235 76 6MB
German Pages 206 [208] Year 2002
PHONAI Texte und Untersuchungen zum gesprochenen Deutsch
Herausgegeben von Konrad Ehlich, Werner Kallmeyer und Peter Wagener
Band 47
Ingrid Hove
Die Aussprache der Standardsprache in der deutschen Schweiz
MAX N I E M E Y E R V E R L A G T Ü B I N G E N
2002
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Hove, Ingrid Die Aussprache der Standardsprache in der deutschen Schweiz / Ingrid Hove. Tübingen : Niemeyer 2002 (Phonai ; Bd. 47)
ISBN 3-484-23147-5
ISSN 0939-5024
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2002 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck G m b H , Darmstadt Einband: Nädele Verlags- und Industriebuchbinderei, Nehren
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
IX
1
Einleitung
2
Die Standardsprache in der deutschen Schweiz 2.1 Das Deutsche als eine plurizentrische Sprache 2.2 Die schweizerhochdeutsche Sprachkonvention 2.2.1 Die Existenz einer schweizerhochdeutschen Sprachkonvention 2.2.2 Der Grund für die Existenz von Sprachkonventionen 2.2.3 Der Geltungsbereich der Sprachkonvention 2.2.4 Der Erwerb der schweizerhochdeutschen Sprachkonvention 2.2.5 Verschiedene Register innerhalb der Standardsprache 2.3 Bisherige Untersuchungen zur Aussprache der Standardsprache
3 3 6 6 8 10 11 12 14
3
Die Aussprachenorm der deutschen Standardsprache 3.1 Problematik 3.1.1 Zum Begriff Norm 3.1.2 Braucht es eine Norm? 3.1.3 Idealnorm versus tolerante Norm 3.1.4 Kriterien zur Auswahl der Varianten 3.1.5 Darstellung der Varianten in einer Kodifizierung 3.1.6 Implementierung 3.2 Geschichte 3.3 Schweizerische Kodifizierungen
18 18 18 19 20 23 25 25 26 32
4
Material und Methode zur Erfassung der Aussprache des Schweizerhochdeutschen 4.1 Die Korpora 4.2 Auswertung 4.3 Transkription 4.3.1 Allgemeine Probleme 4.3.2 Vokale 4.3.3 Konsonanten 4.4 Darstellung
42 42 44 45 45 46 47 48
Ergebnisse der empirischen Untersuchung 5.1 Die Vokale 5.1.1 Die Langvokale i:ß u:, y:, e:, o;und 0: 5.1.2 Der Langvokal e: 5.1.3 Die kurzen Hoch-und Mittelzungenvokale 5.1.4 Der Vokal α
49 50 50 53 57 64
5
1
VI
5.2
5.3
5.4
5.5 6
5.1.5 Die Diphthonge 5.1.6 Die Quantität der Vokale 5.1.7 Qualitätsveränderung innerhalb der Monophthonge Die Konsonanten 5.2.1 Fortis/Lenis und Stimmbeteiligung 5.2.2 Gemination 5.2.3 Aspiration der Plosive 5.2.4 Die Lautverbindung ks 5.2.5 Der Glottisverschlusslaut 5.2.6 DieFrikative/und ν 5.2.7 Die Lautverbindung kv 5.2.8 Der /-Laut und die Buchstabenkombinationen und 5.2.9 Die Frikative ç und x 5.2.10 Der /-Laut 5.2.11 Der Buchstabe 5.2.12 Der r-Laut 5.2.13 Der Lateral / 5.2.14 Die Nasale n, m und r¡ Die unbetonten Silben 5.3.1 Die Vorsilben und 5.3.2 Die Vorsilbe 5.3.3 Die Vorsilben und 5.3.4 Die Nachsilbe 5.3.5 Die Nachsilbe 5.3.6 Die Nachsilbe 5.3.7 Die Nachsilbe 5.3.8 Das Diminutivsuffix 5.3.9 Die Nachsilbe Assimilationen 5.4.1 Assimilation des Artikulationsorgans 5.4.2 Assimilation der Artikulationsstelle 5.4.3 Assimilation der Artikulationsart 5.4.4 Ausfall eines Konsonanten 5.4.5 Einschub eines Konsonanten Zusammenfassung der Ergebnisse
Einflüsse auf die Aussprache des Schweizerhochdeutschen 6.1 Sprachliche Einflüsse 6.1.1 Dialekt 6.1.2 Aussprachenorm und Mediendeutsch 6.1.3 Schriftbild 6.1.4 Sprachsystem 6.1.5 Andere Sprachen 6.1.6 Lautliche Umgebung 6.1.7 Betonung 6.1.8 „Natürlichkeit" 6.2 Aussersprachliche Einflüsse
66 69 72 74 74 83 86 91 92 95 96 97 99 102 103 105 112 113 114 114 115 116 118 121 122 123 125 125 127 128 129 130 130 130 131 133 133 134 135 136 136 137 137 138 138 138
VII 6.2.1 Formalität der Situation und Textsorte 6.2.2 Alter 6.2.3 Geschlecht 6.2.4 Bildungsgrad und Schicht 6.2.5 Einstellung 6.3 Konstanz und Variation 6.3.1 Von allen Gewährspersonen konstant realisierte Variablen 6.3.2 Von allen Gewährspersonen variabel realisierte Variablen 6.3.3 Von einzelnen Gewährspersonen variabel, von anderen konstant realisierte Variablen 6.3.4 Korrelationen 6.4 Idiolekte versus schweizerische Varietät 6.5 Zusammenfassung
139 139 140 141 141 142 143 143 143 144 151 154
7
Einstellungen gegenüber der Standardsprache in der deutschen Schweiz 7.1 Zur Untersuchung von Einstellungen in der Linguistik 7.2 Schweizerische versus deutschländische Standardsprache 7.3 Einschätzung des eigenen Sprachverhaltens 7.4 Das Verhältnis der Deutschschweizerinnen zu den Deutschen 7.5 Die Frage der Norm 7.6 Zur Sprache der Deutschschweizerinnen 7.7 Zusammenfassung der Ergebnisse zur Einstellung
156 156 157 160 163 166 168 170
8
Folgerungen 8.1 Vorschläge für eine schweizerische Aussprachenorm 8.2 Das phonologische System der deutschen Standardsprache 8.3 Verwendungsbereiche des Schweizerhochdeutschen
171 171 172 175
9
Zusammenfassung und Ausblick
177
10 Literatur
179
11 Anhang 11.1 Die Gewährspersonen 11.2 Text 11.3 Fragebogen
193 193 195 196
IX
Abkürzungsverzeichnis
# ## +
0 1 Σ ~
*
Abb. affriz. AN Anf. Antw. asp. ass. Bsp. bzw. dt. einf. Gemin. geschl. GWDA
Gwpn. Hyp. Ind. Κ
AP-l, BA-2... Z-l, Z-2, Z-3... Tisch (2)
Morphemgrenze Wortgrenze Pause siehe kein Laut Paragraph Summe in Variation mit hypothetische Form Abbildung affriziert Aussprachenorm Anfang Antwort(en) aspiriert assimiliert Beispiel beziehungsweise deutsch einfach Geminate geschlossen Grosses Wörterbuch der deutschen Aussprache (-> Kap. 10) Gewährsperson(en) Hyperkorrektur Index Konsonant
Kap. Korp. KV 1. u . lauti. Len. LV m mhd. n. N-% Nom. österr. PI. Real. schweizer. SDS sg. sth. stl. Symp. Tab. Umg. V V V w z.B.
Kapitel Korpus Kurzvokal lautliche Umgebung lautlich Lenis Langvokal männlich mittelhochdeutsch nicht prozentualer Anteil normgerechter Varianten Nominativ österreichisch Plural Realisierung(en) schweizerisch Sprachatlas der deutschen Schweiz (-> Kap. 10) Singular stimmhaft stimmlos Sympathie Tabelle (lauti.) Umgebung Vokal betonter Vokal unbetonter Vokal weiblich zum Beispiel
Gewährspersonen von Korpus A (—> Kap. 4.1) Gewährspersonen von Korpus Β (—> Kap. 4.1) Beleg aus dem Text, den die Gewährspersonen von Korpus A vorlasen, mit Angabe der Zeilennummer (—> Kap. 11.3)
1
Einleitung
Ich muss immer wieder die Sprache, die ich rede, verlassen, um eine Sprache zu finden, die ich nicht reden kann, denn wenn ich Deutsch rede, rede ich es mit einem berndeutschen Akzent, so wie ein Wiener Deutsch mit einem wienerischen Akzent spricht oder ein Münchner mit einem bayrischen Akzent. Ich rede langsam. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, und die Bauern reden auch langsam. Mein Akzent stört mich nicht. Ich bin in guter Gesellschaft. Friedrich Dürrenmatt: Persönliches Uber Sprache1
Dass einer der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts die deutsche Standardsprache mit einer regionalen Färbung sprach, ist keineswegs selbstverständlich. Einem bereisten Intellektuellen wie Friedrich Dürrenmatt, der auch viel mit Schauspielerinnen zu tun hatte, wäre es wohl kaum besonders schwer gefallen, sich die überregionale Bühnenlautung anzueignen. Dennoch sprach er die Standardsprache wie die anderen Deutschschweizerinnen mit einem schweizerischen Akzent. Dass die Standardsprache die regionale und möglicherweise auch die soziale Herkunft einer Person verrät, betrachtete Dürrenmatt offenbar nicht als einen Mangel, sondern als natürlich. Der Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist die Aussprache der Standardsprache in der deutschen Schweiz. Diese wird hier erfasst und beschrieben. Gleichzeitig wird aufgrund theoretischer Überlegungen und anhand der vorliegenden Daten versucht, den Status der in der Schweiz gesprochenen Standardsprache zu bestimmen. Da die deutsche Standardsprache regional unterschiedlich realisiert wird, stellt sich in Kapitel 2 die Frage, ob es sich bei der in der Schweiz gesprochenen Standardsprache um eine Menge von Idiolekten von Personen einer geographisch und kulturell definierten Region handelt, deren Gemeinsamkeiten lediglich darauf beruhen, dass die Sprecherinnen denselben Einflüssen ausgesetzt sind, oder ob die Gemeinsamkeiten tiefergreifender Natur sind, so dass es gerechtfertigt ist, von „dem" Schweizerhochdeutschen als einer Varietät der deutschen Standardsprache zu sprechen. In Kapitel 3 werden theoretische Aspekte der Norm behandelt und es wird diskutiert, welche Art von Norm für die Aussprache der deutschen Standardsprache sinnvoll ist. Zudem wird die Geschichte der deutschen Aussprachenorm dargestellt und die verschiedenen Kodifizierungen der schweizerischen Aussprache werden besprochen. Im Zentrum der Arbeit steht die Beschreibung der lautlichen Ebene der schweizerischen Varietät der Standardsprache. Anhand der in Kapitel 4 dargestellten Korpora gelesener und spontan gesprochener Sprache wird untersucht, wie junge Schweizerinnen die deutsche Standardsprache aussprechen. Die Realisierungen der verschiedenen lautlichen Variablen werden in Kapitel 5 präsentiert. Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Suche nach möglichen Gründen für die Ausprägungen der einzelnen Variablen. Es wird der Einfluss verschiedener Faktoren wie derjenige des Dialekts, der Norm, des Schriftbilds, der lautlichen Umgebung, der Formalität der Situation und der persönlichen Merkmale oder Einstellungen der 1
Dürrenmatt (1967: 123).
2 Gewährspersonen in Betracht gezogen. Dabei ist zu prüfen, ob diese Faktoren direkt und folglich auch in unterschiedlichem Ausmass auf die Aussprache jeder einzelnen Gewährsperson wirken oder ob gewisse ursprünglich von einem dieser Faktoren beeinflusste Varianten Teil der schweizerischen Varietät der Standardsprache sind und somit durch Nachahmung der von anderen Deutschschweizerinnen gesprochenen Sprache erworben werden. Dies wird in den Kapiteln 6.1-6.2 erläutert. In Kapitel 6.3 geht es darum, wie konstant oder variabel die verschiedenen Variablen von den einzelnen Gewährspersonen realisiert werden. Dabei wird auch die Frage, ob die schweizerische Standardsprache als eine Varietät zu betrachten ist, wieder aufgegriffen und aufgrund der empirischen Ergebnisse zu beantworten versucht. Weil davon ausgegangen wird, dass zwischen dem Sprachverhalten und den Einstellungen ein Zusammenhang besteht, wurden auch Daten zu den Einstellungen der Gewährspersonen erhoben. Diese werden in Kapitel 7 präsentiert und mit den Ergebnissen ähnlicher Studien verglichen. In Anbetracht der Ergebnisse der empirischen Untersuchung werden in Kapitel 8 Folgerungen für eine schweizerische Aussprachenorm gezogen. Dabei wird ein Vorschlag gemacht, in welchem Sinn das Phonemsystem der deutschen Standardsprache neu überdacht werden könnte. Schliesslich werden einige Verwendungsbereiche des Schweizerhochdeutschen diskutiert. Nachdem die Kapitel 5, 6 und 7 je am Schluss zusammengefasst werden, umfasst das Kapitel 9 eine Zusammenfassung der gesamten Untersuchung. Abschliessend werden einige Forschungsdesiderate für den Bereich der schweizerischen Standardsprache genannt.
2
Die Standardsprache in der deutschen Schweiz
Die Sprachsituation in der Deutschschweiz pflegt man seit Kolde mit dem Begriff mediale Diglossie1 zu beschreiben. Im schriftlichen Bereich wird fast ausschliesslich die Standardsprache verwendet, im mündlichen Bereich dagegen vorwiegend die Mundart. Von den Situationen, in denen die Standardsprache gesprochen wird, ist in erster Linie der Schulunterricht zu nennen. Auch mit Nicht-Deutschschweizerinnen wird in der Regel Hochdeutsch gesprochen. In Situationen, in denen etwas vorgelesen wird, zum Beispiel ein Brief, ein Artikel oder eine Spielanweisung ist die Standardsprache unumgänglich. Sie wird zudem häufig in formellen Situationen wie für Reden, bei Versammlungen, in der Kirche oder im Theater verwendet. Des Weiteren sind viele Lieder und vorformulierte Gebete auf Hochdeutsch. Ein Kontinuum zwischen der Mundart und der Standardsprache, wie es in Teilen Deutschlands oder Österreichs vorkommt, existiert in der Schweiz nicht. Deutschschweizer Kinder lernen als erste Sprachform einen schweizerdeutschen Dialekt. Zur Standardsprache haben die meisten Kinder heute im Gegensatz zu früher bereits im Vorschulalter recht viel Kontakt. Dazu trägt in erster Linie das Fernsehen bei, gleichzeitig führt die allgemeine Mobilität zu mehr Kontakt mit Hochdeutsch Sprechenden. Bereits vor dem offiziellen Unterricht im Hochdeutschen verfügen die Kinder über eine passive und teilweise auch aktive Kompetenz. Letzere äussert sich zum Beispiel in Rollenspielen, die von Vorschulkindern selbst initiiert werden. 2
2.1
Das Deutsche als eine plurizentrische Sprache
Zu Beginn dieses Kapitels sollen einige Begriffe erläutert werden. Der Begriff Varietät bezeichnet ein Subsystem einer Sprache. Bei der Unterteilung einer Sprache in Varietäten werden oft aussersprachliche (z.B. geographische oder soziale) Faktoren beigezogen, doch ist es meines Erachtens nur dann sinnvoll, von Varietäten zu sprechen, wenn sich eine solche Unterteilung auch innersprachlich rechtfertigen lässt. Dies ist dann der Fall, wenn die verschiedenen Varietäten einerseits in sich ein gewisses Mass an Einheitlichkeit aufweisen und sich andererseits gegenüber anderen Varietäten abgrenzen. So kann man zum Beispiel das Alemannische und das Bairische als geographisch definierte Varietäten (in diesem Fall Dialekte) bezeichnen, die sich auch sprachlich unterscheiden. Da das Kriterium der Einheitlichkeit relativ ist, können innerhalb einer Varietät weitere (Sub-)Varietäten unterschieden werden, innerhalb des Alemannischen zum Beispiel das Hoch- und Niederalemannische.
1 2
Kolde (1981: 66-77). Häcki Buhofer / Studer (1993: 180f.); Häcki Buhofer et al. (1994: 150); Häcki Buhofer / Burger (1998: 15f„ 135f.).
4 Die Einheiten einer Varietät sind die Variablen. Diese können verschieden realisiert werden, die einzelnen Realisierungen werden als Varianten bezeichnet. Auf der lautlichen Ebene gilt zum Beispiel der kurze α-Laut als eine Variable. Diese kann mit den Varianten [a], [α] oder [d] realisiert werden. Lautliche Varianten werden in phonetischen Klammern geschrieben, Variablen werden hier mit dem kursiv geschriebenen Zeichen der phonetischen Schrift (z.B. die Variable a) oder mit einem Buchstaben bzw. einer Buchstabenverbindung (z.B. die Variable ) geschrieben (—> Kap. 4.4). Vergleicht man die Standardsprache zweier Personen, die an weit voneinander entfernten Orten wohnen, zum Beispiel einer Bernerin und einer Hamburgerin, stellt man beträchtliche Unterschiede fest. Was die Hamburgerin als Fahrrad bezeichnet, heisst bei der Bernerin Velo, und unseren Planeten nennt die Hamburgerin [hereda], die Schweizerin dagegen ['erdE]. Unterschiede dieser Art beruhen darauf, dass das Standarddeutsche verschiedene regionale Ausprägungen hat. Während sich bei der schriftlichen Verwendung der deutschen Standardsprache Regionalismen weitgehend vermeiden lassen, ist dies beim Sprechen nicht möglich. Zwar gibt es gesprochene Varietäten, die als überregional gelten, doch diese sind in ihren Anwendungsbereichen limitiert. Eine von ihnen ist die sogenannte Bühnenaussprache, die sich durch grosse Einheitlichkeit und Deutlichkeit auszeichnet.3 Sie gilt für in Versform geschriebene Theaterstücke oder Gedichte und für den Kunstgesang als besonders angebracht. Eine „weniger hohe" Varietät, die ebenfalls als überregional empfunden wird, ist diejenige, die zum Beispiel in Filmen für Figuren verwendet wird, deren Sprache in keinerlei Hinsicht auffallen soll, die also weder dialektal geprägt ist noch zu gehoben klingt. Sie wird auch vielfach im Radio und am Fernsehen gebraucht. Diese Varietät wird hier Mediendeutsch genannt. Die Variablen, die im Mediendeutschen nicht mit der von den Aussprachewörterbüchern vorgeschriebenen Qualität realisiert werden, werden mit einer Variante des deutschländischen Deutsch realisiert.4 Sowohl das Mediendeutsche als auch die Bühnenaussprache werden in erster Linie von Berufssprecherinnen verwendet. Die Standardsprache von Nicht-Berufssprecherinnen ist regional gefärbt. Die meisten Linguistinnen vertreten heute die Auffassung, dass das Deutsche eine plurizentrische Sprache ist, die eine deutschländische5, eine österreichische und eine schweizerische Varietät umfasst.6 Die schweizerische Varietät der deutschen Standard3 4
5
6
Ausspracheduden (1990: 53); Siebs (1969: 149f.). Aufgrund der Überlegenheit der Bundesrepublik Deutschland bezüglich der Zahl der Sprecherinnen und ihrer wirtschaftlichen und politischen Dominanz, die sich auch auf die Medien, die Verlage und die Filmindustrie auswirkt, muss von einem asymmetrischen Plurizentrismus gesprochen werden (Clyne [1993: 2]; eine Diskussion dieses Themas findet sich in Ammon [1995: 484f.]). Deshalb ist auch das Mediendeutsche viel stärker von der deutschländischen als von der österreichischen oder schweizerischen Varietät geprägt. Der Begriff deutschländisches Deutsch mag etwas ungewohnt erscheinen, er wird in Analogie zu den Begriffen schweizerisches und österreichisches Deutsch gebildet. Wegen der Ambiguität von deutsch scheint er mir jedoch besser als der Begriff deutsches Deutsch. Auch der Begriff Binnendeutsch ist ungünstig, weil er eine Asymmetrie von Binnen- und Aussendeutsch impliziert (siehe dazu Ammon [1995: 43f.]). Z.B. Kloss (1978: 66ff.); Clyne (1992); Ammon (1995); von Polenz (1987: 101). - Die einst heftig geführte Debatte, wie die Varietäten West- und Ostdeutschlands zu bewerten seien, ist infolge der politischen Ereignisse inzwischen verebbt. - Auf die Situation der deutschen Standardsprache in Liechtenstein und in
5 spräche wird auch Schweizerhochdeutsch genannt. Plurizentrizität ist bei Standardsprachen weit verbreitet, man denke nur zum Beispiel an das Englische, das Französische, das Spanische oder das Arabische.7 Die Unterteilung der deutschen Standardsprache in nationale Varietäten drängt sich anhand der aussersprachlichen Kriterien, nämlich der Verteilung des Deutschen auf drei (grössere) Länder, auf. Gemäss der oben gestellten Anforderung soll jedoch nur von nationalen Varietäten gesprochen werden, wenn sich diese Unterteilung auch innersprachlich rechtfertigen lässt. Dabei ergeben sich zwei Probleme: dasjenige der Abgrenzung regionaler Varietäten und dasjenige der Häufigkeit der Verwendung regionaler Varianten. Aus der Dialektologie ist bekannt, dass es unmöglich ist, eine natürliche Sprache in homogene Varietäten zu unterteilen. Betrachtet man die Ausbreitung einiger regionaler standardsprachlicher Varianten, stellt man fest, dass es Varianten gibt, deren Ausbreitung sich mit einer Nation deckt. Was in Frankreich als croissant auf den Frühstückstisch kommt, heisst in Deutschland Hörnchen, in Österreich Kipfe(r)l und in der Schweiz Gipfel(i). Daneben gibt es jedoch auch Varianten, die nur in einem Teilbereich eines Lands vorkommen, wie zum Beispiel kregel .munter' in Nord- und Mitteldeutschland, und Varianten, die Landesgrenzen Uberschreiten, wie zum Beispiel Semmel .Brötchen' in Österreich und Bayern.8 Zum Problem, dass sich nicht alle Varianten an die Landesgrenzen halten, kommt das Problem der Häufigkeit der Verwendung einer Variante hinzu. Meistens ist es nicht so, dass in Region A nur die Variante a, in Region Β nur die Variante b vorkommt, sondern dass in Region A mit geringerer Häufigkeit auch die Variante b verwendet wird und umgekehrt. Als Beispiel soll die Realisierung der Nachsilbe betrachtet werden. Im Norden des deutschen Sprachgebiets wird vorwiegend als [iç] realisiert, aber es kommen auch Realisierungen als [ik] vor. Im Süden wird meistens als [ik] oder [ig] ausgesprochen, doch daneben gibt es auch [iç]-Realisierungen.9 Es stellt sich deshalb die Frage, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit die Unterteilung der deutschen Standardsprache in nationale Varietäten auch aufgrund innersprachlicher Kriterien gerechtfertigt ist. Ammon definiert eine nationale Varietät als eine Standardvarietät, die mindestens eine spezifische nationale Variante oder Variantenkombination enthält.10 Dies reicht jedoch für eine innersprachliche Rechtfertigung nicht aus. Von einer innersprachlich begründeten Unterteilung kann nur dann die Rede sein, wenn die einzelnen nationalen Varietäten einerseits relativ einheitlich sind und wenn sie sich andererseits gegenüber den anderen Varietäten verhältnismässig deutlich abgrenzen. Dies ist nur dann erfüllt, wenn jede Varietät eine gewisse Anzahl typischer Varianten aufweist. Unter ihnen müssen solche sein, die sehr häufig sind, und solche, die als besonders charakteristisch gelten. Die häufigen Varianten sind vor allem auf den Ebenen der Prosodie und der Aussprache zu suchen, die charakteristischen am ehesten im Wortschatz. Dialektologisch ausgedrückt
7 8
9 10
Ländern, in denen das Deutsche nur die Muttersprache einer kleinen Minderheit ist, kann hier nicht eingegangen werden, sie ist in Clyne (1992) dargestellt. Eine umfassende Darstellung liefert Clyne (1992). FUr eine systematische Diskussion der verschiedenen Möglichkeiten und ihre Benennung siehe Ammon (1995: 101-116). Hieraus stammen auch die Beispiele. König (1989: II: 319); siehe auch Kap. 5.3.9. Ammon (1995: 71f.)
6 bedeutet das: Es soll der Nachweis erbracht werden, dass es Isoglossenbündel gibt, die den Landesgrenzen entlang verlaufen. Beobachtungen, dass Deutschsprachige die Herkunft einer Person in der Regel recht schnell erkennen und dass auch die meisten Laien Vorstellungen von den nationalen Varietäten haben, deuten darauf hin, dass diese Bedingungen für die nationalen Varietäten der deutschen Standardsprache erfüllt sind. Dies soll im Folgenden für die Deutschschweiz überprüft werden.
2.2
Die schweizerhochdeutsche Sprachkonvention
2.2.1
Die Existenz einer schweizerhochdeutschen Sprachkonvention
In diesem Kapitel soll der zentralen Frage nachgegangen werden, ob die von Deutschschweizerinnen realisierte Standardsprache so einheitlich ist, dass es sinnvoll ist, sie als eine Varietät zu bezeichnen, oder ob von einer Menge standardsprachlicher Idiolekte gesprochen werden muss. Es gilt also zu überprüfen, ob die Mitglieder einer politisch-kulturellen Gemeinschaft in Bezug auf ihre Realisierung der Standardsprache auch eine sprachliche Gemeinschaft bilden. Sollte eine verhältnismässig einheitliche Varietät existieren, muss geprüft werden, ob sich deren Verbreitung genau auf die deutschsprachige Schweiz erstreckt. Es scheint eine weit verbreitete Meinung zu sein, dass die Schweizerinnen zwar versuchen, die Standardsprache „richtig" auszusprechen, aber dass sie dazu nicht fähig sind und deshalb die Standardsprache mit den Lauten ihrer Mundart artikulieren. Je gebildeter und geübter die einzelnen Sprecherinnen sind oder je stärker sie sich konzentrieren, so wird angenommen, desto besser gelingt es ihnen, ihre Aussprache der von den Aussprachewörterbüchern vorgeschriebenen Varietät anzupassen." Bei dieser Sichtweise wird davon ausgegangen, dass die einzelnen Sprecherinnen die Standardsprache jeweils ad hoc konstruieren. Diese Auffassung soll im Folgenden widerlegt werden. Erstens entscheidet eine Person nicht von Mal zu Mal, wie sie eine bestimmte Variable realisiert, sondern es steht ihr mindestens ein standardsprachliches Register zur Verfügung. Es bedeutete einen viel zu grossen Aufwand, die Sprache im Augenblick des Sprechens jeweils aus dem Wissen um die standardsprachlichen Varianten einerseits und den dialektalen Lauten andererseits zu konstruieren. Zweitens ist es keineswegs so, dass jede Person individuell darüber entscheiden kann, welche und wie viele Varianten sie in ihrem Standardsprache-Register hat, sondern es besteht innerhalb der Deutschschweiz eine recht weitgehende Übereinkunft darüber, welche Varianten für die schweizerische Standardsprache angemessen sind und welche nicht. Eine Person kann somit ihr Register nicht aus einer beliebigen Kombination von mundartnahen, vorschriftsgemässen und mediendeutschen Varianten völlig frei „zusammenstellen", sondern sie muss sich bis zu einem gewissen Grad an die in der Sprachgemeinschaft üblichen Varianten halten. Diese Übereinkunft, die festlegt, welche Varianten für die Schweizerinnen bei der Verwendung der Standardsprache angebracht sind, nenne ich schweizerhochdeutsche Sprachkonvention. Den Teilbereich, der sich auf die lautliche Ebene bezieht, nenne ich Aussprache-
"
Z.B. Métrai (1971: 46); Mentrup / Kuhn (1980: 533).
7 konvention. Welche Varianten eine Person bei der Verwendung der Standardsprache realisiert, wird in viel stärkerem Mass bestimmt durch die schweizerhochdeutsche Sprachkonvention als durch den Dialekt, der einen weniger starken und vor allem einen weniger direkten Einfluss ausübt. Dies soll an einem Beispiel illustriert werden. Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts war es in der Schweiz offenbar üblich, in allen Positionen wie in der Mundart als [ft] auszusprechen. Ungefähr seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts wird nur noch im Anlaut [ft] gesprochen, im In- und Auslaut wird [st] gesprochen (—» Kap. 5.2.8). Ein Zeugnis für diesen Wandel liefert Wissler im Jahr 1905: Als ich die Sekundärschule besuchte, wäre bei uns unsterblicher Lächerlichkeit verfallen, wer gewagt hätte, ist mit reinem st zu sprechen, [...] etwa zwölf Jahre später Hessen die Schiller desselben Lehrers ganz unbefangen reines st und sp hören.12
Die Variable im Inlaut wird zum Zeitpunkt 1 (wohl um 1890) von den Mitgliedern dieser Sprachgemeinschaft als [ft] realisiert, obwohl die Variante [st] offenbar bekannt ist. Zum Zeitpunkt 2 (wohl um 1900-1905) wird dieselbe Variable als [st] realisiert. Zu beiden Zeitpunkten bestimmt die Aussprachekonvention, wie diese Variable zu realisieren ist. Bestünde keine solche Aussprachekonvention, müsste die Gruppe der [ft]-SprecherInnen in der Schweiz zu jeder Zeit ungefähr gleich gross sein oder sich allenfalls nur graduell verringern, da die Ausgangslage mit [ft] im Dialekt unverändert ist. Realisieren die Sprecherinnen die Variable in der von der Aussprachekonvention vorgeschriebenen Weise, gilt ihr Verhalten als angebracht, anderenfalls nicht. Dadurch, dass die Sprachkonvention gewisse Varianten vorschreibt, gelten Varianten, die nicht in der Sprachkonvention enthalten sind, als markiert. Sie weisen Konnotationen wie zum Beispiel „deutschländisch" auf, die eine Beurteilung der sprechenden Person beispielsweise als „eingebildet" nach sich ziehen können. Verwendet eine Person eine Variante, die nicht zu der für sie geltenden Sprachkonvention gehört und deshalb Konnotationen aufweist, projizieren die Gesprächspartnerinnen Eigenschaften, die sie mit der Verwendung dieser Variante assoziieren, auf diese Person. So ist beispielsweise anzunehmen, dass ein Kind in Wisslers Schulklasse, welches ist mit der als „deutschländisch" empfundenen Variante [st] ausgesprochen hätte, für eingebildet gehalten und deshalb ausgelacht worden wäre. Zu einem etwas späteren Zeitpunkt müssen die Konnotationen von [st] jedoch ins Positive umgeschlagen sein, was dazu führte, dass alle diese Variante realisierten. Sobald die Variante [st] jedoch die übliche war, verlor sie ihre Konnotationen, ab diesem Zeitpunkt ist sie der Aussprachekonvention zuzurechnen. Nun war hingegen die Variante [ft] nicht mehr üblich, sie erhielt wohl die negative Konnotation „(zu) dialektnah". Es ist jedoch nicht so, dass die Sprachkonvention für jede Variable nur eine einzige Realisierung zulässt. Bei den intervokalischen Konsonanten nach betontem Kurzvokal (z.B. im Wort alles) gelten sowohl die Realisierungen mit einem einfachen Konsonanten (['abs]) als auch die Realisierungen mit einem langen Konsonanten (['alias]) als angemessen. Weil die Sprachkonvention bei manchen Variablen verschiedene Varianten zulässt und weil sich die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft nicht vollständig an die Konvention halten, führt die Sprachkonvention nicht zu einer völlig homogenen Varietät. Aber sie führt dazu, dass sich die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft viel einheitlicher verhalten, als sie es tun würden, wenn keine solche Konvention existierte. Weil die Verwendung gewisser Varianten negativ bewertet wird, kommen diese kaum vor, wodurch das Ausmass an Varia12
Wissler (1905: 344).
8 tion verringert wird. Zwar werden manche Variablen mit verschiedenen Varianten realisiert, doch divergieren die Sprechenden weniger stark als sie es tun würden, wenn sie frei auswählen könnten aus der sehr grossen Menge an Varianten, die ihnen aus dem Dialekt, dem deutschländischen Deutsch und der Schrift zur Verfügung stehen. Die Existenz einer Sprachkonvention führt somit dazu, dass die Standardsprache der Mitglieder der Sprachgemeinschaft, für die dieselbe Sprachkonvention gilt, relativ ähnlich ist und somit als Varietät der Standardsprache bezeichnet werden darf. Was hier als Aussprachekonvention bezeichnet wird, umschreibt Jud folgendermassen: „Jedes Land hat seine sprachliche Atmosphäre, und ein gutes Hochdeutsch hat in der Schweiz einen anderen Klang als z.B. in Norddeutschland oder in Wien." 13 Iivonen spricht von „Standardaussprachegewohnheiten, [...] die bestimmte Dialektinterferenzen, Kodeumschaltungen oder direkte Entlehnungen enthalten und erlauben," 14 Krech spricht von auf die Standardsprache bezogenen Normvorstellungen. 15
2.2.2
Der Grund für die Existenz von Sprachkonventionen
Sprachkonventionen schränken die Realisierung von Variablen stärker ein, als dies für das Verstehen notwendig ist. Man kann sich deshalb fragen, wieso sie überhaupt existieren, wieso sich die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft bei ihrer Sprachproduktion auf gewisse Varianten beschränken. Hierfür wurden zwei Gründe festgestellt: Erstens vermittelt der Sprachgebrauch Informationen über die sprechende Person und zweitens wird die Kommunikation innerhalb einer Sprachgemeinschaft erleichtert. Dadurch, dass aufgrund der Sprachkonvention in verschiedenen Regionen und in verschiedenen Situationen unterschiedliche Ausspracheweisen als angemessen gelten, sagt die Varietät, die eine Person verwendet, etwas über ihre Herkunft und über ihre Einschätzung der Situation aus. Indem sich Deutschschweizerinnen an der schweizerischen Sprachkonvention orientieren und demzufolge Schweizerhochdeutsch und nicht deutschländisches Hochdeutsch sprechen, signalisieren sie, dass sie Mitglieder dieser Gruppe sind. Rues formuliert dies folgendermassen: Aussprache als Stilelement gesprochener Sprache signalisiert regionale und soziale Zugehörigkeit und wird von uns als Ausdruck (eines Teils) der in der Regel durch Erfahrung erworbenen Fähigkeit zu situativ angemessenem sprachlichem Verhalten verstanden. Aussprache hat also nicht nur die Aufgabe, ausreichend präzise Zeichenkörper zu produzieren, um die Verständlichkeit einer Äusserung zu gewährleisten, sondern kann soziale Nähe oder Distanz zwischen Kommunikationspartnern vermitteln, als Ausdruck von Kultiviertheit und Bildung des Sprechers verstanden werden, die Akzeptanz gegenüber einem Sprecher in einer bestimmten sozialen Rolle beeinflussen usw.16
Dadurch, dass sich eine Person an die Sprachkonvention ihrer Gemeinschaft hält, drückt sie ihre Gruppenzugehörigkeit aus. Sie kann aber auch durch Abweichungen bei der Realisierung einzelner Variablen zusätzliche Informationen vermitteln. So kann eine Person durch die Verwendung von Varianten, die nicht zur Sprachkonvention gehören, eine gewisse Distanz zu ihrer Gemeinschaft signalisieren. Dies wird in Kapitel 6.3.4 ausgeführt. Weil die 13 14 15 16
Jud im Vorwort zu Boesch (1957: 6). Iivonen (1993: 169). Krech (1997: 94). Rues (1997: 117).
9 Sprachkonvention nicht für alle Register dieselbe ist (—» Kap. 2.2.5), kann die Wahl von Varianten, die zu einem bestimmten Register gehören, auch etwas darüber aussagen, wie eine Person die Gesprächssituation einschätzt. In der Regel versuchen die Sprechenden, sich weitgehend an die Sprachkonvention zu halten, da Abweichungen viel eher negativ als positiv bewertet werden. Ein fiktives Beispiel soll dies illustrieren: Spricht Frau Meier im Bewerbungsgespräch für eine Stelle als Sachbearbeiterin bei einer Versicherung die Standardsprache, weil auch eine Firmenvertreterin aus der Westschweiz dabei ist, darf sie nicht ein allzu stark deutschländisch gefärbtes Hochdeutsch sprechen, weil sie für hochnäsig gehalten werden könnte. Umgekehrt darf ihre Standardsprache aber auch nicht allzu viele mundartliche Ausdrücke und Lautungen enthalten, weil daraus geschlossen werden könnte, sie sei ungebildet. Ob sie sich an die Aussprachekonvention hält oder nicht, kann somit Frau Meiers berufliche Karriere beeinflussen. Indem aufgrund der Sprachkonvention nur gewisse Varianten für eine Gemeinschaft für angemessen erachtet werden, ist die innerhalb dieser Gemeinschaft gesprochene Varietät relativ einheitlich. Der zweite Grund für die Existenz von Sprachkonventionen besteht somit in einer Reduktion der Varianten, denn diese dient nicht nur den Sprechenden, denen dadurch viele Entscheidungen abgenommen werden, sondern auch den Hörenden. Meinhold schreibt: Ein Sprecher erreicht [...] den bestmöglichen kommunikativen Effekt mit Hilfe derjenigen lautlichen Formen, die der Hörgewohnheit (Erwartung) des Hörers am nächsten kommen, also möglichst geringe Auffälligkeit besitzen, sowohl nach der positiven (hyperkorrekten) als auch nach der negativen Seite hin (Fremdformen)...17
Den Erwartungen der Deutschschweizerinnen kommen die Varianten der schweizerischen Sprachkonvention am nächsten. Die Verwendung dieser Varianten erleichtert somit die Kommunikation. Das Streben nach maximaler Konformität im sprachlichen Bereich ist Teil eines allgemeinen psychologischen Prinzips. In der Sozialpsychologie ist es unbestritten, dass die Mitglieder einer Gruppe zu Konformität im Verhalten, Denken und Fühlen tendieren. 18 Die Sprachkonvention ist derjenige Teil dieses allgemeinen Prinzips, der die Sprachproduktion und die Einstellungen gegenüber sprachlichen Varianten betrifft. Konformität in der Sprachproduktion wird dadurch erreicht, dass sich die Mitglieder einer Gruppe beim Sprachgebrauch gegenseitig aneinander orientieren. Zudem sind sie sich in der negativen Bewertung abweichender Varianten weitgehend einig. Nicht nur bei der Realisierung der Standardsprache spielt die Sprachkonvention eine Rolle, sondern dasselbe Prinzip ist unter anderem in folgenden Bereichen bedeutsam: - Erstspracherwerb: Die Kinder lernen ihre Muttersprache nicht nur so genau, bis sie verstanden werden, sondern sie verändern ihre eigene Sprachproduktion so lange, bis sie genau deijenigen ihrer Umgebung entspricht. - Sprachwandel: Die Varietät einer Gemeinschaft bleibt homogen und divergiert nicht. Existieren mehrere Varianten nebeneinander, führt die Sprachkonvention dazu, dass sich langfristig nur eine von ihnen durchsetzt oder dass eine funktionale Differenzierung eintritt. 17
Meinhold (1964: 352).
18
Schneider (1985: 111).
10 -
Migration: Bei Migration innerhalb einer Sprachregion ist zu beobachten, dass sich viele Eingewanderte den Dialekt ihrer neuen Umgebung aneignen, obwohl der Dialekt ihres Herkunftsorts verstanden wird." Die Sprachkonvention ist somit ein sehr grundlegendes Prinzip, das einem grossen Teil des sprachlichen Handelns zugrundeliegt. Dass eine Sprachkonvention existiert, ist auch nicht eine völlig neue Erkenntnis, nur wird sie selten expüzit genannt. Nicht selbstverständlich ist indessen, dass es auch für die schweizerische Standardsprache eine Sprachkonvention gibt, da diese Varietät nicht sämtliche Funktionen abdeckt, sondern nur in ausgewählten Situationen gesprochen wird.
2.2.3
Der Geltungsbereich der Sprachkonvention
Die sozialpsychologischen Studien, auf denen die Erkenntnisse zur Konformität im Denken und Handeln beruhen, basieren auf Experimenten in Kleingruppen. 20 Hier wird die Behauptung aufgestellt, dass ähnliche Mechanismen auch in grösseren Gruppen wirksam sein können. Konkret soll gezeigt werden, dass die Deutschschweizerinnen eine solche Gruppe bilden und dass der Geltungsbereich der schweizerhochdeutschen Sprachkonvention deshalb genau die Deutschschweiz umfasst. Diese Annahme wird durch die folgenden Argumente gestützt: -
-
Für die Unterteilung der deutschen Standardsprache in eine deutschländische, eine österreichische und eine schweizerische Varietät spricht auch der Umstand, dass viele Laien die Nationalität einer Person aufgrund deren Aussprache der Standardsprache erkennen. Dies ist nur dadurch erklärbar, dass die innersprachlichen Unterschiede ein gewisses Ausmass annehmen. Da Einstellungen unter anderem dazu dienen, Gruppen zu definieren und Gruppenzugehörigkeit zu markieren, ist der Faktor Nationalität wichtig, denn die Bewohnerinnen eines Landes haben normalerweise eine Art Nationalbewusstsein. In Bezug auf die Sprache wirkt sich dies sowohl auf das Sprachverhalten als auch auf die Beurteilung verschiedener Varietäten aus. Einstellungsuntersuchungen haben ergeben, dass sich die Deutschschweizerinnen bei der Bewertung ihrer eigenen und fremder Sprachvarietäten ähnlich verhalten (-> Kap. 7.4).
-
Die Sprachkonvention regelt, in welcher Weise die Standardsprache realisiert wird. Eine andere Konvention regelt, in welchen Situationen die Standardsprache verwendet wird und in welchen Situationen der Dialekt verwendet wird. Die Existenz der letztgenannten Konvention führt zu der zu Beginn dieses Kapitels beschriebenen Diglossiesituation. Da sowohl die Konvention, die die Sprachformenwahl regelt, als auch die Konvention, die den Sprachgebrauch regelt, auf Einstellungen beruhen, ist anzunehmen, dass sie denselben Geltungsbereich haben. Weil die Konvention, welche die Sprachformenwahl regelt, genau für die deutschsprachige Schweiz zutrifft, ist es somit überaus wahrscheinlich, dass die Sprachkonvention ebenfalls genau für die Deutschschweiz gilt. Ris nennt die Landesgrenze eine „pragmatische Sprachgrenze". 21
19
Z.B. Trudgill (1986). Z.B. Schneider (1985). Ris (1979: 51); siehe auch Löffler (1985: 151f.); Domaschnew (1989: 353).
20 21
11
SPRACHVERHALTEN
SPRACHSYSTEM Einstellungen
l Sprachkonvention: regelt die Realisierung gewisser Variablen
Konvention, die die Sprachformenwahl in den verschiedenen Situationen regelt
— Prosodie
Lexik
Phonetik (Aussprachekonv.)
11
u
schweizerische Varietät der Standardsprache (Schweizerhochdeutsch)
deutschschweizerische Diglossie
Abb. 2.1: Verwendung der Standardsprache in der Deutschschweiz
-
Es gibt verschiedene Untersuchungen, die zeigen, dass der Landesgrenze für den sprachlichen Bereich eine wichtige Funktion zukommt. Ostermai, der die Standardsprache von Primarschülerlnnen in den beiden aneinandergrenzenden Orten Rheinfelden in der Schweiz und Rheinfelden in Deutschland vergleicht, zeigt, dass die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen sehr viel grösser sind als sie es wären, wenn zwischen den beiden Orten keine Landesgrenze verlaufen würde.22 Seidelmann weist die Bedeutung der politischen Grenze anhand eines Vergleichs der historischen Sprachentwicklung in der deutsch-schweizerischen Doppelstadt Laufenburg nach.23
Alle aufgeführten Argumente sprechen dafür, dass es eine schweizerische Sprachkonvention gibt, die genau für die deutschsprachige Schweiz zutrifft und die es rechtfertigt, von einer schweizerischen Varietät der Standardsprache zu sprechen. Ob in derselben Weise auch von einer deutschländischen und einer österreichischen Varietät gesprochen werden kann, kann hier nicht erörtert werden. Viele österreichischen Linguistinnen sprechen vom österreichischen Deutsch als einer nationalen Varietät.24 Im Falle der Bundesrepublik ist angesichts der Grösse des Landes und des Ausmasses der regionalen Variation in der gesprochenen Standardsprache in Erwägung zu ziehen, ob es möglicherweise sinnvoll wäre, die deutschländische Varietät der Standardsprache noch in kleinere regionale Varietäten zu unterteilen. 25 Im Folgenden wird von nationalen Varietäten gesprochen, wobei dies allfällige regionale (Sub-)Varietäten nicht ausschliessen will.
2.2.4
Der Erwerb der schweizerhochdeutschen Sprachkonvention
Wie der Erwerb der schweizerhochdeutschen Sprachkonvention genau verläuft und welcher Einfluss den verschiedenen Faktoren wie der Schule oder den Medien zukommt, kann hier nicht beantwortet werden; um dies herauszufinden, müsste eine eigens zu diesem Zweck konzipierte Untersuchung durchgeführt werden. In einem sehr allgemeinen Sinn lässt sich 22 23 24 25
Ostermai (2000). Seidelmann (1989). Reiffenstein (1982: 13); Wiesinger (1988); Pollak (1992: 76); Moser (1989: 19f.). Z.B. Clyne (1992: 134f.); Ammon (1995).
12 jedoch sagen, dass es auf den sozialen Druck innerhalb der Sprachgemeinschaft zurückzuführen ist, dass eine Person die Sprachkonvention erwirbt. Hält sich jemand nicht an die Sprachkonvention, verfällt diese Person in den Worten Wisslers „unsterblicher Lächerlichkeit".26 Dies verdeutlicht auch der Ratschlag, den Thomas Ignaz Scherr dem „schweizerischen Volksredner" 1845 in seinem gleichnamigen Büchlein erteilt: Ein Schweizer nun, der vor seinem Volke, in so fern er Schriftdeutsch redet, etwa ßtab, ßtein, peßt (Stab, Stein, Pest) anstatt des Mundartlichen Schtab, Schtein, Pescht ausspräche, der würde bei den meisten Zuhörern Widerwillen erregen; seine Rede verfehlte des Eindruckes, und er würde, w o nicht als ein dummer, doch als ein eitler Mensch verspottet und ausgelacht, und dieß auch unserer Meinung nach nicht ganz mit Unrecht. 27
Die Sprachkonvention wird durchgesetzt, indem die Gemeinschaft droht, diejenigen Personen auszugrenzen, die sich nicht an sie halten. Gleichzeitig wird auch die Einstellung weitergegeben, dass abweichendes Sprachverhalten schlecht sei. Aus der Untersuchung von Ostermai zum Standardspracherwerb und aus dem Projekt Zweitsprachunterricht im obligatorischen Schulsystem geht hervor, dass sich die Deutschschweizer Erstklässlerinnen stärker an der deutschländischen Standardsprache, die Zweitklässlerlnnen dagegen stärker am Schweizerhochdeutschen orientieren. Die Erstklässlerinnen realisieren im Vergleich zu den Zweitklässlerlnnen zum Beispiel mehr vokalisierte r-Laute, mehr vorschriftsgemässe Verteilungen des Ich- und Ach-Lauts und weniger affrizierte kLaute.28 Dies deutet darauf hin, dass sie die schweizerhochdeutsche Sprachkonvention in diesem Zeitraum zu erwerben beginnen. Ergebnisse des Projekts Spracherwerb in der deutschen Schweiz zeigen gleichzeitig, dass die Kinder der Standardsprache gegenüber in der ersten Klasse positiv, in der zweiten Klasse dagegen eher negativ eingestellt sind.29 Dies stützt die oben aufgestellte Behauptung, dass die Einstellungen und die Sprachkonvention eng zusammenhängen. Die Tatsache, dass die Zweitklässlerlnnen ihr leicht deutschländisch gefärbtes Hochdeutsch gegen ein schweizerisches Hochdeutsch austauschen, verdeutlicht noch einmal, dass es nicht beschränkte Lernfähigkeit ist, die eine stärkere Anpassung an die deutschländische Varietät verhindert, sondern der soziale Druck der Sprachgemeinschaft. Dies wird bestätigt vom Umstand, dass sich auch viele Kinder deutscher Eltern anpassen, indem sie in der Schule Schweizerhochdeutsch sprechen.30
2.2.5
Verschiedene Register innerhalb der Standardsprache
Beobachtungen aus dem Alltag zeigen, dass die Standardsprache ein und derselben Person variieren kann, je nachdem, ob diese Person beispielsweise eine Rede hält oder am Küchentisch etwas aus der Zeitung vorliest. Eine Person kann sich in ihrem Sprachverhalten auch ihren Gesprächspartnerinnen annähern. Ferner ist von einem Universitätsprofessor wohl ein
26
Wissler (1905: 344); ähnlich Anliker (1987: 35).
27
Scherr (1845: 15).
28
Ostermai (2000: 74, 8 7 , 9 7 ) ; Ziberi-Luginbühl (1998).
29
Häcki Buhofer / Burger (1998: 136); ebenso Ziberi-Luginbühl (1998: 69f.)
30
Hänger in Koller ( 1992: 316f.).
13 etwas anderes Hochdeutsch zu erwarten als von einem Maurer (—> auch Kap. 6.2.4). Das Schweizerhochdeutsche verfügt somit Uber verschiedene Register, ist also in sich geschichtet. Es ist anzunehmen, dass viele Personen über mehrere Hochdeutschregister verfügen, von denen sie je nach Situation eines auswählen. Diese Register sind wahrscheinlich hierarchisch gegliedert, wobei am einen Ende der Skala diejenigen Register stehen, die in informellen Situationen verwendet werden und die mehr dialektnahe Varianten enthalten, während am anderen Ende diejenigen Register stehen, die in sehr formellen Situationen verwendet werden und die näher bei der von den Aussprachewörterbüchern vorgeschriebenen Lautung oder beim Mediendeutschen sind. Am stärksten mundartlich geprägt sind wohl standardsprachliche Einsprengsel in mundartlicher Rede, zum Beispiel wenn Redewendungen oder Aussagen zitiert werden oder wenn etwas vorgelesen wird. Weniger stark mundartlich geprägt ist dagegen die spontan gesprochene Standardsprache, die zum Beispiel in der Schule verwendet wird. Am nächsten bei der Vorschrift ist die Standardsprache in einer formellen oder künstlerischen Situation, wie zum Beispiel beim Vorlesen eines Gedichts. Register:
Register mit vielen dialektnahen Varianten
Formalität der Situation: Bsp. für Situationen:
informell Redewendung
Abb. 2.2:
Register mit vielen vorschriftsgemässen Varianten
spontane Sprache
formell Gedicht
Mögliche Stilregister des Schweizerhochdeutschen
Diese Darstellung der Register des Schweizerhochdeutschen beruht nur auf Beobachtungen, eine systematische Untersuchung Schicht- und stilbedingter Varietäten wäre sicher ergiebig." Nicht erfasst in der Abbildung 2.2 ist die Sprache von Berufssprecherinnen. Für Personen, die für einen schweizerischen Radio- oder Fernsehsender arbeiten, gilt ein Register als angemessen, das viele vorschriftsgemässen Varianten enthält, aber trotzdem als schweizerische Standardsprache erkennbar ist. Von schweizerischen Schauspielerinnen verlangt man dagegen, dass sie genauso sprechen wie ihre deutschen und österreichischen Kolleginnen. Man kann sagen, dass für sie die schweizerische Sprachkonvention nicht gilt. Bruno Boesch schreibt in seiner Wegleitung zur Aussprache des Hochdeutschen in der Schweiz: „Beim Schauspieler ist es uns peinlich, den Schweizer herauszuhören; in allen anderen Sprechsituationen ist es ebenso peinlich, ihn nicht zu vernehmen."32 Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung zeigen, dass sowohl Realisierungen von [kx] als auch Realisierungen von [x] anstelle von [ç] bei gebildeten Sprecherinnen selten sind (—» Kap. 5.2.3 und 5.2.9). Wenn somit Politikerinnen, deren Bildungsniveau meistens hoch ist, diese beiden Variablen in ihrer Sprache aufweisen, ist daraus zu schliessen, dass sie sich atypisch verhalten. Rohrer schreibt, dass „im allgemeinen Politiker in stärkerem Masse regionale Ausspracheeigenheiten zeigen" als Journalisten, Wissenschaftler oder Literaten.33 Da allgemein die Auffassung vorherrscht, weniger gebildete Personen sprächen die Standardsprache mit lauter Affrikaten und kratzigen Ach-Lauten, passen sich diese Politiker in ihrer 31
Es gibt Untersuchungen zum österreichischen Deutsch, die den Zusammenhang zwischen stilistischer und lautlicher Variation behandeln, z.B. Dressler / Leodolter / Chromée (1976), MoosmUller (1987) und Moosmüller / Dressler (1988).
32
Boesch (1957: 12-14). Rohrer (1973: 14); ebenso Moser (1989: 21); Takahashi (1996: 205f.).
33
14 Sprache „nach unten" an, indem sie Varianten produzieren, von denen sie glauben, dass sie im Register weniger gebildeter Sprecherinnen üblich sind. Offenbar tun sie dies in der Hoffnung, vom Volk als „einer der ihren" anerkannt zu werden. Löffler schreibt: Im Schweizer Bundesparlament [...] haben sich ganz spezielle „bundesrätliche" Merkmale eingebürgert, so die [x]-Aussprache in allen Stellungen und [kx-] im Anlaut anstelle von [k-]: [...] Man würde diese parlamentarische Aussprache, die auch von Politikern benutzt wird, die sehr wohl z.B. als Universitätsprofessoren auch anders könnten, jedoch nicht als „Aussprachenorm" ausgeben wollen, sondern als „Schweizer Parlaments-Schriftdeutsch".34
Da diese beiden Merkmale, die Affrikate [kx] und das kratzige [x], wegen ihres Kratzgeräusches auffällig und gleichzeitig hochfrequent sind, sind sie besonders geeignet, als Symbole der nationalen Identität verwendet zu werden. Neben Schicht- und stilbedingter Variation unterliegt die schweizerische Varietät der Standardsprache auch zeitlichem Wandel. Zu jeder Zeit gibt es Variablen, von denen eine ältere und eine jüngere Variante nebeneinander existieren. Diese können Gegenstand eines metasprachlichen Diskurses sein, wie ein Zitat von Stickelberger von 1911 zeigt: Die einen halten es für abgeschmackt, wenn man i s t für i s c h t sagt, und sprechen l i e b g u e t mit Doppelvokal. Die anderen verlangen „ewich" und „seelich" [...]35
und
In der Regel führt die Aussprachekonvention dazu, dass sich von den nebeneinander existierenden Varianten nur eine durchsetzt, während die andere veraltet, wie dies mit [ift], [liab] und [gugt] geschehen ist. Wie in Kapitel 2.2.1 am Beispiel von inlautendem gezeigt wurde, geht dem eigentlichen Sprachwandel oft ein Wandel auf der Ebene der Einstellungen voran. Der Sprachwandel im Schweizerhochdeutschen scheint tendenziell in Richtung des deutschländischen Deutsch zu verlaufen.
2.3
Bisherige Untersuchungen zur Aussprache der Standardsprache
Die Eigenheiten der schweizerischen Standardsprache sind schon seit längerem Gegenstand der Forschung. Gesamtdarstellungen liefern Meyer (1989) und Panizzolo (1982, —» unten). Eine umfassende Darstellung der schweizerischen, österreichischen und deutschländischen Varianten sämtlicher sprachlicher Ebenen liefert Ammon (1995). Daneben gibt es viele Werke, die nur eine bestimmte Ebene betrachten. Die lexikalischen Helvetismen sind unter anderem im Schweizer Schülerduden (1998), in Plickat / Haaf (1997), in Greil (1997), in Wort für Wort (1997) und in Unser Wortschatz (1987) zusammengestellt. Burger (1995) betrachtet Helvetismen in der Phraseologie. Besonderheiten des Schweizerhochdeutschen auf den Ebenen der Morphologie und der Syntax wurden von Kaiser (1969/70) erfasst. Das Merkmal, das wohl am stärksten dazu beiträgt, dass das Schweizerhochdeutsch als solches erkennbar ist, ist die Intonation. 36 Es ist deshalb umso bedauerlicher, dass keine umfassende Untersuchung zu den prosodischen Eigenheiten der schweizerischen Standardsprache vor34 35 36
Löffler (1991: 44). Stickelberger (1911:3). Ammon (1995: 257).
15 liegt. Bachmann vermutet, dass eines der typischen prosodischen Merkmale des Schweizerhochdeutschen in der steigenden Intonation der Stammsilbe besteht.37 Für den Bereich der Aussprache liegen für die Schweiz nur wenige Untersuchungen vor, sie sollen hier kurz besprochen werden. Zuvor muss allerdings erwähnt werden, dass auch aus Verboten und Warnungen vieler präskriptiver Werke (die in Kapitel 3.3 dargestellt sind) wichtige Angaben über die schweizerische Aussprache erschlossen werden können. Hier sollen aber nur diejenigen Publikationen diskutiert werden, die deskriptiv angelegt sind. Einer der ersten, der die Eigentümlichkeiten der schweizerischen Aussprache der Standardsprache beschrieb, war Franz Joseph Stalder. In seiner Dialektologie von 1819 schreibt er, dass selbst bei Gebildeten die Merkmale der Mundart durchdringen würden, „hauptsächlich die Lebendigkeit der krachenden Gurgeltöne g, k, ch sowohl als der voll- und breitzischenden Töne sp, st."38 Die älteste mir bekannte systematische Beschreibung ist Hannes Maeders Kurze Charakteristik des ,Schweizerhochdeutschen' von 1948. Maeder nennt Besonderheiten auf den Ebenen der Aussprache, des Wortschatzes, der Morphologie, der Syntax und der Idiomatik und führt diese auf den Einfluss der Mundart zurück. Er diskutiert auch die Frage nach dem Status des Schweizerhochdeutschen und kommt zum Schluss, dass es keine selbstständige Sprache ist, sondern dass es richtig ist, „das Schweizerhochdeutsche als mundartlich gefärbtes und im Wortschatz gewisse Besonderheiten aufweisendes Hochdeutsch zu bezeichnen."39 1971 veröffentlicht Jean-Pierre Métrai einen Artikel mit dem Titel Un problème de bilinguisme: l'allemand prononcé par un habitant de Gessenay. Nach einer Darstellung der Sprachsituation in der Deutschschweiz beschreibt Métrai, wie die Bewohner von Saanen (frz. Gessenay) im Berner Oberland die deutsche Standardsprache aussprechen. Indem er das phonologische System des Dialekts demjenigen der von den Aussprachewörterbüchern vorgeschriebenen Varietät gegenüberstellt, erklärt er alle Abweichungen durch Interferenz. Die Abweichungen bewertet er negativ, die schweizerische Standardsprache nennt er „Grossratsdeutsch" und spricht von einem „semi-dialecte".40 1982 erschien das Buch Die schweizerische Variante des Hochdeutschen von Paola Panizzolo. Dies ist die bisher einzige umfassende Untersuchungen zu den Besonderheiten des Schweizerhochdeutschen auf allen linguistischen Ebenen. Leider weist die Untersuchung erhebliche Mängel auf. Das Korpus wird nur sehr vage beschrieben, es umfasst unter anderem „persönlich [...] aufgenommene Gespräche und Reden unter Schweizern."41 Unklar ist auch der Status, den Panizzolo dem Schweizerhochdeutschen zuschreibt. Aus Kommentaren wie demjenigen, dass eine Person aus der Schweiz ihre Aussprache „nur in beschränktem Masse außessern kann" (Hervorhebung I. H.),42 geht hervor, dass sie die von den Aussprachewörterbüchern vorgeschriebene Varietät als Massstab setzt und alle schweizerischen Varianten als Abweichungen oder gar als Fehler betrachtet. Des weiteren lässt die Darstellung der Ergebnisse zu wünschen übrig. Für den Bereich der Aussprache diskutiert Panizzolo zwar die wichtigsten Laute und unterscheidet teilweise nach lautlichen Umgebungen und geographischer Herkunft der Gewährspersonen, doch diese Angaben sind oft unklar. Ferner 37 58 39 40 41 42
Mündliche Mitteilung von Armin Bachmann, M. A. (Universität Bayreuth). Stalder (1819: 9). Maeder (1948: 14). Métrai (1971: 41). Panizzolo (1982: 13). Panizzolo (1982: 13).
16 sucht man manchmal vergebens nach generellen Hinweisen zur Realisierung eines Lauts, weil nur Abweichungen in einzelnen Wörtern oder lautlichen Umgebungen aufgezählt werden. Manche Ergebnisse scheinen mir schwer zu glauben, zum Beispiel die Behauptungen, dass im Schweizerhochdeutschen anstelle des Ich-Lauts [x] und anstelle des Ach-Lauts [χ] realisiert werde43 oder dass „viele Zürcher", aber offenbar keine anderen Schweizerinnen k als [kx] aussprechen.44 Trotz allem bilden Panizzolos Ergebnisse eine wichtige Vergleichsbasis für die vorliegende Untersuchung. 1987 veröffentlichte Peter Anliker im Sprachspiegel den Artikel Deutsches deutsch und schweizerisches deutsch im kontrast. Er führt darin auch einige Ausspracheeigenheiten an, bei denen er sich auf Beobachtungen im Alltag beruft, und plädiert für eine Annäherung an die „hochdeutsche lautung".45 Ruth Maria Burri, Sprechausbildnerin bei Radio DRS, hat mir freundlicherweise ihre Notizen zur schweizerischen Aussprache zur Verfügung gestellt, die als Grundlage für die Erarbeitung der Richtlinien Deutsch sprechen am Radio46 dienten und die viele Beobachtungen zur schweizerischen Standardsprache enthalten. 1994 hat Beat Siebenhaar die Aussprache von je drei zufällig ausgewählten Personen aus Bern, St. Gallen und Zürich untersucht, indem er sie eine Wortliste in der Standardsprache vorlesen liess. Der Umfang der Datenmenge ist somit eher gering, doch ist die Untersuchung methodisch einwandfrei, etwas atypisch ist lediglich die Auswahl der Belegwörter, unter denen viele Neologismen, Fachwörter und Abkürzungen sind. Die Realisierungen der einzelnen Laute werden dargestellt und auf dem Hintergrund der Mundart der Gewährspersonen diskutiert. Antti Iivonen hat die Vokalsysteme der drei nationalen Varietäten der deutschen Standardsprache experimentalphonetisch untersucht und die Ergebnisse in einer Reihe von Artikeln publiziert. Seine Daten für das Schweizerhochdeutsche stammen von drei Sprechern aus Zürich.47 Diese Ergebnisse im Bereich der akustischen Phonetik bilden eine interessante Ergänzung zu den vorliegenden auf ohrenphonetischer Transkription beruhenden Daten. Für sein Buch Zur richtigen Aussprache des Deutschen in Deutschland, Österreich und der Schweiz nach Massgabe der kodifizierten Normen hat Takahashi am Rande auch eine empirische Untersuchung zur Aussprache des Schweizerhochdeutschen durchgeführt.48 Deren Umfang ist notgedrungen eher gering, weshalb er der Sache nicht gerecht werden kann. Viele seiner Ergebnisse erscheinen mir stark verallgemeinernd. Momentan untersucht Iwar Werlen die Aussprache der Nachrichtensprecherinnen von Radio DRS 1 und Radio DRS 3. Erste Teilergebnisse wurden an einem Vortrag 1998 präsentiert.49 Die seit längerem in der Reihe Studienbücher Sprachlandschaft unter dem Titel Die Standardaussprache des Deutschen in der Schweiz angekündigte Arbeit von Agnes Hofmüller-Schenck ist bisher nicht erschienen und das Manuskript wurde mir von der Autorin nicht zur Verfügung gestellt. 43 44 45 46 47 48 49
Panizzolo (1982: 26). Panizzolo (1982: 27). Anliker (1987: 36). Burri et al. (1993). Iivonen (1983: 48); Iivonen (1994: 325f.). Takahashi (1996). Werlen (2000).
17 Ich selbst habe 1993 meine Lizentiatsarbeit zum Thema der Aussprache der Standardsprache in der deutschen Schweiz geschrieben. Die darin präsentierten Daten beruhen auf dem Material, das hier als Korpus A (—> Kap. 4.1) bezeichnet wird; alle relevanten Ergebnisse sind in der vorliegenden Arbeit enthalten.50 Zusätzlich wurde für die vorliegende Untersuchung die Datengrundlage durch ein zweites Korpus erweitert und der theoretische Teil wurde stark ausgebaut. Von grosser Wichtigkeit für die Interpretation des Schweizerhochdeutschen ist auch der Vergleich zu den beiden anderen nationalen Varietäten der deutschen Standardsprache. Für Deutschland liegen verschiedene Untersuchungen zu einzelnen Aspekten vor, die hier nicht alle genannt werden können. Von besonderer Wichtigkeit ist die hervorragende Untersuchung von Werner König.51 Das Material ist ausserordentlich umfangreich, es umfasst von 44 jungen, gebildeten Sprecherinnen aus dem gesamten Gebiet der damaligen Bundesrepublik je etwa 1500 vorgelesene Wörter und Minimalpaare. Die sehr genau transkribierten Realisierungen der einzelnen Laute werden in zahlreichen Tabellen und Karten dargestellt und diskutiert. Die Aussprache des österreichischen Deutsch wird von Michael Bürkle untersucht.52 Bisher liegen die Ergebnisse zu den Nebensilben vor. Bei der Versuchsanordnung folgt Bürkle König, wodurch ein optimaler Vergleich der Daten ermöglicht wird.
50 51 52
Hove (1993). König (1989). Bürkle (1995).
3
Die Aussprachenorm der deutschen Standardsprache
3.1
Problematik
3.1.1
Zum Β egriff Norm
Der Normbegriff, der hier verwendet wird, ist ein präskriptiver. (Sprach-jNormen sind explizite Urteile über sprachliche Varianten. Sie bestehen darin, dass von den bei der Realisierung einer Variable vorkommenden Varianten eine ausgewählt wird und deren Verwendung in der Varietät, für welche die Norm gilt, für obligatorisch erklärt wird. Diese Varianten gelten dann als normgerecht, wodurch die anderen, nicht ausgewählten Varianten implizit oder explizit als normwidrig gelten. Sprachnormen sind metasprachliche Äusserungen, die nicht unabhängig von ihren sprachlichen Formulierungen existieren.1 Im Gegensatz dazu sind Regeln „etwas, denen Menschen, wenn sie sprachlich handeln, folgen."2 Sie bilden die „kognitive Realität, die den Regularitäten des Sprachverhaltens zugrundeliegt".3 Sprachnormen können in allen Varietäten vorkommen. So könnte man sich zum Beispiel durchaus für das Schweizerdeutsche eine Situation vorstellen, in der ein Mädchen zu einem anderen sagt: „Es häisst nöd Pferd, sondern RossV Personen, die das Sprachverhalten anderer korrigieren, betrachten aus irgendeinem Grund eine bestimmte sprachliche Variante als „richtig" oder „besser" und schreiben deshalb anderen vor, genau diese und nicht irgendeine andere Variante zu verwenden. Ein spezieller Fall solcher Präskription ist die Sprachplanung, denn sie erfasst nicht nur eine einzelne Variable, sondern systematisch eine ganze Varietät. Sprachplanung besteht aus Korpusplanung, die das System einer Varietät betrifft, und Statusplanung, die die Funktion einer Sprache oder Varietät betrifft.4 Bei der Korpusplanung werden Normen erstellt, die die Realisierungen sämtlicher sprachlicher Variablen festlegen. Diese Arbeit wird meistens von Sprachwissenschaftlerinnen geleistet, teilweise in institutionellem oder staatlichem Auftrag. Explizite Sprachplanung erfolgt in erster Linie bei Standardsprachen, obwohl auch deskriptiv angelegte Studien, zum Beispiel zu Dialekten, oft präskriptive Züge aufweisen.5 Bei Standardsprachen jedoch kann es als eines ihrer Kennzeichen betrachtet werden, dass sie der Sprachplanung unterliegen. Die Gesamtheit der Vorschriften, welche die Realisierungen der sprachlichen Variablen einer Varietät regeln, wird hier als Norm bezeichnet. Deijenige Teil der Norm, der sich auf die lautliche Ebene bezieht, heisst Aussprachenorm. Der Vorgang oder das Ergebnis der schriftlichen Niederlegung der Norm ist die Kodifizierung. Kodifizierungen sind zum Beispiel Grammatiken, Bedeutungswörterbücher, Rechtschreibwörterbücher oder Aussprachewörterbücher. Die wichtigsten Kodifizierungen der Aussprache der deutschen Standardsprache sind der Siebs, der Ausspracheduden und das Grosse Wörterbuch der deutschen Aussprache (GWDA). Wenn im Folgenden von der Aussprachenorm gesprochen wird, so ist 1 2 3 4 5
Haas (1998); ebenso Wiegand (1986). Wiegand (1986: 81). Haas (1998: 291). Coulmas (1985: 80). Berrendonner (1982: 113f).
19
die Varietät gemeint, die in diesen drei Kodifizierungen festgelegt ist. Nicht mitgemeint sind dagegen die in den schweizerischen Kodifizierungen festgelegten Varietäten (-> Kap. 3.3). Abschliessend soll der Begriff Norm dem in Kapitel 2 eingeführten Begriff Sprachkonvention gegenüber gestellt werden. Die Sprachkonvention ist das Prinzip, das dazu führt, dass eine Person ihre Sprache recht genau an diejenige ihrer Sprachgemeinschaft anpasst, und zwar von sich aus, weil sie sich möglichst konform verhalten will. Normen dagegen sind Vorschriften, mit denen eine (selbsternannte oder institutionalisierte) Autorität anderen Personen Anweisungen erteilt, wie sie zu sprechen oder zu schreiben haben. Diese Vorschriften können sich an die Sprachkonvention halten oder ihr widersprechen. Wird die Norm durchgesetzt, führt sie genauso wie die Sprachkonvention dazu, dass die betreffende Varietät relativ homogen ist.
3.1.2
Braucht es eine Norm?
Man kann sich die Frage stellen, ob sprachplanerische Eingriffe überhaupt nötig und sinnvoll sind oder ob sich eine Sprache nicht von selbst den Kommunikationsbedürfnissen der Gemeinschaft anpasst. Während bei Dialekten die Sprachkonvention dazu führt, dass die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft eine verhältnismässig homogene Varietät sprechen, brauchen Standardsprachen eine Norm, um eine gewisse Einheitlichkeit zu gewährleisten. Standardsprachen sind nicht nur bei ihrer Entstehung, sondern fortlaufend auf sprachplanerische Eingriffe angewiesen, weil die Sprecherzahl und das Ausdehnungsgebiet zu gross sind, als dass die Sprachkonvention alleine für Einheitlichkeit sorgen könnte. Die Norm und ihre schriftliche Festlegung in Kodifizierungen sind notwendig, damit mindestens theoretisch allen Sprachteilhaberlnnen der Zugang zur Norm gewährleistet ist. Die Kodifizierungen sind nicht nur im muttersprachlichen und fremdsprachlichen Unterricht unumgänglich, sie dienen auch als Richtlinien für die Sprachbenutzerinnen. Selbst wenn es viele Personen gibt, die nie eine Kodifizierung benutzen, ist es dennoch wichtig, dass die Möglichkeit besteht, nachschlagen zu können. Denn wird eine Kodifizierung als ganze anerkannt, dient sie nicht nur als Grundlage für den Erwerb der Norm, sondern sie erfüllt auch eine legitimierende Funktion, sie gibt dem sprachlichen Urteilsvermögen eine Berufungsinstanz. 6 Wird eine Variante in einer anerkannten Kodifizierung aufgeführt, wird sie als normgerecht betrachtet; fehlt sie dagegen, wird sie als normwidrig betrachtet. Die Kodifizierung verleiht Varianten somit standardsprachlichen Status. Gleichzeitig verleiht die Existenz einer Kodifizierung der gesamten Varietät einen gewissen Status. Während nur wenige Personen die Notwendigkeit einer Norm für die Bereiche der Rechtschreibung und der Grammatik bestreiten, wird die Notwendigkeit einer Aussprachenorm häufig bezweifelt. Dies geschieht vor allem deshalb, weil die Rechtschreibung in der Schule gezielt unterrichtet wird, die Aussprache der Standardsprache dagegen selbst in Diglossiesituationen in erster Linie durch den Austausch mit anderen Personen erworben wird. Denn auch in der Schule hat die Aussprache des Lehrers wohl einen grösseren Einfluss als die in einigen Lektionen behandelten Vorschriften oder die expliziten Korrekturen normwidriger Varianten. Zudem kann argumentiert werden, dass heute, im Gegensatz zu früher, mit dem sogenannten Mediendeutschen (—> Kap. 2) auch eine relativ einheitliche gesprochene Varietät überregional allen zugänglich ist. Der Sprachgebrauch zeigt jedoch, dass diese Zugäng6
Reichmann (1978: 402).
20 lichkeit alleine nicht ausreicht, damit sich alle Sprachteilhaberlnnen diese Varietät aneignen. In Kapitel 2 wurde gezeigt, dass sich Personen deutscher Muttersprache aufgrund der Aussprachekonvention hauptsächlich am Sprachgebrauch ihrer Gruppe und nicht am Sprachgebrauch einer anderen Gruppe oder an der Aussprachenorm orientieren. Beim Erwerb der Aussprache der Standardsprache brauchen Personen deutscher Muttersprache die Norm nur punktuell. Einige Vorschriften werden in der Schule gelehrt, in der Schweiz zum Beispiel die Verteilung der Ich- und Ach-Laute. Nachgeschlagen wird am häufigsten die Aussprache von Fremdwörtern und Namen. Was den Kernwortschatz betrifft, erfüllt die Aussprachenorm jedoch eher die Aufgabe der Legitimation. Die in den Kodifizierungen aufgeführten Varianten werden als standardsprachlich, die übrigen als nicht standardsprachlich betrachtet. Obwohl ein Zweck der Norm die Einheitlichkeit ist, kann sie dieses Ziel nie ganz erreichen. Sobald eine Sprache verwendet wird, gibt es Variation. Die schriftliche Festlegung einer Norm führt zwar dazu, dass sich die Sprache konservativ verhält, was der Verständigung über die Zeit förderlich ist. Doch selbst die Orientierung an der Norm kann nicht verhindern, dass die Standardsprache letztlich auch einem Wandel unterliegt. Wie eine Norm mit synchroner und diachroner Variation umgehen soll, ist das Thema des nächsten Unterkapitels.
3.1.3
Idealnorm versus tolerante Norm
In der deutschen Standardsprache herrscht heute eine relativ grosse Einheitlichkeit vor. Gleichzeitig existiert aber Heterogenität, die durch verschiedene Faktoren bedingt sein kann. Eigenschaften wie die regionale und soziale Herkunft, das Geschlecht, das Alter und der Bildungsgrad einer Person haben einen Einfluss auf ihre Sprache. Variation kann auch von der Situation, dem Stil und dem Ausdrucksmedium abhängen. Daneben gibt es auch freie Variation. Die Variation betrifft alle sprachlichen Ebenen. Die für eine Region, eine Gruppe oder einen Stil spezifischen Wörter und Redensarten sind auffällig, treten aber verhältnismässig selten auf; in der Regel ermöglicht der Kontext ihr Verständnis. Die lautliche Variation bewegt sich grösstenteils unterhalb der phonologischen Ebene, so dass auch sie kaum zu Verständnisproblemen führt. Die Unterschiede im Bereich der Intonation sind schwer fassbar, sie spielen aber beim Erkennen einer Varietät eine wichtige Rolle. An dieser Stelle soll erläutert werden, wie bei der Kodifizierung mit Variation umgegangen werden soll. Weil die zu berücksichtigenden Aspekte nicht für alle sprachlichen Ebenen dieselben sind, soll hier nur die Problematik der Aussprachenorm diskutiert werden, und zwar mit dem Schwerpunkt auf regional bedingter synchroner Variation. Die Frage, die sich in Bezug auf die Aussprachenorm stellt, ist die, ob eine Idealnorm postuliert werden soll, die eine vollkommen einheitliche Standardsprache vorschreibt, oder ob eine „tolerante" Norm angesetzt werden soll, die der tatsächlichen Sprachsituation Rechnung trägt, indem sie bis zu einem gewissen Grad Variation berücksichtigt. Den Begriff tolerante Nonn halte ich für etwas ungünstig, da Toleranz eine Eigenschaft ist, die eigentlich von den Sprachbenutzerinnen und nicht von der Norm zu erwarten wäre. Weil der Begriff in der Forschungsliteratur jedoch bereits diesem Sinn verwendet wird,7 wird er hier beibehalten.
7
Z.B. Reiffenstein (1983: 24).
21 Das Argument, das für eine Idealnorm ohne Variation spricht, ist dasjenige der Einheitlichkeit. Diese bildet die optimale Voraussetzung für die Kommunikation unter den Sprachteilhaberlnnen. Angesichts der oben beschriebenen Variation gibt es für die Aussprache jedoch keine Idealnorm, die mehr als einen Bruchteil der im deutschen Sprachraum tatsächlich gesprochenen Sprache umfassen würde. Betrachtet man Standardsprache als die durch eine entsprechende Idealnorm festgelegte Varietät, gäbe es demnach kaum Situationen, in denen die Standardsprache gesprochen würde. Die allermeisten Nicht-Berufssprecherinnen müssten dann von sich sagen, dass sie nicht die Standardsprache sprechen. Weil die Standardsprache aber ein Instrument der Kommunikation, insbesondere der überregionalen und der formellen Kommunikation ist, widerstrebt es ihrem Zweck, wenn sie als Varietät eines sehr kleinen Benutzerkreises definiert wird. Auch widerspricht eine solche Definition des Begriffs Standardsprache den Vorstellungen der Deutschsprachigen, da die meisten Äusserungen, die sie als standardsprachlich beurteilen, nicht in diesem Sinn als standardsprachlich gelten würden. Diese Diskrepanz zwischen dem linguistischen und dem alltagssprachlichen Konzept der Standardsprache ist äusserst unbefriedigend. Sie kann entweder dadurch behoben werden, dass der Sprachgebrauch der Norm angepasst wird, oder dadurch, dass die Norm dem Sprachgebrauch angepasst wird. Im ersten Fall ginge es darum, die Idealnorm durchzusetzen, indem die Leute dazu gebracht würden, nach der Norm zu sprechen. Da sich die Deutschsprachigen heute vor allem am Sprachgebrauch ihrer Umgebung orientieren, müssten verschiedene Druckmittel eingesetzt werden, um sie dazu zu bringen, ihre Aussprache nach der Norm zu richten. Würde dagegen die umgekehrte Lösung angestrebt, bei der sich die Norm dem Sprachgebrauch anpasst, müsste eine tolerante Norm postuliert werden, die ein gewisses Mass an Variation zulässt, so dass die meisten Äusserungen gebildeter Sprecherinnen, die als standardsprachlich intendiert sind und von den Hörerinnen auch als standardsprachlich beurteilt werden, auch mit der Norm übereinstimmen. Für die heutige Situation der deutschen Standardsprache scheint mir die zweite Lösung die bessere zu sein, und zwar aus folgenden Gründen: - Eine tolerante Norm ist aus sozialen Gründen zu befürworten, weil sie für die grosse Mehrheit der Deutschsprachigen erreichbar wäre und dadurch eher als Norm akzeptiert würde. Zwar argumentieren Befürworterinnen einer Idealnorm, dass eine Einheitssprache die Diskriminierung gewisser Schichten und Regionen unterbinden könnte. Weil eine akzentfreie Aussprache jedoch eines beträchtlichen Masses an Schulung bedarf, würde sie nur von sehr gebildeten Personen erreicht. Entgegen dem Ziel einer Einheitssprache würde die Diskriminierung aufgrund des Sprachgebrauchs dadurch nicht abgeschafft, sondern allenfalls verlagert. Statt über die regionale Herkunft würde die Aussprache etwas über den Bildungsgrad einer Person aussagen. Genau aus diesem Grund gibt es viele, die die Idealnorm als elitär abtun. Boesch schreibt in der Neufassung seiner Wegleitung: „Wir wünschen uns keine Hochsprache, um mit ihr im Leben des Alltags den Rang der Bildung zu dokumentieren." 8 - Wie in Kapitel 2 argumentiert wird, handelt es sich beim Deutschen um eine plurizentrische Sprache. Die drei nationalen Varietäten sind vom historischen und vom systematischen Standpunkt her berechtigt. Sie erfüllen in einer Sprachgemeinschaft eine wichtige Rolle bezüglich der Markierung der Gruppenzugehörigkeit und sollten deshalb nicht supprimiert werden. 8
Boesch, zitiert nach Schwarzenbach (1986: 103).
22 -
Die Aussprachenorm, im Gegensatz zum Beispiel zur Rechtschreibnorm, dient Personen deutscher Muttersprache weniger als Grundlage zum Erwerb als vielmehr als Berufungsinstanz, indem sie gewisse Varianten legitimiert, andere dagegen verbietet (—» Kap. 3.1.2). Es ist daher sinnvoller, wenn die Norm Varianten, die in einer Sprachgemeinschaft als standardsprachlich gelten, erlaubt, als wenn sie andere Varianten, die sowieso nicht erworben werden, vorschreibt. - Eine Norm, die zu einem engen System führt, wird dem Charakter der Standardsprache als Ausbausprache nicht gerecht. 9 - Als Einwand gegen eine Berücksichtigung regionaler und nationaler Varianten in Kodifizierungen wird manchmal die Gefahr des Auseinanderdriftens und letztlich der Spaltung in mehrere Sprachen genannt. Wegen der Nivellierung, die im mündlichen Bereich in erster Linie durch die Medien erfolgt, scheint mir diese Gefahr für die deutsche Sprache jedoch nicht zu bestehen. In Bezug auf die Austriazismen schreibt Moser, das bewusste Festhalten an österreichischer Spracheigenart „bedeutet nicht unbedingt eine Gefahr für die Einheit des Deutschen, und Widerstand gegen eine weitgehende / weiter als nötig gehende Anpassung an bundesrepublikanische Normen bedeutet nicht unbedingt Separatismus." 10 - Ein weiteres Argument, das manchmal genannt wird, ist die Angst, dass eine tolerante Norm das Niveau einer Standardsprache senke. Dieser Haltung liegt die Auffassung zugrunde, dass die Standardsprache etwas Elitäres und nicht ein Gebrauchsgegenstand ist. Auch der Vorwurf, dass mit nationalen Varietäten dialektal gefärbte Sprache zum Standard erhoben wird, ist kurzsichtig, wenn man bedenkt, dass der Standardisierungsprozess der deutschen Sprache ja gerade darin bestand, Varianten auszuwählen, die in einem oder mehreren Dialekten vorkamen (-» Kap. 3.2). Dass gewisse Varianten heute nicht als dialektal empfunden werden, ist allein der Geschichte zuzuschreiben. Für die Praxis der Sprachverwendung scheint es auf den ersten Blick keine Rolle zu spielen, ob eine Idealnorm postuliert wird, die von den meisten Sprecherinnen nicht erreicht wird, da diese weiterhin ihre regionalen Varianten verwenden, oder ob eine tolerante Norm postuliert wird, welche auch die nationalen Varietäten umfasst. Der Unterschied besteht jedoch im Status, den die einzelnen Varietäten erhalten. Wird nur eine Idealnorm postuliert, spricht eine Mehrheit der Bevölkerung nicht die Standardsprache oder sie spricht eine Standardsprache mit vielen „Fehlern". Diese Situation ist nicht nur unter dem theoretischen Blickwinkel unbefriedigend, sondern sie führt auch zu einer gespaltenen Haltung der Sprachbenutzerinnen: die Verwendung der regionalen Varietät ist zwar angemessen, aber normwidrig. Reiffenstein spricht von einem „permanenten Schuldgefühl". 11 Wenn ein Schweizer Kind in der Schule die lexikalische Variante Velo (,Fahrrad') und die Aussprachevariante ['im:sr] {immer) verwendet, soll diesen Varianten nicht der unrühmliche Status einer Abweichung, eines Nicht-Erreichens des Ziels zukommen, sondern sie sollen als standardsprachlich gelten. Aus diesem Grund wird hier für eine tolerante Aussprachenorm für die deutsche Standardsprache plädiert. Krech schreibt:
9 10 11
Reichmann (1978: 404); Kloss (1978: 17). Moser (1989: 9). Reiffenstein (1982: 11).
23 Die Zuordnung der deutschen Sprache zu den plurizentrischen ist jedoch keine Formsache. Sie verändert vielmehr im Grundsätzlichen die Sichtweise auf die deutsche Sprache und lässt den Gültigkeitsanspruch kodifizierter Normen in einem neuen Licht erscheinen. Denn: Die Akzeptanz unterschiedlicher nationaler Standardvarietäten schliesst ein, diese als gleichwertig und als vom Prinzip her gleichberechtigt anzusehen.12
Durch eine tolerante Norm wird synchrone Variation in einem bedingten Ausmass berücksichtigt. Um der diachronen Variation Rechnung zu tragen, bedarf die Norm ständiger Reform durch Neuauflagen ihrer Kodifizierungen.
3.1.4
Kriterien zur Auswahl der Varianten
Um eine Kodifizierung erstellen zu können, die auf dem Sprachgebrauch beruht, muss dieser als erstes erhoben werden. Daraufhin werden aus den vorhandenen Varianten einige ausgewählt und für normgerecht erklärt. Eine tolerante Norm steht dabei im Spannungsfeld zweier entgegengesetzter Prinzipien: einerseits soll die Norm so einheitlich wie möglich sein, um die reibungslose Kommunikation sicherzustellen, andererseits soll die Norm dem tatsächlichen Sprachgebrauch Rechnung tragen. Dieser umfasst aber in jedem Fall viel mehr Varianten, als in der Norm aufgenommen werden können. Es empfiehlt sich deshalb, bei der Auswahl der Varianten nach möglichst klar definierten Kriterien vorzugehen. Im Folgenden sind einige mögliche Kriterien aufgelistet: Kriterien des Sprachgebrauchs: a) die statistische Häufigkeit einer Variante Bsp.: Die Aussprache von intervokalischem wird verboten, weil sie weniger als 30% der Realisierungen ausmacht. b) die geographische Verbreitung einer Variante Bsp.: Die Aussprache von alveolarem [r] ist in der Schweiz erlaubt, weil diese Variante in der Schweiz vorherrschend ist. Diese beiden Kriterien betreffen den Sprachgebrauch. Da sich eine tolerante Norm, wie sie hier propagiert wird, dadurch auszeichnet, dass sie sich am Sprachgebrauch orientiert, kommt Kriterium (a) sicher eine besondere Bedeutung zu. Kriterium (b) ist notwendig, um nationale Besonderheiten zu kodifizieren. Kriterien der Verständlichkeit: c) die Verständlichkeit einer Variante Bsp.: Für die Aussprache des Diphthongs wird neben [ai] auch [aei ] erlaubt, weil diese Variante gut verständlich ist und nicht zu Missverständnissen führt. d) die Erhaltung der Oppositionen im phonologischen System Bsp.: Für die Aussprache des mit geschriebenen Langvokals wird die Realisierung mit geschlossenem [e:] verboten, weil sie mit den Realisierungen des mit geschriebenen Langvokals zusammenfällt. Bei diesem Kriterium ist allerdings vorauszusetzen, dass eine solche Differenzierung mindestens in formeller Sprache besteht, da es sich anderenfalls nicht um Erhaltung, sondern um (Wieder-)Einführung handelt. Diese beiden Kriterien sollen sicherstellen, dass keine Verständigungsprobleme auftreten. 12
Krech (1998: 164).
24 Kriterien für eine sehr differenzierte Norm: e) die Berücksichtigung der lautlichen Umgebung Bsp.: Die Fortisplosive müssen im Anlaut immer aspiriert werden. f) die Berücksichtigung von Einzelwörtern Bsp.: Der betonte Vokal des Worts werden kann als [e:] oder mit [ε] realisiert werden. Die Kriterien (e) und (f) sind für Kodifizierungen, die sehr differenziert vorgehen, relevant. Nicht zu berücksichtigende Kriterien: g) die Analogie Bsp.: Das Wort Tag wäre in Analogie zur Form Tage ['tha:g3] als [tha:g] auszusprechen. h) die Etymologie Bsp.: Der kurze