i9of.; Jörgen Birkedal Hartmann: Die Genien des Lebens und des Todes. Zur Sepulkralikonographie des Klassizismus. In: Rom. Jb. f. Kunstgesch. 12, 1969. S. 9 - 3 8 , bes. S. 2 7 - 3 7 . Brauchbare Ansätze bietet Henry Hatfield: Aesthetic paganism in German literature. Cambridge, Mass.: Harvard Univ. Press 1964. S. 2 4 - 3 2 . In der schwedischen Literatur wird das Bild verfolgt von Carl Fehrman: Ruinromantiken odi den nyklassiska dödsbilden. In: Vetenskaps-Societeten i Lund. Ärsbok. 1954. S. 3 - 2 6 ; ders.: Liemannen, Thanatos och Dödens Ängel. Studier i 1700- odi 1800-talens litterära ikonologi. Lund: Gleerup 1

kungsgeschichte Lessings durch breit angelegte Sammelwerke zu dokumentieren, sind die betreffenden Zeugnisse bis auf wenige Ausnahmen entgangen, vermutlich weil die Zusammenhänge, um die es hier geht, sich nicht in zitierbaren Meinungsäußerungen über Lessing und namentlichen Hinweisen auf ihn niederschlagen. 4 D e r Todesgenius erscheint in zwei deutlich gesonderten Bereichen, die getrennt zu behandeln sind. Antiquarische Studien brachten das Bild zuerst zutage; in gelehrten Abhandlungen wurde es beschrieben und gedeutet. Die theoretische Debatte um den Genius begann schon mit Winckelmann, und sie wurde nach Lessing von Herder mit gewichtigen Beiträgen wieder aufgenommen. Die Erörterung der antiken Todesdarstellung setzte sich dann abseits vom allgemeinen literarischen Interesse fort im Rahmen der klassischen Altertumswissenschaften, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem festumrissenenLehrgebäude entwickelten und mit H i l f e der kritisch geschärften historischen Methode und umfangreichen neuaufgefundenen Quellenmaterials die Vorstellungen ihrer Vorläufer und Begründer weit überholten und zum Teil direkt widerlegten. So wurden auch Lessings Thesen über den Todesgenius differenziert und eingeschränkt. Die neueren Forschungsergebnisse blieben freilich auf den Kreis der Fachgelehrten eingeschränkt. Das weitere Publikum dagegen stand noch über lange Zeit hinaus unter dem Eindruck der mittlerweile als »klassisch« kanonisierten Gedanken des ausgehenden 1 8 . Jahrhunderts. Dasselbe gilt f ü r die Dichtung - dies ist der andere Bereich, in den der Todesgenius schon sehr früh eindrang. V o m Ende des 18. Jahrhunderts bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert findet er sich immer wieder v o r allem in der Lyrik, aber auch im Drama und in erzählender Prosa.

4

( 1 9 5 7 ) . = Skrifter utg. av Vetenskaps-Societeten i L u n d . 53. Z u unserem T h e m a bes. S. 4 2 - 6 0 . Eine Vorarbeit zu der vorliegenden Studie ist ein A u f s a t z des Verfassers: W i e die Alten den T o d gebildet. D a s Bild des Todesgenius bei Winckelmann, Lessing und Herder. I n : Lessing Yearbook. 6, 1 9 7 4 . S. 1 0 - 3 2 . Lessing - ein unpoetischer Dichter. Dokumente aus'drei Jahrhunderten zur Wirkungsgeschichte Lessings in Deutschland. Hrsg., eingel. u. kommentiert v. H o r s t Steinmetz. Frankfurt a. M., Bonn: Athenäum Verl. 1 9 6 9 ; Lessing. Dokumente zur Wirkungsgeschichte 1 7 5 5 - 1 9 6 8 . Hrsg. v . E d w a r d D v o r e t z k7. T 1 1.2. Göppingen: Kümmerle 1 9 7 1 - 7 2 . = Göppinger Arbeiten zur Germanistik. 3 8 . 3 9 .

2

Dabei führt die eigenartige Stellung des Genius zwischen bildender Kunst und Literatur, zwischen gelehrter Abhandlung und Dichtung zu Auswirkungen, die seine Bedeutung und Gestalt als poetisches Bild betreffen, sogar die Art, in der er dargeboten wird. Dies wird an Ort und Stelle näher erläutert werden. Die vorliegende Studie wird zunächst die theoretische Erörterung des Todesgenius verfolgen, allerdings nur soweit sie sich im Gesichtskreis des allgemeinen Lesepublikums abspielt, d. h. auch soweit sie Einfluß auf die Dichtung hat. Was die im engeren Sinn fachwissenschaftliche, also archäologische Erforschung des Gegenstandes angeht, so genügt hier ein Bericht über den gegenwärtigen Befund, der diesen ersten Teil abschließt. Es geht hier vor allem um die begriffliche Form der Argumentation, das Geflecht der Gedanken und deren wechselnde Verknüpfung, den Fortschritt und Wandel in der Erfassung des Gegenstandes von einem Autor zum anderen. Der zweite Teil der Arbeit gilt der dichterischen Gestaltung des Todesgenius. Die Gesichtspunkte, die dabei zu beachten sind, erschließen sich erst aus der näheren Bekanntschaft mit den Abhandlungen über das Bild. Eine methodische Vorüberlegung der besonderen Eigenheiten des Themas wird daher erst am Beginn des zweiten Teils gegeben. Hier sei nur so viel vorausgeschickt, daß dabei eine wesentlich andere Methode anzuwenden ist. Wenn auch die Einflüsse der theoretischen Darlegung auf die Dichtung möglichst genau zu beobachten sind, so kann sich die Untersuchung doch nicht auf die Herstellung rein begrifflicher Bezüge beschränken. Neben der bloßen Bedeutung des Todesgenius ist etwa auch seine Funktion im Zusammenhang des jeweiligen Werkes zu beachten. Erscheint das Bild nur als beiläufige Metapher, so wird es kurz und summarisch zu behandeln sein. Steht der Genius jedoch im Zentrum eines Werkes, so ist eine Teil- oder auch Gesamtinterpretation am Platze. Besondere Aufmerksamkeit verlangt hier die dichterische Realisierung des Bildes, die Modalität, unter der es im jeweiligen Werk erscheint. Es sind übrigens um des thematischen Zusammenhangs willen auch einige wenige Werke einzubeziehen, die nicht das Bild selbst explizit nennen, aber doch offenkundig im Umkreis der ihm zugrundeliegenden Gedanken stehen. Eine motivgeschichtliche Betrachtungsweise ist nur dann fruchtbar, wenn sie historischen Weitblick und Vertiefung ins Detail so verknüpft, 3

daß das geschichtliche Kontinuum aus der Folge jeweils besonderer Prägungen hervorgeht und umgekehrt das Einzelwerk mit Hilfe der Beziehungen, die es mit anderen verbinden, gerade in seiner Eigenheit besser erschlossen wird. Die vorliegende Arbeit soll nicht nur vergessene Texte und unbekannte Bezüge ans Licht heben, sondern auch neue Aufschlüsse über wohlvertraute Werke liefern.

4

Wie die Alten den Tod gebildet Erörterung

Winckelmann Der Anlaß zu Lessings Abhandlung Wie die Alten den Tod gebildet war, wie ihr Autor selbst einräumte, »verächtlich« (L. X I 3),5 nebensächlich sogar in seiner äußeren Form: eine Fußnote des Laokoon (L. I X 76t.) war, wiederum mit einer Fußnote, von Christian Adolph Klotz sehr ungeschickt angegriffen worden.6 Lessing, ohnehin mit dem ehrgeizigen Philologen in eine heftige Fehde verwickelt, hatte leichtes Spiel, den Einwurf mit triumphierendem Spott abzuwehren. Aber er brachte seine Entgegnung nicht in den Briefen antiquarischen Inhalts vor, in denen er schon vorher die kurzlebigen Streitigkeiten mit Klotz ausgefochten hatte, sondern eben in einer eigenen Abhandlung, die sich über den nichtigen Anlaß ihrer Entstehung erheben und Dauerndes bieten sollte. Dort wird Klotz' Einwand schon vor Beginn der eigentlichen Untersuchung sarkastisch abgetan, und wenn Klotz auch danach noch als Zielscheibe des Spotts herhalten muß, so richtet Lessing seinen Blick doch über ihn hinweg auf »bessere Gelehrte« (L. X I 4 8 ) . Unter diesen nimmt Winckelmann eine besondere Stelle ein, er erfährt zwar gelegentlich Widerspruch, ist aber im ganzen weniger Widerpart als Kronzeuge. Winckelmann-Zitate liefern Lessing den ersten und den letzten Beleg für seine These (L. X I 9, $4). Die Gestalt des Genius mit der Fackel findet sich tatsächlich an mehreren, wenn auch entlegenen Stellen in Winckelmanns Werk, und sie 5

6

Die in Text und Anmerkungen verwendeten Abkürzungen von Werkausgaben werden in dem Verzeichnis S. 1 1 3 erklärt. Graf von Caylus: Abhandlungen zur Gesdiidite und zur Kunst. Aus dem Französischen übersetzt. Nebst einer Vorrede von Herrn Klotz. Bd 2. Altenburg: Richter 1769. Vorrede, 7. unpag. S. Die gesamte Fußnote wird von Lessing zitiert (L. X I 5 f.).

S

wird hier schon mit den Begriffen des Todes und des Schlafs verbunden. Die Description des pierres gravees du Feu Baron de Stosch stellt verschiedene Steine mit diesem ikonographischen Typus vor. Winckelmann identifiziert den Genius als Amor (W. I X 156, N r 886f.), erklärt aber: L ' A m o u r avec le flambeau renverse est le symbole de la mort. (W. I X 1 4 5 , N r 798.)

In einer deutsch geschriebenen Vorarbeit lautet die Beschreibung: Z w e e n LiebesGötter, einer mit einer umgekehrten Fackel als ein Bild der Trauer über Verstorbene, [ . . . ] '

An anderer Stelle wird das Bild als Personifikation des Schlafs verstanden : U n A m o u r appuye sur un flambeau renverse sur un Autel. C ' e s t ainsi que les anciens representoient aussi le Sommeil. (W. I X 1 4 9 , N r 834.)

In beiden Fällen steht der Gedanke an Amor als selbstverständlich und unangefochten im Vordergrund, Tod und Schlaf sind nur akzidentelle Nebenbestimmungen, und das Schwanken in den Zuweisungen deutet auf eine gewisse Gleichgültigkeit des Autors. Die Vorrede zur Geschichte der Kunst des Alterthums erwähnt, auch nur beiläufig und ohne Beschreibung, in polemischem Zusammenhang, Darstellungen eines Genienpaares, das nun eindeutig als Schlaf und Tod bezeichnet wird (W. V, S. X V I ) . Lessing zitiert diese Bemerkung am Schluß seiner Abhandlung (L. X I $4). Ausführlicher werden diese Denkmäler im Versuch einer Allegorie unter dem Stichwort »Schlaf« vorgeführt: Es w i r d audi der Schlaf durch einen jungen Genius vorgestellet, welcher sich auf einer umgekehrten Fackel stützet, wie er also mit der Ueberschrift: SOMNO,

auf einem Grab-Steine in dem Pallaste A l b a n i stehet, nebst

dessen Bruder, dem Tode, mit dem Homerus zu reden, und eben so abgebildet stehen diese zweene Genii an einer Begräbniß-Urne in dem Collegio Clementino zu R o m . ( W . I V

76t.)

Die Vereinigung der beiden Genien zu einem Paar ließ sie Winckelmann als Brüder erscheinen, wofür er sich auf Stellen aus der Ilias berufen konnte (Ilias 16, 4J4f-, 671 ff., 68iff.), die sonst keinen nähe7

Johann Joachim Winckelmann: Briefe. In Verb. m. H a n s Diepolder hrsg. v. Walther Rehm. Bd 4. Berlin: de G r u y t e r 1 9 5 7 . S. 1 1 , 4 2 1 .

6

ren Bezug zu dem Bild haben. Lessing greift diese Vorstellung auf, wovon zu seiner Zeit zu reden ist. Im übrigen berührt Winckelmann das Thema auch hier nur flüchtig. Er sieht in dem Genius mit der gesenkten Fackel den Schlaf - wie der Tod gestaltet ist, sagt er nicht. Und wenn er wenige Seiten darauf Darstellungen des Todes aufzählt (W. I V 8of.), erwähnt er das Genienpaar überhaupt nicht, was schon Lessing rügte (L. X I ?f.). Nach all dem scheint es fast, als sei Winckelmann dem Gedankengang Lessings schon erstaunlich nahe gekommen. Es ist allerdings zu bedenken, daß die aufgezählten Bemerkungen weit über das Gesamtwerk Winckelmanns verstreut sind und allesamt auf der Ebene bloßer Aperçus stehen, die nicht einmal durch Hinweise untereinander verbunden werden und keine tieferdringenden Deutungen enthalten. Wie wenig Aufmerksamkeit Winckelmann dem Thema schenkte, läßt sich daran ablesen, daß er wiederholt Denkmäler mit ähnlichen Motiven beschreibt, ohne auch nur zu erwägen, ob es sich um Todesdarstellungen handeln könnte. 8 Winckelmann öffnete also einen Weg, ohne ihn selbst zu beschreiten. Was ihn daran hinderte, waren innere Hemmungen. E r war letzten Endes noch befangen in der Annahme, die einzig angemessene allegorische Darstellung des Todes sei das Gerippe, und übertrug diese Vorstellung seiner eigenen Zeit ohne Bedenken auf die Antike. Am klarsten zeigt sich dies in der Erläuterung

der Gedanken

von der

Nachahmung,

wo das Gerippe schlechthin als »Bild des Todes« bezeichnet wird (W. I 138). Eine Stelle aus Petronius' Cena Trimalchionis

(Satyricon

34) bot

Winckelmann eine Bestätigung f ü r die ihm so selbstverständliche Identifizierung. Dort wird bei einem Gastmahl ein silbernes Skelett mit beweglichen Gelenken, eine Art Marionette, auf die Tafel gebracht, wobei der Gastgeber in pseudo-elegischen Versen die Sterblichkeit der Menschen beklagt und die Gäste zum Lebensgenuß

aufmuntert.

Winckelmanns Voreingenommenheit zeigt sich darin, daß er diesen Text überinterpretiert. Das Gerippe wird hier nämlich nicht als Personifikation des Todes vorgestellt, wie Winckelmann glaubt, sondern als ein toter Mensch, eine Gestalt, die jeder Mensch im Tod annimmt 8

Vgl. etwa Description des pierres gravées. W. IX IJ6, Nr 886f.; Versuch einer Allegorie. W. IV 72, 82; Monumenti antichi inediti. W. VII 24, 39, 154, 20j; W. VIII Taf.21, i n , 152.

7

(»Sic erimus cuncti«). Lessing hob später diese Unterscheidung sehr stark hervor, eigenartigerweise ohne dabei auf Windtelmann hinzuweisen (L. X I 4 7 ) . Es muß freilich hinzugesetzt werden, daß auch Winckelmann in späteren Schriften das Skelett bei Petronius nicht mehr kurzerhand als »Bild des Todes« bezeichnet, sondern, behutsamer formulierend, nur als ein Mittel, »sich [ . . . ] des Todes zu erinnern«.9 Für die Vorgeschichte von Lessings Abhandlung sind derlei Einzelbestimmungen weniger wichtig als der übergreifende Gedankenzusammenhang, in dem der oben erwähnte Hinweis auf antike Darstellungen von Skeletten eigentlich nur als ein widerwilliges Zugeständnis steht. Winckelmann behauptet nämlich, die griechische Kunst habe häßliche und schreckliche Gegenstände vermieden: Es war überhaupt der griechischen Nation eigen, alle ihre Werke mit einem gewissen offenen Wesen, und mit einem Character der Freude zu bezeichnen: die Musen lieben keine fürchterliche Gespenster; [ . . . ] Auf keinem einzigen ihrer Denkmale ist eine fürchterliche Vorstellung: sie vermieden dergleichen noch mehr als gewisse so genannte unglückliche Worte. (W.I i37f.)

Der Euphemismus, auf den hier nur vergleichsweise angespielt wird, verbindet sich später bei Herder enger mit unserem Thema. Wenn Winckelmann in diesem Zusammenhang von Skeletten in der antiken Kunst spricht, so hebt er gar nicht eigentlich ihre Existenz, sondern vielmehr ihre Seltenheit hervor. In einer Gemme, auf der ein Skelett nach der Flöte tanzt, vermutet Winckelmann wie in der Episode aus der Cena Trimalchionis die Absicht, »sich durch Erinnerung der Kürze des Lebens zum angenehmen Genüsse desselben aufzumuntern«. 10 Das »Carpe diem«-Thema, das hier doch etwas zu weit hergeholt scheint, mochte Winckelmann weniger aus der Antike geläufig sein als vielmehr von der Rokoko-Lyrik seiner eigenen Zeit her, wo in Trink- und Liebesliedern immer wieder der Tod nur als stimulierender Kontrast zur Lebensfreude zitiert wird. Das Gerippe als Bild des Todes ist für Winckelmann zwar eine Selbstverständlichkeit, andererseits aber auch eine Verlegenheit. Er empfindet es als Fremdkörper in seinem harmonisierenden Griedien9

10

Versuch einer Allegorie. W. IV 81. Vgl. Monumenti 245. W. I 138. Vgl. Versuch einer Allegorie. W. IV 81.

8

antichi inediti. W. V I I

bild und ist darauf aus, versöhnliche oder erheiternde Momente zu finden, die seinen Schrecken mildern. Dieselbe Tendenz verrät sich in den Bildern, die im Versuch einer Allegorie als Darstellungen des Todes vorgeschlagen werden: eine Rose, »Aurora, die ein Kind in den Armen fortträgt«, die »sanften Pfeile« Apollos und Dianas, »ein Stück von einem Schiffe«, ein Spieß - alles sehr gesuchte Chiffren, die zumeist nur Nebenumstände bestimmter Todesfälle bezeichnen und »lieblicher« sein sollen als das Skelett (W. I V 8of.). Lessing So war schon Winckelmann auf der Suche nach dem, was Lessing dann im Todesgenius fand. Lessing schritt auch auf Windtelmanns Weg fort, indem er von diesem die These übernahm, »daß bei den Alten die Schönheit das höchste Gesetz der bildenden Künste gewesen« (L. I X 14) und das Häßliche und Schreckliche nidht dargestellt worden sei. Dies ist eine der Grundvoraussetzungen des Laokoon, in diesem Sinne steht dort die Fußnote, die den äußeren Anstoß und sicher auch den gedanklichen Keim der Abhandlung über den Todesgenius darstellt (L. I X 76f.). Das Skelett wird dort zu einer nicht-antiken Todesdarstellung erklärt, und zwar eigentlich nur deshalb, weil es »widerlich« sei. Im Rückblick auf die literarischen Ereignisse seiner Jugend hebt Goethe aus Lessings Werk gerade diese Bemerkung als den »Triumph des Schönen« über das Häßliche in der Kunst hervor (G. X X V I I 165). Er trifft damit den zentralen Gedanken, der den Laokoon einerseits mit Winckelmanns Schriften, andererseits mit Lessings späterer Abhandlung über den Todesgenius verknüpft. Das Neue an dieser ersten Andeutung Lessings ist die historische Relativierung, die Feststellung, daß Antike und neuere Zeit sich in dieser Frage grundsätzlich unterscheiden. Den Anlaß gab Caylus' Vorschlag zur Illustration der Bergung des Sarpedon in der Ilias, wo Schlaf und Tod als Zwillingsbrüder erscheinen. Lessing hält vorerst nur negativ fest, die Antike habe den Tod nicht als Gerippe, sondern »anders« dargestellt — dies mußte die Frage provozieren, wie er denn dargestellt worden sei. Als Klotz Lessing zu widerlegen glaubte, indem er darauf hinwies, daß die antike Kunst doch Skelette dargestellt hat, verfehlte er den Sinn der Bemerkung und gab Lessing die willkommene Gelegenheit, im polemischen Rückschlag seine These ausführlich 9

zu entwickeln. Ganz beiläufig gab übrigens dieselbe Fußnote mit der Deutung einer Pausanias-Stelle den Anlaß zu einer anderen, rein philologisch-antiquarischen Debatte zwischen Lessing und Herder, die, im ersten Kritischen Wäldchen beginnend, mit hartnäckiger Ausführlichkeit die Erörterung des Todesgenius begleitet, obwohl sie zum Thema wenig beiträgt. Lessings Abhandlung Wie die Alten den Tod gebildet ist auf den ersten Blick geradezu schulmäßig gegliedert: Zunächst wird von der »Veranlassung« berichtet, Klotz' Angriff, der dabei sogleich als fehlgehend lächerlich gemacht und abgeschlagen wird (L. X I 5-7). Es folgt der Abschnitt »Untersuchung« - der antiken Denkmäler und Quellen nämlich —, in dem Lessings These vorgebracht und nachgewiesen wird (L. X I 7-47). Dieser Hauptteil besteht wiederum aus der Confirmatio, der positiven Darstellung der These, »daß die alten Artisten den Tod, die Gottheit des Todes, wirklich unter einem ganz andern Bilde vorstellten, als unter dem Bilde des Skelets« (L. X I 7), und der Refutatio, der entsprechenden negativen These, daß antike Skelettdarstellungen nicht den Tod bedeuteten, sondern larvae, die Geister von Toten (L. X I 3J-47). Diese Untergliederung wird dem Leser besonders nachdrücklich vor Augen gebracht durch methodische Vor- und Zwischenbemerkungen, die den Gang der Argumentation vorausbestimmen. Den Schluß bildet eine kürzere »Prüfung« der gelehrten Literatur zu dem Thema, worin nochmals die Unhaltbarkeit aller bisherigen Vorstellungen aufgewiesen wird (L. X I 48—55). Bei genauer Lektüre zeigt sich allerdings, daß diese klare äußerliche Gliederung vom Gang der Argumentation keineswegs streng eingehalten wird. Es finden sich nämlich Abschweifungen, die nur locker mit dem Hauptgedanken verknüpft sind und deren Ausführlichkeit erkennen läßt, daß die erklärte Hauptabsicht der Abhandlung streckenweise durch andere Absichten überlagert wird. Man erhält danach fast den Eindruck, Lessing habe das Werk nur deshalb so deutlich sichtbar formalistisch eingeteilt, um dem innerlich nur locker gefügten Gedankengang wenigstens von außen her durch ein festes Gerüst einen besseren Zusammenhalt zu geben. Die auffälligste Abschweifung betrifft die Deutung der Worte Sieatgau^evoug xoiig jtoöag in Pausanias' Beschreibung der Kypseloslade (L. XI14—27). Lessing gibt zu, daß dieser Exkurs nur insofern 10

einen Platz in der Abhandlung behaupten kann, als er Beweismaterial erfordert, das zugleich auch die These der Abhandlung stützt. Er übersetzt die Wendung, die sich auf Personifikationen des Todes und des Schlafs bezieht, durch » ü b e r e i n a n d e r

geschlagene

Füße«,

was er als »die gewöhnliche Lage der Schlafenden« (L. X I 14) oder mindestens »Zeichen der Ruhe« (L. X I 17) betrachtet, und er kann darauf hinweisen, daß der Genius mit der gesenkten Fackel in den meisten Fällen mit gekreuzten Beinen dargestellt wird, wodurch er einerseits seine Pausanias-Interpretation, andererseits die Identifizierung der Figur mit dem - zeitweiligen oder ewigen - Schlaf bestätigt findet. Im Grunde handelt es sich um eine A r t gelehrtes Rückzugsgefecht, wie sich dergleichen auch in den Antiquarischen Briefen findet. Die Deutung der unklaren Worte war versuchsweise schon im Laokoon gegeben, aber darauf von Herder mit guten Gründen zurückgewiesen worden (H. III 58). Hier nun häuft Lessing alle nur möglichen Materialien auf, die seine ursprüngliche Vermutung bestätigen könnten, um dann am Schluß doch die ganze Frage offen zu lassen. Ähnlich gerät er abseits von seiner Hauptrichtung, wenn er die Gruppe von San Udefonso, in der man Kastor und Pollux gesehen hatte, als Darstellung des Todes, des Schlafs und der Nacht interpretiert (L. X I 28f.). Das Denkmal blieb seither mit der weiteren Erörterung des Themas verbunden. Herder stimmte Lessing zunächst zu (H. V 66 5) und gab in seiner Elegie Der Tod dem Genius eine Gestalt, die an die Gruppe von San Ildefonso erinnert, bestritt aber danach diese Identifizierung (H. X V 4 j j f . ) . In den Künstlern

kontaminierte

Schiller die Ansicht Lessings mit der von diesem abgelehnten älteren Deutung, indem er die Dioskuren direkt als Darstellungen von T o d und Leben bezeichnete. Goethe stellte eine Kopie der Statuengruppe im Treppenhaus seines Hauses auf, die Immermann bei einer späteren Besichtigung ohne weiteres als Tod und Schlaf identifizierte. 11 11

V g l . A l f r e d Jericke: Goethe und sein Haus am Frauenplan. Weimar: Böhlau 1959. S. 43 u. A b b . 5; K a r l Immermann: Schriften. Bd 14. Memorabilien. T h l 3. Hamburg: H o f f m a n n u. Campe 1843. S. i$2. Lessings Deutung der Gruppe v o n San Ildefonso wird wieder aufgenommen v o n Maxime Collignon: Les statues funéraires dans l'art grec. Paris: Leroux 1911. S. 336-340 und Ivar Hjertén: H y p n o s odiThanatos i dikt och konst. Stockholm: Norstedt ( 1 9 j 1). = Svenska Humanistiska Förbundet. Skrifter. 61. S. 87-93.

11

Einige der Figuren, in denen Lessing den Todesgenius erkannte, waren als Eroten, Darstellungen Amors, bekannt. Es wurde hier schon erwähnt, daß auch Winckelmann in der Description des pierres gravees Genien mit umgekehrten Fackeln als Amor bezeichnet und Schlaf und Tod nur als Nebenbedeutungen zugelassen hatte. Lessing mußte dieses landläufige Verständnis zunächst widerlegen, um seine eigene Deutung durchzusetzen. Ausdrücklich tut er dies mit einer Figur des kapitolinischen Prometheus-Sarkophags, die er in Belloris Admiranda abgebildet und als Amor bezeichnet gefunden hatte (L. X I 1 0 - 1 4 ) . Lessing kannte auch Windielmanns Description, er zitiert sie in seiner Abhandlung selbst (L. X I 37), eigenartigerweise aber übergeht er völlig die hierhergehörenden Stellen. Es wäre immerhin möglich, daß er den verehrten Winckelmann so kurz nach dessen Tod nicht mit polemischen Bemerkungen bedenken wollte — freilich scheut er sich sonst keineswegs, ihn zu kritisieren (L. X I yf.). Auf jeden Fall hält er sich dafür umso übermütiger an Klotz schadlos, der nun einmal sein Prügelknabe ist, auch da wo eine Polemik nicht direkt im Gang der Beweise erfordert ist. Klotz hatte in seinem Buch Ueber den Nutzen und Gebrauch der alten geschnittenen Steine und ihrer Abdrücke, dessen Ausfälle gegen den Laokoon Lessings Streit mit Klotz überhaupt ausgelöst hatte, zahlreiche »Vorstellungen des Amors auf geschnittenen Steinen« vorgeführt und seinen Lesern von diesen »süßen und sinnreichen Tändeleyen« das »größte Vergnügen« versprochen.12 Es ist verständlich, daß Lessing sich über diese »zuckersüße« Rokoko-Archäologie mokiert, und er hat sicher auch recht, wenn er bezweifelt, daß alle die »Klotzische Amors« (L. X I 1 1 ) diesen Namen verdienen, er kann aber keinen davon wirklich als Todesgenius beanspruchen. Immerhin bietet Lessing in diesem Nebenstrang seiner Argumentation nicht nur Spott auf, sondern vor allem eine methodische Grundvoraussetzung seiner ganzen Beweisführung, nämlich das Axiom, »daß die Alten die sinnliche Vorstellung, welche ein idealisches Wesen einmal erhalten hatte, getreulich beybehielten« (L. X I 8). Dies postuliert f ü r allegorische Figuren einen bestimmten ikonographischen Typus, der in der Antike durchweg eingehalten worden sei. Lessing hat dabei

12

Altenburg: Richter 1 7 6 8 . S. 1 9 5 . Die E i n w ä n d e gegen Lessing ebd. S . 1 4 0 bis 1 4 2 , 2 0 3 A n m . , 2 4 2 .

12

nicht die plastischen Formentraditionen im Sinn, die auch die heutige Archäologie kennt, sondern eine viel fester bestimmte Konstanz, die keine Ubergänge und keine Wandlung erlaubt. Diese »Einförmigkeit« habe den Zweck, »allgemeine Erkenntlichkeit« zu ermöglichen (L. X I 8). Aus diesem Grundsatz folgert Lessing, daß »keine allegorische Figur [ . . . ] mit sich selbst im Widerspruch stehen« darf (L. X I n ) , daß keine Figur ein Attribut haben kann, das ihrem Sinn widerspricht. Aber ein Amor, der eine Fackel, »die Affekten in der Brust des Menschen« (L. X I 1 1 ) , löscht, vollführt eine Handlung, die seinem Wesen zuwider ist, also kann - nach Lessing - eine solche Figur nicht Amor bedeuten. Dieses Prinzip ergibt sich konsequent aus einem Gedankengang des Laokoon, der dort einigermaßen isoliert steht und keinen logischsystematischen Zusammenhang mit den anderen Thesen des Werks hat, wenn er auch dessen Hauptabsicht dient, bildende Kunst und Dichtung gegeneinander abzusetzen. Der Unterschied zwischen künstlerischer und dichterischer Darstellungsweise wird dort für die »Götter und geistigen Wesen« folgendermaßen bestimmt: Bey dem Künstler sind sie personifirte Abstracta, die beständig die nehmliche Charakterisierung behalten müßen, wenn sie erkenntlich seyn sollen. Bey dem Dichter hingegen sind sie wirkliche handelnde Wesen, die über ihren allgemeinen Charakter noch andere Eigenschaften und Affecten haben, welche nach Gelegenheit der Umstände vor jenen vorstechen können. (L. I X 63.)

Diese Grenzbestimmung kommt Lessing in der Abhandlung über den Todesgenius zustatten, wenn er zugeben muß, daß die antike Dichtung viel schrecklichere Bilder des Todes kennt als das Gerippe. Die Dichtung, die die allegorische Gestalt schon durch den Begriff, der als Name dient, eindeutig identifiziert, kann sie »gewissermaaßen wider diesen Begriff selbst handeln lassen, [ . . . ] ohne daß wir im geringsten die eigentliche Natur desselben darüber aus den Augen verlieren« (L. X I 39). Der bildende Künstler hingegen muß in seiner Allegorie die generellste Bestimmung des dargestellten Begriffs, seine wesentlichen Momente und Attribute zum Ausdruck bringen und alle zufälligen, akzidentellen Züge vermeiden, wenn sein Bild »kenntlich« sein soll, ohne ein dilettantisch beigesetztes Wort der Identifizierung zu brauchen. Es wird sich zeigen, daß diese Unterscheidung einen Ansatzpunkt

13

für weiterführende Gedanken Herders ergibt. Lessing hätte übrigens im Sinne des Laokoon auch einfach so argumentieren können, daß die Dichtung, als transitorisdie Kunst, das Häßliche darstellen darf, die bildende Kunst aber nicht. Es ist auffällig, daß Lessing sich dieses Argument entgehen läßt. Das antike Todesbild sieht demnach in Lessings Vorstellung folgendermaßen aus: Als Zwillingsbruder des Schlafs gleicht der Tod diesem vollkommen (L. X I 8 , 1 0 , 27) und steht oft neben ihm in symmetrischer Anordnung (L. X I 23, 24). Beide sind junge Genien, sie stehen mit übereinandergeschlagenen Füßen (L. X I 14-26), den Arm auf eine umgekehrte Fackel gestützt (L. X I 10); beide können, müssen aber nicht geflügelt sein (L. X I 21). Sie können durch gelegentlich beigegebene Attribute unterschieden werden (L. X I 29): ein Aschenkrug oder eine Lekythos als Grabbeigabe (L. X I 28, 31), ein Schmetterling als Symbol der Seele (L. X I 1 0 , 1 2 , 3 3 ) °der ein Kranz als Schmuck des Toten und seines Grabes (L. X I 1 0 , 12) bezeichnen den Tod, den Schlaf macht sein Horn kenntlich (L. X I 29, 32-34), aus dem er seine Gabe über die Menschen ausleert, wie dies auch oft in der Dichtung dargestellt wird. Nach Pausanias ist einer der Brüder schwarz, der andere weiß, und zwar ist Lessing geneigt, dem Tod die weiße Farbe zuzuteilen (L. X I jo). Wie die Attribute fehlen können, so kann auch die Haltung der Gestalt variieren, um einem abgewandelten Sinn oder bestimmten Umständen zu entsprechen: wenn der Genius die Beine nicht kreuzt, sondern ausschreitend spreizt und die Fackel zwar gesenkt, aber nodi nicht gelöscht Jiat, so stellt er den Tod dar, der noch nicht eingetreten ist, sondern gerade bevorsteht (L. X I 28); und zwei Genien, die die verschlossenen Türen der Unterwelt bewachen, brauchen keine Fackeln, um ihren Sinn anzudeuten (L. X I 24). Insofern Lessing dem Bild des Todesgenius feste Umrisse und eindeutige Geltung gab, vollendete er, was Winckelmann schon begonnen hatte. Aber dazu bringt die Abhandlung etwas durchaus Neues, was wohl auch der Grund des Ruhmes war, den das Werk schon unter den Zeitgenossen erwarb: das schöne Bild drückt eine neue Auffassung vom Tode aus. Dies wird vor allem da klar, wo der Genius dem Gerippe entgegengesetzt wird. Gegen den Schrecken, den dies und andere Bilder verbreiten, wird mit ruhigem Nachdruck, ohne polemischen Eifer, die Behauptung ins Feld geführt: 14

T o d t seyn, hat nichts Schreckliches; und in so fern Sterben nichts als der Schritt zum Todtseyn ist, kann audi das Sterben nichts Schreckliches haben. (L. X I 4 0 . )

Die von dichterischen Metaphern angedeuteten Qualen des Sterbens werden als bloße »Zufälligkeiten« abgetan, Begleiterscheinungen und Nebenumstände, die dem Hauptbegriff des Todes gelegentlich widersprechen können und denen dieser selbst das »erwünschte Ende« setzt (L. X I 40). In dem fast etwas abrupten Schluß wird die Tatsache, daß das »scheußliche Gerippe« das »alte heitere Bild des Todes« verdrängt hat, allein dem paulinischen Begriff vom Tod als der Sünde Sold (Römerbrief 6, 23) zur Last gelegt, der »ohne Offenbarung, schlechterdings in keines Menschen Gedanken kommen« konnte, »der nur seine Vernunft brauchte« (L. X I 55). Ohne auf den seinerzeit so explosiven Gegensatz zwischen Offenbarung und Vernunft hier weiter einzugehen, setzt Lessing diesem die einfache Behauptung entgegen, daß nach der Versicherung derselben Religion zugleich auch »der Tod der Frommen nicht anders als sanft und erquickend seyn könne«, die »richtig verstandene wahre Religion« demnach die Wiedereinsetzung des Todesgenius erlaube (L. X I 55). Es liegt Lessing fern, das antike Bild als spezifisch heidnisch der christlichen Gestalt des Gerippes gegenüberzusetzen, wie das erst in Schillers Göttern Griechenlandes geschieht. Neben allem antiquarischen Interesse verfolgt das Werk also offenbar die Absicht, die Furcht vor dem Tode zu beseitigen, und dies wurde auch vom Publikum allenthalben verstanden und begrüßt. Allerdings verläßt Lessing immer nur kurz und beiläufig die rein technische archäologisch-kritische Argumentation, um nicht mehr distanziert über das Todesbild der Griechen und Römer, sondern direkt und bekenntnishaft über den Tod selbst zu sprechen. Aber das Schweigen selbst ist hier als eine Aussage zu verstehen. Die reine Diesseitigkeit erkennt den Tod nur als ihre eigene Grenze an und bekümmert sich sonst nicht um ihn. Sie weigert sich, über den Tod nachzudenken, sich etwa auf ihn vorzubereiten, sie ist nicht neugierig auf das, was sich bei und nach dem Sterben abspielt. Von einem Jenseits, in dem die vom Körper getrennte Seele weiterlebt, oder von einer Auferstehung ist nicht die Rede. In diese Richtung weisen auch die spärlichen Kennzeichnungen des Todes, die sich doch hin und wieder in Lessings Schrift finden: der Tod ist das plötzliche, schnelle »Ende des Lebens« (L. X I 12), ein

15

Schlaf ohne Träume (L. X I 15), ein »Zustand der Ruhe und Unempfindlichkeit« (L. X I 40) - all diese Umschreibungen, zu denen natürlich auch der durchgehende Vergleich mit dem Schlaf gehört, bestimmen den Tod rein negativ vom Leben her, als dessen bloße Abwesenheit. Die Abbildungen, die der Abhandlung beigefügt und seither unbesehen in die meisten Neuausgaben übernommen wurden, scheinen eine rein äußerliche Beigabe zu sein, aber sie öffnen einen Blick auf Lessings Verhältnis zu seinem Gegenstand. Es handelt sich um Kopien nach älteren Illustrationswerken: Belloris und Bartolis Admiranda Romanarum antiquitatum ac veteris sculpturae vestigia und Stephanonius' Gemmae antiquitus sculptae, denen je eine Abbildung entnommen ist, stammen aus dem 17. Jahrhundert; Boissards Topographia Romanae urbis, die die übrigen fünf Tafeln beisteuerte, geht sogar bis ins ausgehende 16. Jahrhundert zurück. 13 Lessings Kupfer sind nicht nur künstlerisch recht unbefriedigend, sie geben auch ihre Gegenstände sehr unzuverlässig wieder und mußten zu ihrer Zeit schon als völlig veraltet erscheinen, was Lessing praktisch einräumt, wenn er sie, etwas gezwungen, gerade ihres Alters wegen für besonders vertrauenswürdig erklärt (L. X I 4f.). Widersprüche zwischen seinen Quellen machten schon Lessing mißtrauisch gegen die Verläßlichkeit seiner Abbildungen (L. X I 2of., 33). Aber er sieht darin keine wesentliche Beeinträchtigung seines Vorgehens, er hält es nicht für nötig, mehr und vielleicht zuverlässigere Zeugnisse für seine Behauptungen anzuführen (L. X I 4, 25). Und man muß ihm in gewisser Weise recht geben, betrachtet man die Art, in der sich seine Argumentation auf die Kupfertafeln bezieht: die dargestellten Monumente werden nicht umfassend und gründlich interpretiert, was bei einer fehlerhaften Bildquelle zu schlimmen Verirrungen führen könnte, sondern es sind immer nur leicht faßbare und schwer zu verfälschende Einzelzüge an ihnen, die als Belege für die Beweisführung benutzt werden. So geht es Lessing mehr darum, die

13

Angaben über Lessings Quellen überhaupt und die abgebildeten M o n u mente finden sich in H u g o Blümners Einleitung und Anmerkungen zur Ausgabe der Lessingschen Schrift in Deutsche National-Litteratur. Historisch kritische Ausg. H r s g . v . Joseph Kürsdiner. B d 66, A b t . 2. Berlin, Stuttgart: Spemann [o. J . ] . S. 2 8 5 - 3 6 8 ; sowie in Lessing: Werke. Vollst. Ausg. in 2 5 Teilen. Hrsg. v. Julius Petersen u. Waldemar v . Olshausen. Anmerkungen zu Teil 1 6 bis 2 5 . Berlin, Leipzig: Bong [o. J . ] . S. 7 4 3 - 7 5 3 .

16

gekreuzten Beine aller betreffenden Figuren zu demonstrieren, als darum, Aussehen und Haltung des Todesgenius zu charakterisieren, der allerdings auf den Abbildungen fast durchweg in irreführender Weise dargestellt wird, nämlich als Jüngling statt als Putto und nur selten in der charakteristischen matten, schläfrigen, zusammengesunkenen Haltung, die auch auf unserer Abbildung zu erkennen ist. Hier ist daran zu erinnern, daß Lessing ein sehr distanziertes Verhältnis zur Kunst hatte.14 Er sah keinen Makel darin, daß er die Monumente, über die er schrieb, nur aus zweiter Hand, von Abbildungen her kannte (L. X 2 7 3 ) ; ihm galten hier überhaupt »Beweise aus Büchern mehr [ . . . ] als der Augenschein« (L. X 3 1 1 ) . So tragen denn auch die Abbildungen nichts zu der Abhandlung bei, was nicht auch von einer Beschreibung geleistet werden könnte. Die meisten Kupferstiche werden tatsächlich im Text knapp beschrieben (L. X I 10, 20, 24, 28, 30). Lessing, der im Laokoon die Grenze zwischen Wort- und Bildkunst gezogen hatte, kann sich erlauben, abschätzig über diejenigen zu urteilen, die ohne unmittelbare optische Anschauung nicht auskommen können: Ein anderes ist der Alterthumskrämer, ein anderes der Alterthumskundige. Jener hat die Scherben, dieser den Geist des Alterthums geerbet. Jener denkt nur kaum mit seinen Augen, dieser sieht auch mit seinen

Ge-

danken. (L. X I 37.)

Diese synästhetische Formulierung bezeichnet freilich prägnant eine Tendenz, der die ganze Abhandlung folgt. Lessing versucht gar nicht, den Todesgenius augenfällig, als Werk oder Motiv der bildenden Kunst zu fassen und in den Blick des Publikums zu rücken. E r »sieht« das Todesbild vielmehr »mit seinen Gedanken«, als Inbegriff und Chiffre eines Ideenkomplexes. So wird hier schon das plastische Bildmotiv in einen literarischen Topos verwandelt, was sich in der Folge noch deutlicher zeigen wird. Schließlich sind noch einige Motive hervorzuheben, die bei Lessing nur eine unbedeutende Rolle spielen, aber in der weiteren Diskussion des Themas wichtig werden. 14

V g l . Walther R e h m : Winckelmann und Lessing. In: Walther Rehm: G ö t terstille und Göttertrauer. B e r n : F r a n c i e 1 9 5 1 . S. 1 8 8 - 1 9 1 , 194, 1 9 6 ; Hellmut Sichtermann: Lessing und die Antike, a. a. O . S. 1 6 8 - 1 8 3 .

17

Bereits am Schluß der »Veranlassung« erwähnt Lessing als gleichbedeutende Appositionen »das personifirte Abstraktum des Todes« und »die Gottheit des Todes« (L. X I 7). Auch im Verlauf der Abhandlung wird der Genius bald als mythische Person, als Gottheit, und bald als personifizierter Begriff, als Allegorie bezeichnet, ohne daß zwischen beiden unterschieden würde. Es ist erstaunlich, daß Lessing, der sonst einen scharfen Blick für Begriffsunterschiede hat und nicht leicht durch Doppeldeutigkeiten zu täuschen ist, hier nicht strenger sondert. Es war jedoch ein allgemeiner Zug der Zeit, die eigentümliche Realität des Mythischen zu verkennen und die Götter der Antike auf dieselbe Stufe zu stellen wie willkürlich erfundene allegorische Personen. Selbst Winckelmann, der doch in den Beschreibungen des Torso und des Apollo im Belvedere und an anderen Stellen seiner Kunstgeschichte die Plastik geradezu zum lebendigen Gott erhöht, sieht, sobald er sich generell äußert, in der griechischen Mythologie doch nur ein System von Allegorien. 15 Erst Herder deckte den Unterschied zwischen beiden Bereichen auf, und zwar gerade im Zusammenhang mit unserem Thema, wie sich noch zeigen wird. Ein Gedanke, der für Herder wichtig wird, erscheint bei Lessing nur kurz und am Rande: die Vorstellung, daß die Ähnlichkeit zwischen Tod und Schlaf einen künstlerischen Euphemismus bedeutet, einen »anmuthigen Umweg« (L. X I 43), vergleichbar den mildernden und verschleiernden Ausdrücken, die in den alten Sprachen für den Tod wie für andere ominöse Vorstellungen benutzt wurden. Lessing erwähnt dies lediglich im Zusammenhang mit schrecklichen Todesarten, die er mit dem griechischen Wort y.r|D bezeichnet findet (L. X I 43). Nur hier hat der Euphemismus nach Lessings Vorstellung einen angemessenen Platz, da er sonst der Grundvoraussetzung der ganzen Abhandlung widerspräche, der Tod habe für die Griechen nichts Schreckliches bedeutet (L. X I 4 0 ) . Es ist ren, daß gesetzten spielend. 15

bezeichnend für Lessings Art zu denken und zu argumentieer sich zwischen Oppositionen, zwischen einander entgegenBegriffen bewegt, jeweils ein Extrem gegen das andere ausDiesen Zug in Lessings Geist zeigt die Abhandlung Wie die

Gedanken über die Nachahmung. W. I 162; Versuch einer Allegorie. W. IV 3-9. 18

Alten den Tod gebildet besonders klar und eindringlich. Es werden zwei Bilder kontrastierend einander gegenübergestellt: der Genius mit der Fackel und das Gerippe. Weitere Kontrastpaare ergeben sich aus den Deutungen des Genius: die Ähnlichkeit der Darstellung läßt Schlaf und Tod verwechseln, was als sinnvoll und absichtlich gedeutet wird, aber auch Tod und Amor, was als bloßes Mißverständnis gerügt wird. Diese antithetischen Konstellationen, in die der Todesgenius gesetzt wird, umgeben ihn, wie sich zeigen wird, auch weiterhin bei seiner Laufbahn als dichterisches Bild. Herder Lessing hatte im Laokoon ein Rätsel aufgegeben, als er nur bemerkte, die antike Kunst habe den Tod nicht als Gerippe dargestellt, ohne das antike Todesbild selbst näher zu beschreiben. Es scheint, daß Herder, der im ersten Wäldchen auf diese Bemerkung Lessings eigens hinweist (H. III j8f.), das Rätsel, noch bevor Lessings Abhandlung erschien, auf eigene Faust zu lösen versuchte. Dies bezeugen zwei Gedichte Herders aus dieser Zeit. Das erste, der Lobgesang auf meinen Landsmann Johann

Winckel-

mann, ist unmittelbar unter dem Eindruck von Winckelmanns blutigem Ende, im Sommer 1768 entstanden. 16 Es enthält zahlreiche A n spielungen auf antike Mythologie und Kunst, zumal auf solche Werke und Gestalten, die von Winckelmann behandelt worden waren; Fußnoten geben Erklärungen und Hinweise auf die betreffenden Schriften. Im Hinblick auf Winckelmanns gewaltsamen T o d heißt es: [ . . . ] Nicht dein Bote, Morgenlicht! Aurora raubt den Edeln nicht! Kein Graziefreund! Mit Adlerklaun kam die Furie! riß mit Graun ihn hinweg. (H. X X I X 297.)

Eine Fußnote besagt: »Aurora hinwegnehmend das Griechische Bild des frühen, sanften Todes. Graziefreund, der Bruder des Schlafs, der

18

Abgedr. in Johann Joachim Winckelmann: Briefe, a . a . O . Bd 4. S. 357360. V g l . H e n r y C a r a w a y H a t f i e l d : Winckelmann and his German critics 17JJ-1781. A prelude t o the classical age. N e w Y o r k : King's C r o w n Press 1943. = Columbia Univ. German Studies. N . S. 15 S. i o i f .

19

Griechische ordentliche Tod!« Die Vorstellung von Aurora als allegorischer Darstellung des Todes stammt aus Windkeimanns Versuch einer Allegorie (W. IV 80). Der Ausdruck »Graziefreund« erklärt sich durch eine andere Lesart dieser Fußnote, die das Wort durch »der Grazie Schwager« ersetzt: hier wird auf eine Stelle der Ilias angespielt (14, 267-269), wo der Schlaf mit der Grazie Pasithea vermählt wird (vgl. auch L. X I 12, H. X V 460). Gerade dies weit hergeholte Beiwort spricht dafür, daß Herder jeden erdenklichen Hinweis aufgriff, der das antike Todesbild als freundlich erscheinen ließ. Ebenfalls um 1768 zeigt sich in der ersten Fassung des Gedichts Amor und Psyche (H. X X I X 3 0 5 - 3 1 2 ) Herders erster Ansatz, bildliche Darstellungen der bekannten Fabel aus Apuleius' Metamorphosen als Bilder des Todes zu interpretieren. Auch hier mag Herder von dem kryptischen Hinweis des Laokoon angeregt und auf die falsche Fährte gelockt worden sein. Allerdings verfolgte er diesen Gedanken auch später noch weiter. Jedenfalls war Herders Interesse an dem Thema schon erweckt, bevor Lessings Abhandlung erschien. Überdies fühlte sich Herder von diesem Werk persönlich angesprochen (H. X V 332, Lesart 3), da Lessing hier die Laokoon-Kritik des ersten Wäldchens ehrenvoll hervorhob und beantwortete (L. X I 17). 1774 veröffentlichte Herder in einem »Provinzialblatt« (H. X V 333), im »Hannoverschen Magazin« seine eigene Abhandlung Wie die Alten den Tod gebildet? Seine Absicht war dabei, wie er selbst erklärt, durchaus eine Bestätigung Lessings. Der Todesgenius ist nicht nur eine angenehmere Vorstellung als das Gerippe, er ist auch wahrer und treffender. Der natürliche Tod kommt, selbst nach schwerem Todeskampfe, doch als erlösendes Einschlafen. Das Gerippe, zu dem die Leiche verwest, ist nur der tote Stoff, der keinen Bezug zum fühlenden Ich des lebenden Menschen hat (H. V 658). Erst das »gotische« Mittelalter konnte im Skelett das Bild des Todes sehen (H. V 6 j 8 f . ) . Mit Nachdruck stellt Herder dar, daß der Genius mit der Fackel sehr wohl mit dem Christentum zu vereinbaren sei, ja Herder sieht in der Gestalt sogar eine Vorahnung des Christentums und der von ihm verheißenen Auferstehung der Toten (H. V 673ff.). Diese Pointe und der leicht predigthafte Ton charakterisieren den Aufsatz fast als Erbauungsschrift. Eine Reihe von Gedanken in diesem Artikel bringt das Thema 20

allerdings ein gutes Stück über Lessings Resultate hinaus, widerspricht diesen sogar in gewisser Weise. Noch deutlicher werden die neuen Ideen Herders in einer späteren Arbeit gleichen Titels, die 1786 in der zweiten Sammlung der Zerstreuten Blätter publiziert wurde. Hier wird zwar manches wörtlich aus der Schrift von 1774 wieder aufgenommen, aber der Stil des Ganzen ist doch anders: hier liegt nicht mehr ein erbaulicher Traktat vor, sondern eine nüchtern besonnene antiquarische Abhandlung mit einer Fülle von Materialien, klarer Gliederung, rationaler Argumentation und pointiert formulierten Thesen. Da Herders Tendenzen in der späteren Schrift deutlicher zutage liegen und leichter faßbar sind, kann die erste Fassung als bloße Vorstufe betrachtet und in dieser Untersuchung weitgehend übergangen werden. Herder weicht schon darin von Lessing ab, daß er die begrifflichen Voraussetzungen seiner Betrachtung analytisch reflektiert, womit er einen Gedankengang des ersten Wäldchens fortführt. Er hatte dort eine Antithese, die im Laokoon der Grenzziehung zwischen Kunst und Dichtung diente, dahin abgewandelt, daß sie die Unterscheidung zwischen Mythologie und Allegorie ermöglichte. Lessing hatte behauptet, die »Götter und geistigen Wesen« erschienen in der Kunst als »personifirte Abstracta« mit einem konstanten Typus, der sie jederzeit »erkenntlich« macht - diese »Erkenntlichkeit« ist ja dann auch eine wichtige methodische Voraussetzung in seiner Abhandlung Wie die Alten den Tod gebildet - , in der Dichtung hingegen seien diese Gestalten »wirkliche handelnde Wesen« (L. I X 63), Personen mit menschlichen Eigenschaften und Affekten. Herder dagegen findet, daß die Kunst nur zum Notbehelf, wenn die »Erkenntlichkeit« nicht anders zu erreichen ist, solche Gestalten als »personifirte Abstracta« mit gleichbleibenden Charakteristiken darstellt. Sobald aber die Gestalten in einer Handlung begriffen sind, die sie eindeutig kennzeichnet, tritt auch in der Kunst »die Historische Mythologie in die Stelle der Emblematischen« (H. I I I 88), und die Personen erhalten in der bildenden Kunst eine menschliche Individualität genauso wie in der Dichtung. Unmerklich schiebt Herder bei dieser Erörterung Lessings vagen Sammelbegriff »Götter und geistige Wesen« immer mehr beiseite und spricht stattdessen bestimmter von der Mythologie. Diese ist für ihn in der Dichtung beheimatet, genauer bei Homer, und die Götter Ho21

mers sind nicht »eine Gallerie Abstrakter Ideen« (H. I I I 89), eine »Maskerade Symbolischer und Allegorischer Puppen« (H. I I I 93), sondern »himmlische I n d i v i d u a « (H. III 89), » P e r s o n e n , mit vollständig bestimmter Denkart, mit Schwachheiten und Stärke, mit Fehlern und Tugenden, mit allem, was zu einem daseyenden Wesen gehört« (H. III 103). Venus, die auf Cupido zürnt oder um den getöteten Adonis trauert, ist nicht »das Abstraktum der Liebe«, sondern die » G ö t t i n d e r L i e b e « ( H . I I I 91). In seiner Abhandlung über den Todesgenius nun faßt Herder diesen Gedanken schärfer und konsequenter. Er trennt hier »mythologische Götter« und »allegorische Wesen« streng voneinander, da sie »der Art ihrer Bestandheit nach verschieden« sind. Die Gestalten der Mythologie sind »vestbestimmte, gegebne Personen« (H. X V 437), die bei allen wechselnden Zuständen und Handlungen ihre Identität doch nie verlieren. Die Genien des Todes und des Schlafes hingegen sind allegorische Wesen, das heißt »vorüberfliegende Kinder der Phantasie und der Sprache« (H. X V 441), die von Künstlern wie Dichtern je nach Bedarf abgewandelt und mit neu erfundenen Attributen ausgestattet werden können, wie es der jeweiligen Komposition des betreffenden Kunstwerks entspricht. Wenn Schlaf und Tod als Brüder bezeichnet werden, so ist damit nicht eine reale genealogische Verwandtschaft gemeint, sondern es wird lediglich die Ähnlichkeit der Vorstellungen angedeutet, indem die Ähnlichkeit ihrer Personifikationen auf allegorische Weise ausgedrückt wird. Herder machte damit eine Entdeckung, die über den hier erörterten Gegenstand weit hinausreicht und eine Wende im Verständnis der Mythologie brachte.17 Hatte etwa die Einleitung in die Götter-Lere und Fabel-Geschichte der ältesten Griechischen und Römischen Welt von Christian Tobias Damm, dem Berliner Gymnasiallehrer Winckelmanns,18 noch die homerischen Götter als »handelnde Abstrakte« 17

18

Ü b e r die weiteren Zusammenhänge vgl. Fritz Strich: Die Mythologie in der deutschen Literatur von Klopstock bis Wagner. (Unveränd. reprograf. Nachdr.) B d 1 . Bern, München: Francke ( 1 9 / 0 ) . S. i 3 4 f i . , 1 4 7 - 1 5 1 ; Klaus Ziegler: M y t h o s und Dichtung. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Begr. v . Paul Merker u. W o l f g a n g Stammler. 2. A u f l . B d 2 S. $ 6 9 - 5 8 4 , bes. S. $7of. M i r w a r nur die 4. A u f l . des seit 1 7 6 3 o f t neu aufgelegten, in den Überarbeitungen von Fr. Schulz und K o n r a d L e v e z o w noch im 1 9 . Jahrhundert

22

(H. I I I 89), als allegorische Personifikationen behandelt, wie Herder mit Recht rügte, so stellte später Karl Philipp Moritz in der Einleitung zu seiner Götterlehre fest: D i e Göttergeschichte der Alten durch allerlei Ausdeutungen zu bloßen Allegorien umbilden zu wollen, ist ein ebenso törichtes Unternehmen als wenn man diese Dichtungen durch allerlei gezwungene Erklärungen in lauter wahre Geschichte zu wandeln sucht. 19

Indem Herder den Todesgenius als Allegorie kennzeichnet, gibt er die scharfumrissene und ständig gleichbleibende Form preis, die Lessing - seiner Denkweise wie den Anforderungen einer polemischen Darstellungsart entsprechend — dem Bild beigelegt hatte. Den Allegorien, »Geschöpfen der Einbildungskraft der Dichter und Künstler« (H. X V 437), billigt Herder eine unerschöpfliche Wandelbarkeit zu. Geht man vom allegorischen Bild auf den Begriff zurück, der sich darin ausdrückt, so findet sich von da aus der Weg zu einer Vielzahl anderer Allegorien derselben Bedeutung. Umgekehrt kann eine so leicht verständliche Chiffre wie die gesenkte Fackel lediglich als Negation auch etwas anderes bedeuten als den Tod. Im zweiten Brief der Abhandlung breitet Herder eine geradezu verwirrende Vielfalt antiker Monumente aus, wo einerseits Genien mit den verschiedensten Attributen auf Grabmälern erscheinen, die beiden Brüder Schlaf und Tod sich also »in die grosse Anzahl ihrer Brüder, aus deren Geschlechte sie sind« (H. X V 435), verlieren, andererseits Genien mit gesenkter Fackel verschiedene Bedeutungen haben, so daß diese »redenden Attribute [ . . . ] zwar um Einen Hauptbegrif gehn und ihn sehr verständlich ausdrücken, immer aber von der Composition, in welche sie der Künstler setzte, ihre nähere Bedeutung nehmen« (H. X V 436). Sowohl bei dem Bild wie bei dessen Deutung löst Herder die strengen Grenzen auf, die Lessing gezogen hatte, und stellt Bezüge und Verbindungen her, die oft ungreifbar und zerfließend, aber immer geistreich und anregend sind. Zieht man den Wissensstand der Zeit und die geringe Anzahl der zugänglichen Denkmäler in Rechnung, so werden diese Bemerkungen

19

verbreiteten Werks zugänglich (Berlin: W e v e r 1 7 7 5 ) . Die Reduktion der heidnischen Götter zu bloßen Allegorien entspringt hier offenbar orthodox protestantischer Bedenklichkeit. K a r l Philipp Moritz: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. L a h r : Schauenburg ( 1 9 4 8 ) . S. 2.

23

Herders den spätrömischen Sarkophagreliefs erstaunlich gerecht. Der Todesgenius ist dort nur ein Motiv in einer Fülle von klischeehaft wiederholten Dekorationselementen, die gegenseitig austauschbar sind und untereinander beliebig vielfältige Verbindungen eingehen können. Ebenso wichtig ist eine weitere neue Idee Herders, die Behauptung, daß der Todesgenius »nicht den Tod vorstellen sondern — i h n n i c h t v o r s t e l l e n , v i e l m e h r v e r h ü t e n s o l l t e , daß man nicht a n i h n d ä c h t e « (H. XV450). 2 0 Der »eigentliche Tod« sei für die Griechen »eine fürchterliche und mächtige Gottheit« (H. X V 449) gewesen, weshalb er in Sprache und Dichtung euphemistisch umschrieben wurde. Ebenso lasse sich auch der Todesgenius als »Euphemismus der Kunst« verstehen, der den Tod nicht direkt darstellen, sondern »seine Idee verdrängen soll« (H. X V 4 5 1 ) . Der Genius ist nur eines von mehreren möglichen Bildern des Todes, er stellt eigentlich den Schlaf dar, der hier als »Vikar« (H. V 663), als Stellvertreter des Todes dient, wie auch in der Sprache der Ausdruck »ewiger Schlaf« für den Tod eingesetzt wird. Herder entdeckt so mit erstaunlichem Scharfblick beiläufig den psychologischen Mechanismus der Verdrängung - er benutzt schon das Wort »verdrängen«. Er legt damit auch das Motiv bloß, das wenn nicht zur Entdeckung, so mindestens zur Popularisierung des Todesgenius im 18. Jahrhundert geführt hat: für die Hinwendung zum Diesseits und zur Autonomie des Menschen in der Welt, die von der Aufklärung zur Zeit der Klassik hinüberreicht, mußte der Gedanke an den Tod, das Ende der zeitlichen Existenz, wie eine Störung im Weltbild wirken, von der man gern den Blick abwandte. Die neue Wendung, die Herder damit dem Thema gibt, steht den Absichten Winckelmanns und Lessings diametral entgegen. Herder selbst scheint dies gar nicht zu erkennen; die Konsequenzen, die er aus dem Gedanken zieht, führen in eine völlig andere Richtung. Und doch wird hier eine antiklassische Strömung eingeleitet, die sich von der Frühromantik bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hinzieht. Novalis' fünfte Hymne an die Nacht, wo der Todesgenius der Antike ausdrück-

20

D i e N e g a t i o n des abschließenden Nebensatzes ist wohl analog zu lat. »prohibere ne« zu verstehen und w ä r e nach neuerem Sprachgebrauch sinngemäß wegzulassen.

24

lieh als eine ohnmächtige Illusion angesichts des unenträtselten Todes hingestellt wird, geht direkt auf Herder zurück.21 Wenn Nietzsche das Apollinische als Täuschung, als Inbegriff zahlloser »Illusionen des schönen Scheins« kennzeichnet, »durch deren Wirkung wir von dem dionysischen Andränge und Uebermaasse entlastet werden sollen«,22 so klingt dies wie eine letzte verallgemeinernde Konsequenz aus Herders Entdeckung des euphemistischen Charakters des Todesgenius. Aber dergleichen radikale Folgerungen liegen Herder, wie gesagt, fern. Seinem Gefühl und seiner Absicht nach steht er durchaus in der Nachfolge Winckelmanns und Lessings. Er will »das liebliche Bild nicht zerstören, sondern es nur an seinen Ort stellen« (H. X V 432). Viel wichtiger als das Moment des Truges ist ihm am Euphemismus das Moment des Trostes. Er verfolgt es über den Todesgenius hinaus im weiteren Bereich der antiken Grabornamentik und erschließt damit eine völlig neue Dimension. Der Genius mit der Fackel bezeichnet lediglich die Ruhe im Grab als Schlaf. In anderen Bildern erkennt Herder die euphemistische Absicht, bei der Darstellung des Zustandes nach dem Tod » d e r K u n s t s ü ß e r e T r ö s t u n g e n a n z u b i l d e n « (H. X V 4 5 8 ) . Ausgangspunkt ist die antike Vorstellung, daß sich beim Tode die Seele vom Körper trennt und im jenseitigen Reich der Schatten weiterexistiert. Die Seele, Psyche, ist mit dem Bild des Schmetterlings im Griechischen bis zur Homonymie verknüpft, und Schmetterlinge oder auch weibliche Gestalten mit Schmetterlingsflügeln sind in den mannigfaltigsten Situationen und Kombinationen auf antiken Grabmälern zu finden. Herder zieht das Märchen von Amor und Psyche in den Kreis dieser Bilder, womit er ein Thema wieder aufnimmt, das ihn schon früher beschäftigt hatte. Sein Gedicht dieses Titels ist in drei Fassungen erhalten; es erzählt von zwei Liebenden,

21

22

Vgl. Rudolf Unger: Novalis' Hymnen an die Nacht, Herder und Goethe. In: Rudolf Unger: Herder, Novalis und Kleist. (Unveränd. reprograf. Nachdr.) Darmstadt: Wissensch. Buthges. 1968. S. 2 4 - 6 1 , bes. S. 4 9 - 5 3 ; Heinrich Weinstock: Die Tragödie des Humanismus. Wahrheit und Trug im abendländischen Menschenbild. 4. Aufl. Heidelberg: Quelle & Meyer i960. S. 2 2 5 - 2 3 0 , s. auch S. 2 i 8 f . Die Geburt der Tragödie. Oder: Griechenthum und Pessimismus. In: Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausg. Hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Abt. 3, Bd 1. Berlin, N e w Y o r k : de Gruyter 1 9 7 2 . S. 1 5 1 , 134.

2J

die Arm in Arm sterbend zum Standbild erstarren und so Amor und Psyche ( » S e e l ' und L i e b e « H . X X I X I J 2 ) darstellen. In derartigen Paaren auf antiken Grabmälern sieht Herder nun Psyche, die Seele des Verstorbenen, die vom Schlaf - d. h. vom Tod — umarmt und weggeführt wird. Die liebevolle Geste der Umarmung, wohl auch des Kusses, legt den Gedanken an Entführung und Vermählung nahe, und so ergibt sich ein »Übergang zu einer Menge neuer Vorstellungen« (H. X V 462), vor allem zur Einsetzung Amors, der ja auch eine Fackel haben kann, an die Stelle des Genius.23 Damit erst spielt, so meint Herder, das Bild des Paares in Apuleius' Fabel von Amor und Psyche hinüber.24 Herder entdeckt in der Fabel eine Reihe von Episoden, die das Schicksal der Seele nach dem Tode, zumal die Überführung ins Jenseits, allegorisch darstellen können und »den Künstler reizen mußten, sie zu Emblemen des Todes zu bilden« (H. X V 462). Herder macht so die strenge Scheidung rückgängig, die Lessing zwischen dem Todesgenius und Amor aufgerichtet hatte. Er wird darin übrigens von der neueren Archäologie bestätigt. Wichtiger ist, daß Herder damit, wenn auch zunächst im bloßen Spiel von Bildern und Begriffen, die enge Beziehung zwischen Tod und Liebe herstellt, die in der Romantik und später im 19. Jahrhundert zu einem zentralen Thema wird. Als Zeugnisse dafür, »was die Alten über den künftigen Zustand Tröstendes geträumt haben« (H. X V 458), betrachtet Herder auch andere » a n m u t h i g e V o r s t e l l u n g e n « (H. X V 4 6 6 ) auf antiken Gräbern. So bezeichnet der Zug von Delphinen, blasenden Tritonen, Genien und dergleichen übers Meer oder der Zug der Bacchanten mit musizierenden Genien und Zentauren die Reise der Psyche ins Jenseits, sogar wenn diese selbst im Bilde gar nicht gezeigt wird. Spiele von Genien können auch »Andenken aus dem Leben des Verstorbnen« bedeuten (H. X V 467^). Andere Bilder stellen das » R e i c h d e s P l u t o « ( H . X V 4 6 8 ) oder auch Elysium und » d a s L e b e n m i t d e n G ö t t e r n « (H. X V 469) dar, wobei Herder zugibt, daß in vielen mytho2S 24

Vgl. das spätere Gedicht Die Liebe im Todtenreiche (H. X X I X 124). In der ersten Fassung der Abhandlung (H. V 668) und in einer nachträglich dem Gedicht Amor und Psyche beigefügten Fußnote bezeichnet Herder sogar die Fabel als eine spätere Erfindung, der die Darstellung des Paares in der Kunst zeitlich vorangegangen sei.

26

logischen. Szenen die Beziehung auf den Tod fast verlorengegangen ist. Auch andere »fröliche Bilder« (H. X V 468), deren Sinn im einzelnen kaum noch auszumachen ist - »alle die K r ä n z e u n d B l u m e n , die Trauben und Früchte, die Schwäne und Tauben, die bald trinken, bald sich küßen, bald Früchte kosten u. f.« (H. X V 469) - haben doch allgemein einen Bezug zum Leben im Jenseits, dem sie Fröhlichkeit, Jugend, Frühling und Liebe zuschreiben. Herder bezieht hier selbst die Vorstellung der Vergötterung von Kaisern und Kaiserinnen ein und schließt diesen weiten Uberblick »mit dem Bilde der treuen Hände, die sich auch für jene Welt zusammenschlingen« (H. X V 471). Diese Bilderwelt, die Herder auch von seinen Übersetzungen aus der griechischen Anthologie her geläufig sein mochte, taucht später, unter charakteristischer Abwandlung des Sinnes, bei Goethe wieder auf. Mit all diesen Betrachtungen entfernt sich Herder unversehens immer weiter von dem Todesgenius. Dieser hat mit den Jenseitsmotiven nur noch die euphemistische Grundtendenz gemeinsam. Aber gerade die lange Abschweifung vom Thema erweist den durchaus positiven Wert, den Herder dem Euphemismus in der antiken Grabkunst beilegt. Herder erkennt hier nämlich in der bildhaften Darstellung des Lebens nach dem Tode eine Vorausdeutung auf das Christentum, das die bloßen Bilder, die »Kinderspiele«, durch seine »hellere Wahrheit« verdrängt und die »Hoffnung eines anderen Lebens« zum »Volksglauben« gemacht hat (H. X V 484^). Die erste Fassung des Aufsatzes, die hier ausführlicher ist, spricht von »Ritzen, wodurch auch das symbolische Alterthum durchblickte zum Stral der Unsterblichkeit und höhern Genesung« (H. V674). Dieser Gedanke wird in Novalis' fünfter Hymne an die Nacht fruchtbar gemacht. Indem Herder vom Bild des Todesgenius zu anderen sepulkralen Motiven der Antike übergeht und diese als Jenseitsvorstellungen deutet, kehrt er sich auch von Lessings rein diesseitiger Todesauffassung ab. Im Gegensatz zu diesem ist ihm selbst das Schicksal der Seele nach dem Tode nicht gleichgültig, und wenn er hier dem christlichen Gedanken von der Auferstehung folgt, so kann ihm schließlich auch in diesem Sinn der als Personifikation des Schlafes verstandene Todesgenius als passendes Bild erscheinen: wie dem Schlaf das Erwachen, so folgt dem Tod die Auferstehung:

27

Wenn also irgendwohin, sollte man denken, so gehört der Engel des Schlafs mit der gesenkten Fackel v o r die Grabmähler der Christen, da der Stifter ihrer Religion es zu einem Hauptzweck seiner Sendung machte, den T o d

in einen S c h l a f

zu v e r w a n d e l n .

(H.XV481.)

Herder kann übrigens noch einen weiteren Grund anführen, der den Todesgenius mit dem Christentum vereinbar macht: da er das Bild als Allegorie deutet, nimmt er ihm jegliche mythische Qualität, die es strenger auf das antike Heidentum hätte einschränken können: A u d i in christlichen Tempeln können diese Bilder stehen: denn sie sind nicht heidnisch. V o n keinem Thanatos, des Pluto Priester ist hier die Rede, sondern v o n einem reinen Symbol der Menschheit, dem Schlaf und seinem Bruder. ( H . X V 4 5 7 . )

Und mit Recht kann Herder darauf hinweisen, daß die Genien, ebenso wie andere ursprünglich heidnische sepulkrale Bildmotive, auf frühchristlichen Sarkophagen zu finden sind (H. X V 484). Herders Abhandlung modifiziert oder widerlegt noch einige weitere Behauptungen Lessings. So läßt sie nicht gelten, daß in der Antike die Larven als Skelette dargestellt wurden. In dem Zusammenhang unterscheidet Herder zwischen griechischen und etruskisch-römischen Vorstellungen und geht auch hiermit über Lessings monolithisches Antikenbild hinaus. Er behauptet sogar, daß die Genien mit den Fackeln ursprünglich aus etruskischer Tradition stammen und erst spät mit dem homerischen Brüderpaar Schlaf und Tod identifiziert wurden - aber dies bleibt bloße Randbemerkung (H. X V 479). Ein Vergleich zwischen den Abhandlungen Lessings und Herders zeigt einen charakteristischen Kontrast, der mehr umfaßt als den bloßen Inhalt der Aussage. Schon Herder erkannte, daß Lessings Schrift in besonders hohem Maß von der »Manier«, dem persönlichen Denkstil ihres Autors geprägt ist, und rechtfertigte damit, daß er selbst den Gegenstand noch einmal aus einer anderen Sicht darstellte (H. X V 333). Lessings Untersuchung ist nach einer deutlich sichtbaren Disposition gegliedert; Herder schreibt eine lockere Folge von Briefen. Lessing plädiert vor dem Publikum wie vor einem Tribunal, um durch die Stringenz seiner Beweise ein Urteil zu seinen Gunsten zu erzwingen; Herder zieht vertraulich und mit suggestiver Lehrhaftigkeit seinen fingierten Korrespondenten, den er gelegentlich als Freund anredet (H. X V 448, 483), in den Fortgang seiner Betrachtung hinein. 28

Während Lessing streng und folgerecht Beweise zu einer Kette verbindet, die seine anfangs aufgestellten Thesen sichert, überläßt sich Herder dem Schweifen seiner Gedanken, das ihn fast unmerklich von seinem Ausgangspunkt weg in neue und weitere Bereiche führt und zuweilen auch der Inkonsequenz verfallen läßt. Lessing fixiert seinen Gegenstand und erfaßt ihn, indem er daran harte Umrisse und schroffe Gegensätze statuiert: »sein Scharfsinn durchschneidet«, wie Herder sagt (H. X V 333); dieser dagegen weicht die festen Grenzen der Lessingschen Vorstellungen auf, spielt beweglich assoziierend mit Analogien und Variationen, findet gleitende Übergänge und eröffnet dem Blick kaum übersehbare Räume. 25 Goethe Im achten Buch von Dichtung und "Wahrheit schreibt Goethe über den Eindruck, den Lessings Laokoon auf ihn machte, unter anderem: A m meisten entzückte uns die Schönheit jenes Gedankens, daß die Alten den T o d als den Bruder des Schlafs anerkannt, und beide, wie es Menächmen geziemt, zum Verwechseln gleich gebildet. Hier konnten w i r nun erst den Triumph des Schönen höchlich feiern und das Häßliche jeder A r t , da es doch einmal aus der W e l t nicht zu vertreiben ist, im Reiche der Kunst nur in den niedrigen Kreis des Lächerlichen verweisen. (G. X X V I I

165.) Man ist versucht, diesen Absatz eher auf die Abhandlung Wie die Alten den Tod gebildet zu beziehen als auf den Laokoon und hier einen redaktionellen Kunstgriff zu vermuten, womit der alte Goethe seine Jugendeindrücke dem Darstellungszusammenhang zuliebe umordnete: nach Inhalt und Tendenz steht die Abhandlung in einer Reihe mit den Schriften Winckelmanns und dem Laokoon, über die in diesem Abschnitt, im Zusammenhang mit Goethes Leipziger Kunststudien bei Oeser, berichtet wird, aber sie erschien erst ein Jahr nach Goethes Abreise aus Leipzig, so daß sich ein Anachronismus ergeben hätte, wenn sie schon dort erwähnt worden wäre. Tatsächlich beschränkt sich diese Bemerkung Goethes jedoch völlig 25

V g l . K u r t M a y : Lessings und Herders kunsttheoretische Gedanken in ihrem Zusammenhang. (Nachdr.) Nendeln/Liechtenstein: Kraus 1 9 6 7 . = G e r m a nische Studien. 2 j . Bes. S. i 8 f . , 1 5 1 , 1 5 3 .

29

auf das, was die erwähnte Fußnote in Lessings Laokoon schon über die homerische Szene mit dem Bruderpaar Tod und Schlaf besagt. Und die erhaltenen Briefe und Notizen Goethes aus diesen Jahren bezeugen wohl ein intensives Studium des Laokoon und Bekanntschaft mit Herders Kritischen Wäldern, lassen aber nicht erkennen, ob Goethe sich damals mit dem späteren Werk Lessings über das antike Todesbild überhaupt beschäftigt hat.28 Der Zug der brüderlichen Verwandtschaft und Ähnlichkeit des Todes und des Sdilafs wird übrigens auch sonst in Goethes Werken stärker betont und öfter benutzt als das Attribut der gesenkten Fackel. Wie dem auch sei, auf jeden Fall gibt die Betonung des Motivs als »Triumph des Schönen« mindestens ebenso sehr die Ansicht des zurückblickenden älteren wie die des jungen Goethe wieder. Goethes Aufmerksamkeit scheint erst vor der italienischen Reise durch Herders Anregung nachdrücklich auf das Thema gelenkt worden zu sein. Auf der Reise hatte Goethe Herders zweite Abhandlung über den Todesgenius, die gerade in den Zerstreuten Blättern erschienen war, bei sich. Er mußte dies Werk im Sinne haben, als er in Verona beim Besuch des Museum Maffeianum »viel an Herdern« (G. L X I X 200) dachte, wie das Tagebuch bezeugt.27 Diese bekannte Antikensammlung enthielt vor allem griechische und römische Grabmonumente mit Inschriften. Schon Lessing, dem die Kupferstiche des Museums vorlagen, konnte hier eine »ganze Erndte von Figuren« (L. X I 2 5 ) finden, die den Todesgenius darstellten.28 Zwei Jahre nach Goethe kam auch Herder selbst an dieselbe Stelle und wurde von besonderer Rührung erfaßt, da ihm hier plötzlich bildhaft entgegentrat, womit sich seine literarischen Arbeiten - die Übersetzung griechischer Epigramme, die Abhandlung darüber und die über den Todesgenius - gerade kurz zuvor beschäftigt hatten: 28

27

28

Vgl. Der junge Goethe. Neu bearb. Ausg. Hrsg. v. Hanna Fischer-Lamberg. Bd 1. Berlin: de Gruyter 1963. S. 274, 282, 43of.; Bd 2. S. 2 7 1 . Zum Folgenden vgl. Gerhart Rodenwaldt: Goethes Besuch im Museum Maffeianum zu Verona. Berlin: de Gruyter 1942. = 102. Winckelmannsprogramm d. Ardiäolog. Ges. zu Berlin; Franz Koch: Goethes Stellung zu Tod und Unsterblichkeit. Weimar: Goethe-Ges. 1932. = Schriften d. Goethe-Ges. 45. S. 2i8f. Eine Tafel mit vier Todesgenien, die Lessing hier erwähnt, gibt Rodenwaldt, a. a. O. S. 1 1 , wieder.



[...Junter den alten Steinen [ . . . ] übernahm mich das Andenken unsrer gemeinschaftlichen Freude und Arbeit so sehr, daß ich in ein Nachdenken kam, das midi fast zu Tränen erweichte. Da standen die Gegenstände der Griechischen Epigramme ruhig da, die Hände, die sich einander auch auf dem Grabstein mit Treue gaben, und die Kinder zwischen ihnen. Hier eine häusliche Gesellschaft um den Tisch, dort ruhende Personen, vier-, fünfmal auch unser Freund Schlaf mit der gesenkten Fadsel. 2 ' Auch Goethe wurde von den Steinen des Museums zu Tränen gerührt. Er widmet ihnen eine ausführliche Beschreibung im Reisetagebuch, die, in geglätteter Neuformulierung, auch später in die Italienische

Reise

aufgenommen wurde: Der Wind, der von den Gräbern der Alten herweht, kommt mit Wohlgerüdien über einen Rosenhügel. Die Grabmäler sind herzlich und rührend und stellen immer das Leben her. Da ist ein Mann, der neben seiner Frau aus einer Nische wie zu einem Fenster heraussieht. D a stehen Vater und Mutter, den Sohn in der Mitte, einander mit unaussprechlicher Natürlichkeit anblickend. Hier reicht sich ein Paar die Hände. Hier scheint ein Vater, auf seinem Sofa ruhend, von der Familie unterhalten zu werden. Mir war die unmittelbare Gegenwart dieser Steine höchst rührend. Von späterer Kunst sind sie, aber einfach, natürlich und allgemein ansprechend. Hier ist kein geharnischter Mann auf den Knieen, der eine fröhliche A u f erstehung erwartet. Der Künstler hat mit mehr oder weniger Geschick nur die einfache Gegenwart der Menschen hingestellt, ihre Existenz dadurch fortgesetzt und bleibend gemacht. Sie falten nicht die Hände, schauen nicht in den Himmel, sondern sie sind hienieden, was sie waren und was sie sind. Sie stehen beisammen, nehmen Anteil an einander, lieben sich, und das ist in den Steinen, sogar mit einer gewissen Handwerksunfähigkeit, allerliebst ausgedrückt. (G. X X X 63.) So eindrucksvoll diese Sätze sind, bezeugen sie doch einen Sachverhalt, der im Zusammenhang unseres Themas fast peinlich enttäuschend ist: nach all dem Aufsehen, das der Todesgenius im literarischen Deutschland erregt hat, wird Goethe hier, vermutlich als erster deutscher Dichter, zum ersten Mal wirklich und leibhaftig vor originale Monumente mit antiken Todesgenien gestellt, die er unmöglich übersehen kann 29

Brief Herders an seine Frau vom j. Sept. 1788, zitiert nach Deutsche Briefe aus Italien. Von Windcelmann bis Gregorovius. Gesammelt u. hrsg. v. Eberhard Haufe. (Hamburg): Wegner (1965). S. 89. Rodenwaldt, a . a . O . S. 27 f., mißdeutet wohl die Anspielungen auf Herders eigene Schriften. S. auch Ernst Beutler: Vom griechischen Epigramm im 18. Jahrhundert. Leipzig: Voigtländer 1909. = Probefahrten. 15. S. 59. Zu der Konjektur, die Beutler hier bietet, besteht freilich kein Anlaß.

31

und er übergeht sie mit völliger Nichtachtung, erwähnt sie nicht einmal mit einem Wort. Dieses Verschweigen erhält besonderes Gewicht gerade durch die enthusiastische Aufmerksamkeit, die Goethe anderen Denkmälern schenkt. Man hat bemerkt, daß es sich bei diesen fast ausschließlich um Werke griechischer Kunst handelt, wohingegen Goethe auch für die anderen zahlreich vorhandenen römischen Monumente keinerlei Interesse zeigt.30 Aus Goethes eigenen Worten geht freilich nicht hervor, ob er sich dieser Unterscheidung überhaupt bewußt war. Der leitende Gedanke, unter dem er selbst die aufgeführten Denkmäler zusammenfaßt, ist die Vorstellung der »Gegenwart« des Lebens auf dem Grabstein, der Wiederherstellung und Fortsetzung der irdischen Existenz des Verstorbenen durch dessen bleibendes Abbild. Der Nachdruck, mit dem diese Idee der Fortdauer ausgedrückt wird, geht bis zur Tautologie: »sie sind hienieden, was sie waren und was sie sind.« Die Fassung der Italienischen Reise geht in dieser Betonung der Diesseitigkeit noch über die Tagebuchversion hinaus - der Goethe von 1 8 1 6 , der Wortführer der »Weimarischen Kunst-Freunde« mag die Gelegenheit gern ergriffen haben, schon in den Gedanken des Reisenden von 1786 die Frontstellung des »Altheidnischgesinnten« gegen das »neu-katholische Künstlerwesen« (G. C I I 27) der romantischen Maler hervorzukehren. Aber dies ist doch nur eine Nuance der Formulierung. Schon im Tagebuch finden sich alle entscheidenden Begriffe und auch der abschätzig vergleichende Seitenblick auf christliche, zum Jenseits hin orientierte Grabmonumente. Die von Goethe beschriebenen Szenen erinnern an die in Herders Abhandlung erwähnten Bilder. Durchweg handelt es sich ja um »Andenken aus dem Leben des Verstorbnen« (H. X V 47f.), aber es gibt auch konkretere Übereinstimmungen, so etwa die dextrarum iunctio, 30

Rodenwaldt, a. a. O . S. 2 4 . Hier, S. 1 7 - 2 6 , werden die beiden Fassungen des Goetheschen Texts nebeneinandergehalten und die beschriebenen Denkmäler vorgestellt. Ähnlich werden antike Grabmäler beurteilt in Mme. la Baronne de Staël Holstein: Corinne ou l'Italie. 8 m e éd. T . 1. Paris: N i c o l l e 1 8 1 8 . S. 1 0 8 , u y f . Noch in Gerhart Hauptmanns Ketzer von Soana w i r d ein antiker Sarkophag in diesem Sinn gedeutet; dort w e r den übrigens auch beiläufig T o d und Schlaf als Brüder bezeichnet. Gerhart H a u p t m a n n : Sämtliche Werke. (Centenar-Ausg.) Hrsg. v . H a n s - E g o n Hass. B d 6. (Frankfurt/M., Berlin): Propyläen V e r l . 1 9 6 3 . S. 1 2 9 , 1 3 8 .

32

die Vereinigung der Hände (H. X V 4 7 1 ) , die J-Ierder dann auch in seinem Bericht über das Museum Maffeianum wiederholt. Die Szene mit dem Vater auf dem Sofa inmitten seiner Familie hatte Goethe ursprünglich als Abschied des Sterbenden gedeutet, w o f ü r er auch bei Herder Vorbilder finden konnte (H. X V 446^). U n d von allen Einzelheiten abgesehen haben Goethes Beschreibungen den vorherrschenden Ausdrude von Heiterkeit und Frieden, Herzlichkeit und Liebe mit den euphemistischen Grabbildern Herders gemeinsam. Von dem Grunde dieser Ubereinstimmung jedoch hebt sich umso kräftiger ein wesentlicher Unterschied ab: was bei Herder ein Bild aus dem Jenseits, eine Vorahnung des künftigen Zustandes nach dem Tode ist, erscheint bei Goethe als ein Bild des Diesseits, eine Fortsetzung des irdischen D a seins. Derselben radikalen Umdeutung unterwirft Goethe auch die Herderschen Bilder, die er in das erste Venetianische

Epigramm

auf-

nimmt. Mit dieser Rückwendung zum Diesseits kommt Goethe der H a l tung zum Tode näher, die sich in Lessings Abhandlung vom Todesgenius ausdrückt. D a er aber hier auf Grabsteinen Darstellungen des Lebens fand, so erweckte dies in ihm einen Gedanken, der ihm w o möglich schon vertraut war 3 1 und den er jedenfalls später mit besonderer Vorliebe verfolgte: daß der T o d damit vom Leben überwunden wird. Ähnlich teilte ihm die Igeler Säule im Herbst 1792 das »Gefühl eines fröhlich-thätigen Daseins« mit (G. X X X I I I 149), und bei einer späteren eingehenden Betrachtung dieses spätrömischen Denkmals findet er in ihm den »antiken klassischen Sinn, das Vorübergehende immerfort lebend und blühend zu denken« (G. I L , Abt. 2, S. 43). G e gen den Reiz dieses Gedankens und gegen die Bilder des Lebens in seiner Fülle, Herzlichkeit und Unmittelbarkeit können Bilder des Todes, wie immer sie seien, sich nicht behaupten, zumal Goethe ja den Todesgenius hier in Verona gar nicht in der Gestalt sah, in der Lessing ihn sich und seinen Lesern vorgestellt hatte: als heiteren Jüngling, sondern vielmehr so, wie er wirklich ist: als kleinen schläfrigen Putten in emblemarisch starrer Pose, die auch unsere Abbildung zeigt. Dies schließlich ist eine weitere Überlegung, zu der die Episode in 31

Vgl. etwa das - wenn audi von Tobler formulierte - Fragment Die Natur, wo es heißt: » [ . . . ] der Tod ist ihr Kunstgriff viel Leben zu haben.« (G. L X V I 7.) 33

Verona Anlaß gibt: Der Todesgenius stammt zwar aus der bildenden Kunst - das bleibt in jedermanns Bewußtsein, solange von dem Bild die Rede ist aber Lessing hatte ihn so gründlich in der Literatur eingebürgert, daß seither das rein literarische Motiv ein von der bildenden Kunst losgelöstes Eigenleben führt und für weitere Einflüsse von der ursprünglich plastisch-bildhaften Existenz des Motivs nicht mehr erreichbar ist. Wie schon gesagt, war es ja nicht die visuell wahrnehmbare Form des Todesgenius, womit Lessing seine Leser beeindruckt hatte; die Wirkung der Abhandlung beruhte vielmehr auf den Gedanken, die hier mit dem Bild verbunden wurden, und nur als Chiffre für diese Gedanken, eben als »das alte heitere Bild des Todes« (L. X I j j), lebt der Todesgenius in der Literatur weiter. In diesem Sinne hat auch Goethe später das Bild wiederholt verwendet, in erörternder Prosa wie in der Dichtung, ohne es je mit jenen real existierenden Denkmälern in Verbindung zu bringen, die er selbst gesehen hatte. Und so zahlreich die anderen Autoren sind, die den Todesgenius als Bild benutzen - nur einer von ihnen bezieht sidi dabei auf ein wirkliches Werk der bildenden Kunst, und selbst dieser läßt dabei seine eigene ausschmückende Phantasie walten. Wie schon angedeutet, konnte auch die archäologische Forschung des 19. Jahrhunderts, die sich direkt mit den antiken Monumenten beschäftigte und dabei Lessings Vorstellungen wesentlich revidierte, das Weiterleben des literarischen Motivs nicht beeinflussen. In Der Sammler und die Seinigen benutzt Goethe den Todesgenius ganz in dem Sinn, in dem er ihn auch in Dichtung und Wahrheit mit Bezug auf Lessing erwähnt. Im Streitgespräch mit dem »Charakteristiker«, der die Ansicht Aloys Hirts vertritt, sagt der »Sammler«, der an dieser Stelle sicherlich Goethes eigene Gedanken ausspricht, von einer Reliefdarstellung des Niobidenunterganges: W o wüthen Schrecken und T o d ? H i e r sehe ich nur Figuren mit solcher Kunst durch einander bewegt, so glücklidi gegen einander gestellt, oder gestreckt, daß sie, indem sie midi an ein trauriges Schicksal erinnern, mir zugleidi die angenehmste Empfindung geben. Alles Charakteristische ist gemäßigt, alles natürlich Gewaltsame ist aufgehoben und so möchte ich sagen: das Charakteristische liegt zum Grunde, auf ihm ruhen E i n f a l t und Würde, das höchste Ziel der Kunst ist Schönheit und ihre letzte Wirkung G e f ü h l der Anmuth. [•••]

34

Sind die todten Töchter und Söhne der N i o b e nicht hier als Zierrathen geordnet? es ist die höchste Schwelgerei der Kunst! sie verziert nicht mehr mit Blumen und Früchten, sie verziert mit menschlichen Leichnamen, mit dem größten Elend, das einem V a t e r , das einer Mutter begegnen kann, eine blühende Familie auf einmal v o r sich hingerafft zu sehen. J a , der schöne Genius, der mit gesenkter Fackel bei dem Grabe steht, hat hier bei dem erfindenden, bei dem arbeitenden Künstler gestanden und ihm zu seiner irdischen Größe eine himmlische Anmuth zugehaucht. (G. X L V I I 1 6 2 f.)

Diese Äußerung führt über die Kunsttheorie Windselmanns und Lessings hinaus in die Nachbarschaft von Schillers Theorie des ästhetischen Scheins. Der »Triumph der Schönheit« ist hier zugleich der Triumph der Kunst über die Wirklichkeit, der Darstellung über den Gegenstand. Der Todesgenius, konzipiert von einer Anschauung, die das Schöne der Kunst noch weitgehend in der Schönheit des Gegenstandes suchte, wird so von einer vertieften Auffassung, die keine verschleiernde Beschönigung des Gegenstandes mehr braucht, noch einmal als Chiffre für den beiden gemeinsamen Grundgedanken benutzt, wonach Schönheit das höchste Ziel der Kunst ist. Der Gedanke an den Todesgenius hat Goethe wahrscheinlich zur Umdeutung einer Bildbeschreibung des jüngeren Philostrat veranlaßt. Der Darstellung von Jason und Medea bei ihrer Begegnung in Kolchis wird hier ein Eros beigegeben, der seine Fackel zur Erde senkt. Der griechische Text erklärt diese Geste damit, daß die Liebe noch nicht vollzogen ist.32 Goethes Bearbeitung versteht die Pose des Eros offenbar als Anspielung auf den Todesgenius und sieht in ihr eine Andeutung, »daß Unheil diese Verbindung bedrohe« (G. IL, Abt. 1, S. 99). Und es ergab sich wohl nur als Folge dieses Gedankens, daß Goethe als Einführung der Bildbeschreibung von sich aus die besorgte Frage beifügte, ob »diese beiden wohl auch glücklich gegattet« seien (G. IL, Abt. i , S . 99). So wird das ganze Bild unter ein unglückverheißendes Vorzeichen gesetzt, das natürlich von der Schlußkatastrophe der Fabel völlig gerechtfertigt wird, im originalen Text aber nicht zu finden ist.

32

Philostratus: Imagines. - Callistratus: Descriptions. W i t h an English translation by A r t h u r Fairbanks. London: Heinemann 1 9 3 1 . = Loeb C l a s sical L i b r a r y . S. 3 1 4 . Herder zieht diese Stelle heran als Beispiel f ü r die fackelsenkenden Genien, die nicht den T o d bedeuten ( H . X V 4 3 3 ) .

35

Erstarrung und

Entwertung

Zum Zeugnis dafür, wie schnell das Bild des Todesgenius in das allgemeine Bewußtsein eindrang, seien nur einige Beispiele aus der antiquarischen Kompendienliteratur der Zeit erwähnt, die das Bild widerspruchslos aufgriff und dem geläufigen mythologisch-allegorischen Bilderschatz der Antike einverleibte. Benjamin Hederichs bekanntes Gründliches mythologisches Lexikon bestreitet ein Jahr nach Erscheinen der Lessingschen Abhandlung den Artikel »Mors« fast ausschließlich mit einer vereinfachenden Zusammenfassung ihrer Ergebnisse, mit Betonung der einschlägigen Stellen aus der antiken Literatur und der verschiedenen äußeren Attribute. 33 Johann Joachim Esdienburgs Handbuch der klassischen Literatur zählt »Hypnos, Thanatos und Oniros« zur »Klasse der Genien«, erwähnt dabei das Attribut der umgekehrten Fackel und verweist auf Lessings wie auf Herders Abhandlung.34 Karl Wilhelm Ramlers Kurzgefaßte Mythologie oder Lehre von den fabelhaften Göttern Halbgöttern und Helden des Alterthums läßt als allegorische Darstellung des Todes unbekümmert beides gelten, »ein großes Menschengeripp« ebenso wie »einen Genius mit gesenkter verlöschender Fackel«, je nachdem, ob der Tod »furchtbar und als ein Strafender erscheinen soll« oder ob »man ihn als einen Wohlthäter, als den Uiberbringer in einen bessern Zustand vorstellen« will. 35 Selbst Karl Philipp Moritz' Götterlehre, die sich doch in mancher Hinsicht über die gewöhnlichen Handbücher erhebt, vermischt hier ohne Prüfung drei grundverschiedene Zeugnisse und Anschauungen. Zunächst stellt sie unter den Kindern der Nacht die Brüder Schlaf und Tod vor, »wovon der eine die Menschen sanft und milde besucht, der andere aber ein eisernes Herz im Busen trägt«, - hier wird Hesiods Theogonie (V. 758-766) paraphrasiert. Eine beigefügte Abbildung, von Asmus Jacob Carstens entworfen, zeigt Tod und Schlaf nach Pausanias' Beschreibung der Kypseloslade als schlafende Knaben mit verschränkten Füßen in den Armen der Nacht, wobei nun der Tod,

33

34 35

( R e p r o g r a f . Nachdr. d. Ausg. v . 1 7 7 0 . ) D a r m s t a d t : Wissensch. Buchges. 1 9 6 7 . Sp. i 6 6 j f . ; vgl. auch S . X X X V . 3., verb. u. verm. Ausg. Berlin, Stettin: N i c o l a i 1 7 9 2 . S . 3 5 7 . 3. A u f l . Wien, P r a g : H a a s 1808. S . 4 5 1 .

36

der Vorstellung des Todesgenius folgend, durch eine umgekehrte Fakkel in seiner Rechten bezeichnet ist.36 Es gehört zum Charakter derartiger Werke, daß sie ihren Gegenstand simplifiziert, harmonisiert und undurchdacht als bloßen Wissensstoff darbieten. Aber dies ist nun auch der Zustand, in dem der Todesgenius dem 19. Jahrhundert überliefert wurde und dieses überdauerte. Er wurde Bestandteil des Bildungsguts, das in jedermanns Gedächtnis war, aber keine Auseinandersetzung mehr herausforderte. Er blieb, wie sich noch zeigen wird, der Dichtung als allgemein verständliche Allegorie verfügbar, während die Debatte über ihn lange aufgehört hatte. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts griff auch die Grabkunst in ganz Europa das Motiv des Jünglings mit der Fackel auf. Damals warb Domenico de Rossetti mit einem schönen Sammelband für die Errichtung eines »monumento sepolcrale-encomiastico di carattere miticopatetico« zu Ehren Winckelmanns in Triest, wo dieser ermordet worden und sein Leichnam in einem Massengrab verschollen war; das Kenotaph, das in dem Buch abgebildet und beschrieben ist, wird gekrönt von dem trauernden Genius des Toten, neben dem eine umgekehrte Fackel liegt.37 Aus einer neuen Auseinandersetzung mit Quellen und Monumenten heraus revidierten allerdings zu Anfang des 19. Jahrhunderts zwei Werke, deren Autoren beide in Rom lebten, noch einmal die Thesen Lessings. In Georg Zoegas Bassirilievi antichi di Roma erscheinen zwei Denkmäler, auf die sich Lessings Abhandlung vornehmlich gestützt 36

37

K a r l Philipp M o r i t z : Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. L a h r : Schauenburg ( 1 9 4 8 ) . S. 34t. V g l . C a r l Fehrman: Lieraannen, Thanatos och Dödens Ängel. Studier i 1 7 0 0 - och 1800-talens litterära ikonologie. L u n d : Gleerup ( 1 9 5 7 ) . = Skrifter utg. a v Vetenskaps-Societeten i Lund. 5 3 . S. J J ; Herbert von Einem: Asmus J a c o b Carstens, Die Nacht mit ihren Kindern. Köln, Opladen: Westdt. V e r l . ( 1 9 5 8 ) . = Veröff. d. Arbeitsgemeinsch. f. Forschung d. Landes Nordrhein-Westfalen. Geisteswissenschaften. H e f t 78. Bes. S. 2 1 - 2 8 . [Domenico de Rossetti]: Ii sepolcro di Winckelmann in Trieste. Venezia: V e r f . 1 8 2 3 . Bes. S. 3 8 - 4 1 u. T a f . 2, 4. V g l . J o h a n n Joachim Winckelmann: Briefe. In Verb. m. H a n s Diepolder hrsg. v . Walther Rehm. B d 4. Berlin: de G r u y t e r 1 9 5 7 . S. 544, 5 8 1 f . ; Winckelmanns T o d . Die Originalberichte hrsg. v . H o r s t Rüdiger. (Wiesbaden): Insel-Verl. 1 9 5 9 . = Insel-Bücherei. N r 6 9 5 ; Jörgen Birkedal H a r t m a n n : Die Genien des Lebens und des Todes. Z u r Sepulkralikonographie des Klassizismus. In: Rom. J b . f. Kunstgesdi. 1 2 , 1969. S. 3of., A n m . 1 1 1 .

37

hatte, der Ferox-Altar und der kapitolinische Prometheus-Sarkophag, in neuen und zuverlässigeren Abbildungen und Beschreibungen; die Genien werden hier als Genien der Ruhe (»il Riposo, avaitauaig«) gedeutet.39 Und Aloys Hirts Bilderbuch für Mythologie, Archäologie und Kunst sieht in den Genien Bilder des zeitlichen und ewigen Schlafs, wobei zwischen dem »materiellen« Schlaf und Tod, also dem jeweiligen Zustand, und den Genien, die Schlaf und Tod bringen, unterschieden wird und verschiedene Bilder verwandten Sinnes erwogen werden.39 Beide Werke gehören aber schon in die engere Disziplin der Archäologie und markieren den Punkt, an dem die eigentlich fachwissenschaftliche Erörterung des Todesgenius aus dem Blickfeld des breiteren Publikums verschwindet. Dort dagegen behält das Bild seine alte Geltung und Bedeutung unverändert, vor allem weil es nunmehr in den Kanon der »deutschen Klassiker« im populären und damit weitesten Sinn eingeschlossen wurde. So erklärt sich auch, daß bis in die Gegenwart hinein immer nur Lessings Abhandlung und Lessings Deutung bekannt sind, wohingegen Herders Beitrag, der doch dem Thema eine überraschend neue Wendung gab, die zeitgenössischen Dichter von Goethe bis Novalis anregte und zu einem guten Teil von der späteren Forschung bestätigt wurde, völlig in Vergessenheit geraten ist. Ein Platz unter den »Klassikern« war Lessing mit seinem gesamten literarischen Werk, unter welchem Vorwand auch immer, schon sehr bald eingeräumt und nicht mehr streitig gemacht worden. Herder dagegen wurde von der Literaturgeschichte auf die periphere Rolle des »Sturm und Drang «-Theoretikers und Mentors des jungen Goethe eingeschränkt, die viel umfassendere Gesamtheit seines Werkes verschwand aus dem allgemeinen Bewußtsein. Als Pflichtlektüre des gebildeten Deutschen konnte Lessings Abhandlung oft nur noch verdrossene Aufmerksamkeit finden. Eine Tagebuchnotiz Hebbels ist sicher repräsentativ:

39

39

Li Bassirilievi antichi di Roma. Incisi da Tommaso Piroli, colle illustrazioni di Giorgio Zoega. T. 1.2. Roma: Piranesi 1808. T. 1. S. 61-64, bes. S. 63; T. 2. S. 217. A. Hirt: Bilderbuch für Mythologie, Archäologie und Kunst. H. z. Berlin, Leipzig: Nauck 1816. S. 196-198.

38

Ich zum Wenigsten kann diese kleinen Abhandlungen, selbst die über den T o d u.s.w. nicht mehr durdibringen. Die Irrthümer, die er bestreitet, sind vergessen, die Wahrheiten, die er feststellt, sind ausgemacht und

der

unbefangene Beschauer, der weniger auf den Prunk der Gelehrsamkeit, als auf die Resultate sieht, kann Beide nicht mehr für besonders wichtig halten. 4 0

Die konkreten Träger der literarischen Bildungstradition und -konvention des 19. Jahrhunderts waren der Deutschunterricht des Gymnasiums und der Bücherschrank des Bürgerhauses. Das Programm des Lübecker Katharineums von 1905 enthält den Aufsatz Lessings Schrift Wie die Alten den Tod gebildet als Gegenstand des deutschen Unterrichts von Oberlehrer Dr. R. Zimmermann. Hier wird Lessing als »unersetzlicher Brennpunkt für die Geistesbildung im griechisch-deutschen Gymnasium« gefeiert, die »kulturhistorische Bedeutung« der Schrift wird mit ihrem Echo in Schillers Göttern Griechenlands begründet. Für die Behandlung im Unterricht der Unterprima wird zweimaliges ununterbrochenes Vorlesen des ganzen Werkes vor der Klasse empfohlen, damit »Lessings Stil als sprachliche Kunstform seine Wirkung tun« kann; vorgezeigte photographische Tafelbilder antiker Denkmäler sollen Lessings Vorstellungen berichtigen und ergänzen.41 Ernst Bloch nahm 1929 die Feier von Lessings 200. Geburtstag zum Anlaß einer kritischen Bemerkung zu den traditionellen KlassikerGesamtausgaben, »dieser komplett genähten bürgerlichen Aussteuer für den Bücherschrank«. Bloch entlarvt die »Heuchelei und Substanzferne« des renommistischen Bildungsanspruchs, der sich in diesen Büchern verkörpert, mit dem Hinweis auf die vielen veralteten und nebensächlichen Schriften, die hier neben den Hauptwerken geboten werden und dem Bürger nicht einmal verständlich wären, wenn er sie je zu lesen versuchte: W a s kümmerte diesen Leser, wenn er ehrlich wäre, wie die Alten den T o d gebildet oder vielmehr, wie man sich das im achtzehnten Jahrhundert v o r stellte? W o z u laufen die vielen schlechten Holzschnitte zu diesem Thema, eine verfälschte Louis-seize-Antike, immer wieder durch Millionen Lessingbände? 4 2 40

41

42

Friedrich Hebbel: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausg. bes. v . R i chard M a r i a Werner. A b t . 2, B d 2. Berlin: Behr 1 9 0 3 . S. 1 3 0 L R . Zimmermann: Lessings Schrift W i e die Alten den T o d gebildet als G e genstand des deutschen Unterrichts. Lübeck, Katharineum P 1 9 0 5 . S. 2 f . Ernst Bloch: Immer noch im Prachteinband. I n : Ernst Bloch: Literarische Aufsätze. (Frankfurt a. M . ) : Suhrkamp ( 1 9 6 5 ) . S. 1 9 L

39

Erscheint hier Lessings Schrift nur noch als ein vom Bildungs- und Klassikerkult mitgeschleppter und zerschlissener Staubfänger, so wird sie im gleichen Jahr in einem Aufsatz Thomas Manns Zu Lessings Gedächtnis angeführt, um ihren Autor gegen den zeitgemäßen Vorwurf rationalistischer »Flachheit« in Schutz zu nehmen und so dem Publikum der zwanziger Jahre schmackhaft zu machen, das auf irrationalistische »Tiefe« bedacht war: Hat Lessing nicht eine Abhandlung geschrieben: Wie die Alten den Tod gebildet? Der Titel klingt, als sei er von Bachofen . . . Ich gebe zu, daß die Behandlungsweise anders ist; aber in der Stoffwahl liegt etwas, was sich auf Optimismus nicht reimen will, ein Geschmack am Religiösen, der nicht Rationalistenart ist. (M. X 254.)

Man muß sich fragen, ob Thomas Mann wirklich die Zusammenhänge voll überblickt, auf die er hier anspielt. Auf jeden Fall wird bei der Erwähnung Bachofens und seiner anderen »Behandlungsweise« das Understatement, die verkleinernde Ironie, sicher zu stark beansprucht. Sie kann im Grunde nicht den fundamentalen Gegensatz überbrücken, der hier besteht. Lessings Schrift und das heitere Bild des Todes veralteten ja nicht nur durch bloße Abnutzung und Überdruß. Vielmehr wurden sie von anderen, unvereinbaren Vorstellungen verdrängt, die sich im 19. Jahrhundert entwickelten, zum Teil allerdings erst später volle Anerkennung fanden. Eine gewisse Ablehnung, in der sich zugleich auch die klischeehafte Erstarrung des ganzen Gedankenkreises erkennen läßt, zeigt schon eine Stelle in Hegels Ästhetik. Die Griechen, heißt es da, hätten den Tod nicht »in seiner wesentlichen Bedeutung« aufgefaßt, da sie die absolute Subjektivität des romantischen Individuums nicht kannten, und daher durften sie »den Tod mit heiteren Bildern umgeben«.43 Lessings Thesen sind hier zu einem unbezweifelten historischen Faktum erhoben; daß an ihnen die subjektiven Motive Lessings mindestens ebenso viel Anteil haben wie der objektive Tatbestand, konnte seinerzeit selbst Hegel noch nicht durchschauen. Damit wird eine Auseinandersetzung auf der Ebene, auf der Lessing und Herder argumentierten, ausgeschlossen; und so kann ein Einwand, der im 43

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. (Hrsg. v. Friedrich Bassenge. 2. Aufl.) Bd 1. Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanst. [o. J . ] . S. $0}f.

40

Grunde Lessing selbst trifft, nur gegen die Griechen gerichtet werden, die ohne weitere Frage in dem von Lessings Projektion bestimmten Bilde gesehen werden. In denselben Denkbahnen bewegt sich eine Bemerkung Kierkegaards, wenn auch hier die Begriffe einer anderen Sphäre angehören. Lessings Todesbild, wiederum fraglos als das der heidnischen Antike anerkannt, kommt im Begriff Angst bei der Erörterung der Zeitlichkeit zur Sprache. Offenbar auf dem Todesbegriff des Römerbriefs fußend (6, 23), folgert Kierkegaard »aus der Bestimmung der Zeitlichkeit als Sündhaftigkeit«, daß für den Christen »der Tod als Strafe« anzusehen ist. Er sieht hier eine Steigerung wirksam, insofern »sich der Tod im selben Grade entsetzlicher ankündigt, je vollkommener die Organisation ist«, und »je höher ein Mensch veranschlagt wird, desto entsetzlicher der Tod ist«. Dementsprechend war die im Sinne Lessings verstandene »heidnische Anschauung des Todes« zwar »milder und anmutiger, ermangelte aber des Höchsten«. So reizvoll und verlockend der Genius ist,findet Kierkegaard es doch »unheimlich«, ihm zu folgen: Es liegt eine unergründliche W e h m u t darin, daß dieser Genius mit seiner freundlichen Gestalt sich über den Sterbenden beugt und mit dem A t e m seines letzten Kusses den letzten Lebensfunken auslöscht, während das Erlebte nach und nach verschwunden ist und der T o d zurückgeblieben wie ein Geheimnis, das, selbst unerklärt, erklärte, das ganze Leben sei ein Spiel gewesen, das damit endete, daß alles, das Größte w i e das Kleinste, sich verlief w i e die Schulkinder, und zuletzt die Seele selbst als Schulmeister. A b e r es liegt da auch die Stummheit der Vernichtung darin, daß das G a n z e nur ein Kinderspiel w a r , und nun ist das Spiel aus. 44

Eindrücklich suggeriert diese Beschreibung, daß der heidnische Tod dem Leben, das er so sanft beendet, auch seinen Wert nimmt und den Menschen der völligen Verlorenheit ausliefert. Dieser radikal christliche Einwand scheint eine direkte Antwort auf die knappe theologische Argumentation am Schluß von Lessings Abhandlung zu sein, wo mit dem Todesbegriff des Römerbriefs zwar das Verschwinden des alten heiteren Todesbildes erklärt wird, dagegen aber mit der christlichen Verheißung, der Versicherung, »daß der Tod der Frommen nicht

44

Sören Kierkegaard: D e r Begriff Angst. Obers, u. m. Glossar, Bibliographie sowie einem Essay » Z u m Verständnis des Werkes« hrsg. v . Liselotte Richter. [Reinbek]: R o w o h l t ( i 9 6 0 ) . S. 8 $ f . A n m .

41

anders als sanft und erquickend seyn könne« (L. X I 5 5 ) , seine Neueinsetzung gerechtfertigt wird. Folgenreicher wurde eine andere Tendenz des 19. Jahrhunderts, die den Todesgenius selbst als Bild kurzerhand beiseitedrängte. Von der romantischen Mythenforschung und damit von wesentlich geänderten weltanschaulichen Voraussetzungen ausgehend, entdeckte eine erneute Auseinandersetzung mit der Antike auch dort eine andere Auffassung des Todes. Hier ist an erster Stelle Bachofens Versuch über die

Gräbersymbolik

der Alten zu nennen. In diesem Werk zeigt eine flüchtige Erwähnung des Todesgenius nur, wie unwichtig er einer radikal gewandelten A u f fassung geworden ist: Also das Zwillingspaar des Todes und Schlafes hat auf Grabstelen, wie auf jener der Villa Albani, keine andere Bedeutung, als der namentlich auf etruskischen Aschenkisten so oft dargestellte Wechselmord der thebanischen Brüder. Es sind die beiden Kräfte, die die Schöpfung beherrschen, sidi gegenseitig verzehren, aber das Leben aus der Finsternis stets wieder zum Lichte zurückführen. 45

Das Bild selbst ist völlig gleichgültig, nur in seiner Verdoppelung, die es mit anderen Bildern teilt, wird eine symbolische Darstellung des dualistischen Weltprinzips gesehen. Als Zeugnisse ähnlicher Art seien nur noch Burckhardts Griechische Kulturgeschichte,

Nietzsches Geburt der Tragödie

aus dem Geiste der

Musik und Rohdes Psyche angeführt. In all diesen Werken, so verschieden sie auch untereinander sind, erscheint der Tod nicht mehr als der bloße defiziente Modus des Lebens, der mit dem Bild der Ruhe und des Schlafes darzustellen ist, er gewinnt eine eigene dynamische Macht, die andere Verkörperungen verlangt. Dieser kurze Hinweis mag hier genügen, wo es nur darum geht, die Grenzen unseres Themas abzustecken. 45

Johann Jakob Bachofen: Gesammelte Werke. Bd 4. Basel: Schwabe 1954. S. 26f. Vgl. auch Bachofens Römische Grablampen, wo zwei Todesgenien, deren gesenkte Fackeln zwar als »Grabesbezug« bezeichnet werden, im Ganzen doch unter der Rubrik »Kinderszenen als Bilder der Wiedergeburt« angeführt sind, ebd. Bd 7. 1958. S. 3 1 6 , 363, 365. Vgl. hierzu Alfred Baeumler: Das mythische Weltalter. Bachofens romantische Deutung des Altertums. Mit einem Nachw.: Bachofen und die Religionsgeschidite. München: Beck (1965).

42

A m Schluß dieses Abschnittes sei nur noch in Umrissen angedeutet, wie der antike Todesgenius und seine Interpretation im 18. Jahrhundert sich dem Blick der gegenwärtigen Archäologie darbieten.48 Die antiken Monumente, die damals in Italien zutage lagen oder aufgefunden wurden, stammten zum größten Teil aus jüngeren Perioden. Ge46

Hier nur eine Auswahl aus der Literatur zum Thema: Julius Lessing: De mortis apud veteres figura. Bonn, Phil. Diss. 1866. Bes. S. 70-78; Carl Robert: Thanatos. Berlin: Reimer 1879. = 39. Programm zum Winckelmannsfeste d. Archaeolog. Ges. zu Berlin; O. Adamek: Die Darstellung des Todes in der griechischen Kunst und Lessings Schrift »Wie die Alten den Tod gebildet«. Graz, 2. Staats-Gymn. P 1885. S. 1 7 - 2 8 ; Die antiken Sarkophag-Reliefs. Im Auftr. d. Kaiserl. Dt. Archaeolog. Inst. m. Benutzung d. Vorarbeiten v. Friedrich Matz hrsg. u. bearb. v. Carl Robert. Bd 3, Abt. 1 - 3 . Edizione anastatica. Roma: Bretsdineider 1969; A. Furtwängler: Eros. In: W.H.Roscher: Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Bd 1 , 1 . Sp. 1 3 3 9 - 1 3 7 2 , bes. Sp. 1359, 1365-69; L. Deubner: Personifikationen abstrakter Begriffe. Ebd. Bd III, 2. Sp. 20682169, bes. Sp. 2 1 1 0 - 2 1 1 2 ; Otto Waser: Thanatos. Ebd. Bd V. Sp. 4 8 1 - 5 2 7 ; ders.: Eros. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearb. Bd 6. Sp. 484-542, bes. Sp. 508; Albin Lesky: Thanatos. Ebd. Reihe 2, Halbbd 9. Sp. 1 2 4 5 - 1 2 6 8 ; Maxime Collignon: Les statues funéraires dans l'art grec. Paris: Leroux 1 9 1 1 . Bes. Éros, Thanatos et Hypnos. S. 3 2 9 - 3 4 1 ; Kurt Heinemann: Thanatos in Poesie und Kunst der Griechen. München, Phil. Diss. 1 9 1 3 . Bes. S. 5 6 - 8 1 ; Friedrich Gerke: Die christlichen Sarkophage der vorkonstantinisdien Zeit. Berlin: de Gruyter 1940. = Studien zur spätantiken Kunstgeschichte. 1 1 ; Franz Cumont: Recherches sur le symbolisme funéraire des Romains. Réimpression anastatique. Paris: Geuthner 1966. = Haut-commissariat de l'état français en Syrie et au Liban. Service des Antiquités. Bibliothèque archéologique et historique. 35. Bes. S . 4 0 9 - 4 1 2 ; Ivar Hjertén: Hypnos och Thanatos i dikt och konst. Stockholm: Norstedt (1951). = Svenska Humanistiska Förbundet. Skrifter. 62; Ernest Will: Le relief cultuel gréco-romain. Contribution à l'histoire de l'art de l'empire romain. Paris: de Boccard 1955. = Bibliothèque des Écoles françaises d'Athènes et de Rome. 183. Bes. S. I99f.; Erwin Panofsky: Tomb sculpture. Four lectures on its changing aspects from Ancient Egypt to Bernini. Ed. by H . W. Janson. N e w Y o r k : Harry N . Abrams [1964]. Bes. S. 35 u. Abb. 1 1 5 , 123, 139; A . R u m p f : Eros (Eroten) I I (in der Kunst). In: Reallexikon für Antike und Christentum. Bd 6. Sp. 3 1 2 - 3 4 2 , bes. Sp. 3 3 4 - 3 3 7 ; Hellmut Sichtermann: Späte Endymion-Sarkophage. Methodisches zur Interpretation. Baden-Baden: Grimm 1966. = Deutsche Beitr. z. Altertumswissensch. 19. Bes. S. 42f., Anm. 57; Roger Stuveras: L e p u t t o dans l'art romain. Bruxelles: Latomus 1969. = Coll. Latomus. 99. Bes. Kap. 3: Le putto funéraire, S. 33-40; J ö r gen Birkedal Hartmann: Die Genien des Lebens und des Todes. Zur Sepulkralikonographie des Klassizismus. In: Rom. Jb. f. Kunstgesdi. 12, 1969. S. 9-38, bes. S. 1 1 - 2 6 .

43

rade die starken Impulse, die seinerzeit von den Antiken ausgingen man denke nur an die Laokoongruppe - , bedeuteten auch eine Fehlerquelle, denn diese späten Zeugnisse bestimmten so eine verallgemeinerte, meist historisch nicht differenzierte Gesamtvorstellung der Antike, die zumal da falsche Züge aufweisen mußte, wo literarische Quellen, die in viel frühere Zeiten zurückreichten, mit den vorhandenen archäologischen Aufschlüssen verknüpft wurden. So verfiel Lessing, wie vor ihm schon Winckelmann, einer perspektivischen Täuschung, wenn er die Todesgenien der römischen Grabmonumente mit dem Bruderpaar Schlaf und Tod identifizierte, das auf Zeus' Befehl den vor Troja gefallenen Sarpedon nach dessen Heimat Lykien trägt {Ilias i6,6yoi.). Weder Lessing noch Winckelmann konnten wissen, daß gerade diese Episode der Ilias und davon abgeleitete Motive von der attischen Vasenmalerei vom sechsten bis zum vierten vorchristlichen Jahrhundert dargestellt worden sind. Ein besonders prächtiges Stück dieser Art tauchte erst kürzlich auf: der von Euphronios und Euxitheos signierte Krater im Metropolitan Museum of Art, New York. Der Tod ist hier ein geflügelter, meist auch gewappneter Jüngling, der seinem Bruder, dem Schlaf, wenigstens ähnlich sieht; hier wie auf Lekythen, die nicht mehr die Bestattung eines mythischen Helden, sondern die eines bestimmten gewöhnlichen Menschen zeigen, ist er meist freundlich und teilnahmsvoll um den Toten bemüht.47 Auch anderwärts ist in der klassischen und hellenistischen Zeit eine milde und schöne Jünglingsgestalt als Personifikation des Todes zu erkennen.48 Lessing hat also in gewisser Weise recht behalten, vor allem natürlich darin, daß er das Gerippe als Todesbild aus der Antike verwies. Dies ist festzuhalten, wenn auch Lessings eigene Deutung der antiken Skelettdarstellungen kaum Stich hält.

47

Vgl. Julius Lessing, a . a . O . S. 3 7 - 4 0 ; Robert: Thanatos, a . a . O . S . 4 - 2 7 ; Heinemann, a . a . O . S. 5 6 - 8 1 ; Waser: Thanatos, a . a . O . Sp. 5 0 0 - 5 1 6 ; Ernst Buschor: Griechische Vasen. (Neuausg., durchges. u. im Anh. Überarb. v. Martha Dumm.) München: Piper (1969). S. 2 1 2 L , Abb. 2 1 9 ; J . D. Beazley: Attic red-figure vase-painters. 2nd ed. Oxford: Clarendon Press 1963. Vol. 1. S. 126, 2 2 7 ; vol. 2. S. 851, 1228, 1237, 1242, 1 3 8 5 ; K. Friis Johansen: The Iliad in early Greek art. Copenhagen: Munksgaard 1967. S. 2 5 5 L

48

Vgl. Robert: Thanatos, a . a . O . S. 3 6 - 4 3 ; Waser: Thanatos, a . a . O . Sp. 5 1 9 - 5 2 2 ; Hjerten, a . a . O . S . 7 9 - 8 5 . 44

Wesentlich anders verhält es sich allerdings mit dem Genius, der eine Fackel senkt. Derartige Figuren finden sich in großer Anzahl auf den verschiedensten Denkmälern der Kaiserzeit, sogar auf Münzen, besonders häufig auf den Reliefs von Sarkophagen, etwa bei Darstellungen des Endymion, in dessen Geschichte der Schlaf eine besondere Rolle spielt, 49 aber auch ohne Zusammenhang mit mythischen Szenen. Es handelt sich in der Regel nicht um Jünglinge, sondern um kleine Kinder, Putten. 50 Lessing wurde gerade in diesem Punkt von den veralteten und unzuverlässigen Illustrationen, auf die er sich stützte, im Stich gelassen, was er selbst ahnt und beklagt; von ihm wird der Genius vorsichtig als »Knabe oder Jüngling« bezeichnet (L. X I n ) . Oft deutet die Pose an, daß die Genien, mit der Achsel auf die Fackel gestützt, im Stehen schlafen - auch dies konnte Lessing auf den ihm vorliegenden Abbildungen kaum ausmachen; immerhin erkannte er in den gekreuzten Füßen richtig ein Zeichen der Ruhe. Die Kindergestalt setzt die Genien in den Kreis der Eroten, die seit der hellenistischen Zeit in den verschiedensten Situationen und Funktionen auftreten, oft jeglichen Bezug zu Eros als dem Liebesgott verloren haben und nur noch Dekorationselemente sind. So wurden die Genien denn auch vor Lessing wie noch heute mit Recht als trauernde, schlafende oder TodesEroten bezeichnet.51 Der Todesgenius unserer Abbildung etwa weist sich durch Bogen und Köcher als Eros aus. Man nahm wohl auch eine Entwicklung an, die den Bildtyp des Eros in den des Thanatos übergehen ließ.52 Was auch immer der Ursprung des Bildes sei, er läßt sich da, wo die meisten Genien auftreten, kaum noch erkennen. Abgesehen von besonderen Fällen, wo ein anderer Sinn naheliegt, beziehen sich die Genien tatsächlich auf den Tod, vor allem natürlich wenn sie auf Grabmonumenten und Sarkophagen erscheinen. Dies ist jedoch nicht so

49

50 51

62

Vgl. Die antiken Sarkophag-Reliefs, a . a . O . B d 3, Abt. 1, N r 2 1 , 24, 39, 4 1 - 4 3 , 46-50, J 3 , $5, 79, 83; Sichtermann: S p ä t e Endymion-Sarkophage, a. a. O . S. 27, 76. Vgl. Stuveras, a. a.O. S. 33-40. Vgl. Furtwängler, a . a . O . Sp. 1369; Waser: Eros, a . a . O . Sp. 5o8f.; C o l lignon, a . a . O . S. 3 2 9 - 3 3 3 ; Gerke, a . a . O . S. 345, 403 u. ö f t e r ; R u m p f , a . a . O . Sp. 3 3 4 ^ ; Siditermann: Späte Endymion-Sarkophage, a . a . O . S. 42f., Anm. J 7 . Vgl. Waser: Thanatos, a.a. O. Sp. J 2 i f . ; L e s k y : Thanatos, a. a. O. Sp. 1 2 6 8 ; Collignon, a. a. O . S. 3 3 2 - 3 3 6 .

4J

zu verstehen, daß die Knaben mit der gesenkten Fackel den Tod, sei er nun als mythische Person oder als allegorisch personifizierter Begriff verstanden, in direkter abbildlicher Identität vorstellen.5® Vielmehr deuten sie nur als ornamentales Motiv den Tod an, weisen auf ihn hin und sind so Todes- und Grabsymbole in einem weiteren Sinn.54 Sie teilen diese Funktion mit anderen Bildmotiven wie Löwenköpfen, Jahreszeiteneroten, Amor und Psyche und dergleichen.55 Wie die Genien keine bestimmte Person vorstellen, so spielen sie auch meist nur eine Nebenrolle auf den Denkmälern. Als ein von keiner spezifischen Bedeutung fixiertes, neutrales Dekorationselement konnten die Genien denn auch ohne Hemmung von der frühchristlichen Kunst übernommen werden. Auf Sarkophagen des 3. Jahrhunderts stehen sie zusammen mit dem christlichen Guten Hirten.5® Die Genien treten häufig paarweise auf, was Lessing ja dahin deutete, daß hier der Tod und der Schlaf, wegen ihrer Ähnlichkeit als Zwillingsbrüder, als »Bild und Gegenbild« (L. X I 23) nebeneinandergestellt sind. In Wirklichkeit aber ergibt sich dieser Zug nicht aus irgendwelcher Bedeutung der Einzelfigur, sondern vielmehr aus der Gesamtkomposition des jeweiligen Denkmals, und erweist erst recht die rein dekorative Funktion und die untergeordnete Rolle der Genien: sie stehen so als schmückende Nebenfiguren in spiegelbildlicher Verdoppelung an den Rändern des Bildes, auf den Sarkophagen an den Ecken, und bieten lediglich den ornamentalen Rahmen für das Mittelstück, das von diesem symmetrisch angeordneten Beiwerk als Hauptsache hervorgehoben wird. Nach all dem braucht nicht näher ausgeführt zu werden, daß Herders Verständnis des Bildes dem Sachverhalt sehr viel näher kommt als

53

V g l . Hellmut Siditermann: Lessing und die Antike. I n : Lessing und die Zeit der A u f k l ä r u n g . Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1 9 6 8 . S. 189. D e r F e r o x - A l t a r , der von Winckelmann und nadi ihm von Lessing herangezogen wurde und der den Genius inschriftlidi mit dem Schlaf identifiziert, scheint eine Ausnahme zu sein, v g l . R u m p f , a. a. O . Sp. 3 3 4 .

54

Lessing lehnt eine Formulierung Goris, die dieses Verständnis v o r w e g nimmt (»Genios Mortem et Somnum referentes«), ausdrücklich ab, da er auf der strengen Identität besteht (L. X I J 3 ) .

55

V g l . Gerke, a. a. O . S. 29. V g l . Gerke, a . a . O . S. 2 4 7 L , 2 5 7 , 3 1 8 L , 3 4 5 , 403.

56

46

das Lessings, was übrigens auch von den Archäologen anerkannt wird. 57 Es ist allerdings zu bemerken, daß die Altertumswissenschaft kein allzu großes Interesse an dem Todesgenius gezeigt hat, vermutlich fand sie ihn zu trivial, gerade im Vergleich mit anderen sepulkralen Bildmotiven. Eine Bemerkung Wilamowitz' läßt geradezu einen gereizten Überdruß daran erkennen, daß die Gestalt, und zwar offenbar in der Bedeutung, die Lessing ihr gab, im 19. Jahrhundert eine so große Popularität behielt.58

57

58

Vgl. Waser: Thanatos, a. a. O. Sp. 5 2 2 ; Lesky: Thanatos, a. a. O. Sp. 1 2 6 8 ; Rodenwaldt: Goethes Besudi im Museum Maffeianum zu Verona, a . a . O . S. 2 3 f . Griechische Tragoedien: Übersetzt v. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf. Bd 3. Berlin: Weidmann 1906. S. 79.

47

Seine Fackel senkt' ein Genius Dichterische Gestaltung

Vorbemerkung Wie schon gesagt, wurde der Todesgenius bereits kurz nach dem Erscheinen von Lessings Schrift von der Dichtung, v o r allem der Lyrik aufgegriffen und findet sich hier in den verschiedensten Werken bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, ja in Spuren sogar bis ins 20. Jahrhundert hinein. Auf den ersten Blick mag es selbstverständlich anmuten, daß ein so sinnfälliges und leicht zu beschreibendes Bild wie der Jüngling oder Knabe, der eine Fackel senkt, in die Dichtung Eingang findet. Und doch ist an diesem Vorgang etwas Ungewöhnliches. Poetische Bilder, seien sie auch noch so alexandrinisch gesucht und ausgedacht, entstehen doch zumeist im Bereich der Dichtung selbst. Hier aber wird ein Bild zuerst von einer archäologischen Abhandlung durch die Deutung antiker Denkmäler und Texte, in der Auseinandersetzung mit der gelehrten Literatur vorgestellt. Als Gegenstand solcher Erörterung erhält das Bild von vornherein eine bestimmte Modalität, die die Dichtung ihren Bildern sonst kaum gibt. Es wird nicht assertorisch genannt und gestaltet, sondern erscheint problematisch, umstritten, hypothetisch, wird in kritischer Analyse mit konkurrierenden Bildern kontrastiert und auf seine Bedeutung und Geltung hin geprüft. Abgesehen davon, daß Lessings Abhandlung als Streitschrift gegen Christian Adolph Klotz gerichtet ist, erweist sie sich auch ihrer inneren Anlage nach als dialektisch, kontrovers, insofern sie ihre Thesen in ständiger Auseinandersetzung mit gegensätzlichen Vorstellungen entwickelt. Es wird sich zeigen, daß der Todesgenius o f t auch in der Dichtung noch, als Stempel seiner Herkunft, eine problematische Modalität und einen antithetischen Bezug zu kontrastierenden Bildern oder Begriffen, wie dem Gerippe, A m o r und dem Schlaf, beibehält, selbst wenn 48

dabei die Frontstellung Lessings gewechselt wird, seine streng gezogenen Grenzen verwischt und überkreuzt werden. Ein zweiter wiederkehrender Zug hängt damit eng zusammen und erklärt sich daraus, daß der Genius der bildenden Kunst entstammt. Ein Dichter kann, wie Lessing schon im Laokoon unterschied, einen Künstler auf zwei verschiedene Arten »nachahmen«: er stellt entweder das Kunstwerk als solches dar oder nur dessen Gegenstand (L. IX sof.). So kann auch ein Bild wie der Todesgenius auf zwei verschiedene Arten in die Dichtung übernommen werden. Entweder es erscheint direkt und nur von der Sprache gestaltet. Dies entspricht Lessings zweiter Art der Nachahmung und ist zweifellos der Normalfall dichterischer Bildlichkeit. Die andere Alternative ist es, auf die es hier ankommt — sie ist in unserem Fall weitaus bezeichnender und auffallend häufig vertreten: das Bild wird hier in einer vorgegebenen Gestaltung durch die bildende Kunst, etwa als eine Statue, in die Dichtung eingeführt. Das Bild selbst steht dann nicht in voller Gegenwart, sondern nur indirekt in der Dichtung, vermittelt durch die künstlerische Darstellung, gleichsam als ein Zitat. Der Dichter läßt es damit nicht als Produkt seiner eigenen Phantasie gelten, sondern trennt und distanziert sich von ihm, und diese Haltung erlaubt ihm Reflexion, Kommentar und Kritik. So ergibt sich die schon erwähnte problematische Modalität auch als Konsequenz einer Darstellungsweise, die die Herkunft des Bildes aus der Kunst noch durchscheinen läßt. Dazu ist übrigens nicht nötig, daß ausdrücklich eine bestimmte Plastik oder dergleichen erwähnt oder beschrieben wird, wenn nur der Bildcharakter explizit genug gemacht, womöglich gar ein Urheber des Bildes genannt oder seine Entstehung erklärt wird. Die Einzelinterpretation wird dies deutlich machen schon das erste Gedicht, das hier zu behandeln ist, liefert ein Beispiel dafür. Dem ist allerdings sofort eine andere Bemerkung beizufügen. Wohl entstammt das Bild der Kunst, in die Dichtung geriet es aber erst durch eine literarische Vermittlung, eben die Abhandlungen Lessings und Herders. Es wurde bereits bemerkt, daß schon Lessings Schrift das Bild aus der bildenden Kunst in die Literatur hinüberleitet. Die meisten Autoren, die das Bild dichterisch gestalteten, haben es nie in einer künstlerischen Darstellung wirklich vor Augen gehabt. Die Abbildungen in Lessings Buch konnten in ihrer Undeutlichkeit nur einen sehr 49

schwachen visuellen Eindruck vermitteln. Zudem ist nicht bei allen Dichtern eine direkte und genaue Bekanntschaft mit dem Werk vorauszusetzen. Ihre Vorstellung wurde so nicht von vornherein an eine augenfällige Bildform des Todesgenius gebunden. Ihre Phantasie konnte das nur durch Worte und Begriffe überlieferte Bild frei reproduzieren, konnte es nach Belieben mit ihren eigenen Farben ausmalen, konnte aus den gegebenen Zügen und Attributen auswählen und Neues hinzuerfinden. So erklärt sich die Vielfalt der im eigentlichen Sinn bildhaften Ausformungen des Todesgenius in der Dichtung, die sich von dem eng und streng umschriebenen Lessingschen Typus in alle Richtungen so weit wie nur denkbar entfernen. Auch als die klassizistische Kunst seit der Wende zum 19. Jahrhundert das Motiv des Todesgenius gestaltete, hielt sie sich nur selten an den ursprünglichen spätantiken Bildtypus und entwickelte eine auffallende Mannigfaltigkeit frei variierender Formen. 5 ' Daher verbietet es sich von vornherein, die Bildelemente zur Richtschnur der motivgeschichtlichen Betrachtung zu nehmen und etwa mit ihrer Hilfe Filiationen zu entwickeln, wie dergleichen in früheren motiv- und toposgeschichtlichen Untersuchungen üblich war. Die jeweilige äußere Form des Todesgenius ist in so weitem Maße individuell, daß sie dem rein historisch vergleichenden Blick willkürlich und irrelevant erscheint und nur im Zusammenhang der Einzelinterpretation angemessen zu fassen ist. Was an dem Bild der Überlieferung unterliegt, woran sich also Kontinuität und Wandel erweisen, sind wesentlich andere Momente wie seine Bedeutung, seine Konstellation und seine Modalität. Nur in einigen Fällen, wo Figuren anderer Bedeutung in offenbarer Analogie zum Bild des Todesgenius erfunden werden - bei Alexander von Humboldt und Grillparzer etwa - , können bildliche Attribute als Zeugnisse für historische Beziehungen und Einflüsse betrachtet werden. Lessings

Zeitgenossen

Wohl die früheste dichterische Erwähnung des Todesgenius ist in einem Sinngedicht Abraham Gotthelf Kästners zu finden: 59

Vgl. Jörgen Birkedal Hartmann: Die Genien des Lebens und des Todes, a. a. O. S. 3of. u. Abb. 24-43.



Ueber Leßings Buch wie die A l t e n den T o d gebildet. Der Griechen Todt, das w a r ein Genius; Doch, der die Zähne bleckt, mit seiner Sense droht, Das Mordgeripp! ist unsrer Dichter Todt, Ein böser Criticus. 6 0

Der ziemlich gesuchte Witz dieser Zeilen konnte sicher nur so lange auf Beifall rechnen, wie Lessings Buch noch eine literarische Neuheit war. Seine These dient zur bloßen Einkleidung, eigentlich nur zum Anknüpfungspunkt für die Beschimpfung des Kritikers, der völlig willkürlich mit dem »Mordgeripp« identifiziert wird. Bei dem Mangel an zwingenden Beziehungen zwischen den einzelnen Gegenständen bildet die Lessingsche Antithese zwischen Genius und Gerippe noch den einleuchtendsten Gedankenzusammenhang des Gedichts. Der Genius wird nicht direkt präsentiert, sondern als »der Griechen Todt«, also das griechische Bild für den Tod identifiziert, so daß nicht das Bild an sich, sondern sein Bildcharakter zum Thema wird. Dies entspricht der in der Überschrift ausgedrückten Absicht, von »Leßings Buch« zu handeln und nicht etwa vom Tod. Was von diesem bescheidenen Gedicht ausdrücklich eingestanden wird, steht in manchem bedeutenderen Werk unausgesprochen im Hintergrund und ist nur der geschärften Aufmerksamkeit erkennbar. Der kontrastierende Bezug zwischen Genius und Gerippe beschäftigt, freilich auf ganz andere Weise, auch Matthias Claudius, der allerdings den Todesgenius ablehnt und nicht in seine Dichtung aufnimmt. Er widmet die Buchausgabe seiner Beiträge zum »Wandsbecker Bothen« dem Tod, den er in herkömmlicher Weise als Skelett mit der Sense auf dem Titelkupfer darstellen läßt. Er nennt ihn »Freund Hain« - ein Ausdruck, der wohl dem Volksgebrauch entstammt und erst von Claudius in die Literatur eingeführt wurde. In der Dedikation dazu heißt es: Die A l t e n soll'n ihn anders gebildet haben: als 'n J ä g e r im Mantel der Nacht, und die Griechen: als 'n »Jüngling, der in ruhiger Stellung mit gesenktem trüben Blicke die Fackel des Lebens neben dem Leichname auslöscht«. Ist 'n schönes Bild und erinnert einen so tröstlich an H a i n seine Familie und namentlich an seinen Bruder: wenn man sich da so den T a g über müde und matt gelaufen hat und kommt nun den Abend endlich so

A b r a h a m Gotthelf Kästner: Vermischte Schriften. T h l 2. Altenburg: Richter 1 7 7 2 . S. 269, N r C X I I .

51

weit, daß man's Licht auslöschen will - hat man doch nun die N a c h t v o r sich, w o man ausruhen kann! [ . . . ] bin aber doch lieber beim Knochenmann geblieben. S o steht er in unsrer Kirch', und so hab' ich 'n mir immer von klein auf vorgestellt. [ . . . ] E r ist auch so, dünkt mich, recht schön, und wenn man ihn lange ansieht, w i r d er zuletzt ganz freundlich aussehen. 61

Es verdient hervorgehoben zu werden, daß Claudius hier nicht aus Lessings, sondern aus Herders erster Abhandlung über den Todesgenius zitiert (H. V 6j6, 659). Schon hier zeigt sich, daß gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Anregung zur Auseinandersetzung mit dem Thema oft von Herder ausging, ob es sich nun um die bloße Vermittlung der Lessingschen Gedanken oder auch um deren Modifizierung handelte. Der »Knochenmann« wird von Claudius so zutraulich eingeführt, daß er alles Schreckliche verliert, und so erhält er, seiner äußeren Gestalt zum Trotz, letztlich dieselben Züge wie Lessings und Herders »schönes Bild«. Audi er ist ein Bruder des Schlafs, auch er ist »freundlich«. Dies bestätigt die Selbstcharakterisierung des Todes in dem Gedicht Der Tod und das Mädchen: Bin Freund, und komme nicht, zu strafen. Sei gutes Muts! ich bin nicht wild, Sollst sanft in meinen A r m e n schlafen! 8 2

Indem Claudius vereint, was Lessing und Herder einander entgegengesetzt hatten, und den tröstlichen Sinn des neuen Bildes in das bedrohliche Äußere des alten hineinnimmt, gibt er seiner Todesgestalt eine innere Spannung, die gerade die Tiefe dieses Gedichts ausmacht. Stärke und Glaubhaftigkeit gewinnen die Beruhigungsworte des Todes erst, wenn sie sich gegen die natürliche Angst vor dem Tode behaupten können; diese Todesangst wird durch die äußere Erscheinung des »wilden Knochenmanns« einleuchtend motiviert, von der freundlichen Jünglingsgestalt dagegen geradezu verleugnet. Den Eindruck, den Lessings Abhandlung auf seine Zeitgenossen machte, bezeugen vor allem die weniger bedeutenden Dichter der Zeit mit ihrer ausgiebigen Verwendung des Todesgenius. Johann Georg 81

62

Matthias Claudius: Sämtliche Werke. Gedichte. - Prosa. - Briefe in A u s wahl. (Hrsg. v . Hannsludwig Geiger.) Berlin, Darmstadt: Tempel-Verl. ( 1 9 6 4 ) . S. lof. V g l . C a r l Fehrman: Liemannen, Thanatos och Dödens Ängel, a. a. O . S . 58. Claudius, a . a . O . S. 85.

52

Jacobi, der seine dichterische Laufbahn als Hausgenosse Christian Adolph Klotz' begann, spielt immer wieder mit dem Thema. Klotz hatte ihn mit seinen »Vorstellungen Amors auf geschnittenen Steinen« zu anakreontischen Gedichten angeregt,63 und in einer Epistel an Klotz apostrophiert Jacobi den Genius mit der Fackel als Amor: Wie erstaunt' ich, Als ich den kleinen Amor sah! Mit seiner Fackel saß er da, Gelehnt an eines Grabes Hügel, Und ließ den Thränen ihren Lauf. 64

Ein anderes Gedicht dieser Periode, Musarion, identifiziert das Bild schon als Darstellung des Todes, lehnt es aber trotzdem ab, indem es seine »Heiterkeit« noch zu übertrumpfen versucht: [ . . . ] Hinweg du stummer Knabe, Der du die Wange bethränst, Und an Cypressen, bey dem Grabe, Die umgekehrte Fackel lehnst! Der Tod ist süß! — Wenn er in die Palläste Mit fürchterlichem Geräusche fällt: Dann kömmt für midi der sanfteste der beste Von meinen Gespielen der künftigen Welt. Er kömmt mit heiteren Mienen, Und bietet mir die Hand: Er löscht die Lampe nur aus, die meinen Freuden geschienen, Und bringt midi in ein schöneres Land. 65

Das Gedicht, das übrigens von Jacobi selbst bei einer Revision seiner frühen Werke ausgemerzt wurde, ist nur insofern bemerkenswert, als es die Kontroverse um das Bild direkt in die Lyrik hineinträgt. In späteren Jahren dagegen gestaltet Jacobi das Bild positiv. Das erste Zeugnis dafür ist ein Gedicht zu Gleims Geburtstag 1 7 8 1 , in dem das Andenken des eben verstorbenen Lessing gefeiert wird: Laß uns nur den vollen Becher weihen, Seines Lebens uns zu freuen: [...] 63

84 65

J. G. Jacobi: Sämmtlidie Werke. 2. reditm., verb. u. verm. Aufl. Bd 1. Zürich: Orell, Füßli 1807. Vorrede S . X I I . An den Geheimenrath Klotz. Ebd. S. 1 2 1 . Johann Georg Jacobi: Sämtliche Werke. Theil 3. Frankfurt, Leipzig: 1779. S. 186. 53

Daß sein letzter Tag gekommen Ohne Schrecken, leis' und mild, Wie das Wandlen eines frommen Jünglings, wie das holde Bild, Das er uns im S c h l a f e s - B r u d e r zeigte, Welcher K r a n z u n d F a c k e l neigte.'8 Eine Fußnote, die hieran geknüpft ist, verweist ausdrücklich auf Lessings Abhandlung. Im Singspiel Der Tod des Orpheus

läßt Jacobi den

Helden kurz vor seinem Ende folgende Strophe singen: Letzter Schlaf, du Freund des Müden! Deine Fackel wirst du neigen, Lächelnd dann hinüber zeigen In das beßre Morgenroth. 87 Noch später, in einer Versepistel an seinen Arzt »nach einem Gespräch über den Tod«, spricht Jacobi in leicht scherzhaftem Plauderton von der Verwandlung des »Knochenmanns« in einen »Engel«, wobei er auf Lessings Schrift verweist: Ja, Freund, der dürre Knochenmann, Der, eh' ihn Lessing exilirte, Das Leichen-Carmen stattlich zierte, Ward längst zum Engel mir; ich kann Ihm scharf und fest ins Auge sehen, Die Hand ihm bieten, mit ihm gehen, Wohin der Edeln mir voran So mancher gieng.88 Von Herder wird das Bild nicht nur theoretisch erörtert, sondern auch lyrisch gestaltet. Als zentrales Thema steht es in der Elegie Der Tod. Ein Gespräch

an Lessings

Grabe:

Himmlischer Knabe, was stehest du hier? die verglimmende Fackel nieder zur Erde gesenkt; aber die andere flammt Dir auf deiner ambrosisdien Schulter an Lichte so herrlich! Sdiöneren Purpurglanz sah ja mein Auge nie! Bist du Amor? »Ich bins! doch unter dieser Umhüllung ob ich gleich Amor bin, heiß' ich den Sterblichen T o d . 68

67 68

J . G. Jacobi: Sämmtliche Werke, z. rechtm., verb. u. verm. Aufl. Bd 3. Zürich: Orell, Füßli 1809. S. 21 i f . Ebd. Bd 4. 1 8 1 0 . S. 1 3 7 . Ebd. Bd 7. 1813. S. 17J. Vgl. Jacobis Hinweis auf den Euphemismus des antiken Todesbildes, ebd. Bd 6. 1812. S. 95. 54

Unter allen Genien sahn die gütigen Götter keinen, der sanft wie ich löse das menschliche Herz. Und sie tauchten die Pfeile, womit ich die Armen erlöse, ihnen ein bitter Geschoß, selbst in den Becher der Lust. Dann geleit' ich im lieblichen Kuß die scheidende Seele auf zum wahren Genuß bräutlicher Freuden hinauf.« »Aber w o ist dein Bogen und Pfeil?« Dem tapferen Weisen, der sidi selber den Geist längst von der Hülle getrennt, Brauch' idi keiner Pfeile. Ich lösche die glänzende Fackel sanft ihm aus; da erglimmt eilig vom purpurnen Licht Diese andre. Des Schlafes Bruder, gieß' ich ihm Schlummer um den ruhigen Blick, bis er dort oben erwacht. »Und wer ist der Weise, dem du die Fackel der Erde hier gelöschet und dem jetzo die Schönere flammt?« Der ists, dem Athene, wie dort dem tapfren Tydides selber schärfte den Blick, da er die Götter ersah.* Mich erkannte L e s s i n g an meiner sinkenden Fackel, und bald zündet' ich ihm glänzend die andere an. * Anspielung auf die Schrift: W i e d i e A l t e n d e n T o d g e b i l det. (H.XXVIII i 3 $ f . r Der Genius trägt hier zwei Fackeln, eine erloschene gesenkt und eine brennende aufrecht, wie der Jüngling der Ildefonso-Gruppe, in dem Lessing den Tod zu erkennen glaubte. Die Elegie folgt in ihrer Anlage dem Muster einer Reihe von Epigrammen der griechischen Anthologie, die Herder selbst übersetzte: mit einer Frage, die eine Beschreibung einschließt, wird ein Bildwerk - zumeist eine allegorische oder mythische Gestalt - nach seiner Bedeutung befragt und gibt lehrhaft Auskunft über sich selbst, wobei vor allem die von der Frage beschriebenen Züge und Attribute erklärt werden. 70 Der Genius erscheint so als Stand" Vgl. Rudolf Unger: Novalis' Hymnen an die Nacht, Herder und Goethe. In: Rudolf Unger: Herder, Novalis und Kleist. (Unveränd. reprograf. Nachdr.) Darmstadt: Wissensch. Buchges. 1968. S . 2 4 - 6 1 , bes. S . 4 6 ; ders.: Zur Datierung und Deutung der Hymnen an die Nacht. Ebd. S. 62-87, bes. S. 68f. 70 S. die Epigramme H . X X V I 18 N r 34, j o N r 17, 52 N r 22, 69 N r 9, 72 N r 23, 83 N r 33, 88 N r 18, 9J N r JI, 144 N r 336 u. Herders Anmerkungen über das griechische Epigramm H . X V 357. Vgl. Ernst Beutler: Vom griechischen Epigramm im 18. Jahrhundert. Leipzig: Voigtländer 1909. = Probefahrten, IJ. S. 100; Hellmut Rosenfeld: Das deutsche Bildgedidit. Seine antiken Vorbilder und seine Entwicklung bis zur Gegenwart. Aus dem Grenzgebiet zwischen bildender Kunst und Dichtung. Leipzig: Mayer & Müller 1935. = Palaestra. 199. S. 1 2 1 .

55

bild, als Monument am Grabe seines Entdeckers. Das Gedicht spielt mit Bildern, die mitunter willkürlich anmuten und schwer greifbar ineinanderfließen, entspricht somit Herders Ansicht vom proteischen Charakter der allegorischen Figur. Auch sonst treten Momente auf, die Herder selbst zum Thema beigetragen hatte: Der Todesgenius identifiziert sich mit Amor, er erlöst die Menschen mit seinen Pfeilen, küßt die Seele und geleitet sie zur Vermählung ins Jenseits wie im Märchen von Amor und Psyche. Andererseits bezeichnet er sich als »des Schlafes Bruder«, er läßt den Toten nur schlummern, »bis er dort oben erwacht«, also bis zur Auferstehung - damit kommt ein christliches Element in die heidnische Gedanken- und Bilderwelt des Gedichts. Der didaktische Ton mag dem durchgehenden Stil der späteren Lyrik Herders zuzuschreiben sein, er ist aber auch als Reminiszenz an den Stil der Abhandlungen zu verstehen, in denen das Bild ursprünglich erörtert wurde - unpoetisch-gelehrtenhaft verweist eine Fußnote ausdrücklich auf Lessings Schrift. In anderen Gedichten Herders werden das Sterben oder der Tod gelegentlich mit der Metapher der gesenkten Fackel oder einer ähnlichen Andeutung umschrieben: Wenn einst mein Genius die Fackel senkt, So bitt' ich ihn vielleicht um Manches, nur Nicht um mein Ich.

(Das

H

.

X

X I X 138.)

O f t erlischt dem Guten zu früh die Fackel des Lebens, Daß ihm früher der Kranz ewger Belohnungen blüh'. {Grabschrift.

H. X X I X 667.)

Herders Gedicht Des Einsamen Klage schreibt dem Tod Züge eines Erlösers zu und gibt ihm eine brennende Fackel bei: Ich steh' allein! mein dunkles Seyn Hell macht der Hoffnung Morgenrot; N u r deine Fackel, holder Tod, Mir strahlt mit mildem Schein. W o weilst du? bring midi zur Ruh'! Komm, führ mich in dein stilles Land, Und schließe mir mit sanfter Hand Die trüben Augen zu.

56

(H. X X I X 60$.)

Die kurze Elegie Die Liebe im Todtenreiche

knüpft an dem sepulkralen

Motiv der dextrarum iunctio und dem Bild von Amor und Psyche an. (H. X X I X 124.) E t w a seit 1780 findet sich das Bild allenthalben in der deutschen Literatur. In erzählender Prosa wird es als leicht zu erschließende allegorische Dekoration fingierten Monumenten beigegeben. So beschreibt Hippel den Eingang zum heidnischen Saal des »Sterbegrafen« in den Lebensläufen

nach aufsteigender

Linie

folgendermaßen:

Zu beiden Seiten der großen Thüre standen zwei Genien, deren jeder seine Fackel umgekehrt hatte und ins Kreuz auf eine Urne hielt. Zwei Sphinxe von beiden Seiten sahen zu. 71 In Musäus' Version des Märchens von Schneewittchen, Richilde,

wird

»ein prächtiges Zenotaphium« erwähnt, »an welchem weinende Genien mit ausgelöschten Fackeln und Tränenkrügen nicht fehlten«. 72 Die Lyrik zeigt den Genius als einfache Metapher oder auch als vollständigeres Bild. Hier sind Matthisson und sein Freund Salis-Seewis zusammen zu erwähnen. Die Formulierungen dieser beiden verraten, daß der Todesgenius einer euphemistischen Absicht dient: Dann mag des Todes lächelnder Genius Die Fackel plötzlich lösdien; ich eile froh Zu Xenophons und Piatons Weisheit, Und zu Anakreons Myrtenlaube. 73 Senkt einst mein Genius die Fackel nieder Midi zu befreyn, Dann hallts noch im gebrochnen Herzen wieder: Auf ewig dein!74 Daß, eh des Daseyns Fackel sänke, Ich einmal noch den Himmelsduft Der Hesperidengärten tränke Und ihres Aethers Zauberluft! 75 71

72

73

74 75

Th. G. von Hippel: Lebensläufe nadi aufsteigender Linie, nebst Beilagen A, B, C. Theil 3, Bd 1. Leipzig: Göschen 1859. S. 29. J . K . A. Musäus: Volksmärchen der Deutschen. (Vollst. Ausg. nach d. Text d. Erstausg. v. 1782-86.) München: Winkler (1961). S. 98. Wunsch. In: Friedrich von Matthisson: Schriften. Ausg. letzter Hand. Bd 1. Zürich: Orell, Füßli 1825. S. 87. Wiederhall. Ebd. S. 1 8 1 . Sehnsucht nach Rom. Ebd. S. 234. 57

Der mildeste von unsere Schicksals Boten Winkt uns, die Fackel umgewandt, Und leitet uns mit sanfter Hand Ins Land der großen Toten, Ins stille Land. 7 6

Das lyrische Subjekt antizipiert hier jeweils den eigenen Tod, verdeckt sich jedoch dessen reale Vorstellung durch das beschönigende Bild, in dem überdies die tröstlichen Momente des Lächelns, der Milde und Sanftheit auffällig betont werden. Bei Matthisson kontrastiert dies eigenartig mit seinen zahlreichen Trauer-, Grab- und Todesgedichten, die in düsteren Bildern und Stimmungen schwelgen und keinerlei Hinweis auf den Todesgenius enthalten. Nur einmal betont Matthisson im Gedicht An den Tod, er habe diesen nie als »Furchtgerippe« gesehen ein deutlicher Reflex der Abhandlung Lessings.77 Herders Elegie Der Tod spielt auf die christliche Vorstellung der Auferstehung an, wodurch der Tote als Schlafender erscheint und der Bezug des Todesgenius zum Schlaf einleuchtend hervortritt. Aber in den Gedichten dieser Zeit, bei Herder ebenso wie bei Jacobi oder Matthisson und Salis-Seewis, steht der Todesgenius vorwiegend im Zusammenhang mit der Vorstellung, daß die unsterbliche Seele unmittelbar nach dem leiblichen Tod im Jenseits weiterlebt. Damit ändert sich das Bild, die Idee des Schlafes ist nicht mehr angebracht, und der Todesgenius muß eine andere Funktion erhalten: er gibt, indem er seine Fackel senkt, gleichsam nur das Signal für den Ubertritt ins Jenseits, er winkt oder zeigt den Weg hinüber oder er geleitet selbst den Toten dorthin, ja er kann sogar, in Herders Gedicht Des samen

Klage,

Ein-

seine Fackel nicht umkehren und lösdien, sondern als

ein den Weg erhellendes Licht gebrauchen. Eine gewandelte Todesvorstellung führt so zu Abwandlungen im Bild des Todesgenius.

76

77

Johann Gaudenz von Salis-Seewis: Lied. In: Deutsche National-Litteratur. Historisch kritische Ausg. hrsg. v. Joseph Kürschner. Bd 4 1 , Abt. 2. Haller und Salis-Seewis. Auswahl, hrsg. v. A . Frey. Berlin, Stuttgart: Spemann [o. J . ] . S. 326. Matthisson, a . a . O . S. 58.

58

Goethe und Schiller, ihre Zeit und ihr Echo In seinen frühen Dramen läßt Schiller die antithetischen Bezüge des Bildes spielen. In der Schauspiel-Fassung der Räuber frohlockt Franz Moor, nachdem sein Vater unter der falschen Nachricht von Karls Tod zusammengebrochen ist: T o d ! sdireyen sie, t o d ! Izt bin ich H e r r . Im ganzen Schlosse zettert es, t o d ! Wie aber s c h l ä f t er vielleicht nur? - freylich, ach freylich! das ist nun freylich ein Schlaf, wo es ewig niemals, Guten Morgen, heißt - Schlaf und Tod sind nur Zwillinge. Wir wollen einmal die Namen wechseln! Wakerer, willkommener Schlaf! Wir wollen dich Tod heissen! Er driikt ihm die Augen zu. (Sdi. III $2.)

Die Reflexion über die Ähnlichkeit und mögliche Verwechslung von Schlaf und Tod enthält - ob mit oder ohne Wissen des Sprechenden eine Anspielung auf die tatsächliche Situation, denn der alte Moor ist ja wirklich nur scheintot, wie sich später im Drama zeigt, und wird von Franz heimlich eingekerkert und für tot ausgegeben. Sind an dieser Stelle Tod und Schlaf fast auf die bloßen Begriffe reduziert, so daß strenggenommen gar nicht vom Todesgenius die Rede ist, so werden dafür in Kabale und Liebe die bildlichen Elemente malerisch breit entfaltet. Im fünften Akt will Luise Millerin trotz ihrem erzwungenen Eid ihrem Geliebten die Intrige verraten, die sie von ihm trennen sollte, was sie nur an einem » d r i t t e n Ort, wo kein Eidschwur mehr bindet«, sterbend am Grab tun kann. Sie versucht, ihren entsetzten Vater zu trösten: Nicht doch, mein Vater! das sind nur Schauer, die sich um das Wort herum lagern - Weg mit diesem, und es liegt ein Brautbette da, worüber der Morgen seinen goldenen Teppich breitet, und die Frühlinge ihre bunte Girlanden streun. Nur ein heulender Sünder konnte den Tod ein Gerippe schelten; es ist ein holder niedlicher Knabe, blühend, wie sie den Liebesgott malen, aber so tückisch nicht - ein stiller dienstbarer Genius, der der erschöpften Pilgerin Seele den A r m bietet über den Graben der Zeit, das Feenschloß der ewigen Herrlichkeit aufschließt, freundlich nickt und verschwindet. (Sdi. V 86.)

Auf den ersten Blick scheint das Bild hier völlig der Situation und der Absicht der Sprechenden angemessen. Luise sucht dem Vater mit schmeichelnden Worten den Tod, d. h. ihren eigenen Selbstmord, annehmbar zu machen - das liebliche Bild soll das schreckliche verdrän59

gen. Auch der Vergleich mit dem Liebesgott liegt nahe: Luises ganze Existenz ist von der Liebe bestimmt,78 die Liebe hat sie »tückisch« in ihre ausweglose Lage gebracht, andererseits erwartet sie gerade vom Tod die Erfüllung ihrer Liebe, weshalb sie diesem erotische Züge verleihen kann — sie malt eine Szene aus, die an das Märchen von Amor und Psyche erinnert.79 Schon früher im Drama hatte sie die Hoffnung ausgedrückt, im Jenseits mit Ferdinand vereinigt zu werden, aber dort bewegte sich ihre Vorstellung in ganz anderen Bereichen, in christlidi-eschatologischen Bildern, die ihrer durchgängigen Geisteshaltung viel eher entsprechen als der erotisierte Todesgenius.80 Dieses Bild zeigt sich überhaupt, zieht man die weiteren Zusammenhänge des Dramas mit heran, als unpassend und trügerisch. Es verfehlt schon den Zweck, zu dem es ins Gespräch gebracht wurde: mit dem eindringlichen Hinweis auf den »Gott Richter«, also wiederum die christliche Vorstellungswelt, bringt der Vater Luise von ihrem Selbstmordplan ab.81 Und Luises Tod selbst, der noch im selben Akt auf der Bühne erfolgt, spielt sich keineswegs so sanft ab, wie das Bild suggeriert — das einzige versöhnende Moment daran sind Luises eigene letzte Worte der Vergebung, die abermals ganz von christlichem Geist geprägt sind. So betrachtet, erweist sich der Todesgenius als ein Fremdkörper in diesem Drama, als Ausdruck einer mißglückten Versuchung, die die Heldin von dem ihr gemäßen Weg ablenken will. Unauffällig und implizit wird der Todesgenius schon hier in den Gegensatz zum Christentum gebracht, der dann, unter geänderten Vorzeichen, in den Göttern Griechenlandes offen zutagetritt. Der Vergleich mit Eros und die Anspielung auf Amor und Psyche erinnern übrigens an Herders Aufsätze, von denen zur Zeit der Entstehung von Kabale und Liebe freilich nur der erste an entlegenem Ort erschienen und Schiller wohl kaum zugänglich war. 78

V g l . W o l f g a n g Binder: Schiller. K a b a l e und Liebe. In: D a s deutsche D r a m a . V o m Barock bis zur Gegenwart. Interpretationen. Hrsg. v . Benno von Wiese. B d i . Düsseldorf: Bagel ( 1 9 6 8 ) . S. 2 5 6 .

79

V g l . Fritz Martini: Schillers » K a b a l e und Liebe«. Bemerkungen zur Interpretation des »Bürgerlichen TrauerspielsPark am Wall