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German Pages 223 [224] Year 1962
ALBERT BETTEX
SPIEGELUNGEN D E R SCHWEIZ
Von Albert Bettex erschien im gleichen Verlag: D E R K A M P F UM D A S K L A S S I S C H E 1788-1798 Antiklassische Strömungen in der deutschen Literatur vor dem Beginn der Romantik
WEIMAR
ALBERT BETTEX
SPIEGELUNGEN DER SCHWEIZ in der deutschen Literatur 1870 - 1 9 5 0
Mit 10 Bildtafeln
M A X
N I E H A N S
V E R L A G
AG.
Z Ü R I C H
Umschlag v o n Pierre G a u c h a t
Copyright 1954 by Max Niehans V e r l a g A G . Zurich, Switzerland Druck
der Buchdruckerei Winterthur A G . ,
Winterthur
Einband der Buchbinderei W . Bäschlin Sc Co., Zürich
INHALT Einleitung
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I. Die Schweiz in der Modeliteratur unter Wilhelm I. und Wilhelm II Land der Wirtschaftspioniere und der technischen Ferienland -
Das
Geschlecht
Zivilisation
der lachenden Erben -
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-
Politische
Trübung
II. Die Schweiz in den großen modernen Freiheitsbewegungen
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Das Grenzerlebnis. Die Nachhut der Achtundvierziger Die frühe Arbeiterdichtung und die Schweiz Das Vorfeld
Die Frauenbewegung und die Zürcher Hochschule Bertha v o n Suttner und Henri Dunant
Die naturalistische Literaturrevolution Das Bild Zürichs
Die Verherrlicher des starken Lebens Nietzsche und die Seinen - D i e Schweiz in der antibürgerlichen Karikatur - Der schweizerische Außenseiter - D e r Anarchismus und die Schweiz - Die Boheme in Zürich und Ascona
III. Der erste Höhepunkt: Das Menschenbild des Realismus und die schweizerische Wesensart Das Menschenbild
des Realismus -
des schweizerischen Menschen Volkscharakters -
70
Das Bild Kellers - Das Bild
D i e Mängel des schweizerischen
Theodor Fontane und Luise v o n François
Der Münchner Dichterkreis I V . Der zweite Höhepunkt: Die neuidealistischen Bewegungen und die Schweiz Impressionistischer Übergang Grundzüge des Neuidealismus Die Stunde Böcklins
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Das neuklassische ästhetische Ethos und die Schweiz Die Erneuerung des Landschaftserlebnisses Ricarda Huch. Die schweizerische Vergangenheit Die historische Schweiz - Der Zauber der Kleinstadt
Die Erneuerung der irrationalen und der religiösen Kräfte Der neue Irrationalismus - Die Erneuerung des religiösen Gefühls außerhalb der Kirchen - Die christlichen Konfessionen - Das Tessin als numinoses Land
Das neue Verständnis für «volkhafte» Kräfte Die Heimatkunst und die Schweiz - Die führenden Gestalten - Die Stunde Berns - Die schweizerische Sprache - Schranken des volkhaften Weltbildes - Der kleine Grenzverkehr
V. Der Erste Weltkrieg und die Schweiz
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Dada - Das Wunderland des Friedens
VI. Die Auseinandersetzung mit der Schweiz zur Zeit der Weimarer Republik
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Expressionismus Neue Sachlichkeit Die schweizerische Frau - Die junge Schweizer Generation in der Krise - Davos und seine Stunde
Der dritte Höhepunkt: Die Schweiz und die Idee der Ganzheit Ganzheit des Menschen - Hermann Hesse - Ganzheit der Volksgemeinschaft - Das kulturelle Kleineuropa - Rainer Maria Rilke Die Stunde Genfs - Thomas Mann und Otto Flake
VII. Entwicklungenzwischen 1933 und 1950
185
Die Linientreuen im nationalsozialistischen Staat - Die Stunde Basels - Die innere Emigration - Der große Exodus - Wiederaufbau - Abschließende Bemerkungen
Anmerkungen Verzeichnis der Dichter und Schriftsteller Verzeichnis der schweizerischen Motive
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BILDTAFELN 1 (nach S. 16) Schweizer Sommerferien 1889. Oben: Schifflände in Brunnen. Unten: Vor dem Gotthardzug in Flüelen. Aus der Mappe Hochzeitsreise in die Schweif (1889) von C. W. Allers. Wiedergabe nach dem Dezemberheft 1952 der schweizerischen Monatsschrift «Du». Zu S. i8ff. 2 (nach S. 32) Die Flucht vor der heimischen Zensur ins verlegerische Asyl der Schweiz: Werke aus der Zeit von 1877 bis 1936. 3 (nach S. 48) Auf dem Monte Verità bei Ascona um 1900 (I) : Lebensreformersitten als Protest gegen den wilhelminischen Zeitgeist. Links der Gründer der Kolonie, Henri Oedenkoven; dann Ida Hofmann, die Schauspielerin Anni Pracht, der anarchistische Reichstagsabgeordnete und Arzt Dr. Friedeberg, der Holländer Cornelius Gabes Gouba und Mimi Sohr. Photo Eduard Keller, Bern. Zu S. 66ff. 4 (nach S. 64) Auf dem Monte Verità bei Ascona um 1900 (II). Oben: Hausrat des ehemaligen österreichischen Offiziers Karl Gräser, von ihm selbst hergestellt. Unten: Der «Naturmensch» Karl Gräser. Photo wie Nr. 3. Zu S. 68. 5 (nach S. 80) Gerhart Hauptmann am Grab des Musikers Eugen d'Albert in Morcote, Tessin (1937). Photo C. Schiefer, Lugano. Zu S. 49. 6 (nach S. 96) Ricarda Huch, Doktorandin, Bibliothekarin, Lehrerin, in den 1890er Jahren vor dem Zürcher Photographen. Mit freundlicher Genehmigung von Frau Prof. M. Böhm, Heidelberg. Zu S. m f f . 7 (nach S. 112) Davos in der Sicht des expressionistischen Malers Ernst Ludwig Kirchner (Davos im Schnee, 1921). Mit freundlicher Erlaubnis des Kunstmuseums Basel. Zu S. 157 und 164fr. 8 (nach S. 128) Hermann Hesse, über dem Luganersee rastend (1952). Photo Martin Hesse, Bern. Zu S. 168 ff. 9 (nach S. 144) Rainer Maria Rilke vor der Rückseite des Hotels Château Bellevue im alten Walliser Städtchen Sierre, unweit des Schloßturms Muzot. Photo aus dem Rilke-Archiv der Schweizerischen Landesbibliothek, Bern. Zu S. 175 ff. 1 o (nach S. 160) Der Schriftsteller Otto Flake 1925 am Zürcher Alpenquai. Zu S. 18 3 ff.
Wenn die Natur gewöhnlichen Menschen die köstliche Mitgift nicht versagt, ich meine jenen lebhaften Trieb, von Kindheit an die äußere Welt mit Lust zu ergreifen, sie kennen zu lernen, sich mit ihr in Verhältnis zu setzen, mit ihr verbunden ein Ganzes zu bilden; so haben vorzügliche Geister öfters die Eigenschaft, eine Art von Scheu vor dem wirklichen Leben zu empfinden, sich in sich selbst zurückzuziehen, in sich selbst eine eigene Welt zu erschaffen und auf diese Weise das Vortrefflichste nach innen bezüglich zu leisten. Findet sich hingegen in besonders begabten Menschen jenes gemeinsame Bedürfnis, eifrig, zu allem, was die Natur in sie gelegt hat, auch in der äußeren Welt die antwortenden Gegenbilder zu suchen und dadurch das Innere völlig zum Ganzen und Gewissen zu steigern, so kann man versichert sein, daß auch so ein für Welt und Nachwelt höchst erfreuliches Dasein sich ausbilden werde. GOETHE Winckelmann und sein Jahrhundert (I8OJ)
EINLEITUNG In seinem Buch Die deutsche Schwei^erbegeisterung in den Jahren I/JO bis 181 j hat Eduard Ziehen 1922 eine Fülle von Aussagen deutscher Dichter, Historiker und Philosophen aus dem Zeitalter Goethes zusammengestellt und damit einleuchtend bezeugt, wie fruchtbar die Schweiz auf das deutsche Geistesleben vom Sturm und Drang bis zu den Freiheitskriegen einwirkte. Ihre Landschaft, ihre Freiheitstradition, das schlichte Wesen ihres Volkes, ihre großen Anreger von Haller über Bodmer bis zu Pestalozzi - was sie an fördernden Kräften besaß, fand in Deutschland empfänglich zugewandte Gemüter, so daß sie im Bewußtsein weiter deutscher Kreise Rang und Ruhm erhielt wie noch nie zuvor in der Geschichte der Begegnungen zwischen den beiden Ländern. In den folgenden Jahrzehnten hört das Fragen nach schweizerischen Dingen zwar keineswegs auf in der deutschen Literatur, es bildet sich aber doch zurück. Nicht für lange 1 Denn in den vierziger Jahren tauchen schweizerische Motive wieder häufiger auf; in den Jahrzehnten vor und nach 1900 aber sind sie in erstaunlicher Menge und Vielfalt und in allen Zonen des Schrifttums vom populären Unterhaltungsroman bis zum erlesensten Gedicht zu finden. Ähnlich wie zur Goethezeit fügten sich auf beiden Seiten eine Reihe förderlicher Umstände zu einer äußerst glücklichen, durch einige Gegenkräfte nie ernstlich gefährdeten Konstellation zusammen, die erst nach 1918 in geringem und dann 1933 bis 1945 in beträchtlichem Ausmaß erschüttert wurde. In der Zeit der «Demokratisierung des Reisens» öffneten sich die schweizerischen Landschaften zum erstenmal nahezu vollzählig einer bisher nie dagewesenen Besuchermenge von einer äußerst bunten menschlichen Zusammensetzung; zahlreichere Dichter und Schriftsteller als je setzten den Fuß in das vielgepriesene Alpenland. Die Schweiz hat ferner durch Taten wie die Verfassungsrevision von 1874 oder die Freigabe des akademischen Studiums für Frauen ihren Ruf als klassisches Land der Freiheit gemehrt, und in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts begann das Werk einer Reihe neuerer Dichter, Maler und Forscher hohen Ranges in die deutsche Welt hinauszuwirken. In den Jahrzehnten um 1900 trat ein Land als eine Werte schaffende Macht in den deutschen Kulturbereich, das in seinen anregenden Mög13
lichkeiten höher und reicher entwickelt dastand und einen weiteren Ausstrahlungskreis besaß als je. Von Deutschland her kamen der Schweiz die Sympathien der meisten entgegen, welche den gewaltigen Aufschwung des Reiches zwischen 1870 und 1914 trugen, gleichzeitig aber auch die Neigungen jener zahlreichen Dichter von Herwegh und Vischer bis Hofmannsthal, von Hauptmann bis Hesse, von Ricarda Huch bis Rilke und Thomas Mann, die in mehr oder minder starkem Widerspruch zum Zeitgeist standen und deren Werke, zusammengenommen, die Stätte eines einzigen großartigen Erneuerungsprozesses sind, der die menschliche Persönlichkeit und ihre sämtlichen Bezüge zur Wirklichkeit erfaßte. Hier suchten manche nach neuen Formen der politischen, sozialen oder persönlichen Freiheit, hier forschten andere in konservativerem Geiste nach neuen tragenden Inhalten der modernen Existenz, und später sahen manche in einer großen Zusammenfassung des Errungenen die höchste Aufgabe der Zeit. Von den vielfältigsten Positionen in diesem Geschehen aus wurde die Schweiz als ein «antwortendes Gegenbild» äußerst mannigfaltig gesehen - eine derartige Fülle von Aspekten ist nicht einmal in der Epoche der Schweizerbegeisterung von 1750 bis 1815 auf sie angewandt worden. Man kann die Jahre zwischen 1870 und 1933 als die zweite große Zeit der Schweiz in der deutschen Literatur und bis zu einem gewissen Grad auch im deutschen Bewußtsein bezeichnen.
I. D I E S C H W E I Z I N D E R M O D E L I T E R A T U R U N T E R W I L H E L M I. U N D W I L H E L M II. Mit der Reichsgründung von 1871 kamen im Leben der deutschen Nation gewisse wahrhaft geschichtemachende Kräfte, die sich seit dem Beginn des zweiten Jahrhundertdrittels zu sammeln begonnen hatten, zum Durchbruch und zur Vorherrschaft. Ein voluntaristischer, der Beherrschung der Mittel der äußeren Existenz primär zugewandter Menschenschlag wurde führend und verwandelte in kurzer Zeit die Lebensformen des Landes. Was das Dasein in einem innerlichen Sinne lebenswert machte, verlor seine Anziehungskraft. Seit 1830 sei die Welt gemeiner geworden, klagte Jacob Burckhardt. Der Agrarstaat Deutschland wurde überwiegend zu einem Industrieland (1871 siedelten 31 Prozent der Deutschen in Städten, 1895 waren es bereits 45,4 Prozent), und während das Reich unter preußischer Führung in der Welt an Macht und Glanz gewann, setzten im sich zerklüftenden Innern die sozialen Kämpfe M
in großem Umfang ein. Außerdem wurde nach 1870 der längst vorbereitete Abfall von der großen idealistisch bestimmten geistigen Vergangenheit deutlich spürbar. Die offene oder die durch allerlei moralische oder religiöse Attrappen verhehlte Loslösung von verpflichtenden transzendenten Ordnungen nahm Ausmaße an wie noch nie in der deutschen Geistesgeschichte. In einem umfänglichen, dokumentarisch aufschlußreichen Schrifttum ohne wesentlichen inneren und künstlerischen Rang, aber von breitester Publikums wirkung spricht sich die Lebensstimmung der Reichsbegeisterten aus Adel und Bürgertum zwischen 1870 und 19x4 aus. * Die Schweiz erscheint erstaunlich oft darin. Sie war ein Modethema der Modeliteratur, das heißt der erfolgreichen, die Kräfte und Wunschbilder der herrschenden Mentalität ausdrückenden Schriftwerke unter Wilhelm I. und WilhelmIL, namentlich bei manchen Hauptautoren der Gartenlaube und der Monatshefte von Westermann und Velhagen und Klasing. Die Umrisse und Grundkräfte eines allen einigermaßen gemeinsamen Schweizer Bildes sind unschwer zu erkennen. Land der Wirtschaftspioniere und der technischen Zivilisation Im Leben und im literarischen Spiegelbild sind die Repräsentanten dieses Zeitgeistes ein Geschlecht von Triumphierenden, durchdrungen von dem ungebrochenen Hochgefühl, das ihresgleichen in der ganzen weißen Welt erfüllte: man wußte sich mitwirkend an einem allgemeinen unaufhaltsamen Aufstieg der entscheidenden technischen, wirtschaftlichen und national-politischen Kräfte. Technischer Fortschritt bedeutete die wachsende Bezwingung der Natur, wirtschaftlicher die Eroberung der Weltmärkte durch die reicher und reicher werdende weiße Rasse, politischer die Erstarkung des Nationalstaates. Die herrschende Geistesart war ein Konglomerat von massivem Erfolgs- und Leisungswillen und «höheren» Werten zur Befriedigung der Gemütsbedürfnisse. Das erste Element tritt in den modischen Schweizerromanen zutage, wo immer der vom äußeren Fortschritt begeisterte Deutsche freudig sein schweizerisches Gegenüber entdeckt. Derbeste Kenner der Schweiz unter den wilhelminischen** Modeschriftstellern, der stramm bismarcktreue * D i e Zeitatmosphäre schildert meisterhaft D o l f Sternberger: Panorama oder Ansiebten Pom 19. Jahrhundert, 1938. * * Mit dem Ausdruck «Wilhelminismus» bezeichnen w i r den herrschenden Zeitgeist sowohl unter Wilhelm I. als auch unter Wilhelm II., w o b e i die in einzelnen Punkten abweichende Entwicklung unter dem deutschen Weltkriegskaiser als die hochwilhelminische von der frühwilhelminischen der Bismarckzeit unterschieden wird.
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Nationalliberale Hans Blum 1 , ein Sohn des in Wien erschossenen Achtundvierzigers Robert Blum, hat selbst ein Leben des Aufstiegs im Wunschstil der Zeit gelebt: vom Studenten zum Rechtsanwalt, zum Redakteur, zum Mitglied des Reichstags, zum Besitzer zweier Villen. Er unterläßt es nicht, in seinen Lebenserinnerungen (1907/1908) ähnliche ideale Lebensläufe bei gleichgestimmten Schweizern zu rühmen, so den des jungen stud. iur. Johannes Stoessel, «der bald nachher Dr. iuris, dann Staatsanwalt in Zürich, dann Leiter des Eidgenössischen Statistischen Büros in Bern wurde und nun seit vielen Jahren schon als Mitglied, zeitweise auch als Präsident der Zürcher Regierung und eidgenössischer Ständerat zu den hervorragendsten Staatsmännern der Schweiz gehört». Das Leben ist eine Leiter, die es so rasch und so hoch hinauf wie möglich zu erklimmen gilt. Nicht anders im Roman. In Wilhelmine von Hiüerns 2 bekenntnishaft Aus eigener Kraß betiteltem Gartenlaubenroman (1872 als Buch erschienen) tritt als eine Hauptfigur der Zürcher Seidenfabrikant Hösli auf (der Name ist eine willentliche Herausforderung an allzu standesstolze Adlige). Er ist als Kaufmann in Süd- und Nordamerika gewesen, in New York zum Konsul und schließlich in Zürich zum Leiter der größten Seidenfabrik aufgestiegen. «Sie glich mit ihren hohen Schornsteinen einer kleinen betriebsamen Stadt . . . und zwar einer reichen, denn nirgends traf das Auge innerhalb ihres Weichbildes auf Armut und Elend. Herr Hösli war ein Fürst, der seine Untertanen glücklich zu machen verstand.» Der Mann, der unverblümt bekennt: «Als Kaufleute müssen wir Geld machen . . . Wer Geld hat, ist unabhängig, ist Herr seiner selbst und seiner Zeit», erweist sich den Arbeitern gegenüber als musterhafter Kathedersozialist. Zum «antwortenden Gegenbild» der wilhelminischen Schriftsteller gehören die erfolgreichen Kaufleute, Industriellen und technischen Pioniere der Schweiz. Paul Favre, der den Gotthardtunnel, ein in der Literatur damals vielgenanntes Wunderwerk der Technik, erbaute3, war eine Gestalt im Sinne der Zeit. Die Szene, wo die von Norden und Süden her bohrenden Arbeiter das letzte trennende Felsstück im Berg durchbrechen und zuallererst das Bild des nicht lange vorher im Tunnel verschiedenen Favre durch die Lücke reichen, gewann hier symptomatische Bedeutung: es ist das Wunschbild von den ergeben Gefolgschaft leistenden Arbeitern, die ihrerseits durch das Verständnis des Herrn belohnt werden - eine Herausforderung an den verhaßten klassenkämpferischen Sozialismus. Noch im Jahr 1901 hat Hanns von Zobeltitz den assoziationsreichen Vorgang in seinen Roman vom Simplondurchstich {Besiegter Stein) eingebaut. Kaum einer unter diesen Schriftstellern, der nicht mit innerster Zustimmung vermerkte, wie sich durch die Hand des Technikers und die 16
Macht des strömenden Geldes nach Jahrhunderten der Stille das Antlitz der Schweiz rascher und rascher verändert. Es wächst der ganze moderne Apparat der Zivilisation mit neuen Stadtvierteln, Fabriken, Schienensträngen, Handelshäusern nach früheren langsamen Anfangen wuchernd empor. «Wenn ich betrachte, wie das enge, früher so ganz in sich zusammengekauerte Zürich, wie Bern, wie Luzern und wie selbst hier Vernex, Ciarens und Montreux in den letzten zehn Jahren großartig und schön geworden sind, so macht mich das betroffen im Hinblick auf die [deutsche] Heimat. Es ist erstaunlich und sehr lehrreich, was diese kleinen, selbstherrlichen Städte in sicherem Vorwärtskommen leisten», notiert sich Fanny Lewald im September 1877 in ihren Reisebriefen (1880), und gleichen Geistes läßt Wilhelmine von Hillern den Bündner Ingenieur Veit Collander, die Hauptgestalt ihres Romans Der Gewaltigste (1901), seine Lebensleistung zusammenfassen: «Draußen im Flachland spannen sich die luftigen Bogen meiner Brücken über die Ströme, in den Städten ragen meine Sonntagsträume, meine Hochbauten, empor, und meine Viadukte überwölben die Spalten und Schluchten der zerklüfteten Gebirge; durch die Alpen habe ich meine Tunnel gebohrt, und ganze Höhenzüge hab' ich der Kultur geöffnet; ich darf sagen, mein Tagewerk ist getan.» Noch wird nicht ernstlich am Werk der Technisierung gezweifelt - ein gelegentliches leichtes Unbehagen ist bald verflogen. Der Fortschrittsglaube auch des schweizerischen Partners und selbst des städtischen Volkes verehrt die Dampfmaschine gleich einem Leitidol der Zeit: «Auf einem niedrigen breitspurigen Wagen, von sechs keuchenden Frachtpferden gezogen, schwankte der schwarze Koloß langsam und majestätisch daher, der größte Hochdruckkessel, der bis dahin noch in Zürich gesehen worden. Die Erde erbebte unter den Schlägen der überlasteten Räder . . . In ununterbrochenen donnerartigen Stößen kam es grollend näher, feierlich, ungeheuer, wie eine gefesselte Naturkraft, die in ihrem Schöße lauerndes Verderben bringt. So erschien es Alfreds erregter banger Phantasie. Aber die Leute da unten betrachteten es anders. Die ganze , Enge' wimmelte von Zuschauern, ein dichter Schwann zog jauchzend vor und neben dem Wagen her. Es war, wie wenn die Kinder Israels das goldene Kalb umtanzten. Und doch war dies etwas anderes, denn das goldene Kalb war nichts als ein leerer Begriff, das eiserne Monstrum aber sollte der Wohltäter vieler Hunderte armer Arbeiter werden, die auf Beschäftigung in der neuen Fabrik warteten. Es war kein totes starres Götzenbild, es war das riesenhafte eiserne Herz eines gigantischen Fabrikkörpers, ein Herz, das glühen, überströmen, springen konnte wie ein ungestümes volles Menschenherz. Wohl hatten sie recht, die Massen, welche das Wunder umkreisten, von dem sie so viel hofften, sie brauchten nicht darüber, wie
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die Kinder Israels, ihres wahren Gottes zu vergessen, sie konnten ihn auch in dieser Schöpfung von Menschenhand erkennen, wenn sie es nur recht verstanden. War doch der Geist, der das gewaltige Werk ersonnen, auch ein Ausfluß des ewigen Geistes, der da waltet und wirkt im Kleinsten wie im Größten und die Menschheit lehrt, aus den rohen Kräften sich Waffen zu schmieden nicht nur im Kampfe um das Daseiii, auch im Kampfe um die ewige Schönheit dieses Daseins» (Aus eigener Kraft). Ferienland In den Schweizer Werken des modischen Schrifttums ist die Zahl der deutlicher profilierten schweizerischen Figuren bescheiden, die der Deutschen und andern Ausländer «aus guter Familie» dagegen Legion. Ihr Tummelplatz ist der vielbegehrte Reise- und Ferienroman. Hier sättigt sich die gesellschaftliche Neugier der breiten bürgerlichen Leserschichten, hier sehen sie die Spitzen der Gesellschaft, ihre Wunschbilder, sich im Schweizer Hotel, entrückt in die berühmtesten Landschaften, in der Internationale der Arrivierten bewegen. Das Hotel ist ein Dorado der gesellschaftlichen Abenteuer, der Jagd nach der guten Partie, der unverhofften Begegnungen, aus denen Schicksale werden. Man schwelgt in Szenen wie dieser: «Bei den Engländern am Kamin wurde geflirtet, was das Zeug hielt, daß die Misses lachend den Kopf zurückwarfen und ihren sich von hinten über ihren Stuhl beugenden Verehrern die tadellosen Gebisse zeigten, ein paar alte Yankees mit ausrasierter Oberlippe und fächerförmigem Vollbart rechneten stirnrunzelnd in ihren Notizbüchern, ein dicker, stark Plattdeutsch redender Herr verbreitete sich ausführlich über die Grundsätze, nach welchen die Familie Seiler Küche und Keller ihres Hotels leite, eine merklich geschminkte Französin sandte glänzende Blicke nach allen einzeln vorüberschreitenden Gentlemen, ein alter, vornehmer Russe fragte, von einem Stab von Kellnern und Hausdienern umringt, zum zwanzigstenmal nach seinen immer noch nicht eingetroffenen Koffern . . . » (Rudolf Stratz: Der weiße Tod, 1894). Die Unterhaltungsschriftsteller folgen dem großen Zug des Fremdenverkehrs dieser Jahrzehnte auf dem Fuße. In den ersten Zeiten nach 1870 dienen als beliebte Schauplätze noch jene Gegenden, in denen schon Haller, Rousseau, Goethe, Byron, Victor Hugo das klassische helvetische Arkadien gefunden hatten: Genfersee, Vierwaldstättersee und Berner Oberland. In den bündnerischen und wallisischen Alpengebieten und im Tessin (hier nach der Eröffnung der Gotthardbahn 1882) gehen die Jahrhunderte der Stille allmählich zu Ende. «Davos gehört ja kaum mehr zur Welt, und alle, die hier heraufkommen, um in einem Modekurorte, 18
einer eleganten Sommerfrische sich von den wirklichen und eingebildeten Winterleiden zu erholen, fühlen sich sehr enttäuscht, denn Davos in Graubünden ist alles eher als das»: so stellt 1873 die reisefreudige Schriftstellerin Franziska von Stengel, bereits leicht in Abwehr gegen die touristischen Heerscharen, fest (Der Pflicht geopfert. Erlebnisse aus den Schweiber Bergen). Am Jahrhundertende aber ist die Modeliteratur schon den Bewegungen der reisenden Gewalthaufen entlang den neuen Schienenwegen nach Graubünden, dem Wallis und ins Tessin gefolgt; die Flut steigt von den voralpinen zu den hochalpinen Lagen hinauf, und wenn den Ansprüchen der älteren Generation noch die Rigibahn genügt hatte, so war für die neue die Reise auf dem allerhöchsten Geleise Europas Trumpf: «Das Ereignis dieses Jahres [1905] war die Jungfraubahn. Schlechthin jeder war mit der Jungfraubahn gefahren, hatte von Station Eismeer eine Karte geschrieben» (Hans von Kahlenberg [Helene von Montbart]: Die Schweiber Reise. Eine lustige und empfindsame Sommergeschichte, 1908). Es blieb Schriftstellern, die im Widerspruch zum Zeitgeist standen, vorbehalten, die Poesie der unbegangenen Wege im Gastland zu entdecken4. Äußere Leistung, Freude am Aufstieg, Genuß von Wohlstand und Macht waren nicht die einzigen Lebenswerte der Herren der Zeit. J e weiter wir hinter die Jahrhundertwende bis in die Bismarck-Ära zurückgehen, um so deutlicher zeigt sich ein idealer Überbau, das «Höhere», ein schal gewordenes, mit dem pragmatischen Erfolgsethos in innerem Widerspruch stehendes System von Idealen. Während im Prosperitätsglauben Geist des eudämonistischen Rationalismus und vor allem ein Auserwähltheitsgefühl, das gern mit Schlagwörtern aus der Darwinschen Theorie vom «Kampf ums Dasein» spielte, am Werk waren, berief man sich andrerseits für das «Höhere» auf die Weisheit des Christentums und des klassischen Weimar. Es ist das Janusgesicht des Zeitalters, von dem der Historiker Karl Lamprecht spricht. Auf das «Höhere» war letzten Endes die festgefügte irdische Rangordnung gegründet, die man gegen die Unterhöhlungsversuche der «Reichsfeinde», der Sozialisten, Atheisten, Anarchisten, Frauenrechtlerinnen usw. zu verteidigen hatte. Einen solchen Angreifer (es ist ein in Zürich im Schutz des Asylrechts lebender deutscher Sozialdemokrat) läßt Hans Blum einmal gegen das ganze wilhelminische Weltgebäude frevlerisch Sturm laufen: «, Am nämlichen Tage [an dem die Volksmehrheit der Ausgebeuteten sich gegen die Ausbeuter erheben wird] wird alles hinweggefegt werden, was dieser in Wahrheit unwiderstehlichen Mehrheit im Wege steht: Verfassung und Gesetz, Glaube und Kirche, Fürsten, Adel und Stände, Privateigentum und Erbrecht, Familie und Ehe'» (Jul
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valta. Sozialer Roman aus der Gegenwart, 1892). Die schweizerischen Pioniergesfalten bei Blum, Wilhelmine von Hillern und andern frühwilhelminischen Autoren aber stehen gleich ihren Erfindern in ihren Familien, Staaten und Kirchen wie in Bollwerken der verbürgten, gottgewollten Ordnung da. Hier kommt neben der «realpolitischen» die idealistische Sicht zum Vorschein, und in ihr taucht nun das verklärte Bild einer Ferienschweiz der schönen Berge und Seen und des treuherzig-wackeren, freiheitliebenden Landvolkes auf. «Aus tiefem Schlafe, der sie hold umfangen, Tritt vor die Hütte schon die Sennerin, Ihr heller Jodler tönt ins Tal hernieder, Und weithin hallt der Berge Echo wider. Bald regt sich's auf den Höhn und in den Gassen. Der Senne bläst die liebliche Schalmei, Schlappfüßig wallt der Rinder Schar gelassen, Und fröhlich hüpft der Ziegen Volk herbei... Zur Arbeit mit den Rossen ziehn die Knechte Das Leben fordert wieder seine Rechte.» So schildert Otto Franz Gensichen in der Verserzählung Tamina (1888) das Erwachen auf der Alp. Wo Berghirten, Sennhütten und Herden hoch über dem Lärm und Ruß der Städte erscheinen, da wird der frühwilhelminische Schriftstellergast zum Sonntagsmaler und fügt so poetische wie klischeehafte Volksstaffage in sein alpines Genrebild. Hier wirkt noch romantisches Gut nach; der verhinderte Romantiker im wilhelminischen Zeitgenossen labt sich an derart zeitferner Volksidyllik, und die Schweiz wird für ihn zu einem bukolischen Land schlechthin. Manche Schriftsteller sind einen Schritt weiter gegangen und haben Sagen des Bergvolkes dichterisch frei dargestellt (so der österreichische Offizier Ferdinand von Ebhardt in dem Versepos Der Gemsenkaiser, 1900) oder an Ort und Stelle gesammelt, Volksbräuche beobachtend, angesteckt vom Eifer der gerade damals aufblühenden positivistischen Volkskunde, die zu retten suchte, was durch die fortschreitende technische Zivilisation immer weiter zurückgedrängt wurde. Ein Beispiel dafür sind die gelehrten Anmerkungen, die der österreichische Liberale Joseph Freiherr von Doblhoff seiner Geschichte Der Heiny von Realp (in Erzählungen aus der Schweif 1887) mitgab - zum Teil Material, das er im oberen Aaregebiet gesammelt hatte. Wo immer schweizerisches Alpenvolk in dieser Literatur auftaucht, ist Wohlgefallen an seiner Art zu spüren: als arbeitsam, bedürfnislos, gottesfürchtig, schlicht eingeordnet in eine patriarchalische Ordnung erscheint 20
es dem Fremden - in den Schweizer Bergen findet er gewissermaßen die idyllisch-pastorale Form der wilhelminischen soliden Idealität vor. Einen Fußbreit vom Pfade lauert die Gefahr der rührseligen Verzerrung. Einige dieser Genrebilder sind Zierden für das Museum der verfälschten Vorstellungen, welche die Völker gelegentlich voneinander hegen: «Wenn der Bewohner der Hochalpen, der König der Weiden, singend die Herde überwacht, oder wenn seine Kühnheit mit dem Fluge des Adlers und der Leichtfüßigkeit der Gemse wetteifert, dann scheint der Ausdruck ,Frei wie die Luft' wie für ihn gefunden. In der Unabhängigkeit des Entfaltens, täglich von den Wohltaten und der Majestät der Natur durchdrungen, erhebt sich seine Seele in Anbetung zum Allmächtigen, tief gerührt im Gefühl seiner unendlichen Barmherzigkeit. Die Freiheit steigt vom Himmel auf die Erde nieder, von jedem Berge wie von einem Altare steigt nun der Weihrauch der Freiheit - Glaube, Liebe, Hoffnung - zum Himmel empor» (W. H. Kleinsteuber: Der Badewirt von Gonten, 1871). Vor allem andern aber ist die Schweiz bei den Modeschriftstellern der Inbegriff eines schönen Landes. «Strömen nicht alle Völker der bewohnten Erde herbei, um sie zu sehen?» läßt Wilhelmine von Hillern stolz den Industriellen Hösli fragen, und Frau Wilhelmine Buchholtz aus Berlin, eine der in Deutschland populärsten literarischen Figuren des Jahrhunderts, stellt fest: «Wenn man so seine Bekannten fragt über den Eindruck der Schweiz, so heißt es oft, es gehe nichts darüber, und wenn man dort gewesen wäre, könne man nichts anderes mehr sehen» (Arthur Mennell: Buchhaltern in der Schweif, 1886)6. Diese Begeisterung für die Schweizer Landschaft stand beträchtlich unter dem Einfluß der Mode. Eine Schweizer Ferienreise gehörte zum modischen Brauch; die berühmten Landstriche betreten zu haben, vielleicht sogar mit prominenten Zeitgenossen darin zusammengetroffen zu sein, erhöhte das gesellschaftliche Ansehen - um so mehr, je tiefer wir in das renommierfreudige Zeitalter Wilhelms II. hineinkommen: «Man sagt einfach: ,Helene Dornemann ist in der Schweiz'. Das ist modern und klingt so standesgemäß, wie es sich für den Reichtum meiner Verwandten schickt» (E. Rema: Sanatorium Esperanto, 1910). Titel oder Untertitel wie «Am Genfersee» oder «Erzählungen aus den Schweizer Bergen» werten die populären Namen als wirksame Lockmittel aus. Man glaubte Seele und Sinne zu laben an der großen Natur; in Wirklichkeit aber steht das wilhelminische Geschlecht in der trüben Senke zwischen der unerschöpflichen Erlebniskraft der Schweizerreisenden aus der Zeit Rousseaus, Shelleys und Goethes oder aus dem Geiste des Poetischen Realismus und den Erneuerungen des Naturgefühls in der neuidealistischen Dichtung. Wo immer Landschaft dasteht, da äußert sich 21
sein ungemessenes Behagen an der in Stofflichkeit prangenden Welt. Nichts geht ihm über seine stoffreichen panoramatischen Veduten. Die Modeschriftsteller werden nicht müde, die Namen berühmter Berghäupter aneinanderzureihen. «Vom nächtlichen Firmament zuckte das geheimnisvolle Licht der Sternenheere. Hinter der gewaltigen Pyramide des Niesen hervor tauchte des Mondes volle Scheibe und schwebte der Stockhornkette zu. In geisterhaftem Glänze, hoch über allen Erdenmühen und Erdensorgen, stiegen aus dem Hintergrunde des dunklen Sees die ewig schneegekrönten Häupter der Alpenkette: Jungfrau, Mönch, Eiger, Schreckhorn» (Blum: Juvaltd). Fünfzehn Jahre später hat ein Meister des Naturerlebnisses, Christian Morgenstern, diesen die Natur so oft unter lauter Namen verschüttenden Veduten seine mystisch vertiefte Sicht entgegengehalten: «Was kümmert mich, mein kluger Freund, zu lernen, Wie dieser Berg, wie diese Blume heißt; Sie gehen in mich ein wie Geist in Geist Warum durch Namen sie von mir - entfernen?» {Mensch Wanderer, Gedichte aus den Jahren i SS/bis 1914,1927.) Das Geschlecht der lachenden Erben Gegen die Jahrhundertwende treten neue Züge im deutschen Reiseund Ferienroman auf: er füllt sich mit dem Lebensgefühl einer frischen, abenteuerlustig gewordenen Generation. Seine Verfasser, unbekümmerter, großzügiger, alerter als ihre Vorgänger, wollen die Welt im Zeichen der neuen Herren zeigen: es sind die lachenden Erben, Mehrer und bisweilen auch Verlierer gewaltiger Reichtümer, dieBeweger einer Epoche, in welcher die Prosperität weiterhin ansteigt, der technische Apparat wächst und imperialistische Hochgefühle mächtig werden - und zugleich die Epoche des Wettrüstens der Weltmächte und des Menetekels der russischen Revolution von 1905. Im Jahre 1860 hatte Hans Blum noch geschrieben : «Das arme deutsche Volk sind wir, aber reich wollen wir werden vor allen Völkern »; vierzig Jahre später heißt es bereits:« Deutschland um 1900I Wälder von Schloten am Niederrhein. Wälder von Masten im Hafen von Hamburg . . . Mein Feld ist die W e l t . . . Weiß Gott: wir scheffeln Geldl» So schreibt Rudolf Stratz in Reisen und Reifen (1926) - selber eine Gestalt im tonangebenden Stil: Sproß einer Großkaufmannsfamilie mit internationalen Beziehungen, Reserveoffizier, reich, weltmännisch, auf Luxusreisen durch ganz Europa kommend, freier Schriftsteller, erfolgreich bis tief in die Zeit der Weimarer Republik hinein. Das «Höhere» der 22
vorangehenden Generation verflüchtigt sich, so virtuos manauch vonallen Geistesgütern der Welt genießt; unversehrt bleiben aber die gesellschaftliche Rangordnung, der stramme Patriotismus, die Freude an Macht und Reichtum, und wenn man sich auch gern mit den verwegensten eman2ipierten Lebens- und Denkformen einläßt, wenn auch beispielsweise Stratz im Roman Die törichte Jungfrau (1901) einen einsamen Engadinwanderer huldigend den Zarathustra-Felsen von Surlej besuchen läßt, so hütet sich dieses synkretistische Geschlecht doch vor jeder verbindlichen Übernahme revolutionärer Ideen.6 Das Bild der Schweiz verwandelt sich hier insofern, als die Landschaft nun hergeben muß, was sie an sensationellem Kitzel besitzt. Ist es Zufall, daß jetzt auf einmal von dem neuen eleganten Gefühl für Weiträumigkeiten aus die Pikanterie der Kleinheit der Schweiz entdeckt wird? «Auf Länder und Meere sahen sie [von einem Walliser Berggipfel] hinab. Dort drüben liegt das deutsche Reich, da ganz hinten Österreich. Hier ringsum die Schweiz und da nahe dabei Italien, . . . da Frankreich» (Stratz: Der weiße Tod). Jetzt erobert der Ferienroman das höchste Hochgebirge und die neuesten Ziele der Reisemode: Zermatt, St. Moritz, Arosa, dazu das alpine Luxushotel (im Gegensatz zur patriarchalischen Familienpension und Table d'hote der frühwilhelminischen Zeit), wie der Engadiner Roman Alpentragödie von Richard Voß (1910) es etwa schildert. Stratz beschreibt die Gletscherwelt der Jungfrauregion aus eigener Bergsteigererfahrung, Ergriffenheit durch die gewaltige Natur prickelnd mit Bildern von Sturmnächten, Lawinengängen, Gletschernebeln, Bergabgründen mischend: «Was sie [die Hochwelt] an Gefahren besitzt, birgt das Lawinentor in den Falten seines Firnmantels. Der Fuß kann gleiten, der Schwindel das entsetzte Auge über der wesenlosen Tiefe packen, der Stein tückisch ausbrechen, an den sich die Hand als letzten Anker klammert. Wer stürzt, nach dem fletscht schon unten der Gletscher seine Zähne, und wer stehen bleibt, über den rollt von oben her der weiße Gischt des Lawinenschwalls hin und trägt ihn auf schnellen Schwingen mit sich hinab zu den eisigen Grabhügeln des Rottals» {Die törichte Jungfrau). Auf der Suche nach dem neuesten und verblüffendsten Effekt stoßen die Unterhaltungsschriftsteller der hochwilhelminischen Zeit auf das neue Motiv der winterlichen Alpenlandschaft. Paul Oskar Höcker breitet im Roman Die Sonne von St. Morit^ (1910) wie ein heimgekehrter Entdeckungsreisender die Köstlichkeiten des weißen Engadins aus, und zu der üblichen Elite des Geldes und der Geburt im Luxushotel fügt er das neue Volk der Wintersportler hinzu. «Alle Welt wollte Kunde haben von diesem damals ganz neuen Wintersport - wollte vor allem auch einen 2
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Einblick tun in das gesellschaftliche Bild dieser neuen Winterplätze», so rechtfertigt er das Unterfangen in seinen Memoiren. Von schweizerischen Menschen treten fast nur noch diejenigen etwas hervor, die dem modischen Sinn für das verwegene sensationelle Leben gefallen: der Bergsteiger, der Sportler, gelegentlich der wagemutige wirtschaftliche Unternehmer, jene mit Vorliebe dort gesehen, wo ihr Leben ein Spiel mit dem Tode wird. Durch die Alpenromane von Rudolf Stratz gehen einige wortkarge, kaltblütig größte Gefahren meisternde Bergführer, deren Urbilder er in seinem Erinnerungsbuch Reisen und Reifen beschreibt: «Über mir [dem Touristen, der im Sturz vom Seil festgehalten wurde] stehen, unbewegt wie Statuen in Nischen, die beiden Führer in der senkrechten Felswand, und der vordere sagt, ohne sein bärtiges Antlitz zu verziehen: ,Blib der Herr noch e Wyl bi unsl'» Bei Höcker erscheint der gefahrengewohnte Einheimische als Skiläufer wenige Jahre, nachdem 1902 in Glarus die erste schweizerische Skimeisterschaft bei einer Beteiligung von vierzehn Mann ausgetragen worden war. Die Gestalten aus dem mondänen Berghotel, dem Sport und der internationalen haute volée haben nicht nur in dieser ihrer ersten glanzvollen literarischen Epoche die breiten Leserschichten gefesselt: sie kommen bis in die Gegenwart nach manchen Wertungswechseln als unvermindert zugkräftige Figuren vor, und ihren modernisierten schweizerischen Inkarnationen begegnet man etwa bei Fedor von Zobeltitz {Im Zickzack durch die Liebe, 1931) oder Reinhold Conrad Muschler (Flucht in die Heimat, 1936). 1894 (von diesem Jahr an bestehen zuverlässige statistische Angaben) zählte man in der Schweiz 880 418 ankommende deutsche Gäste, 1913 : 1 131 290 (nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges sank die Zahl beträchtlich, zwischen 1925 und 1930 stieg sie wieder von rund 830 000 auf 927 000). Es war der zunehmende Wohlstand vorab der mittleren und oberen Bevölkerungsschichten zusammen mit den technischen Erleichterungen des Reisens, der dieses Gedränge fremder Gäste entstehen ließ. Diese Zeiten hält die wilhelminische Unterhaltungsliteratur fest, das Bild des Gastlandes in Leserschichten weit wie nie zuvor verbreitend und zugleich stoffhungrig auf alle Höhen, in alle Täler, in sämtliche Jahreszeiten vordringend. Diese Literatur entstammt in der Hauptsache einer ehrlichen, nicht bloß modebedingten Zustimmung zum Nachbarland, zum Teil aber ist sie einfach literarische Massenindustrie - insofern muß man zahlreiche in der Schweiz spielende Romane sowie die Jambendramen Heinrich Kruses (Heinrich Waldmann, 1890) und die beliebten Alpengedichte Rudolf Baumbachs den Anthologien alpiner Dichtung mit Goldschnitt 24
und reich verziertem gepreßtem Einband zur Seite stellen oder jenen Prachtsherbarien der Schweizerbegeisterung, den Schweizer Bilderalben im heimischen Salon, oder den vielgespielten Stücken etwa von Franz Bendel (Am Genfersee) für das sentimentale Klavier. Politische Trübung Nur von einer Zeitmacht, von den konservativen Verfechtern der nationalen Machtstaatsidee her, ist eine ernstliche Trübung des Bildes erfolgt. Im jungen Staate Bismarcks wuchs in den führenden Schichten der Stolz auf das prosperierende Gebilde. «Wir müssen radikaler werden in Fragen der Einheit und konservativer in Fragen der Freiheit», schreibt der Wortführer des nationalistischen Denkens, Treitschke, in einem Brief vom 26. Januar 1870 an Julius Holly. Je mehr in solchem Sinne bei einem deutschen Gast das liberale Element dem vermeintlich höchsten Ideal des starken Staates weicht, desto gestrenger wird der Blick auf die Schweiz. Der straff regierte, schwer bewaffnete und wirtschaftlich expansive deutsche Nationalstaat erstrebte Hegemonie nach außen und nach innen. Nach außen, indem er europäische Staaten, die seinem hegemonistischen Willen entgegenstanden, bekämpfte, nach innen, indem er die Herrschaft der starken Hand gegen Sozialisten, Anarchisten, Pazifisten und andere «Reichsfeinde» ausübte. Wo die liberal-demokratische Schweiz mit den Maßen eines solchen konsequenten konservativen Nationalismus gemessen wurde, da mußte sie als ein Ärgernis erscheinen. In den Begegnungen der meisten den Zeitgeist repräsentierenden Schriftsteller mit der Schweiz dämpfte zwar eine kräftige liberale Jovialität die Kritik an schweizerischen Dingen. Wo aber der Schriftsteller sich zum Sprecher des nationalistischen Geistes machte, konnte er plötzlich zum schweizerischen Staat wie Gegner zu Gegner stehen. ¿/»^Möglichkeit der Verfeindung zwischenDeutschen und Schweizern liegt in den Spannungen zwischen der autoritären, auch wirtschaftlichvordrängenden Großmachtund dem demokratischenKleinstaat. Auch die erzählerische Literatur wurde gelegentlich zum Instrument dieser gegnerischen Kritik am kleinen Nachbarland. Als ihr Wortführer erscheint ein Angehöriger des bayrischen Offiziersstandes: Max von Schlägel, der 1866 als Märtyrer seiner propreußischen Einstellung paradoxerweise das von ihm so geschmähte Schweizer Asyl in Anspruch hatte nehmen müssen. Sein ironisch Die Volksbeglücker betitelter politischer Roman erschien 1874, als die Schweiz sich die liberalste Verfassung ihrer Geschichte (mit Referendum und Initiative) gab, im Sinne 25
eben dieser «Volksbeglücker» - sechs Jahre nach den Zürcher Verfassungskämpfen, die in leichter Verbrämung bei von Schlägel in die Handlung hereinspielen. Für ihn droht dem schweizerischen Staat die Gefahr der anarchischen Auflösung von innen her, weil keine von oben her autoritär regierende Gewalt vorhanden ist. Die Hauptzerstörer des Staates sind die jungen Radikaldemokraten, welche die denkbar ausgiebigste Mitwirkung des Volkes an der Gesetzgebung fordern. Der konservative Monarchist kann das Volk als Ganzes aber bloß als eine urteilslose, wetterwendische, verführbare Masse von Kleinbürgern und Arbeitern ansehen. Ihre Politik ist Anarchie, ihre Führer sind raffgierige Demagogen, ihr Staat ist ohne die Attribute des Staates. Eine regulative politische Kraft in den Menschen und in der Verfassung zu suchen, ist hier undenkbar, und so steht das radikaldemokratische Programm verhöhnt am Pranger: «Erweiterung der Volksrechte, gerechtere Verteilung der allgemeinen Lasten, Regelung der Arbeiterverhältnisse durch den Staat, direkte Beteiligung an der Gesetzgebung, dies und vieles andere waren die Glückseligkeitslehren, welche die neuen Apostel predigten.» In der liberalen und sozialdemokratischen Opposition in Deutschland hatte dasselbe Programm dagegen den Ruhm der Schweiz erhöht; August Bebel hatte der deutschen Arbeiterschaft die Zürcher Verfassungsrevision als vorbildlich hingestellt, und der sozialdemokratische Eisenacher Kongreß war ihm darin gefolgt. Für den konservativen Gegner kommt damit zum Ärgernis der Demokratie das zweite Ärgernis hinzu: die Reichsfeinde in Deutschland werden durch das schweizerische Beispiel ermutigt. Der schweizerische Staat ist aber drittens ein Hindernis auch im äußeren Herrschaftsraum einer hegemonistischen europäischen Großmacht, denn er beharrt auf seiner Unabhängigkeit, wogegen die Großmacht sich ein moralisches und politisches Glacis wünscht, wo u. a. keine Sympathien für etwaige deutschfeindliche Nationen in Europa gehegt und keine Reichsfeinde geschützt werden. Statt dessen muß man feststellen, daß ein ausgeprägtes Asylrecht angewandt wird und die Schweiz auch andern Einflüssen als den deutschen aufgetan ist. So zurückhaltend oder jovial die nationalliberalen Gäste von der Art Blums oder Fanny Lewaids gegenüber den staatlichen Einrichtungen sind - in der Kritik des Asylrechts gehen sie mit den Konservativen einig. Zürich und Genf vor allem sind Verschwörerstädte. «Es [Genf] ist die seltsamste Stadt, die ich kennengelernt habe, der Zufluchtsort der politischen Verbrecher von ganz Europa» (Fedor von Zobeltitz: Das Nessusgewand, 1888). Selbst der Ferienroman wird zur Waffe der Kritik an politischen Rivalen: die sehr klischeehaft geschilderten eitlen und anmaßenden Franzosen vor allem 26
erscheinen bisweilen beinahe als unwürdige Nutznießer des weitherzigen touristischen Asylrechts im Ferienland. Hans Blum schrieb eigens die Geschichte Der Versuchsballon, um franzosenfreundliche Schweizer, gefahrliche Elemente im moralischen Glacis der Großmacht Deutschland, zu warnen, und im 3. Heft seines «Deutschen Pitaval» finden wir das im Geist des Kulturkampfes gegen den verdächtigen Tessiner Klerikalismus gerichtete Manifest Die ultramontanen Verbrechen im schweizerischen Kanton Tessin (1876-1887). Max von Schlägel türmt ein bedrohliches Gebäude aus Vorwürfen auf: anarchische Demokratie, Führerdemagogie, staatsgefährliche Wirkung auf die Opposition innerhalb der Reichsgrenzen, Asylrecht und Neigung zu deutschfeindlichen Mächten. Er krönt es mit Kulturkritik: der Schweizer vergißt den geziemenden Respekt vor der Suprematie der deutschen Kultur über die schweizerische. Mit einem tadelnden Blick auf die Deutschenverächter im Land läßt er den gemäßigt-fortschrittlichen Schweizer Regierungsrat Maxer einmal bekennen: «Diese Herren sollten erst unserem kleinen Ländchen einmal eine eigene soziale Entwicklung, eine eigentümliche Literatur und Kunst geben, und auch dann hätten sie noch nicht das Recht, hochmütig auf den Kulturtisch herabzusehen, von dessen Brosamen sie sich noch heute nähren.» Der Verfasser treibt die Dinge nicht bis zum Äußersten. Sein Roman endet mit einem Wunschbild konservativen Gepräges: innenpolitisch läßt er den gemäßigten Liberalismus alten Stils über die radikaldemokratischen Wünsche nach einer Verfassungsrevision siegen; damit ist dem Bedürfnis nach politischer Ordnung im Innern Genüge getan. Der Deutschenhaß als Ausdruck einer antihegemonistischen Haltung wird ersetzt durch die rückhaltlose Anerkennung der überlegenen politischen und kulturellen Macht Deutschlands7. Max von Schlägels Roman ist zweifellos ein unzulängliches literarisches Werkzeug der Kräfte, die in ihm zum Vorschein kommen. Er gehört in eine nach rückwärts und nach vorwärts reichende Reihe antischweizerischer Dokumente, in welcher der wilhelminische Nationalismus nur eine Episode in der Geschichte der Kritik des autoritären großen Staates am demokratischen Kleinstaat ist. In den Jahren zwischen 1870 und 1914 bildeten des Philosophen Theobald Ziegler Schmähschrift «Republik oder Monarchie? Schweiz oder Deutschland?» (1877) und des Alldeutschen Ernst Hesse «Weltpolitik, Imperialismus und Kolonialpolitik» (1908) Höhepunkte darin. Der Universitätsprofessor Hesse versichert zwar bescheiden, sein Programm enthalte «ganz gewiß kein unbilliges Verlangen». Mit Sätzen wie dem folgenden weist es aber schon voraus auf die Epoche der massivsten deutschen Gegnerschaft gegen Europa 2
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(und den kleinen Nachbarstaat) zur Zeit des Nationalsozialismus: «Nach diesen Ausführungen brauchen wir es eigentlich kaum auszusprechen, daß das künftige deutsche Ausdehnungsgebiet, zwischen den Herrschaftsgebieten des Ostens und des Westens mitteninne liegend, die an diese angrenzenden sogenannten Zwischenländer aufsaugen und sich von der Nordsee und Ostsee über die Niederlande und Luxemburg, und auch die Schweiz einschließend, über das ganze Donaugebiet, die Balkanhalbinsel, Kleinasien bis zum Persischen Meere erstrecken muß.»
IL DIE SCHWEIZ IN DEN GROSSEN MODERNEN FREIHEITSBEWEGUNGEN «O Scham oft, tiefste Schande, Mensch zu sein, Mitmensch von Geier, Büffel, Fuchs und Schwein.» So sah, von Ekel und Zorn ergriffen, in den neunziger Jahren Christian Morgenstern im Bild eines Bestiariums die herrschende, von Triumph zu Triumph fortschreitende Menschenwelt seiner Zeit: in vier Tiere verwandelt und erniedrigt vier Grundeigenschaften der wilhelminischen Art, die der Dichter als ebenso viele Grundverhängnisse empfand - die Freude am Raffen von Gut und Macht, der sture Eifer, emporzukommen, die List im Kampf ums Dasein, bzw. die moralische Tartufferie, und das Behagen am materiellen Genuß. Es spricht ein Dichter von jenen vielen, die nicht als Begeisterte, sondern als Leidende, Abwehrende und Warnende im blinden Fortschrittstaumel des aufsteigenden Deutschland standen. Die Zweifel waren mächtig in einer vielfaltigen Opposition; die Zeit war reich an Ansätzen zu andern, neuen Ordnungen des Lebens und der Politik, und dem Glauben an das starke Reich standen andere Gläubigkeiten entgegen. Wenn wir absehen von der stilleren, gegen 1900 sich lichtenden Schar der Poetischen Realisten, so finden wir innerhalb der Literatur die Mahner und Neuerer bis 1918 (und zum Teil darüber hinaus) in zwei großen geistigen Bewegungen: die eine ist eine befreiende und strebt nach Auflösung herkömmlicher Werte und Einrichtungen, die andere ist vornehmlich eine bindende und führt zu neuen Partizipationen an zeitlosen inneren Mächten und Lebensordnungen. Das Erlebnis der Schweiz ist ein organischer Bestandteil der beiden in sich reich differenzierten Bewegungen; von beiden her ist die Begegnung mit ihr gesucht worden, oft mit leidenschaftlichen inneren Einsätzen und bedeutenden Ergiebigkeiten. Es liegt nicht bloß daran, daß jetzt mit Hauptmann, Nietzsche, Ricarda Huch, George, Rilke und an28
dem an sich großgeartete schöpferische Gestalten in den Wirkungskreis der Schweiz traten; bei ihnen waren überdies im Gegensatz zu den selbstsicheren, satten modischen Unterhaltern häufig Not und Leid mächtig steigernde Kräfte: das Leid des Verfolgten oder gegen sture Gewalten Ankämpfenden, die Not dessen, der um tiefere Selbsterfassung oder um Wachstum über bisherige Schranken hinaus rang. In den freiheitlichen Bewegungen, denen wir uns zunächst zuwenden, waren zum Teil Heilserwartungen und Kampfbereitschaften von historischer Kraft wirksam. In ihnen lebten tief ins neunzehnte Jahrhundert hinein Lehren des Naturrechts und der Aufklärung weiter, vor allem jene eine, die wider alle freiheitsfeindlichen Gewalten der Welt das Urrecht des Menschen auf Selbstverwirklichung und Gleichberechtigung innerhalb der freien menschlichen Gemeinschaft fordert. «Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es»: dieser große Gedanke aus der französischen Erklärung der Menschenrechte, verwandt mit Urworten der Freiheit aus der Unabhängigkeitserklärung der USA, hat seine zündende Kraft durch das neunzehnte Jahrhundert hindurch bewahrt. Er trieb die kämpferischen Liberalen des Bürgertums zu den 48er Aufständen gegen die absolute Macht der Fürsten und behauptete sich im liberalen Gedankengut bürgerlicher Gruppen bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein; er wirkte im Befreiungskampf der sozialistischen Arbeiter gegen wirtschaftliche und politische Unterdrückung, er ergriff die Welt der Frau und führte hier zu den neuen Daseinsformen der «Emanzipierten», er vereinte sich im literarischen Naturalismus mit den Quintessenzen aus den antimetaphysischen und mechanistischen Weltvorstellungen eines gewissen philosophischen Materialismus, und er erreichte eine äußerste radikale Form und bisweilen auch Zerrform in den die letzten bindenden Ordnungen sprengenden Emanzipationen der Anarchisten, der Boheme und mancher Gestalten um Nietzsche. Soweit das Ziel der Befreiungsbewegungen ein politisches war, nämlich die Mitwirkung des Staatsbürgers an der Bestimmung der Staatsgeschicke, war es nach jahrzehntelangen Kämpfen in der Verfassung der Weimarer Republik einigermaßen erreicht; soweit es sich auf die Gestaltung des privaten Lebens bezog, war es weiterhin wirksam in den sehr freien Lebensformen vor allem der neuen Jugend zwischen 1918 und 1933. Ein neuer Todfeind war der moderne totale Staat. In der deutschen Dichtung haben diese kampfreichen Wandlungen und Ausweitungen der Freiheitsidee manches leuchtende Zeichen hinterlassen, und in ihrer großen Spur entdeckt man die kleine der Schweiz. Denn während in dieser Literatur das eigene Land als ein Raum der vorenthaltenen Freiheiten galt, erschien das schöne Nachbarland mit seiner liberalen Ver29
fassung, seinem Asylrecht und dem literarischen Asyl seiner Verlage als das große «antwortende Gegenbild» der weitgehend verwirklichten Freiheit. Das Grenzerlebnis. Die Nachhut der Achtundvierziger Sehr viele deutsche Dichtergäste der Schweiz (auch solche ohne politische Anliegen) haben den Gefühlsreiz, der mit dem Eintritt in den noch unvertrauten politischen Schicksalsbereich des Anrainers verbunden ist, auf sich wirken lassen. Er ist vorbereitet durch den uralten Freiheitsruhm des Landes, er wird wach beim Grenzübertritt und begleitet sodann, oft kaum spürbar, neben allen bewußten Auseinandersetzungen her den Fremdling auf seinem Gang durch das andere Land. Er wittert das Fluidum der Demokratie um historische Stätten und Regierungsgebäude, um Fahnen und marschierende Heereskolonnen, in Schriften des Tages, in der Haltung des einzelnen, von einem andern Schicksal und Staatsbewußtsein geprägten Schweizers - um bloß einige der wichtigsten Auslöser des irrationalen politischen Erlebnisses zu nennen. «Michael war das erste Mal in einer Stadt [Zürich] außerhalb Deutschlands. Hier schien selbst in der Luft etwas zu sein, das es in Deutschland nicht gab; die Menschen in den Straßen hatten eine andere Haltung und blickten anders, und der Gesichtsausdruck war ruhig. Es schien, als hielten sie das Grundrecht, zu leben und zu sein, wie sie waren, für eine Selbstverständlichkeit. War es Freiheit? Auch die würgende Armut, die den Rücken krümmt und das Auge trübt, schien es hier nicht zu geben, auch der Trambahnschaffner hatte eine gesunde Gesichtsfarbe und ein klares Auge. War hier die Verteilung der Güter vernünftiger ? Jedenfalls schienen hier, in der demokratischen Schweiz, die Menschen frei zu atmen», stellt Leonhard Franks feine Witterung zu Beginn des Ersten Weltkriegs fest (Links, wo I das Her\ 952)Ein dem ästhetischen Genuß Hingegebener wie etwa Henry Benrath kostet den Grenzübertritt als ein Sondererlebnis bis ins letzte aus - an der Stelle, wo es sich auf Stunden ausdehnen läßt: «Halte noch einmal am deutschen Ufer [des Bodensees]. Schau' - und spüre, was .drüben' heißt. Es flimmert über den Wassern, die nach Tang duften. Dieses Flimmern ist der Anfang deines Erlebens. Lasse dich übersetzen. Fahre auf das Schiff hinauf. Zu Schiff sollst du das andere Ufer erreichen, damit es ganz das ,andere' Ufer s e i . . . Was ist geschehen, als du an Land gehst ? Du bist in eine neue Gegenwärtigkeit getreten. Du bist Gast geworden» (Carmen Helveticum, 1939). Für den politischen Flüchtling hingegen ist die Grenze der Ort, wo seine Schicksalsmöglichkeiten von Grund auf wechseln; sie kann die 3°
Schranke zwischen Leben und Tod sein. In jeder deutschen Emigration ist von diesem Bann der Grenze die Rede. 1849 hatte der aus Böhmen im Metternichschen Österreich stammende Moritz Hartmann, der im Frankfurter Parlament für einen großdeutsch-demokratischen Staat gekämpft hatte, die schweizerische Schicksalsgrenze als Flüchtling überschritten8. In Gräfin Sassari {Novellen, 1863) beschreibt er einmal mit Pathos das Grenzerlebnis, transponiert in dasjenige eines protestantischen Flüchtlings aus dem frühen achtzehnten Jahrhundert, der mit seiner Tochter in der Nähe von Nyon den Fuß auf den freien Boden der Waadt setzt: «Komm, meine Tochter, tritt ans Land, berühre diesen gesegneten Boden, denn er ist der Boden Kanaans, des Gelobten Landes, es ist die Heimat des wahren und reinen Glaubens, der Boden, den der Herr vom Götzendienst gereinigt.» Dreimal (1839, 1843 und 1848) hatte Georg Herwegh in der Schweiz vor politischer Verfolgung Zuflucht gefunden; vom Sommer 1845 an hatte Ferdinand Freiligrath ein Jahr als Flüchtling bei Rapperswil und später in Zürich gelebt, als ein Mitverschworener im Kampf um eine liberale Welt von Gottfried Keller begrüßt: «Du trittst hier in der Freiheit Werkstatt ein, Wo zornig ihre Essen sprühn und rauchen. Doch mag hier noch der beste Boden sein, Wo harrend du dir deine Warte baust...» Herwegh, Freiligrath und Hartmann: drei führende Dichter aus der heroischen Zeit des deutschen Liberalismus. Sie beherrschten eine kurze historische Stunde lang die literarische Szene, als sie den für ein geeintes, von Fürstenmacht freies Deutschland kämpfenden Volksteilen die anfeuernden Freiheitsformeln schmiedeten. Als eine große Verheißung erscheint bei ihnen die Schweiz, so wie sie sie unauslöschlich in den vierziger Jahren erlebt hatten. Einige Kantone waren schon vor 1848 freier regiert; auf eidgenössischem Boden war sodann im Sonderbundskampf zuerst der Heilige Krieg um den demokratischen Staat der Zukunft entbrannt: «Die Freiheit dort, die Freiheit hier, Die Freiheit jetzt und für und für, Die Freiheit rings auf Erden I Im Hochland fiel der erste Schuß . . . » (Freiligrath) Vollends aber hatte das Hochland mit der Verfassung von 1848 die politische Bestimmung Europas vorweggenommen. 31
In den Jahrzehnten nach 1848 allerdings bauten viele liberale Kampfgenossen und Anhänger ihre freiheitlichen Forderungen ab und schlössen endlich eine stille Übereinkunft zwischen ihren Freiheitserwartungen und Bismarcks realpolitischem Einheitsreich und fanden sich mit Treitschkes und des Eisernen Kanzlers Auffassung ab, wonach nicht der Einzelne durch seine Rechte die Rechte des Staates beschränke, sondern der Staat im Interesse der Macht und Einheit die Rechte des Einzelnen. Eine kleine Stieitschar hielt unbeugsam an ihrem freiheitlichen Ethos fest und führte, zum Teil von der Schweiz her, den Kampf über 1871 hinaus fort, diesmal weniger gegen die Gewalt der Landesfürsten als gegen die politischen und sozialen Zustände im neuen Nationalstaat. Bei dieser unentwegten Nachhut der Achtundvierziger steht die politische Schweiz weiterhin in voller Geltung. «Säulen der Freiheit, ihr stehet noch fest!», so feiert Herweghs Gedicht« Zum eidgenössischen Schützenfest in Zürich » 1859 das Asylland, wo sich der Dichter dauernd niedergelassen hatte, und hier sah radikaler Achtundvierzigergeist zwischen 1848 und 1874 erreicht, was ihm als Höchstes vorgeschwebt hatte: ein Staat, in dem von frei gewählten Vertretern des Volkes Gesetze geschaffen, Recht gesprochen und die Regierungsgeschäfte geführt wurden; ein Staat mit Gedankenfreiheit, Gewerbefreiheit und wenigstens teilweise eingeschränkter Macht der verhaßten Kirche. 1874 rundeten Volksentscheid und Volksbegehren das Bild einer Demokratie ab, in der bürgerliche Rechte und Freiheiten in einem Höchstmaß entwickelt waren. Von der politisch arbeitenden Demokratie allerdings ist bei den Achtundvierzigern selten die Rede; sie waren Ideologen, und so blieb die Schweiz bis zu ihrem Tode das Land, das die Idee der Freiheit gleich einem politischen Gral bewahrte. Die ideologisch-politische Sicht bestimmt in ihrer Dichtung beinahe alles: Landschaft, Geschichtsbild und Volksauffassung. So werden aus den Alpen - kein starkes Naturgefühl verwehrt es diesen Dichtern politische Allegorien, Stein und Eis und Ewigkeit gewordene Sinnbilder der Freiheit: «Der Freiheit Prachtstatüen, Wie aus blankem Gold und Silber Von dem Herrn gegossen . . . » (Herwegh: Gedichte eines Lebendigen, II, 1844) Die Geschichte ist ihnen eine Magd der politischen Weltanschauung. So verfolgen sie in der Schweiz von mythischen Frühzeiten bis ins neunzehnte Jahrhundert den Kampf der Freiheit gegen die Tyrannei. Hellster Glanz liegt auf einigen Gestalten, die für jeden Liberalen untrennbar zum 32
Begriff «Schweiz» gehören: Teil, Winkelried, Bonivard sind Inbegriffe menschlichen Freiheitsmutes. Und ebenso oft fällt der Name Huttens als eines deutschen Freiheitskämpfers gegen Fürsten und Pfaffen, der im freien Alpenland als Emigrant starb. Die durch Schillers Teil genährte Schweizerbegeisterung von 1810 haben die Achtundvierziger zusammen mit der Liebe für den Freiheitsdichter unvermindert durch ihr Jahrhundert weitergetragen. Hartmann vorzüglich hat die historische Erzählung mit schweizerischen Themen gepflegt. Ihn fesselte die bewegte politische und religiöse Freiheitsgeschichte an den Ufern des Genfersees. Ihm wird der Léman mit Bonivard (Der Gefangene von Chillon, 1863) und den calvinistischen Flüchtlingskolonien neben dem Vierwaldstättersee (Schluß der Erzählung Wilhelm Teil) zu einem zweiten See der Freiheit. Gottfried Keller war vielen liberalen Emigranten persönlich bekannt. Ihnen erschien er in erster Linie als tapferer Freischärler im Kampf gegen die Reaktion in der Schweiz, und sie haben dieses Bild an die nachfolgenden kämpferischen Generationen weitergegeben. Die politische Sympathie dürfte mitgespielt haben, wenn eine in London lebende Tochter Freiligraths 1891 die Seidwyler Geschichten und später auch den Grünen Heinrich ins Englische übertrug9. In dem milden, wohlbebauten Gelände zu Füßen der Alpen aber sahen die Achtundvierziger ein Volk von arkadischer Natürlichkeit angesiedelt, so wie es die biedermeierischen Kleinmeister der Schweiz gemalt hatten. Es ist die Begeisterung für die Freiheitsidee, die demokratischen Einrichtungen, die große Natur und Geschichte, die sich hier auf das Bild der Bewohner der glücklichen Gefilde verklärend überträgt. Das letzte Werk solch besinnlicher Neigung der alten Achtundvierziger zu dem im kleinen Kreise erfüllten Leben ist die Einleitung zu der Verserzählung Tanagra (1882) des ehemaligen Barrikadenkämpfers und späteren rührigen Zürcher Professors der Archäologie Gottfried Kinkel. Streitbarer blieb bis zuletzt Georg Herwegh. Ein unentwegter Republikaner, später noch ein Anhänger Lassalles, begleitete er von Zürich aus den Gang der deutschen Ereignisse mit Zeitungsartikeln und schmähenden Gedichten (1877 als Neue Gedichte in Zürich, wie auch seine früheren Werke, herausgekommen) : ein sarkastischer Kalender, der die Missetaten der immerfort machtgieriger werdenden nationalistischen Kaisertreuen, des preußischen Militarismus, der wirtschaftlichen Ausbeutung und der kirchlichen Orthodoxie aufzeichnet. Noch über seinen Tod (1875) hinaus lobt die Inschrift auf dem Grabstein in seinem Bürgerort Liestal, mit deutlicher Spitze gegen das Reich, die gastliche Schweiz:
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«Hier ruht, wie er's gewollt, In seiner Heimat freien Erde Georg Herwegh.» Die frühe Arbeiterdichtung und die Schweiz In den Jahrzehnten um 1900 bewegten sich die Menschen landaus und landein in Mengen und mit einer Freizügigkeit wie nie zuvor. Die Schweiz wurde von diesem Strom in ihrer ganzen Breite überspült. Unter den Scharen im späteren neunzehnten Jahrhundert treffen wir auch auf jene Wanderer, für welche die Reise mit der Bahn kaum erschwinglich war: Handwerksburschen, Industriearbeiter, Angehörige jener wachsenden bedrückten Massen im Reich, in denen der Zorn über die « kapitalistische Gesellschaftsordnung» gärte. Zu einer Zeit, als die materiellen Schätze der gesamten Erde in einem bisher unerhörten Umfang erschlossen und ausgebeutet wurden, sahen sie sich, im Gegensatz zu jenen reich und mächtig Gewordenen, welche die wilhelminische Modeliteratur verherrlichte, um ein gutes Stück ihres Anteils an den Früchten der Welt betrogen. Noch war um 1870 das Leben in den Menschenpferchen der Mietskasernen trostlos armselig, noch war man erbarmungsloser als andere allen Wechselfällen der äußeren Existenz: Krankheit, Not, Entlassung, politischem Druck, preisgegeben, und ein ernsthafter Versuch, die Arbeitermassen durch ein allgemeines direktes Wahlrecht als aktive Mitgestalter eines besseren sozialen Deutschland zuzulassen, war nicht unternommen worden. So trat der große Kampf des Vierten Standes um seine Lebensrechte und gegen die Armut in die akute Phase. 1863 war Lassalles Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein gegründet worden Herwegh hatte ihm auf die Bitte seines Freundes Lassalle hin im gleichen Jahr das kraftvolle Bundeslied geschrieben. Von Zürich aus traten die zündenden Parolen «Mann der Arbeit, aufgewacht! Und erkenne deine Macht! Alle Räder stehen still, Wenn dein starker Arm es will!» den Weg tief ins deutsche Proletariat hinein an. 1869 schlössen sich die radikaleren Geister unter Bebel und Liebknecht zur Sozialdemokratischen Arbeiterpartei zusammen. Ihr führender Dichter war zunächst der Hamburger Mechaniker Jakob Audorf, der 1858 bis 1860 den Deutschen Arbeiterverein in Winterthur geleitet hatte. In seinen Gedichten (1893) stehen manche naturfreudige Lieder von Schweizer Wander34
Schäften. Seine Arbeitermarseillaise wurde 1864 zum erstenmal gesungen. 1875 vereinigten sich die Reste der Lassalleschen Gefolgschaft mit den Sozialisten. Das war nicht mehr die ungeschulte, aussichtslose Selbsthilfe der hungernden schlesischen Weber von 1844; es war der zielbewußte Wille einer Bewegung, die sich immer mehr vom früheren Vorkämpfer und Mitkämpfer, dem freiheitlichen demokratischen Bürgertum, löste, die Arbeiter im Verband zusammenschloß und in ihnen ein eigenes Klassenbewußtsein weckte und die Entschlossenheit, mit allen Mitteln außer demjenigen des blutigen Umsturzes ein menschenwürdiges Dasein zu erringen. Wir finden neben dem marxistischen Primat der wirtschaftlichen Befreiung und der «revolutionären Vereinigung der Arbeiter durch die Assoziation» die konkreten liberalen und demokratischen Forderungen nach dem freien Wort, der freien Gemeinschaftsbildung, dem freien Unterricht für alle, ja auch nach dem Recht, Gesetze vorzuschlagen oder zu verwerfen. Das Wort «Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es» hat auch hier seine geschichtemachende Kraft bewahrt. In gedrängtester Formel hat Herweghs «Bundeslied» die miteinander verquickten Hochziele der ökonomischen und politischen Freiheit den Massen eingeprägt: «Brot ist Freiheit, Freiheit Brot.» Bei aller rationalen Programmatik darf nicht eine starke emotionale Unterströmung in dieser frühen Sozialdemokratie verkannt werden; es geht durch sie jener säkularisierte chiliastische Zug, der auch andere Träger freiheitlicher Ideen im neunzehnten Jahrhundert hinriß und der auch in der Schweizerbegeisterung der Achtundvierziger zu spüren ist. Letzten Endes wußte man sich wie jene als Mitvollstrecker eines die ganze Welt verwandelnden historischen Auftrags. «Der Sozialismus und der Gedanke einer großen Arbeiterverbrüderung durch die ganze zivilisierte Welt hatte uns mit aller Macht in seinen Bann genommen und rauschte wie Sturm durch unsere Herzen», sagt in seinen Erinnerungen der allem Überschwang sonst so abgeneigte Schweizer Gewerkschaftsführer Hermann Greulich - ein ehemaliger Breslauer Buchbinder, der 1865 auf der Wanderschaft, sieben Jahre nach Audorf, den freieren Boden der Schweiz betreten hatte. Eine wichtige Waffe im sozialistischen Kampf war die Dichtung. Sie stammt zwar zum Teil von bürgerlichen Mitverschworenen wie Herwegh und Freiligrath; der dichtende Arbeiter der Frühzeit selbst ist noch unbeholfen, er borgt das Wort bei Schiller oder den Achtundvierzigern und bringt seine Reflexionen oder seine Elendsbilder nur mühsam in 35
Verse. Dennoch: er ist leidenschaftlich erfüllt von der dreifachen Aufgabe politischer Dichtung - den Feind zu zeigen, das Ziel zu zeigen, den Freund zu zeigen. Diese kämpferische Lyrik war in der Regel dazu bestimmt, gesungen zu werden. Erst wenn in Massenversammlungen, Feiern und Umzügen Gedichte zu brausenden Gesängen wurden, erfüllten sie ihre höchste Funktion. Die Hauptform, in der das politische Lied verbreitet wurde, war die Anthologie. Und hier haben wir festzuhalten: fast keine Sammlung deutscher Arbeiterdichtung ohne einige schweizerische Motive. Sie gehören in jenen Zeiten so selbstverständlich dazu wie das «antwortende Gegenbild» der demokratischen Schweiz zum Bewußtsein des sozialdemokratischen deutschen Arbeiters. Sie war vor allem das Land der demokratischen Freiheit, auch wenn nicht verborgen blieb, daß diese ihre Grenzen hatte, daß es einen schweizerischen Kapitalismus gab und der Emigrant nicht nur Freunde, sondern auch Feinde im Gastland traf, manchmal auch bei fremdenfeindlichen Gesinnungsgenossen. Aber dennoch: hier sah man das, was man selber unter schweren Opfern erkämpfte die weitgehende Mitregierung des Volkes - verheißungsvoll erreicht. Im biographischen Anhang zu den Arbeiteranthologien sah der deutsche Proletarier ferner die Schweiz als Zufluchtsland seiner Freunde in einem Atem mit England und Amerika genannt. Teil, durch Schiller urvertraut, und Winkelried waren jedem als Symbole auch des sozialen Freiheitskampfes gegenwärtig, und die Dichter wurden nicht müde, in dunklen Zeiten am Vorbild der beiden Gestalten die Gedanken höher zu stimmen: «O schöne fromme Sage Vom kühnen Schützen Teil, Du klingst durch trübe Tage Den Unterdrückten hell; Du hütest still das Feuer Dem kommenden Geschlecht...» (Robert Seidel: Lichtglaube und Zukunftssonnen, 1907) Solche Zeiten brachen für die Sozialdemokratie 1878 an, als Bismarck gegen die drohend aufsteigende Macht der Arbeiterorganisationen den vermeintlich vernichtenden Schlag führte. Während er die Arbeiter durch ein an sich großzügiges Programm der Sozialversicherung zu gewinnen suchte, schloß das «Sozialistengesetz» (1878-1890) sie vom politischen Kampf aus, indem es ihre Vereinigungen und ihre Publikationsmittel verbot; mit Verhaftungen, Ausweisungen, Denunziationen, Not und Angst setzte die entscheidende Belastungsprobe der Sozialdemokra-
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tie ein - und zugleich die große Stunde der Schweiz in der deutschen Arbeiterbewegung. Denn hier kamen Bebel, Bernstein, Kautsky, Motteier und andere ihrer Führer zu Beratungen zusammen; manche fanden ein Asyl in Genf oder Zürich, wo radikaldemokratische Regierungen das Niederlassungsrecht freizügig handhabten. Die Schweiz war ferner ein Arsenal der geistigen Waffen: 1879 bis 1888 wurde der Sozialdemokrat in Zürich gedruckt; auf Schmuggelwegen gelangte er ins Reich und sicherte mit seinen Parolen den Zusammenhang zwischen den Unterdrückten. 1884 gründete man in Zürich das Parteiarchiv, und nicht zuletzt: von der Schweiz aus wurden die im Reich verbotenen gefährlichen Anthologien hinausgesandt. Ein Sozialdemokratisches Liederbuch erschien in neunter Auf läge 1886 in Zürich, im gleichen Jahr sammelte an derselben Stelle der deutsche Flüchtling Rudolf Lavant unter dem Titel Vorwärts! «für das deutsche Proletariat» streitbares Versgut, darunter auch die unentbehrlichen schweizerischen Motive (Herwegh: Die Schn>ei\, Freiligrath: Im Hochland fiel der erste Schuß, Keller: Frau Michel, L. Seeger: Freie Eidgenossenschaft, einiges von Greulich usw.). Die politische Wirksamkeit solcher Anthologien ist nicht zu unterschätzen. Alte und neue begleiten die Arbeiterbewegung ins zwanzigste Jahrhundert hinein; die meisten führen auch das Bild der freien Schweiz mit sich - so die künstlerisch und menschlich gewichtigste und bisher nicht übertroffene Leistung auf diesem Gebiet: Von unten auf, von Franz Diederichs und Anna Siemsen (1928). Der Arbeiterdichter Bruno Schönlank hat von einem menschlich vertieften späteren Sozialismus aus 1929 einen «Roman aus der Zeit des Sozialistengesetzes» unter dem Titel Agnes geschrieben. Im Rückblick spielt das Freiheitsland hier in das Berliner Proletariat herein mit der ganzen Gloriole einer Stätte der Zuflucht und einer Waffenschmiede für den sozialen Kampf. Das Hauptereignis ist der erste geheime Kongreß der Sozialistenführer auf Schloß Widen bei Winterthur im Juli 1880: «Aus dem ganzen Reich waren die Sozialdemokraten in dem alten Raubritterschloß in der Schweiz zusammengekommen Auch aus Belgien, Frankreich und der Schweiz waren brüderliche Vertreter erschienen. Die Partei wollte weiter mit allen Mitteln für ihre Ideen und Forderungen kämpfen . . . Wie ein Feuerstrom ging dieser Kongreß durch die in den vorderen Reihen Stehenden und erfaßte auch die Lauen mit neuem Gluthauch.» Für eine letzte, umfassende politische Konzeption war manchen Sozialisten die Schweiz ebenfalls ein Unterpfand. Niemanden traf der Krieg grausamer als die Mittellosen. So waren sie doppelt empfänglich für die messianische Verheißung einer freien Föderation von Völkern, die für 37
immer in Frieden miteinander leben wollten. Der übervölkische Kleinstaat südlich des Rheins war ein Bild künftiger Möglichkeiten, das man dem militaristischen Machtstaat entgegenhielt: «Tragt eure Fahnen mutig weiter Zum Siege über jede Not. Die Stunde wird einst sicher nahen, Da freie Eidgenossenschaft Die Völker alle wird umfahen In brüderlicher Lieb' und Kraft.» (Aus Kampfgewühl und Einsamkeit, 1895) So verkündete es der 1870er Flüchtling Robert Seidel, der nicht gegen Frankreich ins Feld 2iehen wollte und drei Jahre lang als Weber im Zürcherland arbeitete10, ein häufiger Gast in sozialistischen Anthologien und Darsteller schweizerischer Dinge. Damit greift er ein Thema auf, das gelegentlich schon von den achtundvierziger Liberalen und ihren romantischen Vorläufern angetönt worden war, seine Fülle aber erst zur Zeit des Völkerbundes gewann und dann wieder erneut zur Zeit, als Europa sich mühsam aus der Trümmerwüste des Zweiten Weltkrieges zu erheben anfing. In die Jahre des Sozialistengesetzes fiel der Gottharddurchstich (1880). Die wilhelminischen Unterhaltungsschriftsteller hatten sich des Themas bemächtigt; Hanns von Zobeltitz hatte es im Einklang mit der vorherrschenden Mentalität gesehen. Der Dichter Max Kegel hingegen, unter dem Sozialistengesetz von Stadt zu Stadt gehetzt, später Herausgeber der führenden Anthologie Deutsche Arbeiterdichtung (1891), sah es als politischer Kämpfer: so wie er und seinesgleichen schweizerische Landschaften (ähnlich wie die Achtundvierziger) nur sentimental-idyllisch oder dann als Allegorien des Kampfes und der Befreiung darstellten, so wurde nun auch das, was Arbeiter tief im Bergesinnern leisteten, zum anspornenden Bild erhoben für alle, die mit vereinten Kräften eines Tages stärkste Widerstände brechen sollten: «Nimmer rasten, nimmer ruhn, Schritt für Schritt mit den Gefährten, Stark durch einiggleiches T u n l . . . Horch, wie jenseits, dir so nah, Schon die kecken Hämmer schlagen.» (Gedichte, 1893)«
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In den Anthologien der Linken fehlt nie ein Schweizer Ehrengast: Gottfried Keller. Der Apostatenmarsch, Frau Michel und ähnliche Kampfgedichte aus seiner Frühzeit behaupten sich darin durch die Jahrzehnte. Der Dichter stimmte mit manchen Abneigungen seiner literarischen Gastgeber überein, aber durchaus nicht mit dem «wohldressierten Einheitsstaat, wo jeder zweite Mann eine rotbebändelte Mütze trägt»; das hinderte nicht, daß er für sie blieb, was er für die Achtundvierziger gewesen war: ein kampffroher Bundesgenosse. Während Conrad Ferdinand Meyers erster Ruhm durch Huttens letzte Tage in bismarcktreuen Kreisen entstand, während Hans Blum in seinen Erinnerungen hervorhebt, wie dieses Dichters Herz «allzeit an dem Ringen der Deutschen nach nationaler Einheit, an Deutschlands Freiheit, Kraft und Herrlichkeit hing», während unter den Paladinen des neuen Reiches jene Szene, wo Meyer zur Erprobung des Echos «Bismarck» in die Felsen ob Tschamutt ruft, beinahe im Rang seines schönsten Gedichtes stand, spielt in Kellers verwickelter Ruhmesgeschichte die frühe Zustimmung bürgerlicher Freiheitskämpfer eine wesentliche Rolle. Die Kraft seines Freiheitssinnes wirkte auch in nachliberalen Befreiungsbewegungen und ihrer Dichtung bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein weiter. Was alle freiheitlich Gestimmten zu ihm hinzog, hat Maurice Reinhold von Stern, der damals dem Sozialismus nahestand, in seinen Ausgewählten Gedichten (1891) kräftig zusammengefaßt: «Da sei ihm dies noch unvergessen, daß er des Volkes Freiheit pries 1 Daß er in seinen Jugendtagen ein tapfer-ehrlich Lied einst sang, und daß er wacker dreingeschlagen, als seine Zeit in Waffen rang!» Das Vorfeld In der deutschen sozialistischen Arbeiterschaft der wilhelminischen Epoche wurde das Bild der Schweiz treulich gehegt - das Land selbst aber blieb für fast alle in unerreichbarer Ferne. Wir haben das Schweizer Erlebnis ohne Schweiz in einer seiner schlichtesten Formen vor uns - eine jener oft bedeutsamen Begegnungen zwischen Völkern, die sich in den geistigen Vorfeldern der Länder abspielen. Das deutsche Vorfeld der Schweiz ist reich mit Vorstellungen aus schweizerischen und andern Quellen besetzt: aus der Erinnerung an feindliche und freundliche Begegnungen einer langen Geschichte, aus den Werken der großen Dichter und Maler und den vergänglicheren Gebilden der Modeliteratur, aus 39
den Berichten der Reisenden usw. Der Schulunterricht, Wort und Bild der Zeitschriften, in neueren Zeiten die Sendungen des Rundfunks führen dem im Vorfeld Stehenden weiteres Gut zu. Das apriorische Bild der Schweiz in den belesenen Schichten ist durch Goethes Berichte über seine Schweizer Reisen kräftig genährt worden. Ein Wort wie «Mir ist's wohl, daß ich ein Land kenne wie die Schweiz ist. Nun geh mir's wie's wolle, hab ich doch immer da einen Zufluchtsort» (an Sophie La Roche, 1775) kann durch weiteste Zeiträume hindurch aufhorchen lassen. In der Novelle Zu Füßen des Monarchen (1881) von Luise von François strömt die Heldin von Dank über für Goethe und für Rousseau, die Wegbereiter ihres Schweizer Erlebnisses; der zweite habe wie kein früherer den «Herzenszug nach seinem Heimatland» in ihr erweckt. Gegen die Jahrhundertwende tritt, alle andern außer Schiller überschattend, Keller als literarischer Darsteller schweizerischen Lebens in den Vordergrund - auch für jene, welche die Schweiz nie sahen. «Ich wußte nichts von der Art, wie Schweizer leben, es sei denn, daß ich Gottfried Keller vor Jahren mit Aufmerksamkeit gelesen hatte», bekennt eine Gestalt in Otto Flakes Montijo (1931). - Und hinter Keller eine ununterbrochene Reihe literarischer Mittler aus einheimischem Stamm: Meyer, Gotthelf, Federer! Das wilhelminische Geschlecht (und viele seiner Nachfahren) verschlang die Schweizer Erzählungen J . C. Heers und Ernst Zahns, als Kind las man sich mit Johanna Spyris HeidiGeschichten in eine wundersame helvetische Bergbauernwelt hinein. Auch von dem, was die Schweizer selbstkritisch räsonierten, blieb manches in deutschen Gedächtnissen haften, dem Groll bestimmter Gegner Waffen bietend. In den breitesten Schichten hat aber Schillers Teil (in der wilhelminischen Zeit noch Scheffels Ekkehard), selber ein aus apriorischer dichterischer Sicht heraus entstandenes Werk, den Herzenszug zum Land der Freiheit geweckt. Mitunter fällt es dem Gast schwer, einen Ausgleich zwischen dem beherrschenden Phantasiebild und der realen Schweiz zu finden, die zu betreten ihm endlich vergönnt ist. So ergeht es dem Gymnasiasten Ernst Sturm in Omptedas Excelsior! (1909): «Was hatte der Sohn der Ebene von den Bergen gewußt ! Erstaunlich waren ihm wohl am Vierwaldstättersee die Wände und Schroffen vor Augen getreten, aber des Wasserspiegels farbiger Wechsel bannte stärker seine Blicke, und dem Knaben klangen Worte im Ohr, gleich Glockenläuten, daß seine Augen nur an den Ufern hingen, an der Teilsplatte, dem R ü t l i . . . » Von der Kraft aber, mit der das Erlebnis der Schweiz ohne Schweiz bei denen wirkte, die in Unterdrückung lebten und nach dem hohen Gut der 40
Freiheit begehrten, gibt mancher kleine Zug gerade der deutschen Arbeiterdichtung Kunde, wo das Vorfelderlebnis als literarisches Motiv vielleicht öfters als anderswo vorkommt. In Ferdinand Bernts proletarischem Roman Tills Irrgänge (1907) ist es in eine einzige Gebärde zusammengefaßt: der alte Vagabund Wolf, den die Not auf die Wanderschaft trieb, steht auf einer Landstraße mitten in Deutschland still; die Reise nach dem Gelobten Land ist ihm verwehrt: «Nun wendet Wolf sein struppiges Haupt nach jener Richtung hin, wo er die freie Schweiz vermutet, und murmelt einen Abschiedsgruß. Eine große Geste...» In Oskar Maria Grafs autobiographischem Roman Wir sind Gefangene (1927) hält in einer um 1910 spielenden Szene ein anarchistischer Maler dem erzählenden Arbeiter ein verklärtes Bild vor Augen: «Schorsch beschrieb mir die Schweiz märchenhaft. ,Da gibt's keinen Schutzmann, alles ist loyal und demokratisch'». Selbst später kommunistischer Rückschau prägt sich das Vorfelderlebnis als ein organischer Teil des sozialdemokratischen Bewußtseins in der wilhelminischen Epoche ein: dem Hamburger Werftarbeiter Hardekopf schenken seine Söhne zum 59. Geburtstag «große gerahmte Wandbilder: eine Alpenlandschaft mit Sennhütte und einen Schweizer See inmitten schneebedeckter Berge . . . Brennend gern hätte der alte Hardekopf einmal die Schweiz besucht. Als junger Mensch hatte er im alten Volkstheater der Steinstraße «Wilhelm Teil» gesehen... Johann Hardekopfs Lebenstraum war seither gewesen, die Alpen einmal wirklich zu sehen» (Willi Bredel: Die Väter, 1940). Die Frauenbewegung und die Zürcher Hochschule «Wer aber sind die Feinde unseres Geschlechts ? Alle diejenigen, die uns . . . unser Menschenrecht, das Recht der freien Entwicklung unserer Individualität, noch heute verkümmern oder gar abschneiden wollen.» Diesen Protest wider die Gegner der Frauenbewegung läßt Ilse Frapan im Jahr 1888 eine in Zürich einsam und tapfer studierende junge Hamburger Juristin ins Tagebuch schreiben (Wir Frauen haben kein Vaterland, 1899). Wieder wie bei den bürgerlichen Liberalen und den kämpfenden Arbeitern erwiesen die Ideen des Naturrechts ihre Macht in einer großen Freiheitsbewegung des neunzehnten Jahrhunderts. Was hier allmählich in die Welt hinausdrang, war eine neue, beträchtlich ausgeweitete Auffassung der Frau von ihrer Bestimmung sowie der Wille zu neuen Lebensformen im Rahmen der Gemeinschaft. Wieder wirkten an einer bestimmten Stelle dieses Vorgangs helfende Kräfte von der Schweiz herüber. Als 1919 in die Verfassung der deutschen Republik der Satz aufge4i
nommen wurde: «Männer und Frauen haben grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten», waren einige wesentliche Ziele erreicht. Im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts hingegen war der Kampf noch in voller Entwicklung. Es ging gegen die autoritäre Ordnung, wonach die Frau ausschließlich in den Pflichtenkreis des Hauses, der Ehe, der Familie gehörte, mochten diese Lebensgemeinschaften in vielen Fällen noch so sehr des zwingenden inneren Zusammenhangs entbehren. «Ist sie nicht gerade in der Familie verkümmert Pzwergwüchsig geworden?» fragt Ilse Frapans Studentin anklagend. In jenen vor allem, welche auch religiösen Ordnungen entwachsen waren, sammelte sich das Ungenügen am innerhalb der Familie verkümmernden Frauenleben und schuf eine starke innere Voraussetzung der Frauenbewegung; dazu kamen mächtige Antriebe durch jene Tausende, die freiwillig oder gezwungen den Familienkreis bereits verlassen hatten und das Recht auf Arbeit, volle Selbständigkeit und ein menschenwürdiges und erfülltes Dasein forderten. Die Emanzipationsbewegung strebte nach drei Hauptzielen: ökonomische Freiheit, Recht auf freie Bildung, und Durchdringung auch des politischen Lebens mit fraulichem Einfluß. Dem mittleren gemäß sollten den Frauen die Zugänge zur allgemeinen und zur fachlichen Bildung unbeschränkt geöffnet werden, bis zur Universität hinauf, von der die Europäerinnen von 1865, einige vereinzelte Fälle ausgenommen, im Prinzip noch ausgeschlossen waren. Hier, wo innerhalb der großen Freiheitsbewegung der Frau die kleinere Umwälzung: das beginnende Frauenstudium, einsetzt, wurde die Schweiz eine historische Stunde lang wiederum zum «antwortenden Gegenbild». 1864 gab es die erste Immatrikulation einer Frau in Zürich; 1872 räumte Genf, 1873 Bern den Frauen gleiche Rechte wie ihren männlichen Kommilitonen ein - lange vor den deutschen Universitäten. «Vielleicht ist noch niemals neues Leben mit so frühlingshaftem Enthusiasmus gelebt worden, hat die Geisteswelt noch nie so strahlend vor eines Menschen Auge sich ausgebreitet als nach diesem Auftun verschlossener Tore», sagt die deutsche Frauenführerin Gertrud Bäumer in Die Frau in der Kulturbewegung der Gegenwart (1904). Das Lob derjenigen Universität, die hier vorangegangen war, ist groß: «An dir [der Zürcher Hochschule] haftet meine Jugend mit all ihrem Streben, Wünschen und Kämpfen, und wenn ich dereinst in meiner Heimat den selbstgewählten Platz behaupte, schuld' ich dir den Dank» (Ella Mensch: Auf Vorposten, 1903). Die beiden ersten Jahrzehnte dieses Frauenstudiums sind in einigen Romanen deutscher Schriftstellerinnen, die selber zu den frühen akademischen Frauen gehörten, festgehalten worden. Die Sicht ist verschie-
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den, das Angeschaute - Hochschule, Studentenkreise, ein wenig einheimisches Volk und Land - gleich. Die Hamburgerin Ilse Frapan studierte 1892 bis 1894 Naturwissenschaft und stellt die Dinge unter dem Einfluß sozialistischer Gesellschaftskritik dar; Ella Mensch, eine Germanistin aus dem preußischen Lübben, war 1880 bis 1884 in Zürich und kehrte 1886 zurück, um zu promovieren; hier schreibt eine Verehrerin Bismarcks von großer Liberalität. Beide verklären ihr Zürich zu einer Stätte, wo eine neue Epoche in der Geschichte der Frau, ja ein neuer Menschheitsmorgen anhebt. Die Landschaft um Zürich, die Berge, der See werden in die Festlichkeit der Seele einbezogen und spenden, wenn einmal das schwierige Leben verzagt stimmt, beschwingende Kraft. Alle Freiheitsdichtung kennt die Symbolik des Lichts und läßt über Wolken und Nebeln die Sonne als Siegesverheißung aufsteigen. Auch in der Zürcher Dichtung dieser Frauen webt Licht von diesem Licht, genährt vom hellen Lichte der Zürcher Landschaft. Was funkelnd durch den winterlichen Nebel im Waldgeäst auf dem Zürichberg bricht oder im Frühling über der weiten Gegend liegt, wird zu einem Heilszeichen der neuen Zukunft. Es ist jene Lichtpoesie, die dann durch Ricarda Huch, die größte Dichterin unter den frühen Zürcher Studentinnen, festlich in das deutsche Schrifttum einging : «Grün waren die Hügel, an denen die Stadt der Jugend lag, und wenn der Frühling sie betrat mit Kränzen goldener Blumen, widerstrahlte der Himmel und der Spiegel des Sees, widerstrahlten die weißen Häuser und die Augen der Menschen . . . O Stadt der Jugend und der Hoffnung!» (Vita somnium breve, 1903.) Und an einem Hang dieser «hellsten Stadt der Welt» (wie Annette Kolb sie nannte), «über dem Rauch der Herde, über dem Dunst der Straßen, über dem Wagengerassel und dem Arbeitslärm liegt sie ruhig und groß auf einem Berge, die Burg der Wissenschaft... In freudiger Aufregung bin ich rundum gelaufen, ein paarmal - und dann, dann hab' ich mich schüchternen Fußes hineingetraut... Die Tür war offen - alles frei und offen auch für mich!». So sieht Ilse Frapans Hamburger Juristin die offene Pforte der Zürcher Universität als ein Symbol für den Zugang 2um Studium, der sich hier der gleichberechtigten Frau auftat. An der Schweizerin Josefine Geyer, der Hauptgestalt des Romans Arbeit (1903), hat Ilse Frapan dann die Probleme der pionierhaften Studentin dargestellt. Der programmatische Titel deutet bloß auf den einen Brennpunkt der Emanzipation dieser Zeit. Die frühe Studentin steht zwischen zwei Fronten; sie muß sich gegen Widerstände der eigenen Familie und des eigenen Landes behaupten und zugleich den Mut haben, gegen die Feinde 43
des Frauenstudiums auch unter Professoren und Studenten, später unter männlichen Berufskollegen zu bestehen. Die in bürgerlichen Konvenienzehen wohlversorgten Schwestern Josefines sind mit ihren Protesten gegen die Medizinerin Josefine durchaus Sprecherinnen der damals überwiegenden öffentlichen Meinung; Studentin sein hieß «eine Lebenshaltung einnehmen, die mit der herrschenden Sitte nicht ganz im Einklang stand», bestätigt Franziska Tiburtius, die als eine der ersten Ärztinnen in Zürich promoviert hatte, in ihren Erinnerungen einer Achtzig jährigen (1923). Auch Josefine Geyer hat (allerdings einigermaßen abweichend von den Zürcher Verhältnissen) den Freiheitskampf der akademischen Frau bis ins kleinste zu führen und wird eines Tages von einem Professor der Medizin gezwungen, vor versammeltem Auditorium eine demütigende Untersuchung an einem Patienten der Poliklinik durchzuführen. Es ging außer um den unter Opfern erkämpften Beruf auch um einen eigenen unkonventionellen Lebensstil. Bei einigen führte er zur Libertinage der weiblichen Boheme, bei andern zu neuen Synthesen von Freiheit und Bindung in einem nicht mehr leerlaufenden Leben. In diesen Zürcher Jahren war auch die Kleidung der emanzipierten Frau Bekenntnis zum Neuen, Zug um Zug der Unnatur der modischen überladenen Dekorationen entgegengesetzt: «Schnell in die einfachen Kleider, jeden Tag dieselbe dünne schwarze Bluse, denselben schwarzen Rock. Keine Schleife, kein Band, keine Blume. Nichts als einen schmalen weißen Leinenkragen um den Hals. Keine Manschetten, nur die schwarzen langen Ärmel, die bis auf die feinen Hände fielen. In der halb klösterlichen Tracht sah sie jung und schmal aus. Das kurzgeschnittene H a a r . . . umrahmte einen ernsten, energischen Jünglingskopf» (Arbeit). Als ihren stärksten Verbündeten empfindet Josefine Geyer die damals führende materialistische Naturwissenschaft. Karl Vogt, Moleschott und Büchners «Kraft und Stoff» erziehen ihren Geist zu klarer Festigkeit. «Wenn wir nur das erreichten, daß wir für unser eigenes Futter sorgen und unser eigenes Ställchen haben könnten, dann sagte ich auch: »Taugenichtse, alle miteinander!'... Nein, dies Bestreben ist nur der Anfang. Der Zweck ist, die Hände freizubekommen, um der Menschheit dienen zu können, mit allen Kräften, mit allen wohlausgebildeten Kräften und mit unbegrenzter Liebe», bekennt Ilse Frapans Tagebuchschreiberin mit dem Überschwang ihrer jungen Jahre und zugleich der wachsenden Frauenbewegung, die danach begehrte, am sozialen, politischen und kulturellen Gesamtleben mitzuwirken. So sehen wir denn auch Josefine Geyer, wohl die erste Gestalt einer kämpfenden schweizerischen Emanzipierten in der deutschen Literatur, neben ihrem Beruf und ihrem Kampf um eine eigengesetzliche Gestaltung ihres Lebens sich der Frauenbewe44
guiig widmen - auch hierin in ihrem Leben allgemeine Tendenzen der Zeit spiegelnd. Die deutschen Frauen, welche aus eigener Anschauung das Leben der frühen Zürcher Studentinnen schilderten, traten nicht für eine schrankenlose Emanzipation ein. Gerade deshalb konnten sie die ganze Schwierigkeit des emanzipierten Daseins ermessen, vor allem jenes Doppelverlangens nach Geborgenheit in der eigenen Ehe und nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. In der Gestalt der Josefine Geyer, die mitten in ihren Kämpfen fest zu ihrer eigenen kleinen Familie hält, sind Grundkonflikte der ihre neue Lebensordnung suchenden Frau angedeutet Konflikte, die spätere Schriftsteller immer wieder beschäftigt haben, namentlich zur Zeit der zweiten Hauptepoche des modernen Frauenproblems in der Literatur: unter dem Zeichen der «Neuen Sachlichkeit». Im literarischen Bild Zürichs, ja selbst des «kleinen Staatswesens, das allein in ganz Europa den fragenden und suchenden Frauen die Stille und die Hilfe gewährte, die sie brauchten» (Franziska Tiburtius, a.a. O.), ist etwas vom Glanz dieser historischen Morgenstunde zurückgeblieben. Es ist eine schöne Fügung, daß in derselben Stadt nicht viel später durch die Forschungen Carl Gustav Jungs wiederum der Blick in die Weite und Tiefe der Möglichkeiten der neuzeitlichen Frau gerichtet wurde. Bertha von Suttner und Henri Dunant Zwei Frauen aus der vordersten sozialen Kampfreihe der Zeit, Lily Braun und Bertha von Suttner, hielten einen andern Ausschnitt aus dem Leben der Schweiz fest. In Lily Brauns «Memoiren einer Soyialistin» und in ihrem Buch «.Die Frauenfrager>findensich einige wenige Bemerkungen über das Land reformerischer Kongresse bzw. fortschrittlicher Anschauungen über die berufstätige Frau. Bei der österreichischen Adligen Bertha von Suttner nimmt es bedeutend mehr Raum ein. Kennzeichnend für die Verfasserin des berühmtesten pazifistischen Romans der neueren Zeit ist ihre hohe Achtung für zwei Schweizer, die sie als Verbündete im Kampf um eine glücklichere Menschheitszukunft sah: Bundesrat Elie Ducommun, den Ehrensekretär des 1892 gegründeten permanenten internationalen Büros der Friedenskongresse in Bern, und Henri Dunant. Vom Werk und von dem packenden Opfermut des großen Genfers ist ausgiebig in dem Roman Die Waffen nieder (1889) die Rede. Das die Handlung tragende Ehepaar mietet sich nach dem Krieg von 1866 am Genfersee ein, um die Probleme der Rotkreuz-Konvention aus nächster Nähe studieren zu können: «Das Rote Kreuz . . . Ich wußte, durch welches auf das schmerzlichste erschütterte Völkermitleid diese Institution 45
ins Leben gerufen ward. Seinerzeit hatte ich den darüber in Genf geführten Verhandlungen gefolgt, und die Schrift Dunants, welche den Anstoß zu dem ganzen gegeben, hatte ich gelesen. Ein herzzerreißender Jammerruf, diese Schrift 1 Der edle Genfer Patrizier war auf das Schlachtfeld von Solferino geeilt, um zu helfen, was er konnte; und das, was er dort gefunden, hat er der Welt erzählt!... Dann sprach er aus, was schon oft erkannt worden, was aber jetzt erst Nachhall fand: daß die Verpflegungsund Rettungsmittel der Heeresverwaltung den Anforderungen einer Schlacht nicht mehr gewachsen seien. Und das ,Rote Kreuz' ward geschaffen !» Die naturalistische Literaturrevolution Als der 26jährige Gerhart Hauptmann im Frühjahr 1888 zu einem sechsmonatigen Aufenthalt in der Freien Straße in Zürich ankam, wo sein Bruder Carl seit einem Jahr wohnte, traf ihn der Straßenname wie ein Zeichen der Verheißung für das, was er selbst wollte und worin das Gastland ihn denn auch bestärken sollte. Mehr und mehr fand er damals befreiende Wahrheit über Welt und Mensch und seine eigene dichterische Aufgabe in den Ideen jener radikalen Jugend, die seit den frühen achtziger Jahren unter der Führung der Brüder Hart und anderer Kritiker in einem geistigen Bürgerkrieg stand, einem Freiheitskrieg gegen sämtliche weltanschaulichen, moralischen, politischen und gesellschaftlichen autoritären Ordnungen des wilhelminischen Zeitalters; im besondern verwarf man die Gedanken- und Gefühlswelt der herrschenden Modeliteratur. Es gab für die Dichtung eine einzige Aufgabe: «Ihr rotes Banner pflanzt sie in den Streit, An ihr Herz schlägt das große Herz der Zeit.» (Arno Holz im Buch der Zeit, 1885) Und dahinter stand der leidenschaftliche Wille, die radikal neue dichterische Form zu finden, die als einzige dem modernen emanzipierten Weltbild angemessen wäre. Man nahm alles Unkonservative aus der Tradition der neueren Zeit von der Idee der Menschenrechte bis zur materialistischen Naturphilosophie in sich auf und teilte jeglichen Glauben an die reformerische Umgestaltung der Welt von der Befreiung des Arbeiters bis zur Befreiung der Frau. Wir haben die bis dahin gründlichste Synthese «moderner» Ideen in neuartigen Ausdrucksformen vor uns. Gerhart Hauptmann faßt die kühnen Leitgedanken dieser kämpferischen Jugend rückblickend so zusammen: «Der Grundzug unseres damaligen 46
Wesens und Lebens war Gläubigkeit. So glaubten wir an den unaufhaltsamen Fortschritt der Menschheit. Wir glaubten an den Sieg der Naturwissenschaft und damit an die letzte Entschleierung der Natur. Der Sieg der Wahrheit, so glaubten wir, würde die Wahn- und Truggebilde auch auf dem Gebiete religiöser Verblendung zunichte machen. Binnen kurzem, war unser Glaube, würde die Selbstzerfleischung der Menschheit durch Krieg nur noch ein überwundenes Kapitel der Geschichte sein. Wir glaubten an den Sieg der Brüderlichkeit» (Das Abenteuer meiner Jugend, 1937). Die Schweiz sahen die auf Zeitkritik bedachten Naturalisten durchaus nicht verklärt, doch schätzten sie, von der Überlegenheit freier Staatsformen überzeugt, sie zweifellos höher als den heimischen Machtstaat. Nicht von ungefähr läßt Hauptmann einen Unterdrückten in seinem Florian Geyer (1895) das mutspendende Beispiel der Schweiz anrufen: «Wir wollen frei sein als die Schweizer!» Wie empfindlich die konservativen Träger des deutschen Nationalstaates später gegen Hauptmann als einen der mächtigsten geistigen Gegner im Lande waren, beweist die gereizte Aufnahme jenes Festspiels in deutschen Reimen, geschrieben 1912 zur Jahrhundertfeier der antinapoleonischen Freiheitskriege, das den politischen Gegner u. a. in der Gestalt eines ängstlichen Nationalisten verhöhnt: «,Fehlt nur noch Schiller mit Wilhelm Teilen, Der meuchlings den Geßler erscheußt Und obrigkeitliches Blut vergeußt, Und daß am Ende man den Schurken preist.'» Als Arno Holz sein Buch der Zeit mit zahlreichen Invektiven gegen herrschende Zeitideale vollendet hatte, fand er es geraten, dieses Kernbuch des werdenden Naturalismus im verlegerischen Asyl Zürichs zu veröffentlichen, und hier erwuchsen ihm bald als Gefährten einige Kampfwerke, mit denen Karl Henckell (Amselrufe, 1888) und Maurice Reinhold von Stern (Stimmen im Sturm, 1888) die bedrängten deutschen Arbeiter anzufeuern suchten. In derselben Stadt nahm Gerhart Hauptmann in vollen Zügen radikale geistige Ingredienzien in sein sich klärendes Weltbild auf. An den beiden Hochschulen geschahen bahnbrechende Dinge, die ganz nach dem Herzen eines literarischen Revolutionärs waren. Das Studium war für Frauen freigegeben worden; der österreichische Nationalökonom Julius Platter las vor großen Hörerschaften wegweisend und unbehelligt über Theorien des wissenschaftlichen Sozialismus; an einer Fülle von «sozialen Institutionen, Parteigebilden kämpferisch-politischer Art» konnte sich die 47
Erfahrung des jungen Dichters bereichern - mit den Parteigebilden kann zur Zeit des Sozialistengesetzes wohl bloß die emigrierte Linke gemeint sein. Der Lebens- und Weltreformergeist wehte von allen Seiten her, und von der Vergangenheit herüber bestärkten zwei mit Zürich verbundene Kämpfergestalten die ganze junge Generation in ihrem Glauben an sich selbst: zu Hutten auf der Insel Ufenau und zu Georg Büchners Grabstätte oberhalb der Stadt pilgerten sie alle. Und nun war die Stunde des Psychiaters August Forel, eines Unerschrockenen nach dem Herzen der Rebellen, gekommen. Seine Wirkung auf Hauptmann ist als nicht geringer denn diejenige Haeckels zu bewerten. Bei Forel wurde der Mensch « modern » als ein durch Anlage und Umwelt determiniertes Wesen und als ein Teil eines Weltganzen gesehen, das sich als ein riesiger Mechanismus gesetzmäßig bewegte; «nie dagewesene Erkenntnis auch über den Menschen» habe der Gelehrte ihm geschenkt, sagt der größte Menschengestalter des deutschen Naturalismus. Insbesondere geschah es im Experiment, bei dem diese auf greif- und sichtbare Wirklichkeit eingeschworene, antimetaphysische Generation gebannt mitging. Die Besessenen, die der Lehrer in der Irrenanstalt Burghölzli vorführte, die «normalen» Menschen, die unter seinem Blick in hypnotischen Schlaf versanken, sie waren unwiderlegliche Beweise dafür, daß das idealistische Bild vom willensfreien Menschen der einschneidenden Korrektur bedurfte, und ließen den jungen Beobachter ergriffen ahnen, welche Aufgabe einen Dichter erwartete, der sich jenes Menschen annehmen wollte, an dem sich jenseits von Schuld und Unschuld ein unaufhaltsames Geschick aus den dunklen Mächten seiner Seele und seiner Umwelt erfüllte. Während der Psychiater Forel des jungen Dichters Pessimismus nährte, rief der Reformer Forel, der Vorkämpfer für Frauenrecht, Abstinenz und sexuelle Aufklärung, den streitbaren Willen auf. Er hat eine Generation sozialer Ärzte mit erzogen, die wußten, daß sie für eine gesundere und bessere Zukunftsmenschheit arbeiteten, wenn sie im kleinen das bekämpften, was als Alkoholismus, Geschlechtskrankheit usw. den Menschen noch tiefer in seine Unfreiheit verstrickte. Der Glaube an eine reformerische Umgestaltung der Welt war bei den Naturalisten stärker als aller Determinismus. Wie hoch der Name des großen Bestärkers Forel unter den Trägern der literarischen Revolution der achtziger Jahre stand, zeigt sich auch darin, daß Richard Dehmel ihn als einzigen Schweizer nannte, als er utopienfreudig vorschlug, man solle zum Heil der Menschheit die fortschrittlichste Elite Europas zu einem mächtigen Gremium zusammenschließen. In leidenschaftlich diskutierenden Freundesgruppen wurden die natu48
ralistischen Ideen durchgeformt. Das Haus an der Freien Straße, wo Carl Hauptmann unter dem Einfluß seines Lehrers Richard Avenarius an einem Werk arbeitete, das den ganz und gar mechanistischen Charakter alles organischen Lebens auf Erden nachweisen sollte, war eine solche Stätte. Wedekind, Mackay, Bölsche, Henckell trafen sich hier. Im Sommer 1887 hatte Henckell durch einen Anschlag am Schwarzen Brett der Universität zur Gründung eines Ulrich Hutten-Bundes für «modernes Menschentum» und eine Umgestaltung Europas im sozialistischen Sinne aufgerufen. Die Bewegung gedieh über dürftige Anfänge nicht hinaus. Große Anregungen lagen in der Luft. Vor Sonnenaufgang, Hauptmanns erstes naturalistisches Drama, wurde in Zürich ausgearbeitet. «An dem Hüttchen eines von ihnen [der Zürcher Seiden-Handweber] ging ich mehrmals die Woche vorbei, wenn ich die psychiatrische Klinik in der Irrenanstalt Burghölzli besuchte. Das Wuchten des Webstuhls hörte man durch die Wand dringen. Und eines sonnigen Morgens, erinnere ich mich, überfiel mich bei diesem Geräusch der Gedanke: Du bist berufen, die Weber zu schreiben! Der Gedanke führte sofort zum Entschluß» (Das Abenteuer meiner Jugend). Zwar spielte sich der Naturalismus im wesentlichen in den großstädtischen Zentren Berlin und München ab; aber in Zürich hatte die junge radikale Kunst eine Zeitlang ihren wichtigsten Ableger. Aus dieser Welt stammt, aus etwas späterer Perspektive (1890) schon leicht ironisch einem echten Diefenbach-Jünger nachgebildet, der Apostel in Hauptmanns gleichnamiger Novelle, ein Vegetarier und Verkünder des Weltfriedens, der an einem strahlenden Pfingstmorgen aus den Wäldern ob Zürich in die Stadt der Erleuchtung hinunterschreitet mit wallendem Haupthaar, gehüllt in eine weiße, mit einem Strick zusammengehaltene Kutte und mit Sandalen an den bloßen Füßen. Dazu gehört auch, auf höherer Ebene, jene Anna Mahr (in Einsame Menschen, 1891), eine Prachtsgestalt aus den Kreisen der Frauenemanzipation. Sie studierte in Zürich, genau so wie der für soziale Reformen einstehende Landarzt Schimmelpfennig in Vor Sonnenaufgang, ein Charakter im Geiste Foreis. Das Studium in Zürich scheint den jungen Naturalisten als eine der begehrtesten Einweihungen in die wahrhaft moderne Existenz gegolten zu haben. Hauptmann ist als Feriengast bis ins hohe Alter immer wieder in die Schweiz zurückgekehrt. Man kann etwa fünfzehn Aufenthalte zählen. Das Tessin trat an die Stelle Zürichs. Schweizerische Motive und Schauplätze kommen am Rande mehrerer Werke vor, zuletzt noch in der Novelle Mtgnon{\ 943149). 1897 kam er zum erstenmal nach Rovio, dem Schauplatz seiner 1917 abgeschlossenen Erzählung Der Ketzer von Soana. Sie 49
ist ein Zeichen einer wichtigen Wende in seiner oft diffus und synkretistisch anmutenden geistigen Entwicklung nach der naturalistischen Frühzeit. Nunmehr war es die südländisch prangende Natur des Tessins, die ihn in seinem Glauben an die chthonischen Urmächte bestärkte, zu einer Zeit, als Ahnungen von den Lebenskräften der Erde, von der Gewalt des triebhaften Eros und von den Kräften des Urmütterlichen in einem Lebensgefühl noch wirr durcheinandergingen. Will man das Bild der Schweiz in naturalistischer Sicht abrunden, so muß man die frühen Schweizer Werke Maurice Reinhold von Sterns und Karl Henckells heranziehen. Zwei Jahre vor Hauptmann waren sie nach Zürich gekommen. Beide arbeiteten als Verlagsbuchhändler, beide galten in jener Zeit als führende sozialkämpferische Dichter, wobei den Balten von Stern die Magie eines Mannes umgab, der wegen Insubordination aus dem russischen Offizierskorps ausgestoßen worden war und der, seines baltischen Adels spottend, in den Stimmen im Sturm als ein zweiter Herwegh der Sozialdemokratie auftrat, während Karl Henckell (1886-1902 und 1927-1929 in der Schweiz) vor dem Zugriff des deutschen Machtstaates in das schützende schweizerische Asyl hatte ausweichen müssen. So läßt sich begreifen, daß bei ihnen jene Vision von einer übernationalen Zukunftswelt, in der «die Selbstzerfleischung der Menschheit durch Krieg nur noch ein überwundenes Kapitel der Geschichte sein würde», deutlicher als bei andern als das krönende Ziel aller Reform aufsteigt und ihr Gastland als eine Verheißung kommender europäischer Versöhnungen erscheint. Ein Ausdruck davon sind die Gedichte, mit denen sie großen, in der Schweiz tagenden Friedenskongressen die programmatischen Formeln gaben: so Henckell mit dem Bertha von Suttner gewidmeten pazifistischen Hymnus zum internationalen Friedenskongreß in Bern 1892 oder, bereits von der Vorahnung gewaltigen kommenden Unheils überschattet, mit dem Gedicht zum internationalen Arbeiter-Friedenskongreß in Basel 1912: «Die Glocken läuten, die Fahnen rauschen . . . Die greisen Kämpfer, die blühenden Kinder, sie ziehn zum Münster der Menschheit ein.» In naturalistischer Sicht wird auch die Schweiz in die große Wende vom alten zum modernen Geist gestellt und ganz schismatisch wird die fortschrittliche, den Bestrebungen des neuen Geschlechts sich zuneigende von der reformbedürftigen «wilhelminischen» geschieden und 50
diese vor das literarische Tribunal gezogen. Nur ganz weit in der Ferne zeichnen sich dämmerhaft die Umrisse der überzeitlichen, tröstlichen, schönen schweizerischen Landschaft ab. Angesichts zahlloser Tragödien der Ausbeutung in der Welt bezichtigen die Naturalisten den bürgerlichen Menschen zur Zeit seiner größten Machtfülle als den großen Hauptschuldigen. Wo sie den Feind auf schweizerischem Boden aufsuchen, wird der Kampf allerdings eher zum Geplänkel. Wenn Henckell zum Hieb ausholt gegen die wohlgenährten Zunftherren, die im Zürcher Sechseläutenumzug, als Küfer, Schneider usw. verkleidet, vor einem Spalier armen Volkes Handwerkerproletariat mimen, so ist der Gegner damit nur obenhin gestreift. Etwas kräftiger geht von Stern mit der patriotischen Tartufferie des Großbürgers ins Gericht: «Sonst macht er viel in «Differenz-Geschäften», Heut' schwärmt er nur von Winkelried und Teil, Von seines Volkes unversiegten Kräften . . . Der Löwe von Luzern gräbt seine Pranken Vor Scham und Ingrimm in den gelben Stein...» {Mattgold, 1893) Die wenigen naturalistischen Elendsschilderungen haben, da sie von nicht erstrangigen Gestaltern wie Henckell und von Stern (Frau Amrei, eine Niobe des 19. Jahrhunderts) stammen, den peinlichen Stich ins Melodramatische. Die kleineren Ausmaße des sozialen Problems in der Schweiz oder Rücksichten auf das Gastland mögen dämpfend gewirkt, der Ruhm der politischen Schweiz mag das Gericht über Unrühmliches im sozialen Leben gemildert haben - jedenfalls lassen die Angriffe nur wenig davon spüren, daß es im Grunde darum ging, eine Gesellschaftsschicht aus usurpierten Positionen zu werfen und eine andere aus ihrer Not zu befreien. Es wirkt wie ein Akt der Rache für die im wilhelminischen Ferienroman üblichen Verunglimpfungen sozialdemokratischer Flüchtlinge in der Schweiz, wenn Henckell umgekehrt den reichsdeutschen Bürger als Feriengast auf schweizerischem Boden angreift. Die Wertung der Mennell, Blum, Höcker usw. wird auf den Kopf gestellt, und die anklägerische schismatische Scheidung in Reich und Arm ist spürbar bis in den kontrastierenden Bau der Strophen hinein: «Stolze Karossen mit Fremden rollen am blitzenden See; schwitzend in drillenen Hemden schaffen die Männer am Quai.
,Zürich, liebe Cousine, lächelt im holdesten Strahl.' Keuchend rammt die Maschine in den Grund den Pfahl. Vom geschwärzten Gesichte wischt der Heizer den Schweiß, singt dem göttlichen Lichte keine Hymne zum Preis.»
(Amselrufe)
Das Bild Zürichs Zürich ist die in der neueren deutschen Literatur am meisten dargestellte und am höchsten gepriesene Schweizer Stadt. «Wen Gott lieb hat, dem gibt er ein Heim in Zürich», sagte Carl Hauptmann. In der Vorstellung «Zürich» fließt vielerlei, unterschiedlich bemessen, zusammen: das schöne Bild der Stadt am hellen See, die vielfaltigen Lebensformen, die Fülle wirtschaftlicher Schwungkraft, die Erinnerung an die reichen, bahnbrechenden Zeiten Zwingiis oder Lavaters und Bodmers". Was ihrem Namen in neueren Jahrzehnten europäische Reichweite verliehen hat, ist ihr Ruf einer hohen Pflanzstätte freiheitlichen und weltoffenen Geistes. Das Hauptthema der in Zürich spielenden deutschen Werke ist denn auch das befreiende Erlebnis des geistigen Zürcher Klimas und das Leben der fremden Gäste. Basel und Bern erscheinen im Schrifttum eher als fördernde Stätten für jene, welche sich den Werten des konservativen Wesens zuwenden. In Zürich dagegen springen die Quellen einer für den dichterischen Menschen gleich wesentlichen Kraft: des Willens, über das Bestehende hinaus ins völlig Neue vorzudringen. So ist und bleibt die Limmatstadt in der neueren Zeit ein Versammlungsort für Verkündiger freier politischer Ideen, für Lebensreformer und Anhänger moderner Psychologie usw. Den beiden Hochschulen hat sie einen Teil ihres Rufes zu verdanken. In Zürich lernt man gewissermaßen nach vorn blicken. Dazu kommt der Eindruck einer nach allen Seiten für europäische Anregungen aufgeschlossenen Stadt - ähnlich wie bei Genf. Wilhelm Schäfer spricht es einmal durch den Mund des Malers Karl Stauffer aus: «Was mich an Zürich so entzückt hatte und was mir den alten Herrn auf Kilchberg sympathisch machte, daß hier am Limmatsee die Schweiz der Welt die Hand reichte, daß von hier aus weltmännischer Geist in die Schweiz eindrang, zum wenigsten in die deutsche: das alles fand ich nun in einer 52
Art Sinnbild verkörpert durch die Lydia [Escher]»{Karl Stauffers Lebensgang, 1912). Dieses Zürich war das innerhalb der Schweiz wichtigste Asyl für emanzipierte Geister jeder Schattierung. Seit Zwingiis Zeiten ist dieser internationale Ruf nicht mehr so gefördert und verkündet worden wie zwischen 1830 und 1940. Es steht am Lebensweg zahlloser politischer Verfolgter. Das Zürcher Gedicht Gedenktafeln von Wilhelm von Scholz ist inspiriert von der Schönheit und Tiefe jenes wechselseitigen Gebens und Nehmens, das sich zwischen der Obdach gewährenden Stadt und dem in ihr rastenden Fremdling (nicht nur dem Emigranten) abspielt: . . . «Wir gehen tief durch Leben, Die Tafeln bleiben, sprechen immer wieder Neuen Geschlechtern ihre Namen zu: Führer der Menge, Dichter, alte Könige Schwertmänner, Streiter Gottes, Reisende Die flüchtig rastenden Unsterblichen, Die über Nacht geblieben in der Stadt; Die ihres Blickes, ihres Schrittes Segen, Ihres gesprochenen Wortes leisen Zauber An diese Gassen gaben; deren Schlaf Sie aufnahm in das dunkle Ruhn des Orts Und ihren Schatten leiht das Bürgerrecht.» (1Gedichte, 1898) Am schönsten hat Ricarda Huch das Wesen der blühenden, weltoffenen, jugendlich-lebendigen Stadt Zürich, wie die deutschen Dichtergäste und unter ihnen auch die jungen Naturalisten sie erlebten, in Worte gefaßt. Wenn einzelne Literaten (z. B. der junge Jakob Wassermann in der Geschichte der jungen Renate Fuchs, 1900) Zürich zur Stätte zweideutiger libertinistischer Exzesse herabwürdigten, so wird hier der unverdiente Makel vom Bild der Stadt hinweggenommen und das Wesen ihrer neueren Entwicklung klar und rein ins Licht gehoben: «So war sie von jeher, die unersättliche Stadt: neuer Dinge begierig, aufmerksam hinauswitternd nach allen Himmelsrichtungen, um auszukundschaften, was ihr etwa gefiele. Und noch während ich ihr zürne, fühle ich die Macht der Zauberin... Du lebst und webst in Jugend für die Jugend; weil du so viel vergessen kannst, verjüngst du dich immer» (Zeitschrift Atlantis, 1930).
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Die Verherrlicher des starken Lebens Nietzsche und die Seinen Schon vor den Naturalisten hatten einige wenige Geister, zum Teil im Gefolge Nietzsches, zum Teil außerhalb, noch entschiedener mit allen überlieferten Ordnungen gebrochen, noch entschiedener den Anspruch der Religion, des Staates, der Gesellschaft, der herkömmlichen Moral abgewiesen. Von hier aus stieg kurz nach den ersten Triumphen des Naturalismus eine noch mächtigere Grundwelle der Opposition in der deutschen Dichtung empor - getragen von der radikalsten aller Freiheitsideen des neunzehnten Jahrhunderts. Hier galt nur noch die starke, selbstgesetzliche Persönlichkeit, die in der Tiefe bis in die rauschhafte, heidnische Urmacht des Lebensstroms selbst hinabreichte, dessen mythisches Bild Dionysos hieß. So tragfähig schien dieses kühne, freie Lebensgefühl zu sein, daß seine bedingungslosesten Bekenner glaubten, damit auch den schönen, freien, starken Menschen einer neuen Geschichtsepoche vorwegzunehmen. Einige trieb es zum rückhaltlosen Kult der Größe, Macht und Schönheit der Lebenskraft an sich. Andere führte es weiter zu einer bisher unerhörten Freiheit in der Darstellung der sexuellen Kräfte als der vermeintlichen Grundmächte eines starken Lebens. Einige der rückhaltlosesten Bekenner einer ganz vom autonomen starken Ich bestimmten Existenz haben jahrelang in der Schweiz gelebt (Nietzsche, Wedekind). Andere (wie Dehmel, Mühsam, Bierbaum) ließen sich kürzere Zeit nieder. Was diese extremsten Verfechter der Freiheit im Lande der Freiheit als verwandt und was sie als feindlich empfanden, haben sie ohne Zögern begrüßt bzw. mit Verachtung und Hohn bedacht. Friedrich Nietzsche, der vielen von ihnen den Wagemut des Lebens und der Kunst stärkte und in seinem Zaratbustra (1883 ff.) das exemplarische Sinnbild für den Kult des starken Lebens schuf, hat sich als Professor in Basel zur Erkenntnis seiner eigentlichen Aufgabe durchgerungen: eine jenseits aller bisherigen Wertungen liegende Zukunftsphilosophie für kompromißlose und freie Geister zu schaffen. In seiner Persönlichkeit und in seinem Werk haben zwei schweizerische formende Kräfte ihre Spuren tief eingegraben: Basel als Stätte alter humanistischer Kulturtradition, gesteigert erscheinend in der Gestalt Jacob Burckhardts, und die «heilige Landschaft» des Engadins, zu der Nietzsche nach 1883 regelmäßig jeden Sommer hinaufstieg. Wenn er von seiner Basler Zeit (1869-1879) schreibt: «Verhältnismäßig passe ich sehr gut nach Basel und zu den Baslern» (an Franz Over54
beck, Anfang April 1883), so tut man gut daran, über dem Einklang nicht das verhüllte Eingeständnis der Verfremdung zu überhören. Zwar pries er die Polis, die mitten in barbarischer Zeit «in einem unverhältnismäßig großartigen Sinn die Bildung und Erziehung ihrer Bürger zu fördern sucht, in einem Maßstab, der für größere Städte geradezu etwas Beschämendes haben muß», und das von den Tagen des Erasmus her überlieferte Bild Basels als einer Stadt erlesener Kultur empfing durch seine Aussage neue Kraft. Seine Achtung vor baslerischer Vornehmheit wurde nicht geringer, als er in späteren Jahren weit gebieterischere Werttafeln aristokratischen Wesens aufstellte. Aber unter den zur Verhaltenheit und nicht zum geistigen Umsturz neigenden Baslern mußte derjenige vereinsamen, der den Rausch der Größe, die ungehemmte Selbstauswirkung des starken Ich und die Zerstörung des Herkommens, auch des christlichen, glühend forderte. Durch Haß und Liebe war er an die Stadt gebunden; am tiefsten aber formten ihn ihre Kräfte in der jahrelangen Auseinandersetzung mit Burckhardts geistiger Welt und Persönlichkeit. In der alten Universitätsstadt trafen sich zwei von den ganz wenigen Geistern, welche die bedrohte Situation des höchsten europäischen Kulturgutes in ihrer Zeit früh in der ganzen Tragweite erkannten. Von der Art, wie sie einander steigerten im Kult der wahrhaft bildenden und rettenden Werte - der Antike, der schönen Künste, der Idee der großen Persönlichkeit - , zeugt mancher Brief und manches Werk. Aber für die fanatische Umwertung aller Werte, den Willen zur Macht, den nihilistischen Kampf gegen die Zeit, überhaupt für das schrankenlose Bekennertum des nachbaslerischen Nietzsche konnte der ausgewogene, gegen alle Radikalität mißtrauische Burckhardt sich nicht erwärmen. Nicht aus Ängstlichkeit, sondern aus Einsicht blieb er der durch Kontemplation die humanen Werte vertiefende und durch Lehre sie ausbreitende, vor den Verhängnissen des Macht- und Massendenkens warnende Weise - wohl wissend, welche Möglichkeiten er damit aufopferte. Um so rätselhafter ist, daß der Verkünder des Übermenschen innerlich nicht abließ von dem unkämpferischen Basler. Aus Einsamkeit? Aus Dankbarkeit ? Warum noch in der letzten Schrift das Lob Burckhardts und Basels ? Was klingt nach in dem Dionysos-Brief, in dem der Irre den Basler als den nunmehr «größten Lehrer» verehrt? Wir dürfen vermuten: Um des ungebrochenen Kampfes gegen die herrschenden Wertmaßstäbe, um der radikalen Verkündigung des Übermenschen willen gab Nietzsche Wahrheiten und humane Grundwerte preis, die nach der eigentlichen positiven Wendung seines Werkes, beim Wachstum über den Zarathustra hinaus, ihren Platz in seiner Weltanschauung eingenommen hätten. Dieses «eigentliche», nie zustande gekommene krönende 55
Werk Nietzsches kann man aus allerersten Vorzeichen (z.B. im Aufsatz Vom Gelehrtet,i) erahnen. Aber in der Gewalt, mit der beim Zusammenbruch der Name des Gekreuzigten neben dem des Dionysos oder auch die Gestalt Burckhardts angerufen wird, tun sich zurückgestaute tiefste menschliche und denkerische Ergänzungsbedürftigkeiten kund, die sich in einer dritten Entwicklungsepoche wohl in einem umfassenderen Weltbild dessen gelöst hätten, der da sagte: «Alles erlöst und heilt sich im Ganzen.» Stärker als Menschen oder Städte der Schweiz wirkte auf Nietzsche die große Landschaft ein. In die Gedichte und in den Zarathustra sind die Weite des Mittelmeeres und die Höhe und Kraft der Gebirgswelt um Sils-Maria eingegangen. Je mehr Burckhardt in den Hintergrund trat, desto mehr machte diese Landschaft die Erlebnis- und Denkkräfte des Philosophen zu den kühnsten Erhebungen und Intuitionen frei. Im Oberengadin hatten sich 1881 die Ansätze zu den Leitbegriffen (Übermensch, Ewige Wiederkunft, Wille zur Macht) seiner künftigen Philosophie gebildet: «Sils-Maria. Hier saß ich, wartend, wartend, - doch auf nichts, Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts Genießend, bald des Schattens, ganz nur Spiel, Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel. Da, plötzlich Freundini wurde Eins zu Zwei Und Zarathustra ging an mir vorbei...» Aus dem Prosagedicht Et in Arcadia egols, aus den entrückten Bergmittagsstillen und den tänzerischen Beschwingtheiten des Zarathustra läßt sich ermessen, wie sehr das rauschhafte Erlebnis der erfrischten Sinne und Gefühlskräfte ein Geschenk des Gebirges war, und die Wahlverwandtschaft seines Geistes mit dem Gebirge hat er ausdrücklich im Ecce Homo bekannt: «Wer die Luft meiner Schriften zu atmen weiß, weiß, daß es eine Luft der Höhe ist, eine starke Luft. Das Eis ist nahe, die Einsamkeit ist ungeheuer - aber wie ruhig alle Dinge im Licht liegen! Wie frei man atmet: Wieviel man unter sich fühltI - Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge.» Jahre verbringt Zarathustra in den Bergen. Sie sind die Stätte nicht bloß der einsamsten Sammlung, sondern auch der Entfaltung des mächtigsten, sich selber genießenden Größen- und Freiheitsgefühls. Diese Überfülle ist es, die im Sinnbild der inspirierenden Landschaft sich selbst bald als Abgrund, bald als steilsten, freiesten Gipfel darstellt. Noch die 56
Hochgebirgsvisionen in den späten Dionysos-Dithyramben sind solcher Art. Dieses titanische Hochgebirgserlebnis wirkt in der zeitgenössischen Umwelt neu; es kommt aus einem von Grund auf neuen Größen- und Machtgefühl. Mag auch die innere Erfahrung der Berge einen größeren Anteil daran haben als die äußere: jedenfalls erscheint Nietzsche unter den Bahnbrechern einer neuen Bejahung des gefährlichen, Größe wekkenden Hochgebirges. Fast zwangsläufig gibt die Engadiner Landschaft dem späteren deutschen Dichtergast den Namen dessen ein, der hier eine Hohe Schule des Zarathustrismus gründen wollte: «Hier oben ist . . . das unbegreifliche Buch geschrieben worden, hier, wo warme Lüfte die Füße der Eisriesen umschmeicheln, wo phantastische Blumen sie kränzen und die hohen Adler drüber schweben. Wo anders als hier könnten auch die wundersamen Verse entstanden sein: ,Warm atmet der Fels. Schlief nicht auf ihm das Glück seinen Mittagsschlaf' ? » (Isolde Kurz: Prirn^ Nikita in Lebensfluten, 1907) Auch bei Otto Flake (Nein und Ja, 1920), bei Jakob Wassermann (Et^el Andergast, 1931) und vielen andern ist das Engadin, ausgesprochen oder unausgesprochen im Zeichen Nietzsches stehend, die hochgemut stimmende kühne Landschaft schlechthin: «Hohes Engadin. Das bedeutet ,Hinauf'» (Wassermann, a.a.O.). Freier und kühner strömt hier die Sprache der dionysischen Höhenlust, manchmal noch gesteigert durch das entgrenzende Erlebnis des winterlichen Lichts: «O ihr weißen Himmelsgärten ringsum I Gletscher und Schneefelder, Täler, die langen Hängematten der Sonne! Fall des weithin gestreuten Samens, Blüte des Lichts, leise knisterndes Verbrennen des Lichts, hohes Lied, schwebend am Lippenrand von Mutter Erde!» (René Schickele: Symphonie für Ja 1929). Neben der Begegnung mit Burckhardt und mit der Engadiner Landschaft ist für Nietzsche alles andere Schweizerische sekundär. Für die Demokratie als verhältnismäßig unaufdringlichste Staatsform hatte er in seiner Basler Zeit noch einige Aufmerksamkeit gezeigt. Aber wer den Übermenschen als Ziel der Geschichte verkündete, konnte zu aller Demokratie und zu allem Volk bestenfalls in idealer Ferne leben. Dennoch wurde der schweizerischen Wesensart eine erstaunlich kräftige Anerkennung von Seiten des Philosophen zuteil. Nicht nur war Vornehmheit, wie er sie etwa in Jacob Burckhardt fand, für ihn im Gegensatz zu den meisten seiner Anhänger ein hoher Wert - ihm machte auch die unprätentiöse Wesensechtheit einer Elite von Künstlern und Gelehrten seines 57
Gastlandes Eindruck, mochten sie auch in ihren Idealen von ihm grundverschieden sein. In einem berühmt gewordenen Ausspruch hat er dieses nach innen kühne, nach außen sich bescheidende, mit dem besten altdeutschen Charaktergut verwandte Schweizertum gegen die laute wilhelminische Aufdringlichkeit ausgespielt, das Deutsche gewissermaßen als das Kranke, das Schweizerische als das Gesunde betrachtend. Unter Nietzsches Artverwandten ist Richard Dehmel derjenige, der an echter, urtümlicher Kraft des starken Lebens den Philosophen übertrifft. Für ihn war die Schweiz vornehmlich das Land der großartigen Urnatur. Mit seinem Zürcher Freund Charles Simon wanderte und kletterte der leidenschaftliche Bergsteiger Dehmel in den Vor- und Hochalpen. Die Bergführersprüche und Berggedichte in Weib und Welt (1896) und in Schöne, wilde Welt (1913) zeigen die Eigenart seines Bergerlebnisses. Es schenkt dem unruhigen, die Sicherungen des bürgerlichen Lebens kompromißlos verschmähenden Dehmel den Schwung eines mächtigen vitalen Kraftbewußtseins und zugleich ein «Höhen- und Weitengefühl» der Seele, in dem sich die ganze Persönlichkeit immer wieder von Grund auf erneut. Es entspricht durchaus seiner Art, wenn er 1919, durch längeren freiwilligen Kriegsdienst geschwächt, es verschmähte, in die Schweiz zurückzukehren: «Die Berge bloß von unten zu betrachten, lockt mich nicht» (an Ernst Kreidolf, 24.November 1919). Einige charaktervolle Neuerer unter Schweizer Künstlern (den Dichtern stand er eher fern) haben ihn angesprochen. Der früher gepriesene Böcklin wurde von dem eigenwilligeren Hodler verdrängt; aus verwandtem Kraftgefühl erwuchs Dehmels Gedicht Sturmbild (in Schöne, wilde Welt!), wohl die erste Begrüßung des Schweizer Malers aus den Reihen der deutschen Dichter. Den Berner Maler Kreidolf aber gewann er als Illustrator seiner Kinderbücher - eine Verbindung zwischen schweizerischem Maler und deutschem Dichter, wie sie sich später auf anderer Ebene zwischen Willy Fries und Ernst Wiechert und andern wiederholt. Als die jungen Neuerer in Dichtung und Leben in den achtziger Jahren den Angriff gegen die konservativen Anschauungen ihrer Zeit begannen, war eines ihrer Hauptziele die Befreiung des geschlechtlichen Lebens aus der moralischen Verfemung. Seither drang das sexuelle Thema in einer Breite und herausfordernden Offenheit in die Literatur ein, wie dies bisher noch nicht geschehen war. Einigen Dichtern aber, die entweder in den Reihen der Verherrlicher des starken Lebens standen oder eine Zeitlang in den Bannkreis ihrer Lebensstimmung gerieten, blieb es vorbehalten, auf die Sexualität als das treibende Prinzip des hohen wie des niedern Lebens überhaupt ihr gesamtes Weltbild zu grün-
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den. Allen voran steht der mit der Schweiz vielfach verbundene Frank Wedekind. Für ihn waren die Lust der Macht und die Macht der Lust die beglückenden Urantriebe des Lebens, dazu bestimmt, im Dienste einer raffinierten erotomanischen und doch intellektualisierten Lebenskunst emporgezüchtet zu werden. In seinen Werken sondert dieser besessene immoralistische Moralist die Unbedingten, die Dirnen und Abenteurer, auch die vitalen Kraftnaturen großen Stils von den bürgerlichen Befangenen, Heuchlern und Verhehlern, die nichts wissen vom «Fleisch, das seinen eigenen Geist hat». Auch seine schweizerischen Gestalten werden mit diesem Maß gemessen und ebenso die reale schweizerische Umwelt, in der Wedekind seit seinem achten Jahre aufgewachsen war. Die Schweif in der antibürgerlichen Karikatur Hier stellt sich die Frage, was schweizerische Menschen für die hier betrachteten Verkünder eines extrem selbstgesetzlichen Lebensstils bedeuten konnten. In diesem Bereich erweist sich besonders drastisch, daß wir es mit Geistern aus einer äußersten Gegenwelt zu allem, was nach normal-bürgerlichen Begriffen erstrebenswert ist, zu tun haben. Wo diese galten, lobte man die Einordnung des tüchtigen, soliden, das «Höhere» respektierenden Menschen in die tragenden Ordnungen der Familie, des bürgerlichen Berufes, des Nationalstaates, des göttlichen Weltplanes. Eines der «antwortenden Gegenbilder» waren jene wackeren Schweizergestalten der wilhelminischen Literatur. Bei den Yerherrlichern des ungebundensten, anarchischen Lebens hingegen besteht vor dem Urteil nur noch der Apostat, nur noch das in provozierend ausgefallene Lebensläufe ausbrechende Temperament, nur noch die autonome Lust der Größe und der selbstgesetzlichen Leidenschaft. Solchen Maßstäben entsprach bestenfalls der abenteuerliche Ein2elgänger oder der verwegene moderne Vabanquespieler oder (bei den anarchistischen Gesellschaftskritikern) der aus den Ordnungen gefallene, verlassene Proletarier. Wo sich diese Schriftsteller aber sonst umblickten in ihrer Zeit, erkannten sie nichts als Larven und Gespenster: selbstgerechte, an Leib, Seele und Geist verkümmerte Figuren, Produkte eines zu Ende gehenden Äons entweder der konservativen oder der emanzipierten Herdenmoral. In der großen Masse der Schweizer witterten sie das tiefsitzende Mißtrauen gegen alles Ungewohnte und Extreme und andrerseits das Wohlbehagen am gesunden, konformistischen Durchschnitt - an Apostaten war das schweizerische Feld denkbar arm. Sofern man den Schweizer nicht einfach igno59
rierte, erscheint er mit einigen noch zu erwähnenden Ausnahmen unter den Kümmerlichen des Zeitalters. Zum hochgemuten Lebensgefühl unserer anarchischen Schriftsteller gehört die unwiderstehliche Lust, alles Feindliche ungehemmt und mit Hohn zum Kampf herauszufordern: «Was wir aber haßten, weil es uns haßte, weil es den Geist in seiner freien Heiterkeit in die ödigkeit vertrockneter Moral bannen wollte, darüber schütteten wir unser Lachen aus, daß es selber nichts mehr zu lachen hatte» (Erich Mühsam: Namen und Menschen. Unpolitische Erinnerungen, 1949). Aus dieser Haltung entsprang eine neue Kunst der Groteske, Satire und Parodie - und eine ganze Galerie von Karikaturen schweizerischer Opfer, wie sie bisher in der deutschen Literatur nicht vorgekommen war. Als er noch Aarauer Gymnasiast war, wagte es Frank Wedekind zweimal, je ein komisches Epos über die Unsitten des Spießbürgers einzureichen, die ausgerechnet an hochpatriotischen eidgenössischen Turnfesten hätten vorgetragen werden sollen. An Lenzburger und Aarauer Bürgern, an Schullehrern und -behörden machte der früh durch Schopenhauer und Nietzsche Berührte seine ersten Studien über die «feindliche» Welt; in den radikalen Schülerdiskussionen des «Senatus poeticus», in aufrührerischen Büchern, an zwei Aarauer Schülerselbstmorden, im Umgang mit einer unkonventionellen Frau gab sich ihm dagegen das in seinem Sinne eigentliche Leben zu erkennen. In Frühlings Erwachen (1891) stellte er diese Welt, drastisch maskiert, auf die Bühne14. Im späteren Werk des radikalen Pansexualisten tritt die Lenzburger Klavierlehrerin Wilhelmine (in Ich langweile mich) hervor, die Spottfigur der schwül-sentimentalen, heimlich geilen alten Jungfer, sowie der Basler Patrizierssohn und Privatdozent der Philosophie Hilti (Die Büchse der Pandora, 1904), für Wedekind ein Schulfall des erotisch verhemmten, geizig-rechnerischen, zur Engherzigkeit erzogenen und in der Enge verkümmerten Menschen. Die Karikierlust Wedekinds und seinesgleichen bedient sich gegenüber ihren schweizerischen Modellen gern zweier wirksamer Kunstgriffe. Sie setzt herab, indem sie die Figur des Schweizers mit Stall-, Vieh- und Käseassoziationen kräftig verbindet - so etwa der Anarchist Gustav Landauer in einem Brief vom 18. März 1895: «Ich glaube, Gretchen [Landauers erste Frau] und ich würden uns in den engen Verhältnissen dieses Philisterländchens nur schwer akklimatisieren, ganz abgesehen davon, daß es mir noch gar nicht sicher ist, daß die Milch- und Käsbürger mich zum Staatsexamen zulassen würden.» Vor allem schwelgt man in Sprachkarikaturen: teils verdreht man Funde aus dem mundartlichen Wortschatz, oder man zerreibt, zerdehnt, zerquetscht und zerstößt die 60
berühmten schweizerischen Kehllaute oder mischt die zahlreichen vokalischen Zwielaute zu einem satirischen Arkanum, teils ahmt man, auf dem Gipfel satirischer Sprachkopie, das Hochdeutsch gewisser Schweizer nach, eine Sprachverzerrung zum zweitenmal verzerrend. So läßt Wedekind den Privatdozenten Hilti sich selber durch seine Sprache grotesk bloßstellen: «lach bien Prifot-Tozänt; iach läsä Philossoffie ahn dar Unifarsität. Sakchärmänt, iach bien nämliach ous oinär oltän BodriziärFomiliä; iach ärhielt als Studänt nur zwoi Frankchen Toschängält und tas kchohntä iach bässär anwänden als füar Mädachän» (Die Büchse der Pandora). Gustav Meyrink, ein plumper Epigone der Boheme, erzählt, anknüpfend an bestehende Ortsnamen auf -kon, mit einem Seitenhieb auf provinzlerische Schweizer Wichtigtuereien, er sei über die «wichtigen Knotenpunkte Trottlikon und Idiotlikon» eingereist (Des deutschen Spießers Wunderhorn, 1913), und der elegante Wiener Salonanarchist Franz Blei, ein Liebhaber ausgefallener Biographien, erfindet einen «troglodytisch lebenden», erdgebundenen Schweizer, um dann zu erklären, das Mißtrauen des Eidgenossen gegen den Deutschen sei nichts anderes als das heimliche Ressentiment des unvollkommenen gegen den überlegenen Menschen: «Das hat sogar innerhalb der deutschen Sprachfamilie so etwas wie ein nationales Ressentiment des Schweizers ausgebildet als eine Schutzform gegen den flinkem, bluts- und sprachgleichen Nachbarn, den dieser schwerfällige Hochalemanne einen ,chaiben Schwöb' schimpft... nicht nur, weil er der geschicktere Konkurrent in der Wirtschaft ist, sondern er mag auch das Geistige, Erdentbundene des andern nicht» (Erzählung eines Lebens, 1930). Das gemeinsame Ziel dieser parodistischen und satirischen Angriffe heißt: menschliche Kümmerlichkeit. In dieser Kritik kommt, für einmal wenig vermischt mit andern Impulsen, ein wesentlicher Antrieb deutscher Gegnerschaft zum Vorschein: nicht mehr der politische wie in der Kritik der Machtstaatler am renitenten kleinen Nachbarn, sondern der psychologische des kühneren, großzügigeren, ungehemmteren Temperaments gegenüber der verhalteneren, vorsichtigeren, ausgleichenden Wesensart des Schweizers. In unsern Beispielen erscheint der Antrieb gesteigert durch die extremistische Weltanschauung des anarchischen Individualismus, die im Schweizer auf einen denkbar wenig verwandten Typus stößt. Es geht von der Haltung Wedekinds, dem an sich die Werte der schweizerischen Verhaltenheit durchaus nicht unbekannt waren, bis hinunter zur autonomen Freude an billigen Invektiven bei Meyrink. Man spricht dem schweizerischen Menschen große Ideen, kühnen Wagemut und starke Leidenschaft ab. Es ist kennzeichnend für extremistische 61
deutsche Sichten, daß auch die sozialistische Linke der Schweiz vom nationalen Erbübel des Mangels an Kühnheit befallen erscheint. Franz Blei stellt als ein zeitweiliger Schüler des Austromarxismus fest, « . . . mit welch geringem Radikalismus die Schweizer Arbeiter ihre nichts als gewerkschaftliche Politik trieben und vom Marxismus gar nichts wissen w o l l t e n . . . Die Zürcher ,Arbeiterstimme' war ihm sonntagspredigerhaft und schulmeisterlich vorgekommen; das entsprach, wie er nun glaubte, der Enge der Stadt, der Viereckigkeit ihrer Bewohner, dem groben materiellen Alltag ihres zur Erde stierenden Lebens, dem die Berge den Blick verhängten» {Erzählung eines Lebens). Der schweizerische
Außenseiter
Was denn hat, bei so viel Abstand der radikalen Individualisten vom kleinen Ländchen der kleinen Seelen, hier trotzdem als «antwortendes Gegenbild» gewirkt? Von einigen, denen die hohen Berge das Leben mit Kraft und Gefühl der Größe füllten, war schon die Rede. Allein dieses Thema tritt bei den andern zurück. Auch um Staat und Volk um ihrer selbst willen hat sich kaum einer wesentlich bemüht. Wohl aber fanden sie in jenen Schweizern ihre Entsprechung, welche die Ausgesetztheit des abenteuerlichen Lebens der sicheren Hut der heimischen Ordnungen vorzogen; sie bejahten die Funktion des Außenseiters, des «Tasso unter den Demokraten», durchaus und stellten ihren satirischen Porträts des verkümmerten Menschen einige Schweizerbildnisse nach ihrem Herzen entgegen. Für den jungen Franz Blei war der außenseiterische, in seine Tagebuchwelt versponnene Genfer H.-F. Amiel «das erste spirituelle Abenteuer seines Lebens» gewesen. Sodann widmete er in seiner Autobiographie dem Schweizer Dichter Robert Walser eine schöne Miniatur, begeistert für den Menschen, der immer nur kurze Zeit in irgendeinem Kontor um des Brotes willen durchhielt, dann aber aufbrach in ein unbehaustes Wandererdasein hinein: «Als er einmal von Zürich nach Berlin zu Fuß wandern wollte und ohne Geld, brach er auf der Straße vor Treuchtlingen zusammen über seinen blutenden Füßen. Und als er sich auf eine Annonce hin, wo für eine Schloßherrschaft ein Diener gesucht wurde, meldete, in der Erwartung, dem jungen Fräulein die Schleppe tragen zu dürfen...», kam es zu einer tragikomischen Enttäuschung. Auch Christian Morgenstern, ähnlich wie der Walser-Freund Hermann Hesse mit einer Seite seines Wesens dem ungesicherten, leidenden und reichen Leben zugetan, hat brüderlich auf ihn hingewiesen: «Jetzt gibt er sich noch wie ein Kind: die Nichtachtung dessen, was ich das Bürgerliche im Innern des Men62
sehen nenne, und das Sehen der Welt als eines immerwährenden Wunders ; gereift wird er dieses, wie man meinen sollte, sich von selbst verstehen müssende Durchgreifen zum Wesentlichen zu seiner bewußten Aufgabe machen und einer der stärksten Verlocker zur Freiheit werden, zur Souveränität nicht des Individuums, aber des Geistigen im Individuum, der einzig möglichen absoluten Freiheit» (an Bruno Cassirer, 22. Januar 190715). Während sich über Meyer, Keller und Böcklin die Geister schieden, glaubten einige, in dem ihnen innerlich so fernen Jacob Burckhardt einen anspornenden Kampfgefährten erkennen zu können. Durch sein Bild des Renaissancemenschen wirkte er auf sie wie ein Nietzsche der Kulturgeschichte - als der Erschließer der ihnen vermeintlich schlechthin wahlverwandten Zeit der eigenmächtigen Großen. Max Halbes Drama Der Eroberer (1899), Bleibtreus Borgia-Tragödie Der Dämon (1887), Hofmannsthals Frau im Fenster (1899) und manche andere Dichtungen, die das damals modische Renaissancethema aufnahmen, sind in erster Linie Burckhardt verpflichtet. Einzelnen erschrockenen Zeitgenossen konnte er sogar unter solchen Umständen als der frevelhafte erste Stifter des Übermenschenkultes erscheinen. Es ist eine von Ausländern selten gesehene Schweiz der ausgefallenen pittoresken Existenzen, der Bestärker der Freude am hochgemuten, eigengesetzlichen Leben, welche in dieser Sicht erscheint. Man fand sie nicht bloß unter Künstlern und Intellektuellen; man entdeckte auch eine schweizerische Volksboheme, selbst in den Kleinbürgergassen der Städte und unter Außenseitern im Dorf, und verfehlte nicht, sie darzustellen. In Wedekinds Novelle Der Brand vonEgliswjl (1896) z.B. kommt als Hauptgestalt ein Knecht vor, eine mit unterdrückten sexuellen Energien geladene Kraftnatur. Der von der frigiden Burgmagd auf Schloß Wildegg Abgewiesene, der, tierisch röhrend, Feuer vor den Augen, durch die winterlichen Wälder rast, bis er seine Unersättlichkeit in den Flammen des von ihm in Brand gesteckten Dorfes löscht, ist eine der großartigsten Verkörperungen dumpfer erotischer Dämonie. Erich Mühsam und Karl Bleibtreu spürten einen ganzen schweizerischen Volksstamm auf, in dem sie ein ihnen Gemäßes fanden: der freie, vermeintlich bohemehafte Lebensstil des Tessiner Volkes hat es ihnen angetan. Der Anarchist Mühsam ist beglückt über «diese prächtigen Menschen, die hier ihre Heimat haben, diese Grenzitaliener mit den dunkeln offenen Augen und der frohen Lebensselbstverständlichkeit», und glaubt sie in Schutz nehmen zu müssen gegen die Moral, die der Urfeind, die Kirche, ihnen einzupflanzen versucht; er entdeckt hier, «wo die Schweizer Republik mit ihren demokratischen Staatsschikanen an-
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erkanntermaßen am zahmsten herumhantiert», sogar die Stelle, wo die Schweiz anarchistischen politischen Auffassungen einigermaßen nahe kommt (Ascona, 1906). Das eindrücklichste Bild schweizerischer Volksboheme steht in einem Roman Hugo Balls, der 1915 als Barpianist und Kabarettist in Zürich und andern Städten auftrat: einer, der aus Empörung gegen die verhärtete wilhelminische Welt liebend die wahre Menschlichkeit bei denen mit den regelwidrigen Lebensformen suchte, ein Pazifist im Ersten Weltkrieg, später von seiner Tessiner Wahlheimat aus führende Gestalt eines innerlich tief erneuten Katholizismus. Sein Flametti odervotn Dandysmus der Armen (1918), ein klassisches Werk der Bohemeliteratur, spielt teilweise im Zürcher Niederdorf: «DieFuchsweide dämmerte. Bucklig und winkelig sank sie mit ihrem Halbhundert Gassen verschmutzt und im Rauch ihrer Herdfeuer grau in den Abend. Die Giebel zerschnitten sich hoch in der Luft, die Häuser barsten von Feuer und Licht. Die Osra- und Tristankerzen, die Gasglühlichter und Bogenlampen leuchteten auf. Die Metzgereien und Magazine, die Handwerksstätten glühten wie Einkaufsbuden des Teufels. Man legte, die Arbeitsschürzen jetzt ab in den Kellern. Im Hinterhaus, in den Stuben und Giebeln frisierte man sich und machte Toilette. Los gingen die Grammophone, Orchestrione und das Elektroklavier. Auftauchten verwegene Gestalten beiderlei Geschlechts vor beleuchteten Spiegeln, unter dem Haustor und auf der Straße. Auf ging der Mond, und in den Konzertlokalen tummelten freundliche Sängerinnen und früheste Zauberkünstler bereits ihre Stimmen. Schlächtergesellen führten den Wolfshund spazieren. Soldaten riefen sich zu. Ausbündige Eleganz grüßte ,Salü!' Hoch aus dem fünften Stockwerk, wie von der Sternwarte weg, probierte Herr Bonifaz Käsbohrer in überschnappenden Tönen sein B-Klarinett, das er mit Hilfe des , Tagblatts * nachmittags eingetauscht hatte gegen ein abgenutztes Veloziped. Dann aufdringlich und bunt: die rumänische Damenkapelle begab sich zum ,Blauen Himmel*. Ein Fräulein knüpfte Bekanntschaften an, Tiroler Jodler gingen mit grünen Hüten und Zitherkästen. Ein Komiker kam im Zylinderhut... und höllenhaft, magisch, radauend und zeternd: die Lichtreklame des , Krokodil' entfaltete ihre chinesisch untereinander geordnete Buchstabenreihe, die vom Dach bis zum Boden reichte. Der ganze .Mönchsplatz' war rot überstrahlt. Die benachbarten Häuserreihen schienen von rotem Licht halb aufgefressen. Die Bummler, Passanten und zeitunglesenden Gruppen der Arbeiter taumelten in einer Flut von Licht... Hier war was geboten! Hier kam man auf seine Rechnung! Und was ein richtiger Dandy war, der von der Welt etwas verstand, entschloß sich überhaupt nicht, hineinzugehen, sondern die Sache 64
mehr platonisch zu genießen, als Schauspiel gewissermaßen, von außen, als Zusammenklang, mit der überlegenen Intelligenz dessen, den die Realität nur als Widerspruch nicht mehr enttäuschen kann.» Der Anarchismus und die Schweif Diese Volksbohème lebte in einem Staat, der den politischen Anarchisten unter den hier betrachteten Schriftstellern nicht unvertraut war. In der welschen Schweiz hatte die anarchistische Bewegung bei den Uhrmachern der «Fédération jurassienne» eine rege Gefolgschaft gefunden und hatte von hier aus die Arbeiter in Frankreich, Italien und Spanien beeinflußt. Bedeutende Führer : Bakunin, Krapotkin, lebten jahrelang in der Schweiz. «Die Prinzipien der Gleichheit, die ich [Krapotkin] im Jura herrschend fand, die Unabhängigkeit im Denken und im Gedankenausdruck, wie sie sich nach meiner Wahrnehmung unter den dortigen Arbeitern entwickelte, und ihre grenzenlose Hingabe an die gemeinsame Sache machten auf meine Gefühle einen noch stärkeren Eindruck [als Bakunins Ideen] ; und als ich die Uhrmacher des Jura, nachdem ich etwa zwölf Tage unter ihnen geweilt hatte, verließ, standen meine sozialistischen Pläne fest: ich war Anarchist.» In Bern war die «Arbeiterzeitung», das erste anarchistische Blatt in deutscher Sprache, erschienen, an internationalen Kongressen waren Anarchistenführer auf schweizerischem Boden aufgetreten; hier lagen Stützpunkte und liefen Fäden zusammen so in der Hand des Zürcher Arztes Fritz Brupbacher, eines unerschrokkenen, weltofFenen Geistes, der sich nicht bloß mit Bürgern, sondern auch mit den Arbeiterparteien überworfen hatte, weil er sie echt anarchistisch als Institutionen brandmarkte, die mit Parteidogmen den Arbeiter um den Rest seiner geistigen Freiheit zu bringen trachteten. Bei ihm kehrte auch der befreundete Erich Mühsam auf seinen Schweizer Fahrten ein; «Dr. Fritz Brupbacher in Zürich, dem Naturforscher des Individualismus » ist seine Schrift Ascona gewidmet. Allerdings : auch die Demokratie war eine politische Herrschaftsform. Die Anarchisten dagegen kämpften für das Ideal der absoluten Herrschaftslosigkeit und der völlig freien Föderation. Schon Proudhon hatte erklärt: «Jeder Staat ist despotisch. Autorität, Herrschaft, Macht, Staat: alle diese Worte bezeichnen dieselbe Sache. Jeder sieht darin ein Mittel, den ihm Gleichen zu unterdrücken und auszubeuten. Keine Autorität, keine Parteien mehr, absolute Freiheit des Menschen und Bürgers ! » Es war eine Freiheitsidee, vor der auch die berühmte freie Schweiz als ein unfreies Land dastand - nicht fürjedes Freiheitsverlangen ist sie das große antwortende Gegenbild. Es paßt durchaus zum Stil der anarchistischen 65
Gedankenwelt, daß auch die Bundesversammlung des Asyllandes einmal als Ziel terroristischer Attentate in Aussicht genommen war: in den achtziger Jahren führte die anarchistische Drohung, das Bundeshaus würde während einer Parlamentssession in die Luft gesprengt, zu Gegenmaßnahmen des Bundesrates. Wir sind nicht verwundert, in diesem Besucherbereich auf das pittoreske Bild des deutschen (anarchistischen) Schriftstellers zu stoßen, der gefesselt von der schweizerischen Polizei abgeführt wird. In Namen und Menschen erzählt Mühsam nicht ohne herostratische Genugtuung, er sei 1907 «in Begleitung einer bewaffneten Gendarmerieeskorte und mit schweren Eisenfesseln an den Händen» zu allerdings sehr harmloser Untersuchungshaft in das Gefängnis von Locarno gebracht worden. Das Lob der helvetischen Freiheit verstummt, denn die Schweiz ist noch viel zu viel «Staat», so wie sie den nationalistischen deutschen Konservativen zu wenig Staat war - wenn das Pendel im deutschen Geistesleben weit nach rechts oder nach links ausschlägt, ist die Stunde des schweizerischen Staates und Volkes jeweilen vorbei, wie denn überhaupt überradikale Haltungen äußerst enge Grundlagen der Weltbeziehung bieten. So ist die Schweiz als Ganzes beim Versuch der Anarchisten und der extremen Individualisten, die Welt in eine neue Zukunft zu führen, im wesentlichen nur Hintergrund, Schauplatz, wichtig als reichsferner Boden. In der freiheitlichen Atmosphäre des öffentlichen Lebens schien der politische und der weltanschauliche Anarchist geringeren Behelligungen ausgesetzt zu sein als anderswo. Ein John Henry Mackay etwa hätte zur Zeit des Sozialistengesetzes für seinen sozialistischen Gedichtband Sturm keinen sichereren Verlagsort als Zürich finden können. Hier und in Genf suchte der deutsch-schottische Verfasser solch staatsgefährlicher Literatur in erster Linie ein Asyl für eine freie persönliche Entwicklung (1888-1892). Auf diesem Boden trat er unter dem Einfluß von Max Stirners Schriften zu denen über, welche die Selbstherrlichkeit des Einzelnen als einzigen Lebensinhalt kannten, und arbeitete in diesem Geiste seinen Gedichtband um (2. Auflage 1890), nicht ohne seine an sich vornehme Natur in eine völlig intellektualistisch verkrampfte Haltung hineinzuzwingen. — Auch Wedekinds Frühlings Erwachen wurde 1891 aus Furcht vor deutschen Zensurstellen in der Schweiz verlegt. Die Boheme in Zürich und Ascona Gestalten wie Wedekind, Mühsam, Blei waren in ihrer Zeit nicht ganz vereinzelt; sie zählten sich bewußt zu einer über ganz Europa verteilten Fronde, in welcher betont freie, eigengesetzliche Lebensformen gepflegt 66
wurden. An bestimmten bevorzugten Stätten gesellten sie sich zu unaufhörlich bewegten, fluktuierenden Nomadenkolonien zusammen, in Mietzimmern hausend, im Literatencafe mit ihresgleichen debattierend. In dem Begriff Bohème faßt man jene gesellschaftlich sich Absondernden zusammen, denen (nach Mühsam) «die Bindung an Konventionen und die Einfügung in allgemeine Normen der Moral und der öffentlichen Ordnung nicht entsprachen». Auf Schweizer Boden finden wir einen starken Ausläufer dieser Bewegung. In Zürich (hier bereits vor 1870) und Ascona, auch in Genf, stieß Fronde zu Fronde und schuf so das einzig hier mögliche beheimatende «Wir». Unter Bohémiens sowohl wie unter ihren Feinden wurden diese Orte in einem Atem mit Schwabing und dem Montmartre genannt. So viel an. einem einzigen Ort verdichtetes ungewöhnliches Außenseiterschicksal hat oft genug zur literarischen Darstellung verlockt. Otto Julius Bierbaum z.B. wartet in der Novelle Sinaide oder die freie Liebe in Zürich (1904) mit literatenhaften Reminiszenzen aus seinen Zürcher Studentenzeiten auf, nicht ohne Schlüpfrigkeit vor dem fernen Hintergrund zürcherischer Kleinbürgerei einen Ausschnitt aus dem Bohèmeleben der russischen nihilistischen Studenten bietend. - Neben ihm wirkt Peter Hille wie ein Seraph der literarischen Bohème. Auf einer Wanderung nach Italien tauchte er im Frühjahr 1889 in Zürich auf, von dem Anarchisten Mackay ritterlich unterstützt. Da und dort in Gedichten und Aphorismen hat dieser verspielteste, sensibelste, kindlich-weltfrömmste der Autonomisten des starken Lebens sein originelles Zeugnis abgelegt über das, was ihn zu Böcklin, Keller und Meyer hinzog16. Ascona aber wurde kurz nach 1900 zum Inbegriff kühnster individualistischer Lebensreform. Der Monte Verità war die Stätte, wo im November 1900 einige Siedler unter der Führung des Belgiers Henri Oedenkoven einen der bedingungslosesten modernen Versuche, Leben und Denken auf neue, freieste Grundlagen zu stellen, ins Werk zu setzen begannen. Sie bekannten sich zur «naturgemäßen Lebensweise», zur Rohkost, zu den Heilkräften des Wassers und der Sonne und nahmen damit pionierhaft spätere Methoden vorweg; sie verwarfen den Zwang der modischen Kleidung, überdies aber waren ihnen Frauenemanzipation, freie Ehe, Pazifismus, Gesellschaftsreform und übernationale Haltung Selbstverständlichkeiten. Außerhalb der herrschenden Welt und gegen sie wollten sie als Kolonisatoren ein neues, freies Leben auf eigener Scholle gründen. Das Tessin hatte schon vorher bei Orten wie Ronco und Losone abseits lebende Künstler, Theosophen, Lebensreformer usw. gesehen; in Ascona aber sollte die Urzelle einer zukünftigen, sich durch die Arbeit ihrer Mitglieder in jeder Hinsicht selbstversorgenden idealen
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Gesellschaft geschaffen werden. 1902 wurde ferner als Finanzquelle eine auf genossenschaftlicher Grundlage betriebene Naturheilanstalt gegründet. Die Kolonie auf dem Berg der Wahrheit hat schon früh die Blicke wahlverwandter und auch gegnerischer Schriftsteller auf sich gezogen. In ihrem und ihrer Nachfolger Werk ist der Aufstieg und der Zerfall (im Ersten Weltkrieg) des «klassischen» Ascona eindrücklich festgehalten worden. Erich Mühsam reiste 1904 bis 1909 jeden Sommer nach Ascona. Wie er in seiner gleichnamigen Schrift erzählt, fand er die kleine Siedlung in voller Tätigkeit, wenn auch bereits gespalten in Gegner und Befürworter des «kapitalistischen» Sanatoriums. Einige Gestalten hat er mit sicheren Strichen umrissen, so den ehemaligen k. u. k. Offizier Gräser, einen Naturmystiker, der seine selbstgezogenen Feldfrüchte gegen Waren umtauschte und seinen Hausrat bis auf den letzten Löffel mit eigenen Händen herstellte, dabei die geheiligten Formen der Natur so wenig wie möglich mit dem Werkzeug zerstörend. Eine tief sich einprägende Gestalt war Lotte Hattener, ebenfalls mystischen Schriften zugetan, die Tochter eines Berliner Bürgermeisters, die sich früh von dem Treiben der andern in ihr schiefes, fensterloses Rebhaus zurückzog. Es ist das erschütternde Bild der bereits dem Wahnsinn nahen Sucherin überliefert: wie sie ein großes Feuer, ein die üble Welt reinigendes Feuer, anlegt und die Asche immer wieder mit den Händen verzweifelt siebt, jammervoll schreiend: «Mein Gott, es ist noch nicht fein genugl» Ihre tragische Geschichte hat zwei Jahrzehnte später Bruno Goetz zu dem Roman Das göttliche Gesicht (1927) angeregt. In Gabriele Reuters Benedikta (1923) erscheinen die Asconesen in eher konventioneller kritischer Sicht als Narren, die ein an sich hohes geistiges Gut stümperhaft vertun. Im Jahre 1909, als neben den ursprünglichen Siedlern bereits allerlei abenteuerliche Gestalten von den oberen und unteren Rändern der Gesellschaft die früheren Ideale verdarben, erschien auf dem Monte Veritä Franziska von Reventlow, die damals berühmteste im Sinne der Boheme lebende deutsche Frau, die radikal mit ihrem hochadligen Elternhaus gebrochen hatte und im Münchner Schwabing als Hetäre, Schriftstellerin, Schauspielerin, Näherin, abwechselnd das Leben rauschhaft genießend und mit Not und Armut tapfer kämpfend und ihren einzigen Halt in ihrer Liebe zu ihrem Kinde findend, aufgegangen war. Sie schildert die Menschen Asconas und sich selbst in der graziös-grotesken, frivolen Geschichte Der Geldkomplex (1916). Es liegt in der natürlichen Konsequenz des anarchischen Lebensstils derBoheme, daß die Autorinzur Mitte der wohl ausgefallensten Szene wurde, die je von einem ausländischen 68
Dichtergast in der Schweiz dargelebt wurde. Die Gräfin, in Geldverlegenheit, hatte sich bereit erklärt, mit dem jungen baltischen Baron Rechenberg-Linden in Ascona eine Scheinehe einzugehen, da er einzig durch eine Ehe erbberechtigt werden konnte. Mühsam hat in Namen und Menseben das Schauspiel festgehalten: «Sie erschien zur Hochzeit in der Kirche von Locarno im Strandkleid, der Gatte im Matrosendreß, und der Schwiegervater, der keine Ahnung hatte, daß das Ganze Komödie war, voll Glück, daß dem mißratenen Sohn sogar eine leibhaftige Gräfin beschieden sei, in Bratenrock und Zylinder.» Den Preis, 40000 Franken, legte sie, zum erstenmal eine gutbürgerliche Handlung vollziehend, auf einer Bank an - und verlor ihn kurze Zeit später im großen Tessiner Bankkrach von 1914. Bis zu ihrem Tode (1918) hat sie in Ascona und dessen Nähe gelebt. 1920 verließ Oedenkoven angewidert den Berg der Wahrheit und suchte in Brasilien eine neue Kolonie zu gründen. Nur wenige der großen Radikalen der Boheme haben noch bis gegen die Jahrhundertmitte hinein gelebt. In der Weimarer Republik gab es Epigonen ihres Lebensstils genug, aber nunmehr war es kaum mehr gefährlich, gefährlich zu leben. Einen der letzten von 1900, den gegen kommunistische Parteityrannis so blind gewordenen Mühsam, fand man eines Morgens im Jahr 1934, von seinen Wachen erhängt, im nationalsozialistischen Konzentrationslager Oranienburg. Die extremistische Freiheitsbewegung der Boheme, der Anarchisten und gewisser Nietzscheaner um 1900 hat über ihre Zeit hinaus verlokkend und faszinierend gewirkt auf Naturen, die sich aus Lust am ungebunden-starken Leben gegen moralische Konventionen oder den Druck der wachsenden Maschinerie des modernen Staates auflehnten. Dennoch mußte die absolut gewordene Freiheit auf die Dauer steril werden. Weil den Anarchisten der Sinn und die Verantwortung für das Ganze fehlten, konnten sie nicht zur echten Gemeinschaft führen. Ihnen und ihren Zugewandten war entgangen, daß Freiheit nur in Vereinigung mit konservativen Werten wahrhaft fruchtbar wird (und umgekehrt) und die freiwillig übernommene Bindung ihr stärkster Schutz ist. Am Schweizer Bild der meisten hier betrachteten Geister aber treten die pikanten Reize und die Grundmängel einer der absonderlichsten extremen Entwicklungen des deutschen Geisteslebens deutlich hervor.
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EI. DER E R S T E HÖHEPUNKT: DAS M E N S C H E N B I L D D E S REALISMUS UND D I E SCHWEIZERISCHE W E S E N S A R T Während in den letzten Dezennien des neunzehnten Jahrhunderts der Apparat der technischen Hochzivilisation mit Fabriken und Bahnen, Glaspalästen und Mietskasernen aus dem Boden wuchs, während jener Geist, der von den materiellen Gütern gebannt ist, überhandnahm und die sozialen Kämpfe die Gemeinschaft zerrissen, während am literarischen Horizont nach Nietzsche und Dehmel und Hauptmann bereits mit Spitteier, George, Hofmannsthal und andern die Heger einer neuen Schönheit und Innerlichkeit aufstiegen, arbeitete in der Stille, die Altersernte einbringend, ein allmählich sich lichtendes Geschlecht von Meistern, die sogenannten Poetischen Realisten, die mit Kunst und Menschlichkeit ihres Werkes alle dichtenden Zeitgenossen bis gegen die Jahrhundertwende in den Schatten stellten. Aus ihrem Reich der Mitte zwischen dem Idealismus des Jahrhündertanfangs und dem Materialismus des Jahrhundertendes ging eine neue und höchst bedeutsame Beziehung zur Schweiz hervor. Es ist ein fesselnder Vorgang, wie die Poetischen Realisten sich allmählich als gleichgeartete Weggenossen auf dem Gang durch ihr Jahrhundert entdeckten und wie ihnen nicht politische oder philosophische Ideologien, sondern ein bei allen ähnliches Bild des Menschen und ein Gefühl für echte künstlerische Qualität zu den Wahrzeichen ihrer Zusammengehörigkeit wurden. In der Schweiz erkannten sie in Keller einen großen Gesinnungsverwandten. Sie begannen einander aufmerksam zu machen: «Der Teufelskerl, der Keller, hat ein wundervolles Kolorit in seiner Macht. So tief glühende Farben hat nur Giorgione oder Tizian; mein innerer Sinn ist davon noch immer wie eine gotische Kirche mit gemalten Fenstern, durch welche eine Augustsonne hereinscheint... Mit dieser Farbe gemalt, werden sie [Kellers Gestalten] wahr, wie sie wiederum, und nur eben sie, wie sie sind, die Farbe wahr und natürlich machen», schrieb Otto Ludwig an Auerbach. Andere richteten an den Meister selbst ihren Dank. Theodor Storm, der den Grünen Heinrich jedes Jahr wieder zu lesen pflegte, ergriff am 27. März 1877 das Wort des Einverständnisses: «Als ich die schöne Geschichte von Johannes Hadlaub aus der Hand legte, war mir so warm und froh ums Herz, und der Johannes wurde mir zum Gottfried, und ich dachte: Ihr wenigen, die Ihr gleichzeitig auf der Erde wandelt, wenn auch ein warmer Händedruck nicht möglich ist, ein Gruß aus der Ferne sollte doch hin und wie7°
der gehen.» Gestalt und Schöpfer werden in einem Atem genannt, denn nach realistischer Überzeugung soll nicht ein Abgrund zwischen Verfasser und Werk klaffen, sondern beide sollen unter dem Gesetz der Wahrheit und Echtheit übereinstimmen. So konnte Peter Rosegger bestätigend sagen: «In ihm finde ich mich immer wieder zurecht, denn er ist als Mensch und Dichter voller Wahrheit»17, und als Marie von Ebner-Eschenbach am 9. Juni 1875 in ihr Tagebuch eintrug: «Welch ein Meister! Marie Ebner, da lerne, lerne, lerneI», war dies ebenfalls keineswegs bloß im technischen Sinne gemeint. In der Öffentlichkeit hat der Philosoph Friedrich Theodor Vischer 1874 (mit Nachwort 1881 in Altes und Neues) das Bild des Dichters gezeichnet, so reich, daß man es zu den schönsten Äußerungen des Menschen über den Menschen zählen darf 18 . Schließlich war bedeutsam, daß Julius Rodenberg und Ferdinand Avenarius, die Gründer der beiden führenden deutschen Kulturzeitschriften des späten neunzehnten Jahrhunderts (Deutsche Rundschau, 1874, bzw. Der Kunstwart, 1887), ebenfalls der geistigen Welt des Poetischen Realismus zugehörten Rodenberg allerdings inniger als Avenarius, der von den sozialen Kämpfen der Zeit und später von religiösen und ästhetischen Ideen des Neuidealismus tiefer berührt wurde. Beide traten rückhaltlos für Keller, Meyer und andere Schweizer, überhaupt für die kulturelle Wechselbeziehung zwischen den beiden Nachbarländern ein; beide haben öfters die Schweiz besucht. Das Menschenbild des Realismus Die Realisten hatten in ihrer Jugend alle noch den Reichtum einer Zeit erfahren, in der die großen Gedankengebäude aus klassischem und romantischem Geist geschaffen wurden. Gott, Unendlichkeit, Hingabe an die Natur, Lust am Spiel der freien Phantasie waren einmal Inhalte ihres Lebensgefühls gewesen. Aber sie kannten auch das Erwachen aus den Verzauberungen der romantischen Innerlichkeit, sie hatten hinter den philosophischen Spekulationen eines Fichte oder eines Schelling die Willkür eines in seinem subjektiven Phantasieren sich selbst genießenden Geistes gewittert. Sie waren ergriffen worden vom emanzipatorischen, nach reiner empirischer Diesseitigkeit, nach autonomer Sittlichkeit strebenden Zug des modernen Geistes. «So viel ist richtig, der Tod und der Himmel sind zurückgewichen in den Hintergrund der Gedanken, und auf der Erde will der Mensch wieder menschlich heimisch werden», sagte Immermann in den Epigonen. Eine neue Liebe zum gelebten, zum «wirklichen, greifbaren Leben» (Feuerbach), auch in seinen abgründigen 71
Aspekten, und ein neues Verantwortungsgefühl für die menschliche Gemeinschaft erfüllte sie; die farbige Welt vermochten sie mit einer Sinnenfrische zu erleben, die über bisherige Empfänglichkeiten hinausging. Allein, so wie sie das große idealistische Erbe bei manchen romantischen Subjektivisten vertan gesehen hatten, so erschraken sie später auch vor der Entartung der realistischen Zeittendenzen; sie erkannten sie deutlich genug im Gebaren der wilhelminischen Mehrer von Geld und Macht und im verhängnisvollen Schwund der Innerlichkeit weit herum. Ihnen war aufgetragen, jenseits dieser beiden Grundverhängnisse des geistigen Lebens ihres Jahrhunderts die Fülle und Tiefe der menschlichen Persönlichkeit neu zu schaffen. Es entstand in einem bunten Volk dichterischer Gestalten ein realistisches Bild des Menschen. Sie schufen es aus der Freude am reich entwickelten, starken Charakter; sie stellten ihn nicht unter die Frage nach seinen Ideologien, sondern nach seiner Wesensechtheit und kennzeichneten den wertvollen Menschen durch drei Grundqualitäten. Er besitzt das, was Vischer die «monistische Einrichtung» genannt hat: die saubere, lebensnahe Einheit von Denken, Bekennen und Tun, von Gesinnung und gelebtem Leben. Ihre positiven Gestalten strahlen Echtheit aus, sie sind von gesundem seelischem Wuchs, eins mit sich selbst und über sich im klaren. Das höchste Tätigkeitsfeld dieses sinnenfrohen Menschen mit der monistischen Einrichtung ist die Gemeinschaft; sein Ethos ist nicht das des abgesonderten Einzelgängers, sondern eines, das immer neu eine Mitte zwischen Freiheit und Bindung suchen muß. Nur der ausgeglichene Mensch ist für sie der reife Mensch, nicht der in Einseitigkeiten Verstiegene; den bekämpfen sie als einen Unfreien und Unfreiheit Verbreitenden, sei er ein orthodoxer Frommer oder ein wilder Umstürzler der Linken. Drittens aber geben sie ihrem sinnenfrohen, «monistischen», gemeinschaftsnahen Menschen Überschüsse inneren Lebens mit: eine heimliche Aussteuer von Phantasie, verfeinertem Gefühl, Bedürfnis nach Schönheit, Wissen um das Tragische, nicht mehr romantisch überbordend, sondern in das harmonische Bild eines ganzheitlichen Menschentypus mit der realistisch-idealistischen Doppelnatur dienend eingefügt. So haben gemeinsame Abneigungen und Zuneigungen gegenüber den Erscheinungen ihres Jahrhunderts sie einander angenähert, und das weitgehend gemeinsame Menschenbild und die Ansichten über Fragen des dichterischen Handwerks haben ihre innere Gemeinschaft gefestigt und vertieft. Für die Geschichte der literarischen Auseinandersetzung Deutschlands mit der Schweiz ist nun eine Tatsache von größter Bedeutung: die 72
Vorstellung des Realismus von der idealen menschlichen Persönlichkeit berührt sich sehr nahe mit entscheidenden Zügen des schweizerischen Wesens neuerer Zeit. An einer wichtigen Stelle des deutschen Forschens nach dem schweizerischen Charakter, in Vischers Abhandlung über Gottfried Keller, werden das Bild Kellers, das Bild des schweizerischen Menschen und das des Menschen im Sinne des Realismus, gleichsam wie auf transparente Scheiben gezeichnet, übereinandergelegt - und es ergibt sich, daß die Linien sich fast überall decken: «Es ist ein lebenstüchtiger Realismus in jenem guten Sinne des Wortes, der die echte Idealität in sich begreift... Es ist eben schwer, dieses ganz eigenartige Herbkräftige zu bezeichnen, das ich an Keller... das echt Schweizerische nennen möchte, d. h. in dem Sinne, daß hier ein solcher etwas knochiger Realismus unlöslich gebunden ist mit einem freien Gemüt und einem Höhenzuge des Geistes, der uns nicht nur an das Gestein der Hochgebirge, die Hütten und die stattlichen Häuser an den Berglehnen und in den Tälern, sondern auch an die silbernen Gletscher, an die reinen Lüfte, die dort wehen, an die brausenden Winde erinnert... Soll aber unter schweizerisch verstanden werden eine besondere Qualität, wie sie nur in der Schweiz entstehen kann, so sage ich: hier bei Keller ist sie, und die Schweiz kann stolz darauf sein, daß sie einen Mann hat, der in diesem Sinne das Prädikat begründet.» Auch Karl Weitbrecht19 sieht in seiner Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts in Kellers Charakter zugleich «allgemein deutsch-schweizerische Stammesart». Das Bild Kellers Was deutsche Dichter (auch solche späterer Zeiten) an Werk und Wesen des Zürcher Dichters immer wieder beglückte, war die dreieinige Kraft der hier vereinten Fülle von Lebenswahrheit und sinnenhafter Weltschönheit und von streitbarer Liebe zur freiheitlichen Volksgemeinschaft - ganz abgesehen vom Zauber seiner mitreißenden Erzählkunst an sich, an der mancher Deutsche Sprache und Erzählweise verjüngt hat. Am vollsten strömten aber die Kräfte seines Werkes jenen zu, deren Natur weit genug war, die Vereinigung dieser mehr der äußeren Welt zugewandten Wesenselemente mit den idealistischen Überschüssen seiner Innerlichkeit mitzuumfassen. Die Akzente verschieben sich leicht in den verschiedenen Betrachtungen - in der Regel liegen sie auf Kellers Kunst, das Leben unverfälscht in seinem Reichtum und seiner Tiefe aufzunehmen und es zugleich mit dem feinsten Sinn für echt und unecht abzustufen. Ricarda Huch hat es ihm mit unvergänglichen Worten bezeugt: «Die Wahrhaftigkeit, die den Ton nicht um eine Schwingung 73
lauter werden läßt als das Empfinden - die Gerechtigkeit und Objektivität, die jedes Ding rein, ohne Bezug auf die eigene Person in sich aufnehmen kann, die kindliche Arglosigkeit, die alle göttlichen und menschlichen Mysterien anrühren kann, ohne sie zu erniedrigen, die Fähigkeit, auch das Geringste zu lieben, sofern es unverfälschtes Leben hat, die reinen Augen für den goldenen Überfluß der Welt»: so fördert die Dichterin Wert um Wert aus dem Kronschatz dieses Künstlercharakters zutage (Gottfried Keller, 1904). Viele haben hervorgehoben, wie sehr «monistische» Echtheit auch in des Dichters eigenem Leben dargelebt wurde; und wie sie sich seelisch gesund lasen an diesem klaren und tiefen Kenner des Wirklichen, hat Vischer stellvertretend bekannt: «Froh wird man bei ihm; Lebensgefühl strömt ins Herz, vom gesunden Wein des Lebens erquickt geht man von dannen. Auch wenn er Schmerzen bringt, und er bringt schwere. Er rührt uns bis ins Mark und macht uns doch niemals empfindsam, matt und flau; denn er trägt ein standhaft Mannesherz in der Brust, Schicksalssinn und die tränenbezwingende, gesundkühle Klarheit des Denkens» (a. a. O.). Kellers Verbundenheit mit seinem Volk, die einem weiteren Zug im Menschenbild der Realisten tief entsprach, hat nicht bloß sie, sondern auch alle jene beglückt, welche selber im Kampf um eine freiheitliche starke Volksgemeinschaft standen - sein Freiheitssinn hat ermutigend bis in Kämpfe und Emigrationen des zwanzigsten Jahrhunderts hinein weitergewirkt. Wo hingegen, wie etwa im Münchner Dichterkreis oder bei einigen Dichtern des Neuidealismus, die fraglose Lust am Schönen als ein hoher Lebenswert erschien, verschoben sich die Akzente leicht auf den heimlichen Überschwang der Phantasie und Schönheitsfreude bei ihm. Für Heyse liegt das Leben bei Keller festlich und schön beglänzt vor dem Betrachter: «Der Schönheit Blüt' und Tod, das tiefste Grauen Umklingelst Du mit leiser Torenschelle Und darfst getrost, ein Shakespeare der Novelle, Dein Herb und Süß zu mischen Dir getrauen . . . So sehn wir staunend Deine Wunderwelt, Der Dichtung goldne Zeit scheint zu erwachen Auf euren Ruf, unsterbliche Seidwyler.» (ßki^enbuch, 1877) Die großgeartete Vereinigung von realistischer, sinnenfreudiger Wirklichkeitstreue, Nähe zur Volksgemeinschaft und idealistischer Innerlichkeit in Kellers Wesen und Werk hat weit über die Zeit des wahlver74
wandten Realismus hinaus deutsche und nichtdeutsche Dichter und Leser beschäftigt. Mit dem Menschenbild des Realismus hat auch das Kellersche den Weg durch die Nachwelt angetreten, anregend, Werte schaffend, auch Widerspruch erweckend. In den wachsenden Zerklüftungen des geistigen Lebens im zwanzigsten Jahrhundert hat mancher sehnsüchtig auf die runde, ganzheitliche Humanität Kellers zurückgeblickt; Hugo von Hofmannsthal hätte den reinen und reichen Zusammenklang so vielfältiger Wesenskräfte nicht schöner heraufbeschwören können, als indem er, ganz Österreicher, die Urverwandtschaft dieser Welt mit der sublimen Harmonie der Musik pries: «Etwas Kleines kann ich nicht darin sehen und noch weniger etwas Unwesentliches oder Zufälliges, wenn ich . . . unter bunten und abenteuerlichen Geschlingen [der verwirrenden Schicksalsabläufe] die Figur des Lebenskreises ahne, der rein in sich selber zurückkehrt; wenn mir alles, bei üppigstem Reichtum, doch reingestuft und wohltuend sich entgegenhebt wie in der Musik...; wenn ich in diesen Erzählungen die Altersstufen herauf und hinab geführt sehe, den Vater im Sohn, die Tochter in der Mutter sich spiegeln, ein jedes Teil im Gleichgewicht gehalten von einem Gegenteil, ein jedes Geschick melodisch bezogen auf Geschicke, die in geheimnisvoll richtig geteiltem Abstand zu ihm schwingen» . . . (Unterhaltung über die Schrijten Gottfried Kellers, 1906J. Von andern Seiten hingegen wurde gegen Keller Einspruch erhoben. Wer von einem strengen Ideal der Schönheit und Größe herkam, fand ihn langweilig und unbedeutend (so z. B. Isolde Kurz), und von den Entgegengesetzten, den frühnaturalistischen Lobrednern der losgelassenen Leidenschaften und der provozierenden Häßlichkeit, mußte er hören, er sei ein banaler Spießbürger: «Er ist der langweiligste, trockenste, ödeste Philister... Für dieses öde Pack soll ich mich erwärmen, diese Gevatter Schneider und Handschuhmacher ohne Leidenschaft, ohne Kraft, ohne Geist, ohne Mut, ohne jedes Streben und Ringen nach höheren Zielen, die nichts kennen als den Frondienst ihrer pflugstiermäßigen Brotarbeit ? . . . Ich ziehe mir Bleibtreus Genies, die sich im Rinnstein wälzen, denn doch diesen gräulichen Philistern an der Hobelbank und am Werktisch vor» (Conrad Alberti in der Gesellschaft, 9, 1889). Im aufgewühlten zwanzigsten Jahrhundert haben die Stimmführer neuer Generationen, denen das Leben abgründig und bedroht vorkam und die tiefer in die Tiefe und höher in die Höhe reichende Weltanschauungen forderten, ihn als einen Dichter, dessen Tag vorüber sei, hingestellt. Vom Expressionismus oder vom Existentialismus her gab es keinen Zugang mehr zu ihm. Mit hoher Ehrfurcht stellt es der österreichische Dichter Otto Stößl in seiner Abhandlung Gottfried Keller (zweite, 75
umgearbeitete Auflage, 1920), der perspektivenreichsten Keller-Studie neuerer Zeit, fest: «Unser Auge ist zu übersichtig, unser Denken zu skeptisch, unsere Gemütsbeschaffenheit zu fraghaft, mit einem Wort, wir selbst sind zu alt geworden, solche bürgergöttliche Sonntagsherrlichkeit mit gutem Gewissen zu genießen und als unser irdisches Lebensmaß und -gleichnis noch für zulässig zu halten. Nicht daß unser Urteil dieses Werk herabsetzt, aber es spricht uns seiner nicht mehr würdig.» Und ähnlichen Geistes ist Hermann Hesses Urteil aus dem Jahr 1919: «Den Glanz der Vollkommenheit über seinen Werken sehen wir jetzt wie ein Abendrot über einem Tage, der nicht mehr der unsere ist. Das Schicksal hat sich inzwischen vollzogen, im verbrannten Europa ist Seldwyla zur freundlichen Kuriosität geworden» (Krefelder Zeitung, 14. Juli 1919). Im Jahr 1931 aber ein Widerruf: «Von jenen Weltanschauungen nun, welche vor erst zwölf Jahren auf den Idylliker und bürgerlichen Idealisten Keller von hoch oben herabblickten, sind heute die meisten schon gestürzt und vergessen,... während das Werk Gottfried Kellers, eine Weile vielleicht weniger diskutiert, nach wie vor dasteht und für eine große Zahl von Menschen das bedeutet, was Kunst in unserer Zeit den Menschen eben bedeuten kann: Trost, Stärkung gegen die Nöte des Lebens, öffnen einer Tür ins Ewige» (Der Lesezirkel, 10, Zürich 1931). Die beiden Urteile Hesses sind kennzeichnend für das große Auf und Ab auch des realistischen Menschenbildes an sich im zwanzigsten Jahrhundert - und überdies läßt sich darin etwas von der wechselnden Nähe und Ferne deutscher Geister zu der mit diesem Menschenbild in entscheidenden Zügen urverwandten schweizerischen Wesensart verfolgen. Das Bild des schweizerischen Menschen Durch Wesen und Werk Gottfried Kellers sahen manche deutsche Beobachter Grundeigenschaften der schweizerischen Art, die ihnen im Land selbst häufig begegnet war, durchschimmern - am unmittelbarsten die Realisten von ihrem so lebhaft auf Keller und den schweizerischen Charakter antwortenden Gefühl für das Wirklichkeitsnahe, Echte, Volksverbundene und die verhaltenen Innerlichkeiten her. Dabei wurde unter « schweizerisch »in der Regel das stammverwandte Deutschschweizerische verstanden. Die vielfältige Präliminarproblematik, die dem, der sich mit der Erfassung fremder Nationalcharaktere beschäftigt, oft so viel zu schaffen macht, kommt bei den deutschen Dichtergästen, die sich mit schweizerischem Wesen befassen, kaum auf - sie befinden sich inmitten eines Volkes von unverwechselbar eigener Prägung.
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Viele haben datin eine alles andere bestimmende und durchdringende, rational kaum zu erfassende Kraft gespürt, auf die sie zumeist den Begriff «Substanz» anwandten. Damit ist ein nährender, sichernder Wesensgrund mit scheinbar unerschöpflichen seelischen und biologischen Reservekräften gemeint. Aus ihm kommt die Einheit und Kraft der Persönlichkeit, und zu deren Erklärung lassen die Betrachter eine substanzreiche Reihe bodenständiger bäuerlicher und kleinbürgerlicher Vorfahren hinter dem einzelnen Schweizer aufrücken. So etwa Gerhart Hauptmann in einem Aufsatz zum hundertsten Geburtstag Kellers: «Die alten städtischen Geschlechter der Schweiz haben mit ihren Vorfahren im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert noch einen ziemlich realen Zusammenhang... Die Schweiz, von Kriegsstürmen seit Jahrhunderten unberührt, stützt sich zudem auf ein pietätvoll-eigensinnig-konservatives Altbürgertum. In diesem aber ist viel gutes Mittelalter erhalten geblieben. Dadurch mag sich eine Empfindung rechtfertigen, die mir Keller in seiner Werkstatt als einen Verwandten etwa Peter Vischers, des Erzgießers, oder einen verspäteten Wenzel Jamnitzer erscheinen läßt, der seinen Kunstfleiß und seine geduldige Bildkraft auf das neunzehnte Jahrhundert überträgt» (Frankfurter Zeitung, Juli 1919). Auch ein so urbaner Schriftsteller wie der Elsässer Otto Flake bestätigt: «Sie alle hatten Substanz. Das Land, in dem sie wohnten, lieferte sie ihnen. Keiner, der nicht noch mit der Scholle oder dem Kleinbürgertum verwurzelt w a r . . . Die Substanz hieß, in Begriffe gebracht, Überlieferung, Bauerntum, Bodenständigkeit. Für mich war es seltsam, das bloß dadurch zu fühlen, daß ich bei ihnen saß. Wer Substanz hat, hat ein Fluidum, das Fluidum schwingt zu dem hinüber, der sich in sein Machtbereich begibt» (Montijo, 1930). Dieser substanzstarke Schweizer, eins mit sich selbst, erscheint als ein Mensch mit der Atmosphäre der «Echtheit», und als seine Einstellung zur Welt wird allgemein eine besonnene, realistische Sachlichkeit genannt. Für spekulative ideologische Gedankengänge ist er wenig empfänglich: «Was charakterisiert den Schweizer dem Ausländer gegenüber schärfer als seine Sachlichkeit ? Seine besonnene Positivität, seine Abneigung gegen Phrase, gegen Sentimentalität und jede Art Windbeutelei?» stellt Wedekind in einem Aufsatz über Böcklins «Helvetia» fest. Der Schweizer ist schwer aus dem Zusammenhang mit seinem Lande zu lösen. Zu ihm gehört eine große Liebe zur Heimat, ein Hang, das anvertraute Gut mit Sorgfalt zu pflegen, und diese Liebe setzt sich nach dem Urteil vieler Dichtergäste aus der dreifachen lebendigen Beziehung zur schönen Natur, zur Geschichte und zur Freiheit des Landes zusammen. Wie oft sind etwas altväterisch anmutende Szenen wie diese geschil77
dert worden: «Ganz andächtig standen sie da [auf dem Schiff, das dem Rütli zusteuert] und sahen hinauf zu ihren Bergen. Es waren kleinere Bürgersleute, die nicht alle Jahre eine Reise machen und von dergleichen noch ehrlich ergriffen werden, zumal sie ihre Schweizer Geschichte fest im Kopf haben, die hier auf Schritt und Tritt zu ihnen redet., Das ist halt schön, bigott I' riefen sie freudig. Und als nun die Grütlimatte kam inmitten schroffer Felseneinsamkeit, riß einer den Hut vom Kopfe und schwenkte ihn aus Leibeskräften mit dem R u f e : , Heil dir Helvetia!' Die andern stimmten ganz selbstverständlich ein, und drauf sangen sie das Grütlilied» (Goswina von Berlepsch, die Tochter eines Achtundvierzigers, in Heimat. Schweiber Novellen, 1899). Einigen deutschen Schriftstellern, vorab den Realisten, ist an Gottfried Keller als dem für sie urbildhaften Schweizer zuerst aufgegangen, wieviel heimliche Zartheit und Innerlichkeit sich hinter der nüchternen und rauhen Außenseite des (nach Rilke) «schwer zu penetrierenden» schweizerischen Menschentyps verbergen kann20. «Was die Nüchternheit betrifft, die dem Schweizer oft vorgeworfen wird, so ist diese allerdings vorhanden; aber man ist im Irrtum, wenn man glaubt, deswegen könne die Schweiz keine Künstler hervorbringen. Die Trockenheit des Schweizers ist die des kindlich oder bäuerlich verschlossenen Menschen, indessen Innern die Phantasie oft um so kräftiger blüht, weil sie nicht beständig nach außen verschwendet wird», sagt die Kennerin Ricarda Huch. Neben Keller haben zweifellos Burckhardt, Böcklin und einige andere große Gestalten zur Korrektur der irrigen Begriffe vom nur-nüchternen Schweizer beigetragen. Man wird unschwer erkennen, wie sehr es in diesen Auseinandersetzungen immer wieder um Variationen ziemlich konstanter schweizerischer Wesensdominanten geht, urverwandt mit solchen im Menschenbild der Realisten, der führenden Entdecker des schweizerischen Menschen in neuerer Zeit. Ein so ausgeprägter menschlicher Charakter hat oft zur künstlerischen Gestaltung herausgefordert. So versehen denn Dutzende von kernhaften helvetischen Gestalten Haupt- und Nebenämter in der deutschen Literatur - eine kleine Heerschar der Währschaftigkeit. Von den keltischen Barden Feridun Kallar und Guffrud Kullur (Porträts des Pfahlbauforschers Ferdinand Keller und des Dichters Gottfried Keller) in Vischers Pfahldorfgeschichte und von weiter her über Robert Schweicheis21 Unterwalliser Bauern bis zu Carl Haensels teilenhaftem Bündner Bergführer Pargätzi in Echo des Herfens (1935) und zu Leonhard Franks Bauernknecht Martin in Mathilde (1948): es ist ein ansehnlicher Zug von Gestalten, und die weiblichen stehen den männlichen nicht nach.
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Als Spitzentypen gesunder schweizerischer Volksart gelten die Bergführer, Landärzte und Obersten von altem, echtem Schrot und Korn. Die Landärzte etwa so, wie Schickele einen schildert: « Er war klein, seine kurzen Sätze brachen unwillig durch einen struppig überhängenden Schnurrbart, darunter schimmerte das rasierte Kinn hellblau, während das übrige, aufallend breite Gesicht eine gesunde braune Färbung zeigte. Er hatte dunkle Augen, die schwermütig über die Brillenränder guckten, wenn er mit einem sprach, und sobald er im Zimmer war, trat er behutsam auf, hinter der Tür aber stapfte er martialisch davon. Kurz, es war ein sympathischer Kauz und gewiß das Gegenteil von einem Charlatan» (Symphonie jür JOSR, 1929). Nicht wenige deutsche Schriftsteller haben in dem kauzigen, seiner Substanz unbeirrbar sicheren Schweizer die immanente Komik entdeckt und heben sie dadurch heraus, daß sie ihm einen ganz andersgearteten Menschen gegenüberstellen. So hat Rudolf Hans Bartsch in einer der Novellen Vom sterbenden Rokoko (1909) einen biedern Schweizer Sergeanten aus dem Regiment des französischen Königs mit der zierlichen, spielerischen, auf amouröse Abenteuer ausgehenden Marquise Blanchefleure zusammengeführt: «Als das erbärmlich schlichte, graue Ereignis in Gestalt des armen Jungen eingelassen wurde, stand ihr der Atem still. Sie hatte sich weiß Gott was für einen Gewaltigen vorgestellt, einen Aufrührer und Verführer des Volkes, dem die Rede in Flammenströmen aus dem Munde fuhr, und nun kam ein Gesetzbuch bürgerlicher Rechte herein: brav, still und ehrlich, ein rechter: Gib mir das, so hast du das . . . Vor allem aber hatte er jenes ruhige Zentrum der Welt mitten in sich, welches den rechten Mann nicht einmal mit neun Maß Wein schwanken läßt - nicht einmal im Verliebtsein, nicht einmal im politischen Kampf gewaltiger Zeiten. Es ist wahr, er stand wie das Symbol der Sicherheit vor ihr, auf beiden gespreizten Beinen zugleich. Alte Gewohnheit der Schweizer, vererbt durch vieles Raufen.» Dort, wo die Begegnung mit dem fremden Volkstypus eine hohe Form annimmt, wird sie zu einem geistigen Akt, in dem der deutsche Dichter nicht bloß, sein Bild vom Menschen erweiternd, das fremde Wesen erschließt, sondern auch durch dessen Charakterkräfte das eigene Wesen durchdringen läßt. Wenn er nun in Bild und Formel solche Art nachgestaltet, so gibt neben der spontanen Freude am gesunden Schlag ein zweiter Umstand oft den entscheidenden Anstoß: im fremden Nationalcharakter liegen Werte, die das eigene Volk verlor oder vertat. Wie die enttäuschte Liebe zum eigenen Volk manchen Deutschen etwa für englisches oder italienisches Wesen empfänglicher machte (man denke an Viktor Hehns Italienerlebnis 1), so auch für das schweizerische. Im acht79
zehnten Jahrhundert war gelegentlich der naturhafte helvetische Menschenschlag gegen die Unnatur des Rokokomenschen ausgespielt worden; im späteren neunzehnten Jahrhundert und nachher preisen ein Vischer, ein Wilhelm Schäfer, eine Ricarda Huch und andere die Schweiz als ein Reservat alter «deutscher» Charakterwerte gegenüber den seelischen Verheerungen der wilhelminischen Zivilisation im Reich. Herausfordernder als andere hat Nietzsche (nicht zufällig dem «Herz-Erfreuer», dem «hochverehrten Mann, Menschen und Dichter» Keller zugetan!) das Bild des verhaltenen schweizerischen Menschen gegen wilhelminische Veräußerlichung gesetzt: «Kühnheit nach innen und Bescheidung nach außen, nach allem ,Außen' - eine deutsche Vereinigung von Tugenden, wie man ehemals glaubte habe ich bisher am schönsten bei schweizerischen Künstlern und Gelehrten gefunden: in der Schweiz, wo mir bis jetzt überhaupt alle deutschen Eigenschaften bei weitem reichlicher, weil bei weitem geschützter, aufzuwachsen scheinen als im Deutschland der Gegenwart» (Nachlaßnotizen aus der Zeit der Fröhlichen Wissenschaft, 1881/82). Die Mängel des schweizerischen Volkscharakters Die Realisten waren keine Schönfärber. Die Kenner der Schweiz unter ihnen hielten mit Warnungen vor den Gefahren des schweizerischen Wesens nicht zurück; auch die Dokumente ihrer Besorgnis besitzen geistigen Rang. Ausgesprochene Verkümmerungsformen der nationalen Qualitäten wurden sichtbar, und gerade hier boten sich Stellen, wo die von den Realisten am heftigsten bekämpften Übel der Zeit selbst in das scheinbar unversehrbare Reservat einer gesunden Humanität im Herzen Europas eindringen konnten. Die Anklage gilt vor allem der Degeneration des realistischen Wirklichkeitssinnes. Mit liebenswürdiger Skurrilität predigt Vischer einmal in der Pfahldorfgeschichte: « Gute, brave Stein-, Bein-, Horn- und Holzgemüterl Wackere Seeseelen 1 Nehmt mir nicht übel, Ihr solltet ein bißchen weniger steinern, beinern, holzig und hornig sein!» Das ist die Verkümmerung des Menschen, bei dem die Quellen der inneren Überschüsse versiegten. Er ist nach den Realisten für das Schlimmste, den materialistischen Geld- und Machtgeist, verhängnisvoll anfällig. Die schweizerischen Städte sehen sie schon vor 1870 vom Gründerfieber ergriffen. So sehr mißtrauen sie dem modernen Aufstieg der Technik und Wirtschaft, daß Vischer in Auch Einer sogar seine Abneigung gegen die Gotthardbahn bekundet. Den Fremdenverkehr sieht man als eine ungeheure Gefahr für das Bergvolk. Vischer schaudert vor den französisch und englisch dienernden Appenzeller Sennen, und Schweichel zeigt im Weißen Kreits^ in Ormont (1893), wie ein Wirt im 80
kleinen Dorf ein großes Hotel bauen will nach den verlockenden Mustern am Genfersee und dabei scheitert. Nach Johannes Scherr22 sind die Schweizer um 1860 ein Volk skrupelloser Yankees: «Die Königin Industrie, welche ja unsere republikanischen Einrichtungen mehr und mehr illusorisch macht, lebt neuestens auch bei uns in flottester wilder Ehe mit dem König Schwindel . . . Es sieht ganz so aus, als ob auch hierzulande Fortunemachen das höchste, ja das einzige Gesetz werden sollte» {Michel, 1858). Anklagend deuten einige auf die Folgen dieser einreißenden materialistischen Gesinnung: das Proletariat lebt erbärmlich, es gibt in dem gepriesenen Lande der Freiheit soziale Not. Hermine Villinger stellt sie bis in die Bergdörfer hinauf fest {Sommerfrischen, 1887). Scherrs Roman Michel malt Elendsbilder aus Zürcher Fabrikbetrieben um 1860. Eine zweite Gefährdung sehen die Realisten, die fast ausnahmslos im Gefolge des Liberalismus stehen, in der Abstumpfung des Volksgemüts durch die aufklärungsfeindliche christliche Orthodoxie. Mit dem Druiden Angus in Vischers Pfahldorfnovelle, der seine Schutzbefohlenen nicht um Haaresbreite über den altmodischen Katechismus hinaus denken lassen will, ist der Zürcher Pfarrer Heinrich Lange, der Gegner Gottfried Kellers, gemeint. Die Leitmotive der deutschen Kritik am schweizerischen Wesen bleiben sich, wie die folgenden Beispiele zeigen, durch die neueren Jahrzehnte einigermaßen gleich. Vor dem Blick des deutschen Kritikers zeigen die Wirklichkeitstreue, die verhaltene Innerlichkeit und das Verbundensein mit Heimat und Volk eine starke Neigung zum Entarten; sie sinken zum beschränkten utilitaristischen Denken, zur Gemütsenge und zur patriotischen Selbstgerechtigkeit herab, als ob es oft an einer inneren Kraft fehlte, die den an sich reich angelegten Typus davor bewahrte, klein zu werden. Die sachliche Einstellung erscheint häufig verkümmert als engstirniger Utilitarismus. Paul Ernst, bestrebt, in neuklassischem Sinn die Erscheinungen nach ihrem Gehalt an fragloser Größe zu richten, stellt einmal satirisch Kleines vor Größtes, um den verachteten Schweizer Nützlichkeitssinn, den zu höherer Betrachtung unfähigen, zu treffen. In der Novelle Die Scheinehe (in: Liebesgeschichten, 1930) weist ein Schweizer Hotelangestellter folgendermaßen mit Stolz sein Lichtbild vor: «Das stellte ihn selber dar, wie er in Frack und weißer Weste, die Linke in die Hüfte gestemmt und in der Rechten den Zylinder, vor der großen Pyramide stand; er war eine Saison lang in Kairo in Stellung gewesen und hatte einen Ausflug nach den Pyramiden gemacht, weil der Oberkellner ihm gesagt hatte, die müsse man gesehen haben, wenn man in Kairo ge81
wesen sei; und es war auch wirklich ein großartiger Anblick gewesen, wenn man bedachte, was für Unsummen in diesen nutzlosen Gebäuden steckten, die jetzt freilich den Fremdenverkehr anzogen und insofern sich heute ja wohl verzinsen mochten.» Wo am realistischen Schweizer gerügt wird, daß er nicht bloß den Nutzen, sondern auch den materiellen Vorteil über alles setze, da erreicht die Kritik Höhepunkt und Hauptmotiv - wir haben der Beispiele genug angeführt. Die Verhaltenheit des Schweizers aber ist nach der Meinung mahnender Beobachter mit der Preisgabe der mächtigen, unbedingten Leidenschaft erkauft. «Die durchgängige Ordnung, Gepflegtheit und Wohlhabenheit, die dem Auge des in der Schweiz Reisenden sich aufdrängt, hat etwas Erfreuendes und Beruhigendes, manchmal aber auch etwas, was das Gemüt des Unglücklichen oder auch das Gemüt des Jugendlichen, Tatenfrohen erbost. Hier scheint alle Leidenschaft, die lebenschaffende wie die zerstörende, zugunsten eines vernünftigen Lebensgenusses unterdrückt zu sein, der maßvoll betrieben wird, um desto länger gekostet werden zu können.» So warnt Ricarda Huch in ihrem Bakunin-Buch (1923). Man spürte im Schweizer etwas wie ein Phlegma der Seele, eine Angst vor dem Aufgehen im irrationalen Wagnis und sah in seiner Ausgewogenheit, die vermeintlich immer bloß das Mögliche, nicht aber mit uneingeschränktem Einsatz das unmöglich Scheinende will, eine Gefahr für seinen Charakter. Nur vor einigen wenigen Großen, etwa vom Format eines Gotthelf, schwieg diese Art Kritik. Schließlich wurde dem Schweizer, paradoxerweise meist von nationalistischen Autoren, öfters nachgesagt, seine Heimatliebe verzerre sich zum nationalen Dünkel. Der Biertischstratege, der Philister, den die Distanz zu den Ereignissen der großen Politik nicht frei und überlegen, sondern eng und eingebildet macht, steht da und dort an deutschen Prangern. Während solche Kritik oft aus Enttäuschung und Verärgerung, oft auch aus dem trüben Quell der Selbstüberhebung stammt, ist sie bei Vischer, Schweichel und andern Realisten (auch bei Ricarda Huch) von hoher Herkunft: ein Freundesdienst, aus dem Willen, einen innerlich Nahen vor dem Herabsinken unter die eigenen schönen Möglichkeiten zu bewahren. Nicht zuletzt ist sie im Kern auch politische Warnung, denn hier war man eingeweiht in das Geheimnis der Demokratie: daß Charakterkraft des Volkes als den Staat tragende Grundkraft unmittelbar politisch wirksam wurde, während umgekehrt das Staatswesen charakterformend auf den einzelnen Staatsbürger zurückwirkte. Das Verständnis für diesen Urvorgang der Demokratie ist die positive Gegenerscheinung 82
zu jener Blindheit, die gewisse wilhelminische Nationalisten angesichts des unautoritären Organismus der Schweiz befiel. Nicht zufällig war es einer aus dem Geschlecht der Realisten, der eine der besten Formeln für das Geheimnis des Realistenstaates fand:« Ein Teil des Alemannenstammes hat sich von der Nation getrennt und mit Bruchstücken von zwei andern Völkern nach heldenmäßigen Kämpfen eine Republik gegründet, deren sicherster Grundpfeiler ein tüchtiger Sinn der Wirklichkeit und des Wirkenden, eine unbeirrte Nüchternheit ist, konservativ im rechten Sinne des Wortes. Eine solche Republik kann bestehen, denn sie zerstört die Freiheit nicht durch den Wahnsinn, der die Republikversuche in unsern alten Kulturstaaten zugrunde richtet, und sie besitzt die Heilmittel, Siege und zeitweise Herrschaft der extremen Parteien im einzelnen Kanton zu überwinden, Torheiten zu überleben» (Vischer: Mein Lebens gang, in Altes und Neues, 3, 1882). Theodor Fontane und Luise von Franfois Es gibt in dem weiten Bereich des Realismus ein Gebiet, wo sich seine Haltung aristokratisch verfeinert. Die Schweiz rückt hier an den Rand des Interesses zurück, und die Wahl der schweizerischen Themen zeigt deutliche Einschränkungen. Theodor Fontane ist ein Kronzeuge dafür. Im Herbst 1865 hatte ihn ein Aufenthalt in Interlaken erquickt - im «lieblichsten der Täler», wie er die Gegend in seinem Roman L'Adultera (1882) nennt. Im Spätsommer 1875 durchquerte er das Land von Basel über Neuhausen, Pfäfers und den Bernardino bis zur italienischen Grenze und hielt in Reisebriefen (veröffentlicht im Juli 1925 in der Neuen Rundschau) u. a. den Eindruck der Via Mala fest: «Beständig drängte sich mir die Erinnerung an das Böcklinsche Bild auf; alles war da, nur der Ichthyosaurus guckte nicht aus seinem Felsenfenster heraus. Und dennoch fehlte auch er nicht; denn der Ichthyosaurus, den der Künstler so genial erfunden hat, ist allerdings der Genius loci dieses Ortes, nichts als die Verkörperung des Schreckhaften, des elementar Unheimlichen, das aus Fabelzeiten hier seine Stätte hat.» Die «Adultera», in der sich Grazie, Esprit, Liebenswürdigkeit, «alle Vorzüge französischen Wesens», vereinen, erhebt der Dichter zur Tochter eines welschschweizerischen Aristokraten. Es liegt ihm denkbar fern, ihre nationale Herkunft zu betonen; daß sie aus genferischem Adel stammt, läßt aber eine reizvolle Steigerung zu. In ihr lebt nämlich ein echt Fontanescher, sensibler säkularisierter Calvinismus. Mit natürlicher Folgerichtigkeit, beinahe wie aus Prädestination, muß ihre erste Ehe mit einem reichen Berliner Kaufmann, die nicht aus innerem Zwang ge-
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schlössen worden war, zerbrechen im Augenblick, wo einem andern Manne gegenüber das echte, starke Gefühl mit innerster Notwendigkeit erwacht. «Aber einem jeden ist das Gesetz ins Herz geschrieben, und danach fühl' ich, ich muß fort», so lautet ihre Schicksalsformel für die ganz in die menschliche Persönlichkeit hineinverlegte Vorbestimmung. Auch Luise von François ist eine Aristokratin des Poetischen Realismus, geformt durch ein pflichttreues, altpreußisches, aber liberales Ethos. Auf mehreren Schweizer Reisen hat sie die wichtigeren der von Fremden besuchten Gegenden kennengelernt und dabei Land und Leute liebgewonnen. Einen leichten Widerschein davon entdeckt man in der Novelle Zu Füßen des Monarchen (1881), starke Reflexe dagegen leuchten aus ihren Briefen an C. F. Meyer. Es ist bezeichnend, daß sie ein tiefes Einverständnis mit dem Zürcher Patrizier spürt. Als er den Briefwechsel mit ihr am Ostertag 1881 eröffnete, benannte er das Verbindende schon vorweg als «die Freude an der eigentümlichen Mischung von konservativen Überlieferungen und freien Standpunkten»; für sie aber war er nach ihrem Neujahrsbrief von 1888 der verehrte «einzig noch lebende deutsche Dichter». Ebenso bezeichnend ist, daß Keller bei diesen eher volksfernen, herben Dichtern die Stelle im Zenit einbüßte, die er bei den meisten Realisten eingenommen hatte. Ihr kam er krähwinkelig vor, und Fontanes strenges Stilgefühl lehnte den schrulligen Mann ab, der in seinen Werken und besonders in den stillos unheiligen Legenden «die ganze Gotteswelt erbarmungslos seinem Keller-Ton überliefert»23. Der Münchner Dichterkreis In München hatte sich um Emanuel Geibel, Paul Heyse und Adolf Friedrich v. Schack seit 1852 eine kleine deutsche Plejade gebildet, deren Hauptanliegen es war, die Linie der klassischen, Adel des Geistes und Adel der Form vereinenden Kunst aller großen Zeiten in die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hinein fortzusetzen. Sie bildete eine Provinz jener schöngeistigen Republik, die der für Literatur und Wissenschaft als die höchsten Zierden seines Landes leidenschaftlich eingenommene Bayernkönig Maximilian II. unter einer Reihe von Dichtern und Gelehrten begründet hatte. Die meisten Mitglieder des Kreises haben sich indessen nicht ganz den Wirkungen des heraufkommenden realistischen Geistes entziehen können. Sie zeigen sich auf weltanschaulichem Gebiet deutlicher als auf dem rein dichterischen. Adolf Wilbrandt, Schack, auch Heyse haben sich durchaus von dem christlichen Weltbild, das noch in Geibels 84
religiöser Dichtung sehr verwässert vorkommt, gelöst und in einem hohen Maß moderne skeptische Ideen aufgenommen. Was nicht hindert, daß sie in politischen und sozialen Dingen auf dem Boden des Königsstaates standen und daß ihnen, die zwischen nachromantischer Epigonendichtung und Poetischem Realismus den Bogen schlagen, in der Dichtung jede engere Annäherung an die alltägliche Wirklichkeit schon als ein Abfall vom Wesen der Kunst vorkam. Ihrer musischen Lebensstimmung entsprechend durfte Wirklichkeit nur dort ohne Umwandlung wiedergegeben werden, wo sie an sich schon schönheitsgesättigt war. Solcher Wirklichkeit bot sich ihnen die Fülle, wenn sie den Blick auf die Schweiz richteten. Zum erstenmal in der Geschichte der deutsch-schweizerischen Begegnungen wird sie hier unter einen fast ausschließlich ästhetischen Aspekt genommen. Ihre Landschaft, das Schaffen gewisser großer Zeitgenossen, zum Teil auch ihr geschichtliches Erbe erweisen sich dabei als die wirksamsten Kräftespender. Mit dieser Auslese mutet uns diese Schar an wie eine kleine Vorhut der neuidealistischen Dichtung, an deren schöpferische Weite und Tiefe sie allerdings nicht heranreicht. Kein Zweifel, daß die Münchner sich dem ihnen Verwandten um so williger erschlossen, je energischer im späteren neunzehnten Jahrhundert die Grenzen ihres Reiches der reinen Schönheit von den rauhen naturalistischen Wortführern der Tagesnöte bedrängt und eingedrückt wurden. Während Geibel nur mit Jacob Burckhardt durch einen kleinen Briefwechsel verbunden war, wirken die Beziehungen des weltmännischen Paul Heyse zur Schweiz wie ein Paradigma dessen, was hier für einen «Münchner» bedeutsam war. Wo immer ein großer Schweizer Zeitgenosse als Künstler den Schatz des Schönen auf Erden mehrte oder als Gelehrter solchen Hort erschloß, da finden wir Heyse als Mitgenießenden an seiner Seite, vor allem dort, wo der geistige Bund im Zeichen der Begeisterung für das schöne Italien stand: im Falle Burckhardts und Böcklins. Der Gelehrte hatte den Dichter schon bei der ersten Begegnung in Franz Kuglers Heim in Berlin bezaubert. Dreißig Jahre später traf er ihn zum letztenmal in München. Wie so mancher deutsche Italienfahrer, dem sich mit dem Bilde Italiens auch das erlesene Künstlertum seines Cicerone Burckhardt einprägte, hat auch Heyse sich als kunsthistorischen Schüler des Baslers bekannt. Das Italienische Liederbuch (1860) widmete er ihm zum Dank - in Widmungen sprach sich stilgerecht in erster Linie die Burckhardt-Bewunderung mancher Münchner aus. Was ihm Böcklin als Hüter der Geheimnisse zeitloser Kunst bedeutete, hält der Achte Reisebrief (1877) fest, eine Erinnerung an naturselige
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Römer tage von 1852. Die äußere Voraussetzung für den Böcklin-Kult der Münchner bot die Galerie des Grafen Schack - mit sechzehn Gemälden des Meisters die größte private Böcklin-Sammlung (vgl. Meine Gemäldesammlung., 18895). Noch eindringlicher als Heyse hat Wilbrandt festgehalten, wie sehr der Maler durch seine Persönlichkeit und sein Werk auf den schöngeistigen Kreis an der Isar wirkte. Den Petrarca, die Villa am Meer läßt er durch den Künstler in dem Roman Hermann Ifinger (1892) vor den Augen des Lesers aus der inneren Schau auf der Leinwand entstehen, und im genießerischen Nachgestalten verliert sich der Dichter verzückt wie alle seinesgleichen in der schönen Traumwirklichkeit dieser Werke. - Während der Maler von sich aus der Beziehung zu Heyse 1878 ein Ende setzte, dauerte der briefliche und persönliche Verkehr Heyses mit Gottfried Keller fast bis zu dessen Tode fort. Ein nach Festlichkeit verlangendes Weltgefühl drängte auch hier, ganz nach klassischen Vorbildern, zur dichterischen Huldigung: einige glückliche Wendungen des Sonetts auf den «Shakespeare der Novelle» leben in der Tradition der deutschen Keller-Begeisterung weiter. Wesentlich war, daß Heyse, stets um die Aussaat künstlerischen Gutes bemüht, in den weitverbreiteten Deutschen Novellenschat^ und dessen Fortsetzung einzelne Meisternovellen Kellers, Gotthelfs, Meyers, auch Jakob Freys und J . V. Widmanns aufnahm und ihnen mit feinsinnigen Einleitungen (zumeist aus seiner Feder) die Wege zu deutschen Lesern ebnen half. Die übrigen Münchner hätten unter diesen fünfen Conrad Ferdinand Meyer an die Spitze gestellt, denn bei ihm fanden sie sich restlos wie bei Böcklin in einem urheimatlichen Reich zeitloser Schönheit und Größe, und überdies erschien er als ein Meister der von ihnen so sorgfältig gepflegten edlen Form. So erzählt Amalie Evers von Geibel: «Als er C. F. Meyers Roman Der Heilige gelesen, sagte er, er sei stolz darauf, daß dieses Meisterstück geschaffen worden, und noch im letzten Herbst (seines Lebens) äußerte er, daß er sich kein Gedicht dieses Dichters... entgehen lasse» (zit. in A. Bettelheim: Luise von François und C. F. Meyer. Ein Briejwechsel, 1905). Die Begegnung Heyses mit der Schweiz war in erster Linie eine Begegnung mit Malern und Dichtern, und dasselbe gilt für die andern Münchner. Wie bedeutsam die Anregungen waren, die zum Dichterkreis an der Isar hinübergingen, zeigt u. a. die Tatsache, daß Keller den Maximilianorden erhielt und Burckhardt dafür in Aussicht genommen war. Nächstdem ist die Schweiz die Stätte eines zweiten Schönheitserlebnisses : der Natur. Außer Geibel haben sie alle das Land auf Reisen er86
lebt. Vom vorwiegend stofflichen Interesse der frühwilhelminischen Schriftsteller ist man weit entfernt. Wohl aber gab man sich dem Zauber der Landschaftsstimmungen hin, und ein Virtuose wie Heyse wußte sie mit feinstem Bedacht als Kompositionselement, zusammenklingend mit der seelischen Verfassung seiner Gestalten, in die Verstrebungen einer Handlung einzufügen (so in der in Klosters spielenden Novelle Auj Tod und Leben, 1885). Schließlich zeugt sein Werk auch von der Geschichte als dem dritten Bereich, dem einige Münchner ihre Aufmerksamkeit zuwandten. Der Verlorene Sohn (1869), ein Meisterwerk deutscher Novellentechnik, wirkt durch das Erlesene einiger patrizischer Gestalten und den Zauber geschichtlichen Lebens; beides bot das Bern der Jahre um 1650. Lebhafter wandte sich Adolf Wilbrandt den Archiven der schweizerischen Vergangenheit zu. Er ist unter den an sich schon sehr belesenen Münchnern der belesenste und aufgeschlossenste; dieselbe Unrast, die ihn in allen Philosophien von Plato bis Darwin nach Werten suchen ließ, die in sein synkretistisches Geistesuniversum aufgenommen werden konnten, führte ihn auch zur schweizerischen Geschichte. Er stieß auf Uli Bräkers Leben und Abenteuer des Armen Mannes im Tokkenburg und gab das Werk 1906 neu heraus, und im Drama Die Eidgenossen (1896) ist der überhebliche Karl der Kühne dazu bestimmt, den Wilhelminismus vor seiner eigenen Großmannssucht zu warnen, während die alten Schweizer ähnliche Charakterkräfte wachrufen sollen wie der philosophische Landmann im Toggenburg: . . . «im Schweizerland Sah ich beisammen, was mein Herz begehrt: Die Kraft, die Freiheit, fromme Biederkeit, Urfrische Lust des Lebens « . . . Aufschlußreich ist auch eine Untersuchung von Schacks Naturphilosophie in ihrer Anwendung auf die schweizerische Landschaft. Die Steigerung des gesamten Lebensgefühls durch das Schweizer Gebirgserlebnis hat der Vielgereiste öfters dargestellt. Genauer sucht er es im dritten Band seiner Erinnerungen (Ein halbes Jahrhundert, 1888) zu fassen. Der Blick des Alpenwanderers senkt sich in die Jahrmillionen der Erdgeschichte; die Berge ringsum werden zu «steinernen Tafeln, auf die der Weltgeist seine Offenbarung geschrieben, die Entstehung der Erde und ihren Fortgang durch alle Perioden ihrer Umwandlung, Zerstörung und Weiterentwicklung». So wie Darwin und Haeckel, auf transzendente Deutungen verzichtend, es lehrten, so setzt der naturwissenschaftliche Seher nun die unablässig aufsteigende Reihe der Lebewesen in die Uner-
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meßlichkeit dieser Erdvergangenheit ein. Aber jener «Weltgeist» sowie das Bild der Erdzukunft mit dem zu einem reinen Geistwesen sich emporentwickelnden Menschen stammen aus anderer, aus spiritualistischer Überlieferung. So zeigt Schacks Alpenvision genau so wie Wilbrandts Philosophie, wie sich im Strom des spätidealistischen Lebensgefühls der Münchner da und dort Gegendriften «realistischen» Geistes bilden. . Die Grenzen des Versuchs der Dichter an der Isar, mitten in der werdenden modernen Großstadtzivilisation eine etwas substanzarme Schönheitswelt zu errichten und sich mit nichts, was außerhalb lag, um seiner selbst willen zu beschäftigen, kommen deutlich einer Erscheinung wie Gotthelf gegenüber zum Vorschein. In einem nicht signierten, aber offenbar von Heyse stammenden Vorwort zu Gotthelfs Notar in der Falle (Deutscher NovellenschatBd. 7) wird zwar die dichterische Urkraft bewundert, zugleich aber beklagt, daß sie zu wenig ästhetisch durchgebildet sei und vor allem ein empfindliches Stilgefühl durch schroffe tendenziöse Ausfälle verletze: «Die Fülle von Poesie, die er in seinen Schilderungen des Volkslebens entwickelt, ist meist nur wie eine unwillkürlich nebenher laufende Temperamentseigenschaft, die ihn nicht verhindert, Züge von gewaltiger Schönheit mit ebenso unästhetischen, ja ganz unleidlichen Auswüchsen zu mischen.» Und wo Größe so eigenmächtig wird wie in Spittelers mythischen Phantasiegestalten, da ist sie ebenfalls, wie Heyses Äußerungen Keller gegenüber zeigen, unvereinbar mit dem Münchner Geschmack.
IV. D E R Z W E I T E
HÖHEPUNKT:
DIE NEUIDEALISTISCHEN
BEWEGUNGEN
UND D I E SCHWEIZ Impressionistischer Übergang In den frühen neunziger Jahren zeigen sich da und dort in der Literatur deutscher Zunge Anzeichen einer neuen Geistesart. Man erkennt sie an dem leidenschaftlichen Bemühen um eine äußerste Verfeinerung der Sinne und der seelischen Fühlfähigkeit; die äußere Welt wahrnehmen und die innere Welt erspüren wurde hier zu einem subtilen schöpferischen Akt - seine Spuren sind die wachsenden sinnenhaften und seelischen Feingehalte der Dichtung um die Jahrhundertwende. Diese Verfeinerer des Ich sind mit Nietzsche, Mach und manchen philosophischen Phänomenologen, mit den Malern aus der Schule von Barbizon, mit Jacobsen, Tschechow, Maeterlinck, Katherine Mansfield, Eleonora 88
Duse u. a. Zugehörige einer Gemeinschaft sensibelster Geister, die das Gesicht der europäischen Kultur um 1900 wesentlich mitbestimmten. Sie führten jenen emanzipatorischen, Herkömmliches auflösenden Prozeß, dessen Stationen u. a. Naturalismus, Anarchismus und Bohemetum heißen, in anderer Richtung weiter. Viele wurden davon berührt; manche (etwa ein Rilke, ein Hofmannsthal, ein Morgenstern) gingen von hier aus Wege, welche in die Höhe und Weite der neuidealistischen Dichtung führten. So weit wurde oft die Verfeinerung getrieben, daß auch die Substanz der Persönlichkeit sich auflockerte und auflöste und alle Formeln einer gefestigten geistigen Orientierung, ob bürgerlich oder unbürgerlich, als zweifelhafte Selbsttäuschungsversuche preisgegeben wurden. Manch einer glitt hinaus in die äußerste weltschmerzlerische Verlorenheit, in eine an seelischen und sinnenhaften Erlebniswerten unendlich reiche, qualvolle, schwebende Orientierungslosigkeit hinein. Der junge Hofmannsthal, hingegeben an die ewige,fließendeVariabilität des Seins, wie sie neben andern Georg Simmel damals verkündete, hat das impressionistische Weltgefühl in seiner Tiefe erfahren: «Das Wesen unserer Epoche ist Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit. Sie kann nur auf Gleitendem ausruhen und ist sich bewußt, daß es Gleitendes ist, wo andere Generationen an das Feste glauben.» Der junge Hofmannsthal war es auch, der in dem Genfer Philosophen H.-F. Amiel eine hohe Inkarnation des impressionistischen Menschen erblickte und in ihm, der sich schwerelos und sensibel verteilen konnte in fremde Kulturseelen hinein, das «antwortende Gegenbild» schlechthin fand. Während der Genfer in Deutschland über einen kleinen Kreis von Romanisten hinaus wenig bekannt wurde, errichtete ihm der Wiener Dichter in seiner schimmernden, kunstseligen, lässig-gelösten Impressionistenstadt, wo ähnlich wie in Genf mannigfache Kulturen durcheinanderspielten, mit dem Aufsatz Das Tagebuch eines Willenskranken (1891) ein erstaunliches Denkmal: «Er läßt sich beherrschen, ist Saitenspiel und empfindliche Platte; aber er hat die zweite Poetengabe, die Proteusgabe: aus dem erhaschten Duft wird ihm Pflanze und Wald, der Landschaft lauscht er ihre zarteste Stimmung ab und empfindet sich hinein in die Seele der Dinge . . . Der halben, heimlichen Gefühle, der kaum bewußten, ist sein Buch suggestivste Fundgrube.» Und dieses berühmte Tagebuch schreibt er in der für Hofmannsthal ebenso innerlich nahen, recht unbestimmt gesehenen impressionistischen «Stadt des Übergangs, wo sich die Alpen zur Ebene niedersenken, deutsches und wälsches Wesen ineinander überfließt, zu Genf, der halb calvinischen, halb katholischen Stadt, deren politische Vergangenheit ein geschicktes Balancieren zwi89
sehen übermächtigen Nachbarn und feindlichen Kulturströmungen war. Er ist herangewachsen in diesem Milieu der abgetönten halben Farben, der Montblanc bläulich verschwimmend im Hintergrund, im Westen Frankreich, die fröhliche Klarheit des Beschränkten, im Osten Deutschland, wogend und dämmernd, rätselhaft anziehend wie die Unendlichkeit.» Tiefer als alles andere hat die schweizerische Landschaft den impressionistischen Gast angesprochen. Er hat ihre Farbenklänge, Lichtstimmungen und andern Sinnenwunder schönheitsselig neu erschlossen. Auf die weltfreudige Malernatur in Hermann Hesse hat impressionistische Kunst des Wahrnehmens tief eingewirkt, wie u. a. das zarte Kolorit seiner Tessiner Landschaften und Volksszenen im Bilderbuch (1926) zeigt: «Uns [die Maler, die den im Waldgrotto tanzenden Mädchen zuschauen] entzückt und begeistert, was jene dort nicht achten: ein Blattschatten auf dem Stein, ein verschossenes Blau auf einer Bluse, der kleine ernste Knick im Knie der Siebenjährigen...» Schon in der Titelnovelle von Carl Hauptmanns Sonnenwanderern (1897) überrascht das feine Gehör, dem die Melodie des Bergbaches, der im Hochtal schäumend brodelt und rauschend tost, dann stiller wird und im breiteren Talgrund fast ganz verstummt, ein beglückendes Erlebnis ist. Reiner als in diesem Werk - einem Niederschlag der Zürcher Jahre (1885-1888), an deren Ende die Wendung von der Wissenschaft zur Dichtung und zu impressionistischen Erlebnisweisen erfolgte — sind die Stimmungen in der Skizze Rätsel um Rebekka Fumjahr (Weiße Blätter, I, 1913-1914), welche auf einem genferischen Landsitz die diesen Dichtern so teure Poesie der heimlichen Durchblicke in stille herrschaftliche Gärten mit verwunschen umherwandelnden blassen, erlesenen Frauen einfängt. Die große Schneesturmszene in Thomas Manns Zauberberg (1924) mit dem Auftakt in der tiefen, leise durchschneiten Urstille und dem winterlichen Bergpastorale der am Schluß befreiend sich aufhellenden Landschaft webt den ganzen Zauber impressionistischer Stimmungsmalerei um die große innere Wende des Hans Castorp - ein Meisterstück einer schon beinahe als musikalisch zu bezeichnenden dichterischen Kompositionskunst, die bald mit gegenläufigen, bald mit gleichlaufenden Naturstimmungen das seelische Geschehen, den«Gralstraum» Castorps (nachThomas Mann) untermalt. «Da war wohl zu seiner einen Seite ein Tannenabsturz hinab in Schneedunst und andrerseits ein Felsenaufstieg mit ungeheueren, zyklopischen, gewölbten und gebuckelten, Höhlen und Kappen bildenden Schneemassen. Die Stille, wenn er regungslos stehenblieb, um sich selbst nicht zu hören, war unbedingt und vollkommen, eine wattierte Lautlosigkeit, unbekannt, nie vernommen, sonst nirgends vor90
kommend. Da war kein Windhauch, der die Bäume auch nur aufs leiseste gerührt hätte, kein Rauschen, nicht eine Vogelstimme. Es war das Urschweigen, das Hans Castorp belauschte, wenn er so stand, auf seinen Stock gestützt, den Kopf zur Schulter geneigt, mit offenem Munde; und still und unablässig schneite es weiter darin, ruhig hinsinkend, ohne einen L a u t . . . Manchmal stieß er das obere Ende seines Skistockes in den Schnee und sah zu, wie blaues Licht aus der Tiefe des Loches dem Stabe nachstürzte, wenn er ihn herauszog. Das machte ihm Spaß; er konnte lange stehen bleiben, um die kleine optische Erscheinung wieder und wieder zu erproben. Es war so ein eigentümliches zartes Berg- und Tiefenlicht, grünlich-blau, eisklar und doch schattig, geheimnisvoll anziehend . . . » Die Impressionisten fürchten alles Starre, Gefestigte; sie lösen gern die Konturen der Dinge und der Gefühle auf, bei aller Präzision in den Nuancen, «leise» ist ein Lieblingswort, und Seelandschaften mit dem Spiel ihrer tausendfältigen Lichter und Farben und Spiegelungen haben es ihnen besonders- angetan. So ist der Genfersee samt der Stadt Genf eine Zeitlang zu einer bevorzugten Stätte des literarischen Impressionismus geworden. Max Dauthendey lebte im Frühjahr und Sommer 1889 als Typograph in der Rhonestadt, schwere Konflikte zwischen Berufszwang und künstlerischem Schaffenstrieb durchkämpfend. Auf einigen Seiten des Romans Josa Gerth (1892) hat er sorgfältig notierte Impressionen jener Zeit farbig und funkelnd ausgebreitet. Deutlich ist die Freude an dem seine Entdecker überreich beschenkenden herbstlichen Genf zu spüren in den Schilderungen schimmernder Schieferdächer oder nasser, wie chinesischer Lack glänzender abendlicher Straßen, in denen goldene Lachen leuchten. Auch Rilke hat sogleich diese die feinste Empfindlichkeit der Sinne weckende und sie gewissermaßen zugleich vergeistigende Kraft der Genfer Lichtatmosphäre, die an die zarte pariserische Aura erinnert, erkannt: «Genève, da kommt, wie in Paris fast, alles als Schwingung über einen. Die Atmosphäre, auf den Wegen der Durchdringung, schwebt aus Bäumen und Hängen heran, - es gibt nur Eines, das tragende, schwingende Licht, durch es, durch das Spirituelle dieses Elements, erfährt man Nähe und Ferne, und selbst das Körperhaftbeharrliche wird dem schauenden Aug wie ein Flutendes, wie ein Ereignis, wie ein Einfall eingeflößt, nicht so aufgetragen, nicht so vorgesagt und eingedrängt zum Wissen und Auswendiglernen» (anFrau Nanny Wunderly-Volkart, 22. August 1920; zit. bei J . R. von Salis: Rainer Maria Rilkes Schwei^erjahre, 19523). Wie sehr diese Landschaft wie unter einem beglückenden Bann gleichsam durch Monets Augen gesehen wurde, läßt auch der Held von 91
Wilhelm Hegelers Roman Sonnige Tage (1898) erkennen. E r versucht sich in ihr als Maler - und Maler sind Wunschtraumfiguren der Impressionisten, denen das Wort arm erscheint vor der Überfülle der sinnenhaften Welt: «Nur dieses Sonnenflimmern wollte ich wiedergeben und dieses Ineinanderfließen, wie der Baum sich herunterbiegt, und die zerbrochenen Scherben hier, und wie der Mensch so ganz Naturstimmung i s t . . . »
Grundzüge des Neuidealismus In diesen reichen Jahren begannen sich die Gewichte in der deutschen Dichtung entscheidend zu verlagern. Während die Zeit vorher im Zeichen des Kampfes zwischen den die herkömmlichen Ordnungen in Frage stellenden oder auflockernden Freiheitsbewegungen und den Trägern des unablässig aufstrebenden wilhelminischen Staates und ihrem autoritären Moralsystem stand, erstarkte nun, ankämpfend gegen beide Mächte, eine dritte Grundkraft: der Wille zur Erneuung des Lebens und der Kunst aus den großen, zeitlos gültigen menschenbildenden Werten. Einige dieser Dichter, etwa Rilke, Ricarda Huch oder Stefan George, sollten später zu europäischem Ruhm aufsteigen; aus andern geistigen Herkünften näherten sich ihnen ein Gerhart Hauptmann, ein Christian Morgenstern, ein Hofmannsthal und andere. Ein Beobachter wie Samuel Lublinski kann 1904 (in: Bilanz der Moderne) feststellen, daß im vielfältigen Kräftespiel um 1900 bereits die Spannung zwischen emanzipatorischen Idealen und neukonservativen Ideen der jüngsten Gruppen das bestimmende literarische Merkmal der Epoche war. Ihre Zeitkritik schürfte tiefer als diejenige der meisten liberalen, sozialistischen, anarchistischen Warner; sie fragten leidenschaftlich nach den letzten Quellgründen eines innerlich reichen Daseins, nach den großen dauernden geistigen Heimaten des Menschen jenseits der Hinfälligkeiten des Tages und fanden in ihrer Zeit fast nichts als unzulängliche, bedrohte, verkümmerte seelische Substanz. «Ist es möglich, daß man trotz Erfindungen und Fortschritten, trotz Kultur, Religion und Weltweisheit an der Oberfläche des Lebens geblieben ist?»: so beschwörend stellt Rilke die entscheidende Frage an das Zeitalter in seinem Malte (1909), einem der bedeutsamsten warnenden und zugleich helfenden Bücher der Zeit in einer Epoche der beinahe rauschhaft vorwärtsdrängenden Technisierung, der Weltmarkteroberungen, aber auch der zwischen den Großmächten anhebenden Rüstungswettläufe, der Vermassung des Denkens und der ersten Anzeichen dafür, daß das Ende der europäischen Vormacht in der Welt nahte. 92
Der deutsche Nationalstaat hatte die höchsten Kulturaufgaben nicht gelöst: «Hier waren neben Trümmern und Resten der alten Nation Hunderttausende aus geschichtslosen und geschichtsfremden Volkstiefen frisch Aufgestiegener mit der rasenden Eile des wirtschaftlichen und handelnden Aufstieges gleichzeitig an den entscheidenden Nationalgütern zu beteiligen und dadurch in die Nation hinein überhaupt erst zu rezipieren», so sieht Rudolf Borchardt sie in der großartigen Rückschau seines Eranos-Briefes (1924), von den Nationalgütern keineswegs etwa das allgemeine zeitlose Kulturerbe ausschließend. Aber auch diejenigen, welche im Kampf gegen die Zeitübel in Philosophie, Gesellschaft und Wirtschaft standen, erschienen einem tiefer beunruhigten jüngeren Dichtergeschlecht als unzulängliche Befreier, ob sie sich um die Banner Herweghs, Haeckels, Bakunins, Nietzsches oder anderer scharten. So klar die gewaltigen Wirkungen des Gedankens der Menschenrechte in der Geschichte vor ihren Augen lagen, so unerläßlich ihnen Freiheit als eine Voraussetzung aller menschlichen Kultur erschien - die eigentliche Aufgabe, nämlich den äußerlich Befreiten auch die in einem höheren Sinne befreienden großen Inhalte der Existenz zu zeigen, sahen sie bei ihren freiheitskämpferischenZeitgenossen vernachlässigt und erkannten dies desto tiefer, als Bindung und Einordnung ihnen ein zum mindesten gleich hohes Anliegen war wie Freiheit. Mit dem blinden Ingrimm des leidenschaftlich in beinahe chiliastisch aufgefaßten Kämpfen Stehenden verwirft Borchardt sogar auch die Werte des modernen freiheitlichen Denkens: «Die Entwicklung, die ihm [dem Zeitgenossen von 1900] alle Trachten und Hüllen der Jahrtausende abgewickelt und endlich die lebendige Haut vom Leibe geschunden hatte, die ihn dem Reiche des Unsterblichen entzogen und als wollend nichtwollend hilfloses Wesen zum Objekt des Vorganges, der Umstände, der Strömungen, der wirtschaftlichen Kräfte gemacht, neben dem Vieh unter das Joch der Natur geschickt hatte, das Individuum aufgehoben, das Drama abgeplattet, die Zeiten nivelliert - hier schien sie am Ende.» Demgegenüber vollzog das neue Dichtergeschlecht eine große Wende zu den unprofanen Aufgaben der Kunst und des Lebens. Sie kannten keine dringlichere als die, die geistige und seelische Substanz des wieder wertsichtig gewordenen Menschen zu mehren mit werthaftem hohem Sein, lebendig gegenwärtig in großen Gestaltungen. Was in der Natur, was in Kunst und Leben aller Zeiten und Zonen bedeutsam war durch Schönheit, Tiefe und Größe, wurde als das, was die Existenz allein lebenswert macht, mit Inbrunst ergriffen. Während gleichlaufend in der Naturwissenschaft, noch von wenigen außerhalb bemerkt, durch Mach, Planck, Driesch, Einstein und andere die leicht eingängliche populäre 93
Vorstellung eines von kausalen Gesetzen regierten Welt- und Zellenmechanismus unterhöhlt wurde, während dort, wo die ältere Forschung als Kern der Welt die Materie gefunden hatte, nunmehr eine geheimnisvolle immaterielle Energie zutage trat, wurde auch die Dichtung zur «geistigen Kunst» vertieft. Wir fassen die Fülle der hierher gehörenden Erscheinungen unter dem Begriff «Neuidealismus» zusammen, auf eine allen trotz ihren individuellen Verschiedenheiten gemeinsame Grundhaltung hinweisend, die sie von andern literarischen Erscheinungen vor, neben und nach ihnen deutlich trennt. Die literarhistorische Terminologie schwankt - uns scheint «Neuidealismus», vorgeschlagen von Hofstätter und Peters in ihrem Sachrvörterbuch der Deutschkunde (1930) mehr Erscheinungen wesentlich zu erfassen als «Neuromantik» und «Neuklassik» oder «Symbolismus», welche die reichen Sachverhalte auf gewisse Sonderströmungen bzw. ästhetische Phänomene einengen. In den großen neuidealistischen Erneuerungsprozeß der deutschen Dichtung strömten auch von der Schweiz her bedeutende fördernde Energien ein. Das «antwortende Gegenbild» ist ein wesendich anderes als bei den literarischen Sprechern der Freiheitsbewegungen. Die Schweiz hatte in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts mit dem Schaffen Kellers, Meyers, Böcklins, Burckhardts und anderer eine Hochblüte ihrer Dichtung, Malerei und Wissenschaft erlebt; die neuidealistischen Dichter, glühend zur Rezeption großer Bildungsmächte bereit, zögerten nicht, diesen Reichtum in sich aufzunehmen und zu preisen, und auch der schöpferischen Geister aus früheren Jahrhunderten nicht zu vergessen. Jetzt erst wurde ferner innerhalb der neueren deutschen Literatur die schweizerische Landschaft in der ganzen Fülle ihrer Erlebnismöglichkeiten erschlossen. Diesen unermüdlichen Suchern nach dem Unvergänglichen im Vergangenen tat sich auch eine neue Dimension schweizerischer Geschichte auf. In den modernen Erneuerungen des Gefühls für das Irrationale und das Religiöse ist die Spur der Schweiz deutlich wahrzunehmen, und im Randbereich des Neuidealismus, bei den «volkhaften» Dichtern nach der Art Wilhelm Schäfers, war die Begegnung mit der unversehrten Volkssubstanz im Gastland ein beglückendes Ereignis. Von den empfangenen Durchkräftungen zeugen von Ricarda Huch bis Stefan George, von Josef Ponten bis Hugo von Hofmannsthal, von Isolde Kurz bis Wilhelm von Scholz eine stattliche Reihe von Aussagen und dichterischen Gestaltungen schweizerischer Themen. Manches davon gehört zum schönsten und dauerhaftesten Dankesgut deutscher Dichtergäste. Nach einigen Weggenossen Gottfried Kellers erweist hier erneut ein Dichtergeschlecht der letzten hundert Jahre, auf welcher Höhe die Fühlung des Ausländers mit den großen Werten des Gastlandes sich halten kann. 94
Die Stunde Böcklins Wer ermessen will, wie reich die Begegnung eines Dichters mit schweizerischem Geistesgut sein kann, muß Hofmannsthal beobachten. Seine Dichtung ist in einzigartigem Maße genährt aus dem lebendigen Erbe der abendländischen Kultur. Dem allen Stimmungen eines überfeinerten Impressionismus Hingegebenen war H.-F. Amiel wie sein eigenes gesteigertes Ich erschienen. Als er zur Zeit des Einakters Die Frau im Fenster dem Kult des Übermenschen huldigte, bedeutete ihm Jacob Burckhardts Kultur der Renaissance viel; als er aber, reifend, in dem Unvergänglichen der Geschichte seinen und seiner Dichtung wahren Wurzelgrund suchte, waren ihm Burckhardts Vorträge über die griechische Kulturgeschichte Helfer, und als er, schon ein Mystiker der historischen Schau, im vergangenen Geschehen immer mehr die Chiffren eines geheimnisvollen Weltenschöpfers erkannte, war er für Gotthelf bereit, hinter den der früher so gepriesene Gottfried Keller und vollends der unwillig verworfene Meyer24 zurücktraten. Bachofen erhellte ihm verborgene bildschöpferische Gründe der menschlichen Seele; ohne dessen Mutterrecht wäre Hofmannsthals Elektra weniger reich an archaischem Gut. So ließe sich über viele seiner Wachstumsstufen der Name eines Schweizers schreiben; an vielen Wendungen seines Weges hat er solch helfenden Genien ein Huldigungsmal errichtet, nicht zuletzt in seinem Deutschen Lesebuch. Das zusammenfassende Bekenntnis: «Einen so großen Raum meines Innern kann ich mit Schweizern bevölkern: ich erstaune» (über E . Korrodis Geisteserbe der Schweif in: Neue Zürcher Zeitung, z 5. Nov. 1928), ist wie im Namen aller dieser von Dichtung, Musik, Malerei, Wissenschaft so schöpferisch anregbaren Dichter gesprochen. Schon einmal war er ihr Sprecher gewesen einem Schweizer gegenüber, der zu den großen Erweckern des neuidealistischen Lebensgefühls gehörte: in München wurde 1901 ein offensichtlich stark von Arnold Böcklin inspiriertes dramatisches Spiel Hofmannsthals, Der Tod des Titian, aufgeführt als Totenfeier für den Maler (schon der achtzehnjährige Dichter hatte 1892 in einem Brief geschrieben, ihm scheine Böcklin «viel von dem zu haben, was ich zumindest suche»). Zum Auftakt erschien vor dem Standbild des Toten der «Fackelträger» und sprach Hofmannsthals Prolog: . . . «Und dieses Guten hab' ich sehr bedurft, Denn Finsternis ist viel in dieser Zeit, Und wie der Schwan, ein selig schwimmend Tier, Aus der Najade triefend weißen Händen 95
Sich seine Nahrung küßt, so bog ich mich In dunklen Stunden über seine Hände Um meiner Seele Nahrung: tiefen Traum.» In Böcklins Gemälden war die Welt makellos verwandelt und erhöht. Die jungen Neuidealisten mit ihren verfeinerten Sinnen berückte nicht bloß der Zauber seiner Farben; tiefer sprach der Er spürer der Landschaftsseele ihr Naturgefühl an. Aus Böcklins Meeresküsten und Waldgebirgen sprach eine rätselhafte Weltseele. Manche vernahmen noch mehr: das dunkle Raunen einer geheimnisvollen heidnischen Vorwelt, während Gemälde wie Odjsseus und Kalypso, in denen die menschliche Figur vorherrscht, Offenbarungen geheimster Seelen- und Schicksalsmächte schenkten. So tat sich durch die Schönheit dieser zeitlosen, traumhaften Bilderreigen hindurch die irrationale Dimension der Welt kund und stärkte und vertiefte bei den jungen Dichtern den Hang zum Irrationalen. Dazu kam bei einigen die Beglückung durch das vom Maler neu erschlossene schöne Italien. Vielleicht hat Stefan George in einem Epitaph auf den Maler in dessen Todesjahr am reinsten Böcklins Ruhmestitel zusammengefaßt: «Du riefst aus silberluft und schmalen wipfeln Aus zaubergrüner flut, aus blumigem anger Aus nächtiger schlucht die urgebornen schauer Und vors gesims der lorbeern und oliven Gelobtes land im duft der sagenferne . . . Daß heut wir leichten hauptes wandeln dürfen Nicht arm im dunkeln schluchzen war dein walten Du nur wehrtest daß uns (dank dir Wächter 1) In kalter zeit das heilige feuer losch.» (Der siebente Ring, 1907) Rilke preist in seinem Buch über Worpswede den Deuter der Landschaftsseele, und von Detlev von Liliencron und Carl Hautpmann (zu schweigen von den frühesten Böcklin-Freunden im Münchner Dichterkreis) über die führenden Kulturkritiker Julius und Heinrich Hart, M. G. Conrad und F. Avenarius bis zu Isolde Kurz und Ricarda Huch ist ihm, der einer der Täufer des Neuidealismus war, begeistert Dank bezeugt worden. Böcklin war dieser Jugend aber auch durch seine Ausdrucksmittel urverwandt. In einer dem erlesenen Gemälde wenig gewogenen Zeit setzte er das in sich selber seligschöne und das symbolistische Bild, aus dessen Zeichen die Welttiefe sprach, wieder in ihr angestammtes Recht ein. Der 96
junge deutsche Symbolismus hob die Grenzen zwischen Dichtung und solcher Malerei auf. Mit dem Pinsel dichtende Maler, wie Böcklin und Klinger, schöpften bildhafte Szenen aus der großen Poesie aller Zeiten, und mit Worten malende Dichter inspirierten sich an symbolhaften Gemälden. Die Wirkungen konnten nicht unmittelbarer sein: so wie Max Reger Böcklinsche Gemälde in Musik setzte, so haben um die Jahrhundertwende deutsche Dichter sie in zahllosen Versen schönheitsselig in Worte gefaßt (so Karl Henckell nach seiner Abwendung vom Naturalismus in einer 1897 im eigenen Verlag erschienenen Gedichtsammlung Arnold Böcklin gewidmet die Pietà, die Toteninsel, Vita ¡omnium breve u. a.), und indem sie es taten, fanden sie sich bestärkt in einer Gestaltungsweise, die der des feindlichen Naturalismus genau entgegengesetzt war. So wie Böcklin häufig aus der inneren Vorstellung schuf, nicht unmittelbar vor der Natur, so folgten auch sie dem urromantischen Gesetz: «Der Maler soll nicht nur malen, was er vor sich sieht, sondern auch was er in sich sieht» (Caspar David Friedrich). In diesem Sinne hat Ricarda Huch in Vita somnium breve in der Gestalt der Malerin Rose einen weiblichen Böcklin geschaffen. So tief ist des Malers Bildwelt mit der Bildphantasie und dem symbolistischen Gestaltungswillen der jungen neuidealistischen Dichter verbunden, daß ihnen, wie wenn sie mit ihm denselben Traum träumten, böcklinhafte Bilder ungesucht in die Feder fließen. So 1893 in Hofmannsthals Idylle, und hinter dem Gedicht Letzte Fahrt von Isolde Kurz zeichnen sich deutlich die Umrisse der Toteninsel ab : «Nach den Stürmen und des Mittags Pein still und selig muß der Abend sein. Treibt mein Nachen in die stillste Bucht, wo ihr Nest die müde Möwe sucht. Träges Wasser schläft am Felsenport, schweigende Zypressen stehen dort. Keine Sonne, die den Scheitel sengt, letzte Einsamkeit, die mich empfängt. Nur von meinem Kahn die Phosphorspur sagt's dem Wasser, wo ich überfuhr.» (Neue Gedichte, 1905) Böcklin hat wahrhaft Geschichte gemacht in der deutschen Dichtung. Auf die Nachricht von seinem Tode (1901) erhebt sich durch ganz Deutschland ein Chor von Klagenden und Rühmenden; selten ist beim Ableben eines Zeitgenossen aus so vieler Munde seine Unsterblichkeit 97
verkündet worden. Schäfers kühnes Wort: «Böcklin erlebte das biblische Alter in einer Geltung, wie sie seit Goethes Tode kaum einem andern in der deutschen Bildungswelt zuteil wurde», ist nicht zu kühn (Die moderne Malerei der deutschen Schweif, 1924). Der Maler lebte auch als Persönlichkeit, trotz seiner zurückhaltenden Art, in der Vorstellung vieler Zeitgenossen; selbst seine Flugexperimente sind in die Literatur eingegangen. Der Sinn für den erlesenen Menschen als solchen ist bei den Neuidealisten ungewöhnlich entwickelt. Das Proletariat der Menschen und der Dinge sinkt bei diesen Gegnern des Naturalismus unter den Gesichtskreis hinab. «Wo Viele herrschen, ist kein Recht zu finden, Wo alle herrschen, herrscht der Adel nicht», heißt es mit einer Spitze gegen die undankbare demokratische Masse in einem Gedicht des ehemaligen Sozialisten M. R. von Stern auf die aus altem Adel stammende Bündner Sozialkämpferin Meta von Salis-Marschlins (Dagmar, Lesseps und andere Gedichte, 1896). Um so stärker ist das Bedürfnis, in außergewöhnlichen, schöpferischen Gestalten letzte Möglichkeiten des Menschen zu verehren. Etwas vom Geiste jener Bildungsreisen des achtzehnten Jahrhunderts, auf denen Große zu Großen die Wallfahrt unternahmen, lebt da und dort wieder auf im Neuidealismus auch gegenüber einigen Schweizern. So finden wir um Böcklin auf allen Stationen seines Lebens außerhalb der Heimat deutsche Schriftsteller: in München (Wilbrandt, Graf Schack), Rom (Heyse) und Florenz (Isolde Kurz). Ob ihn die Münchner porträtieren oder ob Isolde Kurz noch im späten Roman Vanadis (1935) den «Schweizer in seiner kräftigen Art» ein gewichtiges, mit Ehrfurcht entgegengenommenes Urteil über das Probestück eines jungen Malers abgeben lasse - stets ist er der wortkarge, die Dinge in der Tiefe in sich hegende Meister. Viele sahen in ihm auch das tröstliche Vorbild eines unbeirrbar seiner Mission treuen Künstlers, der, wenn der innere Ruf es forderte, das gesicherte Leben eines Lehrers an der Weimarer Kunstschule aufgab und den kein Spott der am Althergebrachten Hängenden anzufechten vermochte. Liliencron hat ihn darob freudig gelobt und ebenso Gustav Falke in seinem Prolog zur Böcklin-Gedenkfeier der Gesellschaft Hamburger Kunstfreunde: «Aber trotz der Widergewalten Gelassen am eigenen Ich sich halten: Zerrt nur, schraubt nur, Ihr reißt mir nichts los! So ward Böcklin groß.» 98
Unter den Dichtern empfangen Keller und Meyer ein volles Maß der Bewunderung. Wie immer, wenn Schönheit wieder als krönende Eigenschaft gilt, verlagert sich aber die Wertung um ein geringes - Keller tritt bei den meisten hinter dem «symbolistischen» Kilchberger Meister zurück; wo immer es um dessen Lob geht, fließt der Strom der symbolschaffenden Phantasie wie von selbst freier und reicher als in den Versen über den realistischeren Keller: «Ein goldner Helm in wundervoller Arbeit, In einer Waffenhalle fand ich ihn Als höchste Zier. Und immer liegt der Helm mir in Gedanken, Des Meisters muß ich denken, der ihn schuf, Bin ich bei Dir.» (Kämpje und Ziele) Die literarischen Ehren, die der Verfasser dieser Zeilen, Detlev von Liliencron, den drei Meistern Meyer, Keller und Böcklin erwies, fallen ins Gewicht. Der norddeutsche Dichter, halb tiefverschuldeter Gutsherr mit rauhen Passionen, halb Bohémien mit hochverfeinerten Sinnen, in mancher Hinsicht ein Vorläufer impressionistischer und symbolistischer Ausdrucksweisen, hat zwar die Schweiz nie betreten, die drei Meister aber hat er in der Gedichtsammlung Kämpje und Ziele (1897) mit wachem Sinn für Echtheit und Kraft einzeln seiner hohen Achtung versichert. Er hat ihnen lebenslänglich die Treue gehalten, als passionierter Einzelgänger doppelt eingenommen auch für das menschliche Einzelgängertum dieser «Genossen meiner Einsamkeit». Noch schöner als in dem autobiographischen Roman Leben und Lüge (1908) hat er Keller und Meyer im Mäcen (1890) gehuldigt. Ein Kunstfreund stellt darin für bestimmte Tage des Jahres eine kleine Auswahl von Gedichten seiner liebsten Lyriker zusammen; neben einem Mörike-, einem Platentag usw. gibt es da auch eine Lesefeier zu Ehren Kellers und Meyers : «Wen ich für die größten lebenden Lyriker deutscher Zunge halte? Unbedingt Gottfried Keller und Conrad Ferdinand Meyer. Ich hätte beinahe hinzugesetzt: Arnold Böcklin»25. Das neuklassische ästhetische Ethos und die Schweiz Eine kleine Schar neuidealistischer Dichter der Jahrhundertwende schied mit strengerem Maß als die andern das Schöne vom Unschönen, das Erlesene vom Unbedeutenden. Nur der gewählteste Stoff, das unprofanste Gefühl, der zeitlos gültige Gedanke fanden Aufnahme, nur die den Zeiten trotzende schöne Form wurde gepflegt. Stefan George und 99
Paul Ernst, die ausgeprägtesten Bekenner dieses neuklassischen, das Erbe der Griechen vor allem andern hochhaltenden Ethos, schufen schließlich aus ihrer Dichtung ein Instrument 2ur Verkündung einer neuen strengen Hierarchie der Werte und eine Stätte des Gerichts über die großen Massen und 2ugleich über die auf halbem Wege stehengebliebenen Erneuerer der Zeit. Paul Ernst, mit 25 Jahren als angeblicher So2ialist an deutschen Universitäten verfemt, rettete nach kürzerem Aufenthalt in den emanzipierten Kreisen Zürichs seine Promotion in Bern und erlebte mit Staunen das für ihn wie für alle, die ähnlich wie er an eine hierarchisch-aristokratische Ordnung glaubten, fremdartige demokratische Volksleben der Schweiz. Erst als er 1900 auf eigenen Wegen der Gedankenwelt eines Wilhelm Schäfer oder eines Emil Strauß näher kam, erschienen ihm die Bauernhöfe Gotthelfs wie «Urbilder menschlicher Gemeinschaft», und er gab 1911 im Insel-Verlag den Roman Wie Uli der Knecht glücklich wird, mit einem bewundernden Nachwort versehen, heraus. In den nach seinem Tode gesammelten Aufsätzen Völker und Zeiten im Spiegel ihrer Dichtung (1942) kann man es nachlesen. Gotthelf steht neben zwei andern Schweizern, die vor des Kritikers strengem Größenmaß sich behaupteten : den Aristokraten Meyer und Burckhardt, aber weit vor einem, den er heftig und ungerecht ablehnte: Carl Spitteier - nur eine von vielen Szenen im Drama von Spittelers deutschem Ruhm26. Wenn die Neuklassiker vieles verwarfen, so nahmen sie doch das wenige, das sie anerkannten, um so rückhaltloser in ihr Werk und Leben auf: einen engen Kreis bejahter Schweizer Gestalten und eine ebenso streng gesichtete große Natur. Ihre Welt hat an Fülle verloren und an Höhe, das Verschmähte kaum ganz ersetzend, gewonnen. Ein Beispiel dafür ist Stefan Georges Beziehung zur Schweiz. Vom Herbst 1888 bis zum folgenden Februar lebte der damals Zwanzigjährige in Montreux und an andern Stätten des Genfersees - zum erstenmal im Randgebiet französischer Kultur, die ihm bald darauf entscheidende Schaffensimpulse verleihen sollte. Später, als er Jahr für Jahr seine Wege durch Europa zog, bei Gefährten und Jüngern aufgenommen und ihnen als einem verschworenen geistigen Adel in hochgestimmten Gesprächen Maße des neuen erlesenen Lebens bringend, gab es auch in der Schweiz Stätten, wo Heimaten unter den Seinen auf ihn warteten. In den Tafeln des Siebenten Ringes halten zwei Gedichte (Brücke und Abend in Arlesheim) die Begegnung mit Robert Böhringer im baslerischen Raum fest. In der letzten der Drei Landschaften desselben Buches werden Größe des Hochgebirgs und Größe des einsamen, zarathustrahaften Wanderers eins - man denkt an nachwirkende Eindrücke aus Graubünden und dem 100
Berner Oberland. Unmittelbarer aber als Gebirge sprachen ihn Menschen an, die um eine ähnliche absolute Kunst zu ringen schienen wie er selbst. Böcklin und Meyer betrachtete er solchermaßen als geistige Gefährten in feindlicher Zeit. So sorgsam wägend der Maler seine Farben auftrug, so streng war der Dichter bemüht, seine Worte zu fügen; durch Böcklin fand er vielfach sein eigenes, ästhetisch verklärtes Naturbild, aber auch sein Italien, sein Menschenbild, sein Werkethos vorgebildet. Noch entschiedener bestärkte ihn Burckhardt in der Ablehnung der Zeittendenzen. Das Nein des Historikers gegen Vermassung und den Rausch der materiellen Macht war auch Georges Nein, und Burckhardts Ja zu italienischer Kunst und antikischer Größe war auch des Dichters Ja. Conrad Ferdinand Meyer aber wurde von George und Wolfskehl der Aufnahme in den Band Das Jahrhundert Goethes der Sammlung Deutsche Dichtung (1902) für würdig befunden: denn hier erschien ein großgestalteter Charakter im bildhaften, streng durchgeformten Werk. (Über Bachofen vgl. S. 122.) Die drei letzten Winter seines Lebens verbrachte der Dichter im Molino d'Orso im tessinischen Minusio. Hier, fern dem verhaßten nationalsozialistischen Staate, geborgen in der südländisch-«antikischen» Landschaft, erlosch am 4. Dezember 1933 dieses fanatisch der Verkündung des heroischen Lebens in Schönheit (einem zur erstrebten Erneuung der Welt unzureichenden Ideal) gewidmete Leben. Wiederum antikisch geformt zu Ehren dessen, der da die Formel «Hellas ewig unsere Liebe!» geprägt hatte, spielte sich auf dem Friedhof von Minusio unter wenigen Getreuen jene merkwürdige Huldigungsszene ab, die Robert Böhringer, nunmehr der Betreuer des Nachlasses, in seinem Buch Mein Bild von Stefan George (1951) beschreibt: «Der geschlossene Sarg war mit Blumen bedeckt. Als die Freunde versammelt waren, wurde die Türe der Kapelle zugemacht, und einige - sie standen am Fußende - lasen Gedichte aus dem Siebenten Ring. Dem Jüngsten gab man den Lorbeerkranz [vom Haupt des toten Dichters], einem anderen Lorbeerzweige, und sechs trugen den Sarg. Nachdem er in die Kammer heruntergelassen war, warf jeder seine Zweige nach, dann wurde die Deckplatte geschlossen, mit Kranz und Blumen bedeckt und mit den Lorbeerbäumen umstellt. Drei lasen den Schlußchor aus dem Stern des Bundes. Darnach ging jeder fort.» In weniger exklusivem Geiste als bei Paul Ernst und Stefan George pflanzten sich ähnliche Verehrungen des Großen und Schönen und der reinen Form bis über den Ersten Weltkrieg hinaus bei einigen Dichtern fort, die zum Teil auf eigenen Wegen (Isolde Kurz, Rudolf Alexander Schröder, Otto Helmut Hopfen, der Verfasser der Erzählung Daniel 101
Abraham Davel, 1905), zum Teil in der Gefolgschaft Georges (Henry Benrath [Albert H. Rausch], Henry von Heiseler, der Autor des Dramas Die jungen Ritter vor Sempach, 1910) zu finden sind. Sie gehören alle zu den Dichtergästen der Schweiz. Ihrer Art entsprechend, schließt ihre Dichtung vom Gut der Welt und damit auch vom Motivreichtum des Gastlandes vieles aus und nur weniges ein. Isolde Kurz, von C. F. Meyer stark angesprochen und durch Bachofens Lehre von den chthonischen Mächten der Seele in ihrem Wesen als Frau bestärkt, erfuhr noch entscheidendere Anregungen, als sie in Florenz Burckhardts Kultur der Renaissance in Italien las. Wie für zahlreiche andere Deutsche wurde er auch für sie zu einem der großen Erschließet der Kulturwerte ihrer Wahlheimat, und insbesondere die Florentiner Novellen mit ihrer Verherrlichung der Renaissancekultur als der «glanzvollen und fortwirkendsten seit der griechischen» verdanken dem Basler viel: «Ein Schweizer Denker gab mit seiner Stimmgabel den Ton an, worin für unsere Ohren zum erstenmal die dämonische Größe dieser Tage wieder aufklang» (Die Pilgerjahrt nach dem Unerreichlichen. Lebensrückschau, 1938). Es fügte sich, daß dieser bedeutenden Dichterin in Florenz die Verse, die der Maler Karl Stauffer-Bern kurz vor seinem Tode im Kerker auf das Papier gewühlt hatte, in die Hand kamen. Der Plan, sie zu veröffentlichen, scheiterte am Widerstand von Stauffers Familie, doch wirkte die innere Begegnung mit dem dämonischen Maler in der Dichterin mächtig fort. Sie war einem späten, verwilderten Nachfahren der Renaissance begegnet; Schrecken vor seiner Maßlosigkeit und Bewunderung vermischen sich, wo immer er durch ihre Werke geht: in den Neuen Gedichten (1905), in den Florentinischen Erinnerungen (1910) und noch später im Roman Vanadis, wo er in der Maske des Roderich erscheint. Neuklassisches Urverlangen nach höchster Schönheit aber sättigt sich hier wie bei George und wie bei allen Neuidealisten am Werk Böcklins: . . . «Denn Länder schuf er, Meere, Königreiche Der Poesie und gab sie uns und ließ Uns drin wie mit den ersten Göttern wohnen.» (Neue Gedichte) So wird im Werk der neuklassisch gestimmten Dichter über einen engen Kreis bedeutsamer schweizerischer Gestalten (wo allzuviel «Profaneität» beigemischt ist wie bei Keller, hält man bereits zurück) eine reiche Fülle des Dankes ausgeschüttet. Auch unter den Elitelandschaften der Schweiz wählen sie streng wie 102
unter den Werken des Geistes. Die erhabene Zeitlosigkeit des Hochgebirges war das ihnen Angemessene. Isolde Kurz gestaltet es in einigen Gedichten; in Paul Emsts Kaiserbuch (1923) dient es als gewaltige Folie für die mittelalterlichen Kaiserzüge. Darüber hinaus aber waren die eigentlichen « antwortenden Gegenbilder»j ene Landschaften, die einer idealen antikischen nahezukommen schienen. Den Kanton Tessin, die letzte Zuflucht Georges, stellt Benrath groß geschaut an den Anfang seiner Deutungen südländischer Landschaften in dem Buch Welt in Bläue (1938), gewissermaßen als den letzten nördlichen Ausläufer Griechenlands und Italiens: «Hier lebte Homer, hier lebte Hesiod, hier erwacht Mittag um Mittag die Flöte Pans aus ihrem nie geschlafenen Schlaf.» Im Genfersee aber haben diese Dichter einen schweizerischen Hellespont entdeckt mit mittelmeerischer Luft und Helle um seine Landhäuser und Rebgelände elysäische Ufer, die Bilder aus dem antiken Mythos in der Seele wachriefen, so wie es in Rudolf Alexander Schröders Gedicht Der Genfer See geschieht, einem Selbstgespräch in den eindunkelnden Rebhängen, in dem der Dichter im Gedanken an den kommenden triumphierenden Morgen sich der drohenden abendlichen Schatten erwehrt: «Wachsam, blicke getrost immer der Sonne nach. Bald! - auf lohen Gewänds Feldern im Untergang Setzt der kehrende Morgen Die demantenen Sohlen auf.» Die neuklassischen Dichter waren meisterliche Kenner des Formenschatzes der Zeiten, mit geschultem Ohr auch den Zusammenklang von Vers, Strophe und Thema prüfend. So fügen sich denn auch Schröders Worte wie unter dem Bann dieser den Griechen nahen Landschaft zur Sprachfigur der Zweiten asklepiadeischen Strophe. Überhaupt war der sprachliche Eros ein Hauptzug im Wesen der neuidealistischen Dichter. Ankämpfend gegen die erschreckende Abnutzung und Verödung der Sprache im Massenbetrieb der modernen Presse und der Modeliteratur, suchten sie die verlorenen und vertanen Ausdrucksmöglichkeiten wieder zurückzugewinnen: die Bildkraft des Wortes, seine Sinntiefe, den Zauber seines Klanges, seine Gehalte an Unsagbarem, seine unversehrte Ursprünglichkeit. Die Erneuung der Sprache war ein notwendiger Bestandteil der Erneuung des Lebens von innen her. Es ist kein Zufall, daß an zwei der extremsten Stellen dieser Vorgänge schweizerisches Sprachgut unmittelbar (jenseits der stilbildenden Wirkungen der Schweizer Dichtung) wirksam wurde: in Erwin Kolbenheyers und Rudolf Borchardts demiurgischen Versuchen, die ungebro103
chene Sprachkraft früherer Epochen, wie sie eben zum Teil noch in den Mundarten weiterlebte, kühn konzipierten Werken zuzulenken - bei jenem dem Paracelsus-Roman (vgl. S. 142), bei diesem seiner von Grund auf neuen Übertragung von Dantes Göttlicher Komödie. Borchardts Vorwort zu Dante deutsch (1930) ist stellenweise eine wilde Anklage gegen die schal gewordene, buchhafte, konventionell-korrekte neuhochdeutsche Sprache «mit der Todesangst vor dem Popularen, aus dem man wider Willen stammt»; um Dantes gedrängte Wucht aufzunehmen, war sie zu flach. Also schuf sich Borchardt ein eigenes, halbneues Spätmittelhochdeutsch und speiste es aus europäischen Idiomen der Zeit Dantes, aber auch aus schweizerischer, vorlutherische Gedrungenheit und Rauheit bewahrender Volkssprache. Ein halbes Jahr lang lebte er forschend und horchend in einem ihrer Sprechbereiche bei Arlesheim im Baselbiet. Sein Bericht darüber ist das positive Gegenstück zu seiner Verdammung des Neuhochdeutschen: «Ich hatte eben doch noch einmal Deutsch gelernt, von Grund auf. Für ein halb Jahr in ein Dorf des Baselgebiets vergraben, mit der einheimischen Art und Zunge lebend, hatte ich meiner gesamten Sprachgewöhnung ein Wildbad zugemutet, aus dem sie mit einem verzauberten Ohre herausstieg, wie die Menschen der Sage, die plötzlich die Sprache der Vögel verstehen... Ich besaß nun das schwebende Medium der Continuität zwischen dem Duzento und meiner Zeit, von jenem aus gesehen eine organische Weiterentwicklung der Sprache des klassischen deutschen Mittelalters, von dieser aus gesehen eine zugleich archaische und lebendige Tiefenschicht hinter dem flachen Gemeindeidiom, das sich Deutsch nannte... Hier [in der Mundart] war ja wieder, war ja noch, die alte Knappheit und Evidenz, die vielsagende verschmelzende Rundheit des Sprechsatzes, der unbedingte Primat gehäufter heftiger Akzente vor der pedantisch gefristeten Museumsvollständigkeit des Silbenbestandes, der dramatische Sprechwille stärker als das vernünftelnde, umständliche Bezeichnen, die Syntax die eines künstlerischen, aus der Drastik geborenen Instrumentes, die Wortstellung der Bildkraft und nicht der Schullogik angemessen, herausfordernd umrissen, und nicht aus Umschreibungen schwach und lahm zusammengezeichnet... Das Wildbad war in Wahrheit ein Jungbrunnen. » Das Ergebnis dieser riesenhaften Anstrengung vermochte allerdings nicht zu überzeugen. Es entstand ein monumentales synkretistisches Gebilde, das gleichsam wie ein gewaltiger Findlingsblock aus künstlichem Granit im Gefilde der modernen Sprache liegt. Die folgende Anrufung der Mutter Gottes aus dem Anfang des dreiunddreißigsten Gesanges mag es bezeugen: 104
«Maged ein Mutter, Tochter deines Suns, demüete und herlich meh denn creature, ewig beschlossen ein ziel der sorge um uns»...
Die Erneuerung des Landschaftserlebnisses Seitdem im achtzehnten Jahrhundert ein Haller und ein Rousseau und eine Schar naturseliger Pantheisten einen schwärmerischen Kult der schönen Landschaft in der europäischen Dichtung begründet hatten, zog es ausländische Dichter wie nach einem Orplid der Natur zu den arkadischen Seegestaden und Bergtriften der Schweiz. Ihre Landschaften haben sich auch im deutschen Schrifttum als ein häufiges Motiv behauptet. Zumeist ist die Landschaft in der Dichtung ein begleitendes Element, das Naturschauspiel geht neben dem menschlichen Drama einher, steigernd, dämpfend, lösend, bald im Einklang, bald im Gegenspiel; bisweilen aber rückt es einmal vom Rand des Geschehens in den Mittelpunkt und wird um seiner selbst willen betrachtet und gestaltet. Ob Nebenmotiv oder Hauptmotiv: es lassen sich an ihm die Gezeiten des literarischen Naturgefühls deutlich ablesen. Dürftig vegetiert es in den Schriften der wilhelminischen Modeautoren. Die politischen Sänger des Liberalismus und der Sozialdemokratie waren ebenfalls wenig geeignet, die Beziehung des Menschen zur Landschaft von innen her zu erneuern; wer Berge als Allegorien der politischen Freiheit preist, den berührt Landschaft an sich wenig. Mit der Malerfreude der Realisten an der farbigen Welt hingegen und mit ihrem Hang zu den heilen Lebenskräften beginnt ein neuer Aufstieg des Naturgefühls. Einem Friedrich Theodor Vischer erscheinen die Berge so als Befreier des Mutes zum freien, ungebrochenen Leben: «Steig, o Seele, mit diesen Trutzigen Urweltriesen! Recke dichl Strecke dichl Wie ihr entschlossen Seid emporgeschossen, Das Steinherz in der Brust, Das zu sehen ist Lust. Ihr seid nicht höflich und fein, Ihr lüget nicht, weich zu sein, 105
Euch macht nicht Sorge und Rücksicht bang, Ihr bücket euch nicht, ihr fraget nicht lang, Die Losung heißt: durchI Die Losung heißt: Kraft!» (Lyrische Gänge, 1882) Wie Nietzsches Kult der autonomen Größe, wie die verfeinerten Sinne der Impressionisten das Bild der Schweizer Landschaft erhöhten und verklärten, haben wir gezeigt. Einige Dichter neuidealistischen Geistes aber gewannen eine neue, krönende Höhe und Fülle des Naturgefühls. Ihnen ist im Einklang mit allen Gleichgestimmten die Landschaft eine der großen menschenbildenden Mächte schlechthin. Wilhelm von Scholz, in seinem Erinnerungsbuch Berlin und Bodensee (1934) die Summe aus früheren Schweizer Bergerlebnissen ziehend, bekräftigt implicite die tiefe, innere Entsprechung zwischen dem großen Naturerlebnis und dem neuidealistischen Wesen: «Der junge Mensch fühlt in solcher Gestaltung der Erde, der Berge, Felsen, des Wassers und der Weite plötzlich Hohes, Großes, Freies in sich lebendig werden, das des Umgebenden würdig sein will. Der Inbegriff des Lebens wird ein edlerer und zugleich reicherer für ihn, wenn er der Macht der Erde in der Natur gegenübergestellt wird.» Eindringlich war auch seine Beschäftigung mit dem Geisteserbe der Schweiz, namentlich mit den Meistern des neunzehnten Jahrhunderts27. Schweizerische Motive finden sich bei ihm von den frühen Gedichten bis zu den späteren Novellen; manche Seiten in seinen Wanderungen (1924) aber gehören zu den besten Darstellungen schweizerischer Landschaft. Dem Wanderer von Scholz gesellen wir den Wanderer Josef Ponten bei, der ein Semester in Genf studiert hatte und später ungefähr ein halbes Jahr, verteilt auf fünf Aufenthalte, in der Schweiz zubrachte. Neben den Wanderungen kann man Pontens Novelle Die letzte Reise (1925) und seine JLuganesische Landschaft (1926) zum besten Gut der hohen Kunst der Landschaftserfassung zählen. Ponten sah die Aufgabe mit aller Deutlichkeit. Den Menschen, der in der überwuchernden materiellen Zivilisation der Städte sich selbst verlor, galt es zurück- und emporzuführen zu einer vertieften, rettenden Beziehung zur Landschaft. Wir sehen diesen Dichter in einem der hochgemutesten geistigen Unterfangen der Zeit: im Versuch, die zerrissenen Bande zwischen Mensch und Natur wieder neu zu knüpfen. Schon Wilhelm Bölsche war mit seinen populärwissenschaftlichen Naturbüchern (ebenso Raoul H. France u. a. mit seinem 191 o erschienenen Buch «Die Natur in den Alpen») in einer eigenen Richtung vorangegangen. Ponten zielte auf Ähnliches: «Das Landschaftserlebnis wie wildes, unnütz und hilflos verfließendes Wasser eines Baches regelnd zu fassen 106
und als Kraft auf die Mühle des Getriebes unserer Seele zu leiten mich zu bemühen, dazu hat mich namentlich die Rat- und Hilflosigkeit veranlaßt, der ich mich selbst an großen Aussichten, der ich fast immer den gemeinen Reisenden und Wanderer dort ausgesetzt sah. Es ist kläglich zu sehen, auf wie kindliche Weise auch der naturfreudige Laie sich des auf seine Seele Einstürmenden zu erwehren, es zu bändigen und zu ordnen sucht.» Nicht zufällig steht diese programmatische Erklärung in einem Buch (Die luganesische Landschaft), das der Ergründung eines schönen Landstrichs in der Schweiz gewidmet ist: ihre große und Großes weckende Natur war hier das «antwortende Gegenbild» und gleichsam eine verbündete Macht in den Kämpfen um die Erneuerung des modernen Naturgefühls. Die mächtigste Anziehungskraft übten auf diese (wie auf die meisten übrigen) Dichtergäste die alpinen Gebiete sowie die Seen am Nord- und Südfuß der Alpen aus. Am Jura mit der weltverlorenen Poesie seiner Wälder und Hochweiden führten ihre Wege vorbei zu lockenderen Zielen. Goethe war seine Schönheit vertraut gewesen; in das literarische Bild der schweizerischen Landschaft bei den neueren Deutschen dagegen (abgesehen von einigen wenigen Stellen etwa bei Schweichel, Flake, Ernst Gläser (Jahrgang 1902, 1928) ragt der Jura wie ein dunkler Kontinent voll unerschlossener Erlebnismöglichkeiten herein. Die Elemente des See-Erlebnisses hat Ponten in seiner noch nicht übertroffenen Deutung der luganesischen Landschaft zusammengefaßt: «Eine Landschaft mit einem See ist normalerweise heller als fast jede andere. Das mag, nachdem das Gefühl von Freiheit schon durch die Freiflächigkeit, durch ein Abgeräumtsein, durch die Seltenheit von Gegenständen im Gegensatz zum dichtbesetzten Lande erregt wurde, ursächlich beitragen zum Gefühl seelischer Befreitheit und Gehobenheit, der Weltfreudigkeit, die man wohl an einem See empfindet... Die Seelandschaft vereinigt Flächenhaftes und Höhenhaftes. Hat Körperliches, Raum im kubischen Sinne . . . , allgemein durch das größere und stärkere Herein- und Herabwirken des Himmels. Die Seelandschaft hat auch das Tiefenhafte 1 Das Erlebnis von Tiefe erweitert das Gefühl des Raumes und trägt das Element des Dunkeln und Gefährlichen zu. Fläche wirkt als befreiend, Höhe als aufrichtend, Tiefe wird als abschreckend empfunden. Die Seelandschaft ist die reichst instrumentierte Landschaft überhaupt; die Seelandschaft ist die Krone der Landschaften, die Landschaft der Landschaften.» Um zu erhellen, wie die Erneuerer des Naturerlebnisses angesichts des antwortenden Gegenbildes der Landschaft «das Innere völlig zum Ganzen und Gewissen zu steigern» suchten, ist es ratsam, eines der gewaltig107
sten Naturmotive, das Hochgebirge, in ihrer Darstellung zu untersuchen und hin und wieder Gestaltungen durch ähnlich ergriffene Geister heranzuziehen. Für Josef Ponten und seinesgleichen ist Landschaft eine Aufforderung an den Menschen, seine Kräfte zu steigern, ihr entgegenzuwachsen, sich verwandelnd, bis er mit empfindlichsten Sinnen ihren verwirrend reichen Eindruck, mit wissendem, forschendem Geist ihr Gesetz und Wesen und mit seinem Gefühl ihre irrationale Tiefe in sich aufgenommen hat. Die Alpen mit ihren Felsmassen, ihren kühnen Steilformen, mit dem ständig bewegten Leben der Farben hinter fließenden Luftschichten, mit den vom Wiesenland über Wald und Weiden bis zu Fels und Eis aufsteigenden Klimazonen auf den Bergflanken bieten eine Fülle ästhetisch wirksamer Elemente für die Wahrnehmung dar. Für Ponten ist das Gebirge selbst an einem Regentag noch eine Weide der Sinne: in der Letzten Reise wird er nicht müde, die Spiegel der nassen Felswände, den treibenden Nebel, die kühle Labung der Regenluft, die Musik der Regentropfen auf breitflächigen Huflattichblättern, das Orgeln der Bergwasser in der Schlucht zu schildern. Wo immer versucht wird, den Anblick der Hochgebirgsmassive umfassend wiederzugeben, da grenzt die Schilderung an die Vision oder die Phantasmagorie. Mit Lust haben die Neuidealisten ihr Auge an die kosmischen Proportionen gewöhnt, die im Gebirge den Raum durchwalten: «Der tiefverschneite Säntis, halb in Sonne, halb in Schatten, lange Zeit unverändert; und weit westlich davon das gewaltige Wolkengebirge, das ihm teilweise die Sonne wegnahm. Das Gewölk stand so fern, daß man erst ganz allmählich die Beziehung gerade dieses Wolkenmassivs und des Schattens auf den beschneiten Felsen fand. Dann aber ward der Himmel sichtbar von riesigen Verhältnissen durchwoben. Die Sonne, das Aufragen der Wolke, ganz fern der ungeheure, über den Schneefelsen lagernde Schatten, die durchdunstete Luft, in der Sonnen- wie Schattenstrahlen ihren Weg gingen; das alles über dem unendlichen Spiegel See»; so weitet sich bei Wilhelm von Scholz das Raumgefühl, vom verzückten Sehen gespeist (Das unterhaltsame Tagebuch, 1928). Das naturwissenschaftliche Betrachten ist nach Ponten ein weiteres unabdingbares Ingrediens der modernen Beziehung zur Landschaft. «Das romantische, nur persönlich in die Welt hineindenkende Naturgefühl scheint mir bei uns glücklicherweise zu entschwinden, es ist abgelöst durch eine leidenschaftlich verstehende, klassisch-sachliche, sozusagen naturwissenschaftliche Liebe, die aus der klar erkannten Natur selbst herauszudenken und zu -fühlen sucht», heißt es programmatisch in der Grie108
chischen Landschajt (1914), seiner ersten bahnbrechenden Deutung. Später versuchte er in der Studie Der Gletscher (1923) und in der Luganesischen Landschaft mit teils wissenschaftlichen, teils dichterischen Mitteln das Wesen einer großen Naturerscheinung zu fassen. Vor allem lernte der Dichter vom Naturforscher, in Erdepochen zu denken, und das Hochgebirge, in dem man auf die versteinten Palmblätter und Meermuscheln, auf Gletschermühlen und Verwerfungen zu achten beginnt, wird zum Buch, «welches den Bericht von der Geburt und der Entwicklung unseres Planeten enthält», wie Graf von Schack sagt. So weitet sich neben dem Raumgefühl auch das Zeitgefühl; das Hochgebirge erscheint wie ein sichtbares Zeichen ihrer unendlichen Ausdehnung nach dem Vergangenen und dem Zukünftigen hin, und der Augenblick verliert sein Gewicht. Für den geschichtskundigen Dichtergast liegt ein besonderer Reiz dort, wo er die Spuren geschichtlichen Lebens wie eine vierte Dimension in der großen Natur entdeckt. Der Vierwaldstättersee z.B. bezaubert nicht bloß durch das schöne Spiel seiner sich immer neu und verwirrend kulissenhaft gegeneinander verschiebenden Uferberge; Teils See, an dem das Rütli liegt, weckt auch die Erinnerung an heroische Freiheitskämpfe von urbildhafter Kraft. So ergriff der reine Zusammenklang von Naturschönheit und Freiheitsnimbus den romantischen Geist eines Heinrich Vierordt: «Mit Ehrfurcht betrat ich die durch Wilhelm Teil geheiligten O r t e . . . Eine Gondel führte uns nach dem Rütli hinüber, und in tiefer Andacht fuhr ich am Abend am Mythenstein, dem schönsten Schillerdenkmal der Welt, vorüber» (1931, Sonntagsbeilage der Basler National-Zeitung, Nr. 2.54). Manchmal ist es bloß die Spur einer Römerstraße auf einer Paßhöhe, die das Zeitgefühl merkwürdig tief erregt. So mischen sich oft dem Erlebnis der Landschaft an sich gedankliche Begleitinhalte aus dem Wissen des Naturforschers oder des Historikers steigernd und bereichernd bei, aufgerufen durch ein so tief von der Geschichte des Menschen und der Natur gezeichnetes Gelände wie das schweizerische. Das «Zeitlose» der von Urfrühe her dauernden großen Natur erscheint noch gesteigert durch die Spur historischen Geschehens, die in ihr zurückblieb. «[Die Landschaft] löst im Begegnenden jenen letztlich unerklärbaren Induktionsstrom aus, der eine vorhandene, bisher vielleicht schlummernde Veranlagung tätig werden läßt», sagt Emil Egli in seiner landeskundlichen Anthologie Erlebte Landschajt (1943). Ponten und seinesgleichen sahen in diesem Vorgang eine Dreiheit von Kräften in Bewegung: Sinne, Geist und Gefühl, und die dritte, die übrigen tragende und ihrerseits von ihnen belebte, suchten sie nicht minder bewußt als die andern 109
im Landschaftserlebnis zu verjüngen. Ihre Macht verherrlicht Ponten in der künstlerisch am besten geglückten seiner Novellen, in der Letzten Reise. Da gesundet eine scheinbar abgestorbene Ehe dadurch, daß die Gatten auf einer Paßwanderung über Oberalp und Furka, weit herausgenommen aus der lähmenden Enge ihres Alltags, erwärmt durch die Kameradschaft des Wanderns, wieder einer durch den andern in der Tiefe erschütterbar werden, weil das gewaltige Bergerlebnis die Erstarrung des Gemüts gelöst und letzte Zugehörigkeitsgefühle befreit hat. Das verfeinerte Gefühl wird wach für das dunkle Hintergründige der Natur. Ponten, für den Kosmos und Mensch und Erde letztlich eins sind und teilhaftig einer geheimnisvollen metaphysischen Kraft, ahnt ihre Nähe in den Augenblicken letzter seelischer Entgrenzung in der Hochwelt des Gornergrats, am äußersten Rande von Zeit und Raum, bereits im Bannkreis eines gefühlten, nicht mehr irdischen, schwerelosen, erfüllten, entrückten Seins an sich: «Zeit und Raum verändern an erahnten Grenzen ihre Natur und spielen hinüber in All und reines Sein. Du bist nicht Mensch mehr, o Mensch, und wenn . . . du ausdenken kannst, was du ahnst, so bist du auf dem Wege, das Unendliche zu denken und dich ihm anzugleichen... Denn das ist das endliche Erlebnis auf hohen Bergen: überwältigt sein» (Weißbrot, oder der Überstieg über die Alpen, 1921). Man denkt an das Wort des französischen Philosophen Jules Michelet: «Les montagnes sont une initiation. Tous en sont revenus plus grands» (La montagne, 1868). In einigen Werken wird die Handlung dort in die schweizerische Bergwelt verlegt, wo ein großes Menschenleben durch einen großen Tod seinen krönenden Abschluß findet, oder umgekehrt dort, wo ein Heilsbringer nach Zarathustras Urbild sich in der Stille sammelt, um der Welt zeitlose Wahrheit zu bringen. Das Gebirge steht gewissermaßen dort, wo Zeit und Ewigkeit einander berühren und Leben nach drüben in Unsterblichkeit ausmündet und Unsterbliches von drüben sich diesseitigem Leben mitteilt. Gerhart Hauptmann läßt seinen unsteten Gottsucher Emanuel Quint in den Einöden am Pizzo Centrale sich verlieren: «Dort haben Nacht, Nebel und Schneegestöber ihn eingesargt», und sein Kampfflieger und Magier Till Eulenspiegel (1930) sucht den freien Bergtod in den Felsen des Maggiatals. Großartig erzählt Ricarda Huch im Leben des Grajen Federico Conjalonieri (1910), wie der Wagen mit dem in Albträumen phantasierenden Sterbenden durch die tobende Schöllenenschlucht fährt und wie dann im stillen Hospenthal ein milder Tod den italienischen politischen Kämpfer erlöst. Alfons Paquet hingegen denkt den schönen Gedanken eines alpinen Delphi in der Gebirgswelt beim Badus: «Vielleicht hätten sie [die alten Griechen] zu Füßen dieses Berges, 110
wo jetzt die Paßstraße in Schlangenwindungen zur Seite steigt und ein preisgegebenes Bahngeleise die Einöde der Hirten durchschneidet, ein gewaltiges Delphi errichtet mit tönenden Hallen und schimmernden Weihegaben» (Der Rhein. Eine Reise, 1923) 28 . Hin und wieder ist in der Dichtung auch die Rede vom Versagen des Menschen angesichts einer vor lauter Größe menschlich kaum mehr zugänglichen Landschaft, von der Verzweiflung über die hier ins Riesenhafte gesteigerte Indifferenz aller Natur und von der zunächst krisenhaft wirkenden Erfahrung, daß gerade das maßlos Wuchtende des Alpenanblicks im Betrachter das Gefühl weckt, klein geworden zu sein im übertrieben wichtig genommenen persönlichen Leben - das Maß für die Unterscheidung des Wesentlichen vom Unwesentlichen verloren zu haben. Die Konfrontation mit der großen Natur bringt die kümmerlichen Stellen des Lebens an den Tag, sie fordert zur innern Wesenhaftigkeit auf. Ponten und von Scholz haben vor vielen andern öfters in ihrem Werk gezeigt, wie der Mensch in der Alpenlandschaft auf den Anruf der Größe mit dem Willen zur Größe antwortet; menschlicher Geist entwächst seinen Alltags grenzen und wird frei für die befreienden weiten Aspekte des Ich und der Welt, die ihn aus der Hörigkeit des Augenblicks herausnehmen. Sie haben das Landschaftserlebnis als eine Synthese von mächtigen Befreiungs- und Wachstumsvorgängen der Sinne, der Seele und des Geistes gesucht und gepriesen - als ein dem innersten Wesen des Neuidealismus Nahes. Im Hochgebirge wurde das große Paradox wahr: daß durch so viel wertindifferente gigantische Außenwelt so viel werthafte Innenwelt geweckt werden kann. Die Schweiz ist als eine Hauptstätte solcher Wunder der Verwandlung in neuidealistische Werke eingegangen. Ricarda Huch. Die schweizerische Vergangenheit Unter den neueren Begegnungen deutscher Dichter mit der Schweiz ist diejenige Ricarda Huchs die allerschönste. Alle Kräfte des Neuidealismus vereinen sich in dieser unversieglich reichen, geistesstarken, liebenden, schöpferischen Frauennatur. Die bedeutendste deutsche Dichterin seit Annette von Droste war wie geschaffen, zum Gastland eine Fülle produktiver Zugänge zu finden und sich vorerst seinen weckenden, das Gefühl der Berufung nährenden, später ein langes Leben hindurch seinen aufrichtenden und bergenden Mächten aufzutun. Sie erhob ihre Beziehung zur Schweiz in den Rang einer hohen Liebe mit beglückenden Einklängen, mit leidvollen Abschieden und Ersehnungen, auch mit Entfremdungen und erneuten, vertieften Zustimmungen. Noch von ihrem in
letzten Aufenthalt, im Nachkriegswinter 1947, schreibt sie: «Es ist alles wie ein Märchen, und wir waren auch so in einem traumartigen Zustand wie im Märchen» (28. Februar). Die Aufsätze über Bern, Luzern und Zürich (1930-1932) und das mitten in der verhaßten nationalsozialistischen Ära entstandene Erinnerungsbuch Frühling in der Schweif (1938) muten uns, auch wenn sie mitunter verhalten über manches laute Neue klagen, wie rühmende, verklärende Liebesgedichte in Prosa an. Die Schweiz ist dem wunderbaren Gast den Gegendank nicht schuldig geblieben : dem befreundeten Zürcher Verleger Martin Hürlimann kommt das Verdienst zu, den wichtigsten Spätwerken der Dichterin fern von der Zensur des Dritten Reiches ein verlegerisches Asyl bereitet zu haben. Ihre erste Schweizer Zeit (1887-1896) stand im Zeichen des hochgemuten Wachstums eines das schöne, kühne Leben liebenden Charakters. Die Schweiz war für die dreiundzwanzigjährige Besucherin eine neuartige, eine freie und strahlende Welt schlechthin. See und Hochgebirge sind in der Natur die antwortenden Gegenbilder ihres damaligen Lebensgefühls: ihr Gedicht An den Sturm wirkt wie ein alpines Seitenstück zu Nietzsches Lied an den Mistral: «Aus Felsenschluchten brichst du hervor, Wie aus den sieben Siegeln des himmlischen Buchs Die Vernichtung, Und singst dich nicht müde An deinem Zornlied. Aber hier auf dem geborstenen Leib des Felsens Geselle dich zu mir, Daß sich dein Auge Wie ein Abgrund vor mir auftut, Der Jahrhunderte verschlang. Verachte mich nicht, Weil ich Mensch bin Und dein entfesseltes Gewand Mit gebeugtem Haupt und Knie Und abwehrenden Händen Bebend verehre: Du bist meiner Seele nicht fremd.»29 Sie begriff den jungen Schweizer Kommilitonen, dem gefahrvolle einsame Gipfelbesteigungen über alles gingen, und widmete ihm, als er den weißen Tod fand, den Gedichtzyklus Verunglückt. Ricarda Huch war gekommen, um sich durch das akademische Studium auf eine unabhängige Existenz vorzubereiten. Die Universität Zü112
rieh gab ihr das positivistische wissenschaftliche Rüstzeug als Historikerin (ihre Dissertation behandelt die Neutralität der Schweiz im Spanischen Erbfolgekrieg); Zugänge zur tieferen Erfahrung des Historischen — und auch der geschichtlichen Schweiz — erarbeitete sie sich ein Leben lang auf eigenen Wegen. Kraftvoll wurde sie, die sich heftig im Gegensatz zum nationalen Machtstaat moderner Prägung fühlte, durch das freie demokratische Staatswesen angesprochen: «Ich war Republikaner, ohne je, soviel mir bewußt ist, in dieser Richtung beeinflußt worden zu sein, es war mir angeboren. Im damaligen Deutschland konnte man nur entweder offiziell Beifall klatschen zu dem, was die jeweiligen Regierungen anordneten, oder schweigend und verärgert, von allen verketzert beiseite stehen; die Schweizer konnten mitwirken und gegenwirken nach der eigenen Uberzeugung. In der Atmosphäre, die dadurch entstand, war mir leicht zu atmen. Ich fühlte mich hier wie auf dem Hochgebirge, von reinerer Luft als im Tal umspielt» (Frühling in der Schweif). Der kühne Zug zum starken, selbstgesetzlichen Leben war in ihr nicht so, daß sie aus der Autonomie des Ich ein einseitiges Dogma gemacht hätte. Beherzt fügte sie sich in die Schranken des Brotberufes, indem sie als Assistentin an der Stadtbibliothek und dann als Lehrerin an der städtischen Gro'ßmünsterschule arbeitete. Von der gleichzeitigen internationalen Zürcher Boheme nahm sie interessiert Kenntnis, ohne nach näherem Umgang mit ihr zu verlangen. Im Gegensatz zu manchen aus jenen Kreisen war ihr menschliche Bildung ohne persönliche Prätentionslosigkeit undenkbar. Die Freude am selbstgesetzlichen Leben war in ihr gezügelt durch eine tiefe Achtung vor dem objektiven Bestand der Welt. Nichts bestärkte sie darin so sehr wie Werk und Persönlichkeit Gottfried Kellers. Sein Wahrheitsethos ist auch das ihre, und sie bekennt sich rückhaltlos dazu in ihrem Keller-Aufsatz (1904): «Es ist das nicht trügende Gefühl der Alten, die den Dichter als Lügner verabscheuten, außer wenn er bescheiden im Gefolge des Lebens geht, das sein [des Dichters] Lehrmeister sein muß . . . Das Sichhinwegsetzen über die Gesetze der Wirklichkeit . . . um aus willkürlicher Einbildungskraft heraus zu erfinden, nennt Keller Arbeitsscheu.» Auch die Böcklin-Begeisterung teilte sie und bezeugte sie schon dadurch, daß sie ihrem reifsten, aus Zürcher Erfahrungen mitgespeisten Werk, dem Roman Michael Ungers, den Namen eines Gemäldes des Meisters gab: Vita somnium breve (1903). Hier und in den Erinnerungen von Rudolf Ursleu dem Jüngeren (1892), in Gedichten und in kleineren Werken ihrer Zürcher Jahre leuchtet etwas festlich Heimatliches auf, wo immer die wahlverwandte Schweiz erscheint. Es klingt noch nach, wenn Michael Unger die Stadt seiner Studien (gemeint ist Zürich), die ihm durch 113
ihre Ferne zu Deutschland, durch ihre Schönheit, ihre Geistesfreiheit, ihre menschliche Kultur ein neues Leben gab, begeistert begrüßt: «Wenn Michael sich der Stadt näherte, wo er studierte, und die breite Masse der Universität und der dazugehörigen Gebäude über die Anhöhen gestreckt sah, schlug ihm das Herz, wie wenn er ins Vaterland käme. E r hatte Lust sich niederzuwerfen, seine beiden Hände in die braune Erde zu graben und sie zu küssen. Jedem Vorübergehenden begegnete er mit einem Gefühl von Zusammengehörigkeit und frohem Verständnis.» Im Jahre 1896 war die Dichterin, allmählich den anregenden Kräften des Gastlandes entwachsen, nach Deutschland zurückgekehrt. «Ihre starke Natur verlangte unbewußt nach Geschicken, die sie bilden und entwickeln konnten», sagt sie in ihrem Romantikwerk von Caroline Schlegel, und ihre Geschicke sollten sie bald durch Armut, Leid und Erschütterung, dann auch durch geschichtliche und theologische Studien zu einer neuen, zu einer religiösen Begründung ihrer Existenz führen. «Was mir von Dir wird angetan, Sieg oder Tod, das nehm ich an, Das fließt vom Quell der Gnade», bekennt ihr Gebet in höchster Not, und von diesen Zeiten an waren die hochgemut-autonome und die herb-realistische Komponente ihres Wesens unter der religiösen Dominante verwandelt zusammengefaßt. Damit steht sie im innersten Einklang mit bereits um die Jahrhundertwende mannigfach im deutschen Geistesleben aufbrechenden religiösen Erneuerungskräften. Dem Menschen sei nichts so nötig wie Seelsorge, bekannte sie 1915 ihrer Freundin Marie Baum, wie diese in ihrer schönen Ricarda-Biographie Leuchtende Spur (1950) mitteilt. Der Erste Weltkrieg und die chaotisch aufgewühlten Nachkriegszeiten steigerten das Bedürfnis nach einem Leben in transzendent begründeten Ordnungen. 1916-1918 lebte sie in Bern: «Von hier [Aeschi] aus schreibe ich Dir eigentlich als ein ganz anderer Mensch, beinahe so, wie ich vor 2 5 Jahren war. Ich war kaum einen Tag in der Schweiz, so fiel alles von mir ab, Wunsch, Sorge, Sehnsucht, so vieles, was mir sonst wichtig war, ohne im Grunde wichtig zu sein. Ich sehe doch, daß gerade diese Natur zu mir gehört, nur hier kann ich das Gefühl des Zuhauseseins haben, das einen so sicher macht. Es ist so schön, daß ich zuweilen Angst bekomme, es könnte alles verschwinden wie ein Traum» (an Marie Baum, 8. August 1916). Der Akzent verschob sich auf die konservativste Schweizer Stadt und zum großen Bestärker ihrer religiösen Wendung: Gotthelf. «Mein größtes Erlebnis [1916] war eigentlich, daß ich im Sommer Jeremias 114
Gotthelf kennenlernte und darin bis zu einem erstaunlichen Grad Luther wiederfand und auch mich selbst», schreibt sie der Freundin am 5. März 1917. Der fürstliche Dank ist ihr Vortrag Jeremias Gotthelfs Weltanschauung (1917), der nicht zufallig mitten in einer Reihe von Dokumenten eben jener « Seelsorge » an ihrem heimgesuchten Volk steht, zwischen den Briefen über Luthers Glauben (1916) und dem Sinn der Heiligen Schrift (1919). Die vom Krieg verschonte, neutrale, scheinbar schicksallose Schweiz wurde in den ersten Nachkriegsjahren selbst in den Augen einer Ricarda Huch zum kleinbürgerlichen, unbeirrbar rationalistischen Gegenland des leidenden Katastrophen-Deutschland. Jetzt waren ihr Dostojewski, Luther und selbst der Anarchist Bakunin näher als Keller, Zwingli oder J . Guillaume: «Was wäre die Schweiz, wenn sie Ideale hätte, wenn sie nicht im Selbsterhaltungstrieb erstarrt, wenn sie kriegsfähig wäre», fordert sie radikal im Jahre 1919 (nach M. Hoppes Buch über die Dichterin, 1936), und mit einem kritischen Seitenblick auf die Schweiz heißt es noch 19 2 5 in einem Brief an Marie Baum: « Man muß eigentlich immer um sein Leben kämpfen, um richtig lebendig zu sein»; diese Stimmung klingt noch nach in der Einleitung zu ihrer Keller-Ausgabe, wo sie unglücklich genug versucht, den Dichter bis zu einem gewissen Grad von seinem Land zu trennen. Hinter solchen Aussagen steht nicht Feindschaft, sondern die Enttäuschung einer Liebenden. Die krisenhafte Stimmung ebbte ab, schon 1929 freut sie sich auf einer neuen Schweizer Reise am «satten Dasein» in ihrem Gastland, und in den nach 1930 erschienenen Schweizer Städtebildern ist die Spiegelung wieder ungetrübt. Mehr: die wachsende Verbitterung über die unorganische, in den Kämpfen der Parteien schließlich in Trümmer gehende Weimarer Republik, dann die Verzweiflung und Scham über die Tyrannei und den Größenwahn des Nationalsozialismus ließ sie wie eine von der eigenen Heimat Betrogene im Nachbarland erneut und noch tiefer als früher den Hort hoher menschlicher und politischer Güter finden. Ihr Staat war das Kollektivwesen, in dem die weitgehend sich selbst verwaltenden Glieder ähnlich wie Gemeinden und Kantone sich freiwillig zu einem föderalistischen Bund zusammenschließen, der dem Einzelnen das Gefühl der persönlichen Verbundenheit mit dem Ganzen gibt und der letzten Endes von religiös gegründeten Ordnungs-, Freiheits- und Rechtsprinzipien durchwaltet ist. Dieses Staatsideal hatte sie im mittelalterlichen Reich lebendig gefunden und noch in der Vorstellungswelt Luthers, Goethes, Justus Mosers und des Freiherrn von Stein; sie verherrlichte es in ihren historischen Schriften und fand es auf Erden noch in manchen Gemeinschaftsformen der aus liberalen und konservativen Elementen eigentümlich gemischten Eidgenossenschaft erhalten. Im I I
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modernen Staat Bismarcks, Wilhelms II. und Hitlers, aber auch nicht unwesentlich in der Weimarer Republik sah sie dagegen «selbständig sein sollende Individuen und •willkürliches Zusammenbinden derselben zu starren Einheiten»; weder das Verlangen nach organischer Gemeinschaft noch die freie Entwicklung der sittlichen Persönlichkeit wird in diesen Staatsformen nach Ricarda Huch erfüllt. So blieb ihr die Schweiz bis zuletzt eine Parzelle verwirklichten wahren Reiches. Die ganze Fülle dessen, was dem neuidealistischen Dichtergeschlecht «antwortendes Gegenbild» sein konnte in der Schweiz, hat in reichem Zusammenklang auf Ricarda Huch eingewirkt. So erscheint in ihrem Schweizer Bild farbig leuchtend die schöne Landschaft, es erscheinen die großen menschlichen Gestalten in dem Sinne, wie sie ihr letzter Aufruf (um Material für die geplanten Lebensskizzen der Opfer des Nationalsozialismus, 1946) schildert: «Sie sind das Element, in dem der Geist wächst, das Herz rein wird. Sie reißen uns aus dem Sumpf des Alltäglichen, sie entzünden uns zum Kampf gegen das Schlechte, sie nähren in uns den Glauben an das Göttliche im Menschen.» So hat sie Böcklin, Keller, Burckhardt, Gotthelf, Pestalozzi (diesen in dem der Familie gewidmeten Kapitel des Alterswerkes Urphänomene) gesehen, die letzteren in religiöser Sicht. Es erscheint in ihrem Bild der Staat, es erscheinen die Städte als bildende Mächte - und es erscheint die große Geschichte. Die historische Schweif Noch nie hat ein Dichtergast von einer so reichen historischen Bildung aus die Schweiz erlebt. Das Land ist an sich schon geschichtlicher Boden hohen Ranges, und einiges, was in früheren Zeiten hier geschah, ist Gemeingut des europäischen Bewußtseins geworden. Der Neuidealismus hat auf seine eigene Weise Zugänge dazu gesucht. Im Vordergrund stehen nicht die alten Freiheitskämpfe eines kleinen Alpenvolkes oder die Tellfigur, welche gegen 1800 das erwachende deutsche Nationalgefühl so sehr beschwingt hatte. Die Geschichte war hier auch nicht die Magd eines politischen Parteiwillens wie bei manchen Freiheitskämpfern des neunzehnten Jahrhunderts. Ebensowenig war man durch die Freude am bloßen historischen Stoff bestimmt, wie sie die vom Geist des Positivismus und des Historismus mitgeformten wilhelminischen Modeschriftsteller kennzeichnet. Für die Verfasser sogenannter archäologischer oder Professorenromane und ihr Publikum war das weite Feld von der Pfahlbauzeit bis zur Gründung der Eidgenossenschaft ein beliebter Schauplatz gewesen: er lag weit weg von unangenehmen Tagesproblemen und bot handgreiflichen historischen Wissensstoff und zu116
gleich (etwa im Zusammenstoß zwischen heidnischem und christlichem Wesen) des Erbaulichen genug für das Idealitätsbedürfnis der Leser. Eine Genferseelandschaft zum Beispiel, wie sie Joseph von Doblhoff in seinem «Liebesroman aus römisch Helvetien» Julia Festilla (1885) kenntnisreich gleichsam zu einem literarischen Schulwandbild zusammenkomponierte, wäre bei einer Ricarda Huch undenkbar: «Dort [über Lausanne] stand ein Wachtturm, bestimmt, Signale von den Ufern des Rhodanus bis zum Jurassus zu geben. Von hier aus betrachtete der Centurio das Meer des Rhodanus, das, wie ein Spiegel ausgebreitet, halbmondförmig das Gebirge der Allobroger umschloß, an einem Ende den Hafen des, Caput laci' [sie], am andern, stundenweit in grauer Ferne, Genava im Dunste des Wassers. Die langen Reihen des Jurassus lagen farblos da; um so glänzender schienen und erhabener die Riesen an der Mündung des Rhodanus, vorgelagert dem Berge Tauretunnus und dem Poenninus im grellen Schneegewande. Wälder bedeckten die Abhänge und verdoppelten sich in dem klaren Seewasser, das . . . unbeweglich dalag. Im Osten erstreckten sich mehrere Promontoria gegen den See, auch Landzungen; bei einer derselben lag Vibiscus zwischen üppigen Gefilden auf breiter Ebene, umgeben von Weingärten. Bis Pennilucus eilte der Blick des Kriegers, die Baien entlang, über Hügel und Wäldchen, Weingehänge und immergrüne Gärten: so Schönes hatte er niemals gesehen . . . » Friedrich Theodor Vischer hat bekanntlich in seiner Pfahldorfnovelle den archäologischen Roman satirisiert. Er hat aber auch, wenngleich am abstrusen Gegenstand und halb verdeckt durch ein buntes Geschiebe schrulliger Anspielungen auf zeitgenössische Dinge, nach überzeitlichen, menschlich relevanten Gehalten im Vergänglichen gesucht, bereits im Gefühl, die Aufgabe des Verfassers historischer Dichtung sei die, die Schranke zwischen damaligem und heutigem Leben aufzuheben, ohne gegen die innere Wahrheit der Tatsachen zu verstoßen. In der neuen Zürcher Pfahlbausammlung sei ihm die Anregung gekommen: «Ich sagte mir beim Anblick dieser Dinge, daß ihre Verfertiger und Besitzer im Rückblick auf rohere Vorfahren gewiß meinten, auf der Höhe der Kultur zu stehen, just so, wie wir jetzt es meinen, nicht bedenkend, wie wir den späten Enkeln erscheinen werden, wenn sie unseren Kram nach Jahrtausenden ausgraben... Der Gedanke ging weiter: ist die Geschichte ein ewig sich wiederholendes Auf und Ab von Bildungsstufen, so fließt auch alles Vorher und Nachher ineinander, und es ergibt sich nichts Geringeres als die Relativität des Zeitbegriffs» (Mein Lebensgang). Das Dichtergeschlecht aber, dem Ricarda Huch zugehört, hat tiefer als die früheren seit dem Ende der Romantik nach den unvergänglichen Werten der Geschichte zu fragen begonnen und im Zusammenhang mit " 7
ihnen zu leben begehrt. Keine Innenwelt ist hier denkbar ohne eine besondere, schöpferische Relation zwischen Gegenwärtigem und Vergangenem, ohne einen Raum, wo für immer Vergangenes lebendig ist. So wie es den Naturalisten entsprach, auf ihre Zeit zu wirken, indem sie revolutionäre Bünde zur Umgestaltung des Lebens gründeten, so versuchten die neuidealistischen Dichter, zeitlos lebendige Tradition, Dichtung und Kunst aller Epochen als eine wirkende Macht in ihre Zeit hineinzustellen, indem sie in Anthologien, Kunstmappen usw. geistiges Gut sammelten und verbreiteten. Unter solchen Unternehmungen finden sich auch Sammlungen mit schweizerischen Beiträgen. Sie dienen nicht einer modebedingten Nachfrage nach schweizerischen Stoffen wie die Anthologien für wilhelminische Ferienreisende, auch nicht dem politischen Kampf wie die Gedichtsammlungen der Arbeiterdichter, sondern sie wollen ähnlich wie die Anthologien von Avenarius der kulturellen Substanz ihrer Zeit lebendige Kräfte zuführen. So sind die von Wilhelm von Scholz besorgten Auswahlen aufzufassen {Der See. Ein Jahrtausend deutscher Dichtung am Bodensee, 1915, und Minnesänger der Schweif. Freie Nachdichtungen, 1925) und ebenso das schweizerische Gut in Borchardts Ewigem Vorrat deutscher Poesie oder in Hofmannsthals Deutschem Lesebuch, das Stellen aus Johannes von Müller, Lavater, Burckhardt, Gotthelf und andern Schweizern zum bleibenden Geisteserbe deutscher Zunge schlägt. Die erste Bildermappe des Kunstworts war Böcklin gewidmet. «Ich wollte versuchen, ob der Dichter das tun könnte, was die Zeit tut, wenn die Wissenschaft ihr nicht dazwischenfährt, daß sie nämlich das einmalige geschichtliche Ereignis in ein ewig gültiges verwandelt, indem sie das Unwesentliche durch das Sieb rinnen läßt und das Ewigmenschliche zurückbehält», sagte in gleichem Geiste Ricarda Huch in einer Zürcher Ansprache am fünfzigsten Jahrestag ihrer Promotion, 1942. Und demselbenBlick (für den Geschichte letztlich eine Manifestation des Göttlichen war) tat sich auch die Geschichtstiefe der Gegenwart auf. Die Schweiz bot der geschulten Betrachterin auf Schritt und Tritt «historische » Anschauung, d.h. die Spur weiterwirkender geschichtlicher Kräfte - darunter solcher, die das mittelalterliche Reich geformt hatten, aber später in Deutschland unterdrückt worden waren. Man weiß, wie reich Ricarda Huchs Städtebilder durch diese Sicht wurden und wie tief solche Eindrücke ihr Bild der Reichsgeschichte und des idealen Staates beeinflußt haben: «Hier in der Schweiz schien mir das wahre, das unentstellte Deutschland zu sein, dem ich mich zugehörig fühlte, hier wurden noch die beiden großen Tendenzen des mittelalterlichen Reiches, die universale und die föderalistische Idee, hochgehalten und verwirklicht. Auch 118
die eigentümliche Mischung von demokratischen und aristokratischen Elementen, wie sie in den Städten des Mittelalters sich ausgebildet hatte, war hier erhalten geblieben . . . Das neue Reich war, fand ich, etwas von Grund auf anderes, es schloß sich nicht an das Mittelalter, sondern an den Absolutismus. Den haßte ich» (Frühling in der Schweif). Jacob Burckhardt erschien einer Ricarda Huch, einem Borchardt und andern Dichtern als ein Meister in dieser Kunst, sich den Reichtum des Vergangenen lebendig neu anzueignen; einige, denen aus solcher Artung heraus auch künstlerisch der Ausgleich zwischen den Freiheitsrechten der Phantasie und dem Anspruch der historischen Wahrheit gelang, führten nach der Jahrhundertwende eine neue bedeutende Zeit der historischen Dichtung herauf. Das eine oder andere dieser Werke spielt auf schweizerischem Boden - nicht in der sonst so bevorzugten Frühzeit, sondern in der Renaissance und in der Reformation. So stellt Werner Bergengruen, hingerissen vom großartigen Schauspiel des Ineinanderwirkens mächtiger Charaktere und großer historischer Konstellationen, im Roman Herzog Karl der Kühne, oder Gemüt und Schicksal (1930) Renaissance an seinem Adrian von Bubenberg oder Nikiaus von Dießbach dar: «Das nämlich ist die Herrlichkeit des Menschen, daß er mit dem Entschluß eines Augenblickes den Ablauf von Jahrhunderten bestimmen kann.» Und einen marschierenden Trupp Landsknechte sieht er wie mit den Augen eines Urs Graf: «Die Leute rannten fast mit ihrem stolzen freudigen Beinwerfen, das sich unbefohlen zu taktmäßigem Marschtritt zusammenfand. Die achtzehn Fuß langen Zweihand spieße federten über den Schultern wie Gartenstangen. An den Hüften tanzten die Habersäcke mit dem Vorrat für die gewohnte Feldkost - Habermus mit Speckbrocken an den Gürteln klapperten die aus Holz oder Schafhuf geschnitzten Löffel. Rennen und Schleppen war den Männern nicht genug, sie mußten schreien, sie mußten singen: ,Wir zünden das Schloß inwendig an, daß es in Grund und Boden verbrann! Bumperlipuml Aberdran! Heiahan!' Flöten und Schwegelpfeifen kreischten.» Der Zauber der rätselhaften Persönlichkeit Calvins, die Welt des im Gottesbann liegenden Genf sodann ist in Josef Pontens Roman Die Studenten von Lyon (1927) tief vergegenwärtigt vor einer weiten Perspektive, die den gewaltigen, ganz Europa umfassenden Konzeptionen der Genfer und Zürcher Reformatoren im Zeitalter der nunmehr auf das religiöse Feld verlegten Freiheitskämpfe angemessen ist*0. 119
Der Zauber der Kleinstadt Bei Dichtern neuidealistischer Prägung stellt sich gern ein organisch zu ihrer Welt gehörendes Nebenmotiv ein: die schweizerische Kleinstadt. Sie nimmt den Dichtergast heraus aus dem Gewohnten und spinnt ihn ein in die Poesie ihres Stadtbildes, ihrer holprigen Gassen und verträumten Brunnen, ihrer hohen Giebeldächer und blumengeschmückten Erker. In manchem Besucher hat sie den heimlichen Romantiker geweckt. Würde man diejenigen Städtchen, welche als Schauplätze deutscher Dichtungen dienen, auf der Karte eintragen, so gäbe es ein ansehnliches Feld schweizerischer Dinkelsbühle, von Chur bis Solothurn, von Bremgarten bis Estavayer. Die Kleinstadt schenkt auch ein Gemeinschaftserlebnis, das nicht minder tief zu berühren vermag: hier kann keiner die andern aus dem Auge verlieren, das Leben ist in seinem sozialen Zusammenhang überschaubar. Auch die Schweizer Großstädte bergen im Stadtbild und in der Menschenart einen kleinstädtischen Kern - wie sehnt sich der von Land zu Land getriebene Emigrant Max Herrmann-Neiße nach der Geborgenheit des biedermeierischen Zürich, ... .«wo die Gassen zu vergangner Zeit bei den Stätten stolzer Zünfte steigen, überall ein Brunnen tröstlich rinnt, Menschen sich das Glück beim Wein erschweigen und der Tag mit gutem Mut beginnt.» {Um uns die Fremde, 1936) Emanzipierte Geister wie Wedekind haben die Kleinstadt mit ihrer Enge verhöhnt, konservativere aber, die in der modernen Großstadt die Zerstörerin uralter bergender menschlicher Ordnungen sahen, haben sie ausgespielt gegen die Feindin. «Ich glaube, daß es eine Grenze des Umfangs gibt, jenseits welcher die Dinge und Verhältnisse nicht mehr schön, nicht mehr zweckdienlich, nicht organisch mehr sein können, und ich glaube, daß wir diese Grenze überschritten haben», sagt die Warnerin Ricarda Huch im Vorwort zum ersten Band ihrer Lebensbilder deutscher Städte (1927); im Januar 1919 war sie dafür eingetreten, daß die Deutschen aus den überfüllten Großsiedlungen auszögen in die vielen kleinen Städte ihres Landes, «um dort ein menschenwürdiges Dasein aufzubauen». Auch die Schweizer Städte maß sie daran, ob ihr Bild schön, ihr historischer Hintergrund weit und die Ordnungen in ihnen bewahrt und überschaubar waren. 120
Vor allem bot die Kleinstadt dem Dichtergast, «ins Enge gebracht», das neuidealistische Grunderlebnis der Geschichte: Vergangenheit wird Gegenwart, und Gegenwart verschmilzt mit Vergangenheit, und beide bergen zeitlose Schönheit und Wahrheit. So hat der badensische Idylliker Heinrich Vierordt unermüdlich in Gedichten an der Nachbarstadt Basel alles gepriesen, was in ihr spitzweghaft-versponnen ist: die grüngestrichenen Regenwasserfässer in den Gärten, eine geheimnisvolle Grabplatte mit der Aufschrift «Candidior nive» im Münsterkreuzgang, das Käppelijoch auf der Brücke und nicht zuletzt im Buch meines Lebens (1934) den kauzigen Hagestolz Jacob Burckhardt. Auch Toni Rothmunds Basler Roman Das Haus ^um Kleinen Sündenjall (1918) spürt stellenweise solcher Kleinstadtpoesie nach31. Ricarda Huchs wissenschaftliche Studie über das Städtchen Estavayer (1932) wird unversehens zur dichterischen Verklärung eines schweizerischen Germeishausen, in dem das Leben längst vergangener Zeiten festgebannt zu sein scheint: «War nicht etwas eigentümlich Fernes und Klangloses in diesen abgerissenen Lauten [der Kinderstimmen auf den Straßen] gewesen? Und warum sahen die wenigen Menschen, die über die Straßen gingen, mich so staunend und fragend an ? Es schien mir jetzt, daß auch die Katzen, die in der Sonne lagen, fremdartig aussahen, ein Katzengeschlecht, das es vor Hunderten von Jahren einmal gegeben haben mochte. Und mein Begleiter ? Auf einmal kam es mir in den Sinn, daß er gerade so aussah wie vor vierzig Jahren, als ich ihm zuletzt begegnet w a r . . . Es ist, als sei das Städtchen von einer undurchdringlichen Atmosphäre umhüllt, die es von der vorwärts hastenden Welt schiede und in seiner mittelalterlichen Besonderheit erhielte.» Und nachdem im Zweiten Weltkrieg in mancher deutschen Großstadt auch der kleinstädtisch-mittelalterliche Kern in Schutt und Trümmer gelegt worden war, da war es nicht zufällig einer aus dem Geschlecht der hier betrachteten Dichter, der noch einmal großgeschaut zusammenfaßte, was der verlorene Reichtum bedeutete: «Es ist damit nicht nur ein großes edles Gut vernichtet, eine Menge hoher Werte an Tradition, an Schönheit, an Objekten der Liebe und Pietät zerstört; es ist auch die bildende und durch Bilder erziehende Umwelt der künftigen Geschlechter und damit die Seelenwelt dieser Nachkommen eines unersetzlichen Erziehungs- und Stärkungsmittels, einer Substanz beraubt, ohne welche der Mensch zwar zur Not leben, aber nur ein hundertfach beschnittenes, verkümmertes Leben führen kann» (Hermann Hesse, 30. März 1947 an Prof. Ernst Beutler in Frankfurt a. M.; Brieje, 1951).
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Die Erneuerung der irrationalen und der religiösen Kräfte Der neue Irrationalismus «In unserer [Münchner archäologischen] Seminarbibliothek hat er [Albert Schuler] die damals vergessenen oder überhaupt unbeachtet gebliebenen Werke Bachofens Gräbersymbolik, der Alten und Mutterrecht entdeckt, deren mystisch symbolische Tendenz seiner Abneigung gegen die rational kritische Haltung der modernen Altertumswissenschaft und seiner romantischen Sehnsucht, einem widerwärtigen Zeitalter 2u entfliehen, entgegenkam.» Mit diesen Worten hält der deutsche Archäologe Ludwig Curtius in seinem Erinnerungsbuch Deutsche und antike Welt (1950) einen wesentlichen Akt in der Geschichte des neueren deutschen Geisteslebens fest. In München hatte sich gegen die Jahrhundertwende um Schuler, Ludwig Klages und Karl Wolfskehl der Kreis der Kosmiker gebildet: Dichter und Gelehrte, die in Welt und Wissenschaft um sich her einen verhängnisvoll einseitig zerebralen Menschentypus überheblich am zerstörerischen Werk sahen. Der letzte schwache Zusammenhang des Menschen mit irrationalen Urkräften der Seele drohte zu zerreißen. Sie aber, die Kosmiker, setzten der geheimnislosen Zeit des flachen Verstandes ihr Verlangen nach Fülle strömenden inneren Daseins entgegen. Rückhaltlos überantworteten sie sich, manchmal in rauschhaften kultischen Festen, dem lange unbeachteten, dunkel mit überpersönlichen prälogischen Seinsgründen zusammenhängenden unterbewußten Leben, aus dem die mythischen Bilder der Menschheit aufstiegen. In Karl Wolfskehls (ebenfalls eines Bachofen-Entdeckers) ekstatischen Gedichten drängen sie ins künstlerische Gebilde. Stefan George zog sich bald aus dieser Welt der formlosen Gewalten wieder zurück; ein mit den Initialen Schulers überschriebenes Gedicht im Jahr der Seele hält das Bild jenes Kreises fest: «So war sie wirklich diese runde ? da die fackeln die bleichen angesichter hellten, dämpfe stiegen aus schalen um den götterknaben und mit deinen Worten in wahnesweiten grell-gerötet uns erhoben ? daß wir der sinne kaum mehr mächtig, wie vergiftet nach schlimmem prunkmahl taglang uns nicht faßten, stets um die stirn noch rosen brennen fühlten, leidend für neugierblicke in die pracht verhängter himmel.»
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Es ging aber um mehr als die Entfesselung irrationaler Kräfte; es ging auch um eine Rezeption neuentdeckter, aus dem Irrationalen stammender und das Irrationale nährender Schöpfungen der menschlichen Frühzeit. Und hier wurde Bachofens Werk wirksam, mit unterschiedlicher Kritik durch Schuler, Wolfskehl und Klages aufgenommen - und durchaus nicht im Sinne des Christen Bachofen. Er erschloß ihnen aus Grabdenkmälern und symbolischen Bräuchen den Sinngehalt antiker chthonischer und orphischer Urreligionen. «Jeder von ihnen fand in den reichen Schätzen des Basler Patriziers die Bestätigung seines eigenen Seins und Sinnens: Wolfskehl in den mannweiblichen Mischungsformen orientalischer Götterkulte, Schuler im Kult der Erdmutter und in den aus Gebräuchen und Geräten erschlossenen , Substanzen' des römischen Altertums, Klages in den Zeichen und Sinnbildern des pelasgischen Menschen. Allen dreien aber bedeuteten die Forschungen Bachofens die Bestätigung ihres Glaubens an die Macht des frühesten Heidentums, an die Wirklichkeit einer bisher verschütteten Menschenwelt, welche alle folgenden Zeiten an Lebensfülle überschattete, ja sie mit ihren Kräften genährt hatte und deren letzte Reste eben in Gefahr waren, vielleicht vernichtet zu werden» (Friedrich Wolters: Stejan George und die Blätter jv.r die Kunst, 1930). Eine ebenso tiefe Bestätigung ihres «Seins und Sinnens» erfuhren sie durch Bachofens Lehre vom Symbol - es war gegenüber der damals herrschenden Wissenschaft wie die Eröffnung einer neuen Erkenntnisweise : unmittelbares Empfangen von Wahrheit durch das geschaute Symbol. « Das Symbol erweckt Ahnungen, die Sprache kann nur erklären. Das Symbol schlägt alle Saiten des menschlichen Geistes zugleich an, die Sprache ist genötigt, sich immer nur einem einzigen Gedanken hinzugeben. Bis in die geheimsten Tiefen der Seele treibt das Symbol seine Wurzel, die Sprache berührt wie ein leiser Windhauch die Oberfläche des Verständnisses. Jenes ist nach innen, diese nach außen gerichtet... Worte machen das Unendliche endlich, Symbole entführen den Geist über die Grenzen der endlichen, werdenden in das Reich der unendlichen, seienden Welt. Sie erregen Ahnungen, sind Zeichen des Unsagbaren, unerschöpflich wie dieses, mysteriös wie jede Religion» (Versuch über die Gräbersjmbolik der Alten, 1859). Diesen erstaunlichen Entdeckerworten kamen tiefe Bereitschaften der Kosmiker entgegen. Wolfskehls Aufsatz über die Dunkelheit in den Blättern jür die Kunst (3. Folge, Band 5), der die Erkenntnis durch die Schau des Gleichnisses gegen die angemaßte Scheinerkenntnis durch den rationalen Begriff ausspielt, ist ein solches Zeichen der Übereinstimmung. 123
Bachofens Wirkungen gingen weit über den Kreis der Kosmiker hinaus. Bald werden sie faßbar bei einigen im «volkhaften» Stil dem Kult des Blutes und der mütterlichen Erde ergebenen Dichtern wie Hermann Burte und Josef Winckler, bald bei einem sein Werk aus der Tradition der großen Menschheitskulturen fördernden Dichter wie Hofmannsthal, für den das Mutterrecht wesentliche Aufschlüsse über die Probleme der Elektro, über die bildschöpferischen Gründe der menschlichen Seele und das Leben schlechthin enthielt: «Was das Buch mir bedeutete, läßt sich kaum sagen. Ich rechne diesen Mann seit damals wahrhaft zu meinen Lehrern und Wohltätern, und ausgelesen habe ich seine Bücher bis heute nicht.» Vergröbert und ins Sensationelle gezogen wird die Lehre vom Matriarchat in Gerhart Hauptmanns Insel der Großen Mutter (1924), während sie andrerseits für die neuzeitliche Frau ein Mittel der tieferen Selbsterfassung wurde. Rainer Maria Rilke hörte 1915 und 1917 in München Vorträge Schulers und erhielt aus dessen Händen eine Schrift Bachofens, deren Titel nicht mehr feststellbar ist. Wenn er bei Schulers Tod an Clara Rilke schreibt: «In den Sonetten an Orpheus steht vieles, was auch Schuler zugegeben haben würde» (23. März 1923), und wenn er, seinen Basler Vortragsabend vom 14. November 1919 einleitend, Bachofen preist, so darf man wohl auf Einwirkungen von Gedanken des Baslers über die frühreligiöse Symbolwelt und die Orphik der Alten auf Rilkes an sich durchaus eigenartige Vorstellungswelt schließen. Rudolf Krämers Frankfurter Dissertation Rilke und Bachojen (1939) macht Vermutungen durch Indizienbeweise zu Gewißheiten. Insbesondere zeigt die Symbolik des späten Rilke (Ball, Spiegel und Schild, Tanz) und überhaupt sein Hang zu den Geheimnissen der Vorzeit starke Anklänge an die von Bachofen geschilderte Welt, und das irdische Leben im Angesicht der nahen, befreiend verheißungsvollen Totenreiche, wie es die Duineser Elegien und àie. Sonette an Orpheus kennen, ist antiker Orphik nahe und ihrem großen Deuter Bachofen. Dem Dichter Hermann Hesse war nach schweren Krisen 1916 der Zugang zu den rettenden Gründen der eigenen Seele, das Aufgehen in dem urmütterlichen Grund, die große Befreiung : «Mutterworte hör ich wieder klingen Aus vergeßnem Schacht, ihr dunkler Klang Will mir alle Wonne wiederbringen, Die mir einst im Kinderherzen sprang . . . Väter, oh, wie habt ihr uns belogen ! Kampf und Leid und Krieg war euer Erbe, Nehmt es wieder, daß es endlich sterbe! 124
Heimgekehrt zum alten Mutterland, Hören wir der Alten freie Lieder, Und der dürre Stab in unsrer Hand Grünt und wird zum Zauberstabe wieder.» Auch hier sind Bachofens Konzeptionen neben denen der Tiefenpsychologie offenbar wirksam geworden. Im ganzen gesehen, war Bachofens Werk neben Böcklins Malerei, neben romantischem und vorromantischem Geistesgut eine der treibenden Kräfte des neuen Irrationalismus, der mit Nietzsche, zum Teil auch mit der Psychoanalyse und mit den neuidealistischen Dichtern in die deutsche Literatur eintrat. Der Mensch wurde wieder heimisch in der Zeichenwelt und in der Wahrheit des irrationalen Weistums aller Zeiten und Zonen und in den unbewußten Schichten der eigenen Seele, und die bildschöpferischen Kräfte des Dichters wurden befreit und befruchtet. Später war es Carl Gustav Jung, der den dichterischen Irrationalismus mit seiner Forschung förderte, namentlich durch die Begriffe des kollektiven Unterbewußtseins, des Archetypus und die Praxis des symbolsichtigen Sehens. Im einzelnen harren diese Wirkungen noch ihres Darstellers. HessesDemian (1919) schildert paradigmatisch in Jungs Zeichen einen seelischen Heilungsprozeß und redet dem irrationalen Erkennen das Wort: «Andre [Menschen der Zeit] standen uns näher, welche das Suchen der Menschheit nach Göttern und neuen Wunschbildern in der Vergangenheit verfolgten... Und aus allem, was wir sammelten, ergab sich uns die Kritik unserer Zeit und des jetzigen Europa Es hatte die ganze Welt gewonnen, um seine Seele darüber zu verlieren.» Als fünfzehn und mehr Jahre später Thomas Mann, an seinem Josephsroman arbeitend, die menschlichen Gültigkeiten alter Mythen mit Staunen, wenn auch ihrer Schranken bewußt, ermaß, fand er sich bestätigt und angeregt durch (z. T . gemeinsam mit Jung geschaffene) Arbeiten Karl Kerenyis. Mythos und Psychologie solchen Grades vereint kamen ihm sogar als das höchste zukünftige Bildungsmittel eines neuen führenden Menschentypus vor (Altes und Neues, 1953). Die Erneuerung des religiösen Gejähls außerhalb der Kirchen Das letzte Ziel des Irrationalismus der Jahrhundertwende war eine neue Religiosität. Auch von anderen Richtungen des Neuidealismus her münden die Wege hier aus. «Gott ist tot», hatte Nietzsche herausfordernd verkündet in einer Zeit,
als das lebendige religiöse Gefühl unter kirchentreuen Orthodoxen häufig in engem Buchstabenglauben erstickt oder zu einem unverbindlichen, konventionellen, dekorativen Lebenszubehör geworden war. Weit herum herrschte überdies stumpfe Gleichgültigkeit. Die Kirchen standen in Abwehr gegen eine angriffslustige Gottesleugnerbewegung, deren Arsenal die materialistische Natur- und Geisteswissenschaft der Zeit war. Was von hier als Halbbildung in die Massen sickerte, war ebenfalls nicht dazu angetan, Nietzsches heftigen Ausspruch zu entkräften. In den achtziger Jahren schien es, als ob der Kampf um die Gottesfrage — ein chiliastischer Endkampf mit eindeutig feststehendem Ausgang nach der Meinung von Streitern wie dem jungen Gerhart Hauptmann - nur noch zwischen Kirchen und Freidenkern geführt würde. Wie weit auf dem literarischen Kampffeld Impulse von der Schweiz her in dieses Ringen hineinwirkten, wurde in den Kapiteln über den Wilhelminismus und über die modernen Freiheitsbewegungen bereits angedeutet. Forel hatte diejenigen bestärkt, die gegen den Gottesglauben ins Feld zogen. Einige Schweizer Motive, etwa die von den Naturalisten verhöhnte Frömmigkeit der großen Schweizer Geldverdiener, spiegeln überdies aus weiter Ferne den Kampf der Atheisten. Die vermeintlich rettungslos zurückgebliebene katholische Schweiz ist ein Hauptgegenstand des Abscheus. Der Liberale Joseph von Doblhoff z. B. schließt seine in Disentis spielende Erzählung Madonna (1887) mit einem Anathema wider das Mönchswesen: «Unzählige Elende lebten seither in jenen Grüften, maßloses Leid bergen die Klosterzellen.» Auch die orthodox-christliche Gegenseite hat einen Teil ihres Kampfes in einigen auf Schweizer Boden spielenden Werken zumeist der erzählenden Erbauungsliteratur geführt. Sie läßt in der Regel inmitten der gottbegnadeten Landschaft der Schweiz und vor dem Hintergrund ihres musterhaft patriarchalisch-idyllischen Sennenlebens die Feinde der Orthodoxie zu Widerlegung und Bekehrung antreten. Die bayrische Schriftstellerin Maria Gerner z.B., schon seit ihren Kinderjahren in der Schweiz ansässig, verlegte die Handlung ihres späten Romans A.uj der Fluh (1908) ins Lauterbrunnental, wo ein atheistischer deutscher Professor durch die sehr zufällige Errettung seiner Nichte aus Bergnot sowie durch das Vorbild eines frommen Schweizer Landschaftsmalers recht klischeehaft zur Ehrfurcht vor Gott gebracht wird. Außer bei einigen wenigen Einzelgängern (wie etwa Hermann Oeser) ist in den achtziger Jahren von einer Erneuerung der Glaubenskräfte innerhalb des Christentums wenig zu spüren. Bedeutsam dafür wurden aber jene gegen den Naturalismus aufstehenden Dichter (etwa ein Rilke, ein Morgenstern, ein Hofmannsthal), die gewissermaßen in einer dritten 126
Front jenseits von Atheismus und kirchlicher Orthodoxie eine unmittelbare, durch die Mystik aller Zeiten genährte Beziehung zum Transzendenten suchten. Sie haben nach der Jahrhundertwende die metaphysische Tiefe des Lebens wieder reich und voll zu erfahren gesucht, und einige, allen voran Rilke, sind später fast als Stifter neuer Glaubensgewißheiten verehrt worden. Bachofen und Jung gehörten zu den Wegbereitern. Das krönende Werk dieser freien mystischen Religiosität, Rilkes Duineser Elegien, ist nach langen Jahren eines verzweifelten Ringens 1922 im Schutz des Schlößchens Muzot im schweizerischen Wallis vollendet worden. Christian Morgenstern, ein Dichter, der mit allen sinnenhaften und seelischen Zartheiten eines Impressionisten begabt war und in dem Nietzsche den Willen zur Größe geweckt hatte, sah schon früh sein Leben durch die Schwindsucht bedroht. In einem unablässigen Kampf verwandelte dieser «auf einer Todestiefe Schwebende» seine physische Schwäche in geistige Stärke, indem er, ein Künstler des Wachstums, in sich selber ein Unverletzliches fand und transparent wurde für den tragenden, auch den Menschen im Innersten berührenden göttlichen Weltgrund und so den Stachel des Todes überwand. Den Sinn seines persönlichen Lebens, das reine Suchen nach der «Grundlage einer neuen Weltanschauung und Religion», wie er es 1906 nannte, sah er im Lauf der Jahre mit dem höchsten Sinn seiner Zeit eins werden: «Es ist der Weg einer gereinigten, . . . vergeistigten Religion, die nicht gerade mit den offiziellen Kirchen, aber um so mehr mit den großen Lehrern der Menschheitsentwicklung zu tun hat» (Juni 1909). Dieser starke, reine und gütige Geist nahm dankbar in sein Wachstum auf, was ihm auch die Schweiz zu bieten hatte: die läuternde Kraft der Landschaft vor allem (dem stillen Tal von Wolfenschießen gelten einige die Natur zart durchseelende Gedichte im Band Und aber rundet sich ein Kran1902; spätere Hochgebirgsgedichte, entstanden während Kuraufenthalten in Arosa und Davos, sind Zwiesprachen mit der geheimnisvollen Weltseele), sodann die Sammlung und Anregung, welche ihm die Städte Zürich, Basel, Lausanne, Genf und die «drei brüderlichen Völker» des Gastlandes und manche seiner Großen schenkten. «Die Schweiz wird nun wunderbar sein! Ich habe so viel tiefe innere Beziehungen zu ihr», schreibt er am 29. Mai 1909 von Budapest aus an seine Gattin. Ein Jahr vorher hatte er in Rudolf Steiners Anthroposophie die Lehre gefunden, die seinen Vorstellungen von einer neuen Religion entsprach. In Dornach bei Basel gründete Steiner die freie Hochschule einer Bewegung, die mit der Zeit in die ganze Welt hinausdrang. Der Name Dornach ist aus der Geschichte neuerer esoterischer Lehren nicht mehr hin127
wegzudenken; im Schrifttum der Anhänger wird er mit dem Zauber umwoben, der ein Eleusis oder andere Mysterienstätten vor Zeiten umgab. Noch dem in Bozen den letzten Kampf kämpfenden Christian Morgenstern ist der magische Name eine religiöse Verheißung: «Ich kann kaum zwanzig Schritte gehen, geschweige steigen. Aber dann Juni Dornach I», schreibt er am 3. März 1914 an Michael Bauer. In den dichterischen Werken deutscher Anthroposophen erscheinen mitunter auch schweizerische Dinge in eigener Sicht, in ein merkwürdig magisches Zwielicht getaucht. Berge und Menschen sind transzendierende Wesenheiten, Erdmächte und kosmische Mächte offenbaren sich in dem Äußeren der Welt, das hier wie für Novalis ein in «Geheimniszustand erhobenes Inneres» ist. In der Gestalt des Johannes hat Alfred Meebold einen jener gleichsam medial mit der Natur verbundenen Eigenbrötler aus dem schweizerischen Volk geschildert (Hotel Mooswald, 1928), und der 1923 als Zwanzigjähriger nach Dornach gekommene Württemberger Paul Bühler sieht in seinen Schweizer Romanen und Gedichten durch Landschaften und Menschen wie durch gläserne Wände hindurch göttliche und dämonische, irdische und kosmische Kräfte in recht subjektiver Auffassung (Der Kampf mit dem Gorgohaupt, 1928). Die christlichen Konfessionen Die aufbrechenden religiösen Kräfte drangen befruchtend auch in die christlichen Konfessionen ein. Bald trugen Dichter aus dem Bereich des Neuidealismus die Glut einer neuen, persönlichen Gläubigkeit in sie hinein (wie etwa die Protestanten R. A. Schröder und Ricarda Huch), bald sandten Konvertiten wie Hugo Ball, Gertrud von le Fort und Werner Bergengruen durch die neue Unbedingtheit ihres religiösen Gefühls verjüngende Impulse in die römische Kirche aus. Ihr Werk, kämpferisch in die Zeit gestellt, empfängt seine Wucht vom Glauben an jene grundlegende, von transzendenten Kräften gnadenhaft durchströmte Hierarchie, die vom Weltenschöpfer über die irdischen, von dämonischen Mächten bedrohten Heilsordnungen der Volksgemeinschaft, der Familie und der Ehe bis zu Pflanze, Tier und Stein reicht und in die aufgenommen zu sein dem christlichen Menschen höchstes Daseinsziel ist. Diese hierarchische Weltvorstellung war gefährdet durch die Anstürme des älteren materialistischen Atheismus und durch die Indifferenz in niederen und höheren Ständen des späten Jahrhunderts; gegen neue zersetzende Mächte hatte dieses Glaubensbild sich im geistigen Wirrwarr der Weimarer Republik zu behaupten, und nach 1933 sowie nach 1945 hatten die Träger des erneuerten Christentums die schwersten ihrer Pro128
ben zu bestehen: die Verfolgung durch ein scheinbar allmächtiges Reich des Antichrist und hernach das Ringen um eine neue Heilsgewißheit mitten in den höhnischen Ruinen des totalen Krieges. Die führenden dichterischen Verjünger des Protestantismus und Katholizismus waren fast alle mit der Schweiz verbunden. Anders als bei den Orthodoxen alten Schlages ist der Inhalt ihres Schweizer Erlebnisses aber nicht ein Ausruhen in Idyllik und selbstzufriedener Selbstbestärkung, sondern zum mindesten ein Akt der konzentriertesten Sammlung, wenn nicht des Ringens um vertiefte Heilsgewißheit. Das «antwortende Gegenbild» des christlichen Deutschen ist eineDreiheit aus christlichen Menschen des Gastlandes, großer Landschaft und religiösen Heilszeichen im Lande herum. Den Schriftsteller Hermann Oeser brachte die Verwüstung des inneren Lebens unter der Herrschaft des wilhelminischen Prosperitätsgeistes auf den Plan, aber auch die Emanzipation derjenigen atheistischen Modernen, bei denen er nichts als die Selbstherrlichkeit des Ich fand. Als einer, der selbst den Weg vom Glauben durch den Unglauben zum erneuerten Glauben gegangen und dabei auch für Denker wie Amiel und Kierkegaard empfänglich geworden war, kannte er das Versagen der rationalistischen orthodoxen Theologie und forderte eindringlich ein pietistisch gestimmtes Christentum aus innerster Gottesergriffenheit. Fast jeden Sommer zog es ihn in die voralpinen Landschaften der Schweiz. Sein Briefwechsel mit der Bernerin Dora Schlatter ist ein kleines Beispiel für das wechselseitige Geben zwischen christlichen Glaubensgenossen über die Landesgrenze hinweg, gegründet auf der erquickenden Anschauung gelebter christlicher Existenz, wie der Gast sie in einer für alle seinesgleichen fast urbildhaften Begegnung mit Doras Vater erlebte: «Wenn man viel mit,modernen' Menschen und Problemen zu tun hat, dann atmet man auf, wenn man auf solch einen Mann stößt, der nicht im Spital der Zeit an seinen seelischen Gebresten krank liegt, sondern wie ein Kind und Held im Sonnenlicht des Evangeliums wandelt» (Emmy Oeser: Briefwechsel ^wischen Hermann Oeser und Dora Schlatter, 1920). Enge Beziehungen verbinden auf dem neupietistischen Schauplatz der religiösen Erneuerung vornehmlich süddeutsche Gesinnungsfreunde mit den Schweizern. Basel war seit langem eine Stätte, wo pietistische Einflüsse aus Deutschland wirksam wurden - es sei an die 1815 gegründete Basler Missionsgesellschaft erinnert. In neuerer Zeit ist der Name Helene Christaliers ein Symbol für die nachbarliche Verbundenheit im Zeichen des Neupietismus. Wie sehr die Schriftstellerin immer tiefer das Ganze ihres Gastlandes erfassen lernte, zeigt das Bild der universalen, europäischen und christlichen Schweiz in ihrem Spätwerk Die Brüche 129
[1938], mutig dem Nationalsozialismus entgegengehalten. Kaum ein Buch aus diesem Kreis, in das nicht ein Strahl vom Licht der Pilgermissionsanstalt auf St. Chrischona bei Basel fiele. Es ist in neupietistischen Augen etwas wie ein protestantischer Gnadenort: «Eine Pflanzstätte des Evangeliums ist dort geworden, und gleich einer Fackel strahlt es von dort hinaus in alle Lande bis hinüber über die Ozeane», heißt es in Käthe Papkes Erzählung Die Letzten von Rätteln (etwa 1910). Über persönliche Begegnungen dieser Art ragen diejenigen mit großen Schweizern christlichen Geistes empor. Zwei sind in den Rang von religiösen Nothelfern in Zeiten bitterster deutscher Heimsuchung erhoben worden: Gotthelf und Nikiaus von Flüe. Wer vor 1900 ein schweizerisches Künstler- und Dichtertriumvirat nennen wollte, kam auf die Namen Böcklin, Keller und Meyer und nicht auf die heute geläufigere Gruppe Gotthelf, Keller und Meyer. Gotthelfs erster Ruhm vor 1850, als sein Berliner Verleger Springer begeistert für ihn eingetreten war, unterstützt durch die modische Leidenschaft der damaligen Leser für Bauern- und Dorfgeschichten, war gegen die Jahrhundertwende vergessen. Erst als man gesunde Bodenständigkeit im Gegensatz zum geistigen Klima der Großstadtliteratur wieder zu schätzen begann, setzte der neue Ruhm Gotthelfs ein - in den Kreisen der Heimatkunst. Es mußten aber zuerst deutsche Dichter durch den Ersten Weltkrieg bis ins Innerste aufgewühlt sein, ehe ihnen die Augen für einen größeren Gotthelf aufgingen. Der Christ, der «trans2endierende» Mensch Gotthelf wurde jetzt entdeckt; mitten in der Nachkriegsnot begriff Hofmannsthal auf einmal den prophetischen Warner, und für Ricarda Huch wurde er derjenige Dichter, der gewaltig die höchste Wahrheit verkündete: daß der Mensch einzig durch die unbedingte Partizipation an der ewigen göttlichen Hierarchie der Ordnungen zu retten sei. Die Ursache für die tiefen Zerspaltungen des modernen Geistes sah sie im Abfall von diesen großen Ordnungen, die bei Gotthelf in monumentalen Urbildern aufgerichtet waren: «Indem der moderne Mensch sich auf sich selbst stellt anstatt auf Gott, überspannt er seine zentrale Kraft, seinen Geist und sein G e m ü t . . . Bei größeren Gemeinschaften, Ehe, Familie, Nation, führt die vermehrte Selbständigkeit der Individuen und ihre Loslösung aus dem natürlich-göttlichen Grund und Mittel gleichfalls zur Auflösung und zum Zerfall. Die Hemmung der Natur auf der einen und die Überspannung der geistigen Kraft auf der anderen Seite . . . bewirkt die Auflösung des Einzelnen wie der Gemeinschaften, das Hinausgehenwollen über die Art ohne Gott führt zur Entartung... [Gotthelf aber] ist der Dichter des Menschen, der ewig derselbe ist; deswegen weht auch in seinen Werken eine Luft wie in der Bibel und in 130
Homer, sie sind von Himmel und Erde umfangen» (Jeremias Gottheljs Weltanschauung). Und als dreißig Jahre später die deutsche Welt noch tiefer zerstört dalag, da wurde die «ebenso großartige wie weitherzige Geschlossenheit der Seelen- und Menschenschau, der Welt- und Gotteserfassung durch Gotthelf» erneut in einem deutschen Gotthelf-Buch in die deutsche Leserschaft gestellt: wiederum eine Aufforderung, «das reiche Angebot an Hilfe, das in seinem Werke vorliegt», fruchtbar zu machen (Otto Wilhelm: Die rechte Ordnung, 1949)32. Die Katholiken erkannten in Nikiaus von Flüe eine Heilsbringergestalt: 1929 z. B. stellte Hedwig von Redern in ihrem kleinen Buch über den Einsiedler ihrem Land das Urbild eines die großen irdischen und himmlischen Ordnungen bejahenden, in rätselvollem Gotteszusammenhang lebenden Menschen hin. Größer und glühender sah ihn unter den Erschütterungen der Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg der katholische Dichter Reinhold Schneider als ein Beispiel großartigen Gehorsams vor göttlichen Satzungen: «Einige wenige müssen zum zentralen Feuer dringen, wenn das Ganze leben soll . . . Der Ernst seines Ringens und Betens müßte Wurzel fassen in unserem persönlichen Leben» {Vom Tun der Wahrheit, 1948). Sodann ist in christlicher Sicht die schweizerische Landschaft beinahe ein Gnadenort der Natur, ein Gotteswerk, das zum Schöpfer hinlenkt. Für manche eher beschauliche Betrachter war sie ein Buch religiöser Naturgleichnisse, mit denen sich irgendeine Heilswahrheit illustrieren ließ. So wird für Oeser z. B. das ruhige Rauschen der großen Simme, das durch das Strudeln der kleinen hindurch hörbar ist, zum Gleichnis für die Nähe und den Abstand alles Irdischen vom Ewigen, und er läßt durch die Landschaft die tröstliche Gewißheit in sich wachrufen: «Alle Dinge der Welt liegen an der großen und der kleinen Simme» (Zweisimmen, 1909). In größerer Schau allerdings (und diese wendet sich nur noch dem Hochgebirge als Stätte hoher religiöser Erlebnisse zu) sind Berge im Sinne Ruskins die «Kathedralen der Erde», d.h. Stätten, die an sich nicht heilig sind, vielmehr als Natur selber unerlöster Bezirk, wohl aber Gebilde, riesenhaft emporsteigend am äußersten Rande des Irdischen, schon im Zwischenbereich stehend, zur Anbetung des Höchsten bereitmachend - Mittel, den Zusammenhang des Menschen mit der göttlichen Macht neu zu stiften, indem sie ihn weit und offen stimmen und das von Gott entfernende Kleine in ihm auslöschen. Es fügt sich, daß derjenige Dichter, welcher der protestantischen Kirche neue Kirchengesänge, und diejenige Dichterin, welche der katholischen Kirche die gewaltigsten Hymnen der neuen Zeit schenkten, gleichsam im Wettgesang, hingerissen
durch das Erlebnis der Alpen, unvergängliche Worte für das christlichreligiöse Bergerlebnis fanden: . . .«Nur noch die Kehre bergan, Nur noch ein Schritt aus dem Engen: Und durch verwinterten Tann Und auf den Halden und Hängen Lacht, wie der Sommer dir's nicht Lachender könnte gewähren, Über dem Brodeln und Schwären Licht und wiederum Licht. Endlos winkt es und weiß, Was in der Tiefe gedunkelt, Meerl - und aus Buchten von Eis Hebt sich's und atmet und funkelt. Gipfel an Gipfeln, klar! Fern hinter Fahrt und Gefährde Glänzt über Jahren der Erde Schweigend das ewige Jahr.» (R. A. Schröder: Neujahr im Gebirg, 1930) «Hier läuft die Gren2e des Menschen - jenseits beginnen Die einsamen Königreiche der letzten Tannen, Von keiner Axt mehr gesucht, nur unterworfen Dem Blitz, dem gottunterworfnen. Hier liegen die wilden Schlösser der Hochgewitter, Die brausenden Horste des Sturms und die weißen Der regierenden Wolken, Hier steigen die Stufen an zum nackten Hochsitz der Felsen: Hier ragt die Erde ins All, Hier grüßt sie feierlich den ewigen Nachbar Über den Felsengebieten Nur noch die Throne des Lichts.» (Gertrud von le Fort: Aus dem Zyklus Gesang aus den Bergen in den Gedichten, 1950. Er geht auf einen Aroser Aufenthalt der Dichterin in den frühen dreißiger Jahren zurück.) Hier ist in großer Gestaltung das, was der englische Katholik Arnold Lunn den quasi-sakramentalen Charakter der Berge nennt: die Funktion, Mittler zwischen dem Menschen und der höchsten göttlichen Ord132
nung der Ordnungen zu sein. Den quasi-sakramentalen Charakter in diesem Sinne verleihen die Erneuerer des modernen religiösen Gefühls im Grunde auch der Funktion der großen Christen ihres Gastlandes und schließlich auch allen jenen freudig vermerkten Zeichen und Denkmälern im Land, großen und kleinen, die ihnen offenbaren, daß hier gottesfürchtige Menschen wohnen. Während Wegkreuze, Wegkapellen usw. gemeinhin als ästhetische Zugaben zur Gegend erfreuen, werden sie hier zugleich als Mahnungen an die Allgegenwart des Höchsten gebührend verehrt. Der Konvertit Donald Wedekind lobt sie in seinem Roman Ultra Montes (1903), und der Protestant Oeser entwickelt eine kleine Philosophie der frommen Zeichen am Weg: «Mit dem Bildstock am grünen Wegrande, am Eingang der Dörfer, mitten in der Gemarkung, bricht in die Zeit so ernst und stark das Ewige herein. Jedes Kruzifix ist ein fernes, rasches Wetterleuchten, das über den Rand unserer vertrauten Welt aus weiter Ferne aufglänzt und über unsere Seele das große Staunen vor dem Unerwarteten, dem Unausmeßlichen und dem Heiligen ausbreitet» (Zweisimmen). In einer größeren Ordnung sind die Chrischona, für die Katholiken Einsiedeln solche quasi-sakramentale Stätten, ebenso jene Tessiner Madonnen, zu denen Hugo Ball ein so kindlich-gläubiges Vertrauen hegte. Das Tessin als numinoses Land Das Tessin ist eine bevorzugte Stätte für Dichter, die von der Mythenund Seelendeutung des modernen Irrationalismus, und für solche, die von der christlichen Religion herkommen. Sie haben das übliche Bild mit einem merkwürdigen metaphysischen Doppelaspekt abgerundet. Für sie ist das Tessin die numinose Schweizer Landschaft schlechthin, reich an uralt heidnischen und an christlichen Kräften. Das Tessin ist nach dem Zeugnis der Dichter ein Wohnsitz des christlichen Gottes, aber auch der heidnischen Götter. Das heidnische Griechenland ist nahe in den Formen gewisser Berge, aber auch in jenen gelegentlich im Lande anzutreffenden Trümmern antikisierender Skulptur, die Hauptmann im Ketzer von Soana erwähnt, wenn er einen als Brunnentrogverkleidung dienenden Marmorsarkophag mit der Darstellung eines Bacchantenzuges schildert und dann das halbverwilderte Hirtenmädchen Agatha in die Szene einführt, das, auf einem Bock reitend, dem jungen Priester Francesco wie die dämonische Inkarnation einer Mänade erscheint. So gibt diese Landschaft dem sie darstellenden Dichter immer wieder Vergleiche, Symbole, Begriffe, selbst Sprachformen aus der antiken
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Welt ein. Es ist kein Zufall, daß Wilhelm von Scholz' Zyklus Luganer Frühling (1898) die Fülle der Eindrücke in den strengen Versrahmen des klassischen Hexameters zu bannen versucht. Am mächtigsten aber dürfte zu den «heidnischen» Instinkten die südländisch wuchernde fruchtbare Vegetation einer Landschaft sprechen, die immer wieder die Bekenner der matriarchalischen Mächte angezogen hat. Am kühnsten hat Hauptmann diesen unmittelbaren Anruf der trächtigen Urnatur an die unterhalb der Bewußtseinsschwelle liegende Natur im Menschen erfaßt. Seine Tessiner Novelle Der Ketzer von Soana (1917, zum Teil Eindrücke früherer Aufenthalte in Rovio verwertend) steht im Dienste des Kultes der Zeugungsekstase als der vermeintlich größten überpersönlich wirksamen Gewalt der Welt. So erwacht eine wie aus alten Dionysoskulten genährte heidnisch-erotische ungebändigte Trieb- und Vorstellungswelt in dem Priester Francesco: «Er war allbereits zu sehr in die allgemeine Betäubung drängender Frühlingskräfte versunken. Der narkotische Brodem, der ihn erfüllte, löste die Grenzen seiner engen Persönlichkeit und weitete ihn ins Allgemeine. Überall wurden Götter geboren in der frühen, toten Natur. Und auch die Tiefen von Francescos Seele erschlossen sich und sandten Bilder herauf von Dingen, die im Abgrund der Jahrmillionen versunken lagen.» In einem schauerlichen Traumbild erscheint dem Priester der Monte Generoso als Stätte brünstiger phallischer Kulthandlungen. Andere, welche in Tessiner Prozessionen, Kapellen usw. durch das Christliche Kulte der Urzeit durchschimmern sahen, hielten sich von derartigen Kraßheiten fern. Die edelste Sprache hat Hermann Hesse dieser Mischauffassung geliehen, etwa in Klingsors letztem Sommer, 1920: «Es erinnerte ihn nicht an das Land und Bauerntum seiner Heimat, sondern mehr an Homer und an die Römer. E r fand etwas Uraltes, Kultiviertes und doch Primitives darin, eine Unschuld und Reife, die der Norden nicht hat. Die kleinen Kapellen und Bildstöcke, fast alle von Kindern mit Feldblumen geschmückt, die überall an den Wegen zu Ehren von Heiligen standen, schienen ihm denselben Sinn zu haben und vom selben Geist zu stammen wie die vielen kleinen Tempelheiligtümer der Alten, die in jedem Hain, Quell und Berg eine Gottheit verehrten und deren heitere Frömmigkeit nach Brot und Wein und Gesundheit duftete.» Der Christ hingegen würdigt die Heiligtümer dieser Gegend ohne heidnische Assoziationen. Hier ist katholische Erde. Beim Gegner heißt das, das Tessiner Volk hänge «in den Fängen der widerwärtigen PfafFenbrut» (Erich Mühsam in: Ascona), dem Glaubensgenossen aber ist das Tessin ein begnadeter Landstrich. Auch der ästhetisch empfängliche Be-
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Sucher nichtkatholischer Haltung weiß die Schönheit, die der Katholizismus darüber gebreitet hat, zu würdigen. In Max Herrmann-Neißes Tessiner Gedichten (in Um uns die Fremde, 1936) oder in Wilhelm von Scholz' Zyklus Luganer Frühling wird das festliche Erlebnis des Zusammenklangs von Heiligtum und Landschaft festlich verklärt: .. .«Ein jeder Tag wird ein Festtag, den du schauend wanderst zu felsbekrönenden Kirchen, die aus engstraßigem Dorf oder einsam am waldigen Berge leuchten ins Land. Da steigen vom Ufer auf zackigen Felsen tausend steile Stufen empor, da wölben sich Pfeiler auf zu Bogen, da reihen sich Bogen zu Hallen, da stützen Mauern aus Abgrundtiefe Terrassen hinauf in den Bergkreis . . . Und nun tritt vor die Kirche! Wie prunkt sie mit Säulen und Bildern! Und den breiten ebenen Platz vor der Pforte belädt sie sich mit Ferne, mit Bergen und See, mit Wald und mit Himmel...» Das neue Verständnis für «volkhafte» Kräfte Aus Antrieben, die letzten Endes ebenfalls dem innerlich reichen, mit überpersönlichen mächtigen Kraftquellen tief verbundenen Menschen galten, griffen um 1900 einige Schriftsteller in das Geschehen ein, welche die Fronten ähnlich zogen wie die neuidealistischen Dichter. Auch sie, «volkhafte» Dichter genannt, standen gegen den entfesselten Geldgeist und gegen die unzureichende Abwehr durch den Naturalismus und andere Freiheitsbewegungen; das unterhöhlte Gelände des verfeinerten Impressionismus kam ihnen verdächtig vor, und selbst im Neuidealismus sahen sie die Gefahr einer von Zeit und Volk gelösten aristokratischen Kunst lauern. Denn sie selbst forderten von der Dichtung, daß sie die im innersten Kern des deutschen Volkscharakters ruhenden gesunden Kräfte ergründe und wecke, von denen die Deutschen sich zum großen Teil gefährlich weit entfernt hatten. Sie schlössen sich den Gedanken eines Langbehn, Paul de Lagarde, Gobineau, H. St. Chamberlain und Moeller van den Bruck an und mahnten zum Leben aus dem blutmäßigen und geistigen Zusammenhang mit dem eigenen Volk. Man forderte Treue zu den uralten Ordnungen, zur Familie, zum ehrenfesten Stand, zur Volksgemeinschaft, zum Boden, zu den verbürgten Sittengesetzen der Tradition. Einige sahen diese Welt eingefügt in eine christlich aufgefaßte transzendente Ordnung, andere in einen nebelhaft-allgemeinen Weltgrund, aus dem sie eine zweifelhafte deterministische Geltung der Blutskräfte ihres Volkes herleiteten: «Es ist das Gesetz, nach
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dem dein Ich angetreten ist: kein Gesetz, das eine menschliche Instanz sich ausgedacht und verkündet hat, sondern eine göttliche Setzung», verkündet Wilhelm Schäfer in seiner Rechenschaft (1948). Die Bewegung radikalisierte sich, als sie im gefährlich zerrissenen Volk der Weimarer Republik gegen eine Fülle von «artfremden», die Stärke und Einheit des Landes bedrohenden Tendenzen stand. Die Heimatkunst und die Schweif Wir müssen in diesem Bezirk eine regionale von einer auf das ganze Reich gerichteten Denkweise unterscheiden. Aus der regionalen entstand das Werk der deutschen Heimatdichter - eine Spiegelung des Lebens mannigfachster, landschaftlich begrenzter geliebter Kleinheimaten von der Lüneburger Heide bis zum schwäbischen Landstädtchen und von den masurischen Wäldern bis zu den friesischen Halligen. Schweizerische Motive wären hier unvertraute, aus der Welt weit jenseits der heimischen Dörfer und Fluren stammende Motive, und so finden wir in der deutschen Heimatkunst bloß Fernwirkungen einzelner schweizerischer Dichter oder aber gelegentlich jene Nahwirkungen, die der durch die Schweiz reisende deutsche Heimatdichter empfing. Das ebenso seltene wie aufschlußreiche Beispiel eines solchen bietet der kauzige schwäbische Pfarrer Heinrich Hansjakob, der als 68jähriger im Sommer 1904 im eigenen Gefährt (aus Protest gegen die Eisenbahn) durch die Schweiz kutschierte und ein Jahr später in seinem Buch Alpenrosen mit Dornen in urchigem Volkskalenderstil seine Reiseerinnerungen auskramte. Er meidet die großen Fremdenstraßen; ihm sind Bauernhöfe lieber als Fabriken und alte Trachten erwünschter als modische Gewänder. Als einen Schriftsteller nach seinem Herzen preist er den derben Pfarrer Xaver Herzog in Ballwil. Er scheut sich nicht, das, was vom bewährten Alten in der Schweiz sich allzuweit entfernt hat, kräftig zu brandmarken, doch endet das Werk mit einem Hymnus des grimmigen Preußenhassers auf das freie demokratische Staatswesen des tüchtigen Schweizer Volkes. Gotthelf und Keller haben manchem deutschen Heimatdichter den Blick für seine höchsten Aufgaben geschärft. Gotthelf vor allem stand ihnen nahe. Man entdeckte den fast gänzlich Vergessenen wieder neu für Deutschland. 1897 erschien in den Gren^boten ein Gotthelf-Aufsatz des neben Friedrich Lienhard führenden Programmatikers der Heimatkunst: Adolf Bartels. «Wie man überhaupt bei den großen Dichtern der fünfziger Jahre wird Anschluß suchen müssen, wenn man über die fruchtlose moderne Experimentiererei hinaus will, so wird man auch 136
Jeremias Gotthelf sein Recht zuteil werden lassen und von ihm lernen, was Kraft, Gesundheit, wahre Gegenständlichkeit, echte Volksmäßigkeit ist»: so wiederholte der rauhe Kämpe mit der groben Kenntnis der Schweiz 1902 den Ruf in seinem Gotthelf-Buch. Außerdem versuchte er durch Auswahlen aus Gotthelf und Keller in den Jahrzehnten nach 1900 nicht bloß auf die Heimatkunst, sondern viel mehr noch auf die Erstarkung des deutschen Volksgeistes selber einzuwirken. Die jährenden Gestalten. Die Stunde Berns In einer volkhaften Literatur weiter gespannten geistigen Ausmaßes ging es um Schicksalsfragen des deutschen Wesens und des ganzen Reiches schlechthin. Ein Höchstmaß fördernder Wirkungen der Schweiz hat aus diesem Kreis der aus Niederhessen stammende Wilhelm Schäfer erfahren. Die Geschichte seiner Begegnung erzählt sein Buch Wahlheimat (1931), die der ersten Berührung ist in Rechenschaft geschildert. Er betrat die Schweiz zum erstenmal als junger Lehrer im Jahre 1891. Der Anblick der Berge und das Erlebnis von Kellers Dichtung waren befreiende Erfahrungen, und das sauber Bürgerliche, das nüchtern Tüchtige, die Bindung an die Gemeinschaft und auf religiösem Gebiet das evangelische, lebensnahe Christentum der Schweizer zogen ihn an, um so stärker, je mehr er später gegen den Weltkrieg hin und dann vor allem im moralischen und gesellschaftlichen Teilzerfall Deutschlands nach 1918 erkannte, wie furchtbar der Verlust solcher innerer Festigkeiten sich rächte. Einige Jahre nach 1891 kam er wieder, diesmal für acht Monate nach Versoix am Genfersee. Das «Mittelmeerische» sprach ihn charakteristischerweise nicht recht an, wohl aber später Jahr für Jahr die Voralpenlandschaft (Bielersee, Schwyz, Ostschweiz), dazu das Berner Oberland. Den Höhepunkt der äußeren Beziehungen bildete die Erwerbung eines kleinen Heims bei Aeschi - nicht zufällig im Bernbiet! Als er es in der Inflation losschlug, war im wesentlichen die Auseinandersetzung mit der Wahlheimat Schweiz vorbei. Außer der Landschaft waren die mächtigen Kräftespender einige Schweizer Gestalten aus Gegenwart und Vergangenheit sowie das substanzstarke schweizerische Volkstum an sich. An Gottfried Keller verehrte er die bürgerliche Erscheinungsform der Schweizer Kernsubstanz bester Art. Aber für Schäfer und seine Artverwandten, denen Dichter und Künstler gestaltgewordenes Volkswesen waren, gab es eine Stelle im Gastland, an der deutschschweizerische Volkskraft wie nirgends sonst sich verdichtete: Bern.
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Nun war für Bern und die Berner, d.h. in erster Linie fiir Hodler und Gotthelf, die Zeit gekommen. Bern ist «die Hauptstadt der Eidgenossenschaft nicht aus Zufall, sondern weil es die Hauptstadt der bernischen Volkskraft ist, die nicht in den Lauben von Bern, sondern im bernischen Bauernland ihre Kraftspeicher hat», sagt Schäfer, der selber von seinen Vorfahren her schwer von Bauernkraft war ( Wahlheimat). Bern erscheint im neueren deutschen Schrifttum als eine starke Feste der Kontinuität. Es hat unter deutschen Schriftstellern eine eigene Gemeinde. Es sind nicht die Lobredner des emanzipierten Denkens. Während des Ersten Weltkriegs geriet eine der Natur dieser Stadt recht entgegengesetzte Kampfgruppe von oppositionellen Intellektuellen in die Bundesstadt, die als Sitz der wichtigsten ausländischen Gesandtschaften internationaler politischer Boden war. Aus diesen eingewanderten Schriftstellerkreisen stammen einige sehr ausgefallene, keineswegs aus innerem Einklang kommende literarische Aspekte Berns. René Schickele unterschiebt in seinem Berner Kriegsdrama Am Glockenturm (1920) den geruhsamen Berner Bürgern Phantasien im Stil des Expressionismus. Es ist die Rede vom krächzenden Glockenturmgockel: «Zauberflöte der Berner... In ihren Träumen sehen sie ihn, wie er sich, ein funkelnder Kolibri, auf ihr Herz niederläßt.» Und Annette Kolb sieht im allzu gedrungenen Bau des Münsterturmes beinahe ein Sinnbild für die Schranken bernischen Wesens, wenn sie von der «malerischen Stadt des nüchternen Lichts» spricht, «durch die Turmspitze versinnbildlicht, welche den Unterbau des Münsters niederdrückt und seine Schönheit immerzu und immerzu verneint» (Zarastro. Westliche Tage, 1921). Ganz anders alle diejenigen, welche die unvergänglichen Werte einer starken Tradition über die fragwürdigen Ergebnisse moderner Emanzipation stellten. Das Lob der herrlichen alten Stadt, welche überlieferungsfeindlichen Tendenzen das Eindringen in Stadtbild und Stadtseele so beharrlich verwehrte, ist groß. Aber darüber hinaus haben Heyse, Rilke, Ricarda Huch und wie die Lobredner Berns alle heißen, sich in der fürstlichen patrizisch-bäuerlichen Aarestadt in tiefen Antrieben des eigenen Wesens bekräftigt gefunden. Und vor allen anderen Dichter von der Geistesart Wilhelm Schäfers. Nicht von ungefähr erinnert er sich angesichts dieses urbildhaft ungebrochenen, organischen Gemeinwesens an die unsterblichen Städte der Antike und des Mittelalters: «So müssen die gotischen Städte gewesen sein, als sie - den Griechen gleich im Gemeinsinn - ihre Rathäuser bauten» {KarlStauf ers Lebensgang, 1912). So wie Bern unter den Schweizer Städten als die kraftvollste Inkarnation schweizerischer Volkssubstanz erscheint, so Gotthelf unter den Dichtern und Hodler unter den Malern. Hermann Burte machte 1928 138
A. E. Fröhlichs Gotthelf-Biographie in einer neuen Ausgabe wieder zugänglich. Der Dichter ist ihm in einer Person der wahre Alemanne, der wahre Bauer und der wahre Christ, wie ein alemannisches Gedicht in Madlee (1923) besagt. «Die Bauern Gotthelfs wiegen so schwer wie die Könige Shakespeares». Gotthelfs Ebenbild an bernischer Substanz ist Ferdinand Hodler. Schäfer und Burte standen vor seinen Gemälden wie an unversieglichen Quellen des Lebensmutes und des trotzigen, urtümlichen Gemeinschaftswillens. Schäfer spricht von Bildern Hodlers wie von Ermutigungstaten am ganzen deutschen Volk: «Wir Deutschen im Reich, die wir uns das Bild Hodlers im Krieg trüben ließen, hätten allen Grund, die Trübung zu klären, nicht nur, weil sein ganzes Werk aus der Tiefe seiner bernischen Natur urgotisch, urgermanisch ist, sondern weil er in unser Schicksal hinein uns die beiden stärksten Sinnbilder dieses Schicksals geschenkt hat: zum Ausbruch des Krieges den Auszug der Jenenser Studenten, der 1914 verhüllt stand, als unsere Jugend gleich so im heiligen Feuer hinstürmte; und zu seinem bitteren Ende die Einmütigheit, den notgedrungenen Treuschwur eines in seiner Existenz bedrohten Volkes.» Die Worte stehen in dem Büchlein Die moderne Malerei der deutseben Schweif (1924); damit und mit der 1900 gegründeten Zeitschrift Die Rheinlande, die er dreiundzwanzig Jahre lang leitete, hat Schäfer hervorragend zur Kenntnis der eigenwüchsigen jungen Schweizer Malerei im Reich beigetragen. Der erzieherische Drang ist mächtig in diesen Dichtern. Wenn Schäfer zu einem Kenner der schweizerischen Vergangenheit wurde, so trieb ihn der Wille, nicht nur das Geheimnis der Urkräfte des schweizerischen Volkswesens tiefer zu ergründen, sondern auch in die deutsche Welt etwas davon überzuleiten, gewissermaßen wie wenn er ein Hodler der Literatur wäre. Es geschah durch drei Gestalten: Karl Stauffer (a. a. O.), Pestalozzi {Lebenstag eines Menschenjreundes, 1915) und Zwingli (Huldreich Zwingli, 1926, auch als Versepos, 1927). Während das Leben des Malers Stauffer als die Tragödie eines aus dem heimischen Wurzelgrunde Losgelösten erscheint, sind in Schäfers Augen Pestalozzi und Zwingli gewaltige Pädagogen der Nation; Zwingli vor allem bedeutet ihm mit seinem praktischen, staatsgestaltenden Sinn, mit seinem mannhaften protestantischen Ethos eine Art Zusammenfassung schweizerischen Wesens überhaupt, und sein Werk, «die freie Gemeinde auf der Grundlage des durch das Evangelium geweckten und gestärkten Gewissens», ist ihm von politisch höherem Rang als dasjenige des Eiferers Luther. Das bedeutendste Werk der volkhaften Dichtung, Erwin Guido Kolbenheyers Paracelsus-Trilogie (1917-1925), gesellt zu diesen Gestalten
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den faustischen Arzt aus Einsiedeln. Kolbenheyers Weltbild ist die «natürliche Metaphysik» von der schicksalhaft biologisch bedingten Menschen- und Völkernatur. Sein Paracelsus lebt in der Zeit des unbändigsten Ausbruchs schweizerischer Volkskraft. Die Schweiz steht als eine große «biologische» Macht in seinem Werk; in Paracelsus, einem Urbild höchster Möglichkeiten des deutschen Wesens, wirken von der mütterlichen Seite her schweizerische, von der väterlichen deutsche Familienkräfte. In ihm steht ähnlich wie in dem Basler Reformator ökolampad und einigen anderen Schweizer Renaissancegestalten arteigner Geist gegen die vermeintlich artfremde Welt der alten Kirche und der humanistisch-skeptischen Wissenschaft des Erasmus und des Vadian auf - gegen zwei Hauptärgernisse für den Dogmatiker des volkhaften Gedankens. In der schweizerischen Art der Freiheit und des Volkszusammenhangs, in den Ländsgemeinden, den Kadettenorganisationen usw. sahen Dichter wie Schäfer derartige «altdeutsche» Kräfte weiterwirken - und auch in der erdhaften Kraft der Mundart!
Die schweizerische Sprache Dem Schweizerdeutsch haben viele Schriftstellergäste in ihren Werken besondere Beachtung geschenkt. Sie stehen alle unter dem Eindruck: hier spricht ein durchaus eigener Menschenschlag eine durchaus eigene Sprache. Die nicht aus alemannischen Gebieten Stammenden sind zunächst ratlos, wenn sie einem Mundartgespräch unter Schweizern beiwohnen. Von solcher Seite stammen denn auch die gewagtesten Vergleiche : Ricarda Huch fühlte sich zuerst an das Kalmückische und Tatarische «erinnert», Josef Ponten durch die Berner Mundart an das Arabische und Holländische.33 Das bedeutet, daß mehr als alles andere der merkwürdige Lautstand auffiel: die rauhen Kehl- und die vokalischen Zwielaute (üe, uo usw.). Einige Dichter hatten ihre helle Freude an der Art, wie der straffe Umriß des heimischen deutschen Lautbildes hier verschwand und es statt dessen sich mit satten Farben füllte. Sodann ließ der Wortschatz aufhorchen. Oft erregten ungewohnte Wortbedeutungen heitere Aufmerksamkeit, etwa wenn die Kellnerin hier Saaltochter hieß oder wenn schmecken im Sinne von riechen gebraucht wurde. Die kennerischen Dichtergäste aber, an ihrer Spitze die Volkhaften als die größten Bewundrer der Mundart, fanden im schweizerischen Wortschatz, auch im immer noch lebendigen Sprichwort und Volkslied, die urtümliche Bild- und Gefühls kraft einer Sprache, die im Gegensatz zur abgeschliffenen, erschöpften Hochsprache gesättigt er140
schien mit der Fülle des konkreten Lebens. Ausdrücke wie Fürsprech (für Advokat) oder hablich (nach Wohlhabenheit aussehend) begeisterten Wilhelm Schäfer. Diese bodenständige, kraftvolle, aber auch an zarten Wendungen reiche, unpapierene Volkssprache war geradezu die hörbar gewordene, gesunde schweizerische Volkssubstanz selbst. Heinrich Hansjakob war von ihrer Urwüchsigkeit so eingenommen, daß er schweizerdeutschen Sprachbrauch bis in die Schreibung der Ortsnamen hinein erhalten sehen wollte. In seinem Reisebuch greift der Preußenhasser die Schweizer an, weil sie, sich dem gleichmacherischen Duden unterwerfend, anfangen, kraftlos Wil statt Wyl zu schreiben. Nicht ohne Neid haben die volkhaften Schriftsteller von einem Deutschland aus, in dem soziale Abstände durch die Hochsprache von oben und die Mundart von unten her oft betont wurden, die soziale Funktion des Dialekts beobachtet, der in der Schweiz gleichermaßen in allen Ständen Umgangssprache war. Emil Strauß läßt eine Gestalt im Riesenspiel^eug (1935) das Problem bis in die Elementarschule hinab verfolgen: «Ich habe zum Teil in der Schweiz studiert, und meine natürlicherweise nur bescheidenen Erfahrungen und Beobachtungen haben mich einstweilen nicht mit allgemeiner Bewunderung oder Vorliebe für die Schweiz erfüllt; darum aber beneide ich sie unter anderem, daß in den ersten Schuljahren die heimische Mundart die Schulsprache ist, daß also Lehrer und Kind einander sofort bis in die zarte Schwingung des Klanges hinein verstehen und daß dem Kind die Sprache der Mutter nicht entwertet wird, sondern selbstverständlich und in Ehren bleibt... Wenn Sie erst Kultusminister sind, müssen Sie den Schweizer Plan einführen.» Die Beschäftigung mit dieser ausdrucksstarken Mundart hat manchen deutschen Dichter dazu verlockt, sie auch unmittelbar als Ausdrucksmittel im Werk anzuwenden. Wo die treuherzige Biederkeit oder die urwüchsige Kraft schweizerischer Gestalten hervorgehoben, manchmal auch wo gewisse Wesenszüge verhöhnt werden sollen, wird Mundart eingeführt. Die bevorzugte Stelle dafür ist der Dialog. Meistens mischt man bloß einige Schweizer Worte sparsam in die Rede; wo mehr getan wird, kommt es regelmäßig zu einer kleinen literarischen Katastrophe. Oft klingt das Gespräch mehr schwäbisch als schweizerisch, und im äußersten Fall sogar berlinerisch - etwa wenn Hans Richter den Satz «Na, is Huckepack: die Weibsen, geschubst und angeplupscht haben sie sich» als echtes Bündner Bergführerdeutsch ausgibt (Der Springer von Pontresina). Daß auch einem Schriftsteller hohen Ranges der Versuch, Mundart realistisch wiederzugeben, zum Verhängnis werden kann, bringt die schwäbelnde Rede des Berner Oberländer Kindermädchens Vreneli in Fontanes L'Adultera an den Tag. 141
Die Verlockung, die Ausdruckskraft der Mundart in der Wiedergabe zu erhalten, erweist sich aber immer wieder als stärker denn alle Gefahren der Sprachkopie. Um ihnen zu entgehen, wendet man die verschiedensten Stilmittel an. Robert Schweichel hat in seinen Erzählungen aus dem unteren Wallis versucht, den Tonfall der dortigen welschen Bauernmundart wiederzugeben, indem er ein stilisiertes, in Satzbau und Wortwahl elementar einfaches Hochdeutsch schrieb. In der Tat führt Anlehnung künstlerisch viel weiter als Nachahmung. Die Geschichte der Einwirkungen der Mundart auf die Hochsprache ist lang, und viele bedeutende deutsche Dichter stehen als Empfangende an diesem Weg. In das erste Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts fallen zwei der ungewöhnlichsten Taten: Borchardts (vgl. S. 104) und Kolbenheyers Versuche, in teilweiser Anlehnung an das Schweizerische eine künstliche Literatursprache zu schaffen. Die Gespräche in vielen Partien von Kolbenheyers Paracelsus sind von beträchtlicher sprachlicher Wucht. Ein stilisiertes Lutherdeutsch wird hier mit Sprachlauten, Satzrhythmen und ebenfalls stilisierten Wendungen aus schweizerischen Mundarten durchsetzt; darüber hinaus aber ist das Beispiel der gedrungenen schweizerischen Sprachkraft (ähnlich wie bei Schäfers berühmtem lakonischem Stil) auch bis in die tieferen Schichten des Sprachgefühls wirksam. Ein Ausspruch der Paracelsusgestalt als Beispiel: «Was ist üer Mut so ring worden und flötend als ein Nachtigall im Hollerstrauch ? Sehet dort: wie zittern üre mächtigen Stern über dem Dach!» So war das Größte, was die Beschäftigung mit der schweizerischen Mundart dem deutschen Dichter zu geben vermochte, die Verjüngung und Durchkräftung seiner eigenen Sprache. Schranken des volkhaften Weltbildes Durch das SchweizerBild der volkhaften Dichtung läuft eine Schranke; diesseits leben die alemannischen Artverwandten, jenseits die welschen Artfremden, diesseits die in bäuerlich-bürgerlichen Ordnungen Verwurzelten, jenseits die Entwurzelten oder irgendwie Andersgeformten. Es ist eine Schranke der Wertung, aber auch des Verständnisses. So wie den Naturalisten mit ihrem schismatisch gespaltenen revolutionären Weltbild das Ganze der Wirklichkeit sich verschloß, so auch den Volkhaften mit ihrer aus konservativem Geiste heraus schismatischen Sicht. Für Wilhelm Schäfer sind schon der «Bohémien» Stauffer und der welschem nicht minder als germanischem Wesen geneigte C. F. Meyer Fremdlinge: «Seine Bildung kam aus dem Französischen; nicht nur seine Sprache, sondern seine Kunst durchaus trägt diese Herkunft an s i c h . . . Er ist in 142
seiner plastischen Kühle der in deutscher Sprache dichtende Romane. Weder in der deutschen Dichtung noch in der deutschen Kultur überhaupt bedeutet er eine Domäne, das heißt Krongut» (Die moderne Malerei der deutschen Schweif). Während manche Deutsche das welschschweizerische Gebiet als ein Vorland Frankreichs mit seinen lockenden Verheißungen begrüßten, fanden es die Volkhaften von den Ausläufern einer sie befremdenden, zeitweise sogar kriegerisch bekämpften ungermanischen Volksart erfüllt. Es fehlt bei ihnen nicht an mißgünstigen Aussagen über den Welschschweizer: «Nicht an der Fruchtbarkeit des Bodens mangelt es [im welschen Teil des Kantons Freiburg], sondern an der Fruchtbarkeit der Hand. Der Berner Bauer kann weder Steine noch Gebüsch in seinen Matten gebrauchen; die einen trägt er zusammen und die andern rodet er aus. Wald darf nur sein, wo keine Matte mehr möglich ist; aber wo Wald stehen muß, steht er auch in seiner Geschlossenheit da, nicht als Bois, welches das Kennzeichen der französischen Landschaft ist. Der Berner ist Herr seiner Erde und schaltet mit ihr, der im Uechtland ist nur ihr Bewohner und läßt sie schalten», behauptet Schäfer in Wahlheimat. Die Philosophie der volkhaften Dichter sah die Kräfte des Blutes zu deterministisch und faßte den Oberbegriff des Deutschtums zu eng. So waren sie blind für jenes universalere, nicht minder «arttreue» deutsche (bzw. schweizerische) Wesen, das deutsch (bzw. schweizerisch) sein kann, ohne das christliche oder das übernationale humanistische Wesen verleugnen zu müssen. Die innere Entfernung zur Schweiz nahm überdies zu bei jenen, welche - anders als Schäfer - vom politischen Standpunkt aus die abtrünnige Demokratie verstimmt betrachteten. Der Zwiespalt zwischen Neigung und Abneigung, d.h. zwischen dem verbindenden Volks- und dem trennenden Staatsgefühl, ist in Emil Strauß' Riesenspiel%eug und in der Novelle Der Laujen (1909) deutlich zu spüren: «Seit dem Tage [da der Rhein seinen Lauf mitten durch das Gebiet von Laufenburg nahm] sind es zwei Städte, zwei Länder, zwei Völker. Die Leute hüben und drüben sind vom gleichen Stamm, sind verschwistert und verschwägert; aber sie denken verschieden, sie schwören auf anderes, sie sterben für anderes: die drüben schimpfen uns ,deutsche Fürstenknechte', und wir schimpfen sie ,freie Schweizer'». Für manche war es ausgemacht, daß ein starkes Volkstum von sich aus zur politischen Form des Herrenmenschentums drängt. Keiner hat so kräftig wie Burte von hier aus die Massendemokratie verflucht. Die volkhaften Staatskritiker erhielten Zuzug aus der schon längst ihres Oberhauptes beraubten Schule Bismarcks. Der Hamburger Studienrat Theodor Bohner setzt sich in einem offenbar zum Teil autobiographi-
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sehen, trocken-kaustischen Entwicklungsroman (Auf allen Straßen, 1919 und 1922) mit der Schweiz auseinander. Es ist das Bild einer hartherzigen, sich selbst maßlos überschätzenden Nation. Bohner setzt die Linie v. Schlägel-Ziegler-Rochholz fort; der strafende Blick des Nationalisten trifft auf Reichsabtrünnige: «Baum, Wasser, Berg und Wiese, sie waren alle nicht anders angezogen als bei uns, wenn auch die Berge höher, die Wiesen saftiger, die Wasser klarer und die Bäume grünender schienen. Ein schönes Stück unseres allgemein deutschen Besitzes mochten die Leute sich ausgesucht haben, auf dem sie nun trotzigfest saßen.» 1939, in der Reise nach Basel, ist die Haltung etwas weniger verkrampft. Inzwischen war ein neuer imperialistischer Machtstaat an der Schweizer Nordgrenze entstanden, der den Nachbarn mit ähnlichen Maßen einschätzte. In diesem neuen Staat wurde von Amtes wegen nach 1933 der gesamten volkhaften Dichtung, gleichviel wie nah oder wie fern ihre Repräsentanten dem Nationalsozialismus standen, die literarische Vorherrschaft zuerkannt - zusammen mit dem parteipolitischen Tendenzschrifttum der Steding, Euringer u. a.34 Der kleine Gren^yerkehr «Im Schicksalsherbst 1918, kurz vor dem Zusammenbruch, zog ich auf die Sommerhalde, wo ich nun schon im dritten Jahrzehnt als hergewehter Nutznießer dieser Landschaft [am Bodensee] sitze, deren Märchenschönheit mir von allen deutschen Landschaften am gesichertsten scheint. Mögen die Schiffe mit verschiedenen Landesfarben auf dem See fahren, die Anwohner drüben wie hüben sind Alemannen.» Hier ist Wilhelm Schäfer der Sprecher jener dichtenden Anwänder der Schweiz, die sich auf dem rechten Rheinufer bis weit ins schwäbische Hinterland hinein angesiedelt haben. Viele sind volkhaften Gepräges, einige, z. B. der feinsinnige Emanuel von Bodman 35 , gehören nur zum kleineren Teil diesem Geiste an. Daß das schweizerische Nachbarland in ihrem Werk auftritt, hat zuallererst seine rein topographischen Gründe. Bei diesen Anrainern rundet sich die Fülle der schweizerischen Landschaften in der deutschen Literatur ab durch die charakteristischen Bilder der Juraund Alpenkämme, wie man sie vom Hotzenwald aus sieht, oder des Säntis, wie man ihn vom Bodenseeufer her erblickt (vgl. des Arztes Ludwig Finckh Seekönig und Graspjeijer, 1922). Ferner aber hat sich hier nicht selten über die Grenze ein lebhafter Austausch geistiger Anregungen, eine Art von kleinem Grenzverkehr im Literarischen, entwickelt. Unermüdlich sammelt das Bodenseebuch die Jahresernten dieses nachbarlichen geistigen Verkehrs. Etwas von der beschwingenden Kraft solchen Aus144
tausches ist in Burtes Gedicht Stadt am Strom, Land am Strom eingegangen, eine Zusammenfassung der im Anrainererlebnis um Basel wirksamen Elemente: «Sehnt sich die Masse*, die Messe zu schauen Sich zu verlieren im städtischen Braus Locken den Städter der Belchen und Blauen In das behagliche Rebland hinaus; Schlagen sich Brücken des Nehmens und Gebens Unsichtbar wirklich all über den Rhein, Lacht, als ein Helfer und Hüter des Lebens, Heilsam wie Hebel, der köstliche Wein! Nicht in den Mitteln der Macht und der Meinung, Aber im Tausche lebendigen Seins Grüßen sich herzlich in redlicher Einung Stromstadt und Stromland, als Kinder des Rheins! (Anker am Rhein, 1938)88
V. DER ERSTE W E L T K R I E G UND DIE SCHWEIZ Seit dem August 1914 stand Deutschland für mehr als vier Jahre unter dem Gesetz des aktiven Krieges, die neutrale Schweiz unter dem der Grenzbesetzung. Hermann Stegemann erzählt 1937 im Roman Schicksalssymphonie von dem jungen Schweizer Soldaten Sämi, der gleich zahllosen Leidensgefährten von der Grippeepidemie des Jahres 1918 dahingerafft wird, ganz zuletzt, zur Zeit, als schon der Geschützdonner der Endschlachten im Westen bis in Hochtäler der Zentralschweiz empordrang «und den Kindern in der Wiege das Ohr füllte und die Tiere unruhig machte, so daß Haus, Stall und Weide unter einem schlimmen Zauber litten». Von der kleinen Passion der Schweizer Armee, die neben der großen Passion der kriegführenden Millionenarmeen einherging, ist sonst in der deutschen Literatur kaum die Rede. Um so mehr aber von der Doppelinvasion, die sich im Schutz dieser Armee vollzog und eine Zeitlang die Atmosphäre einiger Schweizer Städte verwandelte. Die Kriegführenden sandten politische Agenten und Spione, sie schickten ihre besten Musiker, Schauspieler, Schriftsteller auf die Propagandareise, dazu gesellte sich das internationale Gelichter der Schieber und Kriegsgewinnler. Eine * aus dem Wiesental
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Gegenströmung schwemmte den ebenso internationalen Gegensatz zu den Verbündeten des Krieges ins Land: Refraktäre, die aus edlen oder unedlen Gründen sich dem Waffendienst entzogen, Verschwörer, die den Umsturz der alten nationalistischen Staatenordnung planten, Republikaner, Anarchisten, Kommunisten (Lenin lebte damals in Zürich), Sozialisten, alle eins im Haß gegen das große Morden, weniger eins im Bild der Zukunft. Die bisherige politische Opposition war wie zum Großen Appell zusammengeströmt und bildete vielfach im Gastland eine neue Bohème. Diese Menschenwelt, ihr Nebeneinander und Gegeneinander ist oft und meistens in kriegsgegnerischer Sicht geschildert worden. Das bunte Ausländergewimmel, von dem etwa Rudolf Lothars Zürcher Roman Weltrausch (1919) erzählt, wird auch in manchem Erinnerungsbuch als ein europäisches Kuriosum der Kriegszeit festgehalten : «[Zürich war] ein Treffpunkt aller geistigen Bewegungen, freilich auch aller denkbaren Geschäftemacher, Spekulanten, Spione, Propagandisten, die von der einheimischen Bevölkerung um dieser plötzlichen Liebe willen mit sehr berechtigtem Mißtrauen betrachtet wurden... Alle diese Menschen, die das Schicksal hergeschwemmt, waren mit ihrer Existenz an den Ausgang des Krieges gebunden, beauftragt die einen von ihren Regierungen, verfolgt und verfemt die anderen, jeder aber abgelöst von seiner eigentlichen Existenz und ins Zufällige geschleudert... Man hörte alle Meinungen, die absurdesten und die vernünftigsten, ärgerte und begeisterte sich, Zeitschriften wurden gegründet, Polemiken ausgetragen, Gegensätze berührten oder steigerten sich, Gruppen schlössen sich zusammen oder fielen auseinander; nie mehr ist mir ein vielfarbigeres und leidenschaftlicheres Gemenge von Meinungen und Menschen in so konzentrierter und gleichsam dampfender Form begegnet als in diesen Züricher Tagen oder vielmehr Nächten (denn man diskutierte, bis das Café Bellevue oder das Café Odeon die Lichter auslöschten, und ging dann oft einer zum anderen in die Wohnung) » : Stefan Zweig, Die Welt von gestern (1944)3'. So war die Schweiz ein diplomatischer und wirtschaftlicher Nebenkriegsschauplatz für beide Weltkriegsparteien und gleichzeitig ein Sammelpunkt für die Feinde des Krieges und eine Utopienschmiede für die kommende Gestaltung der Welt. In dieser Doppelfunktion steht sie in den hier untersuchten Werken da. Manche davon sind als Teilaktionen des geistigen Krieges gemeint und empfangen von daher ihre Heftigkeit. Außer Zürich sind Bern und Genf wichtige Schauplätze. Bern, «gegenwärtig die beste politische Bibliothek, die man in Europa finden kann» (Hugo Ball: Die Flucht aus der Zeit, 1927), erscheint u. a. bei René Schikkele, Annette Kolb und in dem hektisch zerwühlten Roman Im Anjang 146
war die Krajt (1920) von Ernst Schmitt, Genf wird in einem anonymen Schlüsselroman Diplomatische Halbwelt (1922) vom nationaldeutschen Standpunkt aus als ein Zentrum des Entente-Einflusses angegriffen, während der Elsässer René Schickele in der Genjer Reise (1918) die Kriegsgäste Genfs mit dem Maß des Oppositionellen mißt. Dada In Zürich vollzog sich unter dem Einfluß des Weltkriegserlebnisses eine der extremsten Entwicklungen des modernen Geistes. «In Berlin hatte ich [1917] von den Dadaisten gehört wie von einem sagenhaften Argonautenvolk», erzählt Otto Flake im Dezemberheft 1954 der Schweizer Monatsschrift Du. Diese Argonauten hatten im Frühjahr 1916 in dem kleinen Restaurant Holländische Meierei an der Spiegelgasse das Cabaret Voltaire gegründet. Es sollte zu einem Brennpunkt jüngster Kunst werden. Am Anfang herrschte die Zeitkritik vor: Hugo Ball und Emmy Hennings traten mit pazifistischen Gedichten auf und stellten den satten, stumpfen Untertanen- und Bürgerverstand an den Pranger. Es war wie das kabarettistische Seitenstück zu Balls Kritik der deutschen Intelligenz, welche die Verbrämung nationalistischer Machtpolitik durch willfährig lügende Theologen, Philosophen und andere moralisierende Gewährsmänner geißelt. «Wir scheuten uns nicht, auch hin und wieder den feisten und vollkommen verständnislosen Zürcher Spießbürgern zu sagen, daß wir sie für Schweine und den deutschen Kaiser für den Initiator des Krieges hielten», erklärt ein Mitbegründer, Richard Huelsenbeck, in seiner Schrift En avant, Dada (1920). Soweit war das Cabaret Voltaire nicht mehr als eine höchst radikale Fortsetzung anarchistischer Proteste gegen Staat und Krieg. Aber es wurde u. a. durch den Einfluß einiger rumänischer (Tristan Tzara und Marcel Jansco) und deutscher (Hans Arp, Huelsenbeck) Emigranten zu einem merkwürdig apokalyptischen Überbrettl, wo schwebend zwischen Spiel und Todesgrauen eine neue Sprache für die äußerste Verlorenheit des Menschen mitten in den Auflösungen des alten Europa gefunden wurde. Der echte Dadaist sah sich in einer Welt, in der alle festen moralischen Orientierungen und alle bisherigen Ordnungen in einem wüsten Chaos zusammenbrachen. Auch die letzte mögliche Einheit, die Einheit der eigenen Persönlichkeit, drohte zu zerfallen in sinnlose zersprengte Fragmente herrenlos gewordener Triebe und Regungen, die keine ordnende, einen Sinn der Welt setzende Vernunft mehr zusammenhielt. Der Dadaismus ist der Versuch des zerrissen in der zerrissenen Zeit dahintreibenden Ich, einen allerletzten Halt in den elementarsten unbewußten Gründen der Persönlichkeit selbst zu finden. In-
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dem sie als Maler und als Dichter, jegliche herkömmliche Wirklichkeitsnachahmung verpönend, sich dem wirren Gemisch ihrer Eindrucks- und Intuitionsfragmente überließen, glaubten sie den einzigen legitimen Ausdruck für den aufgelösten Wirrwarr ihrer Zeit zu finden, und indem sie damit zugleich ein «Narrenspiel aus dem Nichts» trieben, hob spielerisch Dada selbst Dada wieder auf. Die let2te Konsequenz in der Dichtung war die Auflösung des Wortes und der Sprache in bloße assoziativ aneinandergefügte Lautreihen, wie sie Hugo Ball, in seltsamen Vermummungen auf der Bühne des Cabaret Voltaire stehend, mehr intonierte als hersagte; die Maler hingegen ließen seelische Regungen sich unmittelbar in ebenso assoziativ entstandenen Flächen-, Farben- und Liniengebilden ausströmen. Während die Schriftsteller sich mit der in Zürich erscheinenden Zeitschrift Dada eine Plattform schufen, zeigte die an der Bahnhofstraße neueröffnete Galerie Dada futuristische und kubistische Bilder - denn die Zürcher Strömung nahm das in sich auf, was anderswo mit Picabia, Picasso und anderen kurz vorher eingesetzt hatte: «Wenn wir Kandinsky und Picasso sagten meinten wir nicht Maler, sondern Priester, nicht Handwerker, sondern Schöpfer neuer Welten, neuer Paradiese», stellte Hugo Ball kurz vor dem Weltkrieg in München fest. Neben ihm, der den Dadaismus als ein notwendiges Verhängnis der Zeit in der Tiefe erlebt, durchlitten und durch eine neue Religiosität auch überwunden hat, war Otto Flake vielleicht der erste deutsche Schriftsteller, der die Bewegung der «Argonauten» durch alle Unechtheiten hindurch in ihrem Wesen und ihrer Tragweite zu ermessen vermochte. In seinem Zürcher Roman Nein und Ja (1920) läßt er den jungen Schweizer Maler Hans Obrecht in einer futuristischen Ausstellung der Limmatstadt ein Gemälde deuten mit Worten, die auch für die Empfänger dadaistischer Anregungen von Kurt Schwitters bis Mondrian und André Breton gültig sind : «Wer die Geburt der Kräfte, die Rhythmik des Blutes, das Geheimnis des Wachsens studieren will - hier ist sein Objekt. Mir gab die Beobachtung dieser Rhythmen den Mut, meine eigenen nach meinem Naturell zu zeichnen, die Isobaren meiner Erregung, die Wetterkarte meines Tages.» Abgesehen davon, daß man das freiheitliche Asyl schätzte, einige Freunde fand und das «épater le bourgeois» ungemessen übte, war die Schweiz für die Dadaisten, wenn man von Hugo Ball absieht, kaum vorhanden. Ebensowenig kann man bei manchen Repräsentanten der pazifistischen Opposition von einer herzhafteren Beziehung zum Gastlande sprechen, am wenigsten bei antimilitaristischen Literaten wie Ludwig Rubiner oder Albert Ehrenstein, die auf expressionistische Weise, oft 148
sehr herostratenhaft, in den Greueln des Krieges wühlten, aber im übrigen mit ihrer von Weltekel und Krisenneurasthenie zerfressenen Haltung nicht in die Zukunft zu weisen vermochten. Selbst ein so glühender Pazifist wie Leonhard Frank kann nur mit Kopfschütteln auf sie hinweisen: «Ludwig Rubiner schlug vor, den Eisernen Hindenburg, der in der Siegesallee stand und mit Nägeln beschlagen wurde - jeder Nagel eine Mark mit einer Bombe zu sprengen. Diese Tat würde in Deutschland zweifellos die Revolution zum Ausbruch bringen. Die beiden besprachen angeregt, wer die Bombe nach Berlin bringen und den Eisernen in die Luft sprengen sollte. Sie begeisterten sich an der Idee, und dabei blieb es» (Linkr, wo das Her.i ist, 1952). Das Wunderland des Friedens Anders bei einer kleinen Gruppe von Schriftstellern, bei denen die Überwindung des Kriegsgeistes und die Vision einer besseren Zukunft aus größerer Tiefe kam; bei ihnen wird auch das Erlebnis der Weltkriegsschweiz reich. Je länger der Krieg währte, je verzweifelter das Leiden am Leid der Welt und an der Zerstörung menschlicher Ordnungen wurde, desto packender wirkte das Wunder der schweizerischen Verschontheit. Hier gab es für das anderswo bereits Vernichtete oder von Grund auf Gefährdete, für den organisch und frei in Volk und Staat sich entwickelnden Menschen ein scheinbar ungetrübtes Gestern, Heute und Morgen. Flake staunt: «Straße gefüllt mit jungen Männern, Straße gefüllt mit Auslagen entbehrter Dinge, Straße, in der Frühlingsbäume legitim blühten, denn der Mensch darunter war im Einklang mit ihrer Freude, dachte nicht an Mord» (Nein und Ja). Wie eine Erlösung wirkte das Überschreiten der Landesgrenze. Der Gegensatz zwischen der helvetischen Dreieinigkeit von Freiheit, Schönheit und Frieden und der entfesselten Zerstörungswut im kämpfenden Europa hat auch dem Erlebnis der Schweizer Landschaft oft erhöhte Befreiungskraft verliehen. Annette Kolb berichtet in dem Schweizer Kriegstagebuch Zarastro von einer wundersam transfigurierenden Wanderung aus der Zone der Kriegsnöte in die Zone einer zeitlosen Bergreinheit bei Sils, und Karl Kraus, damals mit seiner Zeitschrift Die Fackel im schärfsten Kampf gegen die Verbrämung kapitalistischer und anderer Machtinteressen durch patriotische Phrasen stehend, hat das erstaunlichste Dokument solcher Stimmung geschaffen: in seinem Gedicht Vallorbe (Mai 1917) wird eine schlichte Juragegend grenzenlos verklärt, denn es ist eine Landschaft jenseits des Krieges, eine verschonte Landschaft, in der die Zeit stillestand und in deren Schweigen der Fremdling, wie durch einen 149
Gnadenakt aus dem Angsttraum von 1917 erwachend, den unverstörten Sinn für die zeitlosen, die guten Wahrheiten neu empfängt: «Du himmlisches Geflecht, du Glockenblumenkorb, Ursprung der Orbe, der Welt, du unversehrtes Ziel, Du Wonnewort Vallorbe, das in den Mai mir fiel, Du Tal der Täler du, traumtiefes Tal der Orbe ! Du Sonntag der Natur, hier seitab war die R u h . . . Hier saß der Gott am Weg zum guten Lac de Joux. Du Gnade, die verweht den niebesiegten Wahn, Wie anders war es da, und da entstand die Zeit, Dieweil sie staunend still stand vor der Ewigkeit. Wie blau ist doch die Welt vom Schöpfer aufgetan !» (Ausgewählte Gedichte, 1939) So teilte sich mit dem Bild des Friedens etwas wie Glauben an eine neue friedliche Welt mit. In Rudimenten war unter Ausländem auf Schweizer Boden schon Zukunft im Entstehen: nicht so sehr in uferlosen Debatten in Literatencafés als in einzelnen Begegnungen: wenn etwa ein Gast, dem drei Jahre lang befohlen gewesen war, Franzosen, Engländer oder Russen zu hassen, in der Geborgenheit der Schweiz straflos einem solchen die Hand reichen durfte, so wie es zwischen Stefan Zweig und Romain Rolland in des Franzosen Genfer Arbeitszimmer geschah: «Einen Augenblick fehlte mir das grüßende Wort, wir reichten uns nur die Hand - die erste französische Hand, die ich seit Jahren wieder fassen durfte» (Die Welt von gestern). Oder wenn ein gemeinsamer deutsch-französischer Vortragsabend eine revolutionäre aufbauende Tat war wie damals, als in Zürich im letzten Kriegsjahr J.-P. Jouve und Stefan Zweig aus ihren Werken vorlasen. Um einige Zeitungen, denen die Schweiz Asyl bot, sammelten sich konstruktive Geister, so in Bern um die Freie Zeitung, die für ein demokratisch-republikanisches Völkerrecht kämpfte, oder um A. H. Frieds pazifistische Zeitschrift Friedenswarte oder um René Schickeies 1916 nach Zürich geflüchtete Weiße Blätter. In der Obhut des Rascher-Verlags in Zürich erschien eine Europäische Bibliothek, die humanes Gut über die Ländergrenzen hinweg sammelte, sowie Leonhard Franks Roman Der Mensch ist gut. Drei Jahrzehnte, nachdem Bertha von Suttner Henri Dunants große Idee in weite Leserschichten getragen hatte, empfand Stefan Zweig erschüttert die Kraft des völkerverbindenden Geistes, die dem Krieg zum Trotz von der unter dem Zeichen des Roten Kreuzes stehenden Zentralen Auskunftsstelle für Kriegsgefangene in Genf ausstrahlte : «In unsichtbarer 150
Brandung strömt hier jeden Tag die Angst, die Sorge, die fragende Not, der schreiende Schrecken von Millionen Menschen heran. In unsichtbarer Ebbe strömt hier täglich Hoffnung, Trost, Ratschlag und Nachricht zu den Millionen zurück» (Begegnungen mit Menschen, Büchern, Städten, 1937)«. Es ist kein Zufall, daß es zwei aus dem Elsaß stammende Autoren, René Schickele und Otto Flake, sowie die Tochter (Annette Kolb) einer Französin und eines Deutschen waren, die dem Wesen ihres Gastlandes am nächsten kamen und aus ihm die kräftigste Bestärkung für ihre großen Aufgaben schöpften. Sie hatten weder mit dem lauten Kriegsnationalismus noch mit dem lauten Pazifismus etwas zu schaffen. Sie erfuhren die Tragik des zerrissenen Europa aus größerer Nähe als viele andere; während sie mit beiden Nachbarkulturen, der deutschen und der französischen, fraglos und reich verbunden waren, forderte der Nationalismus von zweien, nämlich von Annette Kolb und von René Schickele, daß sie sich einseitig für die französische oder die deutsche Sache entschieden und so haßten, was sie liebten, und lieben sollten, was sie haßten. Die Qual, innerlich an beiden Ländern zu partizipieren und von beiden Verräter genannt zu werden, gab ihrem Willen zu einer deutschen Republik und einer europäischen föderalistischen Staatengemeinschaft ohne Krieg und Gewalt Tiefe. Im Werk aller drei Schriftsteller steht damals die Schweiz im Vordergrund. Sie ist ein tröstliches Urbild unentwegter, selbstverständlicher Menschlichkeit und ihr Staat ein verheißungsvoller Entwurf eines europäischen Staates der Zukunft: «Wenn einmal Europa die Bilanz dieses Krieges aufstellt, wird die Schweiz auf der Gewinnseite der Menschlichkeit an erster Stelle stehen... Sie erscheint mir wie der heilige Hieronymus, zu dessen Füßen die großen Raubtiere sich versammelten» (Schickele in Weiße Blätter, V , 1916). Vom Inneren des Deutschen Reiches her hatte Ferdinand Avenarius 1915 schon den Mut besessen, mit der Vorstellung der Schweiz die kühne Vision eines neuen Europa zu verbinden: «Durch die Großmächte von Notwendigkeiten entlastet, die uns bedrücken, dem Raum nach klein und gerade dadurch zu Versuchen geeignet, von überaus tüchtigen Menschen bewohnt, die Freiheit über alles liebend und, in der Unabhängigkeit nach außen verbürgt, auch über alles pflegen könnend, im Herzen Europas, wo Deutschtum und Romanentum sich treffen - so scheint uns die Eidgenossenschaft wie eine Vorbildung der Zeit im fernen Morgenrot, da die Vereinigten Staaten von Europa die Güter der Menschheit wahren» (Kunstwart, Januar 1915). Dieser tiefgegründete Wille zum Bau einer neuen, universalen europäischen Geisteswelt, mitgefördert durch die Kräfte der Schweiz, durchdringt auch Flakes Roman 151
Nein und Ja. Es wird darin um die philosophischen Grundlagen der Zukunft gerungen. Nicht zufällig spielt sich die Handlung 1917 und 1918 auf Schweizer Boden ab: hier bereitet ein junger Deutscher, bewußt im Einklang mit der freien, übervölkischen Geistesart des Gastlandes und in lebhaftem Gegensatz zu den zeitgenössischen deutschen Nationalisten und Oppositionellen, jene Gesinnung der integralen Universalität vor, die, der herrschenden Überspitzung der Ansichten gründlich müde, Gegensätze, das Ja und Nein, unter umfassenden Aspekten zu schöpferischem Ausgleich zu bringen versucht - Ansätze zu einer Haltung, von der aus zum drittenmal seit 1870 deutsche Dichter zu Kernwerten der Schweiz den Zugang unmittelbar finden sollten. Die schönste Formel für das, was 1914-1918 das feu sacre der Miterbauer einer neuen Welt genährt hatte, schrieb Hugo Ball in sein Buch Die Flucht vor der Zeit: «Die Schweiz ist die Zuflucht all derer, die einen neuen Grundriß im Kopfe tragen. Sie war und ist jetzt, während des Krieges, der große Naturschutzpark, in dem die Nationen ihre letzten Reserven verwahren . . . Von hier, von der Schweiz aus, wird sich Europa wieder beleben. Alle, die sich die Köpfe zerbrechen oder zerbrachen über die Frage, wie der Menschheit wieder aufgeholfen, wie eine neue Menschheit zu garantieren sei, leben oder lebten einmal in diesem Land.» VI. D I E A U S E I N A N D E R S E T Z U N G MIT D E R SCHWEIZ ZUR ZEIT DER WEIMARER REPUBLIK Der Gang der Auseinandersetzung deutscher Schriftsteller mit der Schweiz in der Gärungsepoche zwischen 1918 und 1933 ist in den wichtigsten Positionen deutlich erkennbar und mit der Zeitgeschichte in Verbindung zu bringen, obwohl das Bild der Weimarer Republik noch nicht in allen Zügen einwandfrei feststeht. Zunächst ist zu betonen, daß die verbreitete Meinung, 1918 bedeute den vollständigen Zusammenbruch aller bisherigen deutschen Lebensordnungen und Denkweisen, einen beträchtlichen Teil der Tatsachen ignoriert. Die Kriegs- und Nachkriegsnot hat die geistige Kontinuitätskraft der Bewegungen der Jahrhundertwende nicht gebrochen; wohl aber hat sie die Intensität jener Haltungen gesteigert. Selbst die forsche, prosperitätsgläubige Modeliteratur der Stratz und Höcker dauert nach 1918 mit hohen Auflagen weiter. Ungebrochen lebt vor allem die neuidealistische Bewegung aller Schattierungen fort: als Wahrzeichen ihrer Beziehungen zur Schweiz stehen Werke wie Pontens Novelle Letzte 15z
Reise (1925), Schäfers Zwingli (1926), Rilkes Briefe aus Muzot, Hesses Bilderbuch, Ricarda Huchs Schweizer Städtebilder und viele andere am Weg. 1930 gründete der Zürcher Martin Bodmer, von Herbert Steiner sekundiert, die Zweimonatsschrift Corona und machte sie zur bedeutendsten Sammelstätte des späteren neuidealistischen Geistesgutes. In einer 1949 im gastlichen Haus Martin Bodmers gehaltenen Rede hat ihm Rudolf Alexander Schröder den Dank dafür abgestattet: . . . «Dank, den vor allem wir Deutschen dem Gründer und Herausgeber der Corona schulden, dessen Hochsinn . . . aus ihr nicht hat ein vergängliches .Kränzchen' werden lassen, sondern ein ,sertum' - oder ,stemma', das heißt, eine lange Frucht- und Blumenschnur, die ihre Gaben und Beigaben über anderthalb Jahrzehnte verteilt und erst aufgehört hat, sie weiter darzureichen, als rohe Gewalt das öffentliche Geistesleben jenseits des Rheines zum Erliegen brachte.» Die ersten Nachkriegs jähre waren für die neugeschaffene deutsche Republik aber zweifellos Zeiten tiefer wirtschaftlicher und politischer Zerrüttung und bitterer sozialer Not - eine Epoche schwerer Gefährdung in einem bereits durch den Weltkrieg aus allen Bahnen des Gewohnten gerissenen Volk. Die Gewalt der Erschütterungen läßt sich deutlich auch an den großen Schwankungen im Verhältnis deutscher Schriftsteller zur Schweiz ablesen. Bei denen, die, im Kernschatten der Umwälzungen von 1918 stehend, den Blick auf das kleine Nachbarland richteten, lassen sich zwei Haltungen unterscheiden (zum Teil setzen sich Weltkriegsaspekte darin fort): die einen sahen ein Utopien der unversehrten Menschlichkeit, die andern ein Egoistenparadies vor sich. In Flakes Montijo taucht ein ehemaliger deutscher Hauptmann auf, der eigens für einige Jahre in die Schweiz zieht, um seine Kinder nach den Auflösungserscheinungen in Deutschland wieder an dem ruhigen Weiterwirken des unerschütterten europäischen Kulturerbes in der Schweiz teilhaben zu lassen. Früher schon hatte Flake in Nein und Ja große Pläne entworfen für ein Landerziehungsheim, in dem eine deutsche Elite fern vom Reich in der Schweiz erzogen werden sollte. Und aus diesem heilen Geistesklima sah man die tätige Hilfe der Nachkriegszeit kommen. Die Nahrungsmittelsendungen ins Reich, die Scharen der in die Schweiz reisenden Ferienkinder: die Erinnerung daran haben einige Schriftsteller festgehalten. In Hermann Stegemanns Schicksalssymphonie (1937) leitet die weibliche Hauptgestalt, eine junge Schweizer, Ärztin, deutsche Kindertransporte ins Simmental, wo sie in die «wortkarge und treue» Pflege der Bauern kommen; eine Stelle schildert die Überfahrt über den Bodensee - es ist, als ob der Dichter mit den Augen vieler Deutscher von damals hinüberschaute: «Vom Abendnebel angehaucht,
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grüßte das Schweizer Ufer zu ihr herüber, und das Schiff, das vom Lärm der Kinder schwoll, fuhr unter einer Rauchschleppe und mit brandroten Kabinenfenstern wie ein Märchenschiff aus Dunst und Trübe in ein Märchenland.» So sahen es die einen. An den andern erwies sich, wie sehr ein großer Krieg nicht bloß die Kriegführenden einander entfremdet, sondern auch die Kämpfenden den Neutralen. Es entstanden bedrohliche Risse in den Fundamenten der schweizerisch-deutschen Beziehungen. Alte Freunde der Schweiz wie Ricarda Huch und Wilhelm Schäfer wandten sich ab, Sympathien wurden erschüttert, und das Ansehen des Alpenlandes sank bei manchen Deutschen. Es geschah nicht in erster Linie, weil denen, die eine uneingeschränkte Parteinahme für ihren Kampf erwartet hatten, Neutralität bzw. unabhängige Beurteilung des Krieges halbwegs als ein Paktieren mit dem Feind erschienen war - diese Gegner machten sich in Angriffen gegen Spittelers und Hodlers öffentliche Aussagen Luft. Entscheidend war eine allgemeinere Ursache: der allen Unsicherheiten Ausgesetzte begreift den scheinbar gesichert Lebenden nicht mehr. Zum Machtanspruch des Nationalstaates, zum übersteigerten Selbstgefühl des anarchischen Ich, zum extremistischen Dogma kommt als vierte mögliche Entfremdungsursache der Abgrund zwischen der ausgesetzten und der geborgenen Existenz. Für manche Deutsche gab es von beiden Grundvorgängen der ersten Nachkriegsjahre, nämlich vom Zusammenbruch alter und vom aufgewühlten Kampf um neue Ordnungen her, keine Nähe mehr zu schweizerischer Art. Nach dem Zweiten Weltkrieg verstärkte sich dieser Zug, manchmal in dem Grade, daß der durch die Niederlage Gedemütigte schließlich seine verzweifelte Not als eine Auszeichnung des Schicksals gegen die vermeintlich vom Schicksal mit Verschontheit Bestraften ausspielte. Die Schweizer schienen sich auf Grund ihres scheinbar unwandelbar festen Frankenkurses einer trügerischen Sicherheit hinzugeben. Die Ruhe und das Maß, womit trotz allen einzelnen Aufgerüttelten das kontinuitätsfeste Geistesleben im ganzen weiterging, sah nach Selbstsicherheit und Stumpfheit aus, zu schweigen von manchen Zeichen nationaler Selbstgerechtigkeit. Im Hintergrund steht manchmal die Frage, ob die Schweiz vor lauter Verschontheit nicht ein schicksalloses Land geworden sei, wie denn überhaupt die Kritik an der Schweiz von dieser Seite her im Grunde immer um die innerste Unterlegenheit des scheinbar Überlegenen geht. «Nicht dies trennt uns so sehr, daß sie ihren Haushalt in Ordnung haben, während wir an der Unordnung des unsern leiden, sondern dies, daß wir die Ausweisung aus dem Paradies der Wohlfahrt erfahren haben, vor dem uns der Engel mit dem bloßen hauenden Schwert 154
steht, während sie hinter wohlbehüteten Grenzmauern ihr gesichertes Bürgertum für eine göttliche Einrichtung halten. Das mythische Wort Spittelers, daß ihre Berge auch nicht so hoch wären, wenn sie sie selber gebaut hätten, trifft ihre Herzen noch nicht, während die unsrigen bereit sind, Berge zu bauen», sagt Schäfer in Wahlheimat. Wer solchermaßen in seiner Not vieles von Grund aus in Frage stellte, konnte nur zu einem gleichermaßen Aufgewühlten ein inneres Verhältnis finden. Ricarda Huch erhob in diesen Jahren den dämonischen Luther über Zwingli, so wie Ernst Lissauer 1919 im Versband Die ewigen Pfingsten den rationalistisch unerschütterlichen Schweizer verwarf. Es geht um den Abendmahlstreit zu Marburg, wo Pult gegen Pult «wie Turm gegen Turm» aufgebaut ist - die Reformatoren, zu Urtypen entgegengesetzter Menschenart gesteigert, treten nicht nur vor ihre Zeit, sondern auch vor das deutsche Volk von 1919, damit der Streit um die Führung in einer Epoche tiefster Not bis zum Ende ausgekämpft werde. « Zwingli, ohne Haupt noch Leib zu regen, Weiß vortrefflich auszulegen, Feilt und glättet mit geschliffner Schneide, Auf gestreckten Händen reicht er Deutung dar.» Dagegen Luther: «So steht es da, so hat er es erfahren, Durch sein Geblüt erfloß groß Offenbaren. Des Heilands Fleisch und Blut in Brot und Wein Ging leibhaft in sein eigenes Leben ein.» Der Eindruck, daß in der deutschen Literatur nach dem Ersten Weltkrieg die schwindende Geltung der Schweiz eine augenfällige Erscheinung ist, wird dadurch bestärkt, daß zwischen 1918 und 1933 zwei literarische Strömungen den Vordergrund beherrschten, die ebenfalls ungünstige Voraussetzungen zu einer ersprießlichen Begegnung mit dem Nachbarland boten. Es handelt sich um den Expressionismus, der wenige Jahre vor dem Kriege allmählich einsetzte und schon gegen 1925 bedeutend nachließ, und um die Protestaktion gegen seine Verstiegenheiten sowie gegen den ungeheuerlichen Dilettantismus seiner zahllosen literatenhaften Mitläufer: die zum Teil von enttäuschten Expressionisten getragene Neue Sachlichkeit, die ihrerseits in den Hintergrund geschoben wurde, als mit dem Durchbruch des Nationalsozialismus 1933 von Staates wegen jegliche Art von volkhafter Dichtung gefördert wurde.
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Expressionismus Was die Neuerer vor Augen sahen, war ein chaotisches Deutschland für die Expressionisten das verarmte Land der Inflation, in dem der Parteienkampf wütete, nachdem in den Bränden des Weltkrieges die bisherige ziemlich gefestigte Lebensstimmung samt dem wilhelminischen Staat und einem Teil der gesellschaftlichen Ordnung zusammengebrochen war. Der Druck der feindlichen Mächte lag auf dem Land, dessen geistiges Leben unbeschränkt sämtlichen heilsamen und unheilsamen Einflüssen von innen und außen offenstand. Die expressionistischen Dichter, aufgewühlt vom Gefühl einer sich ankündigenden neuen Menschheitsepoche, steigerten sich in eine leidenschaftlich glühende, die Welt in Ekstasen erlebende Innerlichkeit hinein. So widerspruchsreich ihr Wesen ist, so ist doch bei allen der Grundantrieb ein alle Gegensätze der Welt in sich verschmelzendes grenzenloses Alleinheitsgefühl. So sind die expressionistischen Werke Stätten, wo dieses alles umfassende und zugleich alles entgrenzende Allverwandtschaftsgefühl eine visionäre Welt aus sich heraus gestaltet, in der die sozialen Schranken dahinschwinden in einer großen Allbrüderlichkeit, die nationalen in einer einzigen Menschheitsgemeinschaft, die Schranken zwischen Mensch und Gott in einem kosmischen Alleinheitsgefühl und in der die Grenzen der Begriffe gesprengt werden durch den leidenschaftlichen Willen zum «letztmöglichen Ausdruck», wie Gerrit Engelke sich ausdrückt. Die Schweiz, obgleich ihrer jüngsten Generation die kühnen Entgrenzungen des expressionistischen Gefühls nicht fremd waren, hatte nicht viel geistiges Gut aufzuweisen, das die Neuerer in Deutschland als verwandt hätten erkennen können, und Volk und Staat standen weitgehend unerschüttert da. Das Odium der nervenstarken dickhäutigen Bürgerlichkeit, noch gesteigert durch das Odium der stumpfen Zeitferne, haftete an der Schweiz ärger als je: «Wurden die Schweizer durch das wilde Grauen aufgescheucht? Stiegen in ihren Grenzen die apokalyptischen Reiter in die Sättel, um über das Land zu schrecken ? Nur wo Meer und Boden sich verschließen, öffnet Geist seine Reiche. Unser Glaube hat darum Wurzeln. Wir werden das Reich des Geistes finden, aus ihm werden Volks- und Notbücher wachsen. Ein schwereres ABC, als es der liebenswerte Pestalozzi lehrte», schreibt Fritz von Unruh im Zürcher Lesezirkel (1920), und Gottfried Keller vermag in Kasimir Edschmids programmatischer Schrift Über den Expressionismus in der Literatur (1919) neben einem Whitman, Dostojewski, Büchner nicht zu bestehen. Aber an zwei Stellen zerbrach die feindliche Starre des unekstatischen 156
Landes, und es erschienen als «antwortende Gegenbilder»: das Hochgebirge und die «expressionistische» Kunst Ferdinand Hodlers. Zwei der Schöpfer der ersten künstlerisch gültigen Arbeiterdichtung deutscher Zunge, Heinrich Lersch und Max Barthel, sind vor dem Ersten Weltkrieg durch die Schweiz gewandert, und manche Anregung aus diesen Monaten ist in ihr Werk übergegangen. Auch im Arbeiterdichter dieses Schlages ist das Bild der Schweiz seiner unbeholfeneren sozialistischen Vorgänger nicht gänzlich verblaßt. In vielen jener echt expressionistischen, katarakthaften Aufzählungen von Völkern und Ländern, die ekstatisch zur neuen Weltbrüderschaft verschmolzen werden sollen, wird auch die Schweiz aufgerufen - so in Johannes R. Bechers Hymnus An Europa. Eigentlich bedeutsam aber ist der landschaftliche Anreiz. Nach Nietzsche und nach, bzw. neben den Neuidealisten wurde im Expressionismus zum drittenmal seit 1870 die Bahn frei für ein Alpenerlebnis großen Stils. Der gewaltig getürmten Gebirgsnatur antwortet im expressionistischen Dichter die immer wache Bereitschaft zur ekstatischen Entgrenzung: so etwa in Momberts kosmischen Naturphantasien. Bergweiten und Berghöhen befreien und entrücken; in rauschhaften Raumvisionen, in Transzendierungen in die Musik und in das heilige jenseitige Weiß der Mystiker hinein sucht der Allverschmelzungsdrang sich zu sättigen: «In Gletscher-Einsamkeit Von tausend Einsamkeiten eingeschlossen, Weiten sich Horizonte um die Gipfel. Berg an Berg überhebt sich, Ausholend in die höhere Höhlung des Raumes. Im Mittagslicht glühen die starren Eiswände und tönen, Alle Täler sind voll Gesang. Immer nur Klingen von silbernem Eise, Immer nur der helle Gesang fallender Wasser, Überall weißer schimmernder Glanz... Ewige Schneefelder, Sonne, Glut, Firnenlicht. Rein und klar wie diese unendliche Weiße Ist meine Seele. In heiliger erdferner Ruhe warte ich, Daß ich aufgehe in eine weiße Wolke In ein stürzendes Wasser, in einen himmlischen Wind» . . . (Lersch: Mensch im Eisen, 1925) Und ähnlich befreiend war die Wucht Hodlerscher Gemälde. Für einen Arbeiterdichter, der zugleich Maler war, für Gerrit Engelke,
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wurde die Kunst des Schweizers wegweisend: «Seine eigentlichen Propheten . . . wurden schon damals: Beethoven, Walt Whitman, Hodler . . . Hodler schenkte ihm den Rhythmus der Form und den Blick in die Seele der Dinge» (Jakob Kneip im Nachwort zu Engelkes Rhythmus des neuen Europa, 1921). Rhythmus ist ihm leidenschaftliches Hingerissensein, und wenn Hodler ihm den Rhythmus der Form schenkte, so bedeutet das, daß der Maler dem Dichter den Mut zum gewagtesten Wort und Bild befreite. So wie Hodler in überwirklich leuchtenden Farben unmittelbar «geballte» seelische Stimmung ausdrückte, so wie er kühn die Wirklichkeit nach dem Gebot der künstlerischen Vision verwandelte, so wollten es die Dichter mit ihren Ausdrucksmitteln tun. Wie die Lust an verwegener Ausdrucksfreiheit vom Gemälde auf den Betrachter übersprang, wie Kraft Kraft weckte, ist bis in den Wortlaut hinein spürbar, wenn Schickele frühexpressionistisch Hodlers Selbstbildnis aus dem Jahr 1917 schildert: «Der Bart ist ein Stück aus dem Grammont oder einem andern Bergrücken... Stirn und Backen kommen, unbearbeitet, aus demselben Steinbruch. Der Rock, gelb und grün, ist eine Alm. Eine einzige Stelle erinnert daran, daß hier Haut sich um Blut spannt, der Mund, und der ist geschminkt. Hängt die Jungfrau daneben, einen Steinklotz mit Wolken als Dekorationsschnörkel, und sie ist das ein wenig kubistisch gesehene Porträt einer jüngeren Schwester.»{Die Genfer Reise, 1909) So wiederholte sich bei Hodler, was sich zur Zeit derBöcklin-Begeisterung unter deutschen Dichtern in größerem Ausmaß ereignet hatte: ein schöpferisches Werk wirkte mit innerster Notwendigkeit schöpferisch weiter. Der Dichter, der am Werk des Malers lernte, sah nicht nur sein Weltgefühl vertieft, seine Einsicht bereichert, die Welt seiner inneren Bilder gemehrt, sondern auch seine Fühl- und Schaufähigkeit an sich gesteigert, und mitunter wuchs ihm am Malerwerk die Ausdruckskraft des Wortes. So begreift man das Dankeswort Engelkes: «Aus unserer Malerei wird vor dem Gericht der Zeit nur Hodler bestehen» (a. a. O.). Ist es Zufall, wenn Else Lasker-Schüler in einem zur Zeit der Inflation an den Zürcher Literaturkritiker Eduard Korrodi gerichteten Brief in einem Atemzug wiederum Hodlers Kunst und die große Landschaft als das ihrem expressionistischen Gefühl offenbar Gegenwärtigste nennt? «Über Zürichs Bahnhofstraße . . . schreiten oft Männer breitschultrig, Gesicht und Bart aus Holz, sofort aus Hodlers Gemälden kommend . . . Ich liebe Ihr Land, seine lieblichen T ä l e r . . . Die Höhen sind Götter und tragen grünliche Gletscherbärte.» (Dichtungen und Dokumente, hg. von E. Ginsberg, 1951.)
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Neue Sachlichkeit Auf die expressionistische Dichtung folgte eine Literatur der Enttäuschten und Ernüchterten. Immer noch bot das geistige Leben ein Bild des Wirrwarrs: «Hie Kant, hie Nietzsche, hie Marx, hie Hegel, Untergang der Wissenschaft, Lebensphilosophie, Mystik, Metaphysik, Phänomenologie - wie ein Jahrmarktsgeschrei mischt sich der wüste Chor der Stimmen» (Fritz Heinemann: Neue Wege der Philosophie, 1929) - dazu die Heilsangebote vom Kommunismus bis zum Stahlhelm, von der Nacktkultur bis zum Spiritismus, von den Lebensidealen Amerikas bis zu denen des Fernen Ostens! Manche sehr generationsbewußte jüngste Schriftsteller sahen darin bloß ein aller fruchtbaren Möglichkeiten bares Gewühl von Weltanschauungen, die alle mit gleichem Unrecht im Namen des Geistes Wahrheit und Geltung für sich beanspruchten. Die Enttäuschungen führten zu einer radikalen Absage an alle wirklichen und auch an alle nur vermeintlichen Illusionen des Geistes und des Gefühls. «Jeden Tag ein gutes Gedicht lesen und ein gutes Bild betrachten', sagten die Alten. Heute lachen darüber die Hühner», stellt der 27jährige Franz Matzke in seinem für einen Teil seiner Generation symptomatischen Buch Jugend bekennt: So sind wir! ungerührt fest. Die Zustände nach den wenigen Jahren der allmählich sich konsolidierenden Republik waren nicht dazu angetan, auf den ersten Blick diesen stoischen Kleinmut und dieses Weltbild der geistigen Deflation zu widerlegen: nach 1929 breitete sich die größte Wirtschaftskrise der neuesten Zeit über die Erde aus, die Arbeitslosenzahlen stiegen in Deutschland in die Millionen, die unzufriedenen Massen wurden eine leichte Beute der radikalsten Parteiprogramme, in denen bald kommunistisch die klassenlose Gesellschaft eines neuen Äons, bald nationalsozialistisch das starke, soziale, die zukünftige Welt beherrschende Deutschland verheißen wurde. Die Repräsentanten der Neuen Sachlichkeit hatten dem nichts entgegenzusetzen als den Willen, völlig illusionslos schriftstellerische Rapporte über die sinnleere Welt zu liefern, bisweilen dem absoluten Defaitismus verfallend, bisweilen auch mitten in ihrer fragwürdigen großstädtischen Umgebung nüchtern den neuen Menschen ohne ideologischen Überbau zeigend, der ziemlich beziehungslos in einem Leben ohne Höhe und ohne Tiefe steht und sich bemüht, eine elementare, ehrliche menschliche Existenz von unten her aufzubauen. Es ist nicht verwunderlich, daß schweizerische Motive in diesen literarischen Breiten selten sind. Und doch gab es im Schrifttum der neusachlichen Jugend und derjenigen, die von dem nicht wenig verbreiteten modischen Gefühl der Existenzöde miterfaßt waren, einige wenige Zu-
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gänge zur Schweiz. Sie führten zu drei Menschentypen, welche ideale Leitbilder dieser Generation waren: zum Sportler, zum Techniker und zur neuen, in der Nachkriegszeit herangereiften Generation der sachlichen, emanzipierten Frau. Der Sportsmann war der unsentimental-kühle, unideologisch-natürliche kameradschaftliche Mensch, froh seines gestählten Körpers und eines unproblematischen Verhältnisses zur Natur, bereit, Gefahren ruhigen Mutes zu begegnen, und weitgehend regiert von den angelsächsischen ethischen Begriffen «fair» und «unfair» - nach Bernhard Diebold den «Grundformen einer neuen Tugend». Für die Schriftsteller, die ihn schilderten, war die Schweiz ein sportlich gesehenes Sportsland. Aus solchen populären Ingredienzien hat Hans Richter seinen mittelmäßigen Skifahrer- und Werkstudentenroman Der Springer von Pontresina (1930) gemischt; in den Bergbüchern des Filmschauspielers Luis Trenker stößt man öfters auf schweizerische Motive in sportlicher Sicht, und Carl Haensel hat mit den Mitteln des «Tatsachenromans» in dem vielgelesenen Kampf ums Matterborn (1929) die alpinistische Großtat Whympers rekonstruiert39. Sehr zeitgerecht hat Frank Thieß in seinen Aufsätzen Erziehung %ur Freiheit den berühmten Schweizer Flieger Walter Mittelholzer neben einen Lindbergh, Nungesser und andere gestellt, in denen «Millionen ihre eigene Sehnsucht verkörpert fanden». Sodann aber ließ sich in den zwanziger Jahren eine veritable deutsche Tennismeisterin, die zugleich Romanschriftstellerin war, in einem Landhaus bei Rapperswil nieder (man findet es am Schluß des Romans 4 x Liebe [1937] geschildert) : Paula Stuck. Die Schweiz der Skifahrer und der Golfspieler und die Schweiz des internationalen Luxushotelbetriebs vereinen sich in ihrem sportlich-mondänen Blickfeld, in dem, mit raschen, sicheren Strichen umrissen, die weltberühmten Industrie-, Sports- und Gesellschaftsgrößen sich im beliebten «playground» Europas ein Stelldichein geben. Eine Zeitlang hat sich auch die neue modische Vergottung der technischen Großleistung und des Ingenieurs bis in den schweizerischen Motivbereich hinein ausgewirkt. In einem filmhaften utopischen Roman vom Bau eines Kanals, der die Nordsee mit dem Mittelmeer quer durch die Schweiz und den Splügen hindurch verbindet, hat Hans Richter der «Technokratie» gehuldigt (Der Kanal, 1923). Die schweizerische Frau Die Frau schließlich erscheint in dieser Sicht im souveränen Genuß von Freiheiten, um welche frühere Frauengenerationen noch erbittert hatten kämpfen müssen. Ihr ist es bereits natürlich, daß sie auf sich selbst 160
gestellt ist, daß keine konventionellen Fesseln sie entscheidend mehr hindern, weltfreudig und freizügig ihr eigenes Leben aufzubauen. Der Einflußbereich der Frau hatte sich im öffentlichen Leben Deutschlands ausgedehnt; schon sahen einige Zeitkritiker teils von sozialistischen, teils von Bachofens Ideen her ein neues Zeitalter des Matriarchats kommen. Der immer alert in die Zeit hinaushorchende Otto Flake läßt eine junge, in Bachofens Werk bewanderte Deutsche feststellen: «Heute wurde sogar in den Zeitungen die Frage erörtert, ob sich nicht eine neue Periode der Frauenherrschaft vorbereitete. Es war nicht mehr so selten, daß ein Mädchen sich einen Mann wählte, der sie zur Mutter machte, und ihm dann den Abschied erteilte. Zum mindesten war wahr, daß die starren, vom Mann gegebenen Gesellschaftsgesetze sich zu lockern begannen» (Freund aller Welt). Frank Thieß wies auf Carl Gustav Jung hin als einen Zeitgenossen, der den Ausgleich zwischen weiblichen Urkräften und der einseitig vom Mann geschaffenen und geführten überrationalisierten technischen Zivilisation forderte und sogar in einem mit den Möglichkeiten der Polygamie spielenden Kontinent des Frauenüberschusses die Frage nach neuen Formen der Ehe stellte. Deutsche Schriftsteller übertrugen nicht einfach im Reich Beobachtetes auf die Schweiz, wenn sie behaupteten, auch in dem kleinen Nachbarland habe sich entscheidend Art und Lebensstil der Frau gewandelt. In Freund aller Welt spricht man, an der jungen Schweizerin Susanne Gygax exemplifizierend, davon: «Etwas mehr Elastizität, etwas weniger Sentimentalität, kürzere Dauer der Reaktion und der Verarbeitung als früher», das sei ihr neues Wesen. Die Lebensläufe schweizerischer Frauengestalten sind in manchen zeitnahen deutschen Romanen seit der Jahrhundertwende kühner, ungewöhnlicher, ungesicherter, freier vom Herkommen, und der Abstand zu den treuen Hüterinnen des heimischen Herdes aus der Bismarckzeit ist weit. Hans Blum hatte in der Novelle Ein Achtundvierziger ihrer Tüchtigkeit gehuldigt. Nur allzu leicht war den wilhelminischen Schriftstellern die mütterliche, hausfrauliche, konservative Schweizerin zur hausbackenen, von Vaterlandsliebe und Frömmigkeit überfließenden Kopie der Stauffacherin geworden. Wenn Max Duncker in der Verserzählung Heustrichbad (1901) wortreich den «unverdorbnen Geist des Schweizer Weibes» verherrlicht, so spielt er offensichtlich die Schweizerin aus gegen die gefährlich aufkommenden, die patriarchalische Familienhierarchie bedrohenden Vorkämpferinnen der Frauenrechte. Wir haben an Josefine Geyer aus Ilse Frapans Roman Arbeit gezeigt, wie allmählich Gestalten aus der schweizerischen Frauenemanzipation in die deutsche Literatur eindringen. Auf dieser Linie des sich befreienden Lebens steht neben an161
deren die vorhin erwähnte Susanne Gygax in Otto Flakes Roman Freund aller Welt, ein junges Mädchen der Nachkriegszeit, selbständig und mit Festigkeit eine Pension leitend, beweglich und sensibel hinauswitternd in die geistigen Kämpfe des Tages. Sie liest erregt ein Modebuch der Zeit, Lindsays Werk über die Probeehe. Wie sie aber selbst eine unverbindliche Art der Gemeinschaft in ihrem Leben verwirklichen könnte, da lehnt sich ein tiefer Instinkt gegen das Nichtige und Leerlaufende einer rein libertinistischen Frauenexistenz in ihr auf, und der uralte Traum, der dauernde Bindung an den einen Mann und das eigene Kind will, setzt der Lust am unverbindlichen oder am ausgesetzten Leben nicht ein Ende, aber eine metaphysische Schranke - es ist zugleich eine Schranke, welche von der tiefsitzenden Abneigung ihrer echt schweizerischen Art gegen extreme Haltungen gesetzt wird. In der Tat: wer die dem Vermännlichungsprozeß rückhaltlos ergebene Frau oder wie Wedekind die triebhaft abenteuernde moderne Libertinistin zu gestalten suchte, gab ihr nicht schweizerische Namen. Im fortschreitenden zwanzigsten Jahrhundert ist das in der deutschen Literatur vorherrschende Bild der Schweizerin nicht mehr das der konservativen, aber auch nicht das der schrankenlos emanzipierten Frau, sondern, im Einklang mit dem großen Gang der Entwicklung, der zusammenfassende «bipolare» Charakter - d.h. eine Schweizerin, die unkonventionell, unabhängig, weit- und experimentierfreudig ist, aber letztlich innerhalb einer objektiven sittlichen Ordnung und innerhalb einer der mütterlichen Frau gemäßen Gefühlswelt bleibt. Wer genauer hinsah, entdeckte schon im neunzehnten Jahrhundert bei schweizerischen Dichtern und in der schweizerischen Wirklichkeit in an sich aus dem Herkommen nicht gelösten Frauengestalten einen ungewöhnlichen Sinn für innere Unabhängigkeit und einen kühnen Freimut: etwa in Kellers Judith oder Meyers Lukretia Planta; so wenig hier mit der «konservativen» Formel auszukommen war, so wenig mit der emanzipierten gegenüber den seelischen Mischcharakteren der Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert. Deren Tragödie hat Wedekind an der schweizerischen Hauptgestalt des Dramas Musik (1908) dargestellt; ihre reichen positiven Lebensmöglichkeiten aber haben die Schriftsteller immer wieder zu schönsten Gestaltungen angeregt, bis zu Walther von Hollanders Therese Larotta (1939), bis zu den Schweizerinnen in Reinhold Conrad Muschlers Romanen Diana Beata (1938) und Flucht in die Heimat (193 6) und bis zu Leonhard Franks Mathilde (1948), von der es heißt: «Alle Differenzierungen sind in ihr enthalten und schon wieder aufgegangen in ihrem Wesen - sie ist schon wieder einfach. Und weil sie ihrer [heimischen, bäuerlichen] Welt die Treue hielt, blieb sie auch als Frau unversehrt.» 162
Die junge Schweiber Generation in der Krise Als in den zwanziger Jahren die neue Freiheitsbewegung des sachlichen Geistes mit den Leitidealen des sportlichen Menschen, des Technikers, der emanzipierten Frau, mit der Abwendung von den großen Werten des inneren Lebens, welche dem Neuidealismus teuer waren, weiter um sich griff, empfanden viele Beobachter solche Erscheinungen, zusammengenommen mit den wirtschaftlichen, politischen und weltanschaulichen Erschütterungen, als Symptome einer gesamteuropäischen Entwicklungskrise größten Ausmaßes. Sie sahen Europa mitten in der Gefahr eines rettungslosen Zerfalls des Wertgefühls und des Geisteslebens überhaupt. In Hesses Brief an einen jungen Mann vom Spmmer 1931 ist die Abwehr schneidend: er zeige in einem Schreiben an den Dichter die «typische Haltung Ihrer Generation: Zynismus auf Grund von Verantwortungslosigkeit, Verzweiflung auf Grund von Anarchie. Dagegen gibt es kein Heilmittel, es werden Kriege und andere Schweinereien daraus entstehen, daß bei Euch keine Ehrfurcht, kein Wille zum Dienen, keine Lust zur Steigerung der Persönlichkeit durch große Aufgaben da ist. Als Ersatz für Religion und Kultur genügt das bißchen Boxen und Rudern nicht.» Auch die Schweiz lag in der Einflußsphäre der allzu vieles auflösenden Tendenzen. Auf unser Thema bezogen: gleichsam unter dem osmotischen Druck der Zeit drangen auch in die von schweizerischen Dingen handelnden literarischen Werke Gestalten und Ideen aus diesem Bereich ein, und es wurde auch hier nach den «antwortenden Gegenbildern» der Schweiz gefragt. In besorgter Sicht bedeutete das, daß man die Jugend des Nachbarlandes einer schweren historischen Charakterprobe ausgesetzt sah. Wilhelm Schäfer hält sie 19 31 in seiner in Zorn und Enttäuschung geschriebenen Novelle Ein Mann namens Schmitt fest. Er sieht eine junge Generation, die amerikanisiert ist, seelisch dürftig entwickelt, in leeren Zerstreuungen und öden Geldgeschäften aufgehend, blind für die Gefahren, die der wirtschaftlich sinnlos überentwickelten Stadt Zürich, dem Schauplatz der Novelle, und dem nur durch den tiefgründenden Menschen gewährleisteten inneren Zusammenhalt des Landes drohen. Eine gewisse Schweiz verleugnet in einer zu weit getriebenen snobistischen Emanzipation ihre eigenen Wesensgrundlagen. Ein Zeichen dafür ist ihm der neue künstlerische Geschmack: «Die Schweizer hätten [meint Schmitz] das Glück gehabt, eine Zeitlang - solange Hodler berühmt war - eine eigene Malerei zu haben, die sich mit jeder anderen Malerei messen könne, weil sie auf dem eigenen Selbstgefühl gewachsen wäre, nun wären sie wieder in die Provinz zurückgefallen, bei Cezanne, 163
Picasso oder sonst einem Franzosen in die Schule zu gehen I» Stegemann zeigt im Roman Schicksalssymphonie an der Gestalt des 1922 ungefähr fünfzehnjährigen Schweizers Werner Steingruber ähnliche Probleme. Er ist der Vertreter einer Generation ohne Metaphysik, die abenteuernd und orientierungslos Surrogate für das abgelegte Herkommen sucht in Sport, Film und allerlei Moden der absoluten geistigen Voraussetzungslosigkeit. Und Flake glaubt, im Jahre 1920 Sturmzeichen in der bedrohten Schweiz zu erkennen: «Symptom war alles, der Spott einer Zeitschrift der Jungen gegen den Pomp eines C. F. Meyer-Denkmals, Reibungen mit Italien, der Todeskampf der St. Galler Stickereiindustrie» (Freund aller Welt). Gemeint ist mit alledem die Gefährdung der bisherigen schweizerischen Wesenssicherheit durch die allgemeine tiefgehende Zersetzung der geistigen Werte, gemeint ist die Gefahr, daß unangemessener Ersatz gefunden wird für alte, abgedankte Überzeugungen oder daß sogar mit der entleerten Existenz vorliebgenommen wird; gemeint ist schließlich die Bedrohung, die an den Kern des schweizerischen Charakters rührt: daß die berühmte schweizerische, den ganzen Menschen tragende «Substanz» selbst sich erschöpfe oder aus Vernachlässigung sich auflöse. Stegemann entläßt im Gegensatz zu Schäfer seinen jungen Schweizer eher mit Zuversicht in die Zukunft: er weiß um den im Grunde heilsamen Charakter dieser und aller Krisen des schweizerischen Menschentypus, der sich wie andere auch in der Auseinandersetzung mit neuen und bedrohlichen Zeitkräften immer wieder zu bewähren hat. Davos und seine Stunde Davos, die Krankenstadt im Gebirge, ist in den Augen vieler Schriftsteller dadurch ausgezeichnet, daß in ihrem Hochtal eine außergewöhnliche Menge Von großem und tragischem Schicksal versammelt ist. Weil hier jeder einmal die Nähe des Todes gespürt hat, ist er für den Dichter eine auserwählte Gestalt. In der deutschen Literatur wird Davos nicht lange nach seinem Aufschwung als Kurort (um die Jahrhundertwende) sichtbar; bald steht es als ein bedeutungsvolles und berühmtes Thema im Kreis der schweizerischen Elitethemen. Nie war aber seine Faszination stärker als in jenen Jahren kurz vor und nach 1918, als über manche deutsche Schriftsteller das Bewußtsein der stets drohend gegefiwärtigen Krisenhaftigkeit der menschlichen Existenz selber fast wie eine Krankheit Macht gewann. In diesen Zusammenhang gehören die Davoser Romane des Patienten Klabund {Die Krankheit, 1917, Franziskus, 1921). Vor allem ist es ein Vor164
gang von großartiger zeitgeschichtlicher Offenbarungskraft, wenn Thomas Mann in seinem 1924 erschienenen Zauberberg die lebensgefährliche Krise der orientierungslos gewordenen oder mit hunderterlei Lebens- und Geistes Surrogaten sich behelfenden europäischen Menschheit und zugleich die erwachenden Überwindungskräfte im erbarmungslos klaren Ausschnitt der Krankengesellschaft eines internationalen Davoser Sanatoriums zeigt, das Spiel der zersetzenden und der aufbauenden Kräfte Europas in die Stadt der Krankheit, der Tode und der Gesundungen verlegend. Denn über dem Bild einer verwöhnten, luxuriösen Vorkriegsgesellschaft, wie es sich ihm während eines dreiwöchigen Davoser Aufenthaltes 1912 darbot, liegt gleich einer photographischen Überblendung das Bild der «europäischen Seelenverfassung und geistigen Problematik im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts» (Thomas Mann in der Einführung zur Zauberberg-Au.sgabe der Büchergilde Gutenberg, Zürich 1951). Auch die spätere Wandlung des Kurortes zum Sportplatz von Weltruf (nach 1925) ist im deutschen Roman vermerkt worden (vgl. Hermann Hoster: Genesung in Graubünden, 1938). 1932 bereits scheidet Kasimir Edschmid, der getreueste literarische Paladin des Ortes, in seinem Schaubuch Davos, die Sonnenstadt im Hochgebirge die Gästescharen zu gleichen Teilen in Patienten und Sportleute, und 1938 erscheint schon im Sportroman Paula Stucks das technische Glanzstück des modernen Davos, die mehrmals im Tag wiederholbare Abfahrt Parsenn-Küblis: «Am Weißfluhjoch war es voll von Wartenden, die mit einem Auge auf ihre heiße Zitrone blickten und mit dem anderen die blauen Himmelsflecken suchten, um bei hervorbrechendem Sonnenschein die ersten zu sein, die nach Küblis oder Klosters absausten, um dann wiederum die ersten zu sein, die mit der Bahn oben ankamen. Der Taumel des Rasens hatte alle ergriffen» (Frauen sind komisch, 1938). Das Hauptthema der früheren Davoser Dichtungen war der Mensch angesichts der schleichenden Bedrohung durch den Tod. Grotesk und aus Trostlosigkeit einseitig formuliert es Klabund: «Leben, das heißt hier: einer Protestversammlung Sterbender gegen den Tod angehören» (Die Krankheit). Die Totentanzgestalten dieser Werke gehen angesichts dieser Situation immer wieder die gleichen Wege: entweder in die Todesangst, in die hemmungslos ausgelebte Lebensgier, in die Stumpfheit oder aber in die innere Überwindung der Todesangst. Sie erscheinen in erstaunlicher Mannigfaltigkeit im Zauberberg. Was dieser Situation vor dem Tode an hohen Werten abgerungen wird, das mutet an wie eine moderne Abwandlung des Mysterienkultes, den gewisse Romantiker mit der Krankheit trieben. Etliche Gedichte 165
zeugen von der Verfeinerung der Sinne während der endlosen Liegekuren; Das Schlittengeläute im Tal, das Rauschen der Bäche, die Stimmen auf der Straße, die ziehenden Wolken, die Formen der Berge: das tausendmal Übersehene und Überhörte wird plötzlich Ereignis. Und von innen her kommt den von außen wirkenden Kräften ein merkwürdiges, oft durch die Krankheit selbst gesteigertes Leben des Geistes entgegen. Die Begriffe vertiefen sich und gewinnen tröstliche Kraft, so wie bei Hans Castorp im Zauberberg, wenn er, das Geheimnis «Zeit» erwägend, zu einer Lebenstiefe gelangt, die jenseits des vorübergehenden Augenblicks gründet und von der aus das «Flachland» der Gesunden schon in seinem Namen seine fragwürdige Natur offenbart. So ist das höchste Ereignis, das in der Davoser Dichtung festgehalten wird, die Selbsterlösung des Menschen aus der Angst vor dem Tode 40 . Der dritte Höhepunkt: Die Schweiz und die Idee der Ganzheit Ganzheit des Menschen In den zwanziger Jahren, als sich der junge deutsche Staat allmählich festigte mit einer neuen Währung und mit einer einigermaßen tragfähigen Parteienkoalition im Innern und der Mitarbeit im Völkerbund nach außen, als gleichzeitig aber auch der Trubel scheinbar unaufhaltsam auseinander- und gegeneinanderstrebender Meinungen und Systeme im geistigen Leben immer verwirrender wurde, erschienen eine Reihe dichterischer Werke von Rang auf dem Plan, die manche der bisherigen Errungenschaften der modernen Dichtung in sich aufgenommen hatten, aber dennoch ein neues geistiges Gesicht zeigten. Ein Bedürfnis nach Ganzheit trat aus großer Seinstiefe als beherrschende Kraft in ihnen hervor, das Bedürfnis des modernen Menschen, als ein hochdifferenziertes Ganzes in reichem Einklang mit einem universalen Weltganzen zu leben. «Ganzheit» war keine laute Forderung des Tages wie das Programm des Expressionismus oder der Neuen Sachlichkeit, sie war eine der leisen Ideen der Zeit, und ihre Spur führte weit in die Geschichte des Menschen zurück: zu Aristoteles, Thomas von Aquino, Leibniz und Goethe. Die Dichter, die von ihr erfüllt waren: Hesse, Carossa, R. A. Schröder, Flake, Rilke u. a., standen in reiferen Lebensjahren und waren durch recht verschiedene Kräfte geformt worden. Indem sie in ihren späteren Werken eine Summe ihres Lebens zogen, vollzogen sie zugleich wie durch den Willen eines geheimen Regulativs den höchsten, den eigentlich sinnenthüllenden literarischen Akt der Jahrzehnte seit 1870: das, was in den großen Erneuerungsprozessen als schöpferisch lebendig emp-
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funden wurde, zu komplexen Einheiten zusammenzufassen. Die Wahrnehmungskräfte hatten sich impressionistisch verfeinert. Die Kraft des Fühlens war tief und weit geworden in den Taten des Neuidealismus und des Expressionismus, das Denken fähig, auch entgegengesetzteste komplexe Sachverhalte zu erfassen, ja gerade hinter dem Widersprüchlichen das übergeordnete Wahre zu suchen. «Die Kategorien, mit denen sich das Denken bis dahin beholfen hat, scheinen sich aufzulösen. Grenzen werden ausgewischt. Gegensätze erweisen sich als vereinbar... Interdependenz wird das Stichwort aller modernen Betrachtung menschlichen und gesellschaftlichen Geschehens. Überall muß einseitige, orthodox-kausale Erklärung Platz machen für die Erkenntnis vielseitiger, zusammengesetzter Beziehungen und gegenseitiger Abhängigkeiten», stellt Huizinga 193 5 in seinem Buch Im Schatten von morgen fest. Nicht nur die Kräfte des Menschen an sich waren verfeinert und ausgeweitet, auch die den Menschen umgebende Welt war nach allen Seiten neu erschlossen worden. Das Bild des proletarischen, bäuerlichen, bürgerlichen, künstlerischen, aristokratischen Menschen war neu gesehen; der Kosmos und die irdische Landschaft, das Reich der Geschichte war frisch erschlossen; es schienen sich Wege ins Gebiet der übersinnlichen Erfahrungen zu öffnen; die Ausdrucksmittel der Sprache waren in all diesen Prozessen über Bisheriges hinaus gewachsen. In einer Elite reifte der komplexe Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts heran zur Bewältigung der unendlich verwickelten Wirklichkeit seiner Zeit. Fast jedes Errungene war allerdings erkauft mit einem Anheimfall an eine Vereinseitigung. Nunmehr aber lehnte sich in vielen ein wachsendes Verlangen nach Ganzheit des Lebens immer entschiedener gegen den Zwang einseitiger Lebensformen und verengter simplifizierender Denkweisen auf. Man erkannte in ihnen das Grundverhängnis der Zeit und die große Schuld vieler ihrer Führer schlechthin. «Sehen Sie die Sozialisten an, die Konservativen, die Freigeister, die Orthodoxen - überall finden Sie, wie bei Schweizer Alpentälern, ein ,Ende der Welt', ein paar Bretter, hinter denen es, wie proklamiert wird, nicht weitergeht. Eine ,Zeit der Sackgassen' könnte man unsere Zeit nennen», protestiert Morgenstern in einem (undatierten) Brief an Siegfried Jacobsohn im Namen der Ganzheit. Bedeutsame Werke und innere Reiche der modernen Literatur erwuchsen aus den neuen Aufgeschlossenheiten, und für die Rezeption schweizerischer Anregungen nach 1918 erwiesen sie sich als die wichtigste Voraussetzung. Es gab für den Willen, als ein differenziertes Ganzes in vielfältigen Einklängen mit einem komplexen Weltganzen zu leben, ein beglückend reich antwortendes schweizerisches Gegenbild. 167
Einige Schriftsteller, deren wesentliches Anliegen die Heranbildung einer neuen, wachen, in komplexen Zusammenhängen lebenden Elite war, fanden auf schweizerischem Boden Erforscher des Menschen, welche die Dinge unvoreingenommen und unorthodox von verschiedenen Gesichtspunkten aus zu betrachten gelernt hatten und dadurch zu vielschichtigeren, wirklichkeitsnäheren Einsichten als bisher gelangt waren. Im Roman Joseph Kerkhovens dritte Existenz (1934) schildert Jakob Wassermann den Weg eines deutschen Seelenarztes, der durch alle Wirren der Nachkriegszeit hindurch nach, der großen «Verbundenheit mit dem Ganzen» als einem letzten rettenden Ziel für den modernen Menschen strebt. In der einem solchen Unterfangen denkbar förderlichen Luft der freien Schweiz, in Steckborn, eröffnet er ein Sanatorium für die am Chaos der Zeit kranken Menschen. Ein großer Gelehrter in Zürich ist «Kerkhovens Halt und Auf blick» - gemeint ist der in der Schweiz naturalisierte Neurologe Constantin von Monakow. Carl Gustav Jung hatte 1929 (durchaus nicht als einziger) in seiner Schrift über Die Frau in Europa «eine unserer Zeit allgemein innewohnende Kulturtendenz zu einer völligeren Gestaltung des Menschen» und einen «zunehmenden Ekel vor sinnloser Einseitigkeit» festgestellt, und seine Psychologie, die bereits vor 1918 einigen Dichtem die Sprache der irrationalen Seele erschlossen hatte, sah, weiter entwickelt, den Menschen tief in seiner modernen Umwelt, welche «komplexe», für die innere Notwendigkeit von Widersprüchen und paradoxen Synthesen zwischen Ich und Gesellschaft, männlichen und weiblichen Kräften usw. aufgeschlossene Naturen verlangte. Flake läßt im Nachkriegsroman Freund aller Welt (1928) einen Psychologenkreis um die Gestalt des Dr. Wipplinger in Zürich die Grundlagen eines universalen Menschenbildes der Zukunft erörtern: das Urbild war ein mit Adlersund Jungs Gedanken vertrauter Neurologe. Auch zu Hesses Hang zur Philosophie der Coincidentia oppositorum im Demian führt eine Spur von Jung her, und Frank Thieß holt sich, echt komplex denkend, in Erziehung %ur Freiheit (1929) Bestätigung für den Willen, «Erhaltung früherer Werte zusammen mit einer Anerkennung ihres Gegenteils» vom Menschen der Zukunft zu fordern, aus Jungs Werk Das Unbewußte im normalen und kranken Seelenleben. Hermann Hesse Hesse läßt seinen Kurgast im schweizerischen Städtchen Baden bis ins äußerste das wirre Dilemma zwischen den herrenlos auseinanderstrebenden niederen und höheren Kräften des modernen Vielseelenmenschen durcherleben, ehe er die befreiende universale Lösung findet: die Durch168
dringung der Gegensätze, die schwierige, schwebende Einheit der Coincidentia oppositorum als das Zeichen des Menschen einer neuen Zeit. Durch das wandlungsreiche Lebenswerk dieses Dichters, der mit dem kurz vor 1933 begonnenen Glasperlenspiel (1943) ein klassisches Buch der modernen Sehnsucht nach verinnerlichter Ganzheit schuf, ist eine Perlenschnur schweizerischer Motive geflochten. 1899 war er, zwanzigjährig, von Tübingen nach Basel gezogen und hier Buchhändler geworden. Nach den vorangegangenen Jugendkrisen setzten nun Jahre eines ruhigeren Wachstums ein, in denen der junge Dichter, diesseits des Naturalismus in impressionistischer Sinnen- und Seelenverfeinerung heimisch, jenseits an die Traumwelt der Romantik anknüpfend, sich allmählich der Wesensart seiner Kräfte bewußt wurde. Solchen Stimmungen ist im Roman Peter Camen^ind (1904), der ihn auf einen Schlag berühmt und unabhängig machte, ein Schuß realistischer Erdkraft beigemengt: Kellers Dichtung strömt gesunde Kraft aus auf einen im Unbestimmten tappenden Lebens Sucher und auf einen tapferen Krüppel, und Kellers Freude am urtümlich Echten ist auf den Dichter übergegangen, wenn er die mannhaften, zähen und schlauen Seebauern von Sisikon (im Buch: Nimikon) sowie ihren heimischen Urnersee heraufbeschwört. Von der lebensreformerischen Experimentierlust der Zeit erfaßt, versuchte Hesse, zwischen 1904 und 1 9 1 1 in Gaienhofen mit Frau und Kind als bauernder Schriftsteller zu leben, kam aber 1912 in die Schweiz zurück, wo er die Weltkriegsjahre in Bern verbrachte, während der Hälfte dieser Zeit in der deutschen Gefangenenfürsorge tätig. In der tragischen Ehegeschichte Roßhalde (1914), in der so viel poetische Verwunschenheit alter bernischer Landsitze eingefangen ist, künden sich schwere Verstörungen an. Nicht nur brach des Dichters Ehe zusammen, sondern unter dem Eindruck der entfesselten Haßenergien der Kriegführenden auch seine verhältnismäßig beruhigte bisherige Lebensart, ja sein Vertrauen in «unsere deutsche Geistigkeit, unsre deutsche Sprache, unsre Schule, unsre Literatur», wie er in einem Brief vom Dezember 1931 rückblikkend sagt. In der aus den Fugen gehenden Welt nach 1918 geriet der Dichter immer mehr in die Tiefen und Untiefen des Zeitchaos. Der Ring, der in diesem Menschenbild die Strebungen der Persönlichkeit bisher zusammengehalten hatte, war gesprengt; nunmehr zerfällt ihm das Ich widerstandslos in Trieb und Geist, Zynismus und Erlösungsverlangen, und die Welt ihrerseits in zahllose Antinomien. Was bisher verfeinerte Sinnenhaftigkeit war, wird nun fessellos gesteigert, etwa in der Gestalt des Malers Klingsor, der trunken vor Lust und von Angst vor der Urleere wirr sich an die großartig expressionistisch lodernde Farbenglut der Tessiner Landschaft verschwendet {Klingsors letzter Sommer, 1920). Ande169
rerseits wird das, was früher sensibelster seelischer Spürsinn gewesen war, nun zur leidenschaftlichen, erlösungssüchtigen Erkundung aller Labyrinthe der unbewußten Seele, wie sie sich bereits im Demian im Zeichen Jungs und Bachofens angekündigt hatte. Hesses Weg führte dicht an der Verlorenheit des rettungslos zerrissenen vielspältigen modernen Ich vorbei. Was ihn vor der letzten Auflösung der Persönlichkeit bewahrte, war die allmählich zur Gewißheit werdende Ahnung, aufgestiegen wie aus den tieferen Gründen seiner früheren romantischen Versonnenheit, daß hinter allen Antinomien ein verhüllter, alles in sich einender Gott stand, der sich «in hundert Formen, Bildern und Sprachen offenbart h a t . . . Und wenn eine dieser vielen Erscheinungsformen des Einen verbraucht und altersmüde wird, dann hat der Lebendige längst schon neue Gestalten bereit, in denen er erscheinen kann. Er überlebt die Völker, er überlebt Religionen und Kirchen» (an Schwester Luise, 1950). Dieser religiöse Sinn seiner Dichtung tritt im Alterswerk hervor. Den entscheidenden Schritt darauf zu tut eben jener Badener Kurgast Hesse, der die entgrenzte, der widersprüchlichsten Regungen fähige moderne Seele bejahen lernte als die Voraussetzung für einen neuen, die Welt in ihrer widerspruchsreichen Fülle und in ihrer metaphysischen Einheit schauenden ganzheitlichen Menschen: «Beständig möchte ich auf die selige Buntheit der Welt hinweisen und ebenso beständig daran erinnern, daß dieser Buntheit eine Einheit zugrunde liegt; beständig möchte ich zeigen, daß Schön und Häßlich, Hell und Dunkel, Sünde und Heiligkeit immer nur für einen Moment Gegensätze sind, daß sie immerzu ineinander übergehen. Für mich sind die höchsten Worte der Menschheit jene paar . . . , in welchen die großen Weltgegensätze zugleich als Notwendigkeit und als Illusion erkannt werden.» Am Ende dieses Weges steht das Wunschbild des Glasperlenspiels von der universalen Harmonie der Traditionen der Kulturvölker im meditierenden Geiste. Inzwischen war der Dichter 1919 in Montagnola im Tessin seßhaft geworden und hatte sich in der Schweiz eingebürgert. Der humane Staat, der keine Machtpolitik treiben konnte noch wollte und seine Armee nicht zum Überfall auf andere abrichtete, sagte ihm zu: «Nach außen hin habe ich die schweizerische Haltung der unbedingten Verteidigung des eigenen Bodens und der eigenen politischen Unabhängigkeit ebenso wie des unbedingten Verzichtens auf etwaige Annexionen stets gutgeheißen und mitgemacht» (an den Vertreter einer deutschen Kulturgesellschaft, 1950). Schwerer wogen persönlichere Beweggründe: hier war es dicht am deutschen Kulturbereich möglich, zugehörig zu sein und zu bleiben, ohne unfrei zu werden, eine Verlockung, die für niemand stärker ist als für den künstlerischen Charakter. Schließlich fand er bei 170
den Menschen, in der Sonnenwärme und den Farben des Tessins die voll beglückende Lebenslandschaft. Das Bilderbuch (1924) und die Wanderung (1927) sind an tessinischen Szenen reich. «Wenn ich diese gesegnete Gegend am Südfuß der Alpen wieder sehe, dann ist mir immer zumute, als kehre ich aus einer Verbannung heim... Hier scheint die Sonne inniger, und die Berge sind röter, hier wächst Kastanie und Wein, Mandel und Feige, und die Menschen sind gut, gesittet und freundlich, obwohl sie arm sind» (Wanderung). Noch in späten Jahren preist er Haus und Garten zu Montagnola (Stunden im Garten, 1938). Von den Kräften seiner Wahlheimat, in der er organische Wachstumsmöglichkeiten fand, ist sein Werk mitgenährt, auch wo nicht ausdrücklich mit Namen wie Bachofen, Keller, Jacob Burckhardt (noch als Pater Jacobus im Glasperlenspiel auftretend), Leuthold, Ernst Morgenthaler (dem er 1938 eine schöne Monographie widmete) oder in den Gedenkblättern und Widmungen (Trost der Nacht) von ihnen die Rede ist. Ganzheit der Volksgemeinschaft Wer mit dem Sinn für reich entwickelte Ganzheiten eine Volksgemeinschaft betrachtet, wird sich mit ihr um so mehr im Einklang finden, je vielfältiger gegliedert sie ist und je feiner ihre Teilwelten ineinanderspielen und sich durchdringen können innerhalb des lebendigen Ganzen. Ein solches soziales Miniaturuniversum fanden die deutschen Freunde der Ganzheitsidee in dem kleinen Nachbarland: auf winzigem Raum ein äußerst buntes Gefüge europäischer Lebensformen, vom Bergbauern bis zum Aristokraten41, vom Industriearbeiter bis zum freien Intellektuellen, vom Handwerker bis zum Fabrikanten. Nur weil diese Bevölkerung so mannigfaltig gegliedert war, konnten die deutschen Dichtergäste, die ihrerseits vom Wanderarbeiter bis zum konservativen Reichstagsmitglied eine ungemein weitgespannte soziale Reihe darstellen, so vielerlei Affinitäten zum schweizerischen Gegenüber entdecken, nur deshalb ist das Kleine Welttheater der Schweizer Figuren in der deutschen Literatur so reich beschickt; nur weil diese Vielfalt der sozialen Typen eine noch größere Vielfalt von Haltungen und Anschauungen umschloß, sind auch die engeren Sympathiegemeinschaften so zahlreich, die zwischen innerlich Zusammengehörenden über die Grenzen hinüber entstanden: etwa zwischen politisch Gleichgesinnten oder Künstlern ähnlicher Richtung oder Bergfreunden oder Anhängern einer Konfession. Wir sind solchen Zonen engerer Zusammengehörigkeit öfters in Leben und Werk der hier betrachteten Dichter begegnet. Aus dem wilhelminischen Deutschland kommende Schriftsteller lassen 171
gelegentlich verlauten, wie befreiend ungewohnt es ihnen vorkam, daß die weiten, im Reich geflissentlich betonten Abstände zwischen den sozialen Rängen in der Schweiz nicht bestanden. Man fand (bisweilen mit der Mißbilligung des starren Konservativen) unten keine Unterwürfigkeitsbezeugungen gegen oben und oben selten die standesbewußte Verachtung gegen unten. Die Gestalt des Bundespräsidenten, der früher Bauer war und nach seiner Amtszeit wieder Bauer wird, ist zu einer gewissen Berühmtheit gelangt. So erzählt Paul Ernst in seinem Erinnerungsbuch Jünglingsjabre: «Die Monate in Bern sind mir wichtig gewesen, weil ich in ihnen wenigstens einen flüchtigen Einblick in die schweizerischen Verhältnisse und Zustände gewann. Ich begleitete Oncken fast immer von der Vorlesung nach Hause. Einmal begegneten wir einem bäuerlich aussehenden Mann, der eine Kuh zum Bullen führte. Oncken stellte mich ihm vor. Es wurden einige Worte gesprochen; dann verabschiedete man sich mit freundlichem Handschlag. Nachher sagte mir Oncken, das sei ein früherer Bundespräsident gewesen.» Daß dieser reich gegliederte Volksorganismus durch schwere Belastungsproben, vor allem durch den modernen Klassenkampf, hindurchzugehen hatte, läßt sich da und dort auch aus deutschen literarischen Spiegelungen erkennen; als ein Ganzes, und zwar als ein sich in seiner Vielfalt behauptendes Ganzes, ist sein Bild erst in den gärenden Zeiten nach 19x8 tiefer in den Prozeß der innenpolitischen Idealbildung in Deutschland eingedrungen. Nicht zufallig finden wir unter den Dichtern, welche das Geheimnis des Zusammenhalts der vielfältigen Schweizer Menschengemeinschaft zu ergründen suchten, manche Freunde der Idee der Ganzheit. Sie sahen im eigenen Land die freie Entfaltung einer neuen, reich gegliederten Volksgemeinschaft durch das Klassenkampfideal von links und eine autoritäre ständische Ordnungsidee von rechts bedroht, im schweizerischen Volkskörper hingegen entdeckten sie als stille, heilsame, das Ganze tragende Kraft ein ihrem eigenen Wesen selbst urverwandtes differenziertes Zusammenhangsgefühl. Den an die Zerrissenheit des deutschen Gesellschaftsgebildes Gewohnten kam der trotz allen Einzelspannungen doch feste organische Zusammenhalt, das Gefühl für das Ganze, wie ein Wunder vor. Jakob Wassermann sprach es so aus: «Bei vielen Gelegenheiten, ob es nun die oft bespöttelten Schweizer Feste und Umzüge waren, oder im nicht ganz leichten Umgang mit Familien und Einzelnen, war es doch stets jener entschlossene und selbstverständliche Demokratismus, der mich anzog und mich mit einer Art von glühendem Neid erfüllte; das freie Nebeneinander der gesellschaftlichen Schichten, die helfende Wirksamkeit der Parteien und Individuen an einem lebendigen Ganzen, das jedem und allen zu eigen und vitalstes
Interesse aller ist» {Die Schweif im Spiegel, in: Wissen und Leben, 17. Jahrgang,* 1923/24). Und R. A. Schröder prägte dafür, durch das Erlebnis des kleinen Landes der großen Vielfalt mitbestimmt und im Anschluß an das ;vWerk des Schweizer Komparatisten Fritz Ernst, das Wort «Gegenseitigkeitsgefühl», den Begriff zugleich zu einer Mitte einer ganzheitlichen Philosophie erweiternd: «Ich möchte es das Gegenseitigkeitsgefühl nennen, weil in ihm die innere Gewißheit des Einzelnen von seinem Angewiesensein auf das Ganze der Welt und dem Angewiesensein dieses Ganzen auf ihn selber lebt. In diesem Gefühl, das ein Gefühl ständiger, unaufhebbarer Verpflichtungen und Verantwortungen nach allen Seiten hin und von allen Seiten her in sich schließt, leben bewußt alle höheren Geister, unbewußt wir alle» (Gruß an die Schweif 1931). Das ist annähernd das, was Flake in einer Philosophie des Zusammenlebens folgendermaßen umschreibt: «Es gehört zur Hygiene des Lebens, daß Differenzierung bewilligt wird. Versklavung ist hassenswert... In der Verwebung, im Nebeneinander der Gegensätze verbirgt sich die Freiheit. Die Gleichzeitigkeit der Gegensätze, ihr Ausgleich durch gegenseitige Relativierung ist bereits die Harmonie, die auf unserer Erde erreicht werden kann» (Bilanz5 1931). Das kulturelle Klein-Europa Dem Dichtergast deutscher Zunge bot sich in der Schweiz eine erregende Vielfalt europäischer Kulturklimate. In ihrem alemannischen Teil stand er in einer stimulierenden Halb- oder Viertelsfremde; durch Sprache und Kultur war ihm der «republikanische Pol des deutschen Lebens», wie Treitschke sich ausdrückte, näher als andere Gastländer. Andererseits spürte er in vielen Lebensäußerungen etwas unverwechselbar Eigenständiges und Unvertrautes. Gelangte er weiter bis in die welsche Schweiz oder in den Kanton Tessin, so wurde das Gastland zum Vorraum Frankreichs oder Italiens. Gebannt erblickte mancher zum erstenmal das nie vorher gesehene andere Europa, die Mittelmeerwelt, wenn ihn am Genfersee die Eisenbahn an südländischen Fischer- und Winzerdörfern vorbeitrug oder wenn er im Tessin Mimosen und Palmen in den Gärten «italienischer» Städte entdeckte. Es ist in der deutschen Literatur bisweilen die Rede von dem überraschenden Erlebnis, daß auf einmal der Schaffner im Zug die Stationsnamen französisch auszurufen beginnt oder daß man am Südhang des Gotthard in einem «plötzlichen Italien» (wie Kafkas Tagebuch 1911 formuliert) von den Bahnhöfen die klangvollen italienischen Ortsnamen ablesen kann: man hatte unvergeßbar west- und südeuropäische Kulturgrenzen überschritten, man hatte Europa erfahren, versammelt im Kulturschnittpunkt Schweiz.
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Viele deutschsprachige Dichtergäste, nach dem verjüngenden, die Existenz reicher machenden Leben in französischer Luft verlangend, zogen an die «waadtländische Riviera», manche als Studierende nach Lausanne oder Genf. Lausanne, das hinter dem beinahe alle Aufmerksamkeit absorbierenden Genf im deutschen Schrifttum zurücktritt, war die Studienstadt von Edward Stilgebauer, Frank Wedekind, Emil Strauß, Wilhelm von Scholz, Emil Ludwig; Robert Schweichel und Stilgebauer dozierten eine Zeitlang an der damaligen Akademie. In Genf studierten Michael Georg Conrad, Wilhelm Hegeler, Josef Ponten, Henry Benrath, Joachim von der Goltz, Alfred Neumann, während Stefan George, seine erste Initiation in die französische Welt erfahrend, und Max Dauthendey sonst vorübergehend am Genfersee ansässig waren. Neben den deutschschweizerischen spielen so die welschen Universitäten ihre wichtige Mittlerrolle in der Begegnung deutscher Schriftsteller mit der Schweiz. Im Schrifttum taucht der am Genfersee studierende Deutsche mehrmals auf - so schöpft z. B. der erste Band des Romans Goet^ Krafft (1904) von Stilgebauer aus des Verfassers Erfahrungen im Lausanne des Jahres 1888. Dennoch bleibt der Deutschschweizer vorwiegend der Schweizer in der deutschen Dichtung; selten tritt ihm der welsche Charakter mit seiner ungezwungeneren, rascheren, spirituelleren Art zur Seite, etwa die Yvonne Dufour in Goeir^ Krafft oder die Eugénie in Schäfers Haus mit den drei Türen (1931) - die Reihe reicht bis zu der «mit Liebe und Fleiß» geschilderten zarten, tapferen, tüchtigen Künstlerin Marie Godeau in Thomas Manns Doktor Faustus (1947). Etwas häufiger ist von tessinischer Art im deutschen Schrifttum zu lesen. Ein Teil jener deutschen Liebe, die Italien als dem Inbegriff des unnordischen, komplementären, sinnenfreudigen und fraglosen Lebens (einem uralten deutschen Wunschtraum) gilt, wird auf das Tessin übertragen. Das Tessiner Volk lebt nach dem Zeugnis zahlreicher deutscher Werke im Stande einer reinen, unbefangenen, toleranten Natürlichkeit und spricht gerade durch seine innere Affinität zur Haltung des künstlerischen Menschen den fremden Dichter an. Das naiv Unbürgerliche des Tessiners, seine Kunst, in einem harten Existenzkampf anspruchslos und doch genießerisch zu leben, bekräftigt das bewußt Unbürgerliche im Besucher und löst es gewissermaßen tiefer aus, wenn dieser versucht, im Bilde seines «Gastgebers» solche freiere Menschenart zu gestalten. Während der gern mit massiven Begriffen arbeitende Bleibtreu im Roman Geist (1906) von der «Wedekindlichkeit» der ennetbirgischen Schweizer zu erzählen weiß, steht ihr und ihrer Landschaft Bild farbig und rein bei ihrem größten deutschen Schilderer und Liebhaber Hermann Hesse da. Femer ist die seit dem
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Ende der zwanziger Jahre in Carona niedergelassene Märchenerzählerin Lisa Tetzner zu nennen, die in der Reise nach Ostende vom Auszug einer Tessinerfamilie nach dem lockenden Glück der Fremde und von ihrer Rückkehr erzählt, oder Josef Winckler mit der köstlichen Tessiner Klosterlegende Vom maljreudigen Leodegar oder der selber so kindliche Hugo Ball mit den Intermezzi, die er inmitten der für ihn ansteckend unbefangenen Menschlichkeit seiner tessinischen Umgebung erlebte42. Solchermaßen haben die italienische und die französische Schweiz manchem deutschen Schriftsteller seine Welt über nationale Grenzen hinaus erweitert. Als eine Dreieinheit europäischer Kulturen aber wurde die Schweiz erst bei denjenigen Deutschen als bildende Kraft tiefer wirksam, die aus dem Bedürfnis nach Ganzheit heraus das Leben in enger Berührung mit der gesamteuropäischen Überlieferung als die einzig mögliche nicht beengende geistige Existenzform suchten. In der Schweiz begrüßte man in dem Kulturhistoriker Fritz Ernst und dem Literaturkritiker Max Rychner Weggenossen zum gemeinsamen Ziel. Die bisher kraftvollste Rühmung der universalen kulturellen Schweiz stammt aus dem Jahr 1931, als der nationalsozialistische, antieuropäische Nationalismus bereits hohe Wellen schlug. Schon als der Autor, R. A. Schröder, einige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg Schweizer Boden betreten hatte, überwältigten ihn, gleichsam durch den Akt des Grenzübertrittes befreit, Intuitionen zu großen europäischen Gedichten: «Über alle tragische Historie hinweg, die den Bodensee zur staatlichen Grenzscheide dreier deutschredender Bevölkerungen gemacht hat, sollten diese Gedichte ausklingen in eine Anrufung der Schweiz. Ist doch in der Dreieinheit der um die steilste Wasserscheide des Erdteils herum, innert seines höchstgelegenen Wohngebietes, als wäre es in einer Wurzel, zusammengefaßten Nationalitäten gewissermaßen der Begriff eines Kleineuropa verkörpert.» 1931 schrieb er dann in Zürich, gleichsam an Stelle dieser Gedichte, den Aufsatz Gruß an die Schweif - von seiten eines Kenners der europäischen Überlieferung, dem «nur das Alte nicht alt» war, eine meisterhafte Würdigung der Schweiz als eines übervölkischen Staates, in dem sich historisch mächtige christliche, antike und germanische Kulturwerte zu einer wahrhaft abendländischen Ökumene verbunden haben. Rainer Maria Rilke Rilkes letzte Lebensjahre stellen die urbildliche Beziehung eines großen Dichters dar, der mit einer ins höchste gesteigerten allseitigen Empfänglichkeit in der Schweiz das unerschöpflich vielfältige Land sucht und aus ihrer Fülle seine eigene Fülle erneut.
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Im Januar 1919 kam er, tief verstört durch die Eindrücke der Weltkriegsjahre, auf die Einladung der Gräfin Dobrzensky und des Zürcher Lesezirkels Hottingen ins Land, zunächst ohne an ein langes Verweilen zu denken. Sein kostbarstes Begleitgut waren die 1912 begonnenen, unvollendet gebliebenen Elegien. Der Gequälte lebte nur für eines: die Quellen der schöpferischen Kraft wieder zu befreien und den tief in noch unerschlossenes Sein hineinweisenden Torso ganz zu vollenden. Das war nur von einem Künstler zu leisten, der in gedrängtester Zusammenfassung der Kräfte seine Natur überreich machte, dem Augenblick der Schöpfung entgegenreifend. Dies erforderte eine Stätte der unbelasteten Sammlung und der vielfältigsten Möglichkeiten, von allen Seiten her Kräfte und Anregungen zu empfangen und dem Werk zuzuleiten. Nicht in den zerstörten großen Ländern Europas, sondern im Schutz des heil gebliebenen Mikrokosmos der Schweiz sollte der Dichter das Erwachen seiner großen Ergiebigkeiten wieder erleben. Zwei Jahre suchte der Unbehauste von Ort zu Ort; drei längere Beheimatungen in Soglio, Schloß Berg am Irchel und Etoy waren verheißungsvolle Ankündigungen dessen, wessen er bedurfte. Stets überschattete die Sorge um die nackte Existenz, um behördliche Aufenthaltsbewilligungen usw. diese Jahre. Aber Rilke hatte « Zusägliches »in Fülle in dem Gastland gefunden. Hatte es ihn früher als eine von Hoteliers feilgebotene Sammlung von Musterlandschaften abgestoßen, so heißt es nunmehr im Jahre 1921: «Mein ganzer Sommer war ein Kampf ums und fürs in-der-Schweiz-Bleiben im weiteren und ums hier, an dieser, zufällig entdeckten Stelle, Bleibenkönnen im ganz besonderen» (an Frau Gudi Nölke). Diese zufällig entdeckte Stelle des ersehnten Bleibenkönnens war der Schutz und Abgeschiedenheit bietende strenge Schloßturm von Muzot bei Siders, von dem Winterthurer Mäzen Werner Reinhart seit dem August 1921 zu freiester Verfügung gestellt; es sollte Rilkes letzte Wohnstätte werden. Das «Leben im Zusäglichen» der universalen Schweiz aber regte jenes «Sein voller Bezug» tief an, das für ihn die höchste Möglichkeit des menschlichen Lebens und zugleich der nährende Grund seiner reifen Kunst war. Ihn sprach die Atmosphäre in alten Basler Patrizierhäusem mit «Menschen voll Überlieferung, die weit ins Gegenwärtige und Künftige mitkönnen», ebenso an wie der weltverbundene Geist ostschweizerischer Handelsherren und wie die schlichte, reine Gläubigkeit des Walliser Bauern- und Winzervolkes, dem der Gegner der Konfessionen in seiner Herzensfreude die St. Anna-Kapelle bei Muzot restaurieren ließ. In Bern («Endlich ein Gesicht, ein Stadtgesicht und, trotz aller Eingriffe, von welcher Abstammung und Beharrlichkeit!») und in Basel spürte er die 176
Kraft einer alten «deutschen» Kultur; in Genf und Lausanne hingegen fühlte er die geliebten kulturellen Essenzen Frankreichs lebendig. «Wars nur Lausanne? Es war fast Paris 1» ruft er nach einem Besuch aus. Im Oktober 1919 finden wir ihn in Brissago im Bann der italienischen Welt: « Staunen Sie nun, mich schon wieder an der italiänischen Grenze zu finden ?: es ging nicht anders; ich mußte die Hände noch einmal auf einen warmen Steinrand legen . . . sah Eidechsen; Mimosen blühen, Orangen reifen langsam» (an Frau Gudi Nölke). So lag (außer dem reichen sozialen Organismus der Schweiz) ein Europa im kleinen vor der Schwelle seines Walliser Hauses und nährte mit seinen Kräften einen schaffenden Geist, dessen frühere Werke schon getränkt gewesen waren mit der Kultursubstanz des großen Europa. Er zögerte nicht, «nach den Unterbrechungen und Verstörungen der Kriegsjahre die Verbindung nach allen Ländern und allen Kulturen teils wieder aufzunehmen, teils weiter zu pflegen» (J. R. von Salis: Rainer Maria Rilkes Schwei^erjahre, 19522). Wie Anzeichen einer langsam wiedererwachenden schöpferischen Kraft wirken da und dort in Rilkes Schweizer Briefen jene Stellen, stehengeblieben zwischen Briefprosa und Gedicht, in denen er Städte, Landschaften, Menschen seines Gastlandes nachgestaltet: «Lausanne: . . . : alles, was mir für Genf versprochen gewesen ist an französischem Leben, schien mir um vieles beweglicher in Lausanne erfüllt zu sein: eine Montmartre-Stimmung. Und das vielfältig Etagierte der Stadt mit allem Auf und Ab der Straßen schien auch dem Steigen und Fallen des dortigen Treibens ein eigenes Temperament zu geben: ich . . . stieg frühmorgens den dehmüthigen hölzernen Treppen-Gang zur Kathedrale hinan, der dürftig zu nennen wäre, wenn man nicht sofort auf seine Dehmuth käme, die schon gleich bis ans Herrliche reicht in dem durch die Zeiten hin von so viel Gebrauch polierten Geländer, das mit der Köstlichkeit schöner Bronze aus der Arbeit des Lebens hervorgeht.» Oder die Bemerkungen über die «Schweizer Amazone» Regula Engel: «Der Mann war napoleonischer Oberst; sie selbst eine tüchtige und herzliche Frau, allein schon wie sie ihre Kinder ins Leben schenkte, mitten zwischen den Kriegslasten, ist wunderbar, immer in voller glücklicher Sorglosigkeit: einundzwanzig Geburten 1 . . . Die Kriege nahmen das Meiste ihrer Nachkommenschaft in sich zurück, zwei Söhne gingen mit Napoleon auf St. Helena, was sonst überlebte, war so gut wie tot für sie, denn sie blieb ohne alle Verbindung damit. Ihr Alter ist Einsamkeit und Verstörung» (aus Briefen an Frau Gudi Nölke). Nicht zuletzt wirkte auf ihn, der bildenden Mächten so «unbeschreibliche Bestärkungen zu verdanken» vermochte, die Walliser Landschaft
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ein. Er wird nicht müde, sich in seinen Briefen mit der Seele heranzufinden an dieses weiträumige, von großen, klaren Ordnungen durchwaltete Tal, an das «vibrierende, leichte und geistige» aus einem weiten Himmel einfallende Licht. Dieser Raum hat zweifellos die seelische Weiträumigkeit und die strömende Bildfülle der Elegien mit ermöglicht und jenes Ganzheitsgefühl, das orphisch die Reiche der Toten und die Reiche der Diesseitigen umfassen konnte : «Ist er ein Hiesiger? Nein, aus beiden Reichen erwuchs seine weite Natur.» (Sonette an Orpheus) «Lorsqu'un regard s'élance: quel vol par ces distances pures, il faut la voix du rossignol pour en prendre mesure . . . Pays, arrêté à mi-chemin entre la terre et les cieux, aux voix d'eau et d'airain, doux et dur, jeune et vieux, comme une offrande levée vers d'accueillantes mains : beau pays achevé, chaud comme le painl» (Quatrains Valaisans) «Es ist eines der Wunder gewesen, durch die mein Leben möglich und ergiebig war, daß ich im ,canton du Valais' dieses alte manoir finden durfte, ,Château de Muzot' genannt, dessen Härte mich zur dringendsten Einsamkeit zusammenfaßte, während die Talschaft ringsum und die großen Gestaltungen des Rhonetals mir Maße und Gleichnisse für die inneren Erscheinungen anboten, die das gesteigerte große Alleinsein aufkommen ließ» (an Veronika Erdmann, i. März 1926). In Muzot kam denn das Wunder der Wiedergeburt der strömenden dichterischen Kräfte zustande; im Februar 1922 wurden hier in einem schöpferischen Sturm ohnegleichen die Sonette an Orpheus geschaffen und die Duineser Elegien fugenlos weitergeführt und beendet : das stärkste religiöse Bekenntnis eines Menschen der neuen Totalität. Was in jenen Tagen im einsamen Walliser Schloßturm sich abspielte, ist für die Nachwelt zum Inbegriff des unbedingten Gehorsams eines großen Dichters gegenüber seinem Auftrag geworden - bis ins ferne China hinüber: 178
«Tonight in China let me think of one Who through ten years of silence worked and waited Until in Muzot all his powers spoke, And everything was given once for all: And with the gratitude of the Completed He went out in the winternight to stroke That little tower like a great animal.» (W. H. Auden) Dem hilfreichen Wallis hat er in einigen deutschen Gedichten gehuldigt und in den Quatrains Valaisans, einem heiter-gelösten Buch der Weinberge, Obstgärten, der Kirchenglocken und Bergweiten: «Nun erhob sich, im dritten Jahr meines dort Angesiedeltseins, aus mir eine Walliser Stimme, so stark und unbedingt, daß die unwillkürliche Wortgestalt in Erscheinung trat, bevor ich ihr das mindeste gewährt hatte. Nicht um eine beabsichtigte Arbeit handelt es sich hier, sondern um ein Staunen, ein Nachgeben, eine Überwältigung. Um die Freude, mich unvermutet an einer mehr und mehr erkannten Landschaft zu bewähren; um die Entdeckung, mit ihr umgehen zu dürfen, im Bereich ihrer eigenen Laute und Akzente» (an Dr. Eduard Korrodi, 20. März 1926). In Walliser Erde, an der Südmauer der Schloßkirche von Raron, ruht der Dichter gemäß seinem ausdrücklichen letzten Willen: «Ich zöge es vor, auf dem hochgelegenen Kirchhof neben der alten Kirche zuRarogne zur Erde gebracht zu sein. Seine Einfriedung gehört zu den ersten Plätzen, von denen aus ich Wind und Licht dieser Landschaft empfangen habe, zusammen mit allen den Versprechungen, die sie mir, mit und in Muzot, später sollte verwirklichen helfen» (mitgeteilt von J . R. von Salis, a. a. O.). Der Dank dieses universalen Gastes an die universale Schweiz läßt sich demjenigen für die großen Förderungen durch Rußland und durch Rodin zur Seite stellen. Ein Brief an Artur Fischer-Cobrie, eine der schönsten Urkunden in der Geschichte der neueren deutsch-schweizerischen Beziehungen, faßt ihn zusammen: «Die Schweiz im allgemeinen, der Boden, die Beziehungen, die mir hier tragkräftig geworden sind, und nicht zuletzt das Ereignis der großgearteten Landschaft des Wallis, an die ich mich tiefer angeschlossen habe von Jahr zu Jahr: alle diese Gegebenheiten machen zusammen das aus, was mir, nach dem bösen Unterbrochensein und allen Wirrsalen der Kriegs) ahre zu einer Rettung meines Lebens und meiner Arbeit geworden ist» (18. Dezember 1925).
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Die Stunde Genfs Die universale Schweiz, das antwortende Gegenbild jener Dichter, deren Hochziel der ganze, umfassend an einem universalen Weltganzen partizipierende Mensch war, wirkte auch auf ihre politischen Ideale ein. Die Kraft der ^nationalistischen Idee schien kurz nach 1918 gebrochen. Die ungeheuren Blutopfer des Ersten Weltkriegs riefen nach einer übernationalen, neuen Sinngebung : sie verpflichteten die Überlebenden zum Aufbau einer weltweiten friedlichen Völkergemeinschaft, in der die Vielheit nationaler Kulturen ohne Nachteil für die notwendige politische Einheit Raum fände. Im freien föderalistischen Völkerstaat der Schweiz sah man im Kleinsten erfüllt, was man im Größten erstrebte. Mehr noch : von seinem Boden aus unternahmen die europäischen und einige außereuropäische Mächte den ersten praktischen Versuch, eine Gemeinschaft aufzubauen und in der Gestalt des Völkerbundes eines der größten politischen Ideale der Geschichte zu verwirklichen. Mit der Stunde solcher Träume von einem neuen Goldenen Zeitalter der Staatsweisheit war auch die Stunde Genfs in der deutschen Literatur gekommen. Die berühmte Stadt Calvins war in neuerer Zeit Hintergrund sowohl für historische Dichtungen wie auch (mit ihrem glanzvollen Fremdenkorso) für Hotelromane. Impressionistische Dichter hatten ihre Schönheit neu gesehen. Außerdem steht sie in der Literatur als eine politische Stadt da, als ein Asyl für aufrührerische Geister von den Achtundvierzigern bis zu den Anarchisten und Kommunisten und den Agenten des Ersten Weltkriegs. Zu einem eigentlichen Schlagwort der Weltpolitik ist der Name Genfs aber durch den Völkerbund geworden. Eine Anzahl Völkerbundsromane bezeugen, wie stark er und die Menschenwelt um ihn her auch die Aufmerksamkeit deutscher Schriftsteller auf die Stadt zogen. Sie liegt in einer strahlenden Seelandschaft, in der von jeher die Gedanken über Binnengrenzen hinaus in die gesamteuropäische Weite geführt wurden. Calvin, Rousseau, Byron, Germaine de Staël, Amiel: dieses Gelände leuchtet auch von der inneren Schönheit eines mit europäischer Geistesgeschichte ungewöhnlich reich getränkten Stückes Erde. Den empfänglichen Dichter beglückte es: «Denn das Eigene dieser Landschaft scheint mir immer das zu sein, daß hier sehr viel gedacht worden ist, daß alles zu jener Bewegung des Geistes einlädt, die kräftigt und befreit» (M. B. Kennicott in Das Her\ ist wach, 1934)43. Die Diagnose für den Völkerbund lautet freilich negativ in der deutschen Literatur: er ist zu einer bloßen Weltbörse der Machtinteressen 180
geworden. Schriftsteller aus nationalistischen Lagern waren rasch bereit, mit der Institution auch die für sie ohnehin 2weifelhafte Idee preiszugeben - so der Nationalsozialist Rolf Brandt in dem Roman Herbst in Genf (193 5). Nicht so der Emigrant und frühere, vornehmlich auf internationale Gesellschaftschronik erpichte Reporter Hans Habe in Zu spät ? (1940), der von der Agonie des Völkerbundes zu einer Zeit erzählt, die bereits für den Zweiten Weltkrieg rüstet; vor allem nicht so das Werk M. B. Kennicotts innerhalb dieses kleinen literarischen Kampfes um die politische Gestalt Europas. Hier wird verzweifelt und wissend festgehalten am Geist einer neuen europäischen Humanität, die in Genf ihre politische Form hätte finden sollen; der Roman gehört zu ihren edelsten Dokumenten. «Man muß den Menschenring, aus Männern und Frauen, größer, energischer machen und fester schließen können, die den europäischen, den Weltzusammenhang fühlen und, anders als bisher, Politik von daher machen, die geistige Völkerbundsarmee - oder richtiger seine - von ihm unabhängige, aber dennoch seine - ecclesia militans zusammenbringen, auf ganz anderen Grundlagen als denen des dogmatischen Pazifismus, das wäre schon wert, dafür zu leben!» So wird das Ziel umschrieben. Verwirklicht ist es unter kleinen Elitegruppen, Schulen der «geistigen Beweglichkeit im internationalen Kreise», welche die weibliche Hauptgestalt auch in Genf antrifft - in größerer Zahl um das Institut Universitaire de Hautes Etudes Internationales, eine Stätte, wo die Idee einer universalen Föderation freier Staaten und einer gegenseitigen inneren Durchdringung der europäischen Kulturen mit Wärme erfaßt und im kleinen dargelebt wird. Hier läßt sich das Schönste erkennen, was von Genf auf die neuere Literatur ausgestrahlt ist: die großen Bekräftigungen für jene, die den im zwanzigsten Jahrhundert durch alle historischen Wechselfälle hindurch wachsenden Glauben an eine wahrhaft europäische Gemeinschaft hochhielten: «Es ist doch eigentlich eine historische Bühne, diese Stadt, und mir war es heute alles so gegenwärtig, ich war so betroffen von der merkwürdigen Tatsache, wie unablässig durch die Jahrhunderte immer wieder die Gedanken Europas in dieser Landschaft, an diesem See, gedacht worden sind» (Kennicott). Auch Dichter sind Staatenbauer. In den Jahren, als die Weimarer Republik sich festigte und der Glaube an die Demokratie und eine allgemeine freie europäische Föderation wuchs, sehen wir manche am politischen Werk. Dabei war bei vielen die innere Fühlung mit der Schweiz stark und selbstverständlich. Wie hoch diese in den zwanziger Jahren im Ansehen stand, läßt sich u. a. ermessen aus der «Lobpreisung der Schweiz», die der damalige württembergische Staatspräsident Willy Hellpach an das Ende seines Buches Politische Prognose für Deutschland 181
(1928) setzte. Selbst Wilhelm Schäfer war damals fähig, über die Schranken seines volkhaften Staatsideals hinaus die europäische Bedeutung des eigenartigen Nachbarstaates zu bejahen: «Wo aber in Deutschland, Frankreich oder Italien ist die deutsche, französische und italienische Natur ungehinderter als in der Schweiz ? Oder wo dort leidet ihre Kultur am Zusammensein ? Was also ist nötig, als daß die Völker Europas zu der Vernunft der Eidgenossenschaft kommen ? Damit ist, wie wir sehen, keine internationale Verwaschung, sondern innigste volkstümliche Verhaftung mit weltbürgerlicher Blick weite gemeint» (Briefe aus der Schweif..1927)44. Thomas Mann und Otto Flake Die ergiebigsten Bereitschaften, «den europäischen, den Weltzusammenhang zu fühlen», finden sich bei jenen Schriftstellern, deren Schaffen im Zeichen der Idee der Ganzheit stand. Einige griffen in das kulturpolitische Gespräch ein, mit angeregt durch das Erlebnis der weltoffen an den Zeitdiskussionen beteiligten Schweiz. Thomas Mann war zunächst so zurückhaltend zur Bejahung der Schweiz gekommen wie zur Bejahung der deutschen Republik. Hodler, Keller, Gotthelf und Meyer waren ihm nicht fremd, und ihr Land kannte er von Reisen vor dem Ersten Weltkrieg her. Den Herzton der Zuneigung vernehmen wir aber erst in den frühen zwanziger Jahren, als dem Dichter die freie, verblüffende Vielfalt des Gastlandes, das ihm viele Gesichter zukehrte, als etwas Verwandtes aufging. Es hatte in Basel konservativ-patrizisches Wesen, dem seiner Heimatstadt Lübeck ähnlich, hervorgebracht, in Zürich eine internationale «europäische Hauptstadt», in einem Kranz von Kleinstädten heimliche Horte reicher menschlicher Kultur - des «seltsam extremen Ortes» Davos nicht zu vergessen. In dem Aufsatz Die Schweif im Spiegel (« Wissen und Leben», Jahrgang 1923) gibt er sich darüber Rechenschaft. Dem in das europäische Gespräch hineinwachsenden Dichter war ferner die mancherlei Nachbarkulturen originell mit umfassende, nicht auf die Einheit von Sprache und Rasse gegründete Schweiz förderlich: «Eine solche [die Würde der menschlichen Vernunft erhärtende] Erscheinung, heilsam und förderlich anzusehen, ist der Schweizer Staat - das antipessimistische Wunder in der Tat, da es der nationalistischen Springflut von 1914 standgehalten!» (a.a.O.). Ein ferner Abglanz davon liegt über den europäischen Gesprächen im Zauberberg. Zur Schicksalsgemeinschaft vertiefte sich die Beziehung in den Jahren 1933-1938, als der vom Dritten Reich Ausgebürgerte in Küsnacht am 182
Zürichsee lebte. Und als er in seiner Zeitschrift Maß und Wert (im Zürcher Verlag Oprecht erschienen) Forderungen eines differenzierten Sozialismus mit dem Ethos einer hohen liberalen Humanität vereinte und angesichts einer immer mehr von Doktrinären beherrschten Welt für eine weimaranische Weite und Ausgewogenheit des Denkens eintrat, war er erneut im Einklang mit dem besten Wesen seines Gastlandes. Nach seiner Übersiedlung in die Vereinigten Staaten focht er mitwachsender Leidenschaft für den «zukünftigen Sieg der Demokratie»; die Schweiz blieb ihm durch freundschaftliche und verwandtschaftliche Bande und durch ihre Dichter nahe. Wie er sich an Kellers und Gotthelfs Lebensreichtum und Lebenstiefe labte, erzählt er 1949 in dem Buch Die Entstehung des Doktor Faustus. Der vom nationalsozialistischen Vernichtungskrieg umbrandeten fernen Insel der trotzenden freien Humanität galt das Wort: «Die Schweiz ist das Land, wo auf deutsch das wohltuend Undeutsche gesagt wird. Darum liebe ich sie.» Es war wie eine Besiegelung vielfacher Einverständnisse, als Thomas Mann 1953 sich neuerdings in der Schweiz niederließ und als er ihrem universalen Wesen in seinem Doktor Faustus nochmals seinen Gruß entbot: «Die Schweiz, neutral, mehrsprachig, französisch beeinflußt, von westlicher Luft durchweht, ist tatsächlich, ihres winzigen Formates ungeachtet, weit mehr ,Welt', weit mehr europäisches Parkett als der politische Koloß im Norden, wo das Wort,international' seit langem ein Schimpfwort ist und ein dünkelmütiger Provinzialismus die Atmosphäre verdorben und stockig gemacht hat» (eineNiederschrift Serenus Zeitbloms, bezogen auf die Lage um 1943). Otto Flake kam im März 1918 als Berichterstatter der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung nach Zürich und erlebte aus der Nähe die erregten Debatten der Neuerer in Leben, Kunst und Politik und dahinter die ruhige Kontinuität der Schweiz, die «sich jeden technischen Fortschritt aneignete und doch konservativ blieb» (Damals in Zürich, a. a. O.). Nach einem vierjährigen Unterbruch verbrachte er 1924 bis 1928 einen großen Teil des Jahres wieder in der Schweiz und ging immer wieder mit der Absicht um, sich dauernd niederzulassen. Der alerte, vielseitig Empfängliche wurde einer ihrer feinsinnigsten Kenner. Noch in dem späten Roman Die Sanduhr (1950) dankt er durch den Mund der männlichen Hauptgestalt launig demjenigen, der ihn einst in die Kenntnis des Gastlandes eingeführt hatte: «Er saß neben dem Nationalrat Wettstein, dem er sagen konnte, daß sein Büchlein über die Schweiz das erste gewesen sei, das er gelesen habe, um mit seinem neuen Vaterland bekannt zu werden.» In den Intuitionen seines frühexpressionistischen Zürcher Romans 183
«Nein und Jan hatte er philosophische Grundlagen zu einer ganzheitlichen modernen Humanität gelegt; von hier aus griff er in die Diskussion der aktuellen Lebensfragen ein mit Essays und vor allem mit den Zeitromanen des Ruland-Zyklus, in denen eine internationale Elite von freien, differenzierten, universalen Einzelnen zum Kern der Regeneration ihrer Gemeinschaften werden will - Freunde des «dialektischen Ausgleichs der Kräfte» in der Welt, auf dem Wege zu jenen weiten Seelenhaltungen, die allein der Vielfalt der Probleme des modernen persönlichen und sozialen Lebens gewachsen sind. Den Hauptfeind erkannte er in den unfruchtbaren sturen Radikalismen der äußersten Linken und Rechten. In «Freund aller Welt» (1928) nehmen führende Köpfe der neuen internationalen Geistesaristokratie Fühlung mit schweizerischen Kreisen: in Genf mit Menschen um den Völkerbund, in Zürich mit Psychologenzirkeln. Ein großer Plan entsteht: «Er [der Amerikaner Parris] wollte in Zürich bauen, nicht nur ein Haus für sich, sondern auch gleich ein Institut, einen Klub, einen Mittelpunkt für den geselligen Verkehr zwischen Amerikanern und Europäern für den Austausch von Ideen und für Studien, die das Genfer Werk des Völkerbundes ergänzen sollten.» Die naturgegebene Kleinheit der Verhältnisse verhindert die Durchführung. Flake hat mit ebenso leichter wie sicherer Hand in verschiedenen Werken, fesselnd und ausgewogen, mit feinster Witterung Atmosphärisches erspürend, mit der vielseitigen Schweiz eine vielseitige und verständnisvolle Auseinandersetzung geführt; sein Aufsatz Demokratie, Schweif, Zukunjt {Annalen, Jahrgang 1928) war zugleich eine Verteidigung gegen die Kritik des Grafen Hermann Keyserling. Am Schluß des hier betrachteten Zeitraums steht der Roman Die Sanduhr als eine Zusammenfassung nicht bloß der Schweizererfahrung des Verfassers, sondern auch ganzheitlicher Aspekte über die menschlich, gesellschaftlich, kulturell, politisch vielfältige Schweiz, getragen von der Freude an einem äußerst komplexen und zugleich doch überschaubaren, geschlossenen Gebilde. Seine allgemeinen Auffassungen, etwa wie sie in BilanVersuch einer geistigen Neuordnung (1931) entwickelt sind, stimmen zusammen mit denen eines Hesse, eines Rilke, eines Schröder und sind zugleich im klarsten Einklang mit der Idee der schweizerischen demokratischen Menschengemeinschaft. Und eben diese Schweiz wird in dem genannten Roman zur bildenden Macht im Leben eines von einer wohlhabenden Luzernerin an Sohnes Statt angenommenen jungen Deutschen, und die bildende Hauptkraft ist die Vielfalt selbst. Flake führt seinen Alexander Klein, den späteren Dozenten der Kunstgeschichte an der Universität Basel, durch die verschiedensten Landschaften und geistigen Klimate des Landes, 184
öffnet Einblicke in die Interpenetrationen konservativen und emanzipierten Wesens vor allem in der jüngeren weiblichen Generation; das «Bedürfnis nach dem Komplement» als der Voraussetzung aller vollmenschlichen Entwicklung wird in den vielfältigsten Begegnungen mit alemannischen, welschen, tessinischen Menschen und mit Gestalten aus aller Welt befriedigt, und die Schweiz wird zu einem klassischen Land jener unbeschränkten Begegnungsmöglichkeiten, ohne welche die von der Zeit geforderte Elite der weitblickenden Auseinandersetzungsfreudigen nicht zu entstehen vermöchte. Flake hat mehrmals die universale Schweiz am vollen Umfang der Idee der Ganzheit gemessen und in der Kleinheit des Landes eine Schranke der seelischen Entwicklung gefunden. Mancher Beobachter atmete auf, weil im winzigen Raum der Schweiz der Gesichtspunkt der äußeren Macht eine so geringe Rolle spielte und das Land an ungetrübter geistiger Wirkung, an Fülle der freien sozialen und kulturellen Entwicklung gewann, was ihm an weltweiten machtmäßigen Auswirkungsmöglichkeiten abging - selbst bei Keyserling stellte sich in diesem Zusammenhang das Goethewort «Äußerlich begrenzt - innerlich unbegrenzt» ein. Flake entging keineswegs dieser Gewinn an unvoreingenommener Menschlichkeit - aber auch nicht der Preis, den nach seiner Ansicht das Schicksal dafür forderte: «Völker, die expansiv lebten, bekamen mit den größeren Zielen den größeren Horizont.»" Im gleichen Essay (Demokratie, Schweif, Zukunft), in dem dieser nicht ganz unanfechtbare Satz steht, findet sich die um so unanfechtbarere, bloß scheinbar paradoxe Mahnung eines der besten Kenner und Freunde der Schweiz: « Mangel an Universalität, das ist mit einem Wort die spezifische Gefahr des schweizerischen Menschen.» Der sie aussprach, handelte im Sinne jenes Wortes des südafrikanischen Politikers Jan Smuts: «Das Ziel eines Ganzen ist verstärkte Ganzheit.»
VII. ENTWICKLUNGEN ZWISCHEN 1933 UND 1950 Die Linientreuen im nationalsozialistischen
Staat
Die Geschichte der Beziehungen zwischen der Schweiz und ihren deutschsprachigen Nachbarländern ist reich an Bewegung und an Wechselfällen. Zu Beginn des Jahres 1933 geschah - von fern an jene mittelalterlichen Dynastienwechsel erinnernd, welche auf einen Schlag nach einem schweizerfreundlichen Kaisergeschlecht die gefürchteten Habsburger an die Spitze des Reiches brachten - der jähste aller deutschen Um185
Schwünge: die Weimarer Republik, die ein Höchstmaß günstiger politischer Voraussetzungen für eine förderliche nachbarliche Begegnung geboten hatte, mußte über Nacht dem totalitären nationalsozialistischen Staate weichen; als einzige Maxime, für alles Denken und Handeln verbindlich, wurde fanatisch das Interesse des starken, imperialistischen neuen Deutschland unter dem einen Führer, der einen Partei und der einen grobschlächtigen Rassenideologie verkündet. «Deutschland, nichts als Deutschland», wie es bei Klaus H. Nebe, dem Verfasser eines Romans über den nationalsozialistischen Arbeitsdienst, heißt. Die Schriftsteller faßte man nach dem ständischen System in der Reichsschrifttumskammer zusammen; wer nicht als ihrem Gesetz gemäß «deutschblütig und im Sinne des neuen Staates einwandfrei» befunden wurde, sah sich ausgeschlossen und der Gefahr der völligen Kaltstellung ausgesetzt. Die äußere Folge dieser Staatsgründung und der diktatorischen Eingriffe in das geistige Leben war die, daß Schriftsteller sowohl des Reiches wie auch des 1938 mit Gewalt annektierten Österreich in beträchtlicher Zahl im Strom der ausgedehntesten aller bisherigen Emigrationen über die Landesgrenzen gingen. Innerhalb dieser Schicksalsgrenzen aber wurde von Amtes wegen die Suprematie jener Schriftsteller errichtet, die von den Volkhaften bis zu den eigentlichen Parteidichtern hinüber das Bewußtsein des arttreuen Deutschtums über alles stellten. Ihnen standen die innerdeutschen Gegner des neuen Staates, die Dichter der sogenannten inneren Emigration, entgegen. Die Volkhaften blieben im allgemeinen bei ihrem schon vor 1933 entwickelten Schweizer Bild; es wurde, mit einigen kritischen Zusätzen aus der Parteidoktrin, das offizielle des totalen Staates. Die volkhafte Geistesart selbst setzte sich nach 1933, auf helvetische Themen angewandt, beispielsweise in Schäfers Novellen Gottfried Kellers Abschied von Berlin und Das Unglück von Flarvil oder in Burtes Gedichten Anker am Rhein fort. Es ist offensichtlich, daß die Kritik an schweizerischen Dingen seit 1933 zunahm. Die Rückendeckung durch den selbstbewußt, ja messianisch auftretenden Staat mit seiner gewaltig wachsenden Machtfülle ermutigte manchen, Zurückhaltungen aufzugeben. Hermann Hosters Davoser Roman Genesung in Graubünden (1938) z.B. kennt als wertvolle Eigenschaft bloß noch die urchige Bodenständigkeit und engt das Bild des zu bejahenden schweizerischen Menschen auf ein lapidares Holzhackerporträt ein: «Von Kindesbeinen an lebten sie in der rauhen, großartigen Verlorenheit der Bergwälder, und nicht nur deren Eigenschaften hatten sie angenommen, Schweigen, Härte und Unerschütterlichkeit, sondern auch deren äußere Formen: ihre graugrünen Bärte glichen den Flechten an den Tannen, ihre Gesichtshaut der narbig harten Tannen186
rinde, Waldmänner aus einer andern Welt.» Seine übrigen Schweizer aber bis hinauf zu dem großzügigen, bauernschlauen Unternehmer und Profitjäger Kurt Baltzer läßt er als höheren Lebens bare Wesen weit hinter den größergearteten, das Feld beherrschenden Ausländern zurücktreten. Und der überempfindliche Paul Alverdes stößt sich, wie sein schon 1932 erschienenes Tagebuch Kleine Reise festhält, auf Schritt und Tritt an helvetischen Kanten und Gewinnfreudigkeiten und nimmt es sogar den Eisenbahnern und Dienstmännern des Gastlandes übel, daß sie wohlgenährt aussehen. Wo aber eigentliche Parteischriftsteller vorbehaltlos den nationalsozialistischen Maßstab auf die Schweiz anwenden, da erweisen sie sich als unbelehrbar, nörglerisch oder feindselig, sobald sie das Schongebiet der bodenständigen, bäuerlich-substanzhaften alemannischen Menschenart verlassen. Dann scheidet ein durchaus schismatisches doktrinäres Denken einen nicht vollwertigen welschen von einem aus rassischen Gründen überlegenen Landesteil. Der Präsident der Reichs schrifttumskammer, Hanns Johst, bekennt sich zunächst begeistert zu Bern: «In Wirklichkeit ist wohl auch Bern die Stadt, die uns Deutschen am meisten liegt. Sowohl die Bevölkerung in ihrer Bodenständigkeit als auch das Stadtbild, das verwandte Züge mit Innsbruck aufweist. Sauberkeit, Treue, Tapferkeit sind die häufigsten Merkmale . . . Jeden dritten kennt man haargenau aus den Romanen von Jeremias Gotthelf» (Maske und Gesicht. Reise eines Nationalsozialisten von Deutschland nach Deutschland, 1935). Aber im welschen Gebiet ist ihm sogar das Lachen verdächtig: «Der Sitz des französischen Lachens ist im Mund, wenn es tief geht, im Hals. Das deutsche Lachen wächst aus dem Leib, aus der Brust auf, und es muß sehr stark sein, um bis zum Gelächter aus vollem Halse aufsteigen zu können. Kurz, das französische Lachen kommt im Kopf zur Welt, das deutsche im Zwerchfell, dem antiken Sitz aller Gemütswerte.» Ferner erhebt ein politischer Wille, der das deutsche Volk besessen zur ideologischen und rassischen Geschlossenheit zusammenschmelzen und mit ihm die vorbestimmte Führerrolle in der Welt erkämpfen wollte, den spartanischen, «soldatischen», zu jedem Einsatz bereiten Menschen hoch über den ängstlichen, egoistischen Bürger, auch im Gastland. «Zu Fuß und auf Fahrrädern kommen uns Offiziere entgegen, hechtgrau wie die Holländer, truppweise, lauter Oberleutnants, dunkeläugig, braungebrannt, oft mit buschigen Augenbrauen. Echte Gebirgler. Vom Kurs der Offiziers-Schießschüler. Wir grüßen. Sie grüßen. Das sind Schweibers», stellt der nationalsozialistische Romancier Richard Euringer knappen militärischen Tonfalls in seiner Reise ^u den Demokraten (1940) fest. Die Demokratie steht niedrig im Kurs - eine Staatsform, deren Tage 187
gezählt sind. Wenn Euringer seinem Buch den soeben genannten Titel mit sämtlichen Anklängen an Hottentotten, Botokuden und sonstige abseitige und zurückgebliebene Völker gibt, so drückt er die offizielle Geringschätzung aus. Einzig die vermeintliche Führerdemokratie früherer Jahrhunderte besteht: «Die Sprecher sind Führernaturen, die für ihre Gefolgschaft stehen. Da ist noch nichts .demokratisch'.» Um so deutlicher wird die moderne liberale Demokratie als eine vermeintliche Freistatt anarchischer Demagogen, kapitalistischer Trustinteressen und bestochener Presseleute angeprangert. Für dynamische Großstaaten ist der Kleinstaat ein Nebenkriegsschauplatz. So wie bei den Nationalisten der siebziger und achtziger Jahre, so verschärfte sich auch bei den Nationalsozialisten die Abneigung gegen die Schweiz dadurch, daß sie scheinbar mit dem Feind, d. h. vornehmlich den Emigranten, gemeinsame Sache machte, indem sie ihm Schutz bot. «, Emigrant' - das begreift man hier ist ein viel zu zahmes Wort für das Pack gemeiner Verbrecher, das im Ausland gegen das Reich hetzt. Das Schweizer Volk liebt dieses Pack nicht. Das halbwegs gesund empfindende Volk, gar nicht zu reden von klarblickenden Männern, wäre froh, es los zu sein. Die Überjudung auf Schritt und Tritt ist zu phantastisch», behauptet Euringer, die nationalsozialistische Kunst, sich Feinde zu schaffen, verschweigend. Andrerseits sucht der neue Staat nach Verbündeten seiner Sache, namentlich unter jener jungen Generation des Auslandes, die keine großen Ziele im eigenen Lande sieht. Georg Grabenhorst erfindet einen Luzerner Pfadfinder, der dem scheidenden deutschen Gastfreund seiner Eltern am Bahnhof symbolhaft den Hitlergruß entbietet: «Die Geschichte des eigenen Landes, die ehemals so glanzvolle, war im letzten Jahrhundert arm geworden an großen Gestalten, die eines Jungen Herz entzünden konnten. So hatte er dieses Herz, das sich nicht begnügen wollte, hinübergeworfen in das mächtige Schicksal des blutsverwandten größeren Volkes» (Die Reise nach Ludern, 1938). Und Euringer schildert eine romantische Augustfeier auf dem Rütli, zu der die Mitglieder der Nationalen Front, der einzigen mit Hitler sympathisierenden Schweizer Partei, mit Gaustandarten usw. nächtlicherweile herbeikommen. Wenn keiner der drei genannten Parteimänner die letzten kritischen Folgerungen gegenüber der Schweiz zog, so deshalb, weil teils die augenblickliche Staatsräson, teils die natürliche Sympathie für «volkhafte Kraft» Mäßigung gebot. Hanns Johsts Buch beschwichtigte gewissermaßen offiziös die um die Unversehrtheit ihres Kleinstaats besorgten Nachbarn: «Das ,Kühne' liegt ihnen im Politischen nicht - aber soll das Reich auf seine Fasson selig werden, wenn es nur die Schweiz unangetastet läßt. In diesem Punkte konnte ich sie durch Rütli-Schwur beruhi188
gen.» Die Adressaten waren nicht geneigt, Rütlischwüren von Funktionären des seiner Natur nach unbedenklich opportunistischen totalen Staates zu trauen; Hesse rechtfertigte die Haltung rückblickend in einem Brief vom Februar 1950, gerichtet an den Vertreter einer deutschen Kulturgesellschaft: «Besonders empfindlich war die Schweiz gegen Ansprüche, die einen Zusammenschluß auf Grund sprachlicher Gemeinschaft forderten. Es begann mit der Berufung auf Zeiten, in denen die heutigen Staatengebilde noch nicht bestanden, es begann mit der Beschwörung gemeinsamer Leistungen kultureller Art, man wurde dringlich an Goethes Liebe zur Schweiz erinnert - und es endete mit dem Druck von Propaganda-Landkarten, auf denen die Schweiz als südlicher Gau von Großdeutschland zu sehen war.» Wie der Nationalsozialismus, wenn seine immanenten nihilistischen Energien durch nichts mehr zurückgehalten wurden, mit dem demokratischen Nachbarn umzuspringen fähig war, zeigt ein Werk, das unter dem ausdrücklichen Patronat des «Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschland» erschien: Christoph Stedings Buch Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur (193 8). Hier wird, ausgehend von der Definition: «Das Reich ist die Überwindung jeder Besonderung, darin sieht es seine eigentliche Bestimmung», vom extremsten Macht- und Rassengedanken her mit rasanter pseudowissenschaftlicher Begriffsrabulistik alles als reichsfeindlich gebrandmarkt, was dieser Definition des totalitären Willens entgegensteht. Steding sieht das Reich schon seit Bismarcks Zeiten geistig eingekreist von kleinstaatlichen Gegnern des deutschen Suprematieanspruchs; Aufenthalte in Dänemark, Holland und in der Schweiz hatten ihm 193 2 bis 1935 Einbück in diese Nachbarswelt gegeben, wo Kultur vor Macht und Freiheit vor sturer Staatsautorität ging. Sein Buch ist der fanatische Versuch eines Nihilisten, diese Welt zu erschüttern und für den Nationalsozialismus sturmreif zu machen. «Der Verfasser ist der Uberzeugung, daß es grundsätzlich möglich ist, von der durch die Tat Hitlers geschaffenen Ebene aus die reichsfremde und reichsfeindliche geistige Welt unserer Anrainer mit den Mitteln der Wissenschaft aus den Angeln zu heben, sofern nur das, was im Reich Wille, Leidenschaft und Gefühl ist, angemessen in rationale, wissenschaftliche Bewegung und dieser Leidenschaft und diesem Gefühl entspringende Begriffsbildung umgesetzt wird, um über die Grenze hinaus zu wirken.» Es war ein dämonischer Akt der Brunnenvergiftung, von tieferem Interesse darum, weil er die Möglichkeiten einer krankhaft vereinseitigten, für radikalisierte Massen höchst ansteckenden schismatischen doktrinären Denkform des zwanzigsten Jahrhunderts enthüllt, für die alles feindlich ist, was nicht ihr selbst genau entspricht. Beinahe 189
alles, was der überragenden Mehrzahl neuerer deutscher Dichter an der Schweiz wertvoll erschienen war, wird von Steding verworfen. Burckhardts Kritik der Macht, Bachofens Mutterrechtsforschung, Wesentlichstes an Gotthelf, Meyer, Spitteier, Hodler, Jung und andern nennt er dekadent, unheroisch, übernational, unternational und belegt es mit seinem Bannfluch. Es war die fast vollständige Zertrümmerung eines der geliebtesten «antwortenden Gegenbilder» der neueren deutschen Literatur, dem Zerstörer um so verhaßter, je mehr es von andern geliebt worden war. Fünf Jahre nach dem Ende der schweizerfreundlichen Weimarer Republik war hier das Äußerste an Schmähung der Schweiz erreicht. Die Stunde Basels Basel ist für Steding eine Hauptstätte jener «reichsfremden», erlesenen, nach innen gewandten Humanität, der sein Haß gilt. Damit tritt in greller gegnerischer Beleuchtung der bestimmende Zug im neueren Bilde der Stadt Basel hervor. Der Anteil der Städte an den Wirkungen der Schweiz nach außen ist beinahe dem ihrer Landschaften, ihrer politischen Idee und ihrer großen Meister gleichzusetzen. Auch Städte sind bildende Mächte und komponentenreiche Anreger. Für den Dichtergast wesentlich ist immer wieder die Erlebnis-Vierheit: Stadtbild, Stadtgeschichte, Geist der einheimischen, Geist der ausländischen Bewohner. Wie angesichts so ausgeprägt mannigfaltiger Stadtgebilde wie der schweizerischen von Fall zu Fall Art und Zusammensetzung dieser auslösenden Kräfte wechseln, haben wir am literarischen Bilde Zürichs, Berns, Genfs und anderer Siedlungen abgelesen. Was Basel betrifft, so gilt die Liebe seiner deutschen Dichtergäste der Poesie seiner verwinkelten Altstadt um das Münster, der sichtbaren Gegenwart großer Geschichte in seinem Stadtbild und dem unauffällig vornehmen Wesen seiner Besten. Es ist eine Stadt der Sammlung, die dazu anregt, «Zeiten und Völker zu überdenken», wie es in Bohners Reise nach Basel heißt. Ihre Vergangenheit hat in hohem Maße den Blick deutscher Dichter auf sich gezogen. Basel ist in dichterischen Werken, die in der Zeit des großen Konzils spielen, die Stätte, wo von den versammelten großen Mächten des Abendlandes versucht werden sollte, die Not des Reiches und der Christenheit zu wenden - so in Hans Künkels Roman Schicksal und Liebe des Niklas von Cues (19 3 6) und in Franz Werfeis Drama Das Reich Gottes in Böhmen (1930). In andern Werken ersteht die Stadt am Rhein glanzvoll als europäisch berühmter Sitz des Humanismus, als «Wiege des 190
wiedergeborenen Altertums», wie sie in Kolbenheyers Gestirn des Paracelsus genannt wird. Der Kampf um das geistige Erbgut des Humanismus wirkt weit auch in die neuere schöne Literatur hinein. Kein Zufall, daß sich ein kleiner Teil davon in Werken abspielt, in denen Basel der Schauplatz ist. Eine antinationalistische Gegenposition zu Kolbenheyer bezieht 1935 Stefan Zweig in Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam. Dieses Basel der reichen kulturgeschichtlichen Substanz ist der Sitz einer bürgerlichen Oberschicht und eines Patriziats von hohem literarischem Ruf. Man wird sogar an adelige Häuser in Deutschland erinnert: «Er [Konsul Fischer] stammte aus einem jener alten steinreichen Basler Bürgergeschlechter, die sich wie Adelige fühlten und die in der Tat, was Lebensstil, Tradition und Geistesbildung anlangte, jeden Wettbewerb mit gräflichen Häusern aushielten» (Hoster: Genesung in Graubänden). Im alten Basel lebt in Stegemanns Roman Kreisende Becher (1910) der patrizische Gegner Wilhelm Schwertfegers, des tribunenhaften Führers der im siegreichen Kampf gegen die Vormacht der alten Familien stehenden Radikalen. Anklänge an die Geschichte des Sarasinschen und anderer Basler Häuser sind erkennbar: «Goethe war bei einer Reise im Brunnhof abgestiegen bei Danielas Großvater, der mit Herder und Wieland befreundet war und selbst als philanthropischer Schöngeist gegolten hatte. Das ruhte als literarische Verpflichtung auf dem Hause und hatte die Bibliothek neben dem Musiksaal im Gartenflügel gefüllt.» In christlicher Abwandlung erscheint die gepflegte Gastlichkeit einer alten Familie in der mit dem süddeutschen Pietismus eng verbundenen Stadt in Helene Christaliers Brücke Dieses vornehme, an großer Vergangenheit reiche Basel verkörpert unter den Schweizer Städten für den Ausländer am reinsten die Doppeltradition des humanistischen und des christlichen Geistes, beide oft wechselseitig gebend miteinander verbunden. Die köstlichste Entdekkung deutscher Dichter in dieser Atmosphäre ist der Mensch, der die kleinen äußeren Verhältnisse den großen vorzieht und die weiten inneren Welten den kargen und einseitigen - jene, welche gerade durch den Verzicht auf die Verlockungen der Macht und der Repräsentation eine allerhöchste Freiheit und Reinheit gewinnen. Hier werden verborgen und im Anspruchslosen hohe, manchmal weltumfassende geistige Reiche gebaut und gepflegt - nicht zuletzt das der Musik. «Bayreuth und Salzburg verblassen dagegen», behauptet Burte inbezug auf die Matthäuspassion im Basler Münster, die auch einen Rilke hier überwältigte. Aus solchen Voraussetzungen stammen jene Basier Gestalten, von denen Burte sagt, sie seien 191
«die innerlich Nahen und äußerlich Fernen, scheinlose Schalen mit seinvollen Kernen» (Anker am Rhein, 1938), und von denen Toni Rothmunds spitzweghafte Phantasie eine geschaffen hat: den Cyriak Würz, der in seinem stillen alten Haus eine Geschichte seiner Heimatstadt schreibt und in einer erstaunlichen Formel sein baslerisches Los preist: «Ja - hier war gut sein. Hier wohnten Freiheit und Enge, zwei gleichberechtigte, königliche Geschwister» (Das Haus %um Kleinen Sündenjall, 1918). Die reinste Inkarnation solchen Baslertums fand das Ausland in Jacob Burckhardt. Er hat das neuere Bild vom Basler Stadtgeist entscheidend bestimmt. Seinem Basler Wesensgeheimnis kommt Burte nahe: «Alle [Gestalten der Geschichte] sind ihm kund und vertraut, ihm, der selber ruhig und gelassen und unscheinbar bleibt.» Die ersten deutschen Dichter, die seiner Verehrung Italiens und der klassischen, harmonischen Bildung und Schönheit begeistert zustimmten, waren die Münchner; in ihrem Kreis besaßen der Cicerone und die Kultur der Renaissance in Italien kanonische Geltung. In der Folge hat sich Burckhardt als Führer zur Kunst und Kultur Italiens in einem solchen Maße durchgesetzt, daß sein Name sogar im Unterhaltungsroman untrennbar wird von dem südlichen Reise- und Wunschland: «Ich lese Achime aus Jacob Burckhardts Kultur der Renaissance in Italien vor; denn wir wollen im Herbst nach Florenz», heißt es bei Richard Voß (Der Todeswegaujden Pi% Palä, 1912). Noch 1928 hält der Schriftsteller Werner von der Schulenburg in seiner Anthologie Jacob Burckhardt: Reisebilder aus dem Süden fest: «Die Art und Weise Burckhardts, die Kunst Italiens zu sehen, ist in Deutschland klassisch geworden.» Seine Deutung des Renaissancemenschen im besondern sprach vor allem die im Schatten Nietzsches stehenden Verherrlicher des starken, ungebundenen Lebens an. Über eine weitere Leistung Burckhardts - die des Geschichts- und Staatsphilosophen - scheiden sich die Geister. Seine Warnungen vor dem nationalen Macht- und dem pseudosozialen Massenstaat leuchteten tief in die moderne Zeitenwende hinein; seinen Wertungen und auch seinen aristokratischen Gegenidealen stimmten viele aus den Reihen der nachnaturalistischen Dichter im Innersten zu. Dadurch, daß seine Weltgeschichtlichen Betrachtungen - nach von der Schulenburg «eines der größten politischen Bücher aller Zeiten» - erst nach seinem Tod herauskamen, verzögerte sich ihre Wirkung; dann aber war sie bei Freund und Feind um so nachhaltiger. Im Ersten Weltkrieg und in der Epoche des nationalsozialistischen Staates, als alle differenzierte, freie, übernationale 192
Kultur am radikalsten beargwöhnt oder bekämpft wurde, haben manche Opositionelle aus Burckhardts Staats- und Weltweisheit Kraft geschöpft so Annette Kolb aus seinem Wort von der Scheinstärke des bloß auf Macht gegründeten Staates: «,Das scheinbar kränkste Volk kann der Gesundheit nahe sein, und ein scheinbar gesundes kann einen mächtig entwickelten Todeskeim in sich bergen, den erst die Gefahr an den Tag bringt.' Sehen Sie, Sätze solcher Art sind es, an denen wir nie vorüberhören» (Briefe einer Deutsch-Französin, 1917). Ungefähr zur gleichen Zeit nahm sich Ricarda Huch vor, eine Studie über den Basler zu schreiben, der sie tief bestätigt hatte in der Einsicht, daß der, welcher innerhalb des modernen Staates für das Gute kämpfe, in einen Konflikt geraten müsse, «weil dieser Staat selbst diesem Guten, der das Gute will, entgegengesetzt ist» (an Marie Baum, 8. August 1916). Die Gegnerschaft der Machtstaatler ließ nicht auf sich warten, und sie steigerte sich unter dem Nationalsozialismus zur Feindschaft. Widerstrebende wie Zustimmende pflegten den Gelehrten in der Auseinandersetzung mit seinem Universitätskollegen Nietzsche zu sehen - und das von Burckhardt kaum zu trennende Basel wurde in die Konfrontation mit einbezogen. Der Trieb nach Macht und die Verehrung der freien, universalen menschlichen Bildung, der Wille zur gewaltsamen Weltumgestaltung und der Gegenwille zu betrachtendem aufgeschlossenem Sein: hier standen sie in historischer Disputation einander gegenüber. Wer sich für den Basler entschied, galt denen als verdächtig, die mit Nietzsche das starke, uferlose Leben priesen und Burckhardt zusammen mit Basel als Repräsentanten der Überbedenklichkeit, ja der Lebensfeigheit verwarfen. Der Kampf, in dem es letztlich um den Bestand des christlichen Humanismus ging, wurde tief hintergründig zur Zeit des Dritten Reiches : die Stunde Basels war gekommen. Theodor Bohner, eher zu Nietzsche neigend, trug in die Begegnung zwischen dem deutschen Geheimrat Christ und seinem Basler Jugendfreund Frey (Die Reise nach Basel, 1939) vieles von der Auseinandersetzung zwischen Nietzsche und Burckhardt hinein; der Nationalsozialist Steding bekämpfte Burckhardt und Basel als Inbegriffe der entgegengesetzten Welt, der Historiker Alfred von Martin, im Sinne der inneren Emigration kämpfend, rehabilitierte den Basler gegenüber dem modernen übersteigerten Nietzscheanismus (Nietzsche und Burckhardt, 1940). Nachdem das Reich Hitlers 1945 zusammengebrochen war, wurde Burckhardt erneut aufgerufen als ein Erzieher zu erlesenster politischer und menschlicher Witterung, als den ihn etwa Otto Flake, ein feiner Kenner Basels und der Basler, in einer Burckhardt-Studie von 1947 sieht.
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Die innere Emigration In der reichsdeutschen Literatur dauerten andere Haltungen als die nationalsozialistische und die volkhafte, andere Werttafeln, andere Begriffe von Wahr und Falsch, von Gut und Böse, von Hoch und Niedrig fort. Man darf nicht von der umfangreichen staatlichen Maschinerie zur Kontrolle des Schrifttums voreilig auf die Beschaffenheit dieses Schrifttums schließen. Mit Rücksicht auf das Urteil, vielleicht auch auf die Devisen des Auslandes duldete man in gewissen Grenzen und auf Abruf nichtnationalsozialistisches Geistesgut. Aber Publikationsverbote drohten, Reisen ins Ausland wurden erschwert; einige - z. B. Ernst Wiechert büßten ihre Standhaftigkeit im Konzentrationslager. Sie mußten alle wissend den Verrat an der Humanität und den heillosen Zerfall des Wertgefühls unter dem Terror mit ansehen. «Das National-Sentimentale schäumte auf und ab in Millionen Seelen, und die gleichen Menschen, die laut jubelnd zusahen, wenn ein noch gestern angesehener Beamter, der Bedenken gegen die Führung geäußert hatte, mit Schandtafeln auf Brust und Rücken behangen durch die Straßen geführt wurde, weinten über Görings weiches Herz, der ein Gesetz zum Schutz der Tiere erlassen wollte... Eine dauernde Sonnenfinsternis lag über dem Dasein; Haß und Lüge zersetzten wie Säure den Azur des menschlichen Tages, und nur in der äußersten Absonderung wuchs noch zuweilen ein glücklicher Gedanke, ein Bild», sagt Hans Carossa in dem Lebensbericht Ungleiche Welten (1951), als Hintergrund das ausgewogene, ruhige Leben der Schweiz setzend, wie er es 1932 erlebt hatte. Dem Oppositionellen blieb die Gewißheit, in einem höheren Dienst als dem der Partei zu stehen, dem heimlichen Deutschland der Nichtkonformisten eine Ermutigung zu sein und vom Leser in der übrigen Welt zusammen mit den Besten der Emigrierten als die einzig legitimen Dichter aus unabhängigem und ungebeugtem deutschem Geiste ernst genommen zu werden. Groß bekennt sich die Katholikin Gertrud von le Fort im Lyrischen Tagebuch aus den Jahren 19}} bis 194; zu der tief paradoxen Situation des deutschen Dichters: «Doch selig ists heut zu verstummen, Süß ist es abseits zu stehn vom schändlichen Ruhm des Tages, Licht ists im Schatten zu wohnen, Vergessen werden ist Huld, und vereinsamt werden ist Gnade, Getröstet wird nur noch, wer weint Denn Weinen heißt Lieben, Und Lieben heißt Untergehen, heißt lebendiges Sterben I» 194
Zu den geistigen Heimaten, aus denen die innere Emigration sich durch den totalen Staat nicht vertreiben ließ, gehörten die humanen Werte des freien Europa, darunter auch das von der Schweiz Beigetragene. Je mehr diese Werte durch den Nationalsozialismus bedroht oder zerstört wurden, desto mehr gewannen sie für seine Gegner an Kraft und Verheißung. Hier stand das antwortende Gegenbild in unverminderter Geltung: die Bejahungen der freien, schönen, universalen, humanen Schweiz verschwanden nicht aus dem reichsdeutschen Schrifttum der Hitlerzeit, wenngleich sie an Zahl beträchtlich abnahmen. Wir finden Zeugnisse der aufgeschlossenen Beziehung zum Nachbarland bei jenen, die an irgendeinem geistigen Ort innerhalb des Neuidealismus standen - es geht von Henry Benraths im Zeichen Georges geschaffenen Verherrlichungen schweizerischer Landschaften (Carmen Helveticum, 1939, u. a.) über Ricarda Huch bis ins Gebiet der christlichen Konfessionen hinüber; wir finden sie auch bei jenen, welche im Zeichen der Ganzheit die Idee der abendländischen Gemeinschaft bewahrten (Kennicott), und selbst da, wo im gehobenen Unterhaltungsroman nichts als die Darstellung rein privater Schicksale fern der politischen Bühne erstrebt wurde, diente das Nachbarland, in dem die Pflege des fraglosen, individuellen Lebens in hohem Maße möglich war, hin und wieder als Schauplatz. Einige Werke erheben sich durch ihre beherzte Kraft in den Rang von Bekenntnissen. Es gehörte Mut dazu, wenn Helene Christallers christliche Überzeugung gerade das an der Schweiz rühmte, was das nationalsozialistische Dogma verpönte: Freiheit, Asylrecht, universales, nicht durch deterministische Rassentheorien verengtes Denken. «Wir Deutschen heben die Schweiz», läßt sie in dem 1938 in Basel erschienenen Roman Die Brücke einen Offizier sagen. «Vielleicht lieben wir sie in erster Linie wegen ihrer Naturschönheit... Aber gleich daneben kommt die schöne Geste Ihres Volkes - die freie Schweiz, Zufluchtsort und Freistatt aller politisch Verfolgten. Ich weiß wohl, das bringt Segen wie auch Gefahr für das eigene Volk. Es trägt Unruhe ins Land, aber auch den Reichtum der Verbundenheit mit allen Völkern unseres Erdteils. Ihr seid die natürliche Brücke zwischen den romanischen und den germanischen Völkern, denn Ihr begreift alle diese Elemente in Euch und müßt den Weg zum Verständnis für beide Rassen finden.» Rudolf Alexander Schröder nimmt im Jahr 1939 seinen 1931 entstandenen Essay Gruß an die Schweif in seine gesammelten Aufsätze und Reden auf, ohne das zu tilgen, was deutlich auf den nationalistischen Doppelverrat am europäischen und am christlichen Geistesgut anspielt - im Gegensatz zur freien Vielfalt Europas im Sinne der Schweiz: «Denn mag die unabweisliche Forderung des Tages uns täglich mahnen, daß wir vor *95
allem ein Eigenes zu bewahren und zu verteidigen haben, sie darf es uns nicht vergessen machen, daß über und hinter den in stolzer Notwehr sich absondernden nationalen Einheiten und Eigenheiten immer noch wenigstens als Forderung - die alte Ökumene des christlichen Europa steht, innerhalb deren allein das fruchtbare Hinüber und Herüber einer gegenseitigen Förderung und Freundschaft möglich ist.» Grundlegend neue Einstellungen treten in solchen Werken nicht hervor, wohl aber fügen sie mitunter einen erlesenen neuen Beitrag zum Krongut der schweizerischen Motive in der deutschen Literatur - so etwa durch Friedrich Michaels Fremde in der Schweif (1939), einen liebenswürdig-beseelten Bericht über eine Fahrt nach Bern und an den Thunersee und zu den beglückenden Möglichkeiten schlicht gepflegten privaten Daseins im nichttotalitären, menschlichen Staat. Hellmuth Ungers geistvoller Miniaturroman Die Schweiber Reise (193 5) folgt einem deutschen Liebespaar von Norden nach Süden durch die Schweiz. Sie bleibt verklärter Hintergrund - aber als ein Land des Aufatmens mit verkappter Ironie gegen den benachbarten Koloß ausgespielt: «[Der Mann zur Frau]: ,Es ist so, als ob Haß, Neid und alles Unedle jenseits dieser Grenzen blieben. Hier kann man atmen, Jo.' - ,So tief hast du noch niemals geatmet.'» Und Walther von Hollander wählt das Engadin als freien Raum, indem eine Einheimische als Liebende zur Größe emporwächst (¿Therese Larotta, 1939); in zwei Romanen Reinhold Conrad Muschlers werden schweizerische Gestalten - Ärzte, Industrielle, Forscher - in weit ausgreifende kühne Schicksale gestellt. Sympathie für das «schlichte, von jedem Formalismus freie Wesen des Schweizers» trägt sie sowohl in der Flucht in die Heimat (1936) wie in dem zwei Jahre später erschienenen Buch Diana Beata. Bei Muschler wird die Kenntnis der neueren Schweiz bereits virtuos; alles ist ihm geläufig, nicht eben zum Vorteil des Tiefgangs der Beziehung. Ungewöhnlich ist seine Kenntnis der Musikgeschichte. Nicht weniger ausgiebig als Thomas Mann im Faustus und als Hermann Hesse im Gedenkblatt für Othmar Schoeck befaßt er sich mit schweizerischem Musikleben und läßt es in Friedrich Hegar, Hans Huber und Arthur Honegger gipfeln. Der große Exodus Zum viertenmal seit der Verfolgung der achtundvierziger Liberalen trieb um 1933 eine innerdeutsche politische Macht eine Welle von Flüchtlingen in die Fremde hinaus. Diesmal glich sie eher einer Springflut: zu Zehntausenden verließen diejenigen, die der nationalsozialistische Staat als seine Feinde bezeichnete oder die sich selbst als solche bekannten, 196
das Reich des Machtwahns, und das Feld ihrer Zerstreuung war so weit wie die Welt. Manches Schriftstellerschicksal spiegelt in seiner wilden Fluchtkurve zuerst den Terror gegen die innerdeutsche Opposition, später die Unterwerfung weiter Teile Europas unter den Willen des zunächst siegreich kriegführenden Deutschland. Alfred Neumann z.B., der Verfasser bedeutender historischer Romane und Dramen, hatte noch am 16. Februar 1933 dem befreundeten Schweizer Schriftsteller Gottlieb Heinrich Heer geschrieben: «Wenn auch Bayern den Keulenschlägen der Barbarei erliegt, gehe ich zu den Eidgenossen. Ich scheine nicht umsonst in meinem Neuen Cäsar [1933: die Geschichte eines Machtgierigen, Napoleons III., die sich zum Teil im Schloß Arenenberg auf Schweizer Boden abspielt] das Preislied auf die Schweizer Menschen-Staats-Würde gesungen zu haben.» Der Entschluß, zunächst lieber nach Italien zu ziehen, bedeutete letztlich den Gang in die Schrecken der Emigration, denn nach wenigen Jahren mußte der Dichter nach Südostfrankreich fliehen, weiter über die Pyrenäen nach Lissabon und schließlich über den Atlantik nach Nordamerika, der Hauptzuflucht der Intellektuellen im Zweiten Weltkrieg. So steht die Schweiz auch injener deutschen Literatur, die in Emigrantenverlagen in Prag, Amsterdam, Stockholm, Paris oder New York herauskam; die meisten wurden von der auf den Spuren der deutschen Armee bis an die Ränder Europas dringenden Staatspolizei geschlossen. Es gehört zu den Eigentümlichkeiten dieser Emigration, daß Leonhard Franks Mathilde zuerst in einer nordamerikanischen Fassung mit dem Untertitel The Story oj a Swiss Woman erschien. Ein Teil des Refugiantenstroms ergoß sich in die Schweiz; diesmal war die Kapazität des kleinen Landes zu gering für die grauen Mengen aller Hoffenden. Einige Schriftsteller, blieben arbeitend ein paar Jahre. Für einen Robert Musil, einen Alfred Mombert, einen Felix Saiten, einen Georg Kaiser wurde die Schweiz zur letzten Lebensstation. Wie der fast siebzigjährige Lyriker Mombert durch seine Winterthurer Freunde, an ihrer Spitze Hans Reinhart, aus dem südfranzösischen Barackenlager von Gurs abenteuerlich losgekauft und in das schützende Land gebracht wurde, erzählt Hans Carossa in seinen Ungleichen Welten. Für sehr viele Emigranten gilt das zusammenfassende Wort aus Erich Maria Remarques Flüchtlingsroman Liebe deinen Nächsten (1941): «Österreich, die Tschechoslowakei, die Schweiz - das war der Bewegungskrieg der Emigration. Aber Paris ist der Stellungskrieg.» So ist die Schweiz in solchen Schilderungen das Land der bald längeren, bald kürzeren Bleibe zwischen zwei Wanderungen und manches Leben in ihr ungefähr so, wie es der Student Kern, ein Halbjude, bei Remarque erJ
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fährt: Ungewißheit, Unruhe und Angst, Kampf um Unterstützung, Aufenthaltsbewilligung, Arbeitserlaubnis, bisweilen das schöne Erlebnis schlichter und spontaner Hilfe. Wo der Kampf um die nackte Existenz der Lebensinhalt schlechthin ist, kann schwerlich eine Beziehung zu einem umfassenderen Sinn der Emigration oder zum Wesen des Gastlandes wachsen. Ebensowenig ist dies zu erwarten von derjenigen Literatur außerhalb des Reiches, in der die Haltung der defaitistischen, das Vertrauen zu Mensch und Welt auf das allerkleinste Mindestmaß herabsetzenden Neuen Sachlichkeit fortdauert (wie bei Remarque); das akute Krisenbewußtsein dieser Chronisten der trüben Lebensnot ist keine Kraft, mit der sich ermutigendere, unverengte Sinngebungen der Emigration aufzeigen ließen47. Kurz vor seinem Tode (1945) schrieb Georg Kaiser in Ascona ein anklägerisches Gedicht über den Unbekannten Emigranten, gerichtet an die Verhärteten aller Länder, die Flüchtlinge aufnahmen. Hier spricht der zweiflerische Geist für einmal die Sprache der großen Humanität: . . . «Er wagte nie die Bitte, ihn doch einzulassen und euer lieber Nachbar eine Nacht zu sein. Ihr saßet dreimal satt an den gedeckten Tischen und voll Behagen rundum im erwärmten Raum, und da er zögernd pochte, war es von den Fischen der Rest, den ihr verschmäht ihm reichtet, kaum. E r war der Eine derer, die sich selbst verbannten, und tiefster Einsamkeiten stiller hoher Held errichtet auf dem Markt das Mal des Unbekannten ihm, wenn er lautlos zwischen euch zusammenfällt.» (Mitgeteilt in der Anthologie Dies Buch gehört der Freiheit [1949] von Erwin Reiche) Der politischen Linken gehörten mehrere nach der Schweiz emigrierte Schriftsteller an. Der Sozialist Bruno Schönlank blieb ihr Gast; zu seinen Gastgeschenken gehört ein Bändchen origineller moderner Schweiber Märchen. Andrerseits fehlen die geistigen Voraussetzungen zu einer Beschäftigung mit dem Gastland um seiner selbst willen bei den meisten Kommunisten. Der doktrinäre Erich Weinert, der in der ersten Hälfte des Jahres 1933 in Zürich im Exil lebte, läßt durch seine persönliche rabulistische Beschwerde gegen seine demokratischen Gastländer deutlich den unvereinbaren Gegensatz zwischen der totalitären stalinistischen und der westlichen Auffassung der Demokratie durchscheinen, die Freiheiten der einen und die Unfreiheiten der andern propagandistisch unterschlagend: «Der aus seiner Heimat vertriebene Dichter, der 198
in den westlichen Gastländern nur als lästiger Metöke behandelt, von der Polizei beaufsichtigt, aller Erwerbsmöglichkeiten beraubt und täglich mit der Entziehung des Asylrechtes bedroht wurde, wird hier [in Moskau] als Bruder und Freund empfangen, erhält die gleichen Rechte wie die Bürger des Landes und darf sich wie in einer neuen Heimat fühlen . . . Ich hatte keine Lust mehr, noch länger den Segen der westlichen , Demokratie' zu kosten und rüstete mich sofort zur Heimfahrt in das Land, wo Demokratie keine Phrase ist» (Vorwort zu Rufe in die Nacht. Gedichte aus der Fremde, 1933-194}-, 1947). Lion Feuchtwangers Kommunismus ist demgegenüber ideologisch weniger stur und deshalb etwas zugänglicher für das Wirkliche. In Pariser Emigrantenkreisen spielt sein Roman Exil (1940). Aus der Ferne wirkt die Auseinandersetzung herein, die zwischen Deutschland und der Schweiz entstand, als diese auf Grund des vertraglichen Schiedsverfahrens die Freigabe des von deutschen Agenten aus der Schweiz entführten Journalisten Berthold Jacob verlangte. Für Feuchtwanger wird der Kampf zum Prinzipienkonflikt zwischen Rechts- und Machtstaat in reinster Ausprägung: «Nicht nur Tschernigg [ein emigrierter Literat], auch viele andere hatten es bezweifelt, daß sich die kleine Schweiz mit dem mächtigen Nachbarn auf einen ernsten Streit einlassen werde. Die Note also, die sie jetzt hatte überreichen lassen, war nicht nur ein Bekenntnis zur Vernunft, gegen die Dummheit und Brutalität, eine Entscheidung für das Recht gegen die Gewalt, sie war vor allem auch ein Sieg des Glaubens über den Unglauben.» Es erweist sich, daß die Beziehung zur Schweiz in dem Maße reich und fruchtbar wird, als die Vorstellung des Emigranten von seiner Aufgabe reicher und umfassender wird. Jenseits ihrer defaitistischen oder stur marxistisch-doktrinären Repräsentanten fängt die Emigration sich gewissermaßen selber auf und wird in schwersten inneren Kämpfen wahrhaft frei - «Vollends aber hat die Verbannung die Eigenschaft, daß sie den Menschen entweder aufreibt oder auf das höchste ausbildet», hatte Jacob Burckhardt in der Kultur der Renaissance in Italien bemerkt. Zu den Hauptzielen, welche diese eigentlich schöpferische Emigration sieht, gehören jene, die dem Wesen der Schweiz wahlverwandt sind: eine freie und soziale neue Humanität und ein kommender Bund der Völker. «Wir sind durch all die fremden Länder gefahren, Erlebten die fremden Berge, die Seen, das Meer, Wurden beweglich, nach so viel seßhaften Jahren, Kein Weg war unnütz, keine Stunde blieb leer. 199
Wir konnten Altes vergessen und Seltsames schätzen, Erkannten uns selber besser im neuen Licht. Es bleibt von all den fremden Ufern und Plätzen Ein junges Leuchten über unserm Gesicht.» So bejaht Max Herrmann-Neiße in Um uns die Fremde (1936) den Sinn der Emigration: sie ist Aufforderung zu unverzagtem neuem Wachstum. Ein zeitweiliger Gast der Schweiz, spürte er ihre Wachstum und Sehnsucht zugleich spendenden Kräfte in ihrer Landschaft und im Tiefgang eines in den großen Ordnungen ungebrochen sich bewegenden Lebens und stellte es, ein Eichendorff der Emigration, in Gedichten namentlich auf Zürich und das Tessin dar, die zum reinsten menschlichen Gut der Emigration gehören: «Furchtsam waren wir von Haus geschieden Zu der Fahrt durch ungewisse Nacht. Aber als wir diese Zuflucht fanden, Schien die Zukunft nicht mehr hoffnungslos, Da im Lindenduft die Ängste schwanden, Die Gebirge wachten tröstlich groß. Deine harmlos frohen Feste waren Auch dem Fremdling ein willkommner Spaß. Deine sonntäglich geputzten Scharen Lagerten mit ihm im Sommergras. Deine Bilder werden nie verblassen. Immer denk ich an die Wiederkehr . . . » Im Roman Die A.rche (1951) aus der Trilogie Die Sintflut, einem Werk von weiten geistigen Ausmaßen, beschreibt Stefan Andres eine Villa in der tröstlichen alten Kulturlandschaft des Luganersees als eine Stätte, wo eine Flüchtlingselite um letzte innere Wurzelgründe ringt - Fundamente einer neuen deutschen Zukunft und zunächst des Widerstandes gegen den totalen Staat. Einige in Genf spielende Partien eröffnen nuancenreich Einblicke in gefährdetere Emigrantenexistenzen: tief und erstaunlich sicher gesehen von einem Dichter, welcher der inneren Emigration zugehörte. Was die Schweiz als ein Land einer unversehrten europäischen Kultursubstanz bedeutete, hat Thomas Mann bekannt, und in Stefan Zweigs Erinnerungen wird sie 1942 in einer überschwenglichen Rühmung noch einmal gegen die Mächte des Nihilismus ausgespielt: «Immer war ich gern in dies bei kleinem Umfang großartige und in seiner Vielfalt unerschöpfliche Land gekommen. Nie aber hatte ich den 200
Sinn seines Daseins so sehr empfunden: die schweizerische Idee des Beisammenseins der Nationen im selben Raum ohne Feindlichkeit, eine weiseste Maxime... Refugium aller Verfolgten, seit Jahrhunderten Heimstatt des Friedens und der Freiheit, gastlich jeder Gesinnung bei treuester Bewahrung seiner besonderen Eigenart - wie wichtig erwies sich die Existenz dieses einzig übernationalen Staates für unsere Welt.» Es ist ein sinnbildlicher Zug von großer Kraft, daß die Schweiz verlegerisches Asyl sowohl für Schriftsteller der inneren Emigration wie des ausländischen Exils wurde. Ihre Verlage nahmen Werke von Ricarda Huch, von Helene Christaller wie auch von Thomas Mann oder Max Herrmann-Neiße in ihre Obhut. Hier wurde offenbar empfunden, daß im Innersten bei aller äußeren Ferne Nähe war zwischen den Besten im Reich und den Besten draußen, eine tiefere Gemeinschaft im Zeichen gewisser Grundwerte einer bald transzendent, bald diesseitig begründeten Humanität, die in gemeinsamer Opposition gegen die Feinde des freien Menschen auf der extremen Linken und Rechten stand. Die geistigen Grenzen schieden und vereinten anders als die Landesgrenzen. Wiederaufbau Der Zweite Weltkrieg hatte weite Gebiete Deutschlands in eine Trümmerwüste verwandelt. Die erste Nachkriegszeit, ehe der Wille, von unten auf Wirtschaft, Gemeinschaft und Staat neu zu bauen, das entstellte Antlitz zu verändern begann, war eine Zeit der Ratlosigkeit, der alles beherrschenden Sorge um die Fristung der baren, bedrohten Existenz; die existentialistische Philosophie schien manchen der einzig gültige Ausdruck der Zeit zu sein. In der Stille galten dahinter die Anstrengungen der Besten dem fernen Ziel einer integralen Humanität zum Teil aus christlichem, zum Teil aus säkularem Geiste. «Eine Last hob sich vom Herzen; die Willkür verzweifelter Zwingherren hatte ausgetobt, die Welt konnte versuchen, wieder wahr zu werden», so umschreibt Carossas Lebensbericht ihr Gefühl. Ein von den Russen und ihren deutschen Helfern diktatorisch kontrolliertes östliches Deutschland, dem von den übrigen Hauptgegnern aus dem Krieg besetzten, allmählich freier werdenden westlichenDeutschland entgegengestellt, schuf für die Beziehungen unter Deutschen wie auch zu andern Völkern neue und problematische Voraussetzungen. Die Dinge lassen sich aus so großer zeitlicher Nähe erst notdürftig in einigen Hauptzügen erkennen. Wenn in Ostdeutschland von Staates wegen die Doktrinen des dialektischen Materialismus urjd die kommunistischen Tagesparolen das öffentliche Leben beherrschten, so konnte eine Be201
Ziehung zur Gesamtheit der geistigen Werte der freien Welt nur abseits, innerhalb einer neuen inneren Emigration, gepflegt werden. Wie das, •was von andern Nationen herkam, durch die offizielle Kontrolle mundgerecht verbogen wurde, kann man im kleinen an jenem Gottfried Keller studieren, den Lothar Berthold und Gerhard Weise in einer kommentierten Textausgabe {Keller. Ein Lesebuch für unsere Zeit, 1953) als einen an sich idealen volksverbundenen Dichter hinstellten. Aber seine gerade durch ihre mutige Überlegenheit über Parteiinteressen jeder Art wertvolle Zeitkritik gaben sie einseitig wieder, und seine von ideologischen Klischees freie Menschlichkeit maßen sie an der vermeintlich absoluten Wahrheit der marxistischen Doktrin: «Er empfand solche Widersprüche [in der kapitalistischen Gesellschaft] als unnatürliche Auswüchse, die man mit festem Willen und durch sorgfältige staatliche Erziehung der Jugend nach und nach beseitigen könne... Gerade diese Utopie läßt erkennen, daß Keller auf halbem Wege stehenblieb. Der Schweizer Bürger hatte keine Beziehung zum weltverändernden Werk der beiden größten Deutschen, Karl Marx und Friedrich Engels.» In Westdeutschland schien weit herum die Kluft, die der Nationalsozialismus gegenüber dem demokratischen Nachbarstaat geschaffen hatte, sich heillos zu vertiefen angesichts einer neben der deutschen Katastrophe her unversehrt weiterlebenden Schweiz. Aber bei einzelnen Schriftstellern zeigte sich, daß für sie gerade die Anknüpfung an der heilen Welt jenseits dieser Kluft ein notwendiger Teil des Wiederaufbaus war. Sie kamen fast alle aus der inneren Emigration. Die Beschäftigung mit dem Staat der Nachbarn und die Annäherung an ihre heile, dauerhafte Überlieferung war hier ein Teilvorgang innerhalb des Ringens um das Bild des Menschen in einer neuen, umfassenden Gemeinschaft. Im politischen Bereich faßte Willy Hellpach die Erfahrungen eines langen Lebens in einem vermächtnishaften Buch Pax futura (1949) zusammen, weiten Geistes die Interpénétration liberaler, sozialistischer und konservativer Ideen als Forderung des Tages und der Zukunft begründend. «Konservative Demokratie» ist seine Formel für das neue Deutschland, und er sieht es urverwandt mit der ihm seit langem vertrauten Schweiz und mit England und den Vereinigten Staaten. In einer «Schriftenreihe zur Erneuerung der deutschen Humanität» erschien 1947 eine Studie Otto Flakes über Jacob Burckhardt: das Lob des Weisen, der in Leben und Lehre gegen die unfruchtbaren Radikalismen der Rechten und der Linken das ausgewogene Leben in den zeitlosen Wahrheiten verfocht, treu gegen sich selbst, Schlagworten abhold und doppelt gültig in einer Zeit «der Rettung, Bewahrung, Stärkung der 202
konservativen Werte». Und ein Jahr vorher hatte der Romancier Wolf von Niebelschütz in einem Vortrag über den großen Basler ihn angerufen als einen zum wiederholten Mal gültigen Nothelfer der Deutschen: «Selbst in den bittersten Partien der Weltgeschichtlichen Betrachtungen, selbst in den gewaltigen Passagen über das Wesen der Krisen, über Glück und Unglück in der Geschichte, über das Individuum und das Allgemeine, Passagen, wo uns die Augen übergehen vor Aktualität, selbst da sehe ich immer nur den Mann, der auszog, zu schauen und das Harmonische zu suchen. Ich sehe das innere Maßhalten durch alle Relativismen hindurch, sehe zu genau, was für ein positiver Mensch das gewesen ist, der da beharrlich und still und niemals klagend für die bedrohte Bildung Alteuropas einstand.» Das Suchen nach dem Menschen, der urbildhaft den vernichtenden Kräften der Welt «das Gesetz der Menschlichkeit, der menschlichen Würde und Freiheit entgegenstellt und den Preis seines Lebens» dafür zu bringen bereit ist, reichte durch alle Zeiten und Räume - und auch tief in das kleine Nachbarland hinein. Das zitierte Wort steht in der Pestalozzi-Studie, die Walter Bauer für die Reihe Die großen Brüder schrieb; schon 1943 hatte ihn, wie die schöne Erzählung Die Geburt des Lächelns (in: Degen und Harfe) bezeugt, die Gestalt des Waisenvaters von Stans ergriffen, der «aus verlorenen Kreaturen den Menschen hervorzurufen» selbstlos wagte. Und der Katholik Reinhold Schneider stellte 1948 in dem Buch Vom Tun der Wahrheit Nikiaus von Flüe einem Loyola und einem Franz von Sales als helfenden Geistern an die Seite. Das schönste menschliche Dokument eines Deutschen, der kurz nach 1945 auf dem Weg zu einer neuen heilen Welt sich der heilen Schweiz zuwandte, ist Ernst Wiecherts Rede an die Schweiber Freunde (1947). Für erstaunlich viele deutsche Schriftsteller, von Ricarda Huch bis Hermann Hesse, von Rilke bis Schäfer, von Borchardt bis Flake, war die Schweiz ein Wohnland, eine Stätte der längeren Niederlassung, der Sammlung und der Arbeit gewesen. Nach 1945 wiederholte es sich in weitem Ausmaß : unter den neuen Wohngästen waren ein Werner Bergengruen, ein Edzard Schaper, ein Thomas Mann, ein Ernst Wiechert. Dessen Erinnerungsbuch Jahre und Zeiten (1949), dem befreundeten Schweizer Physiognomiker und Kulturphilosophen Max Picard gewidmet, klingt in den Frieden der neuen beheimatenden Landschaft um Uerikon am Zürichsee aus; in ihrem Schutz konnte er noch sein letztes, nach jenseitigen Gründen sich öffnendes Werk Missa sine nomine vollenden. Seinem Gastland hatte er in jener Rede, gleichsam als Stimmführer für viele, staunend aufgezählt, was ihm nach den Jahren des entfesselten Nihilismus an heilen Dingen hier begegnet war: «Unzerstörte Städte und Land203
Schäften, das Redliche und nicht Unterbrochene der Arbeit, des Planens, des Miteinanderseins ; Hoffnungen und Spiele, so unverändert wie in meiner Kinderzeit, eine nicht geschändete Erde, ein nicht drohender Himmel, wachsendes K o r n . . . , Glocken, die von den Türmen rufen, Lieder, die aus hellen Häusern durch den Abend gehen. Und, mehr als alles dies: Menschengesichter, über die die Hand der Dämonen nicht geglitten ist. Die ihre Sorge, ihr Leid, ihre Traurigkeit tragen wie jedes Menschengesicht, aber was sie tragen, tragen sie nach dem alten Gesetz der Erde, und dahinter steht unsichtbar Gottes Hand und nicht die Hand der Dämonen.» Die ausländischen Dichter, welche schweizerische Themen darstellten, sind Legion; es sei unter den neueren bloß an Gide, Shaw, Tolstoi, Mark Twain, Strindberg erinnert. Aber aus keinem Sprachraum kamen sie so zahlreich wie aus dem deutschen, und in keiner Literatur sind diese Themen so ausgiebig und eindringlich dargestellt worden wie in der deutschen. Und umgekehrt: aus wenigen Ländern haben Anregungen noch reicher auf deutsche Schriftsteller eingewirkt als aus dem kleinen Nachbarland. Die Schweiz ist mit ihrer großen Natur, mit den Werken ihrer Dichter, Maler und Gelehrten, mit dem Leben ihres Volkes und Staates für den Nachbardichter ein Jungbrunnen, eine Stifterin hoher Seelenzustände, ein Land der umfassenden menschlichen Integration, ein Schulbeispiel dessen, was Länder als bildende Mächte bedeuten können, geworden. Nicht zuletzt deshalb, weil das, was sie darbot, tiefsten Anliegen des künstlerischen Menschen entsprach und elementaren seelischen Bedürfnissen entgegenkam. Ihr sind in Hunderten von Darstellungen ihre Landschaften, ihre Geschichte, ihre Städte, ihre Großen, ihr Volksart, ihre Staat neu gesehen, neu gedeutet, neu durchfühlt wiedergeschenkt worden im dichterischen Bild oder in der Betrachtung. Die Verjüngende erscheint darin selber verjüngt. In ganz besonders glückhaften Fällen ist es, als trete in der Gestalt des fremden Dichters der neuzeitliche Mensch schlechthin, ausgestattet mit der durch die Entwicklungen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts geweckten universalen Anlage seiner Kräfte, der Schweiz in ihrer reinsten Ausprägung als dem schönen, freien, humanen, universalen europäischen Land schlechthin gegenüber. Im höchsten Fall wird so die Begegnung des Dichters mit der Schweiz zur Begegnung des integralen Menschen mit dem integralen Land schlechthin, und das Ergebnis des Vorgangs entspricht dem, was André Gide durch seine Auseinandersetzung mit der Schweiz erfuhr: «L'homme est invité à tirer un meilleur parti des circonstances et de soi-même.» 204
Die Gunst der geschichtlichen Situation auf der Seite der Dichtergäste und des Gastlandes hat die Reichweite und Reichtiefe seiner Kräfte im hier betrachteten Zeitraum ungewöhnlich gesteigert und ihm bis in das beginnende dritte Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts hinein die Aufgeschlossenen in bisher nicht dagewesener menschlicher, sozialer, politischer, weltanschaulicher Vielfalt zugeführt. Daß sie aus einem Volk kamen, das dem fraglosen Sein ferner lebt als viele andere und mehr Unrast in sein Welterlebnis hineinträgt, war ein fördernder und nur selten ein belastender Umstand. Das schweizerische Gegenbild, antwortend auf «jenes gemeinsame Bedürfnis, eifrig zu allem, was die Natur in sie [die .besonders begabten Menschen'] gelegt hat, auch in der äußeren Welt die antwortenden Gegenbilder zu suchen und dadurch das Innere völlig zum Ganzen und Gewissen zu steigern», war aus vielen Teilelementen mannigfach zusammengesetzt und gerade deshalb mannigfaltig anregend. Bald wirkte es im Goetheschen Sinne als Hochbild, als eine hohe Erscheinungsform eines vom Dichter im Innersten Gesuchten, bald als Ebenbild, als Bestätigung und Bekräftigung des Dichters in seiner eigenen Art - gelegentlich auch als Gegen-Bild, als eine zum Widerspruch herausfordernde entgegengesetzte Welt. Jedenfalls war die Begegnung fast ohne Ausnahme ein Akt der Steigerung, ja der Verwandlung durch die erlebte Wirklichkeit, und das schweizerische Bild in der Literatur seinerseits fast immer in irgendeinem Grade durch den solchermaßen Verwandelten verwandelte Wirklichkeit. Diese dichterischen Gebilde nehmen die unterschiedlichsten Orte ein in der reichen Skala zwischen der möglichst getreuen Wiedergabe eines gegebenen Sachverhalts und dem Phantasiewerk, in dem das vorhandene Wirkliche beinahe nur noch als Ausdrucksmittel für die autonome innere Welt des Dichters aufgegriffen wird. In der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle erweist der Vergleich die literarische Darstellung schweizerischer Themen als erstaunlich welthaltig, reich an schöpferisch gesehener Wirklichkeit, und den Dichter als ebenso intensiv-weltbezogen. Diese komplexen Beziehungen, wo im Weltbezug des Dichters und seines Werkes wirkende Kräfte von Zeit und Gegenstand mit sichtbar werden, bilden das wichtigste Forschungsfeld der Motivgeschichte. Von hier aus gesehen, führen die vielfach geübten, so oft ohne die geringste Ehrfurcht vor der komplexen Ganzheit des Wirklichen geführten methodologischen Erörterungen, ob das Wie oder das Was der Dichtung wesentlicher sei oder ob Dichtung ausschließlich eine «weltlos» in sich selber ruhende Erscheinung darstelle, zu falschen Alternativen und verhängnisvollen Horizontverengungen. Demgegenüber wird die zu205
nehmende Kraft ganzheitlichen Denkens und das wachsende, gegen jede Doktrin mißtrauische Bedürfnis nach vielseitigen, unorthodoxen Fragestellungen sowohl die Ausdrucksmöglichkeiten der Dichtung wie auch die Weltbezogenheit des Dichters und die strahlende, schöpferische Welthaltigkeit der Dichtung in ihrer Fülle zu sehen. Hier wird man auch, bei allem selbstverständlichen Respekt vor künstlerischen Werthierarchien, sich nicht erlauben, die weniger bedeutenden, aber oft dokumentarisch äußerst aufschlußreichen Werke der kleineren Geister einfach unbefragt an den Rand zu schieben. Leibnizens Satz «Es ist seltsam: ich billige das meiste, was ich lese» ist der Erwägung werter als die Verlautbarungen mancher alter und neuer Nachtreter Nietzsches, die durch Überheblichkeit gegenüber dem Kleinen und dem Großen glänzen, und Diltheys Kommentar zu Leibniz ist auch in seinem allgemeinen Erkenntnisethos noch nicht durch Gültigeres überholt: «Er gab sich der Wahrheit in jeder Schrift und in jeder Tatsache des Lebens hin.»
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ANMERKUNGEN 1 (zu S. 16) - Hans Blum (i 841-1910) war ein Leben lang mit der Schweiz verbunden. Hier hatte seine Mutter mit ihm Zuflucht gefunden, und 1849 bis 1860 wurde er im Institut Gladbach in Wabern und im Berner Gymnasium in liberalem Geiste erzogen. Freundschaft mit Albert Bitzius d. J., Eduard Langhans (porträtiert im Roman Juvalta) und andern Führern der liberalen Ära in der Schweiz sowie eine unverbrüchliche Freude an Landschaft und freier Volksart sind das dauernde Erbe dieser Zeit. In Leipzig wandelte sich der Student vom Republikaner zum forschen nationalliberalen Monarchisten. Zwischen 1861 und 1898 pflegte er, ein begeisterter Berggänger und besonderer Freund des Berner Oberlandes, seine Sommerurlaube in der Schweiz zu verbringen, und seit 1898 lebte er, mit schriftstellerischen Arbeiten beschäftigt, in seinem Landhaus in Rheinfelden. 2 (zu S. 16) - Wilhelmine von Hillern (1836-1916) hatte als Gattin eines badischen Landgerichtspräsidenten i857bisi882 ihren Wohnsitz in Freiburg im Breisgau unweit der Schweizer Grenze. 1906 trat sie zum Katholizismus über. 8 (zu S. 16) - «Aus dem Fortschrittsglauben der Epoche heraus brachte man ihr [der Gotthardbahn] eine auf diese Weise heute erloschene Ehrfurcht entgegen, und die Ingenieure, auch mein Vater, waren sehr stolz auf sie», erzählt Eugen Diesel, der Sohn des Erfinders, im Erinnerungsbuch Schweiber Streiflichter (1953). Der Oesterreicher O. M. Fontana nahm 1936 im Roman Der Weg durch den Berg das Thema wieder auf. 4 (zu S. 19) - Vgl. Goswina von Berlepsch als Kellnerin des Appenzellerlandes (die Novelle Hanhiscbli in Heimat, 1899) oder Robert Schweichel als Freund des unteren Wallis {Aus den Alpen, 1870) oder die Darstellungen des Thurgaus bei Donald Wedekind (Ultra Montes, 1903) und später der Zugerseegegend bei Reinhold Conrad Muschler (Flucht in die Heimat, 1936). 5 (zu S. 2 1 ) - I m Nu hatten Mennells« kuriose Reiseerlebnisse einer Berliner Familie» die dreißigste Auflage erreicht. Das Buch bietet die liebevolle Karikatur der handfestbismarcktreuen, in Berolinismen schwelgenden, bald rührselig, bald schnoddrig die durchreiste Welt kommentierenden Familie Buchholtz. • (zu S. 23) - Einige wenige Modeschriftsteller dieser Zeit wurden sich ernstlich der Gefahren einer ungehemmten materiellen und politischen «Aufwärtsentwicklung» bewußt. Ein Dokument solcher Zweifel an deutschen Zuständen unter Wilhelm II. ist das Gedicht Der Schweif vgtm /. August 1891, in dem Ernst von Wildenbruch (1845-1909) beschwörend auf die solidere, auf das Ganze der Volksgemeinschaft gebaute schweizerische Freiheit hinwies: «Dir selber Herr, dir selber Untertan, Du Volk der Männer, wandle deine Bahn!» Der berühmte «Hohenzollerndramatiker», der in zweifacher Epigonie den Geist Weimars mit dem Geiste Potsdams vereinen wollte, hatte mit seiner impulsiven Wärme für alles innerlich Starke in seinen langen Kampfesjahren das Werk Meyers, Kellers, Burckhardts und Böcklins begrüßt und den Zürcher Meistern sowie dem befreundeten Schweizer Kritiker J . V. Widmann in Bern seine ritterliche Aufwartung gemacht.
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' (zu S. 27) - Ähnliche Uberzeugungen sind im Spiel, wenn Ernst Ludwig Rochholz (1809-1892) in den Kampf eingreift. Der Mann mit dem starren, rasch verbitterten Wesen hatte als des Liberalismus Verdächtigter in die Schweiz fliehen müssen und sich hierin zäher Arbeit an der Aarauer Kantonsschule eine Stellung als Lehrer geschaffen; ferner trat er mit materialreichen volkskundlichen Publikationen hervor. Der Widerspruchsvolle und nirgends zur Beheimatung Fähige vermochte sich weder zur Einbürgerung in der Schweiz noch zur Niederlassung im Reich des doch so bewunderten Bismarck zu entschließen. Viel angefeindet, hielt er seinerseits mit Kritik an demokratischer Vermassung, Deutschenhaß, eidgenössischer Selbstgerechtigkeit, politischem Katholizismus usw. nicht zurück - ein Beispiel ist der 1889 (im Jahr des Wohlgemuthandels) erschienene Gedichtband Reicbstreu - denkfrei. In früheren Jahren hatte er ingrimmig und verblendet versucht, zwei der wichtigsten Stützen des schweizerischen Nationalbewußtseins zu brechen und damit zugleich Frankreich und die Kirche Roms zu treffen - Mächte, die sie angeblich gegen das Reich mit errichtet hatten: in zwei Büchern machte Rochholz der Gestalt Teils und Nikiaus von Flües den Prozeß. Die «religiöse Schweizerlegende» vom jahrelang fastenden Einsiedler und die politische vom Frieden stiftenden Mahner suchte er mit positivistischer Quellenkritik zu zertrümmern {Die Schweiberlegende vom Bruder Klaus von Flüe..., 1875), und Teil glaubte er seines Rangs im schweizerischen Bewußtsein entheben zu können, indem er ihn in eine naturmythische Figur, ein Frühlingssymbol, verwandelte {Teil und Geßler in Sage und Geschichte, 1877). 8 (zu S. 31) - Hartmann, dieser weltoffenste und empfindlichste Geist unter denen, die nach 1848 als Dichter für den Liberalismus weiterkämpften, stieß in Vernex am Genfersee zu seinen republikanischen Gesinnungsfreunden Heinrich Simon und Johann Jacoby und übersiedelte dann nach Bern zu dem Zoologen Karl Vogt, dessen philosophischen Materialismus er bejahte. 1850 verließ der Unstete die Schweiz. 1860 bis 1863 lehrte er an höheren Bildungsanstalten in Genf. Hier war das Haus des inzwischen an die Akademie berufenen Karl Vogt zu einem Hauptquartier revolutionärer Kreise geworden. Als Dichter genoß Hartmann vor allem die Gaben der Genferseelandschaft: ihre Schönheit, die Reminiszenzen an große Freiheitskämpfe; das treuherzige Volkswesen im demokratischen Land riß ihn, der aus dem Raum zwischen Romantik und Jungem Deutschland herkam, gleich manchen andern zu poetischer Verklärung hin. 1863, in seinem 42. Altersjahr, siedelte er als Redakteur der Zeitschrift Freya nach Stuttgart über, 1868 übernahm er in Wien die Feuilletoriredaktion der Neuen Freien Presse. Noch 1874, zwei Jahre nach dem Tode des beliebten Schriftstellers, erschien eine zehnbändige Ausgabe seiner Werke. 8 (zu S. 3 3) - Mit offener Kritik am Gastland hielten die Achtundvierziger zurück. Verfolgt man sie in ihren Briefen, so erscheint in einer verhältnismäßig milden Variante ein Grundzug des Emigrantenschicksals: es fuhrt nicht in die ersehnte vollkommene Freiheitswelt. Die feindlichen Mächte, denen man entrann, haben ihre Entsprechungen, manchmal von gleichem, manchmal von anderm geistigem Zuschnitt, auch im Asylland - abgesehen vom Treiben der Spitzel und Lockspitzel aus der alten Heimat. Die Achtundvierziger pflegen das Gastland dort anzuklagen, w o sie antiliberale konservative Kräfte am Werk sehen, und in ihren späteren Jahren heben sie noch einmal die Waffen auf wider den drohend wachsenden Geldgeist, der ungesunde soziale und wirtschaftliche Zustände schuf. 10 (zu S. 38) - Später wurde Robert Seidel Kaufmann und stieg nach der Einbürgerung im politischen Kampf als sozialistischer Zürcher Stadt- und Kantonsrat, als Nationalrat, Dozent und Redakteur von Arbeiterzeitungen rasch auf (1850-1933). 11 (zu S. 38) - Anspornend wirkte das Beispiel des schon zu Beginn des zweiten
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Jahrhundertdrittels in der Schweiz entstandenen Grütlivereins. Lange Zeit waren in ihm liberale Sozialreformer, Demokraten und frühe Sozialisten vereinigt; seit der Gründung der Ersten Internationale 1864 radikalisierte er sich. 1888 schrieb ihm Robert Seidel zum fünfzigjährigen Bestehen eine lange Versepistel (aufgenommen in: Aus Kampfgewühl und Einsamkeit, 1895): «Des Grütliheeres volle Reihen Sah man zum Recht der Schwächsten stehn . . . Sie stritten brüderlich verbunden Mit der Partei des Menschentums, Und so gelang in heißen Stunden Die Zähmung des Manchestertums. n 12 (zu S. 52) - In der Blütezeit der Zürcher Aufklärung hat es vor allem Johann Jakob Bodmer den Liebhabern des erlesenen literarischen Porträts angetan. Mit österreichischer Grazie schildert Robert Hohlbaum die Begegnung mit Klopstock in der Novelle Der Messias (Unsterbliche, 1919); die unfreiwillig komischen Züge betont der Feind des Bürgerlichen, Franz Blei, in den Fünf Silhouetten in einem Rahmen (1904). Vgl. auch die historischen Zürcher Romane der gebürtigen Hamburgerin Mary Lavater-Sloman: Henri Meister (1936), Genie des Herfens-fohann Kaspar Lavaters Lebensgeschichte (1939) u. a. 13 (zu S. 56) - «Ich sah hinunter über Hügel-Wellen gegen einen milchgrünen See hin, durch Tannen und altersernste Fichten hindurch: Felsbrocken aller Art um mich, der Boden bunt von Blumen und Gräsern. Eine Herde bewegte, streckte und dehnte sich vor mir; einzelne Kühe und Gruppen ferner, im schärfsten Abendlichte, neben dem Nadelgehölz; andere näher, dunkler; alles in Ruhe und Abendsättigung. Die Uhr zeigte gegen sechs. Der Stier der Herde war in den weißen, schäumenden Bach getreten und ging langsam widerstrebend und nachgebend seinem stürzenden Laufe nach: so hatte er wohl seine Art von grimmigem Behagen. Zwei dunkelbraune Geschöpfe, Bergamasker Herkunft, waren die Hirten; das Mädchen fast als Knabe gekleidet. Links Felsenhänge und Schneefelder über breiten Waldgürteln, rechts zwei ungeheure beeiste Zacken, hoch über mir, im Schleier des Sonnenduftes schwimmend - alles groß, still und hell. Die gesamte Schönheit wirkte zum Schaudern und zur stummen Anbetung des Augenblicks ihrer Offenbarung; unwillkürlich, wie als ob es nichts Natürlicheres gäbe, stellte man sich in diese reine, scharfe Lichtwelt . . . griechische Heroen hinein; man müßte wie Poussin und seine Schüler empfinden: heroisch zugleich und, idyllisch'» (Aus Der Wanderer und sein Schatten, 1879, in Menschliches, Alk(umenschlicbes II, Anhang). 14 (zu S. 60) - Ein Studiensommer in Lausanne hatte Wedekinds (1864-1918) erste Schweizer Zeit 1884 abgeschlossen. Aus seinen zahlreichen späteren Aufenthalten heben sich diejenigen von 1886 bis 1888 und 1895/96 heraus. Nachdem er im Winter 1886/87, m i t seinem Vater verfeindet, als Reklameschriftsteller in der Nahrungsmittelfabrik Kemptthal hatte arbeiten müssen, erfolgte die Versöhnung; später hielt er sich mit Vorliebe in der für ihn bezeichnenden Umwelt der Zürcher Boheme auf. 15 (zu S. 63) - Als Hesse 1922 zu Carl Seeligs Leuthold-Anthologie Der schwermütige Musikant das Vorwort schrieb, erfüllte ihn, den selber nach Unrast und Geborgenheit zugleich Begehrenden, das Staunen über den Lyriker mit dem innigen, reinen Ton und dem verwahrlosten, irrsternhaften Leben. In den Memoiren Heyses, Grosses u. a. erscheint Leuthold, der als Geistesverwandter der Münchner im ersten Münchner Dichterbuch vertreten war und überdies mit Geibel zusammen an den Fünf Büchern französischer Lyrik in deutscher Nachdichtung gearbeitet hatte, als ein zwar zu Großem
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Berufener, durch seine eigene Haßdämonie aber zerrütteter Dichter. Gedichte Wilhelm Jensens (Heinrieb Leutholds Bild) und M. R. v. Sterns (im Band Nebensonnen, 1892) zeigen ihn als eine Beute zynischer Leidenschaften und zugleich als einen Menschen, der sich auf Augenblicke in Visionen von vollendeter Schönheit aus Erniedrigungen befreit, und Ludwig Ganghofer hat den Künstler mit der tragischen Doppelnatur als Frießhardt in den Roman Die Sünden der Väter (1886) aufgenommen, ähnlich aufgefaßt, aber mit einem peinlichen Aufwand an psychologischer Zerfaserung und romanhaften Irrsinnsszenen dargestellt. 16 (zu S. 67) - In Zürich hatte auch Oskar Panizza (1855-1921) jenes blasphemischerotische Drama Das Liebesken^il (1894) in Verlag gegeben, das ihm in Bayern ein Jahr Gefängnis eintrug. Er siedelte 1896 nach Zürich über und veröffentlichte hier als sein eigener Verleger unter dem Titel Zürcher Diskussionen im Namen des freien Individuums eine Reihe zügellos ausfälliger Streitschriften gegen polizeiliche und andere Ordnungsmächte, auch die zürcherischen nicht verschonend, nachdem er 1898 wegen eines Sittendelikts aus der Schweiz ausgewiesen worden war. Auf seinen späteren unsteten europäischen Wanderungen nahm sein streitbarer Anarchismus immer mehr pathologische Züge an, bis sich die Pforten einer Bayreuther Irrenanstalt hinter dieser «ungekünstelten dämonischen Natur», wie Brupbacher ihn nannte, schlössen. 17 (zu S. 71) - Ohne Angabe der Quelle zitiert in Alfred Zächs Textsammlung Gottfried Keller im Spiegel seiner Zeit (1952). 18 (zu S. 71) - Die Art, wie Friedrich Theodor Vischer (1807-1887) seine Schweizer Jahre für seine Entwicklung ergiebig gestaltete, erhebt ihn in die Reihe derjenigen Dichtergäste, deren Begegnung mit der Schweiz weit über das Zeitgebundene hinaus menschlich anspricht. Aus der beklemmenden Enge des politischen und religiösen Lebens in Tübingen rettete sich der «Freigeist» 1855 nach Zürich, wo er bis 1866 an der Eidgenössischen Technischen Hochschule das Amt eines Dozenten der Ästhetik und der deutschen Literatur versah. Mochte der Hochempfindliche sich auch leicht an manchen helvetischen Ecken und Kanten stoßen: es überwiegt doch die Bejahung des gesunden republikanischen Staates, der Volkssubstanz, der kraftvollen Alpenlandschaft. Er hielt der Schweiz die Treue bis zu seinem Tode. Am tiefsten wirkte auf ihn, diese «Schlüsselgestalt zum Verständnis des neunzehnten Jahrhunderts» (wie Hermann Glockner ihn in seinem Vischer-Buch 1931 nennt), der volle Zusammenklang mit der Natur Kellers. In dem Briefwechsel spürt man hinter allen kauzigen Schalkhaftigkeiten die wortlose, erquickende Tiefe einer Verbundenheit, in der jeder die Hintergründe der goldechten «monistischen Einrichtung» des andern unmittelbar begriff und mit dem «Prädikat der Herzensfreude» auszeichnete. 19 (zu S. 73) - Karl Weitbrecht (1847-1904), einem unerträglichen Pfarramt in Süddeutschland entronnen, wirkte 1886 bis 1893 in Zürich als Schulmann und Privatdozent, später in Stuttgart als Dozent. In seinen Gesammelten Gedichten (1903; darunter das schöne Meister Gottfrieds Tod) kommen mehrfach Schweizer Themen vor. Am merkwürdigsten ist der zeitkritische Roman Phaläna, die Leiden eines Buches (1892); als Ort der Handlung ist unschwer Zürich zu erkennen. 20 (zu S. 78) - Vgl. des Berliner Schriftstellers Max Ring (1817-1901) Schilderung in seinen Erinnerungen (1898):«Körperlich unscheinbar, klein und untersetzt, mit einem Kopf, der auf den ersten Blick mehr Charakter als Geist verriet, dabei scheu, fast schroff, in sich gekehrt und schweigsam, aber still und scharf beobachtend, konnte Keller bei oberflächlicher Bekanntschaft leicht übersehen werden und eher abstoßen als anziehen. Erst wenn man ihm näher trat und er auftaute, was besonders im traulichen Zwiegespräch und bei einem Glase Wein geschah, überraschte und fesselte er durch die Originalität seines Geistes und durch einen liebenswürdigen, zuweilen
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schalkhaften Humor, den man am wenigsten unter dem knorrigen Äußern gesucht hätte. Mit diesen Vorzügen verband er eine ideale Lebensanschauung, die ehrenwerteste Gesinnung, ein seltenes Zartgefühl und eifrige Gerechtigkeitsliebe, wofür er mir manche interessante Beweise gab.» 21 (zu S. 78) - Robert Schweicheis (1821-1907) Realismus ist leicht gesellschaftskritisch getönt. Der liberale Königsberger Jurist mußte 1848 fliehen und fand in der französischen Schweiz als Lehrer, zuletzt als Dozent der deutschen Sprache und Literatur an der Lausanner Akademie, eine neue Heimat. 1861 kehrte er nach Deutschland zurück. Nach diesem Zeitpunkt erschienen in größerer Zahl schlichte, warmherzige Schweizergeschichten dieses feinsinnigen Kenners der unbekannteren Schweiz. 22 (zu S. 81) - Johannes Scherr (1817-1886), ein Vergröberer der Tendenzen des Poetischen Realismus, fand (nach einem ersten Schweizer Aufenthalt 1840 bis 1845) im Jahre 1849 in der Schweiz Zuflucht vor politischer Verfolgung. Seit 1860 dozierte er, kämpferisch gegenwartsbezogen, Geschichte und deutsche Literatur an der Eidgenössischen Technischen Hochschule und erregte mit seinen Schriften weithin Aufsehen. Der cholerische Mann, in seiner Mischung von Pessimismus und Fortschrittsgläubigkeit das Zweiseitige aller Dinge heftig erfahrend, war öfters grimmiger Angreifer und dann wieder Lobredner derselben Sache - so auch seines Gastlandes, was besonders dann peinlich wirkte, wenn der nationalistische Eifer über ihn kam. Neben frühen Romanen, wie Michel, spielen auch spätere Novellen auf Schweizer Boden (Brunhilde, Die rote Dame u. a.). 23
(zu S. 84) - Als Josef Viktor v. Scheffel (1826-1886) die Reichsgründung erlebte, waren seine besten Kräfte nach schweren persönlichen Kümmernissen längst versiegt. In seinem vielgelesenen Ekkehard (1857), dem Roman aus der großen Frühzeit des Klosters St. Gallen, ist mit realistischer Frische all das festgehalten, was ihm die Schweiz von der ersten Bündner Wanderung (1849) bis zum letzten Besuch (1884) unverändert bedeutete: die Heimat eines alemannischen, charakterfesten Stammes, dem er sich nahe fühlte; ein Land mit großer Geschichte und einer mächtigen Natur, die auch an ihm wie an seinem Ekkehard manches Genesungswunder gewirkt hatte. 24 (zu S. 95) - Aus Hofmannsthals Aufsatz C. F. Meyers Gedichte in Wissen und Leben, Heft 16, 19251 «Welche Unzartheit des Sprachsinnes nicht nur, sondern schlechthin des Gefühls! Wie ist in diesen hundert und aberhundert Gedichten das Eigentliche, das Lyrische, jenem unsicheren Bestreben, Geschichte aufleben zu machen, nein, historische Anekdotenbilder in Strophen umzusetzen, aufgeopfert! Anekdoten aus der Chronik zum lebenden Bild gestellt, Wämser und Harnische, aus denen Stimmen reden - welch eine beschwerende, fast peinliche Begegnung: das halbgestorbene Jahrhundert haucht uns an; die Welt des gebildeten, alles an sich raffenden Bürgers entfaltet ihre Schrecknisse; ein Etwas, dem wir nicht völlig entflohen sind, nicht unversehrt entfliehen werden, umgibt uns mit gespenstischer Halblebendigkeit.» 25 (zu S. 99) - Eine «Böcklin-Krise» setzt in der Literatur erst bei einigen radikalen Verfechtern des starken Ich und des eigenmächtigen Stils ein. Die Kritik (z. B. in Wedekinds Aufsatz über Böcklins Helvetia) weist zunächst bloß auf einige technische Mängel - gewisse Verzeichnungen - hin. Franz Blei, ursprünglich ein Verehrer des Malers, setzt ihn später bereits zu seinem Nachteil dem theatralischen Wagner gleich, und beim älteren Dehmel, der von Meier-Gräfes Böckün-Kritik beeinflußt ist, wird zwar der charaktervolle Mensch vom unzulänglichen Künstler geschieden, seiner Kunst aber vorgeworfen, daß sie sämtliche Werte außer den seelischen vernachlässige. Seit den aufgewühlten Jahren nach 1914 fallt der Name des als allzu ästhetisch und wirklichkeitsfern empfundenen Böcklin nicht mehr oft in der deutschen Literatur. 26 (zu S. 100) - Die Aufnahme Spittelers im deutschen Schrifttum, wie sie aus 211
Aufsätzen und Briefen mehr als aus dichterischen Zeugnissen vorläufig zu erschließen ist, bietet ein Schulbeispiel für die Problematik ästhetischer und weltanschaulicher Urteilsbildung einem unbändig selbstgesetzlichen künstlerischen Temperament gegenüber - ein Schauspiel, in dem eher als der Dichter die Voreingenommenheit der Kritisierenden als angeklagt erscheint. Spitteier hat es mit seiner eigenwilligen und oft voluntaristisch forcierten Kunst seinen Lesern allerdings nicht leicht gemacht. Es fehlt in der gegen ihn gerichteten Kritik ohne Selbstkritik nicht an Stimmen, die ihm schlechthin die eigene dichterische Kraft absprechen und damit seinem Werk die innere Wahrheit. Viele - darunter Paul Heyse und Ricarda Huch - waren durch seine Phantasie und Sprache befremdet, und Dehmel fand den «barocken Hellenisten» für Leser ohne gelehrte Bildung zu Unrecht unverständlich. Die Kritik wurde dort intransigent, wo Spitteier auf die Ablehnung literarischer Schulen oder gar politischer Gegner stieß - wo es um Machtpositionen geht, ist es um den Willen zu gerechter Würdigung in der Regel geschehen. Eigentümlicherweise stammen die ausgiebigsten Manifeste aus neuklassischer Sicht, also just von dorther, wo übereinstimmend mit Spitteier großer Inhalt in der großen Form exklusiv als Ziel der Kunst gefordert wurde. Als Anhängerin Stefan Georges bezichtigte Edith Landmann den Dichter des Olympischen Frühlings (zu Rilkes Empörung) der Erniedrigung des Hohen: «Nach irgendeinem Bilde von dem Siege des Geistigen über das dumpf Triebhafte oder von Vergeistigung des Triebhaften selbst suchen wir vergeblich», behauptet sie in ihrer ironisch Carl Spittelers poetische Sendung (1923) betitelten Kritik. Während ihm hier aber wenigstens Bildkraft der Phantasie und Größe der Satire bedingt zugestanden werden, verwirft Paul Ernst Spittelers Pessimismus, unbekümmert um das, was hinter des Dichters trotzigem «Ich heiße Dennoch» steht: «Es kommt bei dem Spittelerschen Prometheus alles darauf hinaus, daß das Gute und Große gegenüber dem Elenden und Niedrigen unterliegt» (Carl Spitteier und das neudeutsche Epos, 1918). Das Datum dieses Aufsatzes weist auf eine zweite Quelle der Urteilstrübung hin: als Spitteier drei Jahre vorher mit seiner Rede Unser Schweiber Standpunkt zur respektvollen Distanz gegenüber allen Kriegführenden und zur Wahrung der inneren Einheit aufrief, wurde von vielen im Reich, die sie nicht gelesen hatten, diese Botschaft in eine moralische Kriegserklärung an Deutschland umgedeutet, um so mehr, als sich ein Hinweis auf den deutschen Überfall auf Belgien darin fand. Das war für den eifernden Paul Ernst der Anlaß, auch über dem Menschen Spitteier den Stab zu brechen: «Sein klargewollter Zweck: uns zu schaden in der Meinung der Welt.» Andrerseits dauerte aber die Spitteier-Sympathie jener Deutschen weiter, die mit Nietzsche den «eminent feinen Kopf», mit Felix Weingartners bahnbrechender Schrift Carl Spitteier (1904) die packende Symbolkraft, mit dem Freund J. V. Widmann, mit Burte und Stegemann die schöpferische Größe an sich erkannt hatten. Vor allem wich der Kunstwort unter Ferdinand Avenarius auch in den gefährlichen Jahren um 1918 nicht ab von seinem Willen, dem Schweizer Dichter den Weg zu deutschen Lesern zu ebnen. Rilke nannte ihn zur Zeit, als er selber in den mythischen Bildern der Sonette und der Elegien lebte, in einem Atem mit Dante, und mit Ramuz zusammen galt er ihm als der größte neuere Schweizer; Carossas Urteil setzte ihn ebenfalls großen Meistern gleich - vielleicht eine Verheißung, daß Weingartners Wort «Die Welt wird Spitteier finden» eines Tages sich erfüllt. " (zu S. 106) - Die Schweiz lag im unmittelbaren Seh- und Denkbereich des Landsitzes Seeheim bei Konstanz, den der schweizerfreundliche Vater des Dichters, der letzte Finanzminister Bismarcks, erworben hatte. Auf frühen Wanderungen sowie 1893 in Lausanne durch das «schönste seiner Semester» und später durch zahlreiche Aufenthalte wurde er einer der unentwegtesten Freunde und Deuter schweizerischer 212
Landschaft. Ein starkes Gefühl für den Wert der strengen, großen symbolischen Form ließ ihn auf Leuthold achten und vor allem C. F. Meyer eine Strecke Weges nachfolgen. In seinem lyrischen und epischen Werk ist die Spur einer nie abbrechenden Beschäftigung mit der geistigen und der landschaftlichen Schweiz deutlich zu verfolgen. 28 (zu S. m ) - Im alpinistischen Roman, der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine eigene Note in das Schrifttum bringt, kommt als krönendes Motiv der Kampf des Menschen um den Berg hinzu - ein Kampf unter Einsatz des Lebens, das fortan, in dieser Sicht, nachdem es einmal für ein großes Ziel selbstzweckhaft aufs Spiel gesetzt wurde, gegen das Absinken in das Gewöhnliche gefeit erscheint. Mit nicht ganz zureichenden Kräften entwirft Georg von Omptedas in Zermatt und den Berner Alpen spielender Roman Excelsiort (1909) ein Programm des bergsteigerischen Idealismus, während sonst eher die spannenden Einzelheiten der alpinistischen Technik, bisweilen auch die Sensationen des sogenannten akrobatischen Alpinismus diese Romangattung erfüllen. Vgl. Carl Haensels Kampf ums Matterhorn, 1929. 89 (zu S. 112) - Zitiert bei Paula Mutzner: Die Schweif im Werke Ricarda Huchs, Diss. Bern 1935. 30 (zu S. 119) - Das rechtlich verbriefte Ausscheiden der Schweiz aus dem Reichsverband 1648 hat Schriftstellern mit einer starken Beziehung zum Reichsgedanken zu schaffen gemacht (z. B. Hans Blum in Hallnyl und Bubenberg, 1886) - eher als ein Gegenstand des Nachdenkens als der dichterischen Gestaltung. Wilhelm Schäfer, Ricarda Huch und Friedrich Theodor Vischer haben den Blick tiefer auf die Folgen jenes Ereignisses gerichtet und kommen von verschiedenen Seiten her zu einer paradoxen Bejahung, für die Ricarda Huch die kühnste Formel fand: «Man kann mit Recht sagen, daß sich die Schweiz deutscher erhielt als Deutschland» (Deutsche Tradition, 1931). 31 (zu S. 121) - Das kleinstädtische Leben in St. Gallen ist ein Thema der Skizzen Aus meiner Kindheit und Überwachsene Pfade von Goswina v. Berlepsch (1845-1916), der Tochter eines Achtundvierzigers. Wie sich um 1900 darüber die weiten Perspektiven einer weltoffenen Schicht von Industriellen und Großkaufleuten erheben, hat Victor Hardung (1861-1919) in dem Roman Die Brokatstadt (1909) mit Kennerschaft und verklärender Poesie dargestellt: «Denn dieser Stadt Handel ging in die Weite und erzog eine Bürgerschaft, die viel gesehen hatte. Ihr Gewerbe war ein eigenes, aus der Neigung schönheitsliebender Frauen erwachsen und durch Jahrhunderte betrieben und durch den Eifer gewandter Verleger und anstelliger Arbeiter zu einer Kunst gesteigert worden. Ihre Brokate gingen in alle Lande, und in dem kleinen Theater saßen Leute, die durch ihre Geschäfte von Weltstadt zu Weltstadt geführt wurden. » Hardung, auch als Lyriker begabt, hatte fast zwanzig Jahre lang das Feuilleton des St. Galler Tagblattes geleitet und war im Ersten Weltkrieg eingebürgert worden. 32 (zu S. 131) - Wo immer es bei deutschen Protestanten um Zwingli geht, ist er für ihr Gefühl (ähnlich wie Luther für das schweizerische) eine Gestalt, deren Gefolge durch die Zeiten bis in die Reihen der eigenen Nation hereinreicht und deren Kraft im religiösen Leben der Gegenwart immer noch zu spüren ist. Die Deutschen pflegen ihn an Luther zu messen, dem Kämpfer «mit viel beschränkterem Gesichtskreis - und vielleicht eben deshalb gewaltiger», wie Luise von François an C. F. Meyer schreibt. Wer in diesem Urteilsakt dem Schweizer zuneigt, der ist eingenommen von seiner weltzugewandten Art. Vor allem ist Zwingli der demokratische Reformator insofern, als er mindestens so stark volks- und staatsverbunden wie gottverbunden erscheint. Wilhelm Schäfer hat ihn in diesem Sinn verherrlicht.
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33 (zu S. 140) - Der 21jährige Franz Kafka fügte auf einer Schweizer Reise im Sommer 1 9 1 1 zu seinen mit knappen Strichen festgehaltenen skurrilen Eindrücken ausgefallener Dinge auch diesen: «Schweizerisch: mit Blei ausgegossenes Deutsch» {Tagebücher 1910-1923, 1948). 34 (zu S. 144) - Hermann Stegemann (1870-1945) war zwar (wie u. a. seine Dramen über Pestalozzi [1896] und Nikiaus von Flüe [1902] zeigen) ähnlich wie die volkhaften Schriftsteller ein Leben lang gefesselt von den Problemen des umfassenden politischen Gemeinwesens und des eine Gemeinschaft fuhrenden Menschen. Aber er ist weit entfernt von deterministischen Auffassungen der deutschen Wesensart, und vom deutschen Staat gewann er zweifach von Grund auf Abstand: während seiner Jugend im Elsaß und später, als er in der republikanischen Freiheit der Schweiz eine Existenz gründete. 1891 kam er nach Zürich: «War's der Grüne Heinrich, in den ich wie in einen Jungbrunnen getaucht war, war's die Vorstellung von einem freien Land, das sich seit fünfzig [sie] Jahren so manchem deutschen Flüchtling geöffnet hatte, und die Gewißheit, dort auf alemannischen Grund zu treten, war's Flucht ins Unbekannte, Grenzsetzung zwischen mir und den Meinen, war's die Lust, mir das Leben außerhalb des vorbestimmten Kreises neu zu machen, war's Auflehnung gegen politische Zustände, die mir nicht gefielen, war's all das zusammen oder der Ruf des Schicksals, das noch in mir selbst wirkte - ich weiß es nicht» (Erinnerungen aus meinem Leben und aus meiner Zeit, 1930). In der Verbindung von Dichtung mit geschichtlichen und politischen Studien, die er in freier Mitarbeit in angesehenen Zeitungen zu veröffentlichen flegte, fand er die seinem Bedürfnis nach Verbreitung weiter Auffassungen von Mensch und Staat gemäße Tätigkeit. 1895 siedelte er in die Redaktion der Bas kr Nachrichten über, 1901 wurde er in Basel eingebürgert, 1909 kam er nach einigen Deutschlandjahren an den Bund nach Bern, für den er im Ersten Weltkrieg seine hervorragenden Untersuchungen zur strategischen Lage schrieb. Später zog sich der körperlich Geschwächte in sein Heim in Merligen am Thunersee zurück. 35 (zu S. 144) - Abseits des lauten Literaturbetriebes wuchs das Werk v. Bodmans, eines Abkömmlings aus deutschem Adel und baslerischem Bürgertum, in der Geborgenheit der Schweiz: schlichte, makellose Gedichte, zum Teil mit landschaftlichen Motiven zwischen Bodensee und Alpen; historische Dramen (u. a. über Waldmann), leicht im neuklassischen Sinne stilisiert, fein ziselierte Novellen, einige im Kellerschen Ton {Das hohe Seil, 1915). Neuidealistisches Gefühl für das schöne, überdauernde Kunstgebilde schließt sich mit einem verfeinerten kontemplativen Wirklichkeitssinn zusammen (1874-1946). 36 (zu S. 145) - Hermann Burte empfing tief den Einfluß der Stadt Basel im Uberschneidungsbereich schweizerischer, deutscher und französischer kultureller Kräfte. Seine Bekenntnisse zu Hodler, Spitteier, Gotthelf, die er als die großen Kraftvollen aus alemannischem Wesen empfand, auch seine Worte über Basel haben Gewicht. Noch in die Geschichte von Wiltfeher, dem ewigen Deutschen (1912), einem streitbaren völkischen Wiesentäler Zarathustra, spielt Basel unter dem Namen Pfalzmünster als tröstliche Macht am Rande herein. 37 (zu S. 146) - Hin und wieder hält man das Bild des Internierten fest, der sich befreit fühlt aus den Gefahren des Krieges und zugleich gelähmt durch das endlose Warten auf eine unbestimmte Zukunft. Eine Beziehung zum Gastland, wie sie hier manchmal entstehen mochte, ist etwa in E l Correis (Ella Thomaß') Schilderung einer Weihnachtsfeier unter deutschen Internierten am Vierwaldstättersee angedeutet: «Die ,Mannschaften' machten blanke Feieraugen, sangen aus voller Brust und standen stramm an Stock und Krücke. Gerührt hörte man's, daß man Held war und Deutscher. Die Fähnchen der Bundesgenossen wimpelten zwischen den Gabenpaketen, und die
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Schweizerflagge nahm alles in ihren tot-weißen Schutz. Dieser rot-weiße Schutz war das Beste und Menschenwürdigste in dieser Zeit schrecklichen Völkermordes» {Ich hinein Gast auf Erden, 1918). 38 (zu S. 151) - Vgl. die Arbeit des internationalen Verwundetenaustausches, geschildert in dem Erzählungsband Das zweite Blühen (1916) von Fritz Müller-Partenkirchen, von dem auch die liebenswürdig-humorvolle Reise in die innere Schweif (1925) stammt. 39 (zu S. 160) - Carl Haensel hat mehrmals die Schweiz zum Schauplatz von Romanen gewählt. Sie vereinen Freude an betont modernen Lebensformen (etwa im Luxushotel) mit einem Hang zum Hintergründigen und Dämonischen (z. B. in der Schilderung des Churer Doms in Echo des Herfens, 1935, oder in den Davoser Partien von Ztviemann, 1950), dem er, ein Freund des Paradoxen, gern die gesunde Skurrilität bodenständiger Käuze gegenüberstellt. 40 (zu S. 166) - In Davos ist abseits der Dichtung von künstlerischem Rang unter dem Einfluß der Krankheit eine umfangreiche, oft am Kurort selbst in vielen Sprachen gedruckte Epik und Lyrik ausländischer Patienten entstanden. Sie wirkt durch ihre Lebensechtheit. Heinz Duprés Versband Ein lichter Morgen (1906) sowie die Davoser Elegien (1931) von Johannes Baptist Waas sind innerhalb des Deutschsprachigen wohl am höchsten zu werten. 41 (zu S. 171) - Flake hat nicht versäumt, die für den deutschen Gast verblüffendste Spielart der schweizerischen Aristokratie ins Licht zu setzen : den Neuenburger Adel, der vor rund hundert Jahren noch dem preußischen Hof unterstand: «.Amélie ist Neuenburgerin. Wenn Sie zufällig Monarchist sein sollten, schadet es Ihnen nicht bei ihr, im Gegenteil. Man hat noch nicht vergessen, daß man einst zu Hofe ging und in der Armee diente. Es ist eine harmlose Schwärmerei auf Distanz. Z u Hause ist man so gut schweizerisch wie in Bern oder Zürich'» (Fremdaller Weif). 42 (zu S. 175) - Das südliche Tessin ist seit dem späten neunzehnten Jahrhundert neben Zürich zur beliebtesten Schweizer Wohnstätte deutscher Künstler und Schriftsteller geworden. Hermann Hesse, Hugo Ball, Wilhelm Schmidtbonn, Emil Ludwig, Lisa Tetzner, E . M. Remarque, W . E . Eschmann u. a. gehören zu den Ansiedlern auf längere Frist. Dieses Tusculum auf Schweizer Boden hat öfters zur Darstellung verlockt. A m reizvollsten lebt etwas von der Atmosphäre solcher Sitze des Geistes in Werner von der Schulenburgs Briefen vom Roccolo (1924). 43 (zu S. 180) - Die Verfasserin, Gertrud Hamer, geb. v. Sanden, mit einem englischen Offizier verheiratet, war durch ihre Aufenthalte in England, Indien, Europa von reicher internationaler Bildung. Sie stand den Quäkern nahe und kannte die Schweiz von mancher Reise her. 44 (zu S. 182) - Jede kräftige Sympathieströmung für Ausländisches ruft in einem Lande stärkere oder schwächere Gegenströmungen hervor. So ist es nicht verwunderlich, daß gerade in diesen Jahren das abschätzige Schlagwort «Verschweizerung» durch Deutschland Zu wandern begann. Es stammt aus dem an sich gegen das Judentum gerichteten Buch Die Verschweizerung des deutschen Volkes (1928) des Freiherrn Hans von Liebig, eines Alldeutschen, der kurzerhand sämtliche Verfallserscheinungen in der Weimarer Republik, in der er den ungebrochenen Kampfwillen gegen Großbanken, zersetzende Literatur, Rassenverschlechterung usw. vermißte, auf das angebliche schweizerische Vorbild zurückfuhren wollte: «Das deutsche Volk geht politisch, wirtschaftlich, rassisch, kulturell und in seiner Führung auf dem jetzt eingeschlagenen Wege unrettbar der Verschweizerung entgegen.» Graf Hermann Keyserling unternahm es im gleichen Jahr in seinem Spektrum Europas, von einem teils großgearteten, teils überheblichen Geistesaristokratismus her das ihm an der Schweiz
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nicht Genehme - die institutionelle und moralische Saturiertheit und das übertriebene Selbstgefühl - zu brandmarken. Seine Kritik erregte Widerspruch oder Zustimmung oder auch beides zusammen, und zwar in so eindrücklichem Maß, daß sie später sogar in einigen deutschen Romanen nebenher als Thema erschien: Reinhold Conrad Muschlers Flucht in die Heimat erwähnt sie, und Otto Flake, seinerzeit selber ein maßvoller Kritiker Keyserlings, läßt den Helden des Romans Die Sanduhr die damalige Replik wiederholen. Auch in der Dichtung begleitet die Verneinung schweizerischer Dinge die Bejahung wie ein Relief schaffender Schatten - unsere Darstellung brachte der Beispiele genug. Wo es nicht einfach um Kritik, sondern um Gegnerschaft geht, lassen sich die unterschiedlichsten Grade feindlicher Gespanntheit verfolgen. Man kann sie bloß zum Teil aus der Persönlichkeit des Tadlers, aus seinen Enttäuschungen oder seinen Mängeln herleiten; steigernd pflegen Impulse kollektiver Art hinzuzukommen: sei es, daß ihn der Impetus einer ganzen Streitmacht trägt und ihn in einer schweizerischen Erscheinung ihr Gegensatz zu seiner eigenen Machtgruppe reizt, sei es, daß eine zu starke Neigung zu schweizerischen Dingen im Reich seinen Unmut schürt. Auch Dichtung und belletristisches Schrifttum werden dann zur Waffe gegen das Gastland - so wie sie andrerseits gelegentlich dazu dienen, die Ursachen der Verfeindungsmöglichkeiten zwischen den Nachbarvölkern zu ergründen und zu ihrer Uberwindung beizutragen. Auf deutscher Seite hat vielleicht keiner um das Verständnis dieser verwickelten Probleme eindringlicher gerungen als Friedrich Theodor Vischel. «Wir zählen die Schweizer zu uns, und sie wollen nicht zu uns gezählt werden; sie ziehen eine Scheidewand zwischen sich und uns und fühlen doch, daß sie zu uns gehören, . . . eine Anziehung in der Abstoßung und eine Abstoßung in der Anziehung, wie sie gerade nur zwischen identischen Stämmen herrschen kann, die politisch auseinandergerissen sind», stellterin seinen Briefen aus der Schweixfest(Konstitutionelle Vorstadtzeitung in Wien, Dez./Jan. 1863/64; wiederabgedruckt in Robert Vischers Neuausgabe der Kritischen Gänge, Bd. 3, 1920). Ubereinstimmend mit andern Beobachtern von Rang, sieht er die Ursache nur zum Teil in der Erinnerung an frühere Feindseligkeiten zwischen den beiden Völkern oder in der Neigung vieler Schweizer zu Gegnern Deutschlands, vor allem zu den Franzosen - sondern in der Hauptsache im Unmittelbaren und Gegenwärtigen: in der Beklemmung des Kleinstaatlers gegenüber dem übermächtigen Großstaat (andere sahen daneben auch den kleinen Staat in die Abwehr gedrängt durch den wirtschaftlichen Druck des großen). Nach einer Kritik an schweizerischen moralisierenden Befangenheiten gegenüber dem mit realpolitischen Mitteln in den 1860 er Jahren nach Einheit suchenden Nachbarn fahren Vischers Briefe mannhaft fort: «Wohl gut, wenn nur nicht nach Abzug aller irrigen und zu kurz gemessenen Begriffe so schrecklich viel Wahrheit in den Beschuldigungen des Schweizers gegen den Deutschen übrig bliebe 1 Sie haben so viel unrecht und ach, sie haben eben doch auch recht!» Dabei hat er eine psychologische Hauptursache der Konfliktsituation im Auge: das dynamischere deutsche Temperament, wo es mit Arroganz gepaart ist, ist an sich gegnerisch und fordert zur Gegnerschaft heraus. Er hat im Roman Auch Einer diesen Typus kritisch hergenommen in der Gestalt jenes Geschäftsreisenden aus Preußen, der auf einem Schweizer Dampfboot Ärgernis erregt: «Er schien gekommen, um über alles zu spotten, was er sah und genoß; bald ging es über den Mittagstisch her, von dem er kam, bald über die Einrichtung des Boots, bald über den Schweizer Dialekt, den er mit den halb gestoßenen, halb verschwommenen Lauten des eigenen Idioms unglücklich genug nachzuahmen suchte; die Berge waren ihm nicht hoch, der See war ihm nicht breit genug; er verglich sie zu ihrem 216
Schaden mit skandinavischen, irischen, amerikanischen, und die ganze Gesellschaft mußte hören, wie weit er in der Welt gewesen sei.» Zur Erklärung der feindlichen Spannung wird bei Vischer und anderen der Blick auch auf die schweizerische Einstellung zu Deutschland gerichtet,und hier ist es das bisweilen vorkommende sture Schutz-und-Trutz-Mißtrauen des sich bedroht oder der Neid des sich unterlegen fühlenden Schweizers, was Abneigung stiftet. Vorab in den Werken von Dichtern, die ihr Deutschtum betonen, erscheint mitunter dieser reizbare Deutschenverächter, dem in der Regel nicht bloß eine feindselige Haltung gegenüber dem Nachbarn, sondern auch ein überhebliches schweizerisches Selbstbewußtsein nachgesagt wird. Zu diesem Schlag gehört jener taktlose Dr. Verwaldner in Wilhelm Schäfers Novelle Ein Herr namens Schmitt (1931), der es den Deutschen, die doch den Krieg verloren hätten, übelnimmt, daß sie unter der Republik nicht zur Ruhe kommen wollen und daß sich mit diesen zweifelhaften Vertragspartnern keine Geschäftsabschlüsse auf lange Sicht tätigen lassen. Es fehlt in der Literatur nicht an Bemühungen, die Möglichkeiten der Verfeindung zu überwinden. Auf dem politischen Feld empfahl schon Johannes Scherrs Roman Michel (1858) den Grundsatz der Nichteinmischung: die zwei Staaten sollen sich auf die ihnen aufgetragene Art entwickeln und dabei Unvereinbares gegenseitig auf sich beruhen lassen. Auf dem kulturellen Feld forderte Ferdinand Avenarius mitten im Ersten Weltkrieg in seiner mutigen Verteidigung Spittelers die Weisheit des Offenseins : «Sie muß groß sein, diese [geistige] Heimat [des Schweizers und des Deutschen], sonst bleiben wir eng - die Schweiz braucht die reichsdeutschen Geistesernten, und wir brauchen die schweizerischen.» Ein Gottfried Keller dachte in diesen Dingen nicht anders als diese beiden Sprecher. In der Sphäre der menschlichen Person aber wird von Brückenbauern aus jüngeren Geschlechtern einfach das Gesetz des natürlichen Taktes proklamiert, so z. B. in Ricarda Huchs Frühling in der Schweig: «Die Schweizer ihrerseits hatten zum großen Teil ein reizbares Mißtrauen gegen Deutschland, soweit sie es mit Berlin gleichsetzten; aber wo sie nicht das bemerkten, was sie als berlinerisch empfanden, ein lautes, vordringliches, überhebliches Wesen, war es leicht, mit ihnen vertraut zu werden, so daß jedes Gefühl von Fremdheit oder NichtZusammengehörigkeit verschwand.» Ähnlich heißt es in Flakes Montijo: «Man brauchte nur menschlich und natürlich zu sein, nicht durch landfremdes Gebaren herauszufordern... Die Schweizer selbst glaubten an die deutsche Tüchtigkeit.» 46 (zu S. 18 5) - Den Mangel an Auswirkung ins Große meint auch Frank Wedekind, wenn er bemerkt: «Dem Schweizer fehlt es nicht an Kraft, es fehlt ihm bloß an Übung.» Derjenige Schweizer, den langjährige Aufenthalte im Ausland prägten, wird dagegen in der deutschen Literatur zumeist in großzügigen Unternehmungen gezeigt; von Wilhelmine v. Hillerns Zürcher Seidenherrn Hösli (Aus eigener Kraft, 1872) über Stefan Zweigs abenteuerlichen General Suter, den Erschließet Kaliforniens (in Sternstmden der Menschheit) bis zur Hauptgestalt von Hans Müller-Einigens Roman Das Glück da %usein (1940) ist der Auslandschweizer der Träger eines Lebens mit kühnen Dispositionen und weiten Perspektiven. 46 (zu S. 191) - Die baslerische höhere Gesellschaft hat auch ihre Kritiker gefunden. Geiz wirft ihr Toni Rothmund in der Erzählung Das Haus %um Kleinen Sündenfall vor Wedekinds Privatdozent Hilti ist die grausamste Karikatur davon. Ausfälle gegen christliche Heuchelei finden sich in Ilse Frapans Roman Arbeit und in Theodor Bohners Auf allen Straßen. 47 (zu S. 198) - Während Alfred Döblin (der 1933 ähnlich wie Else Lasker-Schüler und Bert Brecht kürzere Zeit als Flüchtling in der Schweiz lebte) in seinem Roman Babj-
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Ionische Wanderung (1934) im neuzeitlichen Zürich neben der schönen Lage nicht viel mehr als das pikante Nebeneinander zweier entgegengesetzter Geistesschulen, einer streng theologischen und einer vom deutschen Nachahmer James Joyces offensichtlich bevorzugten «psychoanalytischen» vermerkt, wird bei Bernard v. Brentano, der jahrelang im Exil bei Zürich seinen kulturhistorischen und soziologischen Studien nachging, ungleich tiefer um eine neue Sinngebung der überpersönlichen Lebensordnungen gerungen in dem stellenweise in Zürich und an einem alpinen Sportplatz spielenden Eheroman Die Ewigen Gefühle (1959).
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VERZEICHNIS D E R DICHTER UND SCHRIFTSTELLER Alberti, Conrad 75 A I Verdes, Paul 187 Andres, Stefan 200 Audorf, Jakob 34 Avenarius, Ferdinand 71, 96, IJI, 212, 217 Ball, Hugo 64Ì., 133, i46ff, 152, 175 Bartels, Adolf 136f. Barthel, Max 157 Bartsch, Rudolf Hans 79 Bauer, Walter 203 Baumbach, Rudolf 24 Becher, Johannes R. 157 Benrath, Henry (Rausch, Albert H.) 30, I02f., 174, 195 Bergengruen, Werner 119, 203 Berlepsch, Goswina von 78, 207, 213 Bernt, Ferdinand 41 Berthold, Lothar 202 Bierbaum, Otto Julius 54, 67 Blei, Franz 61 f., 209, 2 1 1 Bleibtreu, Karl 63, 174 Blum, Hans 16, I9f., 22, 20f., 51, 161, 207, 213 Bodman, Emanuel von 144, 214 Bölsche, Wilhelm 49, 106 Bohner, Theodor i43f., 190, 193, 217 Borchardt, Rudolf 93, 103ff., 118 Brandt, Rolf 181 Braun, Lily 45 Brecht, Bert 217 Bredel, Willi 41 Brentano, Bernard von 218 Bühler, Paul 128 Burte, Hermann (Strübe, Hermann) 124, I38f., 143, 145, 186, I9if., 212, 214 Carossa, Hans 194, 197, 212 Christaller, Helene i29f., 191, 195, 201 Conrad, Michael Georg 96, 174 Dauthendey, Max 91, 174 Dehmel, Richard 48, 54, 58, 2 1 1 f. Diederichs, Franz 37
Diesel, Eugen 207 Doblhoff, Joseph Freiherr von 20, 1 1 7 , 126 Döblin, Alfred 217 Duncker, Max 161 Dupré, Heinz 215 Ebhardt, Ferdinand von 29 Ebner-Eschenbach, Marie von 71 Edschmid, Kasimir 156, 165 Ehrenstein, Albert 148 El-Corrëi (Thomass, Ella) 214 Engelke, Gerrit 1 5 6 ® . Ernst, Paul, 8if., 100, 103, 172, 212 Eschmann, W. E. 215 Euringer, Richard 144, 187f. Falke, Gustav 98 Feuchtwanger, Lion 199 Finckh, Ludwig 144 Flake, Otto 40, 57, 77, 107, I47f., 149, 1 5 1 ff., i 6 i f . , 164, 168, 173, 183ff., 193, 202, 213, 215 ff. Fontana, Oskar Maurus 207 Fontane, Theodor 8 3 f. le Fort, Gertrud von 132, 194 Frank, Leonhard 30, 78, i49f., 162, 197 François, Luise von 40, 84, 213 Frapan, Ilse 41 ff., 217 Freiligrath, Ferdinand 3 1 , 37 Ganghofer, Ludwig 210 Geibel, Emanuel 84f., 86, 209 Gensichen, Otto Franz 20 George, Stefan 96, 100ff., 122, 174 Gerner, Maria 126 Glaeser, Ernst 107 Goetz, Bruno 68 Goltz, Joachim von der 174 Grabenhorst, Georg 188 Graf, Oskar Maria 41 Grosse, Julius 209 Habe, Hans 181 Haensel, Carl 78, 160, 2 1 3 , 215 Halbe, Max 63
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Hansjakob, Heinrich 136, 141 Hardung, Viktor 213 Hart, Heinrich und Julius 46, 96 Hartmann, Moritz 31, 33, 208 Hauptmann, Carl 46, 49, 52, 90 Hauptmann, Gerhart 46fr., 77, 1 1 0 , 124, i}}£.
Hegeler, Wilhelm 92, 174 Heiseler, Henry von 102 Hellpach, Willy 181 f., 202 Henckell, Karl 47, 5off., 97 Hennings-Ball, Emmy 147 Herrmann-Neisse, Max 120, 135, 2oof. Herwegh, Georg 31fr., 37 Hesse, Ernst 27 f. Hesse, Hermann 62, 76, 90, 1 2 1 , I24f., 134. 153. 163, i68ff., 174, 189, 196, 209 Heyse, Paul 74, 8 4 E , 98, 138, 209, 212 Hille, Peter 67 Hillern, Wilhelmine von i6f., 2of., 207, 217 Höcker, Paul Oskar 23, 51, 152 Hofmannsthal, Hugo von 63, 75, 89, 9 5 E , 118, 124, 130, 2 1 1 Hohlbaum, Robert 209 Holländer, Walther von 162, 196 Holz, Arno 46 f. Hopfen, Otto Helmut 101 Hoster, Hermann 165, 186, 191 Huch, Ricarda 43, 53, 73f., 78, 80, 82, 96f., 1 1 0 , m f f . , i i 8 f f . , i3of., 138,140, I53ff., 193, 195, 201, 212, 213, 217 Huelsenbeck, Richard 147 Jensen, Wilhelm 210 Johst, Hanns 187 f. Kafka, Franz 173, 214 Kahlenberg, Hans von (Montbart, Helene von) 19 Kaiser, Georg 197 f. Kegel, Max 38 Kennicott, M. B. (Hamer,Gertrud) 180f., 195, 215 Keyserling, Hermann Graf 184, 215 f. Kinkel, Gottfried 33 Klabund (Henschke, Alfred) 164 f. Kleinsteuber, Wilhelm Hermann 21 Kolb, Annette 43, 138, 146, 149, 1 5 1 , 1 9 3 Kolbenheyer, Erwin Guido 103, I39f., 142, 191 Kraus, Karl 149 f.
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Kruse, Heinrich 24 Künkel, Hans 190 Kurz, Isolde 57, 75, 96ff., i o i f . Landauer, Gustav 60 Landmann, Edith 212 Lasker-Schüler, Else 158, 217 Lavant, Rudolf 37 Lavater-Sloman, Mary 209 Lersch, Heinrich 157 Lewald, Fanny 17, 26 Liebig, Hans von 215 Liliencron, Detlev von 96, 98 f. Lissauer, Ernst 15 j Lothar, Rudolf 146 Ludwig, Emil 174, 215 Ludwig, Otto 70 Mackay, John Henry 49, 66 Mann, Thomas 9of., 125, 165f., 174, i82f., 196, 200f. Martin, Alfred von 193 Meebold, Alfred 128 Mennell, Arthur 21, 51, 207 Mensch, Ella 42 f. Meyrink, Gustav 61 Michael, Friedrich 196 Mombert, Alfred 157, 197 Morgenstern, Christian 22, 28, 62, 89, I27f., 167 Mühsam, Erich 54, 60, 63, 65 f., 68 f., 134 Müller-Einigen, Hans 217 Müller-Partenkirchen, Fritz 215 Muschler, Reinhold Conrad 24, 162, 196, 207, 216 Musil, Robert 197 Neumann, Alfred 174, 197 Niebelschütz, Wolf von 203 Nietzsche, Friedrich 54fr., 80, 193, 209, 212 Oeser, Hermann 126, 129, 1 3 1 , 135 Ompteda, Georg Freiherr von 40, 213 Panizza, Oskar 210 Papke, Käthe 130 Paquet, Alfons i i o f . Ponten, Josef ioöff., 119, 140, 152, 174 Redern, Hedwig von 131 Rema, E . 21 Remarque, Erich Maria 197f., 215 Reuter, Gabriele 68 Reventlow, Franziska Gräfin von 68 f. Richter, Hans 141, 160
Rilke, Rainer Maria 78, 89, 91 f., 96, 124, 127, 158, 153, 175fr., 191, 212 R i n g , Max 210 Rochholz, Ernst L u d w i g 208 Rodenberg, Julius 71 Rosegger, Peter 71 R o t h m u n d , T o n i 121, 192, 217 Rubiner, L u d w i g 148 f. Saiten, Felix 197 Schack, A d o l f Friedrich G r a f v o n 84, 86ff., 98, 109 Schäfer, Wilhelm 52,80,98,136fr., 140fr., 144, i53 f -> iÖ3 f -. 174» 182, 186, 213, 217 Schaper, Edzard 203 Scheffel, Joseph V i k t o r von 40, 211 Scherr, Johannes 81, 211, 217 Schickele, René 57, 79, 138, 146Í., 150ff., 158 Schlägel, M a x v o n 25 ff. Schmidtbonn, Wilhelm 215 Schmitt, Ernst 147 Schneider, Reinhold 131, 203 Schönlank, Bruno 37, 198 Scholz, Wilhelm v o n 53, 106, 108, 118, I34f-. 174, 2 i z f . Schröder, R u d o l f Alexander 101, 103, JJ2» 1 53» 173, J75> I95fSchulenburg, Werner v o n der 192 Schuler, Albert 122 ff. Schweichel, Robert 78, 8of., 82, 107, 142, 174» 2°7» 211 Seidel, Robert 36, 38, 2o8f. Siemsen, A n n a 37 Steding, Christoph 144, 189 f. Stegemann, Hermann 145, I53f., 164, 191, 212, 214 Stengel, Franziska v o n 19 Stern, Maurice Reinhold v o n 39,47, 5of., 98
Stilgebauer, E d w a r d 174 Stössl, O t t o 75 f. Storm, T h e o d o r 70 Stratz, Rudolf 18, 2 2 f r . , 152 Strauss, E m i l 141, 143, 174 Stuck, Paula 160, 165 Suttner, Bertha v o n 45 f., 50 Tetzner, Lisa 175, 215 Thiess, Frank i6of., 168 Tiburtius, Franziska 44 f. Trenker, Luis 160 U n g e r , Hellmuth 196 Unruh, Fritz v o n 156 Vierordt, Heinrich 109, 121 Villinger, Hermine 81 Vischer, Friedrich T h e o d o r 7 1 , 7 3 fr., 78, 80, 82f., 105, 117, 210, 213, 216 V o s s , Richard 23, 192 Waas, Johannes Baptist 215 Wassermann, Jakob 53, 57, 168, 172 Wedekind, Donald 133, 207 Wedekind, Frank 49, 54, 5 9 f r . , 63, 66, 77, 162, 174, 209, 211, 217 Weinert, Erich 198 f. Weingartner, Felix 212 Weise, Gerhard 202 Weitbrecht, K a r l 73, 210 W e r f e l , Franz 190 Wiechert, Ernst 58, 194, 203 f. Wilbrandt, A d o l f 84, 86ff., 98 Wildenbruch, Ernst v o n 207 Wilhelm, O t t o 131 Winckler, Josef 124, 175 Wolfskehl, K a r l 101, I22f. Ziegler, Theobald 27 Ziehen, Eduard 13 Zobeltitz, Fedor v o n 24, 26 Zobeltitz, Hanns v o n 16 Z w e i g , Stefan 146, 150, 191, 200f., 217
SCHWEIZERISCHE G E S T A L T E N U N D MOTIVE A d e l 83, 215 A l p e n 23, j 6 f . , 58, 87f., 9of., 100, 103, I05ff., 112, 127, 131fr., 157, 214 Alpinismus 23 f., 160, 213 A m i e l , H.-F. 62, 89, 129
Appenzell 207 Arbeiter 37, 49, 62 A s c o n a 67 fr. A s y l , Asylrecht 19, 36f., 50, 53, 148, 195, 199,201 221
Auslandschweizer 217 Bachofen, J. J. 95, 102, 122fr., 127, 161, 171, 190 Baden 168 Basel, Basier 50, 52, 54f., 6of., 121, 127 129, 145, 169, i7Öf., 182, 184, 190fr., 214, 217 Bern, Berner 17,42,50,52,65,87, ioo, 112, 114,138fr., 146, 150, 169,176,187,196 Berner Oberland 18, 22f., 83, 126, 131, 137. 141. 196 Bodmer, J. J. 13, 209 Bodmer, Martin 153 Böcklin, A . 58, 63, 77f., 83, 85f., 9 5 f r . , i o i f . , 113, 118 Böhringer, R. 100 f. Bonivard 33 Bräker, Uli 87 Brupbacher F. 65 Bubenberg, Adrian von 119 Burckhardt, J. 54fr., 63, 78, 8jf., 95, iooff., 116, Ii8f., 121, 171, 190, I92f., 202 f. Calvin 119 Christi. Konfessionen a) Katholizismus 13 3 f. b) Protestantismus 31, 129, 191 Davel, D . A . i o i f . Davos i8f., 127, 164fr., 182, 215 Demokratie 25f., 3 0 f r . , 36, 41, 57, 65, 82f., 113, H 5 f . , 119, 140, 168, 172, 184, 198fr., 202, 208 Diessbach, Nikiaus von 119 Dornach 127 f. Ducommun, E . 45 Dunant, H. 45 f. Einsiedeln 133, 140 Emigranten 19, 3of., 36, 53, 146, 186, 188, 194, 196fr. Engadin 23, 54f., 141, 149, 160, 196 Engel, Regula 177 Ernst, Fritz 173, 175 Escher, Lydia 53 Estavayer 121 Favre, P. 16 Federer 40 Feindschaft zw. Deutschen und Schweizern 6i, 154, 187, 189^, 193, 215fr. Flüe, Nikiaus von 131, 203, 208, 214 Forel, August 48f., 126 222
Frau, schweizerische 43 fr., i6off. Frauenstudium 42 ff., 49 Freiheit 21, 29f., 32, 47, 66, 149, 189, 195, 201, 214 Frey, Jakob 86 Friedensland 149fr., 201, 203f. Fries, Willy 58 Genf, Genfer 26, 31, 37, 42, 46, 52, 66f.,
83, 89fr., 119, 127, 146, 150, 174, 177,
l8off., 184, 200, 208 Genfer See 18, 25, 33, 9if., 103,117, 137, 208 Geschichte 32, 87, n 6 f f . , 213 Gotthardtunnel 16, 38, 207 Gotthelf, J. 40, 82, 88, 95, 100, H4f., 118, i3of., 136fr., i82f., 187, 190 Grenzerlebnis 30 f. Grütliverein 209 Haller, A . v. 13 Heer, J. C. 40 Hegar, F. 196 Herzog, Xaver 136 Hodler, F. 58, I38f., I57f., 163,182, 190, 214 Honegger, A . 196 Hotel 18, 23, 8o, 160 Huber, H. 196 Industrielle 16, 24, 196 Jung, C. G. 45, 125, 127, 161, 168, 190 Jura 107 Keller, Ferdinand 78 Keller, Gottfried 31, 33, 37, 39f., 63, 7of., 73fr., 76fr., 80, 84, 95, 99, 102, 113, i3Öf., 156, 162, 169, i82f., 202, 2iof., 214 Kleineuropa, Schweiz als a) politisch: 38, 50, 1 j 1 f., i8off., 199, 201 b) kulturell: 150, 153, 173fr., 177, 181 ff., 195 f. Kleinheit der Schweiz 23, 185, 188, 217 Kleinstadt 120 f. Kongresse, internationale 37, 45, 50 Korrodi, Eduard 95, 158, 179 Kritik an - Armut 51, 81, 208 - Asylrecht (vgl. daselbst) 26 - Demokratie 26, 65, 98, 143^, 188, 208 - kapitalist. Bürgertum 36, 51, 81, 208 - kathol. Kirche 27, 63, 126, 208
- Philistertum 59fr., 82, 187, 198 - Protestant. Orthodoxie 81 - «Schicksallosigkeit» 1 1 5 , 154fr., 202 - snobistischer Jugend 163 f. - Sympathie für nichtdeutsche Länder 27 - Volkscharakter (allg.) 8off., 187 Landschaft (allg.) 2 i f . , 38, 87,105,107ff., 128, 131, 149 Landvolk 20f., 33, 81 Lange, Heinrich 81 Langhans, Eduard 207 Lausanne 127, 174, 177, 212 Lavater, J . K . 118, 209 Leuthold, H. 209^, 213 Luzern 17, 1 1 2 , 184, 188 Meyer, C. F. 39f., 63, 71, 84, 86, 95, 99fr., 142, 162, 182, 190, 2 1 1 , 213 Minnesänger 118 Mittelholzer, W. 160 Morgenthaler, E. 171 Müller, Joh. von 118 Oekolampad 140 Paracelsus 140 Pestalozzi 13, 116, 139, 203, 214 Picard, Max 203 Ramuz, C. F. 212 Reinhart, Werner 176 Rotes Kreuz 45f., i j o f . , 215 Rousseau 40 Rütli 40, 78, 109, i88f. Rychner, Max 175 Salis-Marschlins, Meta von 98 St. Chrischona 130 St. Gallen 2 1 1 , 213 St. Moritz 2 3 f. Schlatter, Dora 129 Schoeck, Othmar 196 Spitteier, Carl 100, 190, 211 f.
Sport, Sportsleute 23 f., 160, 165 Sprache, schweizerische 60 f., 104 f., 140fr., 214 Spyri, J . 40 Stauffer-Bern, K . 52, 102, 139, 142 Steiner, Herbert 153 Suter, J . A. (General) 217 Technik, Techniker i6f., 80, 160, 183 Teil 33, 36, 109, 208 Teil (Drama) 33, 36, 4of., 47 Tessin, Tessiner 19, 27, 49f., 63f., 67, 90, 103, 107, 1 3 3 f r . , 1 6 9 f r . , 1 7 3 f r . , 177, 185, 200, 215 Vadian 140 Yerlegerisches Asyl 30, 33, 37, 47, 66, 1 1 2 , 150, 201, 210 Vielfalt, soziale 171fr., 184 Vierwaldstätter See 18, 33, 109, 169 Völkerbund i8of., 184 Volksboh6me 63 fr. Volkscharakter, schweizer. 57f., 73,76fr., 87, 186 Volkssagen und -brauche 20 Vorfelderlebnis 39 fr. Waldmann, H. 24, 214 Wallis 19, 78, 142, 1 7 6 f r . , 213 Walser, R. 6z£. Welschschweizer 143, I73f., 185, 187 Wettstein, Oskar 183 Widmann, J . V . 86, 207, 212 Winkelried 33 Winterthur 176, 197 Zahn, Ernst 40 Zürich, Zürcher 17, 19, 26, 30, 33f., 37, 4iff., 4 6 f r . , 5 1 f r . , 64, 6 6 f . , 81, 1 1 2 f r . , 127, I46f., 150, 163, 1 8 2 f r . , 198, 2 0 0 , 210, 218 Zwingli 139, 155, 213
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V o n Albert Bettex sind u. a. erschienen:
Der Kampf um das klassische Weimar,
1788-1798
Verlag Max Niehans, Zürich 1935
The German Novel of Today Bowes & Bowes, Cambridge 1939
Die moderne Literatur
(i88j-i^ßß)
in: Deutsche Literaturgeschichte in Grundzügen, unter Mitarbeit von F. Ranke, F. Strich, E . Ermatinger u. a. hg. von B. Boesch Verlag A.Francke, Bern 1946
Goethe und die Kunst des Reisens Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft, Neue Folge, Weimar 1949
Die Literatur der deutschen Schweif von heute Schweizer Vereinssortiment, Ölten 1950
Marie von Ebner-Eschenbach: Erzählungen, Aphorismen, Dokumente Mit einem Nachwort hg. in der Manesse-Bibliothek der Weltliteratur, Zürich 1953