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German Pages 232 Year 1994
STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR
Herausgegeben von Wolfgang Frühwald, Georg Jäger, Dieter Langewiesche, Alberto Martino, Rainer Wohlfeil
Band 48
Julia Bobsin
Von der Werther-Krise zur Lucinde-Liebe Studien zur Liebessemantik in der deutschen Erzählliteratur 1770-1800
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1994
Ich danke dem Land Schleswig-Holstein für die Gewährung eines Promotionsstipendiums.
Redaktion des Bandes: Georg
Jäger
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Bobsin, Julia: Von der Werther-Krise zur Lucinde-Liebe : Studien zur Liebessemantik in der deutschen Erzählliteratur 1770-1800/JuliaBobsin.-Tübingen : Niemeyer, 1994 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur ; Bd. 48) NE: GT ISBN 3-484-35048-2
ISSN 0174-4410
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1994 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: l&f Verlag, Olshausenstr. 77, 24106 Kiel Druck und Buchbinder: Weihert-Druck, Darmstadt
Inhalt
1. Einleitung
9
1.1.
Themenstellung
1.2.
Zur Forschungslage
1.2.1.
Forschungslage I: Literatur und Gesellschaft
10
1.2.2.
Forschungslage II: Liebe - Literatur - Gesellschaft
12
1.3.
9 10
Die vorliegende Arbeit im Kontext der skizzierten Forschungspositionen
15
1.4.
Einführung in das Theoriegebäude Luhmanns: Gesellschaft - Semantik - Liebe - Individualität
16
1.5.
Vorgehensweise
20
2. Der außerliterarische Diskurs über Liebe, Ehe und Sexualität (Expositorische Texte I)
23
2.1.
Einleitung
23
2.1.1.
Zur Auswahl der Diskurse und der Textgrundlage
23
2.1.2.
Zum sozialgeschichtlichen Hintergrund
24
2.2.
Der Rechtsdiskurs
26
2.2.1.
»Vorgeschichte«: Das Kirchenrecht
26
2.2.2.
Weltliche Ehegesetzgebung
28
2.2.3.
Der rechtsphilosophische Diskurs
31
2.3.
Der medizinische Diskurs
34
2.4.
Der pädagogische Diskurs
40
2.5.
Der popularphilosophische Diskurs
48
2.5.1.
Varianten des aufklärerischen Modells
49
2.5.2.
Ansätze der neunziger Jahre
56
2.6.
Zusammenfassung
72
3. Die Liebessemantik in der Literatur
76
3.1.
Zur Liebessemantik in Goethes
3.1.1.
»Die Leiden des jungen Werthers« (1774) Umriß der neueren Werther-Forschung
3.1.2.
Die »Vorgeschichte« des »Werther«
80
3.1.3. 3.1.4.
Die herkömmliche Ehe: Lotte - Albert Die Werther-Liebe
82 85
76 76
5
3.1.5. Die Reaktionen der Zeitgenossen 3.2. Jean Pauls »Hesperus oder fönfiindvierzig Hundsposttage« (1795) 3.2.1. Zur Forschungslage 3.2.2. Vorgehensweise 3.2.3. Die Darstellung der höfischen Liebe im »Hesperus«: Das negative Modell - Galanterie und amour passion 3.2.3.1. Unreflektierte Sinnlichkeit 3.2.3.2. Die Dominanz des Sozialen: Mangelnde Individualität der höfischen Liebe 3.2.3.3. Zweckrationalität als Kardinalvorwurf 3.2.4. Jean Pauls Metaphysik und Ästhetik 3.2.5. Das Konzept der >hohen Seelenliebe< 3.2.5.1. Die vier Sinnbereiche des Codes 3.2.5.2. Die Form des Codes 3.2.5.3. Die Begründung der Liebe 3.2.5.3.1. Die Liebe Viktors und Emanuels 3.2.5.3.2. Die Liebe Viktors und Klotildes 3.2.5.4. Die Aussparung der Sexualität 3.2.5.5. Die Anthropologie der >hohen Seelenliebe< 3.2.6. Die zeitgenössische Rezeption des »Hesperus« 3.3. Exkurs: Die philosophische Diskussion über Sinnlichkeit und Vernunft im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts: Zur >Vorgeschichte< von Friedrich Schlegels »Lucinde« (Expositorische Texte II) 3.3.1. Kant 3.3.2. Schiller 3.3.3. Fichte 3.3.4. Schelling 3.3.5. Zurück zur Geschlechterphilosophie: W. v. Humboldt und Fichte (Die Ehelehre) 3.4. Die Liebe in Schlegels »Lucinde« (1799) 3.4.1. Forschungstendenzen 3.4.2. Die »Lehijahre der Männlichkeit«: Obsolete Codierungen 3.4.3. Zur Poetologie Schlegels (I): Die »neue Mythologie« 3.4.4. Die »Lucinde« als »neue Mythologie« 3.4.5. Zur Poetologie Schlegels (II): Schlegels Ironiebegriff und die »Lucinde« 3.4.6. Wie modern ist die »Lucinde«? 3.4.6.1. Zur zeitgenössischen Rezeption des Romans 3.4.6.2. Julius und Lucinde - eine moderne Partnerschaft? 3.4.7. Zur Codierung der romantischen Liebe 6
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4. Zur Funktionalität von »Liebe« und »Literatur« im Prozeß der gesellschaftlichen Modernisierung 4.1. 4.2.
Liebe und gesellschaftliche Modernisierung Literatur und gesellschaftliche Modernisierung
193 193 201
Bibliographie
209
Namensregister
231
7
1.
Einleitung
1.1. Themenstellung Werther, Viktor und Julius, drei halbwegs vermögende, unverheiratete, gebildete junge Männer, alle drei begabt mit künstlerischer Sensibilität, treffen nach desillusionierenden Erfahrungen in einer materialistischen, zweckrational ausgerichteten Welt schließlich doch auf die Frau ihres Lebens: Werther wird sich bekanntermaßen am Ende selbst töten, weil sein Liebeswunsch unerfüllt bleibt - Viktor verspürt, trotz erfolgter Verlobung mit der empfindsamen Klotilde, eine Unruhe und Sehnsucht, die in dieser Welt nicht befriedigt werden kann - allein Julius scheint eine vollkommene, glückliche Liebesbeziehung zu Lucinde zu gelingen, die auch den Verlust von sozialen Außenweltbeziehungen zu kompensieren vermag. Goethe, Jean Paul und Friedrich Schlegel lassen den gleichen jungen Mann innerhalb eines Zeitraums von 25 Jahren ganz unterschiedlichen Frauen begegnen und ganz unterschiedliche Liebeserfahrungen erleben. »Man hat insgesamt« - so resümiert Niklas Luhmann in seiner Untersuchung zur »Codierung von Intimität«1 den Eindruck, daß die Unterschiede von Autor zu Autor in dieser Zeit größer sind als die Unterschiede zwischen den historischen Epochen. Keine Leitdifferenz kann sich durchsetzen [...] Die Semantik der Intimität wirkt vorübergehend wie ein strukturiertes Chaos, wie eine gärende, sich selbst anheizende Masse [...].
Der vorliegenden Arbeit geht es um die >Struktur< dieses >Chaos verordnet ; die »eigentliche« menschliche »Substanz« aber sei die »Innerlichkeit«, das unverwechselbare Gefühl - oder, wie Werther es emphatisch nennt, das »Herz«. Wenn Identität nicht mehr qua Geburt, qua Schichtenzugehörigkeit zugeschrieben wird wie in den alten Gesellschaften, wird Identitätsfindung zum Problem und zur lebenslangen Privataufgabe. 38 Der epochale soziale Wandel muß notwendigerweise Veränderungen im semantischen Apparat nach sich ziehen, wenn auch keine monokausale Richtung zwischen Gesellschaftsstrukturwandel und Veränderungen in der Semantik besteht. Diese kann sozialen Wandel präjudizieren, begleiten und nachvollziehen. Der evoluierenden Semantik ist eine sanftere Mischung von Kontinuitäten und Diskontinuitäten möglich als dem realgeschichtlichen Wandel:39 Evolutionäre Übergänge können über die Semantik an provisorischer Plausibilität40 gewinnen, die Semantik kann den sozialen Wandel erträglicher machen, indem sie noch stark an obsolet werdende Denkmodelle rückbindet, und sie kann den Wandel auch vorbereiten, wenn sie reich genug ausdifferenziert ist. Je komplexer die Gesellschaft ist, desto schwieriger gestaltet sich die Kommunikation. Die gemeinsame Sprache allein verbürgt noch keine Einigung auf kooperatives 36
37 38
39 40
18
Vgl. Luhmann, Passion, S. 15: Man könne »nicht davon ausgehen, daß der Bedarf fur persönliche Individualität und die Möglichkeit, sich selbst und andere als einzigartig zu stilisieren, durch anthropologische Konstanten erklärt werden können; vielmehr korrespondieren dieser Bedarf und seine Möglichkeit, in kommunikativen Beziehungen Ausdruck und Anerkennung zu finden, mit sozialstmkturellen Bedingungen [...].« Luhmann, Gesellschaftsstruktur, Bd.3, S. 158f. Hannelore Orth-Peine vollzieht anhand umfangreichen autobiographischen Materials die mühevolle (onto- und phylogenetische) Umstellung von Rollen-auf Ich-Identität nach, vgl. H. Orth-Peine: Identitätsbildung im sozialgeschichtlichen Wandel, Frankf./M. 1990. Vgl. auch Thomas Luckmann: Persönliche Identität, soziale Rolle und Rollendistanz. In: Identität, hrsg. v. Odo Marquard u. Karlheinz Stierle, München 1979 (= Poetik und Hermeneutik Vin), S. 293-313. Luhmann, Gesellschaftsstruktur, Bd.3, S. 7. Luhmann, Passion, S. 50.
Interagieren, besonders nicht über räumliche und zeitliche Distanzen hinweg. Zur Erklärung der Art und Weise, wie die an sich unwahrscheinliche Kommunikation beispielsweise zwischen zwei psychischen Systemen zustande kommt, fuhrt Luhmann das Theorieelement des »symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums« ein.41 Dieses >Medium< steigert - über Wert/Unwert-Dichotomisierung, also über einen Präferenzcode-die an sich unwahrscheinliche Wahrscheinlichkeit der Annahme von Selektionen, d.h. z.B. der Übernahme von Alters idiosykratischen Selektionen als Orientierungspunkt für Egos Handeln.42 In diachroner Sicht gehen symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien der Systembildung voran: Sie differenzieren sich über im Prozeß der sozialen Evolution entstandene Kommunikationsprobleme aus, sie bilden-wenn sie erfolgreich operieren ~ 43 soziale Systeme aus und tragen zu ihrer Stabilisierung bei. In seiner Arbeit zur »Liebe als Passion« vertritt Luhmann die These, »Liebe« differenziere sich im 18. Jahrhundert - über eine Semantik von »Passion« - als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium aus, um das gesellschaftsevolutionär entstandene Problem »Individualität« zu behandeln und sozial zu integrieren.44 »Liebe« ist bei Luhmann ein »Kommunikationscode, nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken, bilden, simulieren, anderen unterstellen, leugnen [...] kann«. 4 ' »Liebe« wird also nicht, oder nur ganz entfernt, als Gefühl behandelt, sondern als ein Verhaltensmodell, das, in historisch spezifischer Codierung, Vorgaben zum Fühlen, Kommunizieren und gemeinsamen Handel vergibt. Der Code dient der Reduzierung einer unübersichtlich komplexen Umwelt hin auf ein möglichst einfaches und effektives Raster der Wahrnehmung und der Limitierung von Kontingenz in Interaktionen, er stabilisiert also Erwartungshaltungen und Handlungsabläufe und sorgt so für eine berechenbare Umwelt. Theoretisch kann ein Code nur so lange in seiner jeweiligen Ausprägung bestehen, wie er angemes41
42
43 44 43
Vgl. seinen Aufsatz: Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien, in: Ders.: Soziologische Aufklärung 2, S. 170-192; vgl. auch zum Problem der unwahrscheinlichen Kommunikation Luhmann: Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation, in: Ders.: Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Opladen 1981, S. 25-34. An dieser Stelle zeigt sich - so Jan Künzler - die entscheidende Differenz zwischen Parsons' und Luhmanns Medientheorie: Was bei Parsons noch als intersystemisches Austauschmedium auf makrosoziologischer Ebene konzipiert war, wird bei Luhmann Kommunikationsmedium zur Behandlung des Problems der doppelten Kontingenz; s. Jan Künzler: Grundlagenprobleme der Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien bei Niklas Luhmann, in: Zeitschrift für Soziologie 16 (1987), S. 321. Zu den Bedingungsfaktoren für den Erfolg der Medien siehe Luhmann: Einführende Bemerkungen, S. 180ff. Luhmann, Passion, S. 15. Luhmann, Passion, S. 2 3 - Natürlich hat es auch in der Antike und im Mittelalter Liebessemantiken gegeben (Ovid, Andreas Capellanus, Petrarca) - nie aber kam der Liebe gesamtgesellschaftliche Relevanz zu, nie wurde sie institutionalisiert, etwa durch die Ehe. Sie blieb bis ins 18. Jahrhundert in einer Art außergesellschaftlichem Raum - eine Krankheit, eine Leidenschaft, nach deren Abflauen man dann geheilt und vernünftig wieder ins soziale Leben eintrat. 19
sene Möglichkeiten zur Erfassung und Strukturierung von Realität bereitstellt. Während der Evolution von Gesellschaft entsteht aufgrund von Differenzierungen immer größere Komplexität, so daß das soziale System an einem gewissen Zeitpunkt notwendigerweise einen Zustand erreichen wird, in dem die Codierung von Interaktionen die Kompliziertheit der Realität, die Vielzahl der Lebens- und Erfahrungsbereiche, nicht mehr verarbeiten kann. Der evolutionäre Erfolg des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums zur Codierung von Intimität hängt von seiner Kompatibilität mit Umweltsystemen ab: >Umwelten< aber fur das Medium »Liebe« sind - wie für alle anderen Medien auch - organische, psychische und soziale Systeme, und deren - historisch variable >Bedürfhisseliterarischem< Wissen beachtet werden. Aus der Berücksichtigung einer möglichen Sonderrolle der Literatur ergeben sich eventuell nicht zuletzt auch Hinweise auf die Funktion der Literatur im Prozeß der sozialen Modernisierung.
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Vgl. Jan Künzler: Talcott Parsons' Theorie der symbolisch generalisierten Medien in ihrem Verhältnis zu Sprache und Kommunikation, in: Zeitschrift für Soziologie 15 (1986), S. 422-438. Sprache - so Luhmann - transportiere keine Präferenzen; die Motivation zur Selektionsannahme bedürfe daher »Zusatzeinrichtungen«, eben der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien - hier deutet sich eine Konfundierung von Medium und Code an, die so wohl nicht intendiert ist. Ausführlich zu den Schwächen des Sprachverständnisses bei Luhmann Künzler (1987), S. 322ff. In seinen zwei wichtigsten Aufsätzen zur Kunst - Ist Kunst codieibar? in: Soziologische Aufklärung 3, S. 245-266, und: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Pfeiffer (Hrsg.): Stil: Geschichte und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselementes, Frankf./M. 1987 (= stw 633), S. 620-672 - vernachlässigt Luhmann den Sonderfall »Literatur«: Denn Literatur arbeitet ja eben nicht nur mit einer »schön/häßlich«-Codierung.- Zur Kritik an Luhmanns Aufsätzen zur Kunst vgl. auch Schönert: The Reception (1990), S. 89-91, und Hempfer: Schwierigkeiten (1990), S. 15-36. Zur Kritik an Luhmann aus der Sicht der Literaturwissenschaft siehe auch Greis: Drama Liebe (1991), S. 9ff.
1.5. Vorgehensweise Die vorliegende Arbeit verfolgt die diskursive Durchsetzung des synthetischen Konzeptes der »romantischen« Liebesehe am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland. Sie beleuchtet zunächst - in einem »diskursanalytischen« Teil (siehe Kap. 2) - s o die in Sachtexten der Zeit dokumentierten, je subsystemspezifisch profilierten Zugangsweisen des Rechts, der Medizin, der Pädagogik und der Popularphilosophie zu Ehe, Sexualität und Liebe. Die juristischen, medizinischen, pädagogischen und popularphilosophischen Diskurse deuten, indem sie sich hartnäckig dem Thema der »Ehe« zuwenden, hin auf die steigende soziale Relevanz der Intimbeziehungen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts und belegen - soviel sei vorweggenommen - eine Krise der traditionellen Institution Ehe, die die Sachtexte mit den ihnen zur Verfugung stehenden Mitteln abzuwehren versuchen.- Die >hohe< Literatur hingegen, die sich in dieser Zeit aus der aufklärerischen, gelehrt-didaktischen Literatur ausdifferenziert, wendet s i c h - s o soll am »Werther«, am »Hesperus« und an der »Lucinde« gezeigt werden - ebenfalls der Behandlung der Liebes- und Eheproblematik zu - allerdings unter im Verhältnis zu den Sachtexten signifikant veränderter Problemstellung. Bei den drei literarischen Werken handelt es sich um viel interpretierte, kanonisierte Texte der deutschen Literatur, entsprechend überwältigend ist die Menge der Forschungsliteratur. Die Abrisse der Forschungslinien jeweils zu Beginn der Interpretationskapitel können nur einer schnellen Orientierung und Situierung der vorliegenden Analyse im Feld der Forschungsmeinungen dienen. Die vorliegende Arbeit bemüht sich einerseits, möglichst nah an dem Thema der Liebe im Roman zu bleiben und Hinweise auf Zusammenhänge des Liebeskonzeptes mit anderen autorspezifischen Annahmen, z.B. seiner Metaphysik, Ästhetik oder Politik, so knapp zu fassen, wie es ohne Simplifizierung geht. Die untersuchten Romane sind aber andererseits derart unterschiedlich und komplex, daß ihre Eigenarten nicht ignoriert werden dürfen, indem lediglich das Liebeskonzept extrahiert würde - dieses ist ohne eine Berücksichtigung anderer autorspezifischer Auffassungen häufig nicht zu begreifen. Die Interpretation der drei Romane (Kap. 3) wird - über eine Analyse der figuralen Interaktionen-jeweils das als positiv gewertete Liebeskonzept vor seiner Negativfolie herausarbeiten und-soweit möglich-mit Hilfe der Kategorien Luhmanns die vier Sinnbereiche der Codierung benennen: 1.) die Form des Codes, 2.) die Begründung der 50
Wenigstens in zwei Punkten schließt dieser Teil an Anregungen Foucaults an: 1.) »Wissen« wird nicht reduziert auf »wissenschaftliches Wissen«: Popularphilosophie, Pädagogik, Rechtsprechung und Literatur produzieren und verarbeiten kulturelles Wissen wie auch die im strikteren Sinne wissenschaftlichen Diskurse der Philosophie und der Medizin - 2.) Eine Analyse verschiedener subsystemspezifischer Auffassungen von Liebe, Ehe und Sexualität zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt vermag erst die Koordinaten vorzugeben fur die Bestimmung eines Standpunktes, den ein bestimmter Autor, ein einzelnes Subjekt innerhalb des Diskurses überhaupt einnehmen konnte. Vgl. Michel Foucault: Archäologie des Wissens, übersetzt von Ulrich Köppen, Frankf./M. 1981 (= stw 356), S. 258ffu. S. 285. 21
Liebe, 3.) das Problem, auf das die Veränderung reagiert, indem sie es einzubeziehen sucht, und 4.) die Anthropologie, die sich dem Code zuordnen läßt.51 Über die zeitgenössische Rezeption der Romane, die in jedem Fall auffallig, wenn nicht spektakulär verlief, ergibt sich ein direkter Rückbezug zu Kap. 2. Autorenäußerungen sowie leserlenkende Bemerkungen des Herausgebers oder Erzählers über die intendierte Wirkung ihrer Erzählung können im Vergleich mit zustimmenden oder abweichenden Rezeptionszeugnissen Hinweise geben auf die subsystemspezifischen Leistungs- und gesamtgesellschaftlichen Funktionszuschreibungen an Liebe und Literatur am Ende des 18. Jahrhunderts. Ein Rückblick von heute - und hier beginnt die Spekulation - könnte über die gesamtgesellschaftliche Funktion von Liebe und Literatur im gesellschaftlichen Modernisierungsprozeß reflektieren,52 ein Zusammenhang, der den Zeitgenossen notwendigerweise stellenweise hat verborgen bleiben müssen.
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S. Luhmann, Passion, S. 5 Iff. - und ggf. an die epochalen Funktionszuweisungen anschließen, die Schönert skizziert, in: Gesellschaftliche Modernisierung und Literatur der Moderne, in: Christian Wagenknecht (Hrsg.): Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des IX. Germanistischen Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft Würzburg 1986, Stuttgart 1988, S. 393-413.
2.
Der außerliterarische Diskurs über Liebe, Ehe und Sexualität1 (Expositorische Texte I)
2.1. Einleitung 2.1.1. Zur Auswahl der Diskurse und der Textgrundlage Im folgenden sollen die Diskurse des Rechts, der Medizin, der Pädagogik und der popularphilosophische Diskurs gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu ihrer Liebes- und Eheauffassung beiragt werden. Die genannten Diskurse sind diejenigen, die Liebe, Ehe und Sexualität thematisieren.2 A. W. Hupel, der Verfasser einer popularphilosophischen Untersuchung über den »Zweck der Ehe« (1771, s. Kap. 2.4.1.) nennt Priester, Philosophen, Rechtslehrer und Ärzte als diejenigen, die sich zu Ehefragen äußern, der Gegenstand habe sich im Laufe der Zeit auf alle vier Fakultäten verteilt. Die Erstellung des Korpus expositorischer Texte orientierte sich möglichst an solchen Texten, deren Repräsentativität durch Auflagenzahl, aber auch durch Querverweise und Zitate in anderen zeitgenössischen Texten einigermaßen gesichert erschien. Die Beschaffung von Texten aus dem Zeitraum vor 1800 ist bekanntlich problematisch; viele der Quellen, die noch bei Kluckhohn aufgeführt werden, sind inzwischen verloren gegangen. Im vorliegenden Kapitel wird in einiger Ausführlichkeit zitiert werden. So werden auch zentrale Argumentationsmuster und individuelle Nuancen zwischen den Autoren sichtbar. 1
2
Vgl. zur allgemeinen Einführung in die einzelnen Diskurse des 18. Jahrhunderts die schon systemtheoretisch profilierten Zusammenfassungen der Forschungsergebnisse bei Siegfried J. Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert, Frankf./M. 1989. Der beginnende nationalökonomische Diskurs interessiert sich zunächst nicht dafür, die Hausväterliteratur, eine Art Wirtschaftslehre auf Mikroebene, befürwortet die Gleichberechtigung der Frau im Sinne einer möglichst effektiven Haushaltsführung. Idealerweise - so Christian Friedrich Germershausen noch 1778 - gebe der Mann der Hausmutter einen genauen Einblick in alle seine Geschäfte, das steigere einerseits ihre Motivation zur vollen Unterstützung seiner Unternehmen, andererseits könne sie seine Geschäfte dann auch im Falle seiner Abwesenheit weiterführen. Die Planung und Koordination der Geschäfte soll von beiden Ehepartnern gemeinsam vorgenommen werden, wobei als einzige Leitlinie Effektivität gilt. Es könne durchaus vorkommen, daß die Frau geschickter sei als der Mann. In: C. F. Germershausen: Die Hausmutter in allen ihren Geschafften, Bd. 1-5, Leipzig 1779-81. Aussagen über die Ehe in Bd. 1 und 5.- Zur Hausväterliteratur vgl. auch Rainer Gmenter: Die Hausmutter in allen ihren Geschafften. In: Euphorion 57 (1963), S. 218-226, und ders.: Nachtrag zur Hausmutter, in: Euphorion 61 (1967), S. 155-162. 23
Die einzelnen Diskurse sind im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in Deutschland teilweise noch nicht so etabliert, daß sich auf ihnen regelrecht autonome soziale Subsysteme aufbauen: So benutzen Ärzte moralphilosophische und rechtliche, Moralphilosophen und Pädagogen medizinische Argumente. Aufmerksamen Beobachtern ist die Dynamik der Zeit und ihrer Konzepte offensichtlich nicht entgangen. Das Entstehen neuer Diskurse wird von den Zeitgenossen bemerkt und reflektiert: A.L. Schlözer z.B. weist auf die Notwendigkeit der Etablierung einer neuen Wissenschaft, der Politologie, hin;3 C.F. Germershausen begrüßt die neue Würde der »Ökonomie«,4 und K.G. Bauer berichtet, daß die neue »Erziehungskunde« ein »eignes Studium« geworden sei.3 Der Staat, die Nationalökonomie, das erziehungsbedürftige Kind - all das sind Konzepte, die erst im Verlaufe der gesellschaftlichen Differenzierung und Modernisierung hin zum funktional differenzierten Nationalstaat der Neuzeit entstehen und Relevanz gewinnen. Die These von der Verabschiedung der alteuropäischen, schichtenspezifischen Semantik bestätigt sich einmal mehr in solchen kleinen Randbemerkungen. 2.1.2. Zum sozialgeschichtlichen Hintergrund Die europäische Gesellschaft befand sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts in einer Krise der Sinngebung: Der Adel hatte - schon seit Beginn des 17. Jahrhunderts - an Geld, Macht und Ansehen verloren. Das soziale Konstrukt »Adel« selbst geriet allmählich an den Rand der Selbstauflösung, in Frankreich vor allem bedingt durch die Machtpolitik eines einzelnen absolutistischen Herrschers, der bürgerliche Funktionsträger in den Berufsadel, die noblesse de robe, erhob und damit die Identität des Geburtsadels massiv bedrohte.6 Die Interaktion innerhalb der politisch immer weniger relevanten Oberschichten verkam zu bloßer Salonkonversation, Etikette, involutiv gestalteter Geselligkeit und Verteidigung des seigneuralen Standesethos gegenüber bürgerlichen Aufsteigern.7 Der Hof als Zentrum gesellschaftlichen Lebens und Produktionsstätte kultureller Semantik verblaßte. - Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation ist die Situation besonders prekär. 8 Im 18. Jahrhundert setzt sich das deutsche Reich aus über
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24
Schlözer: Allgemeines Statsrecht und Statsverfassungslehre, Göttingen 1793, Vorrede. In: Die Hausmutter in allen ihren Geschäfiten, Leipzig 31782, Bd. 1, Vorrede. In: Über die Mittel, dem Geschlechtstriebe eine unschädliche Richtung zu geben, Leipzig 1791, S. 5. Vgl. Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Darmstadt 51981 (= Soziologische Texte; 54). Vgl. ebenfalls von Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde, Frankf./M. 1976 (= stw 158 u. 159). Vgl. Luhmann, Gesellschaftsstmktur, Bd. 1: Interaktion in Oberschichten, S. 72-162. Zur Einführung vgl. Helmuth Kiesel/Paul Münch: Gesellschaft und Literatur im 18. Jahrhundert. Voraussetzungen und Entstehung des literarischen Markts in Deutschland, München 1977, S. 13-76. Vgl. auch Friedrich Lütge: Deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Ein Überblick, Berlin/Heidelberg/New York 31966 und Hans-Ulrich
300 souveränen, politisch, ökonomisch, rechtlich, sozial und konfessionell ganz unterschiedlichen Partikularstaaten, dazu halbautonomen Territorien und Städten zusammen. Das Land leidet noch bis zur Jahrhundertmitte unter den Folgen des Dreißigjährigen Krieges, Armut und Entvölkerung. Nur langsam zeichnen sich Wege aus der Misere ab: Der Absolutismus wird etwas aufgeklärter, Bürokratie und Wirtschaft stärken den Einfluß nicht-adliger, gebildeter Bevölkerungsgruppen. Es gibt in Deutschland jedoch kein kulturelles Zentrum, kein breites, gebildetes Großstadtpublikum, keine klassische Nationalliteratur. Das absolutistische Frankreich - lange Zeit Vorbild deutscher Adelskultur - gerät zunehmend zur Zielscheibe der bürgerlichen Kritik. In Deutschland ist zudem die Kluft zwischen Aristokratie und bürgerlichen Schichten besonders groß, stärker als der französische oder englische Adel ist der deutsche um Abgrenzung gegen alles Bürgerliche bemüht - ein Zeichen für den Druck, der von der aufstrebenden bürgerlichen Schicht auf einen verarmten, >vorbürgerlich-verbürgerlichten< Adel ausgeübt wird, der sich praktisch kaum von den Aufsteigern unterscheidet. Die bürgerliche kulturelle Elite um 1790 ist verschwindend klein. Achtzig bis neunzig Prozent der Gesamtbevölkerung des Deutschen Reiches leben auf dem Lande und von der Landwirtschaft, die Analphabetenrate in Mitteleuropa liegt bei mindestens fünfundsiebzig Prozent.9 Der kleinen Schicht bürgerlicher Gebildeter obliegt es nun, die für die moderne Gesellschaft bestimmende gesellschaftliche Semantik zu produzieren. Sie artikuliert ihr Wertesystem, indem sie schreibt und publiziert. Im Mai 1795 beschreibt Goethe am Beispiel des Schriftstellers die schwierige Situation der bürgerlichen Intelligenz anschaulich wie folgt: Nirgends in Deutschland ist ein Mittelpunkt gesellschaftlicher Lebensbildung, wo sich Schriftsteller zusammenfänden und nach einer Art, in einem Sinne, jeder in seinem Fache sich ausbilden könnten. Zerstreut geboren, höchst verschieden erzogen, meist nur sich selbst und den Eindrücken ganz verschiedener Verhältnisse überlassen; von der Vorliebe fur dieses oder jenes Beispiel einheimischer oder fremder Literatur hingerissen; zu allerlei Versuchen, ja Pfuschereien genötigt, um ohne Anleitung seine eigenen Kräfte zu prüfen; erst nach und nach durch Nachdenken von dem überzeugt, was man machen soll; durch Praktik unterrichtet, was man machen kann; immer wieder irre gemacht durch ein großes Publikum ohne Geschmack, das das Schlechte nach dem Guten mit eben demselben Vergnügen verschlingt; dann wieder ermuntert durch die Bekanntschaft mit der gebildeten, aber durch alle Teile des großen Reichs zerstreuten Menge; gestärkt durch mitarbeitende, mitstrebende Zeitgenossen - so findet sich der deutsche Schriftsteller endlich in dem männlichen Alter, wo ihn Sorge fur seinen Unterhalt, Sorge für eine Familie sich nach außen umzusehen zwingt, und wo er oft mit dem traurigsten Gefühl durch Arbeiten, die er selbst nicht achtet, sich die Mittel verschaffen muß, dasjenige hervorbringen zu dürfen, womit sein ausgebildeter Geist sich allein zu beschäftigen strebt.10
9 10
Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700-1815, München 1987. Vgl. Kiesel/Münch, S. 162. Vgl. Goethes Aufsatz »Literarischer Sansculottismus«, in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hrsg. v. Erich Trunz, Bd. 12, München: Beck 101981, S. 241/42. 25
- Für die Liebessemantik bedeutet das Zerbrechen der Ständegesellschaft die Abkehr von der adligen Lebensweise des »ganzen Hauses«11 und der aristokratischen Repräsentationskultur generell. Die nationale bürgerliche Kultur, deren Selbstverständnis sich über eine moralische Verurteilung des (französischen) höfischen Absolutismus und der oberen Stände überhaupt erst ideologisch formiert,12 setzt in Negation der freizügigen Adelskultur - wie ganz allgemein aus dem folgenden hervorgeht - auf die Semantik von Intimität, Individualität und Vernunft, also auf das Modell der Kleinfamilie und der »häuslichen Glückseligkeit«.13 Bei der Auseinandersetzung mit den expositorischen Texten aus dem Untersuchungszeitraum - daran sei noch einmal erinnert - gilt es, stets die (categoriale Differenz zwischen realer sozialgeschichtlicher Ebene und Semantik zu beachten und in der Auslegung - soweit wie möglich - nur im Bereich der Semantik, der sozialen Sinnverarbeitungsregeln, zu verbleiben. In der »gepflegten Semantik«, dem schriftlich fixierten Wissen der Gesellschaft über sich selbst, erhält der Leser heute zudem in jedem Fall nur noch ein Derivat von der tatsächlich >real< bestehenden Ausprägung einer bestimmten Auffassung zu einem historisch spezifischen Zeitpunkt: Wieviel in einem Text der individuellen Intelligenz und Originalität eines Autors, wieviel den Darstellungskonventionen einer Textsorte zuzuschreiben ist und welcher Anteil Ausdruck eines allgemeinen Zeitgeistes ist, kann heute nur noch annäherungsweise festgestellt werden. Die Diskussion der expositorischen Texte über Liebe, Ehe und Sexualität benennt die Koordinaten, vor deren Hintergrund sich die literarisch entwickelten Liebeskonzepte profilieren.
2.2. Der Rechtsdiskurs Der juristische Diskurs interessiert sich für die intime Zweierbeziehung, insofern sie für Gesellschaft und Staat relevant ist, also in der Form der Ehe. 2.2.1. »Vorgeschichte«: Das Kirchenrecht Im Zeitalter der Aufklärung lösen das Gesetz des weltlichen Staates und der rechtsphilosophische Diskurs den immer weniger maßgebenden theologischen Diskurs über die 11
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Vgl. dazu den grundlegenden Beitrag von Otto Brunner: Neue Wege der Verfassungsund Sozialgeschichte, Göttingen 21968, S. 103ff. (Kap. VI); vgl. auch Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied-Berlin "1969, S. 60ff, und Norbert Elias, Höfische Gesellschaft, S. 70ff. So die These der bekannten Arbeit von Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankf./M. 1973 (= stw 36). Daß diese kollektive Innerlichkeit im Ganzen nicht als Rückzug der bürgerlichen Schichten zu verstehen ist, sondern als Vorstoß gegen die Adelskultur und als Gegenmodell, betont G. v. Graevenitz: Innerlichkeit und Öffentlichkeit. Aspekte deutscher »bürgerlicher« Literatur im frühen 18. Jahrhundert, in: DVjS 49 (1975), Sonderheft »18. Jahrhundert«, S. 1-82.
Ehe ab, der hauptsächlich die Sinnenfeindlichkeit der christlichen Religion mit der der Ehe zugestandenen Fortpflanzungsfunktion zu vereinigen gestrebt hatte: Die Ehe galt in den alten Gesellschaften nicht als persönliche Beziehung zwischen zwei Menschen, sondern beruhte auf einem mit wirtschaftlichen oder politischen Interessen verbundenen Rechtsakt zwischen zwei Familien:14 Liebe (verstanden als psychophysische Nähe) und Ehe waren kategorisch getrennt,13 der eheliche Beischlaf eine unumgängliche, keineswegs als lustvoll zu empfindende Pflicht, und die Untreue, der außereheliche Geschlechtsverkehr, eben deshalb eine Todsünde, weil er als mit Lust verbunden angenommen wurde: Sinnliche Lust aber - so die Befürchtung - entfernt den Menschen von der Religion. Seit der Reformation muß sich die Theologie allerdings schon mit einer doppelten Ehelehre behelfen:16 Einerseits mit der katholischen Auffassung der Ehe als unauflöslichem Sakrament,17 andererseits mit der lutherischen Bestimmung der Ehe, für die die Ehe keinen Sakramentcharakter hat, die deren soziale Form daher prinzipiell als Vertrag versteht, die sich aber gerade der > seelischem Komponente der ehelichen Gemeinschaft annimmt18 und so einem >modernenWirken< der Frau im Haus komme ihm befriedigender vor als die >Arbeit< der Männer: 144 145 146 147
Ebd., S. 75/76. Ebd., S. 97. Ebd., S. 124-26. K. W. von Drais: Drei Vorlesungen über Liebe, Geschlechter und Eheglück, dreien Damen gehalten, Gotha 1785, S. 61. 53
Die Männer mit all ihrem Bestreben arbeiten nur mittelbar und in der Ferne an ihrem besten Glück [...] wirkt aber nicht [...] die Gattin viel näher und viel mehr?«Damit das Haus zum Heim wird, muß es zuvor vom Charakter der Produktionsstätte, den es in den alten Gesellschaften gehabt hatte, gereinigt, der Arbeitsanteil muß herausgekürzt werden - die Frau darf nur noch »wirken«, sie soll nicht mehr »arbeiten«. Daher bedarf sie auch immer weniger der alten Hausväterliteratur (im Stile Germershausens) und immer mehr der Erziehungsschriften und der Moraldidaxe. Diese wendet sich speziell auch an gebildete, lesende Frauen, die - so wird unterstellt - von der Lektüre populärer Liebesromane so schwärmerische Erwartungen an die Ehe hätten, daß sie fur eine vernünftige Ehe verdorben würden.148 Von Drais fordert eine Herabstimmung von der »erhabenen Liebe«, wie sie der durchaus verehrte Dichter Klopstock darstelle, zur »edlen Liebe« in der bürgerlichen Ehe. Er definiert die realistischen Ansprüche der Frau: Aber wenn du nur keine Antipathie wider den Gegenstand, der übrigens schicklich gewählt ist, in dir ahndest und nur mit freundschaftlichen Empfindungen seine moralische Gute erkennst, so nimm seine Hand und warte dann auf eigentliche Liebe nicht vorher.149 Denn der Ehepartner ist die Summe seiner bürgerlichen Tugenden: Das nöthige Auskommen und die ganze bürgerliche Verfassung bedingen schon vielerlei zu einem schicklichen Gatten. Finden diese ihre Rechnung und findet zugleich deine Seele, wieder eine Seele: so fodere nicht auch Leidenschaft, sondern begnüge dich, keine sinnliche Abneigung zu verspüren.130 Von Drais geht auf die Diskussion der Geschlechtscharaktere ein: In den meisten Personen seien die Geschlechtscharaktere vermischt, allerdings kaum in einem gleichen Verhältnis: Eine Seite überwiege: »[...] etwa ein Drittheil männlichen Sinnes in den Charakter verbreitet, macht eine vortreffliche Frau.« Ähnlich nüchtern äußert er seine Vorbehalte gegen die angebliche Naturbestimmtheit der Geschlechter: Daß die Geschlechtscharaktere wie wir sie jetzt ausgebildet finden, ganz das Werk der Natur seyen - glaub1 ich nicht. Die Erziehung und das Herkommen haben auch daran formen helfen.151
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Ebd., S. 75. Die Klage über die Überspanntheit der Frauen durch falsche Lektüre findet sich auch in dem Ehestandsalmanach von 1798 (S. 253), bei S. Baur (Vorrede) und bei Carl Friedrich Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts. Ein Sittengemählde des Menschen, des Zeitalters und des geselligen Lebens, Bd. 3, Hannover 1799, S. 294. L. Meister: Sittenlehre der Liebe und Ehe, nebst einer Beylage über die helvetische Galanterie, Winterthur, neue durchaus vermehrte Auflage 1785, empfiehlt gezielt die Lektüre empfindsamer Romane von Rousseau und Richardson. Von Drais, S. 37. Ebd. Ebd., S. 52.
In der menschlichen Sittenordnung sei die Frau nun aber einmal zuständig für das häusliche Glück und der Mann fur die Verwaltung der öffentlichen Geschäfte: Nun bleiben schon aus dem Gegensaz, die öffentlichen Geschäften den Männern. Niemand - ich wiederhol es - sei so verwegen, der weiblichen Vernunft an sich dazu die Fähigkeit abzusprechen; wir haben große Regentinnen erlebt.1,2 In Adolph Freiherr von Knigges »Über den Umgang mit Menschen«, erstmals 1788 erschienen, geht es im ganzen etwas weniger bürgerlich zu.153 »Liebe« und »Ehe« sind für ihn im wörtlichen Sinne zwei verschiedene Kapitel, wobei für die Liebe - ob nun als adliger »Roman«, als »Possenspiel« des Amour Plaisir inszeniert oder als empfindsame Liebesgeschichte - 1 5 4 prinzipiell eine nur kurze Dauer gilt. Knigge funktionalisiert das Oberschichtenverhaltensmodell der Koketterie für die bürgerliche Ehediätetik: [...] man sei, selbst in der Ehe, schamhaft, keusch, delikat und kokett in Gunstbezeugungen, um Ekel, Überdniß und faunische Lüsternheit zu entfernen [,. .]155 die Frau soll also durch gezielte Verweigerung die Lust des Mannes zugleich erhöhen und domestizieren - eine subversive Idee, die sich auch in anderen Texten findet, z.B. bei Samuel Baur: Im Umgang mit Frauen wird der edle Jüngling das heilige Gelübde thun, mit Drang zu arbeiten, damit er einst auch auf den Besitz eines holden, unverfälschten Mädchens Anspruch machen kann136 bis in die Wortwahl hat hier das Tauschprinzip Eingang gefunden: Die Frau wird zur Ware, zur Lustprämie für geleistete Arbeit. In einem fiktiven Brief einer verheirateten Frau an ihre jüngere Schwester führt der Schweizer Leonard Meister in seiner 1785 erschienenen »Sittenlehre der Liebe und Ehe« das Prinzip der ehelichen Koketterie näher aus: Die Frau entzünde »mit der Fackel der Liebe die Opferflamme männlicher Tugend«: Und so schwer ihm auch die Arbeit des Tages, so abschreckend für ihn dieses oder jenes, entweder öffentliche oder Privatgeschäft seyn wird, wie sollt er sich denselben nicht unterziehn, wenn er zum voraus versichert seyn kann, daB vor Vollendung derselben für ihn keine Schäferstunde der Liebe erscheint?15'
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Ebd., S. 55. Bei Knigge ist das bürgerliche Modell der Kernfamilie allerdings deutlich vorhanden: Er polemisiert gegen die Einmischung von Verwandten, besonders von Tanten und bösen Schwiegermüttern, in die eheliche Beziehung, s. Adolph Freiherr von Knigge: Über den Umgang mit Menschen, hrsg. v. Alexander von Gleichen-Rußwurm, Berlin o.J., Nachdruck der dritten verbesserten und vermehrten Auflage von 1790, S. 160/61. Ebd., S. 164-66. Ebd., S. 150/51. Baur, S. 15. L. Meister: Sittenlehre, S. 65. 55
Lustbetonte Sexualität und häusliche Glückseligkeit sollen den Mann für seine im zweckrationalen Arbeitsbereich erfahrene Entfremdung von den affektiven und triebgesteuerten Komponenten seiner Persönlichkeit entschädigen. Die Frau hat ihren Wert als geliebtes Eigentum aber nur dann, wenn sie nur einem gehört: Wie S. G. Bauer (s. Kap. 2.4.) messen auch Knigge158 und S. Baur 159 die Tugend der Frau an ihrer »Keuschheit«. Die Treue der Frau avanciert allmählich zum Thema Nummer Eins: Aufgrund ihrer größeren Sinnlichkeit - die die zeitgenössische Medizin ja bezeugt - bedarf sie stärkerer Domestizierung, die u.a. durch Bildung geleistet werden soll. 160 Denn von der Treue der Frau hängen - so die Vorstellung - die Gesundheit des Mannes, die Erziehung der Kinder, die Häuslichkeit und die Ordnung von Erb- und Eigentumsverhältnissen, ja die Stabilität der gesellschaftlichen Verhältnisse insgesamt ab. Zwar bemerkt noch Knigge eine gewisse Ungerechtigkeit in dem verschärften Treuegebot an die Frau: Übrigens bleibt es doch immer gewaltig hart, daß wir Männer uns so leicht alle Arten von Ausschweifungen erlauben, den Weibern aber, die von Jugend auf durch uns zur Sünde gereizt werden, keinen Fehltritt verzeihn wollen, obgleich freilich fur die bürgerliche Verfassung diese größere Strenge gegen das schwächere Geschlecht sehr heilsam ist.161 Ein solches Problembewußtsein ist jedoch selten: Immer stärker wird zur Jahrhundertwende hin die Doppelformel von einer natur- und kulturbedingten Andersartigkeit der Frau eingesetzt, um den Lebensbereich der Frau auf den Privatbereich, das Familienleben festzulegen: Frauen sollen nichts als »würdige Gattinnen, weise Haushälterinnen, zärtliche sorgsame Mütter«162 sein. 2.5.2. Ansätze der neunziger Jahre Gegen Ende der neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts scheint sich der popularphilosophische Diskurs über Liebe und Ehe zu konsolidieren und an Systemcharakter zu gewinnen, unter anderem dadurch, daß die »Ehelehren« der maßgebenden Philosophen Kant und Fichte 163 sich allmählich verbreiten. Gleichzeitig werden die einzelnen Entwürfe zur Intimitätsauffassung immer elaborierter. Die Schrift des Philosophen K.H Heydenreich über »Mann und Weib« von 1798 bildet ein originelles Konglomerat traditioneller Versatzstücke und innovativer Akzentu158
Knigge, S. 179. Baur, S. 48. 160 vgl. ein frühes Beispiel für diese Haltung schon bei: Freyherr von Cronegk: Von der Zärtlichkeit, BreDlau und Leipzig 1765, S. 183: »Das Frauenzimmer hat mehr Empfindlichkeit, als moralischen Geschmack, mehr Schönheit, als moralische Fürtrefflichkeit; mehr Weichherzigkeit, als Zärtlichkeit. Indessen lehret die Erfahrung unserer aufgeklärten Tage, daß das Frauenzimmer seine natürliche Zärtlichkeit in eine moralische zu verwandeln fähig ist«, nämlich durch Bildung in Geselligkeit und vermittels Lektüre. 161 Knigge, S. 180. 162 So bei Meister, S. 4. 163 Zu Fichtes Ehelehre vgl. Kap. 3.3.5. 159
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ierungen.164 Ehezweck ist fur ihn die Fortpflanzung - Kinder erst begründen eine wahre Ehe. Sind Fortpflanzung und Ehe so eng verknüpft, muß sich der Philosoph gegen alle Spielarten unfruchtbarer Sexualität wenden. Der durch die »Geschlechtsliebe« veredelte Trieb wird als der natürliche gegen die übermäßige, daher unnatürliche Wollust abgesetzt, deren Paradigma die Onanie ist. Der solitäre Wollüstling erniedrige sich selbst zum Mittel, ihm ist die eigene Lust wichtiger als »Gottheit, Natur, und Menschheit«,165 sein Egoismus führe zum moralischen Tod des Herzens, und fur die Ehe und den Dienst der Fortpflanzung sei er für immer verloren. Lebendig sei allein seine Phantasie. 166 Heydenreichs Bewertung der Onanie entspricht der Kants: Unnatürlich heißt eine Wohllust, wenn der Mensch dazu nicht durch den wirklichen Gegenstand, sondern durch die Einbildung von demselben, also zweckwidrig ihn sich selbst schaffend, gereizt wird.167 Selbstbefriedigung - so Kant - sei nach der Meinung der Zeit verwerflicher als Selbstmord: Das Wort »Onanie« dürfe nicht ausgesprochen werden, das des Selbstmords schon: Der Suizid töte nur einen einzelnen, die Onanie aber sei ein Verbrechen an der Gattung der Menschheit. Zwar sei - so gibt Kant zu - der »Vernunftbeweis« für die Verwerflichkeit der Onanie »nicht so leicht geführt« - sein Kollege in der Philosophie, Christian Garve, meint z.B., die Onanie sei tierischer als die sexuelle Ausschweifung mit der Geliebten, halte aber den Menschen nicht so sehr wie jene von seinen Pflichten ab. 168 Der Beweis für die Schlechtigkeit der Onanie liege aber - so Kant - wohl darin, daß der Mensch seine Persönlichkeit wegwerfe, »indem er sich bloß zum Mittel der Befriedigung thierischer Triebe treibt.«169 Die Ehe ist für Heydenreich eine ehrwürdige, moralische, ja religiöse Verbindung, 170 in der es mehr um Verzicht und Opfer als um Vergnügen geht. Zwar versuchten Erzieher und Dichter, durch eine anziehende Gestaltung der »häuslichen Glückseligkeit« zur Ehe zu überreden: Wahre Moral aber lasse sich nicht von der Aussicht auf eine Belohnung ködern, sondern sei eine in Freiheit, mit Vernunft getroffene Entscheidung. Im häuslichen Bereich nämlich sei Enttäuschung vorprogrammiert171 - und da helfe nur die Besinnung auf die hohe Bedeutung der Fortpflanzung für die Menschheit bei gleichzeitiger Zurückstellung aller individuellen Wünsche:
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K. H. Heydenreich: Mann und Weib. Ein Beytrag zur Philosophie über die Geschlechter, Leipzig 1798. Ebd., S. 65. Ebd., S. 81. In: Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten (1797), hrsg. v. Karl Vorländer, Hamburg 1954, (Zweiter Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, § 7), S. 272. Christian Garve.: Über Gesellschaft und Einsamkeit, Bd. 1, Breslau 1797, S. 313. Kant: Metaphysik der Sitten, § 7, S. 273. Heydenreich, S. 194. Ebd., S. 28. 57
[...] sehen sie [die jungen Leute, d. Vf.] Ehe und häusliches Leben als Sache der Sittlichkeit, und nicht bloß als Quelle der sinnlichen Lust an, so werden sie gewiß mit Beschämung die Maxime einer Ehelosigkeit aus Luxus in sich auszutilgen suchen [...]172 hier klingt Kantischer Vemunftrigorismus an. Oberster Grundsatz ist für Heydenreich die Bewahrung der Freiheit des Menschen - indem für ihn aber die Natur noch Maßstab aller Bewertung ist, fallen Natur und Vernunft tendenziell zusammen, und der Sexualtrieb ist prinzipiell ein sittlicher Trieb: Liebe und Ehe gehören untrennbar zusammen: Der Zustand wahrer Verliebtheit zielt geradezu auf die Ehe, denn nur in dieser Verbindung kann der Geschlechtstrieb, vollkommen gemäß der Bestimmung und Würde der menschlichen Natur befriedigt werden, nur in ihr kann der Mensch jene Freuden rein und sicher genießen, welche mit der Veredlung jenes Triebes durch die Natur verknüpft sind.173 Und deutlich: »Nicht der Staat, nicht die Kirche haben diese Verbindung eingesetzt, sie ist eine Stiftung der Natur selbst [...]«. Auch der Geschlechtsunterschied, der sich nicht nur auf körperliche Unterschiede zwischen Mann und Frau beschränkt, ist ebenso wie die ganze Natur als Schöpfung Gottes gut und vernünftig: Er beruhe auf dem Schema von Kontrast und Harmonie. Identität finde der Mensch, indem er seine Geschlechtsrolle ausfülle und in der Ehe, die auf Liebe beruht, mit seinem Gatten >verschmelzein dem Leib die Seele zu suchen< - zur Deutung der Geschlechter beigetragen: Die Betrachtung und Vergleichung der äussern und innern Beschaffenheit des Körpers bey dem männlichen und weiblichen Geschlechte lehret uns, daß jenes zur Arbeitsamkeit und Stärke, dieses zur Schönheit und Fortpflanzung bestimmt sey.193 Die Frauen seien »viel reiner, zarter, feiner, reizbarer, empfindlicher, bildsamer, leitsamer, zum Leiden gebildeter« als Männer: »Geschaffen sind sie zu mütterlicher Milde und Zärtlichkeit! All ihre Organen zart, biegsam, leicht verletzlich, sinnlich und empfänglich.« 194 Die körperliche Verfaßtheit der Frau bestimmt ihre geistige Kapazität: »Sie denken nicht viel, die weiblichen Seelen. Denken ist Kraft der Mannheit. Sie empfinden mehr. Empfindung ist Kraft der Weiblichkeit.«195
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Ebd., S. 70. Ebd., S. 286. Der negative Frauentyp ist die erotisch aktive, freie Frau: Vgl. dazu die Aussage Leonard Meisters, Sittenlehre (1785), S. 4: »Nymphen und Göttinnen [...] entzücken wohl auf der Bühne; aber für unser häusliches Leben suchen wir nicht solche, wir suchen würdige Gattinnen, weise Haushälterinnen, zärtliche, sorgsame Mütter.« Pockels, Bd. 3, S. 287. Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, Leipzig/Winterthur, Zweyter Versuch 1776, Dritter Versuch 1777. Ebd. (1776), S. 158. Ebd. (1777), S. 294/95. Ebd., S. 295. - Lavater geht allerdings noch von symmetrischer Komplementarität der Geschlechter aus: »Nur durch den Mann ist sie stehend und gehend das Weib, das seine Weiblichkeit fühlt - aber auch nur durch das Weib ist der Mann das, was er seyn kann und soll. Daher nicht gut, daß der Mensch allein sey«, S. 297. 61
Pockels lehnt die Frau als Gelehrte oder Schriftstellerin ab: Wie Fichte will zwar auch Pockels der Frau an sich die menschlichen und bürgerlichen Rechte nicht nehmen - nur unter der Voraussetzung ihrer Menschlichkeit, ihrer Vernunftbegabtheit kann schließlich von ihr Triebkontrolle erwartet werden - : Die Frau besitze so viel Kopf und Scharfsinn, daß sie es selbst in höhern Wissenschaften weit bringen könnte; aber - sie mache davon keinen Gebrauch, weil dieß sie zu weit aus ihrer Sphäre hinausrücken würde.196 Die polare Geschlechterauffassung geht - systematisch konsequent - mit der Forderung nach erhöhter Kommunikation und Interaktion zwischen den Ehepartnern einher, die eheliche Verbindung reichert sich emotional an: Das wichtigste der »zehn Gebote des ehelichen Lebens«197 ist Pockels Aufforderung, die anfangliche Liebe im Laufe der Ehe nicht erkalten zu lassen, den »etwas exaltierten Zustand einer zärtlichen Leidenschaft« und »eine kleine Schwärmerei« beizubehalten: Der Kuß, den euch eure Gattin im zehnten Jahre der Ehe schenkt, muA euch noch so wie am Hochzeitstage begeistern und beglücken können [...] die Gattin muß euch lebenslang die liebenswürdigste und wichtigste Gefährtin eures Lebens bleiben.198 Die zweite Regel zielt auf die gegenseitige Veredelung der Ehegatten zu besseren Menschen, auf eine Annäherung an das Tugendideal. Wichtig ist in der Ehe vor allem Vertrauen, die Partner sollen keine Geheimnisse voreinander haben und alles offen besprechen können199 - die Erziehung der Kinder z.B. bildet einen Bereich, in dem Verständigung und Übereinkunft der Partner herrschen müsse, denn die Familie gleiche einem kleinen Staat, der nicht nach widersprüchlichen Prinzipien regiert werden könne. Dem Familien- und Eheglück wird »die große geräuschvolle Welt« als Negativfolie entgegengesetzt, die die Liebe und alle ihre Freuden »verpestet«. Das letzte der Ehegebote ist die unverzichtbare Ermahnung zum Maßhalten bei den Genüssen der körperlichen Liebe - »keusche Schamhaftigkeit und Zurückhaltung« bestimme das Verhalten der Gatten zueinander. Auch Herder geht es in seinem Aufsatz »Liebe und Selbstheit«200 von 1785 um eine Abwehr der reinen, kurzfristigen Sexualität. Er unterscheidet verschiedene Grade der 196 197
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Pockels, Bd. 3, S. 302. Aus: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts, als Einzeltext wieder abgedruckt als: Karl Friedrich Pockels: Die zehn Gebote des ehelichen Lebens, Hamburg 1951. Ebd., S. 10. Eine offene Kommunikation zwischen den Gatten befürworten auch von Drais, S. 94, und Zollikofer: Predigten, Bd. 2, S. 177/78: »Das Glück des häuslichen Lebens ist drittens die süßeste, freyeste Mittheilung, die innigste Gemeinschaft zwischen gleichgestimmten sich liebenden Seelen.« »Hier wechselt ein jeder das, was sein ist, gegen das, was des andern ist, aus, und giebt und empfängt gegenseitig Licht und Trost und Kraft und Zufriedenheit und Ruhe [...]«. In: Johann Gottfried Herder: Sämmtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, Berlin 1888, Bd. 15, S. 304-326.
Lust entsprechend dem jeweiligen Sinnesorgan, das die Empfindung produziert: Von den derberen und stärksten, aber auch kurzen sinnlichen Genüssen, die auf Vereinigung mit dem Gegenstand der Begierde, auf Einverleibung zielen (wie essen, riechen, aber auch Musik hören) bis zu den geistigeren, dauernden, aber auch schwächeren Genüssen, die zum Beispiel das Auge gewährt, zu denen Herder aber auch Liebe und Freundschaft zählt. Die unkörperliche Seelenfreundschaft - die »Venus Urania« - wertet Herder höher als die Liebe, die fur ihn im Zeichen der Aphrodite, der Sinnlichkeit steht: Die Freundschaft ist reiner und also gewiß auch mächtiger als die Liebe: denn wenn die Liebe sich zur Stärke und Dauer einer Ewigkeit erheben will, muß sie erst, von der groben Sinnlichkeit geläutert, ächte und wahre Freundschaft werden.201 Und: »Liebe soll uns zur Freundschaft laden, Liebe soll selbst die innigste Freundschaft werden.«202 Freundschaft, die »Ehe der Geister« (so eine Formulierung Voltaires), erwecke »edle Empfindungen, Bestrebungen, Thaten« - Herder befindet sich mit dieser Auffassung durchaus in guter Gesellschaft: Wieland z.B. gibt der Freundschaft ebenfalls den Vorzug vor der Liebe, da sie sozialer ausgerichtet, gesellschaftlich anschließbar ist. 203 Und Jean Paul wirbt in seinen Romanen ebenfalls, wie in Kap. 3.2. gezeigt werden soll, um eine die Sinnlichkeit exkludierende »hohe Seelenliebe«. Die >Ehe der Körper< hat für Herder einen Sinn nur in der Fortpflanzung und der >göttlichen< uneigennützigen Elternliebe. Die Ehe diene primär der Erziehung der Kinder, sie soll Freundschaft sein, nicht Leidenschaft: Nur so ist ihre Dauer garantiert. Neben dieser traditionellen dualistischen Auffassung findet sich bei Herder jedoch auch ein wichtiger innovativer Gedanke, er stellt eine Verbindung her zwischen Liebe und Freundschaft und der Konstitution eines Subjekts: »Bedeutung« entsteht durch Differenz: Jede Begierde nach sinnlichem und geistigem Genuß, alles Verlangen der Freundschaft und Liebe dürstet nach Vereinigung mit dem Begehrten, weil es in ihm einen neuen süßen Genuß seiner eigenen Wirklichkeit vorempfindet. Die Gottheit hat es weise und gut gemacht, daß wir unser Daseyn nicht in uns, sondern nur durch Reaction gleichsam in
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Ebd., S. 312. Ebd., S. 313. In der ersten Fassung des »Agathon« kommt es in Smyrna ja zu einer Körper und Seele verschmelzenden Liebesbeziehung zwischen Agathon und Danae, die alle Gesellschaft exkludiert. Diese Form der Intimbeziehung scheint Wieland zu exklusiv und asozial gewesen zu sein, so daß er die Beziehung zwischen Agathon und Danae am Ende in der utopischen Republik Tarent auf eine >bloße< Seelenfreundschaft zurückschraubt. Etwas mehr als dreißig Jahre später ist dann der gesellschaftliche Aspekt der intimen Beziehung fast schon irrelevant geworden: In Friedrich Schlegels »Lucinde« hat sich die soziale Außenwelt selbst schon als so negativ disqualifiziert, daß die Liebesbeziehung sie ignorieren muß, um positiv zu bleiben. 63
einem Gegenstande außer uns fühlen sollen, nach dem wir also streben, für den wir leben, in dem wir doppelt und vielfach sind.204 Das geliebte Gegenüber ist also unentbehrlich fur die Identität des Liebenden. Die >Seelen< der Liebenden dürfen aber nicht in bewußtloser Vereinigung verschmelzen - »wie Meeresschleim mit allem zusammenfließen«, wie es an anderer Stelle heißt:205 Bewußtsein ist die Voraussetzung fur Lust, Leben und Personalität: Wir sind einzelne Wesen, und müßen es seyn, wenn wir nicht den Grund alles Genußes, unser eigenes Bewußtseyn, über dem Genuß aufgeben, und uns selbst verlieren wollen, um uns in einem andern Wesen, das doch nie wir selbst sind und werden können, wieder zu finden. Selbst wenn ich mich, wie es der Mysticismus will, in Gott verlöre, und ich verlöre mich in ihm, ohne weiteres Gefühl und Bewußtseyn meiner: so genöße Ich nicht mehr; die Gottheit hätte mich verschlungen, und genöße statt meiner.206 Die Geschlechterpolarität, die die »Vorsehung« geschaffen hat, ist für Herder eine »schöne Weisheit der Natur«, die für Bildung, für »Modulation und Haushaltung des Verlangens« sorgt, für ein maßvolles gegenseitiges Geben und Nehmen: Wie dort zwei Lichter am Himmel, so hat Gott auf der Erde zwei Geschlechter geschaffen, die im Schwünge der Empfindungen sich einander das Gegengewicht leisten sollen. Eins ersetzt dem andern, was dem an Zartheit, diesem an Stärke abgeht [...] Einklang ist in dieser Ehe der Seelen weder angenehm noch nützlich, noch möglich. Consone Töne müßen es seyn, die die Melodie des Lebens und des Genußes geben, nicht unisone·, sonst verliert sich die Freundschaft bald in bloße Geselligkeit.207 Die Anstrengungen um den Liebesbegriff in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts kulminieren in der ambitionierten Untersuchung Friedrich Basilius von Ramdohrs208 zur »Venus Urania«. Die Arbeit Ramdohrs gliedert sich in vier Bände: Der erste behandelt die »Naturkunde der Liebe«, der zweite die »Ästhetik der Liebe«, Band drei und vier wenden sich den Erscheinungsformen von Liebe und Ehe in der Geschichte und bei den verschiedenen Kulturnationen zu. Band I führt den Zusammenhang von Sinnlichkeit, Liebe und Individualität ein. Ramdohr unterscheidet drei Arten der Sinnlichkeit:209 Die erste ist die Sinnlichkeit des »Beschauungshanges« - das Auge ist ihr Organ, sie zeichnet sich aus durch distinkte 204 205 206 207 208
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Herder, S. 306. Ebd., S. 325. Ebd., S. 321. Ebd., S. 322. Friedrich Basilius von Ramdohr: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung, Bde 1-4, Leipzig 1798. - Zu Ramdohr vgl. die kurze Einführung von: Günter Schulz: Friedrich Wilhelm Basilius von Ramdohr, der »unzeitgemäße« Kunsttheoretiker der Goethezeit, in: Goethe. Neue Folge des Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft 20 (1958), S. 140-154. Die Person und die Schriften Ramdohrs sind von Goethe, Schiller und den Schlegels wohl wahrgenommen worden, allerdings nicht unbedingt auf positive Art. Ramdohr I, S. 25und45ff.
Erkenntnis des Objekts und völlige Ruhe des Bestrebungsvermögens.210 Ihr entgegengesetzt ist die Sinnlichkeit der »Selbstheit«, sie ist auf gierige Einverleibung, auf Aneignung des Objekts aus und geht an dem Eigenwert oder der Andersartigkeit des Objekts vorbei. 211 Zwischen beiden Extremen ist die Sinnlichkeit der »Sympathie« situiert, die sich durch ein heftiges Verlangen nach Vereinigung mit dem Gegenstand auszeichnet, ohne aber ihn gänzlich in sich aufzunehmen. Ihr Organ ist der Tastsinn. Sie fuhrt zu einer Beachtung des begehrten Objekts und zu einem Bemühen um es. An diese Art der Sinnlichkeit schließt sich - so Ramdohr - die Liebe an. 212 Im LiebesbegrifF Ramdohrs ist von vornherein der geliebte Partner als Subjekt gedacht: Liebe ist die »Wonne der Sympathie mit Wesen, denen wir Empfindung beylegen« und denen wir ein Bewußtsein zusprechen - im Gegensatz zu Bildern, Pflanzen, Säuglingen und Engeln, die bloß unsere »Selbstheit« oder unseren »Beschauungshang« reizten. Das »sich in die Lage des andern hineinversetzen« gilt Ramdohr als Voraussetzung und Merkmal der Liebe. Die Partner sind gleichberechtigt, wenn auch nicht gleichartig. In Anlehnung an Herders Opposition von »stark« und »zart« entwickelt Ramdohr sein Verständnis der Geschlechtscharaktere: [...] so viel glaube ich mit Zuverlässigkeit annehmen zu können: jeder Mensch vereinigt in sich die doppelte Disposition zur Stärke und zur Zartheit. Nur in so fern in seinem Wesen Stärke üter Zartheit prädominiert, ist er positiver Art, männlichen Geschlechts: nur in so fern die Zartheit über die Stärke prädominiert, ist er negativer Art, weiblichen Geschlechts.213 Die Wechselwirkung von »Zartheit« und »Stärke« bezeichnet in der »Naturkunde der Liebe« zunächst physische Eigenschaften der Partner: [...] der Reitz des weiblichen Körpers [wird] gerade durch hebende Zartheit, so wie die Sensibilität der Organe des Mannes durch Anlage zur geschmeidigen Stärke charakterisiert [...].214 Durch die Aneignung der jeweiligen gleichgeschlechtlichen Eigenschaften in einer Freundschaft vertiefe sich im einzelnen die Individualität der Art, d.h. des Geschlechts, durch Aneignung der gegengeschlechtlichen Eigenschaften in einer heterosexuellen Beziehung werde die Individualität der Gattung Mensch hervorgebracht, ein ungleich edleres Unterfangen: Wenn [...] der Mensch von stärkerem Wesen, der Mann, sich gegen einen Menschen von zärterem Wesen, das Weib, im Verhältnisse geschmeidiger Stärke gegen hebende Zartheit fühlt, und beyde ihre so modificirten Naturen vereinigen, um sich durch den gemeinschaftlichen Genuß einer gespannten Zärtelung wechselseitig zu beglükken; - so bilden 210 211 212 2,3 214
Hier klingt Kants Definition des Geschmacksurteils an, das auf interesselosem Wohlgefallen beruhen soll. Hier liegt ein deutlicher Bezug auf Herder vor. Ramdohr I, S. 90. Ebd., S. 203. Vgl. auch S. 119. Ebd., S. 136/37. 65
sie zusammen ein Paar, das in Vergleichung mit allen einzelnen Individuen eines jeden der beyden Geschlechter, und der gepaarten Personen von einerley Geschlecht, als eine vollkommnere Person der Gattung nach erscheint.215 Auch Ramdohr kann - bei allem Bemühen um symmetrische Komplementarität der Geschlechter - nicht von der zeitgenössischen Höherbewertung des Mannes absehen:216 Freundschaft unter Personen von verschiedenem Geschlechte, Geschlechtszärtlichkeit, kann nicht entstehen, wenn nicht der Mann die Frau so weit zu sich herauf hebt, und sie ihn so weit zu sich herab zieht, daß sie beyde wechselseitig an der Begünstigung ihrer herrschenden Triebe unmittelbar theil nehmen können.217 (Hervorhebung v. Vf.). Im ersten Band der »Venus Urania« kommt Ramdohr auf Individualität und Persönlichkeit zu sprechen - beides hängt für ihn mit Körperlichkeit zusammen. In seiner Explikation der Persönlichkeit differenziert Ramdohr zwischen »Ich« und »Selbst«: Dem völlig unerklärbaren, keiner Operation meiner wahrnehmenden und erkennenden Kräfte bedürfenden Ichgeßhle, das auf keine Weise von irgend einem Momente meines Lebens, oder von irgend einer Bestimmung meines Willens getrennt werden mag, setzt er das ihm bewußte »Selbst« entgegen: Das Selbstgefühl ist gerichtet auf ein Etwas an meinem Ich, wodurch ich mich von andern Gegenständen, die nicht zu meinem Ich gehören, als etwas besonderes, für sich bestehendes konstituire. Diese Beachtung, diese Gründung meines besondern Ich's, kann nicht Statt finden, wenn ich dies Ich nicht in irgend einer meiner Eigenschaften und zubehörungen, oder in ihrem ganzen Inbegriffe aufnehme, und mich damit einem Dinge entgegenstelle, das zu jenen Adhärenzen, einzeln oder im Ganzen betrachtet, nicht gehört [...] Ich weiß ununterbrochen, daß ich einen Körper habe der nicht einer der Körper ist, die mich umgeben. Aber erst bei einer auffallenderen Berührung bringe ich den Unterschied zwischen meinem Leibe und den Körpern außer mir in Anschlag, und beachte mein Selbst, indem ich fühle: mein Ich berührt.218 Für die Konstitution des Individuums ist also die Differenz zur Umwelt, besonders zu anderen Menschen, ausschlaggebend - der einzelne definiert sich nicht mehr primär als Vernunftwesen im Unterschied zum Tier, sondern über seine besondere Körperlichkeit, seine Empfindungen und Gefühle, auch über seine persönliche Lebensgeschichte im Gegensatz zu anderen Menschen: Die Person des Menschen, sein Persönliches überhaupt, ist dasjenige, was den Begriff seines Individuums begründet, was ihn als einzelnen Menschen von allen andern Menschen unterscheidet. Hierbey wird die doppelte Vorstellung in Rücksicht genommen, theils wie andere ihn betrachten, theils wie er sich selbst ansieht. Beydes zusammen macht den In215 216 217 218
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Ebd., S. 212/13. Vgl. dazu Kap. 3.3.5.: Auch Fichtes Ehelehre versucht, der Frau Aktivität und Vernunft zuzugestehen - auch bei Fichte steht die Frau als Naturwesen unter dem Mann. Ramdohr I, S. 213. Ebd., S. 66/67.
begriff seiner Eigentümlichkeiten, seines Charakters, der Triebe seines Körpers und seines Gemüths, seiner Beschaffenheit, Lagen und Verhältnisse aus. Wie steht er in einem Augenblicke seines Lebens, gegen alle übrige die schon vorausgegangen sind, und die er noch als kommend voraussieht? Wie steht er mit seinem Ganzen gegen die Gegenstände um ihn her? Das alles nimmt er zusammen, das alles schlägt er an, wenn er sich sagt: das ist meine Person, das ist mir persönlichem sehr complicierter Begriff, den die Vernunft nie ganz entwickelt, nie ganz zusammen faßt, den aber das Selbstgefühl eines jeden Menschen sehr leicht verstehen wird!219 Das Individuum ist nicht mehr nur als unteilbar bestimmt und ansonsten leer: Es ist einzigartig, unverwechselbar. Ebenso selbstreferentiell wie das Individuum ist seine leidenschaftliche Liebe: Wir können nicht nachdenken über die Fehler des geliebten Gegenstandes, wir können seine Vorzüge nicht vergleichen, nicht erwägen, nicht anschlagen. Alles löst sich in die Empfindung auf: er ist fur mich geschaffen! Laß einen Apoll, laß eine Venus vom Himmel kommen, und stelle sie bey dem Geliebten hin; der Gott ist eine Abstraktion von Talenten, so wie die Göttinn ein Abstrakt von Schönheit; sie haben unsere Bewunderung, aber unser Herz gehört dem Wesen, das mehr als Göttlichkeit, mehr als Talente und Schönheit, das jenes Etwas hat, das wir lieben. Wer hat je leidenschaftlich geliebt, und nicht gefühlt, was es heißt, um sein selbst willen geliebt seyn wollen! Gefühl, das sich schlechterdings in keinen Begriff fassen, kaum einmahl andeuten läßt! Nicht unsers Ruhms, nicht um unserer Tugend, nicht um unserer Schönheit willen geliebt seyn wollen; ja! nicht einmahl um unserer Zärtlichkeit und Treue, kurz, um der persönlichen Eigenschaffen willen; was heißt es anders, als um etwas geliebt seyn wollen, das ohne allen Begriff, ohne alle Beziehung gefällt! Und so wie wir gefallen wollen, so gefällt uns der Geliebte! Ach! so lange wir noch im Stande sind, ein Bild des Geliebten von seinem Selbst abzusondern, und unserm Selbst vorzustellen; so lange bleibt dem Liebenden die Besorgniß, daß ein anderer Gegenstand eben dieß Bild erwecken, vollständiger darstellen möge, und mit ihm ausgetauschet werden könne.220 Ramdohr hat die Problematik der bürgerlichen Liebes- und Ehekonzeption, die in ihrer Orientierung an Tugenden, an allgemeinen Begriffen, liegt, genau erkannt: Die latente Austauschbarkeit der Partner bedroht die Stabilität und Dauerhaftigkeit der Ehe, die Treue wird zu einem Problem, dem gegenüber die Ehediätetik nur eine hilflose Geste bleibt. Die selbstreferentielle Liebe allerdings, die Ramdohr zitiert, ist der bisher in adligen Kreisen übliche Amour Passion und bezeichnet auch bei Ramdohr einen Ausnahmezustand, die Liebe als Passion: Leidenschaft ist »der Liebe Krankheit! Krankheit der Seele und des Körpers! Wohl ist sie eine Art von Wahnsinn! [...] ein Wechsel von Hölle und von Seligkeit!«221 Diese paradoxe Form der Liebe findet ihren bündigen Ausdruck in der Formel vom bejahten Selbstverlust: Denn ob der Liebende gleich ein Bild von seinem Ich beachtet, so fühlt er doch zugleich, daß sich dieß Selbst in dem des glücklichen Menschen verliert; und dennoch empfindet er 219 220 221
Ebd., S. 97/98. Ebd., S. 243. Ebd., S. 242. 67
Wonne bey seinem Verluste. Der Beschauer vergißt bloß sein Ich, der Liebende beachtet es, aber opfert es wissentlich auf.222 Der für die Philosophie der deutschen Romantik charakteristische Gedanke der unendlichen Bildung des Individuums in einer damit auch als dauerhaft imaginierten Liebesbeziehimg taucht hier nicht auf, wohl aber die Vorstellung vom Austausch der sich liebenden Seelen: Hier ist also mehr als [...] Vermengung oder Vermählung der Naturen; hier ist Uebertragung unsers ganzen Wesens in das Wesen eines andern endlicher Zweck der Bestrebung.223 Unentbehrlich ist die Leistung der Einbildungskraft fur eine solche Beziehung: [...] man kann wohl sagen, daß die Leidenschaft der Liebe zum andern Geschlecht weiter nichts sey, als das figierte Streben, uns in den Gegenstand unserer Wünsche verwandelt zu sehen. Die Gefahr der schwärmerischen Täuschung liegt dabei nah: »Du bist Ich, Ich bin Du: das ist die Empfindung der Besessenheit.«224 Solange der Gedanke der gegenseitigen individuellen Entwicklung und Bildung in der Partnerschaft jedoch noch nicht mit einbezogen wird, so lange bleibt eine solche leidenschaftliche Liebe in ihrer zeitlichen Dauer der sinnlichen Attraktion unterworfen, die nach erfolgter Vereinigung nachlasse. 225 Dieser Problematik nähert sich Ramdohr an in seinem zweiten Band, der »Ästhetik der Liebe«, in der Ramdohr ein schönes Ideal der Liebe errichten will. Er stellt so die aufklärerische, an den Naturwissenschaften orientierte physiologisch gegründete Liebesauffassung des ersten Bandes neben Annahmen aus der ästhetischen Diskussion der Zeit, die den >höheren Seelenkräften< und der Möglichkeit einer psychophysischen Identität gelten. Die »Ästhetik« der Liebe soll nicht das Verhältnis der Liebenden zu anderen Personen betreffen - dem widme sich die »Moral« der Liebe - noch das Verhältnis der Liebenden zum Staat untersuchen - eine Aufgabe der »Politik« der Liebe - oder auch nicht eine »Klugheitslehre« der Liebe sein, in der die Liebe als Mittel zur Erhöhung des Lebensgenusses diene: Die Ästhetik der Liebe ist folglich der Inbegriff der Vorschriften, welche aus der Anwendung der Gesetze des Geistes und der Vernunft auf diejenigen Verhältnisse fließen, in welche wir, vermöge der bloßen Beschauung der Liebe, mit dieser zu stehen kommen. Sie lehrt uns, was uns in der Liebe bey der Contemplation gefallen soll und darf.226
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Ebd., S. 73. Ebd., S. 254/55. Ebd., S. 190. Ebd., S. 272. Ramdohr, Bd. II, S. 6.
Der Gegenstand der ästhetischen Betrachtung kann daher nicht die leidenschaftliche Liebe sein, sondern nur die Liebe im Zustand »zärtlicher Anhänglichkeit«, in der sie noch der Leitung des Verstandes und der Vernunft zugänglich sei. 227 Die Ästhetik soll die leidenschaftliche Liebe entschärfen und sozial anschließbar machen, also entindividualisieren.228 Ramdohr stellt ein Ideal der Liebe auf Liebe, als Vollkommenheit betrachtet, ist das Ganze einer auf Zärtlichkeit beruhenden Verbindung, das seinem innern Gehalte nach Seelenadel, seiner äußern Form nach Schönheit zeigt229 dessen elitärer Charakter ihm bewußt, der intendiert ist: Ich bin Lehrer einer Theorie, deren Grundsätze nur bey seltenen Menschen und unter seltenen Verhältnissen ihre Anwendung finden können.230 Die Aufgabe des Ästhetikers liege zwischen der des Dichters und der des Moralisten: Die Poesie ist - nach Ramdohr - autonom, sie hat keinen Bezug zur Realität: Die Ideale des Dichters können gar nicht nach den Gesetzen der Wahrheit und Zweckmäßigkeit, wie diese in der wirklichen Welt anwendbar sind, geprüft werden; sein Gebiet und sein Gerichtshof liegen innerhalb der Grenzen der Imagination.231 Der Ästhetiker aber vermittle zwischen der Moral, die sich auf gewöhnliche Verhältnisse beziehe, und dem Dichter, der bloßes Ideal darstelle, und bilde einen Sinn für Vollkommenheit, Adel und Schönheit aus. Nachdem Ramdohr derart seinen innovatorischen Ansatz eingeführt hat, fallt er allerdings - von der Identität des Schönen und des Guten ausgehend - im folgenden in die bekannten Forderungen zurück: Ehediätetik, Bestimmung des Weibes, Komplementarität der Geschlechter und gemeinsame Annäherung der Ehepartner an das Tugendideal bilden Themen des zweiten Bandes, also alles bürgerlich-empfindsame Anliegen, die Ramdohr gelegentlich mit kleinen Tips für eine etwas urbanere Lebens- und Eheführung auflockert, die er dem Verhaltensrepertoire der Aristokratie entnimmt - ein Problem, dem ja auch Schiller in der »Ästhetischen Erziehung« nicht entgeht: Wo es um kultiviertes, »schönes« Verhalten geht, wird auf Interaktionsmodi der sonst abgelehnten Adelskultur zurückgegriffen (vgl. Kap. 3.3.2.). Die edle und schöne Liebe umfaflt für Ramdohr sowohl körperlichen als auch geistigen Genuß: Für mich ist alle wahre Liebe Seelenliebe! denn nur die Seele faßt die Vorstellung: der Geliebte ist glücklich; und nur die Seele strebt nach der Wonne, welche von dieser Ueber227 228
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Ebd., S. 7. Hier läßt sich ein deutlicher Einfluß der philosophischen Diskussion über die Leistung der Ästhetik für die Sublimierung der Triebe erkennen, vgl. Kap. 3.3., vor allem Kant und Schiller (Kap. 3.3.1. u. 3.3.2.). Ramdohr II, S. 66. Ebd., S. 156. Ebd., S. 159. 69
zeugung abhängt. Die Mitwirkung des Körpers, selbst des unnennbaren Triebes, nimmt dieser Seelenliebe nichts; sie giebt ihr vielmehr zu, wenn wir uns des Körpers als eines Agenten, als eines Mittels bedienen, den geliebten Gegenstand glücklicher zu machen.232 An anderer Stelle ist die Höherbewertung des Geistigen offensichtlich: »Der Körper kann also bey der Liebe nur als Mittler in Betracht kommen.«233 Allerdings besitze der Beischlaf, den Ramdohr immer den »unnennbaren Genuß« nennt, Symbolqualität: Unzählige Bande laufen hier zusammen, ich möchte sagen, alle, die sich unter Menschen denken lassen, welche fireye Wahl aneinander knüpft. Schon als Symbol der innigsten Verwebung unserer Wesen, Symbol, angenommen von allen Völkern, um daraus Begriffe und Gesetze herzuleiten über Besitz, Eigenthum freyer unabhängiger Menschen, Kränkung dieses Eigenthums, Ausdehnung der Bande der Blutsfreundschaft; - wie wichtig für das Herz, wie hebend für die Imagination!234 Für den Ästhetiker sind Frau und Mann grundsätzlich verschiedene Arten der Gattung Mensch, deren Unterschiede sich nicht nur auf die Körperlichkeit, sondern auch auf den geistigen Zuschnitt beziehen. Wiederum wird rekurriert auf die Doppelformel von »Natur« und »Kultur«: Nach meiner Überzeugung sind die Geistesanlagen beyder Geschlechter bereits ursprünglich verschieden. Gesetzt aber, dieß könnte bezweifelt werden, so scheint es doch unleugbar zu seyn, daß bey der Verschiedenheit der Kenntnisse, deren Aufbewahrung, und der Geschäfte, deren Ausführung bald diesem bald jenem Geschlechte nach unsern bürgerlichen Einrichtungen, und nach unserer geselligen Denkungsalt seit so langen Zeiten anvertrauet sind, die Geisteskräfte des Mannes und des Weibes eine ganz verschiedene Richtung erhalten müssen.233 Der Frau wird von Ramdohr nicht nur Vernunft zugestanden - sie wird geradezu aufgefordert, eigene Persönlichkeit zu entwickeln und nicht nur der Schatten ihres Gatten zu sein. Worin äußert sich aber ihre »Energie« und »Selbständigkeit«? In »freyer« Selbstbeschränkung: Die Frau zeigt Energie des Charakters, indem sie ihre Ansprüche mäßigt, den Umfang ihres Gebiets willig einschränkt, und die Grenzen ihrer Herrschaft nach dem Verhältnisse ihrer Kräfte festsetzt. So ist Mäßigkeit ihre erste Stärke.236 Ihre zweite Stärke ist Zurückhaltung, die dritte Geduld. Der Charakter der Frau ist »schöne« Natur, nicht Sinnlichkeit - der des Mannes vernünftige Selbstbestimmung. Zur Vervollkommnung der Gattung und zur Realisierung der Tugend tragen Mann und Frau gemeinsam bei: 232 233 234 235 236
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Ebd., S. 111. Ebd., S. 403. Ebd., S. 290. Ebd., S. 316/17. Ebd., S. 186.
Was ist Tugend? Nicht der glückliche Instinkt allein, der uns zu einem Betragen führt, das andere beglückt, und uns selbst Zufriedenheit für die ganze Zeit unsers Daseyns sichert. Nicht die Anwendung des Verstandes und der Vernunft allein, die uns in unsern Verhältnissen zu andern vernünftigen Wesen, und zu unserm eigenen fortdauernden Wesen Zufriedenheit sichert! Nein, es ist beydes zusammen [...]:237 Zur Begründung der Tugend muß daher natürliche Anlage zum Guten mit überlegter Fertigkeit bey der Ausuebung zusammen gehen, und zu dieser Mischung werden die vereinigten Vorzüge beyder Geschlechter die glücklichste Veranlassung geben!238 Ein Ideal, nicht eine individuelle Beziehung, die Tugend, nicht die Liebe, steht in der Ästhetik im Vordergrund des Interesses: Es sey also das Bestreben der edelsten Liebe, dem Geliebten Liebe zur Tugend einzuflößen! Diese wird länger dauern, als das Ideal von Vollkommenheit, das die Begeisterung schafft; ja länger als selbst die Liebe zu dem Geliebten!239 Die Arbeit an der Menschheit gelingt nicht in einer leidenschaftlichen, da zwingenderweise kurzen Beziehung, sondern nur in einer zärtlichen lebenslangen Verbindung. 240 Nicht einmal die Dichter hätten bisher gewagt, eine leidenschaftliche Ehe vorzuführen 1799 wird Schlegels Roman »Lucinde« erscheinen - Mäßigkeit im Umgang miteinander sei nun einmal die Voraussetzung fur Eheglück: »[...] eine der Hauptregeln, um die Liebe dauerhaft zu erhalten, ist diese: arbeite]«241 Im dritten und vierten Band seiner »Venus Urania« beschäftigt sich Ramdohr mit der Geschichte der Liebe und ihren jeweils nationalen Besonderheiten ab etwa dem 14. Jahrhundert. Die französische Libertinage, aber auch der sog. amour platonique werden genannt, ebenso die spröde, vernünftige Liebe der Engländer - Deutschland habe »wenig Eigenthümliches in seinen Begriffen von der Liebe aufzuzeigen«, 242 aber einige gute Ehen in den höheren Kreisen vorzuweisen. Die >Denkungsart< der Gegenwart lasse sich im Allgemeinen gar nicht angeben. Wir haben beynahe keinen einzigen von den Begriffen fahren lassen, welche die Vorwelt mit diesen Gegenständen verbunden hat, und wir haben sie noch mit einigen vermehrt. Vielleicht ist es gerade das Charakteristische unserer Sitten, daß sie keinen auffallend allgemeinen Charakter an sich tragen. In der vorigen Epoche rechneten es wenigstens die Höfe zur guten Sitte, über Geschlechtsverbindung und Liebe einerley Grundsätze, nämlich die der Galanterie, anzunehmen. Aber jetzt ist die Gesellschaft, mithin auch die gute Sitte, nicht mehr auf die Höfe eingeschränkt; jeder etwas größere Ort macht darauf Anspruch, sich seinen Ton selbst anzugeben, und die Politur hat so sehr zugenommen, daß man kaum die Seite zu finden
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Ebd., S. 335. Ebd., S. 340. Ebd., S. 336. Und spätestens dann kommt doch die Moral mit ins Spiel: »Und so erscheint eine Liebe, die den Rest unsers Lebens hindurch dauert nicht bloß interessant und schön; sie ist auch schätzbar in Beziehung auf das gemeine Beste!«, S. 344. Ebd., S. 352. Ramdohr, Bd. IV, S. 357. 71
weiß, an der das Unterscheidende in den Gewohnheiten einer Gesellschaft von der andern aufgefaßt werden könnte.243 Dennoch will Ramdohr versuchen, unter Zuhilfenahme der Darstellungen in Literatur und Philosophie einige Aussagen zu treffen. Hauptsächlich für Frankreich gilt: Vorhin hatte man geliebt, um sinnliche Begierden, um die Triebe nach Ruhm, nach Eitelkeit, nach Beschäftigung, zu befriedigen. Jetzt liebte man,- um zu lieben; wenigstens suchten die Dichter, die Romanschieiber, die Weltphilosophen der Leidenschaft diesen Zweck beyzulegen, und sie von jeder andern weiterliegenden Absicht abzusondern.244 In England hingegen müßten die »edleren Geschlechtsverbindungen allemahl auf Ehe [...] abzwecken«.245 Das deutsche Bürgertum orientiere sich hauptsächlich an England; 246 die »gute Gesellschaft« schwanke zwischen englischem courtship, französischer Galanterie, italienischer Cicisbeatura und deutscher »Romanenempfindsamkeit«. Der aufmerksame Beobachter Ramdohr konstatiert eine Verschiebung der Bedeutsamkeit von Freundschaft und Liebe: Die Ehen seien in Deutschland tatsächlich recht glücklich, es gebe Ehen, worin wahre Zärtlichkeit, Anerkennung eines gleichen Anspruchs auf wahren Menschenwerth und Menschenwohl von Seiten beyder Gatten herrscht: Ehen, in denen der Mann in seiner Frau um so mehr die Freundin aufsucht, als in unsem egoistischen Zeiten das Zutrauen zu dem Freunde von seinem Geschlechte eine immer seltenere Erscheinung wird.247 Die Ehe - so scheint aus dieser Bemerkung hervorzugehen - erweist sich im Verhältnis zur Freundschaft als das evolutionär überlegene Modell zur Gestaltung persönlicher Beziehungen.
2.6. Zusammenfassung Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß alle vier skizzierten Diskurse ein großes Interesse an der Eheschließung der Sexualpartner bekunden: Die Ehe soll - so fordern die Verfasser der expositorischen Texte über die Ehe - soziale Funktionen für die Gesamtgesellschaft übernehmen. Sie soll fur die soziale Anschließbarkeit von Individualität sorgen, den asozialen Sexus disziplinieren und ganz allgemein eine Berechenbarkeit und Planbarkeit individuellen Verhaltens bewirken. Die emotionalen, triebhaften Komponen-
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Ebd., S. 268/69. Ebd., S. 276. Ebd., S. 317. Die Untersuchung Paul Kluckhohns zur »Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und in der Romantik«, Tübingen 31966 (11922) bestätigt die Beobachtungen Ramdohrs mit historischem Abstand. Ramdohr, Bd. IV, S. 320/21.
ten des Menschen erscheinen in einer prinzipiellen Ambivalenz: Einerseits sind sie unerläßliche Voraussetzung allen Handelns, andererseits aber potentiell desintegrativ und asozial. Sie bedürfen deshalb der sozialen, besser noch der eigenen reflexiven Kontrolle durch das Bewußtsein. Dem Gesetz geht es konkret vor allem um die zahlreiche, geordnete Zeugung und Erziehung der künftigen Staatsbürger und um die Eigentumsregelung der Ehepartner, während der rechtsphilosophische Diskurs eher gegenläufig hin auf eine Freisetzung des Individuums drängt, vor allem die Frau aus ihrer bisherigen unterprivilegierten Rechtsposition befreien möchte und überhaupt - im Zuge der Entwicklung hin zu einer Autonomisierung des Rechtssystems - auf eine Zurückdrängung staatlicher Interessen aus der Gesetzgebung tendiert. Die Medizin zielt auf Gesundheit durch Prophylaxe, nämlich auf einen maßvollen Lebenswandel, den sie in der Ehe gewährleistet sieht. Denn die Ehe garantiert nicht nur ein Gleichgewicht des Säftehaushalts, sondern sie schützt auch vor der Überspannung der Nerven, wie sie etwa die Einsamkeit, die Untätigkeit und die Romanlektüre auslösen. Die Medizin geht von der größeren Sinnlichkeit der Frau aus. Die Pädagogik sieht in der Ehe eine Maßnahme zur »Humanisierung«, zur Diszipliniening des asozialen Sexualtriebes, und nimmt sich der Kindererziehung und der Erziehung besonders der Frau fur die monogame Ehe an. Der Gewaltcharakter der väterlichen Autorität ist auch in einer emotional wärmeren Familienform als der des »ganzen Hauses« nicht zu übersehen: Kindliches Vertrauen steht im Dienste der besseren Überwachung durch den Vater. Die Verfasser der popularphilosophischen Schriften versuchen, sämtliche sozialen Ansprüche an die Ehe zu synthetisieren und plausibel an den Leser und die Leserin zu bringen: Sie bedienen sich dazu einer Vielzahl verschiedener Argumente und appellieren etwa an Gemeinsinn und Vernunft, an gesunden Egoismus und Glückseligkeitsstreben, an Idealismus und Schönheitssinn. Die Identifizierung von Liebe und Ehe ist in diesen Texten bereits vollzogen. Dem Liebesdiskurs liegt eine Systematik zugrunde, die gewisse wiederkehrende Probleme enthält. Die rationalistische Ehekonzeption, die in vielem noch an die theologische anschließt, geht von einer ontologischen Gleichheit zwischen Mann und Frau aus, wobei die Frau allerdings wegen ihrer vorgeblichen körperlichen Schwäche häufig gering geachtet wird. Dieses Modell gerät aber in Schwierigkeiten, wenn es die Vormachtstellung des Mannes in der Ehe begründen soll. Die Ehe gilt den Aufklärern prinzipiell als »Ehefreundschaft«: Der Zweck der Ehe liegt außerhalb der ehelichen Gemeinschaft selbst; externe Zwecke der Ehe sind die Zeugung und Erziehung von Kindern, eine geregelte Triebabfuhr und die gegenseitige Hilfeleistung der Eheleute, wobei vermutlich besonders an die Führung eines gemeinsamen Haushaltes gedacht wurde. In diesem Konzept ist wenig Raum fur Individualität, Emotionalität und eine lustvolle, zweckentbundene Sexualität. Die Schwierigkeiten, die den Zeitgenossen aus diesem Konzept erwachsen, betreffen a.) das Problem der »Herrschaft« in der Ehe, b.) die Treue der Ehepartner zueinander und c.) die Gefühlswelt der Partner.
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Zwischen ca. 1765 bis 1800 zeichnet sich ein Wandel innerhalb der Liebeskonzeptionen ab, der sich als Abfolge von Problembewältigungen verstehen läßt: Die empfindsame Zeitströmung, die sich aus pietistischen Quellen speist 248 und im Medium der fiktionalen Literatur tradiert wird, wertet die Frau auf und reichert die Ehe emotional an. Zwar wehren sich viele Autoren besonders aus den Diskursen der Pädagogik und der Medizin gegen den Einfluß der »Romanenempfindsamkeit«, gegen ihrer Meinung überhöhte Ansprüche an Liebe und Ehe, und vertreten so eine latent materialistische Anthropologie: Sie spielen Physiologie und Naturwissenschaft gegen psychische und geistige Bedürfnisse und Literatur aus und versuchen, Literatur und Phantasie als hypertrophe Sexualität zu entlarven. Dennoch setzt sich zunächst das empfindsame Gedankengut durch: Je mehr sich die Texte der Jahrhundertwende nähern, desto stärker beziehen sie die freiwerdenden persönlichen Ansprüche des Individuums in ihre Argumentation mit ein. Das (männliche) Subjekt erfährt jetzt - idealtypisch - im Privatbereich der häuslichen Glückseligkeit eine Bestätigung seiner Identität als Person, die ihm in der zunehmend zweckrational organisierten Berufswelt versagt bleibt. Gleichzeitig wird auch eine verfeinerte Sexualität in der Ehe aufgewertet (Knigge, Baur, Meister) und als Lustprämie für Arbeitsleistungen erkannt. Heteronome oder gar normative, etwa staatlich-rechtliche Funktionszuweisungen der Ehe werden zunehmend zurückgewiesen. Das empfindsame Ehemodell mit seiner Identifikation von Liebe und Ehe verdrängt das rationalistische Vertragsmodell der Ehe. Das Aufkommen der Idee von der Geschlechterpolarität löst das Problem der Vorherrschaft in der Ehe: Mann und Frau sind gleichwertige Menschen, aber die Frau begibt sich freiwillig - aus Liebe und Neigung - ihrer Macht. Ihre »Natur« und ihre »natürliche Bestimmung« zur Mutterschaft gebieten ihr, sich unterzuordnen. Die Vorstellung von der Polarität der Geschlechter wird in zunehmendem Maße zum starken Argument fur die Eheschließung. Zusätzlich zur Berufung auf eine »weibliche Natur« tragen auch die neuerlich konstatierte Gefahrdung der kindlichen Unschuld durch die Onanie und die vorgebliche Erziehungsbedttrftigkeit der Kinder zur Legitimierung der Festlegung der Frau auf den häuslichen Bereich bei. Die Sprengkraft des Sexus entschärft die Empfindsamkeit nicht. Zur Disziplinierung der Sinnlichkeit wird zunächst noch lange auf direktive Moral rekurriert, dann an die Vernunft appelliert, schließlich, deutlich bei Ramdohr, der damit Anregungen aus der »hohen« Philosophie (vgl. Kap. 3.3.) aufnimmt, auf die Ästhetik verwiesen, die eine sanfte Sublimierung der Triebe leisten soll. Stärker als der Mann wird die Frau zur Scham und Asexualität, zu größter sexueller Zurückhaltung angehalten: Das reduziert das Ehebruchsrisiko natürlich um idealerweise 50 Prozent. Solange sich die Liebe an »objektiven« oder auch subjektiv eingebildeten Vorzügen und Tugenden orientiert, ist ihr wenig Dauer beschieden: So lange bleibt das geliebte 248
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Vgl. zur Aufwertung der Frau im Pietismus Richard Critchfield: Prophetin, Führerin, Organisatorin: Zur Rolle der Frau im Pietismus, in: Barbara Becker-Cantarino (Hrsg.): Die Frau von der Reformation zur Romantik. Die Situation der Frau vor dem Hintergrund der Literatur-und Sozialgeschichte, Bonn 1980, S. 112-137.
Objekt austauschbar. Ramdohrs »Physiologie der Liebe« entwickelt zwar ein selbstreferentielles Liebeskonzept, in dem Individualität und Sexualität verknüpft sind, wertet diese Art der Liebe aber als unvernünftige Passion, als kurzlebige Leidenschaft ab: Und in der Tat ist die sexuelle, unbegründbare Leidenschaft zunächst als wenig dauerhaft anzusehen. Was dem Konzept fehlt, ist der Bezug zur individuellen Persönlichkeits6/7dung, zur Entwicklung in der Ehe, zur Subjektkonstitution in der Auseinandersetzung mit dem geliebten Gegenüber. Solange die medizinischen und psychologischen Vorstellungen von einer Temperamenten-, Säfte- oder Fibernlehre ausgehen, ist fur eine Veränderbarkeit, eine Entwicklung von Persönlichkeit jedenfalls aus diesen Diskursen keine semantische Hilfestellung zu erwarten. Der entscheidende Anstoß zum Konzept der Bildung wird aus Transzendental- und Naturphilosophie erwachsen (vgl. Kap. 3.3.). In der Vorstellung von der Polarität der Geschlechter aber deutet sich allerdings ein Lösungsvorschlag schon an: Die Polarität muß nur zur Komplementarität erweitert werden - eine Idee, die bei Heydenreich, Herder und Ramdohr schon anklingt. Die Codierung der »Liebe« in den expositorischen Texten läßt sich wie folgt zusammenfassen: Besonders die popularphilosophischen Texte möchten sich an einem Ideal nicht wie die höfische Liebe, der amour passion, am Paradox - orientieren und ihr Gefühl begründet und gerechtfertigt wissen durch die Tugend des geliebten Objekts d.h. auch: Sie müssen der Phantasie als einer sinnlichen Täuschung mißtrauen. Demungeachtet wird die »Liebe« in den meisten Texten - unter Berufung auf medizinische Kenntnisse - latent physiologisch begründet: Die Liebe entspringe letztlich den sinnlichen Vermögen des Menschen, seiner Sexualität und seiner Phantasie. Das bürgerliche Ehekonzept bekämpft die Untreue, wie sie am Hof der alten Gesellschaften geduldet, ja gefordert wurde - sie hat allerdings Probleme mit der Durchsetzung der Treueforderung, da ihre noch dualistische Anthropologie den Menschen als Vernunft- und Sinnenwesen sieht und seiner Sinnlichkeit mißtraut - das die religiöse Erblast der bürgerlichen Semantik. Die Anthropologie des 18. Jahrhunderts hat jedoch eine Neigung zum (vorsichtigen) Optimismus, indem sie an die Erziehungsfahigkeit des vernünftigen Menschen glaubt: Und so zeichnet sich eine Tendenz hin auf eine Vermittlung des Dualismus von Sinnlichkeit und Vernunft in der Ehe ab. Zu einer vollen Rehabilitierung der sexuellen Lust im Ehebett allerdings kann sich noch keiner der Verfasser eines der Sachtexte durchringen, »Tugenden« sollten - so die Standardposition - die Ehe begründen, und dem Beischlaf kommt allenfalls Symbolfunktion zu.
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3.
Die Liebessemantik in der Literatur
3.1. Zur Liebessemantik in Goethes »Die Leiden des jungen Werthers« (1774) 3.1.1. Umriß der neueren Werther-Forschung In der folgenden Skizze kann es nicht um eine vollständige Aufarbeitung der »Werther«-Forschung gehen. Es soll lediglich das Feld der Meinungen im Umkreis der Themenstellung der vorliegenden Arbeit abgesteckt werden: Wichtig sind dafür die Einschätzung der Charaktere Werthers, Alberts und Lottes und ihres Verhältnisses zueinander. Daß Goethes erster Roman auch, aber nicht vornehmlich eine Liebesgeschichte sei, ist inzwischen Konsens der Forschung.1 Horst Flaschkas »Werther«-Buch, das sich über eine »diskursive Gesamtdarstellung« unter Einbeziehung der bisherigen Forschung dem »Ideal einer >Vollanalyse«WertherWertherWertherWertherWerther< und >Wilhelm Meisten, in: Orbis Litterarum 42 (1987), S. 118-140), Richard Brinkmann erörtert die Aporie des modernen Individualitätsbegriffs, und Maximilian Nutz analysiert das kommunikative Dilemma der zeitgenössischen Vorstellungen von »Gefühl« (in: Die Sprachlosigkeit des erregten Gefühls. Zur Problematik der Verständigung in Goethes »Werther« und seiner Rezeption, In: Literatur für Leser 1982/83, S. 217-229). Eckhardt Meyer-Krentler: »Kalte Abstraktion« gegen »versengte Einbildung«. Destruktion und Restauration aufklärerischer Harmoniemodelle in Goethes >Leiden< und Nicolais >Freuden des jungen Wertherssachliche< Informationen erhält. Problematisch erscheint auch die in der Forschung übliche explizite oder implizite Favorisierung der zweiten, der Weimarer Fassung des »Werther« von 1787 als Interpretationsgrundlage, denn in dieser erfahrt der Leser mehr von Lotte als in der ersten Fassung von 1774, die Lotte mehr als passiven Gegenstand der Idealisierung Werthers begreift. 15 Die vorliegende Untersuchung wird sich konsequent an die erste Fassung halten müssen. Diese Fassung hat die spektakuläre Rezeption des »Werther« bestimmt, die eine diskursanalytisch ausgerichtete Arbeit zum Liebeskonzept in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts berücksichtigen muß. 16 Auch die Frage nach der Beziehung zwischen Werther und Lotte ist noch nicht endgültig beantwortet: Ist Werther nun ein liebesunfahiger, asozialer Egozentriker, 17 oder idealisiert er Lotte und geht daher an ihrer wahren Persönlichkeit vorbei - so wohl die Meinung der meisten - oder aber verbindet ihn und Lotte eine gegenseitige, gleichberechtigte, individuelle Liebe? 18 Die sinnliche Attraktion Lottes für Werther und seine Beschwörung ihrer Unschuld, seine Sexualabwehr, werden in der Forschung deutlich hervorgehoben. Um die Liebesbeziehungen im »Werther« zu verstehen, schlägt die vorliegende Arbeit vor, die verschiedenen, im Roman über die fiktiven Interaktionen der typischen Charaktere Albert, Lotte und Werther repräsentierten Codierungen von »Liebe« zu analysieren. Dabei kann sie vor allem an diejenigen Ansätze der Werther-Forschung an-
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tiert«; Emil Staiger betont mit Blick auf Lotte: »[...] gefährliche Wünsche steigen nicht auf [..] Bei keiner Goetheschen Frauengestalt beschützt die Tugend die Natur. Sondern die Tugend ist selbst Natur[...]«, in: E. Staiger: Goethe, Bd. 1: 1749-1786, Zürich 1952, S. 160/61. Auch Ilse Appelbaum-Graham übernimmt das Bild Lottes als bewußtloser Unschuld, ohne es zu hinterfragen, vgl. ihren Aufsatz: Minds without Medium. Reflections on Emilia Galotti and Werthers Leiden, in: Euphorion 56 (1962), S. 3-24; und ebenfalls unkritisch und ohne hermeneutische Distanz: R Ellis Dye: Views of the other in Goethe's first novel, in: JEGP (Journal of English and Germanic Philology) 87 (1988), S. 492-506. Günter Martin schließt sich in seinem Öko-konservativen Rundumschlag gegen die moderne Gesellschaft vollends Werthers Idealisierung von Lotte und Natur an, in: Werthers problematische Natur, in: Neue Deutsche Hefte 29 (1982), S. 725-35. Vgl. Thomas P. Saine: The Portrayal of Lotte in the Two Versions of Goethe's >Werthertatsächliche< Verhalten dieser fiktiven Figur sowie ihre wiedergegebenen verbalen Äußerungen zu richten. So naiv-unschuldig, wie Werther es wünscht, scheint Lotte jedenfalls nicht: Gleich am Anfang gibt Goethe einen vorbedeutenden Hinweis auf eine mögliche Verstrickung 32
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Eckhardt Meyer-Krentler, »Kalte Abstraktion« (1982), beleuchtet den realen Hintergrund der Figur Alberts und weist nach, daß Goethe seinen Freund Kestner in zwei literarische Figuren aufgespalten habe, nämlich den empfindsam-netten Wilhelm und den rationalen, etwas bornierten Albert - was bekanntlich für Unstimmigkeiten zwischen Goethe und Kestner geführt hat, da Kestner sich in der Figur des Ehemannes Albert allein nicht wiederfand. Zur Herausgeberrolle vgl. Horst Thomé: Roman und Naturwissenschaft (1978), S. 445ff. 83
Lottes in Werthers Leidenschaft, als er Werther über seine Mitschuld an der unglücklichen Liebe Leonorens zu ihm reflektieren läßt, die er - so wirft er sich vor - halb-wissentlich gefordert habe. Noch bevor Werther Lotte kennenlernt, wird er von seinen Tanzpartnerinnen regelrecht gewarnt: »Nehmen sie sich in Acht [...]« (W., S. 208) - eine Mahnung, die angesichts des Schicksals des wahnsinnigen Schreibers wohl angebracht ist. Lotte ist sinnlich aufgeschlossen, sie tanzt leidenschaftlich gern und wählt sich Werther als Partner für den Walzer, einen Tanz, der zu der Zeit einen gewissen Freimut signalisierte.34 Auch Werther bemerkt, daß das Walzertanzen eine Intimität wie unter Liebenden hervorbringt, und schwört Briefpartner Wilhelm, »[...] daß ein Mädchen, das ich liebte, auf das ich Ansprüche hätte, mir nie mit einem andern walzen sollte, als mit mir [...]« (W., S. 213). Und eine ausdrücklich als positiv gekennzeichnete Frau aus der Nachbarschaft, die Werther »wegen ihrer liebenswürdigen Miene auf einem nicht mehr ganz jungen Gesichte« aufgefallen war, hält es ebenfalls fur nötig, Lotte einen drohenden Finger zu zeigen und zweimal mit Nachdruck den Namen Alberts zu nennen. Als Werther sie daraufhin fragt, wer denn Albert sei, antwortet Lotte - wie es Weither scheint - nachdenklich, jedenfalls aber doch zögernd: »Was soll ich's ihnen leugnen [...] Albert ist ein braver Mensch, dem ich so gut als verlobt bin!« (W., S. 214) - wobei sich die Frage aufdrängt, warum sie überhaupt an ein Verleugnen ihres Verlobten gedacht haben mag. Nicht erst in der zweiten Fassung des »Werther«, die die Baueraburschen-Episode mit der entgegenkommenden Witwe und die Szene mit dem Kanarienkuß enthält, die Thomas Mann so verräterisch vorkam, erscheint Lotte als sinnlich verführerische Frau - sie findet Gefallen an Werthers Gegenwart und zeigt dies auch, sie ermuntert ihn zu kommen (W., S. 229), sie rückt ihm im Gespräch sehr nahe (W., S,226) usw. 35 Damit gerät sie an den Rand des innerhalb des empfindsamen Freundschaftscodes der Zeit Zulässigen, und Albert sieht sich zuletzt gezwungen, sie um ein klares Bekenntnis zu ihrer Ehe zu bitten und Werthers allzu häufige Besuche abzuwehren. Die Beziehung zwischen Albert und Lotte gestaltet sich ganz nach dem zu erwartenden Verlaufsschema der bürgerlich-empfindsamen Ehe englischer Provenienz. Ihre gegenseitige Zuneigung gründet sich auf Verdienste, auf benennbare Eigenschaften: Lotte mag an Albert seine RechtschafFenheit, Verläßlichkeit und Güte - er lobt an ihr ihre Mütterlichkeit, ihre tätige Nächstenliebe, dazu ihre Munterkeit. Zudem ist ihre Beziehung gleichsam ein Vermächtnis der Mutter Lottes. Der Herausgeber faßt zusammen: Albert liebt Lotte »mit der ruhigen Treue eines rechtschaffenen Manns, und der freundliche Umgang mit ihr subordinierte sich nach und nach seinen Geschäften.« Die Aufdringlichkeit Werthers, die sich Lotte offenbar gern gefallen läßt, verschlechtert allerdings das Verhältnis der Eheleute zueinander. Alberts und Lottes Ehe gestaltet sich so, wie die popularphilosophischen Texte eine normale, bürgerlich-kameradschaftliche Ehe verstehen. Werthers Verhalten aber bringt 34 35
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Vgl. die Anmerkung Trunz1 in der Hamburger Ausgabe, Bd. 6, München 1989, S. 573. Im Gegensatz zu Ε. K. Warrick sehe ich aber keinen Grund, Lottes Sexualität als »aggressiv« zu bezeichnen - Warrick begründet ihre Wortwahl selbst leider nicht.
Unruhe in diesen friedlichen Alltag, indem es sexuelle Leidenschaft und Seelenliebe über die Grenzen der empfindsamen Vernunft hinaus fuhrt und auf die Legitimität des radikalen Lebens pocht. 3.1.4. Die Werther-Liebe Die soziale Sprengkraft der Liebe Werthers zu Lotte36 besteht in ihrer Sinnlichkeit und geistig-psychische Nähe gleichzeitig beanspruchenden Totalität, wie Werther sie in der intimen Beziehung zu einer gestorbenen Jugendfreundin (angeblich) schon einmal erlebt hat und hinter deren Ideal zurückzugehen er nicht bereit ist. Der hervorragende Zug dieser Liebesbeziehung lag in ihrer Funktion fur die Identität des Subjekts, das sich in der uneingeschränkten, ganzheitlichen Anerkennung seiner Individualität durch den anderen entfalten kann: Die geliebte Frau nennt Werther im Rückblick die große Seele, in deren Gegenwart ich mir schien mehr zu sein als ich war, weil ich alles war was ich sein konnte. Guter Gott, blieb da eine einzige Kraft meiner Seele ungenutzt, könnt ich nicht vor ihr all das wunderbare Gefühl entwickeln, mit dem mein Herz die Natur umfaßt, war unser Umgang nicht ein ewiges Weben von feinster Empfindung, schärfstem Witze, dessen Modifikationen bis zur Unart alle mit dem Stempel des Genies bezeichnet waren?37 (W., S. 202,17. Mai). Werthers Gefühl gegenüber Lotte entzieht sich der Dichotomie von (geistiger) Freundschaft und (sinnlicher, zweckrationaler) Ehe. Lotte ist zu Beginn der Bekanntschaft mit Werther noch nicht einmal regelrecht verlobt mit Albert - dennoch strengt Werther keine Werbung an. Als Brieffreund Wilhelm ihm zur Werbung um Lotte oder aber zur Entsagung rät, spricht sich Werther für die Strategie aus, sich »zwischen dem Entweder Oder durchzustehlen« (W., S. 230, 8. Aug.) - das überwältigende Gefühl der allgegenwärtigen Inkludenz, das Werther schon gleich zu Beginn in seinen Briefen artikuliert (W., Briefe vom 17. u. 22. Mai, S. 201/02 u. 203) und das ihm die Motivation nimmt, sich in eine von ihm letztlich abgelehnte, da am Primat des Zweckes orientierte Gesellschaft einzufügen und einen Beruf zu ergreifen, verhindert auch den Gedanken an eine Heirat unter den gegebenen sozialen Prämissen. Eine »totale« Liebe, wie sie Werther als Ideal vorschwebt ein junges Herz hängt ganz an einem Mädchen, bringt alle Stunden seines Tags bei ihr zu, verschwendet all seine Kräfte, all sein Vermögen, um ihr jeden Augenblick auszudrücken, daß er sich ganz ihr hingibt (W., S. 205, 26. Mai)
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Zunächst bleibt irrelevant, ob Lotte Werthers Gefühle erwidert. Werthers Bedürfnisse, sein Liebeskonzept, stehen hier im Vordergrund des Interesses: Denn er ist - so sei noch einmal erinnert - der typische vom Gesellschaftsstrukturwandel betroffene junge bürgerliche Intellektuelle, der sich an den sozialen Lebensbedingungen stößt. Auffällig hier die Wortwahl, die eine Synthese von Sinnlichkeit und Geist in der Intimbeziehung fast im Schlegelschen Sinne vorwegzunehmen scheint... 85
- Werthers Liebe also ist mit der herkömmlichen vernunftgeleiteten Ehe seiner Zeit, wie sie noch verhältnismäßig positiv in der Ehe Alberts und Lottes38 zitiert wird, nicht vereinbar. Die Liebe zu Lotte bedeutet innerhalb des Romans die letzte Stufe einer fortschreitenden Verengung des Außenweltkontaktes fur Werther. Zu Beginn ist er froh, seine Familie und den Freund Wilhelm verlassen zu haben - denn nun ist er frei von verpflichtenden Bindungen. Die neue Freiheit aber - so muß er erfahren - bedeutet Beliebigkeit und Verunsicherung. Werther erlebt die irritierende Kontingenz des modernen Subjekts, seine Abhängigkeit von wechselnden Stimmungen, die »vom Kummer zur Ausschweifung, und von süßer Melancholie zur verderblichen Leidenschaft« übergehen (W., S. 200, 13. Mai). Letztlich verbirgt sich hinter Werthers Instabilität eine Erkenntniskrise: Er vermag nicht mehr, präzise zwischen seiner Innenwelt und der ihn umgebenden Außenwelt zu unterscheiden, subjektive Projektion und Objektgehalt zuzurechnen: Ich weiß nicht, ob so täuschende Geister um diese Gegend schweben, oder ob die warme himmlische Phantasie in meinem Herzen ist, die mir alles rings umher so paradiesisch macht, schreibt er das Problem benennend an Wilhelm (W., S. 199, 12. Mai). Ihm fehlt eine Instanz, die seine ausufernde Subjektivität kontrolliert, denn seine Innerlichkeit - das stellt er selbst fest - ist eine »Welt [...] mehr in Ahndung und dunkler Begier, als in Darstellung und lebendiger Kraft.« (W., S. 203, 22. Mai). Um der Unstetigkeit seiner Subjektivität Beständigkeit entgegenzusetzen, sucht Werther in seiner neuen, selbst gewählten Umwelt nach verläßlichen Außenweltkorrelaten:39 in der Natur, beim einfachen Volk, in der Kunst und in der Religion, im bürgerlichen Beruf und zuletzt in der Geliebten. 40 Die Erhebung und Entgrenzung durch Identifikation mit der umgebenden Frühlingsnatur (W., S. 199, 10. Mai) wird aber sofort von Werther selbst als Entindividualisie38 39
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Vgl. aber auch die negative Ausprägung, wie sie in der kleinen Geschichte von der sterbenden Frau M. (W„ S. 225, 11. Juli) angedeutet ist. Für Peter J. Brenner stellt der »Weither« gerade deshalb ein zentrales Dokument in der Konstitutionsgeschichte des modernen Subjekts dar, weil in dem Roman ein Individuum, das um Autonomie ringt, sich gleichzeitig seiner Umwelt gegenüber öfinet und versucht, eine wahre Identität über die Versöhnung von Innen- und Außenwelt zu erreichen. Die individuelleren Charaktere in der Literatur des 18. Jahrhundets vor »Werther« würden als Melancholiker auftreten und ihre Individualität nur im Schutze der melancholischen Verschlossenheit entwickeln können, vgl. P. J. Brenner: Die Krise der Selbstbehauptung. Subjekt und Wirklichkeit im Roman der Aufklärung, Tübingen 1981, S. 112ff. Brenner hat allerdings einen etwas zu emphatischen Begriff von Individualität, da er im Rahmen einer an Benjamin orientierten >kritischen Hermeneutik< arbeitet. Zu den verschiedenen Versuchen Werthers, seine Identität zu konstruieren, vgl. Will Hasty: On the Construction (1989): Hasty nennt »Natur«, »Literatur« und »Lotte/Lottes Familie« als Identifikationsinstanzen für Weither. Ähnlich auch Klaus R Scherpe: Weither und Wertherwirkung (1980), S. 55ff.
rung und somit als falscher Weg der Außenbindung von Innerlichkeit analysiert: »[...] ich gehe darüber zu Grunde, ich erliege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen.« Der Versuch der Kontaktaufiiahme mit dem »Volk« (W., S. 200/01, Brief vom 15. Mai) scheitert an den Standesschranken, dem Mißtrauen der einfachen Leute gegenüber der Herablassung Werthers - aber auch an Werthers empfindsamem Versagen vor der materiellen Not. Wie auch Viktor im »Hesperus« sehen wir Werther mit der hilflosen Geste des Geldgeschenks auf wirkliches Unglück reagieren.41 Auch in der Kunst vermag Werthers Subjektivismus nicht zu objektivieren: Seine künstlerischen Ambitionen entäußern sich nicht in wirklicher Produktion, seine Lektürepraxis 42 ist bestimmt von seinen wechselnden Stimmungen, zur Stützung seiner Projektionen liest er bald Homer, bald Ossian, empfindet mit Hilfe Klopstocks oder eines Volksmärchens und bedient sich des Alten Testaments oder des Johannes-Evangeliums. Werther, der nichts höher schätzt als persönliche Autonomie, der sich trotz aller persönlichen Freiheit von sozialen Erwartungen und Normen eingeschränkt fühlt und sich danach sehnt, »einen Tropfen der Seligkeit des Wesens zu fühlen, das alles in sich und durch sich hervorbringt« (W., S. 239, Hervorhebung v. Vf.), ist sichtlich nicht für die Position eines Beamten im aufgeklärten absolutistischen Staat geeignet: Ich stehe wie vor einem Raritätenkasten, und sehe die Männgen und Gäulgen vor mir henunrücken, und frage mich oft, ob's nicht optischer Betrug ist. Ich spiele mit, vielmehr, ich werde gespielt wie eine Marionette, und fasse manchmal meinen Nachbar an der hölzernen Hand und schaudere zurück. (W., S. 251, 20. Jan.) so beschreibt Werther in Jean Paulinischen Bildern seinen vorübergehenden Aufenthalt in der Residenz. Rationalität und Allgemeingültigkeit gelten ihm im Vergleich zur individuellen Einzigartigkeit als Unwerte.43 Einer unbefriedigenden Außenwelt setzt er seine Innerlichkeit entgegen: »Ich kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt!« (W., S. 203, 22.Mai). Werther verankert seine Individualität in seiner subjektiven Gefühlswelt: Sein Herz - so schreibt er - sei sein ganzer Stolz, ganz allein die Quelle von allem [...], aller Kraft, aller Seligkeit und alles Elends. Ach was ich weiß, kann jeder wissen.- Mein Herz hab ich allein. (W., S. 259, 9. Mai, Hervorhebung v. Vf.).44
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Den Kindern der Schulmeisterstochter gibt er vor und nach deren persönlicher Katastrophe Geld (W., S. 261, Brief vom 4.August), und sogar der Mutter des wahnsinnigen Schreibers drückt er Geld in die Hand (W., S. 271, Brief v. 30.Nov.). Vgl. dazu auch den Aufsatz von W. Daniel Wilson: Patriarchy (1989). Zum Umgang Werthers mit Lektüre vgl. u.a. Thomé (1978), S. 412ff, und Pütz (1983). Vgl. dazu die Argumentationen Alberts und Werthers in der Diskussion um den Selbstmord (W„ S. 232-237, 12. August). Die Empfindsamkeit hatte Körperlichkeit, Gefühle und Individualität, gestützt auf die neue Fiberntheorie der Empfindungen in der Medizin, in einen Zusammenhang gebracht. 87
Ist das Herz, die innere Gefühlswelt, der Sitz der Individualität und als solcher von höchstem Wert, so erlangt auch die Liebesbeziehung als der Raum der stärksten Gefühle Vorrang vor allen anderen Lebensbereichen. Gerade in dieser Sphäre aber Einschränkungen hinnehmen zu müssen, wie sie die zeitgenössischen Konzepte von Freundschaft, Liebe und Ehe diktieren, wird dann tödlich.43 Die radikale Selbstreferentialität des (modernen) Subjekts und die Autonomie seiner Liebe sind den aufgeklärten Zeitgenossen, die auf Intersubjektivität und Begründbarkeit, auf ein Handeln nach vernünftigen, widerspruchsfreien Prinzipien setzen,46 nicht kommunikabel. Eine Kette von MißVerständnissen, Fehldeutungen und Kommunikationsproblemen durchzieht den Briefroman, der nicht ohne Absicht monologisch konzipiert ist. Werther erlebt Unverständnis in fast allen zwischenmenschlichen Beziehungen, etwa in Begegnungen mit Vertretern der Kleinstadt und des Dorfes (W., S. 198, 4. Mai; S. 202, 17. Mai), in Diskussionen mit Albert (W., S. 232/33 u. 237,12. Aug.) und Wilhelm ( u.a. W„ S. 230/31, 8. Aug.), auf der Gesandtschaft (W., S. 248, 24. Dez.) und beim Fürsten (W., S. 260, 11. Juni). Vor dem Hintergrund des alltäglichen Scheiterns von Kommunikation erhält das scheinbare Gelingen sympathetischer Kommunikation mit Lotte für Werther verständlicherweise besonderes Gewicht. Werthers Individualität, die sich in der unverwechselbaren Liebe zu Lotte manifestiert, ist begrifflich nicht zu fassen und seiner Umwelt nicht zugänglich, seine Sensibilität so abweichend, daß sie den Namen einer Krankheit zu verdienen scheint. Den Ratschlägen der zeitgenössischen Medizin folgend empfiehlt Lotte Werther Mäßigung, Ablenkung durch eine Reise und schließlich ein anderes Liebesobjekt. Ihre hilflose Vermutung, sie erscheine Werther nur so reizend, weil sie einem anderen gehöre, geht in ihrer Trivialität und Generalität - Lotte gibt selbst zu, diesen Verdacht könne jeder ha-
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Ernst Friedrich Ockel z.B. behauptet 1772 in seiner empfindsamen popularphilosophischen Schrift »Ueber die Sittlichkeit der Wollust« (Mietau, Hasenpoth u. Leipzig), S. 280/81, daß Unterschiede in den Empfindungen durch Unterschiede in den Fibern verursacht würden. Gefühle seien daher individueller als Gedanken und schwieriger zu kommunizieren: »Jeder hat seine eigene Denkart; aber noch mehr seine charakterisirte Empfindungsart, und von ihren Empfindungen werden mehrere, als von ihren Gedanken, wie jener zu sagen Ursach finden: ich bin mein eigener, einziger und bester Leser.« - Auffällig dabei die Wortwahl: Die Gefühlswelt wird als Buch, als Text begriffen: In Texten - wo sonst? - wird Individualität paradigmatisch zur Anschauung gebracht. Klaus Hübner: Alltag im literarischen Werk (1982) kommt zu dem Ergebnis, daß die Exklusion der Sinnlichkeit in der sozialen Umwelt Werthers verantwortlich für seine Selbstvernichtung sei (S. 176). Hübner bezieht den sinnenfeindlichen Grundzug der Gesellschaft allerdings zu einfach auf den Einfluß der christlichen Religion. Paradigmatisch formuliert etwa in Kants »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« (1798) im Begriff des Charakters: »Einen Charakter aber schlechthin zu haben, bedeutet diejenige Eigenschaft des Willens, nach welcher das Subjekt sich selbst an bestimmte praktische Prinzipien bindet, die er sich durch seine eigene Vernunft unabänderlich vorgeschrieben hat.« In: Immanuel Kant: Werke, Bd. VI, hrsg. v. W. Weischedel, Darmstadt 1964, S. 633.
ben - an Werther vorbei.47 Werther kann sich nicht mit der »Seligkeit einer wahren Freundschaft« (W., S. 275, 20. Dez.)-wie sie ihm Lotte anbietet - zufriedengeben. Sein Gefühl fur Lotte umfaßt sowohl geistig-psychisches Verstehen als auch erotische Wünsche, beide Komponenten stehen in einem spannungsvollen Steigerungsverhältnis zueinander. Sympathetische Kommunikation kennzeichnet den Umgang Werthers mit Lotte. Ohne den Umweg über generalisierende Begrifflichkeit nehmen zu müssen, verläuft ihr intersubjektives Verstehen - so Werther - gleich zu Beginn ihrer Bekanntschaft unmittelbar von »Sinn« zu »Sinn«:48 Werther erzählt Wilhelm, daß er »in den herrlichen Sinn ihrer [Lottes, d. Vf.] Rede ganz versunken, oft gar die Worte nicht hörte, mit denen sie sich ausdrückte.« (W., S. 212, 16. Juni). In der berühmten Gewitter-Szene wiederholt sich mit der Klopstock-Losung diese fast wortlose Kommunikation zwischen den zwei Gemütern. Die Kastanienallee, in der das Gespräch über die Unsterblichkeit zwischen Albert, Lotte und Werther stattfindet (W., S. 242 ff, 3. Sept.), ist unter demselben Zeichen ein gemeinsamer Lieblingsort Lottes und Werthers. Beide teilen eine Vorliebe für fiktionale Literatur. Das vermeintliche tiefe gegenseitige Verständnis führt Werther dazu, sich als den eigentlich passenden Partner Lottes zu empfinden: [...] Wilhelm, sie wäre mit mir glücklicher geworden als mit ihm! O er [Albert, d. Vf.] ist nicht der Mensch, die Wünsche dieses Herzens alle zu füllen. Ein gewisser Mangel an Fühlbarkeit, ein Mangel -nimm's wie du willst, daß sein Herz nicht sympathetisch schlägt bei -oh! - bei der Stelle eines lieben Buchs, wo mein Herz und Lottens in einem zusammen treffen. In hundert andern Vorfällen, wenn's kommt, daß unsere Empfindungen über eine Handlung eines dritten laut werden (W., S. 261, 29. Juli). Die Funktion der individuellen Übereinstimmung der beiden Menschen liegt für Werther in der Bestätigung seines idiosynkratischen Weltentwurfs, in der Erlösung aus der Einsamkeit des bloßen Solipsismus, in der Rettung vor dem Ich-Zerfall in der Willkür wechselnder subjektiver Stimmungen: Bin ich nicht noch eben derselbe, der ehemals in aller Fülle der Empfindung henunschwebte, dem auf jedem Tritte ein Paradies folgte, der ein Herz hatte, eine ganze Welt liebevoll zu umfassen. Und das Herz ist jetzo tot [...] (W., S. S. 266, 3. Nov., Hervorhebung v. Vf.).
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Dennoch folgt die Werther-Forschung gern diesem Deutimgsangebot Lottes: z.B. Scherpe, S. 65; Appelbaum-Graham, S. 18; Erika Nolan: Goethes >Die Leiden des jungen WertherGeschlechterliebe< und inniger Freundschaft ist im Verhalten kaum kommunizierbar. Nach der Ossian-Lektüre aber, als sich auch in Lottes Verhalten ein klares Bekenntnis ihrer Liebe zu Werther abzeichnet - ihrer Liebe, wohlgemerkt, nicht eines etwaigen Ehewunsches - erhellt die Problematik ihres Verhältnisses zur Klarheit einer Aporie. Lotte reißt sich aus Werthers Armen und schließt die Tür hinter sich, Werther werde sie nicht Wiedersehen. Er will ihr Lebewohl sagen - »-Sie schwieg, er harrte - und bat - und harrte, dann riß er sich weg [...]« (W., S. 291). Lottes Schweigen bedeutet die Unlösbarkeit des Konflikts im zeitgenössischen sozialen und sprachlichen Kontext. 66 Als Werther um die Pistolen bitten läßt, ahnt Lotte, daß er sich umbringen will. Ihr gestörtes Verhältnis zu Albert verhindert jedoch eine Mitteilung ihrer Ängste. Sie kommt zu keinem Entschluß, wie Werther zu helfen wäre: Bald war sie im Begriff sich zu den Füßen ihres Mannes zu werfen, ihm alles zu entdekken, die Geschichte des gestrigen Abends, ihre Unschuld und ihre Ahndungen. Dann sah sie wieder keinen Ausgang des Unternehmens [...] (W., S. 295).
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25 Jahre später als weiblicher Geschlechtscharakter im männlichen Diskurs etabliert haben wird. Zu Goethes Stilisierung Lotte Kestners zur »schönen Weiblichkeit« vgl. Eckhardt Meyer-Krentler: Die Leiden der jungen Wertherin. Weibliche Sozialisation durch Literatur im späten 18. Jahrhundert, in: Zwischen Aufklärung und Restauration: Sozialer Wandel in der deutschen Literatur (1700-1848), hrsg. v. Wolfgang Frühwald, Tübingen 1989, S. 225-248. Mehr zum Attributionsproblem bei Luhmann, Passion, S. 41ff. Die zweite Fassung des Romans enthält eine zusätzlich verdeutlichende Textstelle: Der Herausgeber berichtet, daß Lotte überlegt, wie sie Weither gefahrlos in ihr soziales Umfeld integrieren kann: Sie stellt sich Werther als Bruder vor und als Gatten einer ihrer Freundinnen - muß sich aber eingestehen, daß keine dieser Rollen ihr ganz zusagt und daß sie Werther am liebsten »für sich zu behalten« wünscht (Hamburger Ausgabe, S. 106/07). 95
Lottes Verhältnis zu Werther läßt sich nicht über vorhandene soziale Rollen identifizieren. In der Semantik für Intimität um 1774 - so eine Plausibilisierung fur die Unlösbarkeit des Liebeskonfliktes - ist eine Werther-Liebe nicht codierbar. Psychische Interpénétration, gepaart mit individuumsbezogener Erotik, paßt weder in das gängige Freundschafts- noch in das Ehekonzept. Alternativen sind schon denkbar, aber noch allzu variant und nicht wirklich benennbar, geschweige denn zu verwirklichen. Nachdem Werther die subjektstabilisierende Liebe genommen ist, verfällt er dem Tod. In seinen letzten Aufzeichnungen deutet sich Verwirrung an: Er imaginiert sich nacheinander als Geliebten Lottes, als Sohn Gottes, dann - zunehmend desillusioniert - als undankbaren Freund Alberts und Ehestörer... Auch die Vorstellung, wie Emilia Galotti einen Opfertod zu sterben und so seine moralische Integrität zu bewahren, gibt Werther schließlich auf, deutlich formuliert er diese Hoffnung im Irrealis: Daß ich des Glücks hätte teilhaftig werden können! Für dich zu sterben, Lotte, fur dich mich hinzugeben. Ich wollte mutig, ich wollte freudig sterben, wenn ich dir die Ruhe, die Wonne deines Lebens wieder schaffen könnte; aber ach das ward nur wenig Edlen gegeben, ihr Blut flir die Ihrigen zu vergießen [...] (W., S. 297). 25 Jahre später wird Schlegel in seiner »Lucinde« eine gelingende Werther-Liebe schildern. Zuvor aber erfahrt Goethes Wertherfigur noch ihre moralische Kritik durch die Zeitgenossen. Die Liebe im Roman stößt nicht bei allen Lesern auf Gegenliebe. 3.1.5. Die Reaktionen der Zeitgenossen Die Erstrezeption des »Werther« ist vielfach dokumentiert,67 eine gute Zusammenfassung findet sich bei Flaschka.68 Die spektakuläre Aufnahme des »Werther« war bestimmt von den unterschiedlichen »Konkretisationen« des Romans, die sich aus einem
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Rezeptionszeugnisse sind gesammelt bei: Johann Wilhelm Appell: Werther und seine Zeit. Zur Goethe-Litteratur, 4., verbesserte u. vermehrte Auflage, Oldenburg 1896; Hermann Blumenthal: Zeitgenössische Rezensionen und Urteile über Goethes »Götz« und »Werther«, Berlin 1935; Julius W. Braun: Goethe im Urtheile seiner Zeitgenossen. Zeitungskritiken, Berichte, Notizen, Goethe und seine Werke betreffend, Bd. 1 (1773-1786), Berlin 1883; Georg Jäger: Die Leiden des Alten und Neuen Weither. Kommentare, Abbildungen, Materialien, München 1984; Karl Robert Mandelkow: Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers, Bd. 1: 1773-1918, München 1980, und ders.: Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland. Teil I (1773-1832), München 1975; Peter Müller: Der junge Goethe im zeitgenössischen Urteil, Berlin 1969; Kurt Rothmann: J. W. Goethe. Die Leiden des jungen Werther. Erläuterungen und Dokumente, Stuttgart, revidierte Ausgabe 1987 (= RUB 8113 [2]); Hartmut Schmidt: Goethes »Werther« als Schule der Leidenschaften. WertherRezensionen im Horizont der Popularästhetik um 1775, in: Insel-Almanach auf das Jahr 1973. Die Leiden des jungen Werthers, Frankf./M. 1973, S. 70-122. Horst Flaschka (1987), S. 239-298.
unterschiedlichen Umgang mit fiktionaler Literatur, aus unterschiedlichen Arten des Lesens, herleiteten.69 Schon mit Gellerts »Schwedischer Gräfin« beginnt die Ablösung der puren didaktischen Wirkungsintention der fiktionalen Literatur durch die Intention, unmittelbar auf das Gefühl des Lesers zu wirken und dieses sanft zu veredeln - denn auf das gute Gefühl - so betonen die Theoretiker der Empfindsamkeit - folgt die gute Tat. Im empfindsamen zweiten Teil70 der »Schwedischen Gräfin« heißt es gleich zu Beginn: »Es ist immer, als wenn man mehr Anteil an einer Begebenheit nähme, wenn sie der selbst erzählet, dem sie zugestoßen ist.«71 Gefühlsmäßige Anteilnahme des Lesers zu erzielen bis hin zur Identifikation mit den fiktiven Figuren, gilt ab 1750 zunehmend als Zweck der Dichtung. 1768 entwirft Lessing im 74. bis 78. Stück der »Hamburger Dramaturgie« seine Mitleidspoetik: Literatur soll Empathie einüben. 1773 fordert Sulzer in seiner »Allgemeinen Theorie der schönen Künste« ebenfalls, daß die Literatur Empfindungen kultivieren soll. Und Blanckenburg benennt in seiner Romantheorie von 1774 geradezu als einziges und Hauptthema des Romans die Darstellung des Menschen,72 seiner Innerlichkeit73 und seiner individuellen Entwicklung, und zwar in ihrer logisch-kausal nachvollziehbaren Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt.74 Trotz des allgemein verbreiteten aufklärerischen Interesses für Psychologie trifft der Briefroman Goethes insgesamt auf ein heterogenes und unterschiedlich reagierendes Publikum: auf strenge Vertreter der protestantischen Orthodoxie wie Goeze oder Ziegra oder den christlich gesinnten Professor der Kamerai- und Polizeiwissenschaften J. A. Schlettwein, auf fortschrittliche, kritische Aufklärer wie Lessing, Nicolai, Garve und Blanckenburg und auf begeisterte Vertreter der jüngeren Generation, die >ihren Werther< so identifikatorisch lasen wie Werther >seinen Homer< oder >seinen OssianLeidenschaft ohne Religion und Vernunft, einen rein sexuell motivierten, gedanklich schon vollzogenen Ehebruch. Platonische Liebe hält Goeze für unmöglich, »eine leere Abstraktion«.76 Ch.Ziegra wendet sich im gleichen Publikationsorgan gegen die Erzählung von der »närrische[n] und verbotene[n] Liebe« Werthers, die er für besonders jugendgefährdend hält, als der »Verfasser« »ohne die geringste Warnung und Misbilligung erzählt.«77 Die Lehren, die die Jugend aus dem Buch ziehen würde, lauteten: »Folgt euren natürlichen Trieben. Verliebt euch, um das Leere eurer Seelen auszufüllen. Gaukelt in der Welt herrum [...]«-drückt euch vor Berufsarbeit, begeht schließlich Selbstmord: Und was ist zuletzt das Ende von diesem Liede? dieses: lasset uns essen und trinken und fröhlich seyn, wir können sterben wenn wir wollen. Ohngefähr sind wir geboren, und ohngefähr fahren wir wieder dahin, als wären wir nie gewesen - so die christlich-protestantische Horrorvision vor einem sensualistischen Materialismus. - Individualismus, Subjektivismus, Phantasie und Sinnlichkeit stellt J. A. Schlettwein in einen Zusammenhang mit aristokratischem Müßiggang, Immoralismus und Narzißmus. In dem fiktiven »Zuruf« Werthers »aus der Ewigkeit an die noch lebende Menschen auf der Erde« (1775?)78 beichtet Weither seine Vergangenheit als ruchloser Wollüstling. Erzogen im adligen Milieu verfeinerter Genüsse wird Werther zum teuflischen Narzißten und Sensualisten: 75
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Das auch ganz allgemein ein Merkmal des Genres »Briefroman«, vgl. Wilhelm Voßkamp: Dialogische Vergegenwärtigung beim Schreiben und Lesen. Zur Poetik des Briefromans im 18. Jahrhundert, in: DVjs 45 (1971), S. 80-116. Vgl. auch die Hinweise bei M. Nutz (1982/83). Goezes Aufsatz, der am 4.4.1775 in den »Freywilligen Beyträgen zu den Hamburger Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit« erschien, ist u.a. abgedruckt bei Peter Müller (1969), S. 119-126. Ziegras Aufsatz vom 21.3.1775 findet sich ebenfalls bei Peter Müller, S. 126-129. Auszugsweise abgedruckt bei G. Jäger (1984), S. 133-136.
Nun gefiel mir nichts, als Genuß sinnlicher Lust, ich hatte an nichts Geschmack [...] als an dem, was meine äußern Sinne rührte [...] an Ausschweifungen der Triebe meines Körpers, und dann an poetischen Bildern, diesen fressenden Giften für die Reinigkeit und Heiterkeit der Seele, und für den Wahrheitssinn. (Hervorhebg v. Vf.) Sinnlichkeit und Phantasie machten Werther - so sein Selbstbekenntnis - »ungerecht, ungehorsam, grausam, unbarmherzig, ein Verläumder der Religion, ein Feind und Spötter Gottes, ein niederträchtiger, ein Mörder, alles, alles - ,«79 Die Vertreter der Aufklärung, denen christlich-asketische Sinnenfeindschaft fern liegt, gehen mit Werther weniger hart ins Gericht. Sie loben die Plausibilität des Charakters und die psychologische Nachvollziehbarkeit seiner Katastrophe. Im Bewußtsein der Verantwortung für die Erziehung der Zeitgenossen aber halten sie die relative Wertneutralität der Erzählhaltung im »Werther« fur gefahrlich und plädieren deshalb für eine deutliche Leseanweisung: Garve fordert von einem Dichter, er muß mir die Fehlschlüsse als Fehlschlüsse, die irrigen Begriffe als irrig, die falschen Gründe als falsch [...] zeigen. Dieses nicht gethan oder nicht genug gethan zu haben, ist wohl der größte Vorwurf, den man dem Verfasser der Leiden Werthers machen kann.80 Lessing empfiehlt Goethe »noch ein Kapitelchen zum Schlüsse; und je cynischer, je besser!«81 Blanckenburg enthebt Goethe der persönlichen Verantwortung - »der Dichter ist nicht verbunden, uns immer ein sittliches Ideal zu geben« - fordert aber, daß in den Schulen der richtige Umgang mit fiktionaler Literatur geübt werde: [...] wäre nicht ein Kapitelchen über die Art, wie man die Dichter lesen müsse, um sie zu nützen, in unsere Erziehungsuntenichte einzuflechten, da Dichter beinahe allgemeine Lektüre geworden sind?82 Die Figur des Werther erscheint den Aufklärern als mitleiderregend - ein pathologischer Charakter: Blanckenburg diagnostiziert in Einklang mit der zeitgenössischen Medizin »Schwermut«; Garve bedauert, daß die Sinnlichkeit Werther die Ruhe des Geistes und des Herzens, die allein der Verstand bewahre, raube, und rät einem Charakter wie Werther generell zur »Verhütung der Leidenschaft selbst«.83 Im Brief an Nicolai über dessen Werther-Parodie bemerkt Garve, daß Nicolais Werther vielleicht besser nicht einmal Lotte hätte bekommen sollen, sondern daß gezeigt werden sollte, »dass es Werthern möglich gewesen sey auch ohne Lotten glücklich zu werden.«84 Die noch an der allmeinen Vernunft orientierten Aufklärer halten Werthers Individualität und individuumsbezogene Liebe für abweichend und überspannt. Sie vertreten - wie vor dem Hrn79
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Die Tatsache, daß Werthers >Krankheit< tatsächlich Symptome zeitigt, die denen der Onanie ähneln, läßt Schlettweins Anschuldigungen nicht allzu entlegen erscheinen; vgl. zur Symptomatik von Werthers Leiden den Aufsatz von Renner (1985). In: Müller (1969), S. 153. In: Schmidt (1973), S. 74. Ebd., S. 112. In: Müller, S. 151. In: Müller, S. 149. 99
tergrund der in Kap. 2 vorgestellten expositorischen Schriften zur Liebe behauptet werden kann - einen für die Stimmung der Gebildeten um 1775 in Deutschland repräsentativen Standpunkt. Doch auch der Subjektivismus Werthers ist so gar individuell nicht: Der Figur Werthers wird von zahlreichen Anhängern der jungen Geniebewegung85 Anerkennung und Bewunderung zuteil. Die seelisch-geistigen Komponenten der Werther-Liebe werden als solche erkannt und gelten nicht länger bloß als versteckte Sinnlichkeit. Heinse erkennt die petrarkistischen Elemente im »Werther«: Werther lasse »an einigen Stellen den Petrarca unter sich, in dessen Gedichten man alles heftige Leiden und heilige Entzücken von Liebe vereinigt findet.«86 In seinen »Briefen über die Moralität der Leiden des jungen Werthers«, der wohl elaboriertesten Apologie des Romans, identifiziert J. M. R. Lenz die Berliner Aufklärer, allen voran natürlich Nicolai, mit Albert, dem kaltsinnigen Gatten Lottes. Lenz empört sich über die Leichtigkeit, mit der Nicolais Albert (Martin) Lotte bereit ist aufzugeben - das empfindsame Freundschafisdreieck im Sinne der »Schwedischen Gräfin« ist endgültig passé: Die scheinbare Großmut mit der ein Liebhaber seinem Freunde seine Geliebte abtritt wie man ein Paar Handschuh auszieht, ist mir von jeher wie ein Schlag ins Gesicht gewesen. Wissen die Herren was es heißt, lieben? Und daß eine Geliebte abtreten, schwerer ist als sich das Leben nehmen. Nur ein Albert aus Berlin konnte das und das ganz gelassen. Aber der Henker glaub ihm, daß er herzlich geliebt habe. Wer erfahren hat was die beyden Namen sagen wollen, Freund und Geliebte, der wird keinen Augenblick anstehen, seinen Freund für den er übrigens das Leben geben könnte, seiner Geliebten nachzusetzen.87 Die junge Generation empfindsamer bürgerlicher Intellektueller bejaht das Konzept der »totalen« Liebe Werthers. Die Liebe zur geliebten Frau wird deutlich über die Männerfreundschaft gestellt. Von einer Ehe mit der so geliebten allerdings ist (noch) nicht die Rede. Gilt der protestantischen Orthodoxie fiktionale Literatur generell erst einmal als verwerflich, und versuchen die Aufklärer, dem Roman die Aufgabe der Moraldidaxe und der Versittlichung von Empfindungen zuzuweisen, so bekennen sich die Empfindsamen und Anhänger der Geniebewegung wie etwa Heinse zum distanzlosen identifikatorischen Lesen: Wer gefühlt hat, und fühlt, was Werther fühlte; dem verschwinden die Gedanken, wie leichte Nebel vor Sonnenfeuer, wenn er's bloß anzeigen soll. Das Herz ist einem so voll davon, und der ganze Kopf ein Gefühl von Thräne.88
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Flaschka nennt u.a. Lenz, Merck, Herder, Wagner, Bürger, Boie, Klinger, Schlosser, Lavater, die Stolbergs, Voß, Jacobi, Heinse, Schubart, Hamann, Schleiermacher, Moritz ... (S. 253/54). In: Müller, S. 209. Ebd., S. 221. Ebd., S. 208.
Lenz geht einen Schritt über dieses reflexionslose Nachempfinden hinaus, indem er die Funktion von Dichtung in der selbständigen Gefühls- und Verstandesbildung des Lesers sieht, der sich im Prozeß der Auseinandersetzung mit dem Roman selbst kennenlernt: Eben darinn besteht Weithers Verdienst daß er uns mit Leidenschaften und Empfindungen bekannt macht, die jeder in sich dunkel fühlt, die er aber nicht mit Namen zu nennen weiß. Darin besteht das Verdienst jedes Dichters.89
3.2. Die Liebe in Jean Pauls »Hesperas oder funfundvierzig Hundsposttage« (1795) Seine Meinung war: >die Dichter wären nichts als betrunkene Philosophen - wer aber aus ihnen nicht philosophieren lerne, lern' es aus Systematikern ebensowenig - [...] leere Worte geb' es, aber keine leere Empfindungen - der Dichter müsse, um uns zu bewegen, bloß alles Edle zum Hebel nehmen, was auf der Erde ist, die Natur, die Freiheit, die Tugend und Gott; und eben die Zauberstäbe, die magischen Ringe, die Zauberlampen, womit er uns beherrsche, wirken endlich auf ihn selber zurück. (»Hesperus«, 1,841) 3.2.1. Zur Forschungslage Die seit Ende der sechziger Jahre neu belebte Jean Paul-Forschung90 beschäftigte sich zunächst vorrangig mit einer politischen Standortbestimmung des Autors, mit seiner Geschichtsphilosophie und seinem satirischen Frühwerk. Sie wandte sich dann seiner Ästhetik und seiner Naturvorstellung, etwas später auch seiner Zeichen- und Sprachlehre zu, 91 dieser Trend hält an. 92
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Ebd., S. 222. Zur Forschung über Jean Paul bis 1983 vgl.: In: edition text + kritik. Zeitschrift für Literatur. Sonderband Jean Paul, hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold, München 31983: Peter Krumme und Burkhardt Lindner: Tendenzen der Jean-Paul-Forschung (1963-1969), S. 190-199; Engelhard Weigl: Subjektivismus, Roman und Idylle. Anmerkungen zur Jean-Paul-Forschung (1968-1973), S. 200-215; und: Hendrik Bims: Neue kleine Bücherschau. Über die jüngste Jean-Paul-Forschung (1974-1982), S. 216-244. S. auch Götz Müller: Neuere Tendenzen der Jean Paul-Forschung (zu den Büchern von Naumann, Sprengel und Wiethölter), in: Jahrbuch der Jean Paul-Gesellschaft (im folgenden: JbdJPG) 14 (1979), S. 163-181. S. ebenfalls den Aufsatz von Jochen Golz: Jean Paul-Forschung 1970-1983 in der BRD. Anmerkungen zu ihren Tendenzen und Ergebnissen, in: Weimarer Beiträge 33 (1987), S. 663-678. Vgl. die neueren Arbeiten von a. Gunnar Och: Der Körper als Zeichen. Zur Bedeutung des mimisch-gestischen und physiognomischen Ausdrucks im Werk Jean Pauls, Erlangen 1985; und b. Monika Schmitz Emans: Schnupftuchsknoten oder Sternbild. Jean Pauls Ansätze zu einer Theorie der Sprache, Bonn 1986. Vgl. die Vorträge vom 2. Internationalen Jean Paul-Symposion in Bayreuth 1991, die im Jahrbuch der Jean Paul-Gesellschaft 1991/92 gesammelt erschienen. 101
Die ältere geisteswissenschaftliche Literaturwissenschaft gibt wenig Hilfen zum Verständnis der Liebesauffassung Jean Pauls. Kluckhohn93 begnügt sich mit einer nachempfindenden Paraphrasierung der Jean Paulschen »hohen Seelenliebe« und konstatiert zwar, daß Jean Paul »die Frauen der sinnlichen Liebe [...] mit Vorliebe in den höchsten Kreisen sucht«, expliziert jedoch keine mögliche Korrelation etwa zwischen der bürgerlichen Herkunft Jean Pauls und seiner Darstellung der höfischen Liebe. Hans Bach 94 versucht, Bezüge zwischen der »Liebe« im Werk Jean Pauls und der Biographie des Dichters herzustellen; über dem primären Interesse an der Rekonstruktion der Gefuhlslage und der Intention des empirischen Autors vernachlässigt ein solcher Ansatz den besonderen Status eines literarischen Textes. Max Kommerells sympathetischer Umgang mit den Texten Jean Pauls ist als eine der ersten Wiederannäherungen an den im 19. Jahrhundert in Vergessenheit oder Mißkredit geratenen Autor95 von historischer Bedeutung, trägt aber zum analytischen Verständnis zumindest des Jean Paulschen Liebeskonzeptes wenig bei.96 Detlef Kritschils Dissertation von 1973 über »die Poetisierung der Liebe durch den Roman«97 bei Jean Paul erbringt mit ihrem teilweise anachronistisch anmutenden geisteswissenschaftlichen Ansatz zwar durchaus richtige Ergebnisse zum Liebeskonzept per se, diese bleiben aber ohne die Eingliederung in eine Außenperspektive der Betrachtung wenig aussagekräftig. In der gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Diskussion wurde das Konzept der >hohen Liebe< vereinzelt auf sein gesellschaftskritisch-utopisches Potential hin untersucht, 98 erst Peter Sprengel aber bemüht sich um eine Analyse der sozialen Bedingtheit des Jean Paulschen Subjektivismus im Detail.99 Götz Müller streift zwar im Rahmen 93 94 95
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Paul Kluckhohn: Die Auffassung der Liebe (1922), S. 254. Hans Bach: Jean Pauls Hesperus, Leipzig 1929, S. 92ff. G. G. Gervinus z.B. äußert sich in der ersten maßgeblichen deutschen Literaturgeschichte (5 Bde., 1836-42) über Jean Pauls Charaktere wie folgt: »Jean Paul macht Abtheilungen zwischen Gottmenschen, Thiermenschen und Pflanzenmenschen; er rechnet diese Einsiedler [die >hohen MenschenLiebe< und des >hohen Menschern ebenso wie Heinrich Bosse in seiner Arbeit zu »Theorie und Praxis bei Jean Paul«, besonders im »Titan«.101 Auch Gunnar Och beschäftigt sich mit der >hohen Liebe* im »Hesperus«, dies vor allem vor dem Hintergrund der Jean Paulschen Aneignung empfindsamer Auflässungen.102 Die Dissertation von Werner Neil 103 erteilt wichtige Hinweise zur »Hofkritik« im »Hesperus« und zu Jean Pauls Kritik der höfischen Gesellschaft, allerdings besonders im poetologischen Kontext der Romane. Eine vollständige Untersuchung des »Hesperus« unter dem Gesichtspunkt seiner Liebessemantik steht jedoch noch aus. 3.2.2. Vorgehensweise In seinem ersten »hohen« Roman kontrastiert Jean Paul in epischer Breite zwei gegensätzliche Interaktionsformen für Intimität, nämlich die Liebe am Hof, die der satirischen Vernichtung anheim fallt, und die positive, empfindsame »hohe Seelenliebe«. Da der »Hesperus« ein so umfangreiches und im Vergleich mit den anderen beiden behandelten Texten relativ unbekannteres Werk ist, wird auch die Analyse des Romans ausfuhrlicher ausfallen. Jean Pauls satirisch-empfindsame Abrechnung mit sämtlichen Modi des Liebens zu seiner Zeit bietet sich einer detaillierten Untersuchung insbesondere deshalb an, weil in der Darstellung der zunächst nicht in die Kolportagehandlung des Romans involvierten Erzählerfigur Jean Paul die Interaktionen der Romanfiguren deutlich beschrieben werden - im »Werther« und in der »Lucinde« erhält der Leser lediglich Einblicke in diejenigen Interaktionen, die der fiktive Herausgeber der Briefe Werthers, Werther selbst und Julius als Verfasser und Herausgeber der eigenen Texte aussuchen. Die Interaktionen in den als negativ beurteilten Liebesbeziehungen treten im »Werther« und in der »Lucinde« nur schematisch und mehr am Rande in Erscheinung, während die satirische Darstellung der Negativfolie von Jean Pauls Liebesutopie weite Teile des Romans thematisch dominiert. Im ersten Teil des vorliegenden Kapitels soll dem Verschwinden des - von Luhmann so genannten - symbolischen Codes des amour passion, seiner Verdrängung im »bürgerlichen« Roman, nachgegangen werden. Am Text des »Hesperus« wird zu untersuchen sein, wie Jean Paul die Liebe am Hof präsentiert, welche Elemente er aus den Verhaltensmodellen von amour passion und art de plaire übernimmt und welche Elemente beiseite fallen, wobei sich die Frage nach der historischen Bedeutung dieses Vorgangs stellt. Zu berücksichtigen sind dabei stets die Parteilichkeit des bürgerlichen Au-
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Götz Müller: Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, Tübingen 1983 (= Studien zur Deutschen Literatur; Bd. 73). Heinrich Bosse: Theorie und Praxis bei Jean Paul. § 74 der >Vorschule der Ästhetik< und Jean Pauls erzählerische Technik, besonders im >Titanhohen Seelenliebe< Jean Pauls werden sich unter Umständen auch gerade aus ihrer polemischen Funktion gegenüber der höfischen Liebe ergeben. - Der zweite Teil des vorliegenden Kapitels (3.2.5.) wird versuchen, die Jean Paulsche Variante des Liebeskonzeptes aus dem »Hesperus« herzuleiten und so zu formulieren, daß die vier Sinnbereiche eines Code im Sinne Luhmanns gegeben sind. Dieser Untersuchung wird notwendigerweise eine Klärung der Jean Paulschen Metaphysik und Ästhetik - wie er sie im Roman selbst entwickelt - vorangestellt sein (3.2.4.). 3.2.3. Die Darstellung der höfischen Liebe im »Hesperus«: Das negative Modell Galanterie und amour passion Der Protagonist des »Hesperus«, Viktor Sebastian, der sich erst gegen Ende des Romans als Bürgerlicher erweist, erfahrt im Verlaufe seiner Bildung zu einer umfassenden Persönlichkeit Versuchungen durch die sogenannte französische Liebe, die Jean Paul dem Leser in Viktors Beschreibung auf folgende Weise darstellt: >Nimm ein wenig Eis - ein wenig Herz - ein wenig Witz - ein wenig Papier - ein wenig Zeit - ein wenig Weihrauch - und gieß es zusammen und tu es in zwei Personen von Stande: so hast du eine recht gute französische fontenellische Liebe.< >Sie vergaßennoch ein wenig Sinne, wenigstens ein Fünftel oder Sechstel, das als Adjuvans oder Constituens zur Arznei kommen m u ß - Indessen hat sie doch das Verdienst der Kürze; die Liebe sollte, wie die Tragödie, auf Einheit der Zeit, nämlich auf den Zeitraum eines Tages, eingeschränket sein, damit sie nicht noch mehre Ähnlichkeit mit ihr bekäme^ 1 0 4
Aus diesem zentralen Zitat geht schon eine Schwerpunktsetzung innerhalb des Konzeptes »Liebe« hervor: Die Liebe am Hof 105 zeichnet sich - in Jean Paulscher Darstellung 104
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Jean Paul: Hesperus Oder Fünfundvierzig Hundsposttage. Eine Lebensbeschreibung, zitiert nach: Jean Paul. Werke, Erster Band, hrsg.v. Norbert Miller, München 1963, S. 862. Alle folgenden Zitate aus der verwendeten Ausgabe des »Hesperus« werden unmittelbar nach den Zitaten mit (Band, Seitenzahl) angegeben, um die Lektüre zu erleichtern. Zum folgenden vgl. auch Luhmann, Passion, Kap. 5-8: Die spezifische Codierung der Liebe als amour passion entsteht am französischen Hof im 17. Jahrhundert, ihre bewußte Codifizierung als literarisch präformierter, nach bestimmten Regeln innerer Gesetzmäßigkeit ablaufender Geschichte erfolgt besonders in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Der amour passion betrifft nur die Liebe zwischen jeweils schon mit anderen Partnern verheirateten Menschen, - da Ehen am Hof aus rein politischen Erwägungen heraus geschlossen wurden, waren Liebe und Ehe eben nicht miteinander verbunden. So fällt die Ehe als Liebesbeweis im Code des amour passion aus - an ihre Stelle tritt die sexuelle Hingabe (der Frau). Der oder die Adlige verliebt sich im Rahmen der Interaktion »amour passion« in völliger Zweckfreiheit, nur unter Vorgabe des eigenen Begehrens. Dabei führt allerdings gerade die beiden Liebespartnern zugestandene Freiheit zum Problem der dop-
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- vor allem durch einen Mangel an echtem Gefühl aus, ein Zuviel an Künstlichkeit, an kultureller Überformung, einen Regelapparat; zum anderen durch eine Überbetonung der Sexualität und durch mangelnde Dauer. Im folgenden soll zunächst auf diejenigen erotischen Beziehungen im Roman eingegangen werden, die primär im Zeichen der Sinnlichkeit stehen. 3.2.3.1. Unreflektierte Sinnlichkeit Ein Übermaß an Sinnlichkeit findet sich an höchster Stelle der aristokratischen Hierarchie im fiktiven deutschen Kleinstaat Flachsenfingen: Sowohl Fürst Januar als auch seine ungeliebte Gattin Agnola zeichnen sich durch mangelnde Kontrolle über ihre Triebe aus. Die ersten Informationen über den Fürsten, die dem Leser zukommen, betreffen dessen Schwäche und Sinnlichkeit: Für das wehrlose weibliche Geschlecht tat er, wie alle reisenden Fürsten, fast noch mehr: man kann von der größeren Zahl derselben sagen, daß sie [...] zwar zuweilen einen Tag verlieren, aber selten eine Nacht, ohne glücklich zu machen und folglich zu - werden (1,512/13).
pelten Kontingenz: Die Unwahrscheinlichkeit, daß sich beide Partner zum selben Zeitpunkt ineinander verlieben, setzt - im Vorfeld der Liebeshandlung - komplizierte, psychologisch raffinierte Kommunikationsprozesse in Gang, deren Elemente Fremd- und Selbstbeobachtung und rationale Verhaltenskontrolle sind. Der Phantasie kommen sowohl bei der Anbahnung der Liebesgeschichte als auch in ihrem Ablauf entscheidende Funktionen zu: Sie stattet z.B. den Geliebten mit den erwünschten Eigenschaften aus-jedenfalls, solange die Passion anhält. Ihr ist keine Grenze gesetzt außer in der Dauer: Die Erfüllung der Liebe leitet zumeist schon ihr Ende ein. Das Liebesbedürfnis des Subjekts bleibt zwar konstant, richtet sich aber schon bald auf ein anderes Objekt. Der Faktor »Zeit« markiert nicht nur die Grenze und das Ende der Liebe - er begleitet die Liebe von der Entstehung an: Sollte etwa das Stadium der Galanterie zu lange anhalten, kann anfänglicher amour verblassen und gar nicht erst >zum Ausbruch< kommen; wenn amour hingegen schon beim zweiten Treffen gestanden wird, ist sein Ende bereits in Sicht. Der Verlauf der Geschichte in der Zeit verändert die Bedingungen. Während der höfische Adel zunehmend in Funktionen eingebunden wird, die Beobachtung, Selbstreflexion, Verstellung und taktisches Verhalten verlangen zur Wahrung der sozialen Identität (Elias, Höfische Gesellschaft, S. 159), schafft er sich in dem amour passion, der leidenschaftlichen sexuellen Passion, einen Freiraum, in dem er Widersprüche und Paradoxien leben kann: Über den Begriff der »passion«, des ursprünglich passiven Erleidens, über eine Semantik von Pathologie, erreicht er eine Herauslösung der Interaktion »Liebe« aus dem sozialen Kontext, eine Art institutionalisierter Entlassung aus der sozialen Verantwortung. Im Gegensatz zur früheren idealen Codierung von Liebe und der ihr konstitutiven scharfen Trennung von Körper und Geist kultiviert der amour passion das Paradox und kann daher die bisher abgewertete Sexualität in sein Liebeskonzept mit aufnehmen. Die letztlich von der Triebdynamik bestimmte Kürze des amour passion legitimiert auch seine Stellung außerhalb der Gesellschaft - bei etwaiger andauernder Liebespathologie am Hofe wäre die Gesellschaft in ihrer Struktur offensichtlich massiv bedroht. 105
Egoistische Triebbefriedigung wirft der Erzähler dem Fürsten vor, wobei der Egoismus nicht bösem Willen entspringt, sondern Resultat völlig unreflektierter Sinnlichkeit ist. Der verantwortungslose Jenner besitzt keine der Fähigkeiten, die ein Regent haben muß, damit das aristokratische System funktioniert; Menschen mit starkem Charakter kann der fürstliche Libertin nichts entgegensetzen: Er ließ sich gem vom Lord besiegen und beherrschen, den eine sonderbare Mischung von Kälte und Genie zum uneingeschränkten Monarchen und Kommandeur der Seelen machte α,513). Der Lord, der angebliche Vater des Protagonisten Viktor, ist der Ratgeber des Flachsenfinger Regenten, er weiß sich die Sinnlichkeit des Fürsten zunutze zu machen, um seine eigenen politischen Interessen durchzusetzen, und »begehrte [...] nichts von ihm, nicht einmal Diät und Keuschheit« (1,517). Am Fürsten finden sich keine der höfischen Eigenschaften wie die Kirnst der Menschenbeobachtung und Selbstbeobachtung, die Kunst der Menschenbehandlung und die spezielle höfische Rationalität. Jenner erscheint immer als Privatmensch mit einem Wochentags- und Kurrentgesicht, das auf Münzen, aber nicht auf Preismedaillen gehörte - mit Arabesken-Zügen, die weder Gutes noch Böses bedeuten - von wenigem Hof-Mattgold überflogen - eingeölet mit einem sanften öl, das die stärksten Wellen erdrücken konnte - eine Art süßer Wein, mehr den Weibern als den Männern trinkbar (1,608). Der unfurstliche Fürst hält sich nicht an die für den Feudalismus konstitutive Arbeitsund Lebensform des >ganzen HausesLiebesheiligen< durch Emanuel und Klotilde - auf den Abwegen der Sinnesfreude: Die mit »Ehehandschellen« (1,643) an den ungeliebten Mann gebundene Agnola, deren italienische Nationalität an sich schon Sinnlichkeit codiert (I,524;917), versucht, ihr Bedürfiiis nach Liebe ebenso We ihr angetrauter Gatte Jenner außerhalb der Ehe zu befriedigen. Sie richtet ihr Interesse auf den Hofarzt Viktor, der sie wegen einer Augenentzündung behandelt, und bemüht sich, ihn nach allen Regeln der Kunst zu verfuhren. In der Nacht, im »Wirrwar des Helldunkels«, läßt sie ihn rufen - die Heiligen- und Marienbilder sind verhängt, die Bediensteten fehlen, das »ungewöhnliche Winternegligé« der leicht fiebernden Fürstin verhüllt kaum Schultern und Busen - in dieser schwülen Atmosphäre wird Agnola zur personifizierten Sinnlichkeit. Viktor muß - leidend an den klassischen Symptomen der passion, »gelähmt [...] bebend, sinkend, glühend, sterbend«, auf ihre heißen Lippen und den schlagenden Busen niederfallen, »blind und liebestrunken und kühn und bange« (1,921), gefangen im Paradoxon des wonnevollen Leidens. Doch zu stark ist die »Tugend«108 Viktors, er ist nicht selbstvergessensinnlich genug, erkennt seinen Fall als Sündenfall und zieht sich entschuldigend zurück. Dabei besteht die >Sünde< nicht in der bloßen Sinnlichkeit als solcher, sondern in der mit ihr verbundenen Verleugnung seiner »Seele«: Tugend ist keine externe Idee, sondern konstitutives Element der Persönlichkeit Viktors. Ein Ruf von der Gasse scheint ihm zu sagen: Beflecke deine Seele nicht und falle nicht ab von deinem Emanuel und von dir!109 (1,921, Hervorhebung von Vf.). Die bloße Sexualität wirkt desintegrierend, sie bedroht die Kohärenz seines Charakters. Bezeichnenderweise dient Viktor zur moralischen Orientierung in dieser prekären Situation der Gedanke an Emanuel und an - Matthieu: Die »Möglichkeit einer Nachahmung des elenden Matthieu, den er so verachtet hatte« (1,921), entsetzt Viktor, und er entschließt sich zur Tugend: »>Ich sinke nicht!< sagte sein ganzes Herz« (1,921).
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Zur »Tugend« bei Jean Paul vgl. Kap. 3.2.3.3., S. 119. Im Sinne der These Meyer-Krentlers, daß das bürgerlich-empfindsame Freundschaftsprogramm eine notwendige mentalitätsgeschichtliche Übergangsphase sei, in welcher dem frei gewählten Freund die vorher ständisch geregelte soziale Kontrolle übertragen wird, greift hier der Gedanke an den Freund Emanuel helfend ein, als die Tugend des jungen Protagonisten gefährdet ist: Noch funktioniert die Tugendnorm nicht als freie Ich-Setzung. - Vgl. Eckhardt Meyer-Krentler: Der Bürger als Freund. Ein sozialethisches Programm und seine Kritik in der neueren deutschen Eizählliteratur, München 1984, S. 69. 107
Viktors Anspruch an ein Miterleben des Partners, an tatsächliche intime Kommunikation, kann zwischen Agnola und ihm nie erfüllt werden. Noch am Abend der versuchten Verfuhrung wird die gegenseitige Unkenntnis, die grundsätzliche Verschiedenheit der beiden Charaktere, ihrer Weltsichten und Ansprüche, deutlich: Er konnte es bei Agnola niemals über Hof-Neuigkeiten hinaustreiben; sie schien alles Abstrakte und Metaphysische zu hassen oder zu unkennen [...] (1,919). Für Viktor, dessen Bedürfiiis nach Verständigung über das Wesen der Seele, Gottes und der Natur so übermächtig ist (vgl.1,581/82, Brief an Emanuel) und der mit Emanuel und Klotilde schon Menschen kennengelernt hat, die auf seine Fragen einzugehen wissen, ist eine aufrichtige und dauerhafte Liebesbeziehung zu Agnola von vornherein ausgeschlossen.110 Sie erkennen sich gegenseitig in ihrer Individualität nicht, können das spezifische Verhalten des Partners nicht verstehen, da ihnen die Differenz zwischen unmittelbarem eigenen Interesse - plaisir - und dem, was mit Rücksicht auf den anderen und die Liebesbeziehung getan wird - amour - , nicht klar ist. 3.2.3.2. Die Dominanz des Sozialen: Mangelnde Individualität der höfischen Liebe Den Ausgangspunkt des amour passion bildet ein ebenfalls codifiziertes Verhalten, das Anschlußmöglichkeiten sowohl in Richtung auf größere Intimität, amour, bietet als auch die Interaktion zwischen den Geschlechtern unverfänglich gesellig gestalten kann: der Code der Galanterie (des Mannes) und Coquetterie (der Frau). Kernstück des galanten Verhaltens ist das offenkundige Bestreben zu gefallen, das als solches notwendigerweise zunächst einmal Gefallen beim Interaktionspartner erwecken wird. Wie groß genau das gegenseitige Gefallen ist, muß dann anhand exakter Beobachtung des anderen und seiner selbst, anhand von Zeichen, Gefälligkeiten, kleinen Zugeständnissen von Vertraulichkeit, erschlossen werden. Als Liebe, »amour«, kann gewertet werden, was über bloßen selbstbezüglichen »plaisir« hinausgeht - >amour< versus >plaisir< lautet die Leitdifferenz der Liebe am Hof.111 Da der Code als ein solcher bekannt ist, ergibt sich das Problem der Aufrichtigkeit, der individuellen Zurechenbarkeit des Verhaltens: Wie kann echte von vorgetäuschter Liebe unterschieden werden? Wie können Echtheit und Natürlichkeit überhaupt kommuniziert werden innerhalb eines Kommunikationscodes, der auf Dauerbeobachtung und -bewertung, Berechenbarkeit auch etwaigen paradoxen Verhaltens, reflektierte Interaktion, auf das >Gesetz der ZurechnungLiebes-Spiels< sind persönliche Intentionen und Motivationen aber letztlich unkenntlich. Der Erzähler karikiert den Regelapparat der Liebe am Hof: Es ist aber eine begründete Rechtsregel oder ein männliches Brokardikon: daß alles bei den Weibern fester werde, wenn man darauf baue, und daß uns eine kleine gestohlne Gunst rechtmäßig gehöre, sobald wir um eine größere anhalten [...] So müssen diese Dinge betrieben werden, wenn Recht Recht bleiben soll. Es muß überhaupt von mir oder von einem anderen ehrlichen Mann ein kleines Lesebuch geschrieben werden, worin man dem weiblichen Geschlecht die Modos (Arten), solches zu akquirieren (zu erwerben), mit der juristischen Fackel vorträgt und aufhellt. Viele Modi kommen sonst ab (1,825). Als Joachime, »um nur seine [Viktors, d.Vf.] Aktenstöße von Beschwerden und Reichsgravaminibus wegzubringen« (1,824/25), Viktor ihre Hand überläßt - erzwungene Belohnung für seine galanten Dienste - bedeutet dieses Zeichen für Viktor nichts mehr, er kann nicht auf Freiwilligkeit und Zuneigung schließen. Joachime entzieht sich auch Viktors »Lehrbuch« (1,826) und behauptet in Ansätzen ihre Eigenwilligkeit, es »bahnte keine Gunstbezeugung der andern den Weg [...] - aus einem Vorzimmer kam man ins andre [...]« (1,826). Diese Verweigerung deutet Viktor als Tugend, als eine Spur von Individualität - für ihn, der sich am Ende des Romans als bürgerlicher Pfarrers söhn erweist, eine aufgrund seines persönlichen Wertesystems, in dem Individualität per se als positiv eingestuft wird, zwar folgerichtige Gleichung. Der Erzähler allerdings deutet an, daß auch diese Verweigerung Joachimes einem präformierten Schema entspricht und keineswegs Ausdruck von Individualität ist, sondern nur typisches Verhalten »aller Gegenfußlerinnen der Koketten« (1,826), also der sog. Preziösen.116 Das zunächst diffuse Bedürfiiis Viktors nach Liebe,117 nach enger zwischenmenschlicher Bindung, bewirkt, daß er Joachime in seiner Phantasie mit Qualitäten ausstattet, damit sie seinen Ansprüchen genügt - den Ansprüchen seiner »kalt-wunden, immer Joachimen zu Klotilde hinaufliebenden Seele« (1,838). Dabei erkennt Viktor, daß er letztlich nur sich selbst betrügt:
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Vgl. Luhmann, Passion, S. 60, über den Unterschied zwischen den »précieuses« und den »coquettes«: »[...] die einen sagen immer nein, die anderen immer ja.« Die »Gesamt- oder Zugleichliebe«, auch »Simultan- und Tuttiliebe«, so expliziert der Erzähler ironisch an früherer Stelle, entspringe dem Bedürfnis des verfeinerten Herzens, entzünde sich an der gemeinsamen Lektüre der »Wahlverwandtschaften« oder der »Hundposttage« oder am Briefwechsel über Kant und sei »letztlich zu warm [...] für die Freundschaft und zu unreif für die Lidie, [...] grenze an jene, weil es mehre Gegenstände einschließt, und an diese, weil es an dieser stirbt.« (1,651). 111
Einige Tage lang mocht' er nicht einmal Joachime sehen. >Hat diese denn ein Auge fur die Natur und ein Herz für die Ewigkeit?< fragt' er, und er wußte wohl die Antwort 0,844). Auch der Mechanismus der Ausstattung der Geliebten mit imaginären Tugenden ist bestimmendes Element des letztlich ich-zentrierten amour passion:118 »Joachime hatte nur ein Kind und eine Schönheit lieb - und beides war sie selber« (1,876), und von Viktor heißt es gleichfalls wenig schmeichelhaft: Das Bedürfnis zu lieben zwingt zu größeren Torheiten als die Liebe selber, Viktor ließ sich jede Woche eine Vollkommenheit mehr vom weiblichen Ideal abdingen [...] (1,830). Die Phantasie soll die mangelnde Kommunikation, das fehlende Einverständnis zwischen den Partnern, überbrücken, das »im Reiche der Moralisch-Toten« (1,773), am Hof, jedoch auch gar nicht gesucht wird - aber das erkennt Jean Paul nicht mehr, für ihn ist Moralität ein universaler Wert. Aus Sicht des Erzählers kommt die Liebe am Hof nach den Regeln des amour passion der Selbstaufgabe gleich: Man sieht doch offenbar, daß der arme Viktor seine Seele für jede weibliche [...] kleiner verstümmelt [...] am spätesten gab er [...] seine Foderung oder Erwartung jenes erhabenen indischen Gefühls für die Ewigkeit auf, das uns, diesen im magischen Rauche von Leben hängenden Schattenfiguren, einen unauslöschlichen Lichtpunkt zum Ich erteilt, und das uns über mehr als eine Erde hebt [...] (1,865). Indem der amour passion und die Interaktion am Hof überhaupt die sich in Abgrenzung zu einer komplexen Umwelt profilierende Individualität des Menschen - seine »Seele« nicht genügend berücksichtigen, berauben sie ihn seines Lebenssinns, seiner »Unsterblichkeit«, verkürzen sie die menschliche Existenz in ihrer Totalität: Dieses Gastwirtleben am Hofe, täglich Leute zu sehen, die nicht einmal Ich sagen, deren Verhältnisse man so gleichgültig unkennt wie deren Talente, wenn sie nicht ein Bedürfnis sucht - dieses Haschen nur nach dem nächsten Augenblick - dieses Vorüberrennen der feinsten und geistreichsten Fremden und Besuchameisen, die in drei Tagen vergessen sind - alles dieses [...] machte sein Herz öde, seine Tage kahl und lästig, seine Nächte beklommen, sein Betragen zu kalt gegen Gute, zu duldend gegen Schlimme (1,847). Da die >französisch< Liebenden aufgrund mangelnder Kommunikationsmöglichkeiten, aufgrund eines zu eng gefaßten Codes, nicht zur Kenntnis des geliebten Menschen vordringen können, ist die Enttäuschung, die Desillusionierung, das Ende der Liebe von Anfang an bestimmt. Der amour passion ist nicht übertragbar in stabile Beziehungen, er gilt nur als Ausnahmezustand »in der großen Welt [...], man stirbt da nicht von der Liebe, man lebt da nicht einmal davon« (1,822). Auch dieser durch den Code geschaffenen Tatsache sind sich Viktor und Joachime bewußt: >Die Damen[...] wollen zu lange, oft ganze Wochen, ganze Monden, geliebt werden. Dergleichen ist über unsre Kräfte.< (1,821). 118
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Vgl. Luhmann, Passion, S. 62.
Viktor stürzt sich, an der Unmöglichkeit der Befriedigung seines Bedürfnisses nach Intimität verzweifelnd, in den amour passion. Er beginnt, dem verhaßten Matthieu ähnlich zu werden, von dem es anfangs heißt: [...] er konnte bei den Weibern tun, was er wollte, und jede Hofdame entschuldigte sich mit der andern - denn es gehörte einmal zum Ton in Flachsenfingen, seine Treue einmal auf die Probe gesetzt zu haben. (1,539/40).119 Über Viktor sagt der Erzähler: In Flachsenfingen war zuletzt keine Dame mehr, der er nicht die Hand geküsset hatte und kein Nachttisch mehr, wo ers dabei hätte bewenden lassen. (1,845). Denn die Frauen am Hof sind - so Viktor Anhänger des Linnäus, und ihre Augen ordnen die Männer botanisch nach seinem schönen einfachen Sexualsystem, sie machen unter tugend- und lasterhafter Liebe einen großen, nämlich den des Grades oder auch der Zeit [...] (1,741). Es gefallt Viktor, daß er durch das Herumflattern immer galanter und kälter gegen alle weibliche Personen wurde - das Seil der Liebe schneidet weniger tief in den Busen ein, wenn es, in Fäden und Flocken ausgezupft, um alle flattert. (1,847). In einem Brief an den Hofkaplan gesteht Viktor: [...] man wird hier boshaft, so wie eitel, ohne zu wissen wann, jenes, weil man zu sehr auf andere, dieses, weil man zu sehr auf sich merken muß. (1,742). Indem Viktor diesen Mechanismus allerdings reflektiert, zeigt er schon eine das höfische Denken überwindende Subjektivität und Einsicht: Er hat die der aristokratischen Ideologie notwendige Wissenslatenz durchschaut und lehnt den Mechanismus, mit dem am Hof menschliches Verhalten dirigiert wird, grundsätzlich ab.
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Matthieu, der Gegenfigur Viktors, gelingt es sogar, auch noch die Musik, die für Viktor die Sprache der »zweiten Welt< ist - »die Kälte hat ewig ein Sprachrohr und die Empfindung ein Hörrohr« (1,711)-in den Bereich der Zweckrationalität zu ziehen: Er ahmt Stimmen nach, er imitiert den Ruf der Nachtigall im Dienste seiner Ränke. Vgl. dazu den Aufsatz von Alain Preaux: Das Doppelgängermotiv in Jean Pauls großen Romanen, in: JbdJPG 21 (1986), S. 97-121. Zum »Doppelgänger« auch: Hartmut Vinçon: Topographie: Innenwelt - Außenwelt bei Jean Paul, München 1970, S. 253: »Der Persönlichkeit widerspricht der Doppelgänger, er widerlegt augenscheinliche wie blinde Selbstgewißheit.« Die grundsätzliche Ambivalenz der Jean Paulschen Weltsicht veranschaulichen in seinen Romanen das doppelte Auftreten von Held und Anti-Held: Den Figuren Viktor (»Hesperus«), Albano (»Titan«) und Walt (»Flegeljahre«) sind die >Doppelgänger< Matthieu, Roquairol und Vult zugeordnet - eine einfache Zurechnung auf die Dichotomie von >gut< und >böse< verbietet sich allerdings. 113
Vorerst jedoch bleibt er am Hof: Der Erzähler nennt dieses Verhalten pathologisch und spricht von Viktors »Krankengeschichte« (1,847): Viktor leidet an einem falschen Lebensstil und an der falschen Liebe, nicht aber, wie im amour passion, an einer Liebe, die per se so beschaffen ist, daß sie leiden macht. Der Erzähler bedauert ihn, »daß er überall so viel zu verschweigen hatte« (1,846), und sieht Viktors Charakter emsthaften Schaden davontragen: Ach Verschweigen und Verstellen fließen leicht zusammen, und müssen nicht Tropfen in den festesten Charakter, sobald er immer unter der Traufe steht, endlich Narben graben? 0,846).
3.2.2.3. Zweckrationalität als Kardinalvorwurf Die Kritik Jean Pauls an der höfischen Liebe kulminiert in dem Vorwurf der Zweckrationalität aller Beziehungen. Das Verhältnis zwischen Matthieu und Frau Le Baut kann als Paradigma einer fur Jean Paul zutiefst negativen Beziehung verstanden werden: Diese basiert nur auf Egoismus, Eitelkeit und Machtstreben. Frau Le Baut, die schon in den Jahren war, die eine Kokette zu verhehlen sucht, ob sie gleich die vorhergehenden noch eher zu verbergen hätte (1,542), stand mit dem Evangelisten Matthieu in einem gewissen Liebesverständnis, das sich (nach unserem bürgerlichen Gefühl) vom Hasse in nichts unterscheidet als in der Dauer. Liebe-Persiflagen waren ihre Lieberkläningen - ihre Blicke waren Epigramme seine Schäferstunden salzte er mit komischen Erzählungen von seinen Schäferstunden an andern Orten - und zur Zeit, wo ein heiliger Mann seinen Psalm abzubeten pflegt, waren beide ironisch. Eine solche erotische Verbindung ist nichts als die Unterabteilung irgendeiner politischen [...] (1,595). Die alternde Kokette und der Höfling existieren fur einander nicht als Individuen, nur als öffentliche Figuren. Sie, die in ihren Jahren nicht mehr Liebe, sondern den Schein der Liebe foderte, [...] war kalt genug, um nicht mehr zu hoffen als zu sehen; sie verspottete sogar jeden, der bei ihr noch einer weiblichen Eitelkeit, Eroberungen zu leicht vorauszusetzen, anders schmeicheln wollte als öffentlich.(1,593). Die Beziehung der Personen zueinander ist durch ihre Außenbeziehungen, ihren gesamtgesellschaftlichen Stellenwert, definiert. Die komplizierte, von Matthieu inszenierte Intrige um Klotildes Hofamt, Agnola und den Fürsten - die »vierfache Verkettung« (1,969), die Matthieu als zukünftigen Ehemann Klotildes, der Geliebten des Fürsten, unlösbar an Jenner binden soll - beruht auf politischen Erwägungen, obwohl es hier um einen äußerlich klassischen Fall von amour passion geht, dem allerdings das Moment der Freiwilligkeit und des plaisir fehlt.
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Fürstliche Libertinage sei - so der Erzähler nichts als eine gelindere Art von Regieren und Kriegen. Und doch stellen rechtschaffene Regenten die Weiber, sobald sie solche erobert haben, stets dem vorigen Eheherrn mit Vergnügen wieder zu (1,609). Über den amour passion geschehe Hofpolitik, in dieser speziellen Interaktion liefen sämtliche Fäden im Spiel um die Macht zusammen. In diesem von Jean Paul skizzierten System hat der Adlige allerdings tatsächlich keine Möglichkeit der Freiheit mehr. Die Frau dient zuerst als Tochter den Eltern (vgl. 1,816), dann als Ehefrau dem Gatten als Einsatz im Machtkampf am Hof. Liebe als Gefühl kann innerhalb eines solchen Beziehungs- und Interessengeflechts nicht aufkommen. Die Verheiratung Agnolas inszeniert der Erzähler als »Übergabe« der Prinzessin, wobei ein »Kaufbrief« verlesen werde (1,638): [...] Jenner, dessen Herzscheibe sich am elektrisierenden Kissen einer schönen Wange oder eines Busentuchs voll Funken lud, hatte eben deswegen gegen Agnola, mit der er bloß der Politik wegen die Konkordaten der Ehe abgeschlossen, alle Wärme seines - Monatsnamens (1,736). Daß eine Heirat zur Zeit des amour passion aus politisch-zweckrationalen Erwägungen eingegangen wurde, ist bekannt und - vom Standpunkt der stratifikatorischen Gesellschaft - notwendig. Der außereheliche amour passion hatte ursprünglich geradezu die Aufgabe übernommen, ein Gegengewicht zur politischen Eheschließung zu bilden, der Triebbefriedigung einen Raum zu verschaffen in einer gesellschaftlichen Oberschicht, die mehr und mehr nur der Repräsentation, der Etikette und der Konversation lebte und auf Triebverzicht oder zumindest -kontrolle angewiesen war. Gerade aber und nur in der Liebe sollte der Adlige »frei« sein dürfen - diese Regel jedoch wird von Jean Paul nicht mehr erkannt: Der Makel des triebhaften Egoismus und der Zweckrationalität haftet jeder erotischen Beziehung an, die nicht ausschließlich auf Seelenverwandtschaft, auf das sympathetische Moment zwischen zwei Individuen, gründet. 120 Daß Jean Paul die Kritik an dem Maßstab der Zweckrationalität vorwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, im Hofmilieu ansiedelt, könnte einerseits darauf verweisen, daß der spätabsolutistische Hof - wie er sich in deutschen Kleinstaaten, etwa in Jean Pauls Bayreuth, präsentiert - im Grunde eine vorbürgerliche Gesellschaft darstellt, die später von der bürgerlichen Schicht vereinnahmte Konzepte schon präjudiziell Vor allem aber mag diese Variante der Hofkritik ein Indiz dafür sein, daß Jean Paul den Hof, 120
Schon im l.Hundposttag deutet der Erzähler diese Dichotomie an: »Deijenige, der nach dem Kommerzientraktat des Eigennutzes, nach dem gesellschaftlichen Vertrag der Höflichkeit, sogar nach dem Grenz - und Tauschvertrag der Liebe nichts Höheres kennt, ein solcher (...], dessen fahles Herz nichts weiß von der Bruderunität befreundeter Menschen, vom Ineinanderverzweigen ihrer edlern Gefäße und von ihrer Eidgenossenschaft in Streit und Schmerz - aber ich seh' nicht, warum ich von diesem Tropfe so lange rede [...]« (1,499).
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den er selbst auch nicht von innen gekannt hat, 121 nicht als empirischen kritisiert, sondern ihn zum künstlerischen Symbol einer für ihn zutiefst negativen und ablehnungswürdigen Lebensweise stilisiert.122 Zweckrationalität, Interesse, beherrscht sowohl die adlige als auch die bürgerliche Welt. Jean Paul geht es nicht nur um die Auseinandersetzung mit feudaler Ideologie, sondern er nimmt auch die Gegensätze innerhalb der sich herausbildenden bürgerlichen Gesellschaftsordnung auf, denkt sie weiter und stellt die Widersprüchlichkeit ihrer Positionen heraus : Die Ausbildung von Individualität wird in der funktional differenzierten Gesellschaft zwangsläufig behindert durch notwendige zweckrationale Erwägungen:123 Die Furcht zu sterben ausgenommen, gibts nichts Jämmerlicheres als die Furcht zu leben. Am allerelendesten aber (so daß das menschliche Leben dagegen noch passabel ausfällt) ist das bürgerliche, auf das ich jahrelang losziehen könnte, bloß weil es nichts hat als lange Tröge für den Magen [...] - weils den Menschen zum Kleinstädter umsetzt - weils unser fliehendes Dasein aus einem Fruchtacker zur Säemaschine macht [...] (1,940). Selbst der tragischen Gestalt Lord Horions haftet der Makel des Macchiavellismus an: Das moralisch gute Ziel - des Lords Republikanismus, seine kosmopolitische Sendung (1,522) - kann nur über kaltes Taktieren über die Rechte einzelner Menschen hinweg erreicht werden und erscheint so zweifelhaft. Sowohl der Lord als auch Flamin und die drei Engländer, die doch innerhalb des Romangeschehens letztlich positiv gezeichnet werden, da sie immerhin die richtige poli121 122
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S. Bach, S. 120. Vgl. Werner Neil: Der Hof ist »literarisch vermitteltes >Bild und Beispiele »Es ist nicht mehr so sehr die historisch zutreffende Deskription der >höfischen WeltZeichenfunktion< der >höfischen Welt< als Bildbereich, als Gegenwelt und Kontrastmodell für die Etablierung des eigenen gruppenspezifischen Weltmodells«, S. 180 - Die Kritik des Hofes durch den Vorwurf der Zweckrationalität hängt aber auch auf komplexe Weise mit dem Genre des Romans zusammen: Der »Hesperus« gehört zu der von Jean Paul in seiner »Vorschule der Ästhetik« von 1800 sogenannten »italienischen« Klasse von Romanen: Diese erfordert für ihren »hohen« Stil eine mehr als bloß bürgerlich enge Sozialisation des Protagonisten, nämlich »die größere Freiheit und Allgemeinheit der höhern Stände«. Kritik an der (inzwischen mehr bürgerlichen denn adligen) Zweckrationalität der Lebenswelt und Hofkritik vermischen sich so.- Daß Jean Paul mit seiner ausführlichen Darstellung der Libertinage bereits anachronistisch sei - im »Werther« z.B. tritt der Adel schließlich kaum noch in Erscheinung - kann dennoch nicht behauptet werden: Wie Frank Baasner nachweist, sind Libertinage und Empfindsamkeit zwei konkurrierende Systeme im 18. Jahrhundert, die im Roman den Ort ihrer ideologischen Auseinandersetzung finden, vgl. Baasner: Libertinage und Empfindsamkeit. Stationen ihres Verhältnisses im europäischen Roman des XVIII. Jahrhunderts, in: arcadia 23 (1988), S. 14-41. Auch die bürgerlich-idyllische Ehe des Pfarrerehepaars Eymann wird ja durchaus in ihrer Beschränktheit - auf humoristische und liebevolle Weise zwar - kritisiert. Zwischen dem skurrilen, egozentrischen Pfarrer und seiner feinfühligeren Frau kann von reifer, reflektierter Liebe, von Seelenverwandtschaft, nicht gesprochen werden. In der »häuslichen Glückseligkeit« (1,575) scheint die Familienliebe die intime Zweierbeziehung zu überlagern.
tische Haltung zeigen, entbehren einer differenzierten Innerlichkeit. Sie sind unmäßig, >zu heiß oder zu kaltRepublikanismusHesperus< stellt Jean Paul diese Gleichung zwischen privater Tugend und gesellschaftspolitischem Konzept ausdrücklich her. Doch bricht eine solche Analogisierung, während sie dem Mitleid seine Unveibindlichkeit nimmt, den sozialen Ideen gleichsam die revolutionäre Spitze ab [...] Viktor bleibt auf Anteilnahme im privaten Bereich beschränkt.« In: Predigende Poesie. Zur Bedeutung von Predigt, geistlicher Rede und Predigertum für das Werk Jean Pauls, Nürnberg 1976 (= Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft; Bd. 55), S. 48. Vgl. Heinz Schlaffer: Der Bürger als Held. Sozialgeschichtliche Auflösungen literarischer Widersprüche, Frankf./M. '1973, S. 15-50: Epos und Roman. Tat und Bewußtsein. Jean Pauls >Titanplaisir< ausgeht, der als psychophysisches Faktum über jede moralische Bewertung erst einmal erhaben ist, so verfallen bei Jean Paul der >plaisir< der Verurteilung als ich-fremde Triebhaftigkeit und die Galanterie dem Verdikt der Zweckrationalität. Eine neue Leitdifferenz kristallisiert sich heraus, mit Hilfe derer Jean Paul zu Informationen im Bereich der Liebeshandlung kommt: Liebe versus gesellschaftliche Rationalität. Wann immer eine erotische Verbindung mit sozialen Beziehungen belegt wird, erhält sie bei Jean Paul negative Konnotationen. Indem er im Symbol der höfischen Libertinage und Galanterie die sexuelle, ichfremde Triebhaftigkeit, gleichzeitig aber auch das rationale Handeln verdammt, stellt sich die Frage, wie denn die Kontrolle des Sexus geleistet werden soll: Eine mechanistisch verstandene, eine immanente, rationale Vernunft als überindividuelles und zwingendes Instrument müßte ja theoretisch entfallen. So bleibt Jean Paul - wie zu zeigen sein wird - nur der Rekurs auf göttliche Gnade, auf das unerklärliche Geschenk der »Tugend«.126 In seiner Idee von der idealen Liebe in einem außergesellschaftlichen Raum, wie er sie dem Leser mit Viktor und Klotilde in Maienthal vorstellt, wird Jean Paul eigentlich den entsprechenden Aspekt des amour passion - da allerdings als Freiraum innerhalb der Gesellschaft - nur konsequent weiterfuhren: Er weiß einzelne Elemente des französischen Liebeskonzeptes durchaus beizubehalten und in seinem Sinne umzudeuten. So ist auch die >hohe Seelenliebe« - wie sich erweisen wird - auf eine verfeinerte psychologische Beobachtungsgabe angewiesen, die Selbsterkenntnis, Selbstbestimmung und Selbstkontrolle erst ermöglicht; im Grunde ist diese Art der Selbstreflexion und Beobachtung anderer sogar Voraussetzung einer engen zwischenmenschlichen Bindung.
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Vgl. im 29. Hundposttag, 1,970/71: Die Vernunft ist fur Jean Paul ein Vermögen in dieser, der ersten Welt - ihr entspricht in der besseren, der zweiten Welt, die »Tugend«.
Sogar in der Verwendung von Krankheitsmetaphorik nimmt Jean Paul Elemente des amour passion auf, allerdings nicht zur Beschreibung einer natürlicherweise paradoxen Liebessituation, sondern zur Darstellung der falschen Liebe, einer Liebe, in der man unnötigerweise leide, da sie vom Ansatz falsch sei. Die Veränderung innerhalb des kulturellen Konzeptes »Liebe«, der Wandel im Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität innerhalb des Diskurses - so ließe sich spekulieren - erfolgt nicht durch das Eindringen eines völlig neuen Elementes. Vielmehr scheint es sich um eine Verschiebung des Schwerpunktes zu handeln, die über die Anknüpfung an die Tradition und die Weiterfuhrung schon präjudizierter Entwicklungsrichtungen verläuft. 3.2.4. Jean Pauls Metaphysik und Ästhetik Vor dem Hintergrund der Negativfolie der Interaktionen am Hof und der darüber hinausreichenden Kritik an der Zweckrationalität aller menschlichen Beziehungen entfaltet Jean Paul vor dem geistigen Auge des Lesers seine Liebesutopie, die >hohe Seelenliebehohen Freundschaft, der nichts Körperliches, Irdisches anhaftet, die sich in der Affinität der Seelen erschöpft, die vom geliebten Freund nichts fordert, aber mit ihm gemeinsam die Annäherung an die >zweite Welt< erstrebt: Glaubst du nicht an Menschen, um welche die Bergluft einer höhern Stellung geht, und die oben auf ihrem Berge mitten in einem stillen Himmel stehen und herunterschauen in die Donner und Regenbogen an der Erde? - Glaubst du nicht an Gott und suchst seine Gedanken auf in den Lineamenten der Natur und seine ewige Liebe in seiner Brust? Wenn du das alles bist und denkst, so bist du mein; denn du bist besser als ich, und meine Seele will sich heben an einem höhern Freund [...] O! schöne, gute Seele, liebe mich! (1,582). Aufrichtigkeit ist Vorbedingung einer >hohen< Liebe oder Freundschaft zwischen individualisierten Subjekten. Nur der sittliche Mensch kann in absoluter Kommunikation bestehen, sie bietet gleichsam ein Mittel zur Überprüfung seines Handelns. Zunächst ist Viktor noch unsicher, ob er Emanuel von seiner Liebe zu Klotilde erzählen soll. Der Gedanke an ein Geheimnis vor dem Geliebten aber »zerspaltete sein Inneres«, er entscheidet sich, Emanuel ernst zu nehmen, und beichtet:149 und sagte und zeigte ihm alles - aber nicht bloß seine Liebe, sondern seine ganze Geschichte - seine ganze Seele - alle seine Fehler - alle seine Torheiten [...] und je mehr er sagte, je mehr wollte er zu sagen haben (1,692/93). Die Moralität des Zuhörers findet - über Kommunikation, über das Gespräch - Eingang in das Denken und Handeln des Freundes. Viktor will von Emanuel lernen:
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Dazu Habermas, Strukturwandel, S. 66: »Briefeschreibend entfaltet sich das Individuum in seiner Subjektivität [...] Der Brief gilt [...] als >Abdruck der SeeleSeelenbesuchAbdruck der Seelekünstlich< und >natürlichgezwungen< und >fireihohe< Menschen kommunizieren so persönlich, wie es ihnen eben im Code der >hohen Seelenliebe< möglich ist - »höchstpersönliche Kommunikation« im Sinne von Luhmann, Passion, S. 18, ist allerdings damit noch nicht zu erwarten. Die Idee einer bedingungslosen Kommunikation leitet sich historisch aus der Tradition der christlichen Beichte her. 127
Es gibt Wahrheiten, von denen man hofft, große Menschen werden stärker von ihnen überzeugt sein, als man es selber sein kann; und man will daher durch ihre Überzeugung die seinige ergänzen (1,684). Der bessernde Einfluß Emanuels auf Viktors Charakter verläuft nicht über den Verstand, sondern über das Gefühl - das Wissen, daß Emanuel trägt und Viktor erstrebt, ist mit den Kategorien des Verstandes nicht zu begreifen: Emanuel »überwältigt« Viktor bloß durch die Verklärung in seinem Angesicht, durch den leisen Echoton seiner Stimme, durch den Glanz in seinem Blick und durch die Andacht in seiner Brust (1,685), das Herz schließt mehr in sich, als der Kopf beleuchten kann (1,684/85). Schon am Morgen, nachdem Viktor den ersten Brief geschrieben hat, erweist sich die veredelnde Wirkung seiner Liebe zu Emanuel: Viktor gesteht sich ein, daß er sich in Klotilde verliebt hat. Zunächst plant er noch, »von dem schönsten Herzen sogar die Freundschaft zu fodern und ihm [Flamin, d.Vf.] doch die Liebe zu lassen« - ein Gedanke an Emanuel aber macht ihn bescheidener: Nein! ich will meinen Flamin nicht betrügen! Ich will sie weder suchen noch meiden und ihre Freundschaft nicht eher begehren als zur Zeit seines höchsten Glücks (1,585). In diesem Entschluß veranschaulicht sich die Auffassung des Erzählers, daß wir in der Freundschaft etwas Höheres als unser Ich, daß nicht die Quelle und der Gegenstand der Liebe zugleich sein kann, achten und lieben, etwas Höheres, nämlich die Verkörperung und den Widerschein der Tugend, die wir an uns nur billigen, aber an andern erst lieben (1,535). Seiner Liebe - so erkennt Viktor - haftet ein eigennütziges Begehren an, das er ablehnt und sublimieren muß. Viktor findet Gegenliebe bei Emanuel: Klotilde überbringt Viktor einen Brief von Emanuel, in dem ihm der Inder Trost zuspricht und seinen Glauben offenbart: Aber darfst du die Erde, diesen Vorhimmel, verachten, den der Ewige gewürdigt, unter dem lichten Heer seiner Welten mitzugehen? Das Große, das Göttliche, das du in deiner Seele hast und in der fremden liebst, such auf keinem Sonnenkrater, auf keinem Planetenboden - die ganze zweite Welt, das ganze Elysium, Gott selbst erscheinen dir an keinem andern Ort als mitten in dir. Sei so groß, die Erde zu verschmähen, werde größer, um sie zu achten (1,605, Hervorhebung von Vf.). Emanuel sieht zwischen der äußeren Natur und seiner Seele ein analoges Verhältnis, das ihn auf einen Schöpfer rückschließen läßt: Bei seiner ersten Begegnung mit Viktor (13. und 14. Hundposttag) erläutert er ihm seine Vorstellung von einer vorherbestimmten Harmonie, [...] unter dem Frühstück vertiefte er sich in den glimmenden Tautropfen in einer Levkoje und spielte durch das Wiegen des Auges das Falbenklavier derselben durch. >Es muß< sagte er - >irgendeine Harmonie zwischen diesem Wasserstäubchen und meinem Geiste zusammenklingen, wie zwischen der Tugend und mir, weil beide mich sonst nicht ent128
zücken könnten. Und ist denn dieser Einklang, den der Mensch mit der ganzen Schöpfung (nur in verschiedenen Oktaven) macht, nur ein Spiel des Ewigen und kein Nachhall einer nähern größern Harmonie?< (1,681).150 Viktor, der sich seiner »drei verschiednen närrischen Seelen«, der Einzigartigkeit seiner Individualität, bewußt ist (1,590), kann die metaphysische Gewißheit Emanuels vorerst nur in Augenblicken der Erhebung teilen, die er in der Poesie oder in der Natur erlebt: Eine der für Jean Paul typischen, einen Erhebungsvorgang nachmalenden Satzreihungen 151 beschreibt, wie »ihn die Dichtkunst als eine zweite Natur, als eine zweite Musik sanft emporwehte auf ihrem unsichtbaren Äther«, wie in seiner Himmelkugel, die auf einem Menschen-Halswirbel steht, der Ideen-Nebel allmählich zu hellen und dunkeln Partien zerfiel und sich unter einer ungesehenen Sonne immer mehr mit Äther füllte, wie »eine Wolke der Funkenzieher der andern wurde, [...] das leuchtende Gewölk zusammenrückte«, bis aus allen Blitzen eine Sonne, aus allen Tropfen [...] ein Guß wurde, und der ganze Himmel der obern Kräfte kam zur Erde der untern nieder, und [...] einige blauen Stellen der zweiten Welt waren flüchtig offen (1,589/90). Auf seinem Gang nach Großkussewitz erlebt der Protagonist die Unendlichkeit in der Natur: Dann lösete sich in eine dunkle Unermeßlichkeit die Blume auf, die Aue und der Wald; und die Farbenkörner der Natur zergingen in eine einzige weite Flut, und über der dämmernden Flut stand der Unendliche als Sonne, und in ihr das Menschenherz als zurückgespiegelte Sonne. - Alles ward eins [...] der Staubklumpe des Erdballs und die unendliche blaue Wölbung wurden das anblickende Angesicht einer unermeßlichen Seele(I,617).152 Diese Entgrenzungserfahrung setzt Viktors »Menschenliebe« frei, generiert soziales Mitgefühl, »eine unaussprechliche Liebe gegen alle menschliche Geschöpfe« (1,618),
1.0
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Emanuel, der sich hier in die Tradition Leibniz' begibt, tendiert zu einem spiritualistischen Monismus, der die Frage nach menschlicher Freiheit und Moralfähigkeit, nach Individualität, umgeht-wenn göttliche Prinzipien in allem walten, muß sich allerdings auch die Gottesvorstellung verflüchtigen... - Vgl. Kondylis, Aufklärung, S. 576-595. Eben aus diesem Grunde behält Jean Paul ein ambivalentes Verhältnis zu Leibniz, den er später als Urvater des intellektuellen Monismus eines Kant und Fichte erkennt, vgl. dazu Monika Schmitz-Emans: Der Bau des wahren Luftschlosses. Studien zur LeibnizRezeption des jungen Jean Paul, in: JbdJPG 20 (1985), S. 49-89. Die Satzmelodie vergegenwärtigt eine Seelenbewegung: Zur »Als«- und »Wenn«-Periode und zur Syntax Jean Pauls überhaupt vgl. Scholz, S. 52-55. Diese Textstelle veranschaulicht auch das Verfahren Jean Pauls, zwischen den zwei Perspektiven des auktorialen und des personalen Erzählens - je nach >Stimmungslage< des Kontextes - zu variieren: In Erhebungspassagen schließt sich der auktoriale Erzähler seinem Helden an. 129
und äußert sich - hilflos - in Geldgeschenken an zwei arme arbeitende Kinder, einen Bauern, einen fieberkranken Schmiedegesellen, in einer Geste einer moralischen >hohen< Seele, die mit politisch-pragmatischen Handeln nichts gemein hat. Das sympathetische Verstehen, die Ähnlichkeit der beiden >hohen< Menschen Viktor und Emanuel, ihre gemeinsame Orientierung an Werten, die nur in der Moralität des freien Individuums zu finden sind, sind Voraussetzungen ihrer gemeinsamen Liebe. Letztlich jedoch entsteht die >hohe< Liebe - ebenso wie das religiöse Gefühl - aus einem Bedürfiiis des vereinzelten Subjekts: Aus seiner Sehnsucht, die Grenzen des Ich und der Welt zu transzendieren, aus dem unbestimmten Gefühl eines Mangels, entwickelt der Mensch ein Bild, eine Vorstellung vom geliebten Anderen, die sich dann in der Realität ihre Entsprechung sucht: [...] im Menschen ist ein großer Wunsch, der nie erfüllt wurde: er hat keinen Namen, er sucht seinen Gegenstand, aber alles, was du ihm nennest, und alle Freuden sind es nicht [...] dieser große ungeheure Wunsch hebt unsem Geist empor, aber mit Schmerzen [...] aber diesen Wunsch, dem nichts einen Namen geben kann, nennen unsre Saiten und Töne dem Menschengeiste - der sehnsüchtige Geist weint dann stärker und kann sich nicht mehr fassen und ruft in jammerndem Entzücken zwischen die Töne hinein: ja alles, was ihr nennt, das fehlet mir [...]. (1,776, Hervorhebungen von Vf.) 153 Da dieses Bedürfiiis metaphysisch und nicht etwa psychologisch fundiert, also gleichsam göttlichen Ursprungs ist, legitimiert es sich als von jenseits der von Jean Paul abgelehnten Sphäre des Zweckes stammend, der es eigentlich doch, als typisch menschlicher »Trieb«, sonst angehören würde. 3.2.5.3.2. Die Liebe Viktors und Klotildes Die Liebe zwischen Viktor und Klotilde gestaltet sich in ihrem Verlauf komplizierter als die Liebe zwischen den gleichgeschlechtlichen Freunden Viktor und Emanuel - die >niedere< Körperwelt, gesellschaftliche Ansprüche, die inadäquate Codierung der Liebe als Galanterie und amour passion treten zwischen sie. Dennoch ähnelt ihre Liebe im Prinzip derjenigen Viktors und Emanuels, auch sie entspringt dem Bedürfiiis des Individuums: Ein Gefühl von Liebe und eine Sehnsucht nach Idealität sind vorhanden, die ihren Gegenstand noch finden müssen. Die Frage der Kaplänin nach Viktors Liebesleben initiiert ein träumendes Vorausdenken an die ideale Geliebte, »diese Gute, diese Treue, diese Unverdiente«, ein Geschöpf, das vom schönsten Engel [...] alles besitzt, etwa die Unsichtbarkeit ausgenommen - das alle Tugenden hat und alle in Schönheiten verkleidet - das schimmert und erquickt wie dieser Frühlingsabend, und doch wie er seine Blumen und Sterne verbirgt, ausgenommen den 153
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Im »Gastmahl« Piatons, 199b-208b, entwickelt Sokrates die Vorstellung von »Liebe« als einer Liebe zu etwas, dessen der Mensch selbst entbehre. Dem Halbgott Eros komme die Vermittlung zwischen den Göttern und den Menschen zu, nur mit Hilfe der Liebe könne der Mensch in den Besitz von Tugend und Glückseligkeit kommen.
der Liebe [...] in dessen Augen ich so außerordentlich gern die Tropfen der weichem Seele und den Blick der höhern sehen möchte [...] (1,531) noch bevor Viktor seiner Rührung Herr werden kann, erblickt er in der Ferne Klotilde zum ersten Mal, »eine weiße Gestalt mit ausgebreiteten Armen« (1,532). Wenig später erzählt ihm sein Jugendfreund Flamin von seiner Liebe zu Klotilde: In einer Vorausdeutung des Erzählers erscheint sie als »eine Gestalt, deren unbefleckte Seele kein Leib, sondern der Schnee umwallet, der um den Thron Gottes liegt«, bevor die »Göttin der himmlischen Liebe zu ihrer Tochter tritt und elektrisch ihr stilles Herz berührt und sagt: liebe auch!« (1,537).154 Als Viktor der so Angekündigten endlich persönlich gegenübertritt, ist er »betroffen« (1,541) - bezeichnenderweise verwendet Jean Paul dasselbe Adjektiv, das sonst nur spärlich im Roman auftaucht, ebenfalls zur Beschreibung Klotildes, sie »wurde über irgend etwas betroffen« (1,584). Die Freundschaft für »einen erhabnen Sonderling« (1,584) verbindet Klotilde und Viktor noch am Abend ihres Kennenlemens, der Erzähler kommentiert: »Zwei schöne Seelen entdecken ihre Verwandtschaft am ersten in der gleichen Liebe, die sie an eine dritte bindet« (1,549). Flamins Liebe fur Klotilde geht durch die Freundschaft in Viktor über, »die Empfindung fur die Geliebte eines Freundes fuhrt eine unnennbare Süßigkeit und moralische Zartheit mit sich« (1,550). Klotilde, keine konventionelle Salonschönheit,155 wirkt - anders als Joachime und Agnola - über ihre >Seele< auf ihre Umgebung. Der Umgang mit ihr hat sofort eine positive Wirkung auf Viktor, »er fühlte [...] gegen sie einen mächtigen Zug zur Aufrichtigkeit« (1,570). An der Wiege des Pastorensöhnchens bittet Klotilde das Baby: »>Lächle her und liebe mich, Sebastian! «< - ohne zu wissen, daß auch Viktor den Namen Sebastian führt. Ihre an Viktor gerichtete Frage: »>Aber wie lernt das Kind unsere Sprache, wenn es nicht schon eine kanrí¡«< (1,578), enthält einen wichtigen Hinweis auf das Konzept der >hohen Liebec Klotildes Fragestellung deutet an, daß dem Spracherwerb des Kindes eine schon immer vorhandene Sprache zugrunde liege, an die sich das Kind eventuell nur zurückerinnern müsse. Auch hier begegnet der Leser platonischem Gedankengut: Indirekt gehört zu dieser These die Überzeugung von der Existenz einer >zweiten Welt
himmlische< nennen; die jüngere aber ist die Tochter des Zeus und der Dione, welche wir ja als die >irdische< bezeichnen.« »>Ihre griechische Nase unter der fast männlich breiten Stime [...] ihre stillen, aber hellen Augen, die außer sich nichts suchen, dieser britische Emst, diese harmonisch denkende Seele erheben sie über die Rechte der Liebe«< (1,576). Jean Pauls Verhältnis zur Physiognomie etwa Lavaters ist ambivalent wie seine gesamte Metaphysik: Einerseits sollte eine schöne Seele in einem schönen Körper wohnen zum Zeichen prästabilierter Harmonie, andererseits trist der Umkehrschluß, alle häßlichen Menschen seien schlecht, offenbar nicht zu. Vgl. dazu Och, u.a. S. 47/48. 131
und der Unsterblichkeit der Seele.156 Was der Mensch weiß, was er liebt, was er erstrebt, liegt alles schon in ihm selbst dank göttlicher Fügung: Nicht zufällig findet Viktor in Emanuel den schon früher geliebten und verloren geglaubten Dahore wieder, nicht umsonst spricht Viktor in einem Brief an Emanuel von Klotilde als der »Vorausgeliebten« (1,787), die mit seiner eignen [Seele, d. Vf.] in einem Herzen aufwuchs - die in alle Träume seiner Jahre kam und darin von weitem schimmerte und nach dem Erwachen seine Tränen erregte - die im Frühling ihm Nachtigallen schickte, damit er an sie denke und sich nach ihr sehne - die in jeder weichen Stunde seine Seele besuchte mit soviel Tugend, mit so viel Liebe [...] (1,786). Die Liebe aber hat ihren gemeinsamen Ursprung in Gott selber, der mir und ihr die Liebe gab (1,787). Eine Kongruenz der Weltsicht kündigt sich zwischen Viktor und Klotilde schon frühzeitig an: Viktor reagiert auf Klotildes Frage nach dem Spracherwerb ganz in ihrem Sinne: Sooft ich einen Taubstummen zum Abendmahl gehen sehe, denk' ich daran, daß aller Unterricht nichts in den Menschen bringe, sondern nur das Dagewesene bezeichne und ordne (1.578). Trotz aller Mißverständnisse und vorübergehender Entfremdung bis zur Liebeserklärung (im 28. Hundposttag) hält der Erzähler an der einmal erkannten Affinität zwischen Viktor und Klotilde fest. Der Gedanke an Klotilde steht zwischen einer potentiellen Romanze Viktors mit Joachime - »Viktor konnte niemand lieben, den Klotilde nicht liebte« (1,850) - und Agnola, die er sich nicht als nahe Freundin Klotildes denken kann (1,923). Viktor und Klotilde verbindet auch ihre gemeinsame Ablehnung des Hoflebens, insbesondere ihre Abneigung gegen die dort erforderliche Verstellung und Kälte, gegen zweckrationales Taktieren. Auf dem Weg nach St. Lüne fühlten Klotilde und Viktor, wie sanft ihnen dieses Niedersteigen von den bunten spitzen Hofgletschern in die weichen Täler der mittlem Stände tat, und sie sehnten sich beide weg von glatten Herzen an warme [...] dieses Sehnen nach aufrichtigem Seelen war es auch wohl, was aus Klotilden die Behauptung preßte: es gebe nur Mißheiraten zwischen den Seelen, nicht zwischen den Ständen (l,879). Auch als fur eine Zeit alle Hoñhungen auf eine enge Beziehung zu Klotilde aussichtslos scheinen und Viktor sich im amour passion zu betäuben sucht, besteht seine Liebe zu
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Vgl. Plato, Menon, 85b-86c: Die Tugend ist »Gegenstand der Wiedererinnerung«, der Mensch habe »die Wahrheit der Dinge in der Seele«, und deshalb sei diese auch unsterblich. - In diesem Zusammenhang ist auf die leitmotivische Rekurrenz der Formel von der Erinnerung, die Hoffnung wird, hinzuweisen, die schon in der Vorrede (1,489) und dann in regelmäßigen Abständen immer wieder auftaucht...
Klotilde fort, gereinigt von jeglichem Eigeninteresse, von sinnlichen Ansprüchen, vom Gedanken an Erfüllung - er liebt die Seele einer Sterbenden:157 >Klotilde, werde meine Freundin, eh' du stirbst - meine alte Liebe gegen dich ist längst zerquetscht, denn du bist zu gut fur mich und für uns alle - aber dein Freund will ich sein, mein Herz will ich überwinden für dich, meinen Himmel will ich hingeben für dich< (1,860).
Die Antizipation von Klotildes Tod jedoch kann Viktor nicht ertragen, eine Welt ohne die Geliebte erscheint ihm kalt und leer: Verzweifelt hält er eine Leichenrede auf sich selbst (1,936-941), in der seine Angst vor einer Dissoziation von Körper und Geist, einer nur mechanischen oder nur subjektivistischen Welt, zum Ausdruck kommt, die Angst vor einem Leben als Wachsfigur in einer Welt ohne Gott: >Das ist die Nachtleiche - der verschlackte, der verkohlte Mensch - in solche stane Klumpen sind die Ich geklebt und müssen sie wälzen [...] ich seh1 ein Gespenst um diesen Leichnam schweben, das ein Ich ist [...] Ich! Ich! du Abgrund, der im Spiegel des Gedankens tief ins Dunkle zurückläuft - Ich! du Spiegel - du Schauder im Schauder! < (1,939). Nur die Liebe hilft, der grausigen Alternative zwischen absolutem Materialismus und totalem Solipsismus zu entgehen, sie kann Subjekt und Welt konstituieren. Daher will Viktor Klotilde - als schon alles verloren scheint - doch noch seine Liebe gestehen, »sie stirbt sonst von sich ungekannt«, eine schöne Seele, »die ihren Wert noch nicht im Spiegel einer gleichen sah«, ein »sterbendes Herz, das doch nicht glücklich war« (1,955). Liebe trägt entscheidend zur Konstituierung von Identität bei: Selbsterkenntnis, Selbstgewißheit, entstehen durch Kenntnis der Umwelt und durch Erkenntnis der persönlichen Differenz oder Ähnlichkeit.158 Die Kommunikation zwischen Viktor und Klotilde verläuft wortlos, im immateriellen Medium von Musik:159 Ach in solchen Tönen schlagen die zerlaufenden Wellen des Meeres der Ewigkeit an das Herz der dunkeln Menschen, die am Ufer stehen und sich hinübersehnen! (1,949). In der >zweiten Welt< will Viktor seine Liebe zu Klotilde leben, seine Arme ausbreiten 157 158
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So auch Max Kommerell, S. 90/91. Vgl. Alain Preaux, Doppelgängermotiv, S. 118: »Durch fremde Anerkennung des eigenen Wertes überwindet das Ich das Gefühl der Nichtswürdigkeit und der Unnützlichkeit, das auf den Zweifel an der eigenen Existenz hinauslief. Das Ich-Du-Problem spielt eine Hauptrolle im wechselseitigen Prozeß der Selbsterkenntnis und der Welterkenntnis.« Vgl. auch Luhmann, Gesellschaftsstruktur, Bd. 3, S. 242. Zur Ambivalenz der Musik im Werk Jean Pauls s.: Schmit-Emans, Schnupftuchsknoten, S. 342ff: »Zum einen scheint die Musik frei über den Gesetzlichkeiten der schweren Materie zu schweben, scheint sie reine Bewegung zu sein und insofern dem Geistigen verwandt, zu dessen Attributen neben der Immaterialität auch die Beweglichkeit gehört; zum anderen bleibt gerade angesichts der irrationalistischen Identifikation des ersten Gesanges mit dem spontanen, dem animalischen Empfindungslaut die physiologische Bedingtheit ihres Wirkens unübersehbar«, S. 367. 133
gegen sie, gegen diese müde Seele, gegen dieses große Herz - Dann fall' ich an dein Herz, Klotilde, dann umschling' ich dich auf ewig, und die Flut der ewig stillen Wonne hüllt uns ein (1,950). Klotilde entringt sich endlich ein Seufzer, Viktor nimmt ihre Hand, sie weint ... Und wenig später erklärt Viktor ihr schließlich doch noch - initiiert durch die Besinnung auf »ihre bedeckten Tugenden« (1,955), vor allem ihre Uneigennützigkeit und ihren Mangel an Egoismus - seine Liebe und - seinen Verzicht. Sie jedoch deutet an, daß sie ihn ebenfalls liebe, und der »Blick der erhabnen Liebe«, der »Blick der ewigen Liebe und der stummen und der seligen und der unaussprechlichen« (1,958), besiegelt ihre Verbindung. Insbesondere die Sprachlosigkeit der Liebenden160 deutet auf die Tiefe ihrer Gefühle: Sprache, durch ihre Funktion für Kommunikation und Interaktion der Zweckrationalität verfallen, ihrer Ursprünglichkeit und Natürlichkeit beraubt, kann seelisches Empfinden nicht mehr darstellen - individuelle >Seelenliebe< ist - in letzter Konsequenz - nicht sozial, dem Leser nicht in ihrer Tiefe zugänglich, sie erschöpft sich - in den höchsten Momenten - in der Innerlichkeit zweier Liebender, sie vollendet sich im schweigenden Blick, und das Ineinanderrinnen der Blicke, das Zusammenzittern der Seelen warf in den engen Augenblick das Gefilde eines langen Himmels. - Und sie sahen, daß sie sich gefunden hatten und daß sie sich geliebt hatten und daß sie sich verdienten (1,1052).161 Die Harmonie zwischen den Liebenden, die Übereinstimmung ihrer Weltsicht, ist die Voraussetzung für Glück und Erfüllung - bei einer individualisierten Beziehung ist die Gefahr des MißVerständnisses groß: Als Viktor Klotilde von seinem billet doux an die Fürstin erzählt (1,1054), kommt es zu einer Reihe von Fehleinschätzungen auf beiden 160
161
134
Vgl. Wegmann zur Sprache der Empfindsamkeit: Alle Anstrengung kulminiert in einer ausgefeilten Redetechnik, die das Unmögliche - die verlustfreie, distanzlose und ungefilterte Expressivität - möglich machen soll. Nichtverstehen, ja schon der bloße Zweifel an einer nach dem Muster sympathetischer Rührung gedachten vollkommenen Kommunikation ist ausgeschlossen. Ihr Paradigma hat diese Sprache daher auch im nicht-sprachlichen Zeichen [...] Erinnert sei nur an die zahllosen Aposiopesen, den unverzichtbaren Unsagbarkeitstopos [...] Diese Sprache ist die Sache selbst, ist unmittelbarer Ausdruck und ermöglicht so eine nicht-kormmpierte, keiner gesellschaftlichen Konvention verpflichtete Verständigung«, S. 354. Vgl. Herder, Liebe und Selbstheit, S. 314: »Den höchsten Grad ihrer Entzückung suche ich nicht da, wo [...] uns die Natur mit einem Augenblick irdischer Vereinigung täuscht [...] sondern in dem ersten glücklichen Finden, in dem über alle Beschreibung süßen Augenblick, da beide Geliebte gewahr werden, daß sie sich lieben, und es nun, wie unvollkommen und unwillkührlich es sei, so gewiß, süß und übereinstimmend einander sagen. Warum muß ich das Wort gebrauchen: sagen? Das arme Wort! Was kann in diesem Augenblick die todte Zunge, die lechzende Sprache sagen, wo selbst der Seelenvolle feurige Blick seine Flügel niederschlägt und seinen Glanz verhüllt. Wenn es einen Augenblick himmlischer Wohllust und reiner Vereinigung verkörperter Wesen hier auf Erden giebt, so ists dieser, alles ganz andrer Art, als was uns der darbende Genuß erlaubet«. Auch bei Herder ist Liebe letztlich verbal, >materiellMein ganzes Herz ist unaussprechlich gerührt; vergeben Sie ihm, teuerster Freund, heute alles, worin es bisher dem ihrigen nicht ähnlich war!< (1,1058). Die Liebesbeziehung zwischen Viktor und Klotilde ist individualisiert, insofern jeder den Weltbezug des Partners mitdenkt.163 Dieser Weltbezug allerdings ist so ähnlich - da an demselben Ideal orientiert - daß das, was Viktor im Hinblick auf eine Norm - selbst erwählten - ethischen Verhaltens tut, von dem, was er fur Klotilde und nur für sie tut, nicht zu unterscheiden ist. Individualität und Idealität treten im »Hesperus« in ein auffalliges Konkurrenzverhältnis. 3.2.5.4. Die Aussparung der Sexualität Das Kritikwürdige des höfischen Liebessystems - so wie Jean Paul es analysiert - liegt in der mangelnden Berücksichtigung der tugendhaften und differenzierten individuellen Innerlichkeit: In ihrer Überbewertung der sexuellen Lust gehe die französische Liebe am Individuum vorbei. - Aber auch die freundschaftliche bürgerliche Liebe englischer Provenienz,164 wie sie Pfarrer Eymann und seine Frau praktizieren, steht dem Ideal der >hohen Seelenliebe< fremd gegenüber: Auch sie ist in letzter Hinsicht prosaisch und zweckrational ausgerichtet. In der >hohen Seelenliebe< ist jeder Gedanke an Körperlichkeit, an pure Sinnesfreude, ausgeklammert. Viktor erweist sich erst nach wiederholtem Verzicht auf Klotilde, nach der Überwindung des egoistischen Begehrens, als ihrer würdig. Während seine Liebe zu Emanuel unwillkürlich entsteht, sofort erkannt und gelebt wird und ohne Probleme auch Erfüllung, Gegenliebe findet, stehen zwischen Viktor und Klotilde von Anfang an nicht nur äußere gesellschaftliche Widerstände, sondern auch Viktors eigenes defizitäres Verhalten. Vor den Augen der Welt muß sich Viktor wie ein Höfling berechnend verhalten und sich verstellen: Beim Abschied von den Le Bauts (1,714-18) wird das Schachspiel als Metapher für höfische Interaktion gebraucht. Auch gegenüber Klotilde verwendet Viktor die Muster des Hofes: Er beobachtet sie, versucht, ihr Verhalten zeichenhaft zu deuten: Das einzige, was ihn noch aufrecht hielt und beruhigte, war eine - Distel, nämlich eine optische, auf den musivischen Fußboden gesäete. Er nahm nämlich wahr, daß Klotilde diesem Blumenstttck, das sie doch kennen mußte, unter dem Abschiede mit dem Fuße 162 163 164
Vgl. dazu Luhmann, Passion, S. 45/46. Vgl. Luhmann, Passion, S. 30. Luhmann, Passion, S. 101-103,164-166. 135
auswich, als wär' es das Uibild. Abends macht' er seine Schlußketten, wie sie auf Universitäten gelehret werden [...] >zerstreut war sie doch, und weswegen? frag* ichDurchbruchshohen Liebe< Asexualität diktiert: Allerdings soll diese nicht auf Sinnenfeindschaft beruhen, sondern auf durch Tugend sublimierter Sinnlichkeit. Im Unterschied zum pessimistischen und ahistorischen Menschenbild Wielands, das letztlich die Vorstellung von einer Verändeibarkeit des Menschen und der Gesellschaft negiert, bietet der Dualismus Jean Pauls - der sich auch gegenüber der allzu optimistischen Aufklärungsanthropologie skeptisch verhält - zumindest die Möglichkeit, Gesellschaftskritik auf wohlmöglich konstruktive Weise zu artikulieren - insofern unterscheidet sich auch der »Hesperus« prinzipiell von der »Geschichte des Agathon«, auf die sich Jean Paul in einer Skizze zum »Hesperus« bezieht (Die Skizze lautet: »satirische Karakter Freundschaft - Liebe - Republik - Ein Zwek - Agathonsche Zwek«, vgl. Bach, S. 23). Wieland selbst soll voller Bewunderung für den »Hesperus« gewesen sein. Vgl. zur Problematik von pessimistischer Anthropologie und Gesellschaftskritik den Aufsatz von Horst Thomé : Menschliche Natur und Allegorie sozialer Verhältnisse. Zur politischen Funktion philosophischer Konzeptionen in Wielands >Geschichte des Agathonhohen Menschenhohe< sind, nicht der sparsamen Verteilung einer angeborenen Begabung zur Moralität entspringen: Das Tätigwerden der Tugend, die jeder Mensch besitzt, wird - das zeigt beispielhaft die Geschichte Viktors - erst verhindert durch äußere Umstände, durch das Leben in der Welt des Kots, des Hofes und des Handels. Die tugendhafte, die >hohe< Liebe, birgt den Kem für das Erwachsen einer anderen, einer sittlichen Welt: Da sie frei von Sexualität, von egoistischen Trieben und Gedanken an praktischen Nutzwert ist, ist sie auch auf andere Personen als auf die einzig geliebte übertragbar - zunächst auf die Liebe zu einem Freund,174 dann mehreren Freunden und Familienmitgliedern. Im 44. Hundposttag erlebt der Leser die Apotheose der Liebe -jenseits des Dualismus gibt es nur Harmonie: Man zog trunken durch den kühlen Garten in das Schloß. O, wenn Schwesterliebe, Kindesliebe, Mutterliebe, Geliebtenliebe und Freundschaft nebeneinander auf den Altären brennen: so tut es dem guten Menschen wohl, daß das Menschenherz so edel ist und den Stoff zu so vielen Flammen verwahrt, und daß wir Liebe und Wärme nur fühlen, wenn wir sie außer uns verteilen [...] O Liebe! wie glücklich sind wir, daß du, von einer zweiten Seele angeschauet, dich wiedererzeugst und verdoppelst, daß warme Herzen warme ziehen und schaffen wie Sonnen Planeten, die größern die ldeinem und Gott alle - und daß selber der dunkle Planet nur eine kleinere, überzogene, eingehäusige Sonne ist [...] Alle Seelen standen heute hoch auf ihrer Alpe und sahen - wie auf einer physischen - den Regenbogen des Menschenglücks als einen großen vollendeten Zauberkreis zwischen der Erde und der Sonne hängen (1,1212). Die Liebe zwischen zwei Menschen, erweitert zunächst um freundschaftliche Beziehungen zu mehreren anderen gleichgesinnten Menschen und um familiäre Beziehungen, soll sich schließlich als Basis der Menschenliebe erweisen und entfernt sich von der Individualität des einzelnen: »[...] die Freundschaft kann Vorzüge begehren, aber die Menschenliebe bloß Menschengestalt« (1,1110). Die >hohe Seelenliebe< soll den Anschluß an die Gesellschaft, an die gesamte Menschheit erlauben - sie ist nicht schichtenspezifisch formuliert wie der amour passion: An einen der erfüllten Seelenblicke zwischen Viktor und Klotilde (1,1052) schließt der Erzähler einen Kommentar an: Ach ich habe mir oft es vorgemalt, wenn wir uns alle einander so liebten wie zwei Liebende, wenn die Bewegungen aller Seelen, wie bei diesen, gebundene Noten wären, wenn die Natur uns allen zugleich den Nachklang ihres bis über die Steme reichenden Saitenbezuges ablockte, anstatt daß sie nur ein liebendes Paar wie ein Doppelklavier bewegt - dann würden wir sehen, daß ein Menschenherz voll Liebe ein unermeßliches Eden einschlösse, und daß die Gottheit selber eine Welt erschuf, um eine zu lieben (1,1053). 174
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»Die Freundschaft kommt der reinen Liebe gleich, und Liebe kann und soll zu >reiner Freundschaft, mithin zu reiner Liebe sich entwickeln. In dieser Formel darf die Erörterung aller Unterschiede und Gemeinsamkeiten als ausgesetzt betrachtet werden.« Kritschil, Poetisierung der Liebe, S. 144.
Auch im »Traum Emanuele, daß alle Seelen eine Wonne vernichte« (1,1145-48), findet sich die Verbindung der individuellen Liebe mit der Liebe aller zu allen: Als der Engel des Endes sich vor den Menschen entschleiert, blickt jede Seele nach deijenigen, »die er am meisten liebte - und als sie einander vor Liebe sterbend anschaueten und aufgelöset dem Engel nachlächelten«, greift er nach dem Wölkchen der Zeit, aber kann es nicht halten. »Plötzlich sah jeder neben sich noch einmal Sich« - die Menschen werden sich ihrer grenzenlosen Einsamkeit bewußt angesichts des bevorstehenden Todes. O da mußte jeder von seinem Ich zu seinem Geliebten wegfliehen und, ergriffen von Schauder und Liebe, die Arme um fremde teure Menschen winden (1,1148). Erst dann kann der Engel des Endes das ganze Menschengeschlecht in einer Umarmung zusammendrücken, erst dann ist die Spaltung des Ich überwunden, erst dann ist das Ende der Zeit gekommen, der Engel zerdrückt »weinend das Wölkchen der Zeit« (1,1148). In seiner Jugend - gesteht Viktor-sei er unfähig gewesen, »1000 Millionen auf einmal zu lieben; aber das Herz des Menschen nimmt mehr in sich auf als sein Kopf [...]« (1,1017). Viktors »lyrische Menschenliebe«, seine Toleranz (1,591) auch >schlechteren< Mitmenschen gegenüber, weist ihn als ethisch hochstehendes Individuum aus - als politisches Programm allerdings ist die Menschenliebe nur in einer »zweiten Welt< denkbar: Die Vorstellung von einer durch universale Liebe befriedeten Menschheit präsentiert Jean Paul selbst nur vorsichtig als Fiktion innerhalb einer Fiktion, als Traum und als Wunschbild eines Erzählers. Viktors eigene politische Position ist schwierig eindeutig zu bestimmen: Er kritisiert am spätabsolutistischen Hof nicht das politische System per se, sondern nur die sozialen Beziehungen, die unter den allzu menschlichen Schwächen Jenners, Agnolas und Joachimes, die er als sozialisationsbedingt entschuldigt, leiden, und er wünscht, über vorsichtige Einflußnahme auf den Fürsten auf reformerischem Wege die sozialen Zustände zu bessern - im >hohen< Menschen wohnt die aufklärerische Hoffnung auf eine Perfektibilität des Menschen, eine Hoffnung, die unter Umgehimg der politisch-sozialen Verhältnisse zunächst auf die Tugend des einzelnen setzt. Viktors Erfolglosigkeit desavouiert zwar nicht die hohe ethische Qualität seines Anspruchs, seine Haltung erweist sich aber als politisch wertlos. So wird am Ende auch nicht er, sondern der radikalere Flamin mit seinen drei republikanischen Brüdern und dem Erzähler J. P. den Thron in Flachsenfingen übernehmen.175 Dem einseitigen Flamin traut der Leser mehr politische Wirksamkeit zu: 173
Zur Interpretation der Redebeiträge im >Oppositionsklub< am 32. Hundposttag vgl. Neil, S. 199-202: »Auch wenn schließlich Viktor in einer vom reformerischen Standpunkt aus formulierten Absage an die Revolution hier das letzte Wort hat, bleiben die verschiedenen Positionen an dieser Stelle unrelativiert. Wichtiger als hieraus ein Programm des »Hesperus« in Bezug auf die Veränderung der Gesellschaft entwickeln zu wollen, - was es so nicht gibt-ist das Ergebnis der Diskussion, das der Leser nachvollziehen kann und durch Identifikation mit dem Helden sich zu eigen machen soll: Allein der Umstand des 143
Flamin bestieg den höhern Stand als eine Anhöhe, um seine Wohltaten und Entwürfe weiter zu werfen; Viktor hingegen war über seinen Standes-Bankerutt froh gewesen, weil er Stille begehrte, wie jener Getöse. Flamin stieß lebendiges Schifivolk über den Bord ins Meer und nagelte den Staats-Bucentaurus mit Rudersklaven fest, um ihn schneller gegen Winde anzutreiben. Viktor aber erlaubte sich nur eine Leiche zur Erleichterung des Kaperschiffes zu machen - seine eigene (1,1203/04). Bezeichnenderweise gehört zu den »drei verschiednen närrischen Seelen« des Protagonisten, seiner »humoristischen, empfindsamen und philosophischen« (1,590), nicht auch eine »satirische«: Die Satire zielt auf Kognition und Entlarvung - Viktor aber will höchstens indirekt und über ein Lernen am Beispiel auf eine Verbesserung von Mitmenschen und Umwelt hin wirken. »Spottend über den Spott, nur dem hohen Adel der Tugend Untertan« (1,591), entgeht Viktor einer eindeutigen politischen Stellungnahme und damit auch deren Begründungszwang.176 Doch Viktors Innerlichkeit eignet nicht einmal diese Welt: Der Tag, an dem Viktor »frei durch die Natur geht, nichts ist als ein Mensch«, liegt noch in der Zukunft. In der Gegenwart kann Viktor - trotz erfolgter Verlobung177 - keine Ruhe finden. Am Schluß des Romans findet der Leser den Helden der Geschichte nicht wunschlos glücklich in den Armen der Geliebten, sondern ruhelos und ängstlich vor der Insel der Vereinigung: »>Ach die Natur ruht so viel, und warum unser Herz so wenig? [...] Warum ruht nicht alles in uns wie um uns?Trostbuch< angesprochen.180 Der traditionelle christliche Dualismus seiner Metaphysik kommt an - vornehmlich bei denen, die wie der Verfasser auch den Glauben zurücksehnen. 181 Nach Verschuren wird der »Hesperus« vor allem als Erbauungslektüre rezipiert, ähnlich wie der »Werther«,182 und also selektiv angeeignet: Bevorzugt werden die erhebenden Passagen, die satirischen ausgelassen oder überlesen:183 Die homogene, kritische literarische Öffentlichkeit, auf die die Aufklärer gesetzt hatten, ist spätestens in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts auseinandergebrochen; die »Reste« aufklärerischer Kommunikations- und Textformen, die Jean Paul in Form der satirischen »Extrablätter«, »Schalttage« und »Exkurse« - in subjektiver Brechung allerdings schon - einfließen läßt, werden überwiegend ignoriert, das ästhetische Autonomiekonzept hat sich etabliert.184
- Daß Jean Paul sich nicht auf eine erzwungene Versöhnung von Ich und Welt einläßt, daß auch der »Hesperus« in einer Dissonanz ausklingt, macht unter anderem die Qualität, die historische >Wahrheitedle weibliche Seele< Jean Paulscher 183 186 187 188 189
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Verschuren, S. 74, weist nach, daß die reflektierenden Textabschnitte als pragmatische Texte rezipiert wurden und nur die berichtenden Teile als fiktionale Literatur. So Otto Lenz, S,29 u. S. 65. In: Sprengel (1980), S. 14/15. In: Sprengel, S. 24. Bei Blanckenburg heißt es, S. 65/66: »Der Dichter wird in der Zusammensetzung seines Charakters, Rücksicht auf seine Zeit, seine Erziehung, sein Alter, sein Land, seine Religion, seinen Stand im körperlichen Leben, auf die Eigenschaften selbst, die er ihm giebt: mit einem Wort: auf seine ganze Verfassung Rücksicht nehmen müssen [...] Er wird sogar auf körperliche Umstände, auf Temperament und andere Dinge mehr sehen, und den Einfluß derselben nie aus den Augen lassen. Dadurch werden nun Einschränkungen von allen Seiten entstehen; eine Eigenschaft wird etwas nachgeben oder verlieren müssen, damit sich die andre hinanfugen könne [...] Den Menschen ganz vollkommen zeigen, ist vielleicht falscher noch als undichterisch [...] Hier heißt vollkommen nichts, als diejenige moralische Eigenschaft, die der Mensch vorzüglich haben sollte, und die er, als Mensch, auch haben kann.« - Im »Hesperus« erscheinen Viktor und Emanuel als vollkommene Charaktere verschiedenen Grades: Emanuel repräsentiert den von Blanckenburg abgelehnten Heiligen, Viktor den bildungsbedürftigen und -fähigen, tugendhaften Helden. Zur Erfolglosigkeit Jean Pauls nach 1800 vgl. Verschuren, S. 75ff.
Fiktion eine Prüde, die die »Rolle der Klotilde« auswendig gelernt hat, 191 und Schlegel fehlt es an Sinnlichkeit und Individualität: Er zählt unter »die falschen Tendenzen« Jean Pauls die Frauen, die Philosophie, die Jungfrau Maria, die Zierlichkeit, die idealischen Visionen und die Selbstbeurteilung. Seine Frauen haben rote Augen und sind Exempel, Gliederfrauen zu psychologischmoralischen Reflexionen aber die Weiblichkeit oder über die Schwärmerei. Überhaupt läßt er sich fast nie herab, die Personen darzustellen; genug daß er sie sich denkt [...].
3.3. Exkurs: Die philosophische Diskussion über Sinnlichkeit und Vernunft im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts: Zur >Vorgeschichte< von Schlegels »Lucinde« (Expositorische Texte II) Schon die Lektüre des »Hesperus« erfordert zum tieferen Verständnis des Romans eine Kenntnis der Metaphysik und Ästhetik des Autors. Jean Pauls christlicher Dualismus, der sich auch im Stil und in der Begrifflichkeit des Romans stark abzeichnet, ist dennoch dem naiven Leser auch heute noch leichter zugänglich als der kryptische, hoch theoretisierte, mit transzendental- und naturphilosophischen Annahmen überfrachtete Romanversuch Schlegels.193 Deshalb muß einer Interpretation der »Lucinde« eine Skizzierung der philosophischen und kunsttheoretischen Diskussion im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts vorausgehen. Erst die Kenntnis der zeitgenössischen philosophischen Auseinandersetzung über die Identität des Subjekts und das Wesen der Frau erlaubt eine Einordnung und Bewertung der in der »Lucinde« artikulierten Auffassungen Schlegels.
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193
Vgl. Sprengel. S. XXXVII. Athenäum-Fragment Nr. 421, bei Sprengel (1980) S. 26 - Entsprechend hat Jean Paul die »Lucinde« Schlegels nicht zu schätzen gewußt, vgl. Paul Nenlich: Jean Paul und seine Zeitgenossen, Berlin 1976, S. 239: »Als sich Karoline Herder [...] beklagte, daß durch die schamlose Lüsternheit des Lucindianismus die Liebe zerstört werde, stimmte er [Jean Paul, d. Vf.] ihr vollständig bei: Auch er ist entrüstet über diesen neuesten Unsinn, Amors Pfeile statt in Honig in Koth zu tauchen [...]«. Die »Lucinde« ließe sich eventuell sogar als einer der ersten »avantgardistischen« Romane im bürgerlichen Subsystem Literatur verstehen: Einige der Charakteristika, die Georg Jäger für typisch für die avantgardistischen Bewegungen des Dadaismus, der Konkreten Poesie und der Wiener Gruppe hält, finden sich auch in der »Lucinde«: Die Kommentarbedürftigkeit des Textes, die Integration des Kommentars in den Text, die Notwendigkeit einer aktiven Dekodierung der Kommunikationsofferte seitens des Rezipienten ..., vgl. Georg Jäger: Die Avantgarde als Ausdifferenzierung des bürgerlichen Literatursystems. Eine systemtheoretische Gegenüberstellung des bürgerlichen und avantgardistischen Literatursystems mit einer Wandlungshypothese, in: Michael Titzmann (Hrsg.): Modelle des literarischen Strukturwandels, Tübingen 1991, S. 221-244. 147
Das 18. Jahrhundert ist gekennzeichnet von der Auseinandersetzung des Rationalismus mit dem Irrationalismus. 194 Einer polemisch gegen die theologische Sinnenfeindschaft gerichteten Aufwertung von Sinnlichkeit193 tritt sogleich der als notwendig erachtete Versuch der Begrenzung von Sinnlichkeit durch eine Moral entgegen, die jedoch zunehmend ihre Konsensfahigkeit verliert - ein erstes Anzeichen für modernen Meinungspluralismus. Das Problem der Normbegründung wird in der philosophischen Diskussion des späten 18. Jahrhunderts ein vordringliches Thema, es geht um die Abwehr des (französischen) Materialismus, des krassen Egoismus, um eine Eindämmung der asozialen Triebhaftigkeit des Menschen - es geht also auch um Selbstbeherrschung und die Herstellung einer berechenbaren Identität des einzelnen.196 Damit läßt sich der ganze (zumindest terminologisch) unendlich komplizierte philosophische Diskurs im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts auch verstehen als eine Reflexion über die Kontingenz und die Konstitutionsprobleme des modernen Subjekts. 197 Eine These der vorliegenden Arbeit ist, daß das sich allmählich - endgültig in der Frühromantik - etablierende Konzept einer Liebesehe erst möglich wird, als die Aufwertung von Gefühl und Sinnlichkeit, und d.h. auch Individualität, erfolgt ist. Das aber 194
So Alfted Baeumler in seiner immer noch grundlegenden Untersuchung: Kants Kritik der Urteilskraft. Ihre Geschichte und Systematik. Erster Band: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft, Halle 1923, S. S. Zur Einführung in die Materie immer noch hilfreich: Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 3: Die nachkantischen Systeme, Berlin 1920. - Eine kurze Einführung gibt auch: Rolf Grimminger: Die Utopie der vernünftigen Lust. Sozialphilosophische Skizze zur Ästhetik des 18. Jahrhunderts bis zu Kant, in: Peter u. Christa Bürger/Jochen Schuhe-Sasse (Hrsg.): Aufklärung und literarische Öffentlichkeit, Frankf./M. 1980, S. 116-132 (= edition suhrkamp 1040). 193 Vgl. Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Stuttgart 1981. 196 Vgl. Odo Marquard: Transzendentaler Idealismus. Romantische Naturphilosophie. Psychoanalyse, Köln 1987, S. 3. 197 Nach N. Luhmann stellt die Transzendentalphilosophie mit dem transzendentalen, absoluten Ich ein Symbol für die neue, sozial ortlose Position des empirischen modernen Subjekts bereit, vgl. Luhmann, S. 319, in: The Individuality of the Individual: Historical Meanings and Contemporary Problems, in: Reconstructing Individualism. Autonomy, Individuality, and the Self in Western Thought, hrsg. v. Thomas C. Heller, Morton Sosna, und David E. Wellbeiy, California: Stanford Univ. Press 1986, S. 313-325. - Das philosophische Thema des commercium corporis et mentis gibt es natürlich nicht erst seit 1770 - zum regelrechten Problem aber scheint das Verhältnis des Geistes zum Körper erst dann zu werden, wenn sinnliche Triebe unterdrückt werden müssen und eine Kohärenzforderung an das Subjekt ergeht - die »Vorgeschichte« des modernen Subjekts situiert Friedhelm Guttandin deshalb in der Sonderwelt des mittelalterlichen Klosters mit seinem Zwang zur Selbstbeherrschung, Selbstkontrolle und Selbstthematisierung (in Beichte und Inquisition), vgl. Friedhelm Guttandin: Genese und Kritik des Subjektbegriffs. Zur Selbstthematisierung der Menschen als Subjekte, Marburg 1980, S. 3-145. Vgl. auch Foucault, Der Wille zum Wissen (1983), S. 31: »Das Projekt einer >Diskursivierung« des Sexes hatte sich lange zuvor [vor dem 17. Jhdt, d.Vf ] in einer asketischen und klösterlichen Tradition formiert.« 148
geschieht im philosophischen Diskurs des 18. Jahrhunderts hauptsächlich durch die Ästhetik: Angefangen mit Baumgartens ästhetischen Schriften (1739 und 1748-50), die das Schöne überhaupt erst als eigenständigen Wert begreifen,198 wird die Frage nach der Objektivität des Kunstwerks oder aber der Subjektivität der Lust bis hin zu Kants »Kritik der Urteilskraft« (1790) heftig diskutiert.199 Das subjektive Moment der Lust, des »je ne sais quoi«, setzt sich im Laufe des Jahrhunderts allmählich durch, ähnlich wie im Liebescode des aristokratischen amour passion sich das »je ne sais quoi« der Leidenschaft durchgesetzt hatte. Diese so ganz individuelle Lust aber verliert ihre Intersubjektivität, ihre soziale Anschließbarkeit,200 und bleibt bloß privat. 3.3.1. Kant Daher baut Kant seine Ethik rigoros auf pflichtasketischer Haltung auf: In der »Grundlegung der Metaphysik der Sitten« (1785) verbannt er jedes bloß subjektive Element, jedes Handeln aus Neigung, aus seiner Moralbegründung.201 Nur durch Ausschließung aller bloß individuellen, d.h. sinnlichen Gesichtspunkte könne eine Ethik Anspruch auf objektive Allgemeingültigkeit erheben. Der kategorische Imperativ beruht auf einer Zweiteilung des menschlichen Erkenntnisvermögens in Sinnlichkeit und Vernunft und kann sich als objektives Prinzip nur durchsetzen, wenn die Trennung streng gewahrt bleibt - gleichzeitig aber bleibt die Frage nach der realen Durchsetzbarkeit des reinen moralischen Prinzips ungelöst:202 »Wie reine Vernunft praktisch sein könne, das zu erklären, dazu ist alle menschliche Vernunft gänzlich unvermögend [...]«.203 In der »Kritik der Urteilskraft« von 1790 greift Kant das ungelöste Problem wieder auf. 204 Schon 1764 hatte er in den vorkritischen »Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und des Erhabenen« eine folgenreiche Verbindung des Guten mit dem Schönen geknüpft, und zwar im Zusammenhang mit dem weiblichen »Geschlechtscharakter«: Die Tugend des Frauenzimmers ist eine schöne Tugend [...] Sie [die Frauen, d.Vf.] werden das Böse vermeiden, nicht weil es unrecht sondern weil es häßlich ist, und tugendhafte Handlungen bedeuten bei ihnen solche, die sittlich schön sind. Nichts von Sollen, nichts von Müssen, nichts von Schuldigkeit.203
198 vgl. Joachim Ritter: Art. »Ästhetik« in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. J. Ritter, Bd. 1 (1971), Sp. 555-580. 199 Baeumler zeichnet die Diskussion nach. 200 Der »Werther« erscheint von daher als literarische Problematisierung der bloß subjektiven Gefühle des Individuums, das sich über seine Gefühlswelt aus dem gesellschaftlichen Kontext ausgrenzt. 201 Immanuel Kant: Werke, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. IV, Darmstadt 1963, S. 24f. 202 Vgl. Odo Marquard: Kant und die Wende zur Ästhetik. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 16 (1962), S. 231-43 und S. 363-374, bes. S. 363-367. 203 Kant, Werke IV, S. 99. 204 Grundlegend: Manfred Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen. Frankf./M. 1989 (= edition suhrkamp 1563). 205 Kant, Werke, Bd. I, Darmstadt 1960, S. 854. 149
Einerseits ist die Frau damit für die reine ethische Position disqualifiziert, in der nur die Pflicht, nicht aber die Neigung zu gebieten hat - andererseits benötigt sie keine Moral, denn sie ist qua Natur immer schon moralisch. Schiller wird auf diese Denkfigur zurückgreifen und von einer »schönen Seele« sprechen. Der Frau, oder besser der Idee der Frau im Kopf des Mannes, dem Weiblichkeitskonstrukt, wird - so die Implikation eine Erhebung über das bloß Sinnlich-Natürliche hinaus zum Vernunftsubjekt, d.h. eine Entwicklung, eine Geschichte, abgesprochen - eine Erklärung für die Aussparung des Weiblichen in den drei großen Kritiken Kants. 206 In der »Kritik der Urteilskraft«207 ist daher nicht die Rede vom Weiblichen, sondern von der Kunst und der Natur, die - vom Mann - als Symbol des Sittlichen verstanden werden können-und zwar über das Prinzip der sog. »reflektierenden Urteilskraft«: Diese bezeichnet die Fähigkeit, zu einem gegebenen Besonderen ein noch unbekanntes Allgemeines, ein »Ganzes«, zu finden. Zu diesem Zweck bedient sich die reflektierende Urteilskraft einer regulativen Idee als heuristischem Instrument: der - unbeweisbaren - Zweckmäßigkeit in der Natur, d.h. also einer über bloß kausale Wirkverhältnisse hinausgehenden Sinnhaftigkeit.208 Diese gedachte, subjektive Teleologie aber ist zugleich ästhetisch insofern, als sie ein Gefühl der Lust hervorruft: Bei der Betrachtung eines schönen Gegenstandes der Natur oder der Kunst reagiert das Subjekt ganz individuell und spontan auf eine bestimmte Konfiguration seines Vorstellungsvermögens mit Lust oder Unlust - es erlebt ein nicht verstandesmäßiges, d.h. also auch nicht in Begriffen zu fassendes, nicht reflexives Selbstgefühl. Im ästhetischen Zustand empfindet der Mensch sich als zugleich produktiv und rezeptiv, die Freiheit der Einbildungskraft und die Gesetzmäßigkeit des Verstandes befinden sich in einer harmonischen Proportion. Wichtig ist nun, daß bei aller Sinnlichkeit und Individualität des Lustgefühls es trotzdem frei bleibt von empirisch-sinnlichem oder aber vernünftig-moralischem Interesse, d.h. von einer Einwirkung des Erkenntnis- oder Begehrungsvermögens (KU § 2-5). 209 Das Geschmacksurteil erreicht das, indem sich das Subjekt bei der ästhetischen Betrachtung gedanklich an die Stelle jedes anderen potentiellen Betrachters versetzt (KU §40). Denn nur die Abstraktion von jedem Eigeninteresse, die Zweckfreiheit der ästhetischen Wahrnehmung, sichert dem Geschmacksurteil seine »subjektive Allgemeingttltigkeit«, d.h. seine intersubjektive Gültigkeit: Das Geschmacksurteil selber postuliert nicht jedermanns Einstimmung (denn das kann nur ein logisch allgemeines, weil es Gründe anfuhren kann, tun); es sinnet nur jedermann
206
So die Analyse Silvia Bovenschens: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankf./M. 1979 (= edition suhrkamp 921), S. 228ff. 207 In: Werke, hrsg. v. W. Weischedel, Bd. V, Darmstadt 1963. Im folgenden im Text als KU. 208 _ s i e etwa der Gedanke der Natur als »Schöpfung« enthält; hier liegt dann der Ansatzpunkt für Schellings Naturphilosophie. 209 Gerade gegen diese Trennung von Ethik und Ästhetik hatte ja Jean Paul, wie gezeigt wurde, aufbegehrt... 150
diese Einstimmung an, als einen Fall der Regel, in Ansehung dessen er die Bestätigung nicht von Begriffen, sondern nur von anderer Beitritt erwartet.210 Dem Geschmacksurteil liegt also die Idee eines »Gemeinsinns« zugrunde, der sich in der ästhetischen Betrachtung beispielhaft erweist - hier setzen Schillers Gedanken zur ästhetischen Erziehung dann an. Somit könnte die Ästhetik theoretisch sowohl die subjektive Gewißheit des Selbstbewußtseins als auch die im modernen bürgerlichen Staat von Anomie bedrohte Integration der Gesellschaft garantieren: Wenn sich alle über die Schönheit eines Objekts verständigen könnten, d.h. wenn die Triebhaftigkeit des einzelnen zu einem interessefreien Wohlgefallen sublimiert wäre, so stünden die Aussichten auf die Befolgung einer intersubjektiv verbindlichen Moral nicht schlecht: Der Geschmack macht gleichsam den Übergang vom Sinnenreiz zum habituellen moralischen Interesse, ohne einen zu gewaltsamen Sprung, möglich, indem er die Einbildungskraft auch in ihrer Freiheit als zweckmäßig für den Verstand bestimmbar vorstellt, und sogar an Gegenständen der Sinne auch ohne Sinnenreiz ein freies Wohlgefallen lehrt. (KU § 59). Die Verbindung zwischen Moral und Ästhetik allerdings bleibt fur Kant fragil, eine lediglich auf Analogie beruhende Ähnlichkeit: Das Schöne kann Symbol des sittlich Guten sein, dasselbe ist es nicht und darf es auch nicht sein. Daher eignet dem Schönheitsbegriff Kants eine prinzipielle Mehrdeutigkeit: Das Schöne kann als Stufe oder Anreiz zum Moralischen hin pädagogisch verstanden werden, eher aber erscheint die Hoffnung auf das Schöne als hilflose Geste der ohnmächtigen Vernunft.211 3.3.2. Schiller Die Ambivalenz der kantischen Ästhetik kehrt in Schillers ästhetischen Schriften wieder. Zwar geht es Schiller zunächst um eine Korrektur der - wie er es versteht - polemischen Ausrichtung der pflichtasketischen Ethik Kants: In »Über Anmuth und Würde« (1793) argumentiert Schiller gegen die »Rigoristen der Moral« 212 mit der Vorstellung vom guten Handeln aus Neigung. Nur wo die Sinnlichkeit nicht unterdrückt werde, könne ein ungezwungenes, freiwilliges Verhältnis zur Moral bestehen, nur da sei Schönheit, nur da ein freies Zusammenspiel von Natur und Sitte.213 Ein solches Ideal aber verkörpere die »schöne Seele«:
210 211 212 213
Kant, Werke Bd. V, S. 294. Vgl. Odo Marquard (1987), S. 139f. Schillers Werke. Nationalausgabe, hrsg. v. Benno von Wiese, Bd. 20: Philosophische Schriften. Erster Teil, Weimar 1962, S. 283. Schiller vertritt gegen Kant eine so starke Aufwertung der Sinnlichkeit, dafi er zunächst auf einen materialistisch-fatalistischen Monismus zusteuert - alle Sinnlichkeit ist per se gut - den er jedoch in seiner Konsequenz ablehnt. Vgl. Panajotis Kondylis: Die Entstehung der Dialektik. Eine Analyse der geistigen Entwicklung von Hölderlin, Schelling und Hegeibis 1802, Stuttgart 1979, S. 25. 151
Eine schöne Seele nennt man es, wenn sich das sittliche Gefühl aller Empfindungen des Menschen endlich bis zu dem Grad versichert hat, daß es dem Affekt die Leitung des Willens ohne Scheu überlassen darf, und nie Gefahr läuft, mit den Entscheidungen derselben in Widerspruch zu stehen.214 Diese mit Anmut verbundene Harmonie von Natur und Freiheit deutet Schiller als spezifisch weibliche Tugend - Würde hingegen sei Ausdruck einer erhabenen Gesinnung, deute hin auf Beherrschung widerstrebender Triebe durch Kraft und komme daher primär dem Manne zu. Vereint stellen Anmut und Würde das Ideal der Menschheit dar. 215 Um sich diesem Ideal zu nähern, bedarf der Mensch der ästhetischen Erziehung, wie Schiller weiter ausführt in seiner Schrift von 1794, »weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freyheit wandert. «(ÄE, S. 312). Schillers pädagogische Ideen beziehen eine Analyse und Kritik der zeitgenössischen Kultur mit ein: Der moderne zweckrational organisierte Staat benutze den einzelnen Bürger nur noch als Funktion, der einzelne Mensch sei nicht mehr Zweck, sondern zum Mittel degradiert. Zweckhaftigkeit komme nur noch der Gattung zu, indem die einseitige Ausbildung des einzelnen nämlich zur Vielfältigkeit der Gattung beitrage. Der einzelne aber werde nur noch auf Verstandesebene ausgebildet, seine emotionale Komponente hingegen verkümmere. Die Rationalität des Staates aber und in der Folge die der einzelnen Gesellschaftsmitglieder verursache eine Desintegration der Gesellschaft, der einzelne identifiziere sich nicht mehr mit dem Staat und mit seinen Mitmenschen und tendiere zum asozialen Individualismus. Um diese Entwicklung aufzuhalten, setzt Schiller auf die Ausbildung des individuellen menschlichen Empfindungsvermögens qua Ästhetik: Durch die zugleich auflösende und anspannende Wirkung des Schönen auf das Gemüt entstehe ein mittlerer Zustand, ein Zustand »aktiver Bestimmbarkeit« (ÄE, 20. Brief, S. 375): Durch die ästhetische Gemüthsstimmung wird also die Selbstthätigkeit der Vernunft schon auf dem Felde der Sinnlichkeit eröffnet, die Macht der Empfindung schon innerhalb ihrer eigenen Grenzen gebrochen und der physische Mensch soweit veredelt, daß nunmehr der geistige sich nach den Gesetzen der Freyheit aus demselben bloß zu entwikkeln braucht. (ÄE, 23. Brief, S. 385). Wenn der einzelne wieder zum >ganzen< Menschen erzogen worden ist - so die Logik der Schillerschen Überlegung - wird eine Gesellschaft freier und gleicher Individuen entstehen. Dieser langfristigen Zielprojektion setzt Schiller aber nun in einem unverhoff214 215
152
Ebd., S. 287. Ebd., S. 300f. In diesem Zusammenhang fällt bei Schiller der Begriff der Liebe als einer Art kosmischen Prinzips der Vereinigung von Gegensätzen: Zwischen Anmut und Würde herrsche Anziehung, ja Liebe: »Die Liebe allein ist also einefreyeEmpfindung, denn ihre reine Quelle strömt hervor aus dem Sitz der Freyheit, aus unsrer göttlichen Natur«, S. 303. Auch in der Schrift »Ober die ästhetische Erziehung des Menschen« (In: Schillers Werke. Nationalausgabe, hrsg. v. B. v. Wiese, Bd. 20, 1. Teil, Weimar 1962; im folgenden im Text als ÄE) erwähnt Schiller die Liebe (27.Brief, S. 409): In der über Sinnlichkeit erhabenen Seelenliebe der neueren Zeit fänden sich Freiheit und Moral. Schiller setzt allerdings dennoch nicht auf die Liebe zwischen zwei Menschen, sondern auf die Schönheit als Mittel der Moral.
ten Paradigmenwechsel216 das Modell eines ästhetischen Staates entgegen, der sich im »schönen Schein«, im kultivierten, nicht-antagonistischen Umgang der gebildeten Mitglieder untereinander erschöpft. Die Interaktionen im ästhetischen Staat sollen von Freiheit, Freundschaft, Liebe und Bildung bestimmt sein: Sie befinden sich damit an marginaler Position innerhalb der gesamten zweckrational organisierten Gesellschaft, lediglich »in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln« (ÄE, 27. Brief, S. 412) - d.h. aber, im ästhetischen Staat, und nur dort, wird - so Disselbecks Auslegung - nach den Regeln der Oberschichteninteraktion in den alten Gesellschaften kommuniziert, wobei, dem Modernisierungsprozeß hin zur bürgerlichen Gesellschaft Rechnung tragend, »Stand« gegen »Bildung« als Zulassungsbedingung ausgetauscht wurde: Anstatt die demokratische Idee der Erziehung aller zu harmonischen Individuen zu verfolgen, wendet sich Schiller also plötzlich dem autonomen Bereich der Kunst und einer gesellschaftlichen Elite zu: 217 Nicht daO wir einen Werth auf den ästhetischen Schein legen (wir thun dieß noch lange nicht genug) sondern daß wir es noch nicht bis zum reinen Schein gebracht haben, daß wir das Daseyn noch nicht genug von der Erscheinung geschieden und dadurch beyder Grenzen auf ewig gesichert haben, dieß ist es, was uns ein rigoristischer Richter der Schönheit zum Vorwurf machen kann. (ÄE, 26. Brief, S. 404). Die Autonomie der Kunst aber und die erzieherische Funktion der Kunst mögen zunächst als konträre Bestimmungen erscheinen,218 in denen die Kantsche Ambivalenz der Bestimmung des Schönen als »Symbol« des Sittlichen wieder auftaucht: Letztlich erscheint die Kunst im Rang eines »Als-Ob«, der prinzipielle Dualismus von Sinnlichkeit und Vernunft verschmilzt nicht zur Einheit. Gelungene Subjektkonstitution ist nur einer kleinen Bildungselite möglich. Durch die Gesamtgesellschaft aber geht ein Riß, der die (sinnliche) Masse von den (ästhetisch und moralisch gebildeten) Oberschichten trennt; die Sphären von Sinnlichkeit, Schönheit und Vernunft bleiben unverbunden.
216 217 218
So Klaus Disselbeck: Geschmack und Kunst: Eine systemtheoretische Untersuchung zu Schillers Briefen »Über die ästhetische Erziehung des Menschen«, Opladen 1987. Ahnlich wie übrigens auch der junge Kant, vgl. Baeumler, S. 257ff. Schiller beschreibt aber genau das theoretische Funktionieren eines möglichen sozialen Subsystems »Kunst« in der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft: Nach Luhmann muß ein soziales Subsystem drei Teilreferenzen aufweisen können - a. eine FUNKTION für die Gesamtgesellschaft, b. eine LEISTUNG für benachbarte Subsysteme, c. SELBSTREFERENZ zur Bestimmung der systemeigenen Identität. Im vorliegenden Falle käme der Kunst die Funktion der sozialen Integration aller Gesellschaftsmitglieder zu, als Leistung der Kunst könnte beispielsweise das Subsystem Politik von der durch den Geschmack geschaffenen InterSubjektivität profitieren, oder das Subsystem Erziehung z.B. vom psychischen Spannungsausgleich in den ästhetisch entspannten Lernenden ... und für sich selbst wäre das Kunstsystem durch Selbstreferenz bestimmt, durch das »Spiel«, den schönen Schein... 153
3.3.3. Fichte Als anstößiger Punkt in Kants Philosophie erwies sich fur seine Nachfolger die letztlich metaphysische Annahme eines »Dings an sich«, eines Objektes, das dem Menschen nicht unmittelbar in seiner Faktizität, sondern nur mittelbar als Erscheinung mit Hilfe der Kategorien des Verstandes zugänglich sei, und das ihn affiziere, d.h. in seiner Freiheit einschränke. Ebenso rätselhaft wie die >wahre< Existenz der Dinge an sich bleibt bei Kant auch die Einheit des Selbstbewußtseins, die sog. »transzendentale Apperzeption«, die er in der »Kritik der reinen Vernunft« gleichwohl zur Voraussetzung, zur Bedingung der Möglichkeit und zum höchsten Punkt der Philosophie erklärt hatte. Das »Ich« ist für Kant nur als reflexives Ich, d.h. als Objekt der Reflexion, als Erscheinung zu erkennen, wird allerdings bei jeder gedanklichen Reflexion immer schon vorausgesetzt. Diesen Zirkel oder auch unendlichen RegreD des Reflexionsmodells von Selbstbewußtsein erkennt Fichte als Manko der kantischen Philosophie219 und versucht nun seinerseits, die Struktur des Ich zu analysieren. Die Überwindung des erkenntnistheoretischen Dualismus, das Streben nach Einsicht in die vorgängige Identität des Selbstbewußtseins, bleibt für Fichte wie auch für Schelling und andere Frühromantiker die entscheidende Herausforderung. Immer wieder stellen sie sich die Frage nach der Erfahrbarkeit und Kommunikabilität des präreflexiven Ichs. Die Schwierigkeit besteht dabei darin, nicht in vorkantianische Substanzmetaphysik zurückzufallen und damit die Grundlage von Moral, den Freiheitsgedanken, aufzugeben, die der Kantsche Dualismus der Erkenntnisstämme gerade erst etabliert hatte. Zu zeigen wäre also, daß Sinnlichkeit und Vernunft, Notwendigkeit und Freiheit eins und identisch sind und vom einigen Subjekt ausgehen. Zu erklären wäre das merkwürdige Faktum, daß der Mensch sich dennoch stets von einer Welt der Objekte beeindruckt, genötigt, eingeschränkt empfindet. Und zu beachten gilt dabei immer, daß das Bemühen um eine allgemein verbindliche oder zumindest intersubjektiv gültige Ethik nicht in Vergessenheit gerät. Bei Fichte verlagert sich das philosophische Problem von Natur und Vernunft also in das Subjekt hinein und wird zur Frage nach der Einheit des Subjekts.220 Fichte geht dabei von dem obersten - praktischen, also regulativen - Gedanken der Freiheit des Subjekts aus, die keinen Einfluß eines Objekts, kein »Leiden«, keine Passivität oder Einschränkung des Ichs durch ein Objekt der Außenwelt - in Fichtes Philosophie ein »Nicht-Ich« - duldet: [...] es soll, da das Nicht-Ich mit dem Ich auf keine Weise sich vereinigen läßt, überhaupt kein Nicht-Ich seyn, der Knoten zwar nicht gelöst, aber zerschnitten werden.221
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So Dieter Henrich: Fichtes ursprüngliche Einsicht, Frankf./M. 1967. So Hans Freier: Die Rückkehr der Götter. Von der ästhetischen Überschreitung der Wissensgrenze zur Mythologie der Moderne. Eine Untersuchung zur systematischen Rolle der Kunst in der Philosophie Kants und Schellings, Stuttgart 1976, S. 42f.
Das soll mit Hilfe folgender Konstruktion gelingen: Ursprünglich gibt es kein Subjekt und kein Objekt, sondern nur ein absolutes Ich, das definiert ist als ein unendlich freies Handeln. Will dieses Ich sich selbst erkennen, will es etwas »sein«, muß es seine ins Unendliche gehende Tätigkeit, sein Werden, auf sich selbst zurücklenken, auf sich selbst reflektieren, >sich selbst für sich setzen< - i m praktischen Teil der Wissenschaftslehre führt Fichte dieses Wollen auf einen »Trieb zur Bestimmung« zurück, der jedoch theoretisch nicht zu begründen sei (WL, S. 326): Dabei geschieht jedoch die unvermeidbare Spaltung in ein betrachtendes und ein betrachtetes Ich, ein Ich als Subjekt und ein Ich als Objekt. Das jetzt lediglich relative Ich-Subjekt bekommt sich selbst nicht anders in den Blick als über das Ich-Objekt, das es als genaues Gegenteil seiner selbst, als Negation im logischen Sinne, konzipiert und sich als Nicht-Ich diametral entgegensetzt: Bedeutung entsteht nur durch Differenz: »Das Ich setzt sich selbst, als beschränkt durch das Nicht-Ich.« (WL, S. 126). Damit das (relative) Ich und das Nicht-Ich sich nun aber nicht in ihrer absoluten Gegensätzlichkeit gegenseitig aufheben und leer bleiben, werden sie als teilbar bestimmt, d.h. zwischen ihnen findet ein Wechsel von einzelnen Merkmalen statt, Objekt und Subjekt bestimmen sich wechselweise (soweit der Inhalt der drei Grundsätze des Systems). Nur so ist Selbsterkenntnis möglich: Identität ist die Einheit der Differenz. Die Synthesis von Ich und Nicht-Ich aber vollzieht sich zunächst rein geistig im Medium der »Einbildungskraft«, als ein »ursprünglich in unserem Geiste vorkommendes Factum« (WL, S. 219): Alle Schwierigkeiten [...) sind befriedigend behoben. Die Aufgabe war die, die entgegengesetzten, Ich und Nicht-Ich, zu vereinigen. Durch die Einbildungskraft, welche widersprechendes vereinigt, können sie vollkommen vereinigt werden. - Das Nicht-Ich ist selbst ein Product des sich selbst bestimmenden Ich, und gar nichts absolutes und ausser dem Ich gesetztes. Bin Ich, das sich setzt, als sich selbst setzend, oder ein Subject ist nicht möglich ohne ein auf die beschriebene Art hervorgebrachtes Objekt (die Bestimmung des Ich, seine Reflexion über sich selbst, als ein bestimmtes, ist nur unter der Bedingung möglich, dass es sich selbst durch ein entgegengesetztes begrenze). (WL, S. 218). Der Schwebezustand der Einbildungskraft zwischen Ich und Nicht-Ich - auf diese Bildlichkeit greift Schlegel im Athenäum-Fragment Nr. 116 zurück-ist allerdings nicht von Dauer: Die praktische Vernunft tritt bald hinzu und bestimmt, daß das Ich das Nicht-Ich aufzunehmen habe (WL, S. 217). Denn das anstößige Objekt ist zwar als Teil des Ichs bestimmt - das ist dem (relativen) Ich aber bald nicht mehr bewußt: »Diese Bestimmung eurer selbst nun« - so erklärt Fichte im praktischen Teil der WL - »übertragt ihr sogleich auf etwas ausser euch, was eigentlich Accidenz eures Ich ist, macht ihr zu einem Accidenz eines Dinges, das ausser euch seyn soll [...].« (WL, S. 314). Folgerichtig ergeht die praktische Forderung an das (relative) Ich nach Wiederaneignung des Nicht-Ich. Fichte reformuliert den kategorischen Imperativ zur Forderung des abso221
So Johann Gottlieb Fichte im theoretischen Teil seiner »Wissenschaftslehre« von 1794, s.: J. G. Fichte's sämmtliche Werke, hrsg. v. J. H. Fichte, Erster Band, Leipzig 1844, S. 144. Im folgenden abgekürzt als WL. 155
luten Ich nach Übereinstimmung von (relativem) Ich und Nicht-Ich, d.h. nach Wiederherstellung des absoluten Ich (WL, S. 260). Der Stellenwert des Nicht-Ich enthält bei Fichte eine prinzipielle Ambiguität: Einerseits ist das Nicht-Ich bloßes Mittel fur die Selbsterkenntnis des (relativen) Ich, die nur über sein Gegenteil erfolgen kann, das hieße, das Nicht-Ich müßte den Charakter der bloßen Negation behalten, um dem Ich ein Selbst-Bewußtsein zu ermöglichen. Andererseits soll kein Nicht-Ich sein, d.h. das Nicht-Ich sollte vom (relativen) Ich durchdrungen, erkannt und angeeignet werden - im Verlaufe dieses Prozesses müßte also das (relative) Ich an Bewußtsein verlieren und sich dem absoluten Ich in einer Art mystischer Selbsthingabe nähern. Die Kritik Schellings, Hegels und der Frühromantiker wird sich gegen eine Auffassung des Nicht-Ich als bloßer Negation richten. Im Versuch der Abgrenzung von Fichte (miß)verstehen sie seine Philosophie als immer noch dem Reflexionsmodell von Selbstbewußtsein verpflichtet, indem sie das absolute Ich mit dem relativen in eins setzen.222 Unterschlagen wird dabei die im praktischen Teil der WL ergangene Forderung nach Aneignung des Nicht-Ich. Fichte selbst leistet dieser (Fehl)Interpretation allerdings Vorschub, indem er nicht expliziert, wie denn die Anverwandlung des Nicht-Ich vor sich gehen solle - Fichte scheint tatsächlich primär am Selbstbewußtsein des (relativen) Ich interessiert, weniger am absoluten Ich. Erst Schelling wird den Gedanken einer schrittweisen Anamnese des präreflexiven Ichs ausführen und die Verbindung zur Ästhetik herstellen. Fichtes Wissenschaftslehre bleibt letzlich - trotz der Bemerkungen zur synthetischen Funktion der Einbildungskraft - eine dualistische Erkenntnistheorie ohne Interesse am Ästhetischen. 3.3.4. Schelling Das Interesse der Frühromantiker gilt der Möglichkeit einer unbegrifflichen, unmittelbaren >Erkenntnis< des präreflexiven Ichs. Der Begriff für eine solche präkategoriale Erkenntnis, eine »intellektuelle Anschauung«, war von Schelling infolge seiner über Jacobi vermittelten Spinoza-Lektüre in die philosophische Diskussion seiner Zeit wieder eingebracht worden.223 Schon in der Vorrede seiner Schrift »Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen« von 1795 bestimmt Schelling mit den Worten Jacobis, daß die Aufgabe der Philosophie sei, »Daseyn zu enthüllen und zu offenba222
223
156
So Stefan Summerer: Wirkliche Sittlichkeit und ästhetische Illusion. Die Fichterezeption in den Fragmenten und Aufzeichnungen Friedrich Schlegels und Hardenbergs, Bonn 1974. Vgl. dazu die Aufsätze von John Neubauer: Intellektuelle, intellektuale und ästhetische Anschauung. Zur Entstehung der romantischen Kunstauffassung, in: DVjS 46 (1972), S. 294-319; und Manfred Frank: »Intellektuale Anschauung«. Drei Stellungnahmen zu einem Deutungsversuch von Selbstbewußtsein: Kant, Fichte, Hölderlin/Novalis, in: Ernst Behler, Jochen Hörisch (Hrsg.): Die Aktualität der Frühromantik, Paderborn 1987, S. 96-126.
ren[..]«, 224 daß der höchste Gegenstand der Philosophie »das unmittelbare nur sich selbst Gegenwärtige im Menschen seyn müsse.«225 In § 3 entwickelt Schelling dann, ausgehend von einer semantischen Analyse des Verbs »be-dingen«, daß das un-bedingte, das absolute Ich gar kein Ding sei und deshalb begrifflich-kategorisch, »objektiv« auch nicht erfaßt werden könne. Das einzige, was über das Ich ausgesagt werden könne, sei, daß es ist: »Ich bini Mein Ich enthält ein Seyn, das allem Denken und Vorstellen vorgeht.«226 Diese Formel aber ist, im Gegensatz zu Fichtes »A=A«, einstellig.227 Das (absolute) Ich Schellings ist mehr als Bewußtsein, es kann sich aber >erkennen< in einem besonderen Modus: Das Ich kann durch keinen bloßen Begriff gegeben seyn. Denn Begriffe sind nur in der Sphäre des Bedingten, nur von Objekten möglich [...] Mithin kann das Ich nur in einer Anschauung bestimmt seyn. Aber das Ich ist nur dadurch Ich, daß es niemals Objekt werden kann, mithin kann es in keiner sinnlichen Anschauung, also nur in einer solchen, die gar kein Objekt anschaut, gar nicht sinnlich ist, d.h. in einer intellektualen Anschauung bestimmbar seyn [...] Das Ich also ist fir sich selbst als bloßes Ich in intellektualer Anschauung bestimmt,228 Da das präreflexive Ich nicht im Bewußtsein vorkommt und daher auch nicht begrifflich gefaßt werden kann, ist es eigentlich auch nicht mitteilbar. Schelling thematisiert das Problem der Kommunizierbarkeit der intellektuellen Anschauung: [...] ich denke, daß jenes Absolute in uns durch kein bloßes Wort einer menschlichen Sprache gefesselt wird, und daß nur selbsterrungenes Anschauen des Intellektualen in uns dem Stückwerk unsrer Sprache zu Hülfe kommt.229 Für viele werde die intellektuelle Anschauung ihres Ich daher ein Objekt des Glaubens, gleichsam ein von dir selbst verschiedenes Etwas, das du ins Unendliche fort in dir selbst als endlichem Wesen darzustellen strebst, und doch niemals als wirklich in dir findest [...]. Schellings naturphilosophische Schriften vor 1800 stellen dann den Versuch dar, sich doch dem absoluten Ich zu nähern: und zwar über den »Umweg« der Naturerkenntnis: In der Einleitung zu den »Ideen zu einer Philosophie der Natur« (1797) deutet Schelling die präreflexive Existenz des Ichs nämlich als »Natur« und die erste Reflexion des 224
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Seinem grundlegenden Interesse nach erweist sich Schelling damit schon 1795 als mehr auf der Linie Jacobis als auf Fichtes - so Ingtraud Görland: Die Entwicklung der Frühphilosophie Schellings in der Auseinandersetzung mit Fichte, Frank./M. 1973, S. 5. In: F. W. J. Schelling. Ausgewählte Schriften in 6 Bdn, Bd. 1 (1794-1800), Frankf./M. 1985 (= stw; 521), S. 46. Ebd., S. 57. Manfred Frank schreibt diesen emphatischen Seinsbegriff dem Einfluß Hölderlins auf Schelling zu, vgl. M. Frank: Eine Einführung in Schellings Philosophie, Frankf./M. 1985 (= stw; 520), S. 60ff. Ebenso: Kondylis, Dialektik, S. 540ff. Schelling, Bd. 1, S. 71. Ebd., S. 106. 157
Menschen als eine Art Sündenfall. Aufgabe sei die Rückkehr des Menschen durch Freiheit in die Natur: »Philosophie also ist nichts anders, als eine Naturlehre unsers Geistes,«230 In den »Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre« (1796/97) verdeutlicht Schelling das Verhältnis zwischen Ich und Natur: Erst durch mein freies Handeln, insofern ihm ein Objekt entgegengesetzt ist, entsteht in mir Bewußtseyn. Das Objekt ist jetzt da, sein Ursprung liegt für mich in der Vergangenheit, jenseits meines jetzigen Bewußtseyns [. . .] . 231
Die Logik dieses Geschichtsmodells des Ichs wirkt also hin auf eine sukzessive Durchdringung der Natur durch den Geist und eine Bewußtmachung von Natur. Im Gegensatz zu Kants und letztlich auch Fichtes dualistischem Modell des Subjekts, das nur im ästhetischen Zustand, im temporären Schwebezustand der Einbildungskraft, eine punktuelle Identitätserfahrung zuläßt, erfolgt also bei Schelling eine Dynamisiening der Gegensätze hin zur (monistischen) Vorstellung eines unendlichen Werdens von Identität in der Zeit. Hinter dieser Idee verbirgt sich - wenigstens der Intention nach - 2 3 2 nun aber nicht ein Rückfall in den traditionellen theologischen Begriff der Natur als Schöpfung und Buch Gottes, denn diese Zweckmäßigkeit daraus erklären, daß ein göttlicher Verstand ihr Urheber sey, heißt nicht philosophieren, sondern fromme Betrachtungen anstellen.233
Es geht Schelling vielmehr um eine schöpferische Naturerkenntnis des Subjekts, eine, die sich ihr Objekt allererst erschafft: Durch die »Erschaffung« der Natur im Ich, im Geist des Menschen,234 kann diesem allmählich Einblick in seine »Vorgeschichte«, sein Werden, seine Identität entstehen: »Das System der Natur ist zugleich das System unseres Geistes.«235 Der Naturbegriff Schellings schließt an Kants Vorstellungen zur Teleologie in der Natur im zweiten Teil der »Kritik der Urteilskraft« an: Zweckhaftigkeit in der Natur ist für Kant beispielhaft durch die Existenz des lebenden Organismus belegt:236 Ein Organismus zeichnet sich durch Autopoiesis aus, d.h dadurch, daß er sich selbst durch Fortpflanzung als Gattung und durch Wachstum auch als Individuum schafft und erhält. Kants Ausführungen zum Organismus sind durch die zeitgenössische Naturwissenschaft fundiert: Johann Friedrich Blumenbachs Untersuchung »Uber den Bildungstrieb« 230 231 232
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Ebd., S. 277. Ebd., S. 162. Vgl. Wolfgang Wieland: Die Anfänge der Philosophie Schellings und die Frage nach der Natur (1967), in: Materialien zu Schellings philosophischen Anfängen, hrsg. v. Manfred Frank und Gerhard Kurz, Frankf./M. 1975, S. 237-279, bes. S. 274. Schelling, Bd. 1, S. 293. Ebd., S. 329. Ebd., S. 277 - so Schellings Interpretation von Leibniz' Vorstellung einer prästabilierten Harmonie. KU § 65, S. 483ÍF.
('1779) war von der Philosophie seiner Zeit begierig rezipiert worden: Durch Experimente und Beobachtungen hatte der Göttinger Mediziner und Naturforscher einen Trieb entdeckt, der [...] zu den Lebenskräften gehört, der aber eben so deutlich von den übrigen Arten der Lebenskraft der organisirten Körper (der Contractilität, Irritabilität, Sensilität etc.) als von den allgemeinen physischen Kräften der Körper überhaupt, verschieden ist; der die erste wichtigste Kraft zu aller Zeugung, Ernährung, und Reproduction zu seyn scheint, und den man um ihn von andern Lebenskräften zu unterscheiden, mit dem Namen des Bildungstriebes (nisus formativus) bezeichnen kan. 237
Dieser Bildungstrieb aber beweist fur Schelling, daß in der Natur selbst Notwendigkeit und Freiheit zusammenfallen - was allerdings wiederum nur von einem anschauenden und reflektierenden Geist erfaßt werden könne (S. 280). Das Phänomen der Wechselwirkung von Materie und Geist - so folgert Schelling - lasse sich deshalb nicht anders als durch die Annahme einer »absoluten Identität des Geistes in uns und der Natur außer uns f...]«238 erklären: Die Naturphilosophie erweist sich so als die notwendige Ergänzung der Transzendentalphilosophie.239 Der Gedanke des Bildungstriebs erlaubt Schelling die Annahme einer Geistnatur, die nicht bloß Materie, Produkt, ist, sondern, wie der Geist, unendliche Tätigkeit, Produktion. Daß es aber überhaupt »Objekte«, Produkte in der Natur gebe, sei nur scheinbar so: Produkte in der Natur seien »Scheinprodukte«, die durch eine vorübergehende »Hemmung« - in Analogie zu Fichtes »Anstoß« - entstünden. »Gehemmt« werde die produzierende Natur durch die Entzweiung des Bildungstriebes in zwei entgegengesetzte Tendenzen: zwei verschiedene Geschlechter. Die Natur betreibe die Ausbildung der Individualität der Geschlechter bis zur äußersten Gegensätzlichkeit: Ist jene höchste Stufe erreicht, so sind beide Richtungen als entgegengesetzte anzusehen, sie verhalten sich zueinander wie positive und negative Größen. Allein weder die eine noch die andere dieser Richtungen könnte das seyn, worin die Natuithätigkeit sich erschöpfte, denn dieser [der Natur] ist überhaupt das Individuelle zuwider. 240
Das unendliche Werden der Natur ziele nämlich primär auf Erhalt der Gattung - diese aber könne nur über ein Sein, über Individuen unterschiedlicher Geschlechter, verlaufen. Nach einem »nothwendigen und allgemeinen Naturgesetze« schlage - so die Theo237
J. F. Blumenbach: Über den Bildungstrieb, Göttingen: J. C. Dieterich 1789, S. 24. Schelling, Bd. 1, S. 294. 239 vgl.: »Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie« (1799), ebd. S. 340f. Und im »Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie« (1799), Fußnote 2, S. 328: »Der Naturphilosoph behandelt die Natur wie der Transcendentalphilosoph das Ich behandelt. Also die Natur selbst ist ihm ein Unbedingtes.« 240 F. J. Schelling: Ausgewählte Werke. Bd. 7: Schriften von 1799-1801, unveränderter reprografischer Nachdruck der im Inhalt aufgeführten Schriften, aus: F. W. J. Schellings sämmtliche Werke, Stuttgart u. Augsburg, Erste Abtheilung, Bd. 3 (1858) u. Bd. 4 (1859), Darmstadt: Wiss. Buchges. 1975, S. 50. 238
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ríe Schellings - der Punkt der größten Gegensätzlichkeit der Individuen in Indifferenz um, in die Identität der Gattung: Das gemeinschaftliche Produkt der beiden geschlechtsverschiedenen Individuen stellt die Einheit der Gattung wieder her und bildet den Ausgangspunkt fur erneute Entzweiung und erneute Produktion. Ein zweites zukunftsträchtiges Moment in Schellings Frühschriften stellt die Verknüpfung von Natur und Kunst dar, die ab 1799 - zuerst in der »Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie« - anklingt: Die Philosophie hebt diesen Gegensatz [den zwischen Bewußtlosigkeit und Bewußtsein der Intelligenz, d.Vf ] auf, dadurch, daß sie die bewußtlose Thätigkeit als ursprünglich identisch und gleichsam aus derselben Wurzel stammend mit der bewußten entsprossen annimmt: diese Identität wird von ihr unmittelbar nachgewiesen in einer entschieden zugleich bewußten und unbewußten Thätigkeit, welche in den Produktionen des Genies sich äußert; mittelbar, insofern in ihnen allen die vollkommenste Verschmelzung des Ideellen mit dem Reellen wahrgenommen wird. 241 Die Identität des Ich erweist sich also sinnfälliger noch als in der Natur in den Produktionen des Genies. Das »System des transcendentalen Idealismus« (1800) fuhrt den Gedanken aus: Das Kunstwerk reflektirt uns die Identität der bewußten und bewußtlosen Thätigkeit [...] Der Künstler scheint in seinem Werk außer dem, was er mit offenbarer Absicht dareingelegt hat, instinktmäßig gleichsam eine Unendlichkeit dargestellt zu haben, welche ganz zu entwickeln kein endlicher Verstand fähig ist [...] So ist es mit jedem wahren Kunstwerk, indem jedes, als ob eine Unendlichkeit von Absichten darin wäre, einer unendlichen Auslegung fähig ist, wobei man doch nie sagen kann, ob diese Unendlichkeit im Künstler selbst gelegen habe, oder aber bloß im Kunstwerk liege.242 Diese Argumentation Schellings liegt ganz auf der Linie Kants, der in der »Kritik der Urteilskraft« das Genie bestimmt durch sein Vermögen, ästhetische Ideen darzustellen: [...] unter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann (KU, § 49, S. 413f). Dem Kunstwerk - so fuhrt auch Schelling aus - liegt als entscheidendes geistiges Vermögen des Menschen d i e - v o n Fichte im Gesamtkontext der »Wissenschaftslehre« letztlich nur en passant erwähnte - Einbildungskraft zugrunde. In der ästhetischen Produktion aber objektiviere sich die »intellektuelle Anschauung«, 243 über das Kunstwerk allein kann Identität, Sinn kommuniziert werden: Die Kunst ist das einzige wahre und ewige Organon zugleich und Document der Philosophie [...], welches immer und fortwährend aufs neue beurkundet, was die Philosophie äußerlich nicht
241 242 243
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Schelling, Bd. 1, S. 339. Ebd., S. 687f. Ebd., S. 695.
darstellen kann, nämlich das Bewufltlose im Handeln und Produciren und seine ursprüngliche Identität mit dem Bewußten.244 Was die Philosophie nicht erreicht, muß die Kunst erweisen. Diese Überlegungen Schellings werden außerordentlich bedeutsam fur Schlegel, der die Schriften Schellings im Sommer 1798 kennenlernt. 3.3.5. Zurück zur Geschlechterphilosophie: W. v. Humboldt und Fichte (Die Ehelehre) Schon Kant hatte in der in Kap. 3.3.1. erwähnten frühen Schrift über das Schöne und das Erhabene das Schöne und das natürlich Gute mit dem Weiblichen in Beziehung gesetzt. Die Idee kehrt wieder in Schillers Konzept der »schönen Seele«. Beidesmal wird dem (weiblichen) Schönen ein Komplement entgegengesetzt - das (männliche) Erhabene und die (männliche) Würde: Erst die Verbindung der beiden Geschlechter stellt ein »Ganzes« dar - bei Schiller zum idealen »Ausdruck der Menschheit« verklärt, bei Kant im realen »ehelichen Leben« situiert, in dem »das vereinigte Paar gleichsam eine einzige moralische Person« ausmachen sollte, »welche durch den Verstand des Mannes und den Geschmack der Frauen belebt und regiert wird.«245 Diese Grundstruktur von Polarität und Ergänzung der Geschlechter systematisiert Wilhelm von Humboldt in zwei in den »Hören« veröffentlichten Aufsätzen von 1795 zu ästhetischen und naturphilosophischen Grundprinzipien und etabliert damit eine umfassende, ideenevolutionär sehr erfolgreiche Geschlechtermetaphysik.246 In »Über die männliche und weibliche Form«247 beruhen Humboldts Ausführungen Uber das Schöne auf dem Gegensatz von (weiblichem) »Stoff« und (männlicher) »Form«, wie er zwar empirisch kaum zu belegen sei, sich jedoch in der Einbildungskraft ideal darstelle.248 Die Bestimmung des Weiblichen als »Stoff« ordnet es automatisch der einen von zwei Seiten des in binären Oppositionen arbeitenden philosophischen Denkens der Goethezeit zu und stellt es in das Paradigma von »Materie«/»Fülle«/»Sinnlichkeit«/»Passivität«/»Notwendigkeit«/»Natur«/»Nicht-Ich« etc. - die dem Männliche zugeschriebene »Form« prädizieit ihm nach derselben Logik »Geist«/»Kraft«/»Wille«/ »Aktivität«/»Freiheit«/»Bewußtsein«/»Ich« etc...
244
Ebd., S. 695/96. Kant, Werke, Bd. 1, S. 867. 246 vgl. Karin Hausen: Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere« (1976) und Ute Frevelt: Bürgerliche Meisterdenker und das Geschlechterverhältnis (1988). Stärker literaturhistorisch orientiert: Volker Hofiniann: Elisa und Robert oder das Weib und der Mann, wie sie sein sollten. Anmerkungen zur Geschlechtercharakteristik der Goethezeit, in: Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß, hrsg. v. Karl Richter und Jörg Schönert, Stuttgart 1983, S. 80-97, ein besonders auch durch seine ausführlichen Quellenangaben sehr hilfreicher Beitrag. 247 In: W. v. Humboldt: Werke in fünf Bänden, hrsg. v. Andreas Flitner und Klaus Giel, Bd. 1: Schriften zur Anthropologie und Geschichte, Darmstadt 1960, S. 296-336. 248 Ebd., S. 297. 245
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Das Ideal der Menschheit sieht Humboldt - entsprechend dem Tenor des ästhetischen Diskurses der Zeit (in Deutschland) - in der Vereinigung von Frau und Mann, Natur und Freiheit, nicht, wie etwa die praktische Philosophie Kants und Fichtes, einseitig im Selbstbewußtsein, in der Vernunft. Die kulturkritische Ausrichtung des ästhetischen Beitrags Humboldts deutet sich gegen Ende des Aufsatzes an: Die Gegenwart - so klagt Humboldt - ziehe die Individualität und Originalität der Schönheit vor. Dieses sei dem Einfluß Englands und Frankreichs zu verdanken (S. 330/31). Aufgabe der Deutschen sei die Wiedereinsetzung der Schönheit, d.h. des Gleichgewichtes von Stoff und Form, in ihre Rechte. Denn nicht nur die Schönheit sei von den rationalistischen europäischen Nachbarn bedroht, sondern auch die Weiblichkeit, »die ächtweiblichen Gestalten, die nichts Ausgezeichnetes besitzen, aus welchen aber Zartheit des Gefühls, ruhige Sittsamkeit, und ein anspruchsloser Eifer für das Wahre und Gute spricht [...].« 249 Das Weibliche aber sei dem Manne unentbehrlich: Den Mann, der durch seine Thätigkeit leicht aus sich selbst herausgerissen wird, wieder in sich zurückzuführen; was sein Verstand trennt, durch das Gefühl zu verbinden; seinen langsamem Fortschritten zuvorzueilen, und die höchste Vernunfteinheit, nach der er strebt, ihm in der Sinnlichkeit darzustellen, ist die schöne Bestimmung dieses Geschlechts [...J.250 Humboldts Aufsatz »Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluß auf die organische Natur« 251 nimmt in vielem die in Kap. 3.3.4. skizzierten naturphilosophischen Überlegungen Schellings zum Geschlechtsunterschied vorweg: Dieser sei nämlich Bedingung des unendlichen Wirkens der Natur (S. 268/69) - auch Humboldts Naturbegriff ist total wie Schellings und umfaßt die Einheit von physischer Natur und Moral (S. 271), die sich »fast nur einem gewissen ahndendem Gefühl«, einer »inneren Anschauung«, enthülle (S. 270). Wer dennoch Einblick gewinnen möchte in das Geheimnis der Natur, der - so empfiehlt Humboldt - wende den Blick vom unbegreiflichen Ganzen auf die einzelnen Kräfte hin: Diese bestimmt er als zwei ungleichartige Prinzipien, »die man, da die einen mehr thätig, die andern mehr leidend sind, die zeugenden (im engem Verstände des Worts) und die empfangenden nennt.«252 Dann erfolgt die schon bekannte Zuordnung: Die zeugende Kraft ist mehr zur Einwirkung, die empfangende mehr zur Rückwirkung bestimmt. Was von der erstem belebt wird, nennen wir männlich, was die letztere beseelt, •weiblich. Alles Männliche zeigt mehr Selbstthätigkeit, alles Weibliche mehr leidende Empfänglichkeit.253 Allerdings - beeilt sich Humboldt hinzuzufügen - gibt es kein bloßes passives Erleiden, so daß auch dem empfangenden Geschlecht eine ebenso große Aktivität wie dem zeu249 250 251 252 253
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Ebd., S. 332. Ebd., S. 335. Humboldt, Werke, Bd. 1, S. 268-295. Ebd., S. 274. Ebd., S. 277/78.
genden, eine Rückwirkung, zukomme - theoretisch: denn Humboldt bleibt widersprüchlich in diesem heiklen Punkt. Wenig später heißt es doch wieder wertend: Eigentlich geschieht daher doch die Belebung durch beide Geschlechter zugleich, nur dass die männliche Kraft doch allein die Erweckung bewirkt, indem die weibliche nur ihre Möglichkeit vorbereitet, und ihre Fortdauer sichert. (Hervorhebung v. Vf.)234 Bei aller Anstrengimg des Begriffs, beim Versuch der Aufwertung von Sinnlichkeit und - entsprechend - Weiblichkeit, bleibt eine Asymmetrie in der Bewertung der Geschlechter zugunsten der Männlichkeit, des Logos, der Form, der Kraft: Im »Form«Aufsatz wird daher dem Mann repräsentatives Mensch-Sein zugesprochen: Schon von selbst stimmt der männliche Körperbau fast durchaus mit den Erwartungen überein, die man sich von dem menschlichen Körper überhaupt bildet, und nicht die Partheilichkeit der Männer allein erhebt ihn gleichsam zur Regel, von welcher die Verschiedenheiten des Weiblichen mehr eine Abweichung vorstellen.253 Nun sollen aber Harmonie und Wechselwirkung zwischen den Geschlechtern sein: »[...] die Neigung, welche das eine dem andren sehnsuchtsvoll nähert, ist die Liebe«256 - an dieser Stelle erinnert Humboldt an die Auffassung der Griechen von der Liebe als kosmogonischem Prinzip, dem die Ordnung des Chaos zukam. Im Akt der Zeugung - und nicht nur dem physischen, sondern auch dem gedanklich-genialen - »erinnert« - so Humboldt - »die Natur ihre Kinder, welchen, als endlichen Wesen, nicht alles zugleich zu besitzen vergönnt war, wenigstens an die Einheit [. ..], die allein jedem höheren Streben genügt«, und schenkt »ihrer Sehnsucht Momente [...], die sie vergessen lassen, dass sie zu getrenntem Daseyn verurtheilt sind.« (ebd.) Fichtes »Ehelehre« von 1796257 erscheint vor dem Hintergrund des bisher skizzierten philosophischen Diskurses über die Geschlechter nicht mehr so ganz originell und radikal. Wenn er in der »Deduction der Ehe« (EL, S. 304) diese als eine nicht bloß juridische, sondern eine »natürliche und moralische Gesellschaft« definiert, so befindet er sich zwar im Gegensatz zum juristisch-staatsrechtlichen Diskurs der Zeit, jedoch im Einklang mit der liberalen Grundauffassung der idealistischen Denker - W. v. Humboldt fordert schon 1792 in seinen »Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen«, daß sich der Staat aus der Ehe herauszuhalten habe, weil es die nachteiligsten Folgen haben muß, wenn der Staat eine mit der jedesmaligen Beschaffenheit der Individuen so eng verschwisterte Verbindung durch Gesetze zu bestimmen
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Ebd., S. 289. Ebd., S. 306/07. Ebd., S. 295. In: Johann Gottlieb Fichtes Sämmtliche Werke, hrsg. v. J. H. Fichte, Bd. 3, Berlin 1845, S. 304-368: »Erster Anhang des Naturrechts. Grundriss des Familienrechts«. Im folgenden im Text abgekürzt als EL. 163
oder durch seine Einrichtungen von anderen Dingen als von der bloßen Neigung abhängig zu machen versucht.258 Für Fichte ist jede körperliche Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau Ehe: »Der Beischlaf ist die eigentliche Vollziehung der Ehe ...« (EL, § 14, S. 324). Diese sei »kein erfundener Gebrauch und keine willkürliche Einrichtung« (EL, S. 317), d.h. also kein bloßes Vertragswerk, sondern »ein durch Natur und Vernunft in ihrer Vereinigung nothwendig und vollkommen bestimmtes Verhältniss« (ebd.): »Die Ehe ist eine durch den Geschlechtstrieb begründete vollkommene Vereinigung zweier Personen beiderlei Geschlechts, die ihr eigener Zweck ist.« (EL, § 8, S. 315). Diese selbstreferentielle Begründung der Ehe, ihre behauptete immanente Zweckhaftigkeit, läßt sich wiederum in der philosophischen Formel einer absoluten Übereinstimmung von Notwendigkeit und Freiheit reformulieren. Die Ehe wird so zur Bedingung der Möglichkeit von Moral: [..] wie kann man das Menschengeschlecht von Natur aus zur Tugend fuhren? Ich antworte: lediglich dadurch, dass das natürliche Verhältniss zwischen den Geschlechtern wiederhergestellt werde. Es giebt keine sittliche Erziehung der Menschheit, ausser von diesem Puñete aus (EL, § 7, S. 315). Und das haben die Popularphilosophen der Ehe ja schon lange behauptet. Es stellt sich die Frage nach dem Beitrag der einzelnen Geschlechter in dieser Verbindung. Die Differenzierung der Gattung in zwei verschiedene Geschlechter begründet Fichte - wie Schelling und Humboldt - mit der Notwendigkeit einer »Hemmung« des Flusses des unendlichen Werdens in der Natur, die ein Sein allererst ermöglicht (EL, § 1, S. 305/06). Die Geschlechter werden bei Fichte - wie bei Humboldt - primär durch ihren Beitrag beim Zeugungsakt definiert: Die besondere Bestimmung dieser Natureinrichtung [der Geschlechtsverschiedenheit, d. Vf.] ist die, dass bei der Befriedigung des Triebes oder Beförderung des Naturzweckes, was den eigentlichen Act der Zeugung anbelangt, das eine Geschlecht sich nur thätig, das andere nur leidend verhalte (EL, §2, S. 306). Während die männliche Tätigkeit aber per se vernünftig ist - in der »Wissenschaftslehre« hatte Fichte das Ich als Handeln bestimmt - ist das (weibliche) »Leiden«, die bloße Passivität, unvernünftig, da unselbständig und daher unfrei (ein Erleiden, so die Vorstellung, kann nicht durch sich selbst befriedigt werden, sondern ist auf jemanden anders angewiesen.). Nun will Fichte der Frau die Vernunft, d.h. in seiner Zeit die Humanität, nicht einfach absprechen. Zwar steht - so auch seine Überzeugung - »das zweite Geschlecht [...] der Natureinrichtung nach um eine Stufe tiefer, als das erste; es ist Object einer Kraft des ersteren [...]« (EL, §3, S. 308) - Fichte übernimmt die Charakterisierung der Frau als Stoff und des Mannes als Geist. Um aber die Möglichkeit der Vereinigung nicht auszuschließen, um die >natürliche< Passivität der Frau
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Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, Stuttgart 1967 (= RUB 1991 [3]), (Kap. III), S. 41.
als dennoch vernünftig zu erklären, hypostasiert Fichte einen typisch weiblichen Geschlechtstrieb, den er »Liebe« nennt: Liebe ist der innigste Vereinigungspunct der Natur und der Vernunft; sie ist das einzige Glied, wo die Natur in die Vernunft eingreift; sie ist sonach das Vortrefflichste unter allem Natürlichen. (EL, § 4, S. 310). Der Geschlechtstrieb der Frau muß - nach Fichte - zur Liebe sublimiert sein, will die Frau ihre menschliche Würde behalten, nur der Liebestrieb entschuldigt, daß sich die Frau »aufopfert«, indem sie sich zum Objekt der Befriedigung des Mannes macht. Die Liebe der Frau findet Befriedigung in der Befriedigung des Mannes, nur so qualifiziert sich der weibliche Liebestrieb als aktiv und vernünftig (EL, § 4, S. 311). Gegen die traditionelle Auffassung, die der Frau die größere Sinnlichkeit zugesprochen hatte, benimmt Fichte hier also der Frau, die ihre Humanität erhalten will, alle Sinnlichkeit, er verbannt sie ins Unbewußte: Das Weib sieht nicht weiter, und ihre Natur geht nicht weiter, als bis zur Liebe: sonach ist sie nur so weit. Dass ein Mann, der die weibliche Unschuld nicht hat, noch haben soll, und der sich alles gestehen kann, diesen Trieb [die Liebe der Frau, d. Vf.] zergliedere, geht das Weib nichts an; fiir sie ist er einfach, denn das Weib ist kein Mann. Wenn sie Mann wäre, würde man rechthaben mit der Unterstellung, daß auch hinter der Liebe der Frau der Geschlechtstrieb stecke (EL, § 4, S. 311). Die moralische Frau, das »unverdorbene Weib«, weiß nichts von der sexuellen Lust und ist ein gänzlich unsinnliches, vollkommen altruistisches Geschöpf. Während der Mann - nach dem Modell der Wissenschaftslehre - durch Aneignung des Nicht-Ich zur vollen Menschlichkeit gelangt, ist der Frau mit dem Verbot der Sexualität und der möglichst lebenslangen Verbannung der Sexualität ins Unbewußte die >ganze< Existenz versagt. Indem die Frau aus Liebe zur Befriedigung des Sexualtriebes des Mannes ihre Persönlichkeit hingibt, verpflichtet sie - so die Theorie - den an sich bloß auf sexuelle Befriedigung ausgerichteten Mann zur »Grossmuth« und erzieht ihn damit indirekt zur Triebsteuerung und Monogamie: Die Liebe der Frau und die Großmut des Mannes treten in der Liebesehe in einen edlen Wettstreit, indem jeder versucht, die eventuell noch übrig gebliebenen individuellen Wünsche des anderen, die dieser ihm aufopfern möchte, dennoch »auszuspähen« und sie zum Liebesbeweis zu erfüllen (EL, § 7, S. 314): Jeder Theil will seine Persönlichkeit aufgeben, damit die des anderen Theils allein herrsche; nur in der Zufriedenheit des anderen findet jeder die seinige; die Umtauschung der Herzen und der Willen wird vollkommen: Nur in Verbindung mit einem liebendem Weibe öflhet das männliche Herz sich der Liebe, der sich unbefangen hingebenden und im Gegenstande verlorenen Liebe; nur in der ehelichen Verbindung lernt das Weib Grossmuth, Aufopferung mit Bewußtseyn und nach Begriffen: und so wird die Verbindung mit jedem Tage ihrer Ehe inniger. (EL, § 7, S. 314/15). Eine derart auf Hingabe der Persönlichkeit beruhende Verbindimg bedarf denn auch, insofern ist das Konzept in sich stimmig, nicht der Aufsicht und äußerlichen Diszipli165
niening durch staatliche Gesetzgebung: Treue ergibt sich von selbst. Verrät aber einer der Partner die sittlich so hoch stehende Gemeinschaft, so ist die Liebe sowieso zuende und also auch die Ehe, eine Scheidungsregelung ist nicht erforderlich. Das abgehobene Weiblichkeitskonzept des philosophischen Diskurses überträgt Fichte auf fatale Weise auf die Rechtsverhältnisse im wirklichen Leben: Im § 33 (S. 344) des Eherechts kommt die Ambivalenz des so idealischen Ehekonzeptes, die Funktion der komplizierten Deduktion, zum Ausdruck: Sie wendet sich in explizitem Bezug gegen die Verfechter einer Egalität der Frau, beispielsweise einen Hippel: Ob an sich dem weiblichen Geschlechte nicht alle Menschen- und Bürgerrechte so gut zukommen, als dem männlichen; darüber könnte nur der die Frage erheben, welcher zweifelte, ob die Weiber auch völlige Menschen seyen [...] Aber darüber: ob und inwiefern das weibliche Geschlecht alle seine Rechte ausüben auch nur wollen könne, könnte allerdings die Frage entstehen (EL, S. 344).
Die Beantwortung der Frage erfolgt in § 34 (S. 343): [...] das Weib ist nicht unterworfen, so dass der Mann ein Zwangsrecht auf sie hätte, sie ist unterworfen durch ihren eigenen fortdauernden nothwendigen und ihre Moralität bedingenden Wunsch, unterworfen zu seyn. Sie dürfte wohl ihre Freiheit zurücknehmen, wenn sie wollte·, aber gerade hier liegt es; sie kann es vernünftigerweise nicht wollen.
Überspitzt formuliert, könnte von einer Ersetzung der alten LeitdifFerenz zur Bestimmung des Menschen - den Unterschied zum unvernünftigen Tier - durch die neue Differenz zwischen vernunftbegabtem Mann und unvernünftiger Frau gesprochen werden. Diese Differenz war es, die im 19. und zum Teil im 20. Jahrhundert reale Lebensläufe bestimmte. Fichtes System, so radikal und abgehoben es auf den ersten Blick anmuten mag, bildete die Grundlage des Eheverständnisses zumindest im gesamten 19. Jahrhundert.259 Schon in die popularphilosophische Schrift »Philosophie der Ehe« von Wilhelm Traugott Krug260 von 1800 sind die Gedanken Fichtes maßgeblich eingeflossen und mit Kants in manchem durchaus gegensätzlicher Eheauffassung verbunden - indem Krug fünf Aspekte der Ehe unterscheidet, kann er einzelne Elemente unterschiedlicher Konzepte, wenngleich auf verschiedenen Ebenen, zur großen Synthese fiinktionalisieren: Krug behält den Vertragsgedanken Kants bei (S. 9) und ermuntert den staatlichen Gesetzgeber, Eheschließungen zu fordern, um den Staat vor Revolutionen zu schützen (S. 234/35). Gleichzeitig übernimmt Krug die idealistische Geschlechtsontologie, den Gedanken der individuellen Vervollkommnung durch die Ehe einerseits (S. 78; 83), den Gedanken der Verschmelzung der Persönlichkeiten der Ehepartner andererseits - dies mit Bezug auf die Bibel (S. 77) - dazu die von Fichte geforderte Asexualität der Frau 239 Yg{ ,i e n Beitrag Karin Hausens: »... eine Ulme für das schwanke Efeu.« Ehepaare im deutschen Bildungsbürgertum. Ideale und Wirklichkeiten im späten 18. und 19. Jahrhundert, in: Ute Frevert (Hrsg.): Bürgerinnen und Bürger (1988), S. 85-117. 260 Der vollständige Titel lautet: Philosophie der Ehe. Ein Beytrag zur Philosophie des Lebens fur beyde Geschlechter, Leipzig 1800.
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(S. 13/14; 103) und die schon bekannte Formel zur Bestimmung der Frau als »Gattin, Mutter und Hausfrau« (S. 166). Die Treue in der Ehe dürfte, derart abgesichert durch staatliche Aufsicht, natürliche Bestimmung und moralisches Erfordernis, eigentlich kein Problem mehr darstellen.
3.4. Die Liebe in Schlegels »Lucinde« (1799) Bs ist nicht genug, daß man d[en] eigentlichen] Sinn eines confusen Werks besser versteht, als d[er] Autor es verstanden hat. Man muß auch die Confusion selbst bis auf d[ie] Principien kennen, charakterisiren und selbst construiren können. (Schlegel, KSA XVm, S. 63, Nr. 434) 3.4.1. Forschungstendenzen Der vorliegende »Forschungsbericht« soll in aller Kürze lediglich die Haupttendenzen der »Lucinde«-Forschung in den letzten 20 Jahren anreißen.261 Generelle Tendenz ist eine Zweiteilung der Forschung je nachdem, ob sie sich der »Liebe« als dem inhaltlichen Thema der »Lucinde« oder aber der im Roman vermuteten Umsetzung von Schlegels philosophischen und poetologischen Überlegungen zuwendet. Entsprechend einer stärker inhaltlichen oder formal-ästhetischen Orientierung bestehen kontroverse Meinungen zur im weitesten Sinne politischen Einordnung des Schlegelschen Liebeskonzeptes: Die ältere Forschung262 hält die im Roman propagierte Aufwertung von Sinnlichkeit fur progressiv und für einen Schritt zur Emanzipation der Frau - und als zukunftsweisend bewerten den Roman auch diejenigen Literaturwissenschaftler, die - mit semiotischem263 oder marxistischem264 Ansatz, einer vage postmo-
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Volker Deubels ausführlicher Forschungsbericht, der sich auf den Zeitraum von 1945 bis 1972 bezieht, geht, entsprechend dem Verhältnis des einzigen Romans Schlegels zum Gesamtwerk seiner literaturtheoretischen, historisch-politischen und philosophischen Schriften, nur am Rande auf die Lucinde-Forschung ein (auf 6 von 132 Seiten). S. Volker Deubel: Die Friedrich-Schlegel-Forschung 1945-1972, in: DVjs 47, Sonderheft (1973), S. 48-181. So Paul Kluckhohn, Auffassung der Liebe (1922); ebenfalls Hans Eichner unter Berufung auf Kluckhohn in: Einleitung zur »Lucinde«, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 5: Dichtungen, hrsg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner, Miinchen/Padeiborn/Wien 1962, S. XVII-LXIX; vgl. auch Emst Behler: Friedrich Schlegel. Lucinde, in: Romane und Erzählungen der deutschen Romantik. Neue Interpretationen, hrsg. v. Paul Michael Lützeler, Stuttgart 1981, S. 98-124; und als Versuch der Aneignung des romantischen Eibes von marxistischer Seite 1963 Eugeniusz Klin: Das Problem der Emanzipation in Friedrich Schlegels »Lucinde«, in: Weimarer Beiträge 9 (1963), S. 76-99. Simonetta Sanna: Schlegels >Lucinde< oder der ästhetische Roman, in: DVjs 61 (1987), S. 457-479: Sanna beurteilt die in der »Lucinde« vorgeführte Ästhetisierung des Lebens, die die maximale Entfaltung der individuellen Fähigkeiten ermögliche, als uneingeschränkt positiv. Sie interpretiert das Verhältnis zwischen Julius und Lucinde als das zwischen Sender und idealem Empfänger. Ober Texte, über Kommunikation, verlaufe für die 167
dem inspirierten Zugangsweise,265 oder orientiert an Kritischer Theorie und Psychoanalyse - 2 6 6 die theoretischen Äußerungen Schlegels zu Poetologie, Geschichtsphilosophie 267 und Transzendentalphilosophie in die Deutung der »Lucinde« mit einbeziehen. Zweifel an dem politischen Durchsetzungsvermögen der Poesie als »Neuer Mythologie« und am Schein des schönen Lebens artikulieren Hotz-Steinmeyer268 und Bräutigam.269
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beiden gleichberechtigten Kommunikationsteilnehmer Selbsterkenntnis, Selbstbildung und die Erhaltung von Individualität - Zeichen fur die nicht hierarchische Beziehung zwischen den Liebenden sei der Rollentausch. Gert Mattenklott: Der Sehnsucht eine Form. Zum Ursprung des modernen Romans bei Friedrich Schlegel, erläutert an Lucinde, in: Zur Modernität der Romantik, hrsg. v. Dieter Bänsch, Stuttgart 1977, S. 143-166. Auch Mattenklott versteht den Rollentausch als Symbol für eine herrschaftsfreie Liebesbeziehung. Er kritisiert allerdings - bei aller Sympathie fur den fast schon anarchischen Individualismus Julius' - die Auffassung Schlegels, daß die Liebe allein schon zu einer Humanisierung des Lebens, und insbesondere der Arbeit, iiihren werde. Auch Gerda Heinrich bewertet - im Versuch der Aneignung des Autonomiekonzeptes fUr die DDR-Literaturwissenschaft - die ästhetische Form der »Lucinde« und die Individualität, die sich im Glücksverlangen der Liebenden und der bewußten Ablehnung aller sozialen Realität ausdrücke, trotz mancher Vorbehalte als generell progressiv, da antifeudal und anikapitalistisch ausgerichtet, vgl. Gerda Heinrich: Autonomie der Kunst und frühromantisches Literaturprogramm. Friedrich Schlegels frühe geschichtsphilosophisch-ästhetische Konzeption, in: Kunstperiode. Studien zur deutschen Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts, hrsg. v. der Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin 1982, S. 104-143. Marlene Kremer: >Lucinde< - die tolle Arabeske. Liebe und Protest in Schlegels Romanfragment, in: Literatur für Leser 1989, S. 75-95. Kremer hält die Phantasietätigkeit Julius' für das zentrale revolutionäre Moment des Romans. Schlegel ontologisiere die Geschlechtsrollen keineswegs, sondern spiele lediglich auf ironische Weise mit ihnen. Entscheidend sei doch, daß sich die Sinnlichkeit der Partner nicht verflüchtige. Etwa Jochen Hoerisch: Die fröhliche Wissenschaft der Poesie. Der Universalitätsanspruch von Dichtung in der frühromantischen Poetologie, Frankf./M. 1976. Hoerisch situiert Schlegels poetologischen Ansatz sorgfältig im transzendentalphilosophischen Diskurs der Zeit, so daß seine Ergebnisse unbedingt berücksichtigt werden sollten - seine »Lucinde«Auslegung allerdings wird dem vieldeutigen und widersprüchlichen Roman nicht ganz gerecht. Für Hannelore Schlaffer: Frauen als Einlösung der romantischen Kunsttheorie, in: Jahrbuch der dt. Schiller-Gesellschaft 21 (1977), S. 274-296, geht der Roman »Lucinde« ganz in seiner Funktion als »idealische Anschauung« der im »Studium«-Aufsatz theoretisch dargelegten geschichtsphilosophischen Kunsttheorie Schlegels auf. Die namentlich genannten Frauenfiguren in den »Lehrjahren«, dem Romanteil, auf den sich Schlaffers Interpretation stützt, verkörpern - so die These Schlaffers - drei unterschiedliche menschheitsgeschichtliche und kunstgeschichtliche Entwicklungsstufen und kennzeichnen gleichzeitig die Stufen, die Julius' individuelle menschliche und künstlerische Bildungsgeschichte nimmt. Das Stadium »Lucinde« stehe für die höchste Vollendung, die »Vereinigung des Wesentlich-Antiken mit dem Wesentlich-Modernen«. Cornelia Hotz-Steinmeyer: Friedrich Schlegels >Lucinde< als »neue Mythologie«. Geschichtsphilosophischer Versuch einer Rückgewinnung gesellschaftlicher Totalität durch das Individuum, Frankf./M., Bern 1985 piss. Marburg 1981). Bernd Bräutigam: Leben wie im Roman. Untersuchungen zum ästhetischen Imperativ im Frühwerk Friedrich Schlegels (1794-1800), Paderborn 1986. Auch Gerda Heinrich sieht die romantische Ironie letztlich von einem Begriff der »philosophischen Insurrektion«
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Die feministische Forschung hat maßgeblich zur Korrektur der einseitigen Beurteilung der »Lucinde« als emanzipatorisch beigetragen. Die Aufsätze Becker-Cantarinos 270 haben schon Mitte der siebziger Jahre die Aufinerksamkeit auf die Figur der Lucinde gelenkt, die Ungleichheit der Liebespartner betont und eine Kritik an der Idealisierung des Weiblichen als des Natürlichen bei gleichzeitiger Geringschätzung der geistigen Fähigkeiten des Naturwesens »Frau« vorgebracht. Diesem Ansatz folgen Littlejohns,271 Beese,272 Friedrichsmeyer,273 Lüthi274 und Domoratzki.275 1 983 lanciert Weigel einen neuen Impuls für die feministische Forschung, die sich zunächst einseitig der inhaltlichen Komponente des Geschlechterverhältnisses im Roman zugewandt hatte, indem sie die Berücksichtigung des poetologischen Anspruchs Schlegels fordert. 276 Als Ausweg aus der stagnierenden Diskussion um Schlegels Progressivität oder Konservatismus bietet sich eine Bewertung des Schlegelschen Liebeskonzeptes vor dem Hintergrund des zeitgenössischen »kulturellen Wissens« an: Durch Einbeziehung des diskursiven Umfeldes der neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts kommt schon Horst Bretschneider in seiner Ostberliner Dissertation von 1974277 zu einer differenzierten Be-
zum Werkzeug der eingebildeten Erhebung aus der schlechten Welt verkommen, vgl. Gerda Heinrich: Friedrich Schlegels Begriff der romantischen Ironie, in: Arbeiten zur deutschen Philologie 12 (1978), S. 57-68. 270 Bärbel Becker-Cantarino: Schlegels Lucinde. Zum Frauenbild der Frühromantik, in: Colloquia Germanica 10 (1976/77), S. 128-139. Dies.: Priesterin und Lichtbringerin. Zur Ideologie des weiblichen Charakters in der Frühromantik, in: Die Frau als Heldin und Autorin, hrsg. v. Wolfgang Paulsen, Bern/München 1979, S. 111-124. 271 Richard Littlejohns: The »Bekenntnisse eines Ungeschicktem. A Re-Examination of Emancipatory Ideas in Friedrich Schlegels >LucindeLucindeWally die Zweiflerinvervollkommnen< - der Dichter, so heißt es im »Gespräch über die Poesie«, bildet sich heran, wenn er den Mittelpunkt gefunden hat, durch Mitteilung mit denen, die ihn gleichfalls von einer andern Seite auf eine andre Weise gefunden haben. Die Liebe bedarf der Gegenliebe312 (Hervorhebung v. Vf.) Nicht nur der Roman als Ganzes versinnbildlicht als »intellektuelle Anschauung« ein vorbildliches Verhältnis zwischen Ich und Du. Die bloße formale Gestaltung - die Umrahmung des diszipliniert erzählten, »männlichen«, von unerfüllter Sehnsucht und unendlichem Streben handelnden Mittelteils der »Lehijahre« von je sechs ganz unter-
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ganzen geistigen Lebens eines genialischen Individuums; Werke die das sind, selbst in ganz anderer Form, wie Nathan, bekommen dadurch einen Anstrich von Roman. Auch enthält jeder Mensch, der gebildet ist und sich bildet, in seinem Innern einen Roman«, Lyceum-Fragment Nr. 78, in: KSA II, S. 156. Vgl. die Arbeit von Bernd Bräutigam (1986): Bräutigam interpretiert - im Anschlufl an die Untersuchung Heinz Schlaffers zum »Bürger als Held«-den radikalen Roman »Lucinde« als literarische »Heldentat« des Bürgers Julius - der Bürger sei Revolutionär nur noch auf dem Schauplatz der Kunst, sein Handeln reduziert auf sprachliches Handeln. So auch Simonetta Sanna (1987), S. 457-479. KSA Π, S. 286. In den »Philosophischen Lehrjahren« heißt es: KSA XVIII, S. 84, Nr. 651: »[...] niemand versteht sich selbst, sofern er nur selbst und nicht zugleich auch ein anderer ist.« Nr. 1314, S. 303/04: »Im Ct [Zentrum] sollte gar keine isolirte Vernunft dargestellt werden, sondern es sollte dialogisch sein - die Vernunft mit s[ich] selbst in Wechselwirkung.« Und etwas weiter Nr. 1318: »[...] - Mit Unrecht ist in der ersten WL [Wissenschaftslehre] das Ich allein dargestellt.«
schiedlichen, verspielten »weiblichen«, mehr einer Zustandsbeschreibung313 als einem Prozeß gleichenden »Phantasien«, »Allegorien«, »Idyllen«, »Metamorphosen« und »Reflexionen« - 3 1 4 enthält eine Anspielung auf das von Julius ernstlich erwogene Problem der Möglichkeit einer dauernden Umarmung (L., 25). Julius und Lucinde stellen als Paar ebenfalls eine »intellektuelle Anschauung« dar, eine »Allegorie auf die Vollendung des Männlichen und Weiblichen zur ganzen Menschheit«: Die Struktur von »Identität der Differenz«, in der beide Zustände notwendig und gleichberechtigt sind - Schlegel greift zum Ausdruck dafür gem auf Fichtes Terminus »Wechsel« zurück - bleibt dabei immer gewahrt. In der »dithyrambischen Phantasie über die schönste Situation« versichert sich Julius anamnetisch der vorgängigen Einheit des Ichs und allen Lebens, so kann er sich die tiefe Verbundenheit und Übereinstimmung mit Lucinde erklären: Was wir ein Leben nennen, ist für den ganzen ewigen innern Menschen nur ein einziger Gedanke, ein unteilbares Gefühl [...] Wir beide werden noch einst in Einem Geiste anschauen, das wir Blttten Einer Pflanze oder Blätter Einer Blume sind, und mit Lächeln werden wir dann wissen, daß was wir jetzt nur Hoffnung nennen, eigentlich Erinnerung war (L„ 12). Die Idee einer Identität des Männlichen und des Weiblichen wird aber nicht nur gedacht, sondern sogleich auch veranschaulicht im Bild des Rollentausches beim Sexualakt: Wenn in Fichtes »Ehelehre«, indem von einer passiven Teilnahme der Frau am Beischlaf, einem Erleiden des Sexualtriebes des Mannes, ausgegangen wird, die Missionarsstellung eine implizite Entrechtung der Frau begründet, so polemisiert Schlegel dagegen augenzwinkemd mit einer Umkehrung der Positionen von Mann und Frau: Dieser Rollentausch verfeinert die sexuelle Begierde reflexiv, der bloßen Befriedigung in der Immanz der Gegenwart wird eine Prozessualität und Offenheit entgegengesetzt und damit ein utopisches Potential entborgen, die Befriedigung der Menschheit und Gleichberechtigung der Individuen durch die Liebe. Bei aller Betonung von Hofinung auf Identität, auf ein Ende der Sehnsucht und paradiesische Ruhe, erscheint doch die Individualität und das ewige Streben hin zum Absoluten als zumindest gleichwertig. Als Symbol für Individualität erscheint im Roman die »Männlichkeit« bzw. die »Weiblichkeit«: Der Geschlechtsunterschied - so heißt es in der Fichte-Parodie »Eine Reflexion« - 3 1 5 sei die allgemeinste und einfachste Antithese der konsequenten Natur (L., 313
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Loisa C. Nygaards Interpretation der Zeitstruktur der »Lucinde«: Time in Friedrich Schlegels >LucindeLucinde< is seeking to recapture the structure of myth«, S. 346. Vgl. Esther Hudgins: Das Geheimnis der >LucindeLucindeSohn des Witzes< (L., 23) - seine »ironische« Vorgehensweise, am deutlichsten in der »Charakteristik der kleinen Wilhelmine«: Dieses kaum zweijährige Kind füngiert als intellektuelle Anschauung der intellektuellen Anschauimg, als »Theoria« (griech. öeogia) der romantischen Poesie: Ihr »ist alles in der Natur belebt und beseelt« (L., 14). Ihr Interesse bleibt nicht an den Erscheinungen haften, sondern - wenn sie etwa ihre Holzpuppe küßt - so wünscht sie ihren Gegenstand ganz zu fassen, bis in sein Innerstes zu durchdringen und zu zerbeißen. Das Betasten dagegen bleibt bei der äußerlichen Oberfläche allein stehn, und alles Begreifen gewährt eine unvollkommene nur mittelbare Erkenntnis (ebd.).332 Wilhelmine kennt auch die Spielregeln der progressiven Universalpoesie und der Ironie, sie hat viel Bouffonerie und viel Sinn für Bouffonerie: Mache ich ihre Gebärden nach, so macht sie mir gleich wieder mein Nachmachen nach; und so haben wir uns eine mimische Sprache gebildet und verständigen uns in den Hieroglyphen der darstellenden Kunst (L., 14). 328 329 330 331 332
KSA II, S. 183. KSA II, S. 152. KSA Π, S. 160. »Gespräch«, KSA II, S. 334. Wahre Erkenntnis wird hier gefaßt als sinnlich-mystische Vereinleibung, wie sie im christlichen Abendmahl stattfindet. 183
In der »Lucinde« werden Wirklichkeit und Phantasie gegeneinander ausgespielt zur wechselseitigen Relativierung - der Traum, mit dem der Brief »Julius an Lucinde« beginnt und der in der Vision einer ganz ausgelassen fröhlichen und doch religiösen körperlichen Vereinigung der Liebenden gipfelt, die - Potenzierung des Paradoxons - nicht nur erlebt, sondern gleichzeitig besonnen reflektiert wird, dieser Traum wird sogleich ironisch - »aus der Psychologie« erklärt und zur Illusion reduziert, »depotenziert«. Die folgende hochfliegende dithyrambische Phantasie wird abgekühlt durch den Verweis auf die geltenden sinnenfeindlichen hypokritischen Nonnen der bürgerlichen Gesellschaft; die scheinbar so realistische Charakteristik der kleinen Wilhelmine mündet in die Aufklärung ihrer allegorischen Funktion - der Wechsel von poetischer Schöpfung und Vernichtung durchwirkt den gesamten Roman. Sinn und Ziel dieser dialektischen Progression, dieser Offenheit auf das Unendliche hin, ist die freie Bildung des Individuums:333 Dieses setzt sich bloß Grenzen, um sie sogleich wieder zu überschreiten. In diesem Lichte kann sogar die Idyllisierung des Landlebens in der »Lucinde« nur als temporäre und wissentliche Selbstbeschränkung interpretiert werden, wenn es heißt: [...] ich gefalle mir in der freundlichen Beschränkung [...] und Du wirst am Ende noch frohlockende Lobreden auf den Wert eines eignen Herdes und über die Würde der Häuslichkeit von mir hören (L., 62).
Der Roman ist damit allerdings auch noch nicht zu Ende: Die Reflexion über den möglichen Tod der Geliebten - die Vernichtung des Geliebten ist für Schlegel eine Variante der Ironie - 3 3 4 der lyrische Dialog von »Sehnsucht und Ruhe« , die »Tändeleien der Phantasie« - diese Texte beharren nicht auf statischem Glück, sondern nehmen den Widerspruch und den Tod in sich auf: Die Beziehung von Julius und Lucinde endet nicht in »Ruhe«, gerinnt nicht zur spannungslosen Symbiose, die Sehnsucht der Liebenden bleibt ungestillt.335 Die je individuelle Geschichte der Partner wird nicht negiert: Sowohl die von Julius aussichtslos geliebte Frau des Freundes als auch Guido, der Vater von Lucindes totem Sohn, werden in die Liebesbeziehung der Protagonisten aufgenommen; die Schlußarabeske läßt Träume von Verlust und Trennung zu. Die unendliche
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Vgl. Manfred Frank, Problem Zeit (1972), S. 54f; und ders., Frühromantische Ästhetik (1989), S. 30 lf. Darauf verweist Walter Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, in: Ders.: Gesammelte Schriften 1,1, hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhausen Frankf./M. 1974, S. 85. Auch Benjamin betont den Verstandescharakter der romantischen Poesie, ihre Reflexivität und ihren unbedingten Willen zur Freiheit. -Ähnlich Bernhard Lypp: Ästhetischer Absolutismus und politische Vernunft. Zum Widerstreit von Reflexion und Sittlichkeit im deutschen Idealismus, Frankf./M. 1972, S. 5 Iff. »Liebe ist nicht Harmonie schlechtweg, sondern Harmonie in Gärung [...]«, s. KSA Bd. XVI, S. 249, Nr. 207.
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Progressivität, der Schwebezustand, bleibt bestehen: Der Zauberkreis des pantheistischen Universums ist ein Traum, der im Wachen anhält.(L., 82). 336
3.4.6. Wie modern ist die »Lucinde«? 3.4.6.1. Zur zeitgenössischen Rezeption des Romans Einen Hinweis auf die progressive oder regressive Tendenz der »Lucinde« geben auch die Reaktionen der Zeitgenosen Schlegels auf den Roman. Die im Bildungsbürgertum der Zeit tonangebenden Aufklärer, allen voran Nicolai, Merkel und Kotzebue, lehnen nicht nur Friedrich Schlegels Werk ab, sondern die gesamte frühromantische Bewegung um Schelling, die Schlegels und Novalis, den Idealismus Fichtes, aber auch den von den Frühromantikern verehrten Goethe.337 Die »Lucinde« des scharfzüngigen, durch seine Kritiken bekannten und unbeliebten Friedrich Schlegel verfallt dem allgemeinen Hohn und Spott: Der Text wird als Schlüsselroman gelesen, die Beziehung Schlegels zu Dorothea Veit ist allgemein bekannt und ein mehrfach potenzierter Skandal: Denn die Frau ist verheiratet, Mutter zweier Kinder und zehn Jahre älter als ihr exzentrischer Geliebter, zudem ist sie Jüdin, und sie ist offenbar sexuell aktiv. 338 Während pornographische oder frivole Schriftchen überall kursieren339 und auch Wielands erotische Szenen niemandem mehr anstößig erscheinen, gilt der Roman Schlegels als obszön: Ludwig Ferdinand Huber von der Jenaer ALZ 340 bezweifelt die geistige Gesundheit Schlegels, hält aber dessen »Libertinage« für »durch seinen metaphysischpoetischen Unsinn unschädlich gemacht« - die Kritik Hubers zielt also sowohl auf den vermeintlich schlüpfrigen Inhalt der »Lucinde« als auch auf die Form des Romans. 336
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Bräutigam betont die Offenheit des Schlusses und Korrespondenzen zwischen der ersten und der letzten Arabeske des Romanfragments - der Schloß verknüpfe Anfang und Ende zu einer Umarmung. So Wolfgang Pfeiffer-Belli: Antiromantische Streitschriften und Pasquille (1798-1804), in: Euphorion 26 (1925), S. 602-630. Ludwig Marcuse analysiert 1962: »Solange Dichtung >nur< Phantasie ist, ist unanständige Dichtung >nur< phantasierte Unanständigkeit; die phantasierte Sünde wiegt aber, wie die meisten meinen, nicht so schwer wie die reale. Schlegel aber evozierte ein bestimmtes Schlafzimmer in einer bestimmten Straße in einer bestimmten Stadt. Das ist Obszönität in dritter Potenz: die erste ist das heimliche Tun, die zweite die öffentliche Phantasie, die dritte die öffentliche Abbildung des heimlichen Tuns.« Vgl. Ludwig Marcuse: Jena 1799. Hundertfiinfzig Jahre deutsche Entrüstung, in: Ders.: Obszön. Geschichte einer Entrüstung, München 1962, S. 99. Darauf verweist auch Karl Gutzkow in seiner »Lucinde«-Apologie von 1835: Berlin sei zum Zeitpunkt des Erscheinens des Romans »keineswegs das pietistische, servile und soldatische Berlin von heute [gewesen], sondern der Sitz einer in der Wollust des Verwesens begriffenen Regierung, der Tummelplatz der Rouerie und Patronage und der große Venusberg leichter und raffinierter Sitten, s. Karl Gutzkow: VoiTede zu: Schleiermachers Vertraute Briefe über die Lucinde, Hamburg 1835, S. XXVI. Allgemeine Literatur-Zeitung Nr. 130 vom 07.05.1800, Zweyter Band, Jena 1800, S. 298-300. 185
Auch J. D. Falk 341 entrüstet sich nicht allein über die »otahitische Schamlosigkeit«342 des Romans - ihn verbittert der elitäre, willkürliche Subjektivismus der dahinter vermuteten Philosophie: Dies ist der unwürdige, zügellose Mißbrauch mit dem das Heiligste und Ehrwürdigste der menschlichen Gesellschaft bezeichnenden Wörtern, Liebe, Scham, Unschuld, Religion. Eine moderne Mystik scheint diese heiligen Reliquien der Vorzeit in durchaus willkürlichen Bedeutungen an sich reißen zu wollen. Was ist aus unsrer Litteratur geworden? Eine große Charaden- und Räthselkammer. Ein jeder giebt dem Publikum etwas tüchtiges zu rathen auf, und weiß sich hintendrein noch viel damit, mit seinen Freunden im Hintergrund über die Ungeschicklichkeit desselben zu spotten.343 Für Merkel besteht die »Lucinde« aus »sophistisierende[n] Liederlichkeiten« und »freche[n] Zoten«, 344 der »Allgemeine Satyrische Reichsanzeiger« spricht von einer »Metaphysik des Beischlafs«.345 - Aber nicht nur die aufgeklärte Publizistik ereifert sich über die »Lucinde«, auch Jacobi, Herder und Jean Paul mißfällt die »schamlose Lüsternheit«, und Schiller und von Humboldt finden »viel Rohheit« in dem Roman. 346 Selbst Novalis und A.W. Schlegel, denen Theorie und Intention der »Lucinde« bekannt sind, mokieren sich über die allzu laute Sinnlichkeit: »Der Traum« - so Novalis und die Phantasie sind das eigenste Eigenthum, sie sind höchstens für zwei, aber nicht fur mehrere Menschen [...] Vielleicht gehört der Sinnenrausch zur Liebe, wie der Schlaf zum Leben - der edelste Theil ist es nicht, und der rüstige Mensch wird immer lieber wachen, als schlafen.347 Nicht die literarische Gestaltung von Sexualität allein scheint den Zeitgenossen aufgestoßen zu sein, sondern die Verbindung des Sexuellen mit dem Metaphysischen, die beanspruchte Dignität der Sinnlichkeit muß unerhört gewirkt haben. Einer der wenigen wohlmeinenden Kritiker der »Lucinde«, I.B. Vermehren, mißversteht - und das ist symptomatisch - den Ansatz Schlegels vollkommen: Er schreibt im Versuch der Apologie des Romans diesen um zu einer chronologisch erzählten Trivialgeschichte von Fall und Rettung eines Jünglings.348 Vermehren unterscheidet die tatsächliche und, wie er findet, psychologisch unwahrscheinliche Darstellung der Liebe in der »Lucinde« von der >eigentlichen< Absicht Schlegels, nämlich eine Liebe zu zei-
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J. D. Falk: Taschenbuch für Freunde des Scherzes und der Satire, 5. Jahrgang, Weimar 1801, S. 275-306. Ebd., S. 301. Ebd., S. 294/5. Nach Kluckhohn, S. 415. Nach Pfeifier-Belli, S. 604. Nach Kluckhohn, S. 414. In: Oscar Fambach (Hrsg.): Ein Jahrhundert deutscher Literaturkritik, Bd. IV: Das große Jahrzehnt (1796-1806) in der Kritik seiner Zeit, Berlin 1958, S. 508. Zur Rezeptionsgeschichte der »Lucinde« s. auch: Ernst Behler: Friedrich Schlegel (1981). I. B. Vermehren: Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde zur richtigen Würdigung derselben, Jena 1800, S. 215ff.
gen, die rein, ewig und unsinnlich, also göttlich sei: Um richtig verstanden zu werden, hätte Schlegel die höhere, ewige Liebe soviel wie möglich ohne alle sinnliche Hülle schildern, und sich für jede Entblößung ihrer schönen Nacktheit, und ihrer reizenden Geheimnisse sorgfältig hüten müssen.349 Vermehren kürzt das sexuelle Moment - ganz in Übereinstimmung mit dem vorherrschenden dualistischen empfindsamen Modell der Liebe - wieder aus der Ehe heraus. Die bekannteste Verteidigungsschrift der »Lucinde«, Schleiermachers »Vertraute Briefe über Schlegels >LucindeLucindeguten Natur< bejaht, gelangt sie in logische Schwierigkeiten, wenn sie die Disziplinierung der Sinnlichkeit einfordern will. Anstelle des biblischen Gebotes soll nun das Gebot der sozialen Gemeinschaft zur Disziplin verpflichten. Die allgemeine Vernunft wird im 18. Jahrhundert das Nachfolgekonzept der Religion. Die Pflichtaskese ersetzt die religiös motivierte Askese. Die expositorischen Diskurse schließen insofern an Vorstellungen der alten Gesellschaften an, als sie an der Überzeugung von dem Primat des Allgemeinen und Typischen und der Ablehnung des bloß Individuellen2 festhalten. In der »Schwedischen Gräfin«, in den Freundschaften der Jahrhundertmitte und noch bis zur Empfindsamkeit bleibt die Vernunftnorm in der gepflegten Semantik auch allgemein anerkannt.3 Expositorische Texte und fiktionale Literatur verfolgen weitgehend dasselbe Ziel, nämlich die soziale und moralische Unterweisung. »Freundschaft« gilt so lange auch als Interaktionscode für die Ehe und nicht etwa die »Liebe«, die sich als unvernünftige Leidenschaft für eine dauerhafte Verbindung nicht zu eignen scheint. Erst unter dem Einfluß der idealistischen Philosophie autonomisiert sich die Ehe als Liebesgemeinschaft. Zur Jahrhundertwende hin mehren sich die Stimmen, die direkte heteronome soziale Rücksichten der Ehe ausblenden wollen und die für eine Liebesehe plädieren - am radikalsten bei Fichte. Der Gegensatz von Seelenverschmelzung und körperlicher Vereinigung bleibt in den Sachtexten als unlösbares Problem bestehen: Die expositorischen Texte suchen immer nach einem Mittelweg zwischen dem, was sie für esoterische Schwärmerei halten, und dem, was für sie tendenziell als stellvertretend für asozialen, geistlosen Materialismus gilt. Die Anstrengungen zur Regulierung der Sinnlichkeit erstrecken sich nicht nur auf die körperliche Sexualität: Der fiktiven Literatur, der Phantasie, der »geistigen Onanie« gilt das Mißtrauen der Aufklärer gleichermaßen:4 Denn eines haben Onanie und Phantasie gemeinsam: Das Subjekt vergnügt sich allein, außerhalb der Sozialität, und entzieht sich so der sozialen Kontrolle und Nutzbarkeit. Selbstbefriedigung wird erst zu ei2
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Vgl. Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur, Bd. 3, S. 173ff: In den alten Gesellschaften - so Luhmann - gab es keinen Topos für Individualität, Individualität war kein Wert in ihrem Denksystem. Vgl. Wolfdietrich Rasch: Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung im deutschen Schrifttum des 18. Jahrhunderts. Vom Ausgang des Barock bis zu Klopstock, Halle 1936. Friedrich H. Tenbruck liefert eine soziologische Erklärung für die Bedeutung der Freundschaft im 18. Jahrhundert in: Freundschaft. Ein Beitrag zu einer Soziologie der persönlichen Beziehungen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 16 (1964), S. 431-456; seinen Anregungen folgt die Studie Eckhardt Meyer-Krentlers: Der Bürger als Freund, München 1984. Koller weist anhand von pädagogischen Texten der Philanthropen nach, daß sich deren Ablehnung der Literatur nicht nur gegen den möglicherweise erotischen Inhalt z.B. von Romanen richtete, sondern gegen die Verselbständigung der Zeichen beim Akt des einsamen Lesens und gegen die damit veibundene Anregung zum freien Spiel der Phantasie, vgl. Hans-Christoph Koller: Die philanthropische Pädagogik und das Zeichensystem >LiteraturGelehrte< um 1800 ist gebildet, aber arm. Wer nicht wie der junge Goethe auch sonst ein patenter und umgänglicher Mensch war und aus vermögendem und einflußreichem Elternhause stammte, wer es nicht wie Jean Paul und Friedrich Schlegel schließlich doch noch zu einem Auskommen durch schriftstellerische Tätigkeit brachte, dem blieb nur die Hauslehrerstelle oder die Beamtenlaufbahn im absolutistischen Kleinstaat. Wie junge Intellektuelle darüber dachten, hat Goethe in der Gesandtschaftsepisode des »Werther« anschaulich gestaltet. Den jungen Jean Paul und den jungen Friedrich Schlegel jedenfalls reizten diese Berufsaussichten auch nicht, und sie nahmen lieber die Armut in Kauf. 7 Tragen »Arbeit« und »Liebe«, eine berufliche Karriere und ein Privatleben, entscheidend zur Identitätskonstitution des modernen Subjekts bei, so sind für die kleine Gruppe bürgerlicher Intelligenz um 1790 massive Identitätsprobleme zu erwarten: Dem jungen bürgerlichen Gebildeten bietet sich selten eine befriedigende Karriereaussicht, eine Heirat aber ohne Vermögen oder Beruf und Amt ist indiskutabel. In den Romanen kommt also - im Gegensatz zu den Sachtexten - die Innerlichkeit des desorientierten modernen Subjekts zur Sprache. Goethe läßt Werther - in der Diskussion über den Selbstmord mit Albert - die Berechtigung des individuellen Stand5
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Entsprechend enthalten die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien bei Luhmann - nicht nur die »Liebe« - ein generelles Selbstbefriedigungsverdikt, vgl. die verdienstvolle Tabelle bei Jan Künzler (1987), S. 328. Kommunikation sorgt eben f&r soziale Anschließbarkeit, nicht für individuellen Rückzug aus der sozialen Umwelt. Zur Situation der Gebildeten vgl. den Aufsatz von Rudolf Vierhaus: Umrisse einer Sozialgeschichte der Gebildeten in Deutschland, in: Ders.: Deutschland im 18. Jahrhundert. Politische Verfassung. Soziales Gefttge. Geistige Bewegungen, Göttingen 1987, S. 167-182; und die Arbeit von Hans H. Geerth: Bürgerliche Intelligenz um 1800. Zur Soziologie des deutschen Frühliberalismus (Diss. 1935), mit einem Vorwort und einer erg. Bibl., hrsg. v. Ulrich Herrmann, Göttingen 1976. Das Elend Jean Pauls besonders während seiner schriftstellerischen Anfänge, die andauernde finanzielle Misere Fr. Schlegels sind bekannt. Vgl. zu Jean Paul Uwe Schweikeit: Jean Paul, Stuttgart 1970, Kap. II; und Günter de Bruyn: Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter, Frankf./M. 1976; zu Schlegel Günter Peters: Das tägliche Brot der Literatur. Friedrich Schlegel und die Situation des Schriftstellers in der Frühromantik, in: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 27 (1983), S. 235-282. 195
Punktes gegen die allgemeine Vernünftigkeit einklagen und stellt die Humanität der individuellen Sichtweise heraus. Der Roman thematisiert die Bedürfnisse des individualisierten Subjekts nach psychophysischer Nähe und die Dysfunktionalität der herkömmlichen Liebessemantik zur Kommunizierung dieser Bedürfnisse. Er behauptet gegenüber einer inakzeptablen Komplexitätsreduzierung in der Semantik von Individualität und Liebe die Kontingenz des Individuums und die Unerklärlichkeit seiner Liebe. Er versprachlicht Gefühle, die sonst - unbenennbar, unerkannt - nicht zu Worte kommen. Der monologisierende Protagonist Werther wird in seinem Leiden sympathetisch vorgeführt, ohne daß jedoch die gesellschaftlichen Verpflichtungen und die Rücksichtnahme gegenüber den Mitmenschen für irrelevant erklärt würden. Der Roman endet mit einer Apone. Der »Hesperus« wird zum Forum der Auseinandersetzung von Tradition und Variation: Sich abzeichnende >progressive< Sinnstiftungsvorschläge - die Autonomie von Liebe, Kunst und Individualität - bindet Jean Paul rück an obsolete, immer noch vorhandene und respektierte Traditionen: Die Liebe soll gottgegeben sein, die Kunst moralisch, wahr und trostreich, und Individualität darf nicht als Egoismus erscheinen und ist nur zulässig, sofern sie tugendhaft - nach den verallgemeinerungsfahigen Prinzipien des Guten, Wahren und Schönen - handelt. Der Erzähler argumentiert gegen die Zweckrationalität aller Verhältnisse von der Plattform der literarischen Utopie. Um die Liebe aus dem Bereich der verhaßten Zweckrationalität zu retten, dem sie als das psychische Bedürfiiis des Individuums nach Liebe letztlich doch wieder angehören würde, muß der Autor die Liebe spiritualisieren, sie als quasi religiöses Gefühl analog zum Gottesglauben setzen und sie an einer utopischen, asexuellen Liebesbeziehung an einem utopischen Ort veranschaulichen: Viktor und Klotilde als Liebende in Maienthal mögen der Vorstellungswelt des Lesers noch zugänglich sein - eine soziale Situierung des Paares in einem bürgerlichen Milieu allerdings fallt dem Autor schwer: Am Ende des Romans sind eine Heirat der Verlobten und eine Niederlassung in der bürgerlichen Welt noch nicht in Sicht. Aufgrund der vielfachen Funktionen, mit denen Jean Paul die »hohe Seelenliebe« belegen will, entstehen Antinomien innerhalb des Konzeptes: Die Aussparung der Sexualität wird notwendig, um eine potentielle Dauerhaftigkeit der Beziehung zu gewährleisten, diese wiederum allein garantiert die Selbstvergewisserung, die Identität und Kohärenz des Subjekts im Fluß der Zeit. Zum zweiten stellt nur die asexuelle Zweierbeziehung eine Anschlußmöglichkeit für das politische Konzept des universalen Republikanismus bereit. Die reale Situierung der Liebesbeziehung scheitert aber gerade auch an dem Gebot der Unsinnlichkeit: In einer bürgerlichen Ehe muß Sexualität zumindest im Dienste der Fortpflanzung möglich sein. Zum anderen bleibt auch die unendliche Subjektivität des Individuums problematisch, das sich in einer als so defizitär dargestellten Welt wie Flachsenfingen oder auch St. Lüne nicht mehr verwirklichen« kann. Die »hohe Seelenliebe« als Lösungsvorschlag fur die real existierende Krise der Liebessemantik um 1800 erscheint als wenig faßbar. Besonders die Aussparung des
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»symbiotischen Mechanismus«8 der Sexualität, die Negierung der Triebnatur des Menschen, benimmt dem Konzept Jean Pauls seine Überzeugungskraft, die Wahrscheinlichkeit der Akzeptanz seiner so artifiziellen Variante im historischen Prozeß. Die »hohe Seelenliebe« überschreitet die Grenzen des physisch, psychisch und sozial Möglichen. In der »Lucinde« sind die Probleme der Sexualität und der Subjektkonstitution in der Codierung der Liebesehe berücksichtigt. Das Subjekt ist sich selbst - nach Luhmann9 - in der Reflexion grundsätzlich nicht anders als über eine Differenz zugänglich, seine Identität ist im autopoietischen Ablauf seiner Gedanken und Vorstellungen zwar beschlossen und unantastbar,10 aber sich selbst intransparent. Die Enttautologisierung des identischen, autopoietischen Bewußtseins (Ich=Ich) ist - so Luhmann - eine simplifizierende Kontingenzreduzierung. Eine solche erscheint allerdings für psychische und soziale Systeme funktional notwendig. In der modernen Gesellschaft gibt es vielerlei Wege der Identitätsbildung: Der eine definiert sich über seine Karriere, ein anderer über seine Ansprüche an seine Umwelt,11 von herausragender Bedeutung für die meisten aber wird wohl die Selbstdefinition über die Relationen zu den Mitmenschen besonders im privaten, persönlichen Bereich sein. Dort ist - in systemtheoretischer Fassung - die Gelegenheit zur Selbstbeobachtung des autopoietischen Bewußtseins an den Reaktionen der anderen psychischen Systeme besonders gut und häufig gegeben. Der psychosoziale Identitätsbegriff etwa Thomas Luckmanns, wie er ihn in Anlehnung an den symbolischen Interaktionismus G. H. Meads entwickelt,12 formuliert den eben skizzierten systemtheoretischen Identitätsbegriff auf eine weniger radikal konstruktivistische, aber inhaltlich ganz ähnliche Weise. Persönliche Identität ist für Luckmann das Ergebnis eines sozialen Lernprozesses. Grundbedingung dieses Prozesses ist die wechselseitige Spiegelung zwischen Ich und Umwelt. Bevorzugte »Spiegel« - so 8 9 10 11
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Vgl. Luhmann, Passion, S. 31. Vgl. Luhmann, Gesellschaftsstruktur, Bd. 3, S. 226ff. Vgl. nähere Ausführungen in dem Aufsatz Niklas Luhmanns: Die Autopoiesis des Bewußtseins, in: Soziale Welt 36/4 (1985), S. 402-446. Luhmann, Gesellschaftsstniktur, Bd. 3, S. 231-248. Vgl. auch Uwe Schimank: Funktionale Differenzierung und reflexiver Subjektivismus. Zum Entsprechungsverhältnis von Gesellschafts· und Identitätsform, in: Soziale Welt 36/4 (1985), S. 447-465. Und ähnlich: Peter M. Hejl: Zum Begriff des Individuums. Bemerkungen zum ungeklärten Verhältnis von Psychologie und Soziologie, in: Systeme erkennen Systeme. Individuelle, soziale und methodische Bedingungen systemischer Diagnostik, hrsg. v. Günter Schiepek, Mchn./Weinheim 1987, S. 115-154: Diese Aufsätze stimmen darin überein, daß sich in der pluralistischen modernen Gesellschaft individuelles Selbstbewußtsein heterarchisch konstituiert über einen Prozeß der Reflexion der eigenen, zwar kontingenten, aber irreversiblen Biographie, über eine Reflexion der eigenen biologisch-psychischen und sozialen Ich-Identitäten. Thomas Luckmann: Persönliche Identität als evolutionäres und historisches Problem, in: Ders.: Lebenswelt und Gesellschaft. Grundstrukturen und geschichtliche Wandlungen, Paderborn, Mchn., Wien usw. 1980, S. 123-141. Vgl. auch Th. Luckmann: Persönliche Identität, soziale Rolle und Rollendistanz, in: Identität, hrsg. v. O. Marquard/K. Stierle, München 1979 (= Poetik und Hermeneutik VIII), S. 293-313. 197
liegt nahe - sind eine oder mehrere Personen, mit denen das Subjekt möglichst viel Zeit verbringt und denen es sich - idealerweise - als »ganzer« Mensch mit seinen kognitiven und affektiven Komponenten zeigen darf: die Familie, die eheliche Gemeinschaft. Berger und Kellner, die wie Luckmann ebenfalls in der Nachfolge Meads und Schütz' arbeiten, halten die Ehe fur »das entscheidende nomische Instrument« in der modernen Gesellschaft.13 Der »signifikante Andere« (Mead) des modernen Menschen-so die Annahme - ist der Ehepartner. Die Ehe begründe einen nomischen Bruch mit der vorehelichen Zeit und setze einen neuen nomischen Prozeß in Gang: Im ehelichen Gespräch verdichte sich die Identität des einzelnen durch den Zwang zur Selbstfestlegung. Das Paar schaffe sich nicht nur eine gemeinsame Gegenwart, sondern interpretiere auch die vergangene Wirklichkeit neu und projiziere eine gemeinsame Zukunft in Übereinstimmung mit dem ehelichen Selbstbild - all diese Aspekte finden sich in der Liebesehe Julius und Lucindes. In Schlegels Roman ist die Identitätsfindung mit der ehelichen Gemeinschaft allerdings nicht abgeschlossen, die Prozessualität der Beziehung, die wechselseitige Bildung der Partner, wurde ja in der vorliegenden Auslegung des Romans betont. In der Liebesehe bestätigen sich die Partner gegenseitig, daß sie durch den anderen und durch die Liebe zu ihm ihr eigenes Ich erst entfalten können. »Identität« ist zugleich Stabilitäts- und Steigerungsbegriff:14 Er gewährleistet, daß die Ehe trotz persönlicher Entwicklungen der beiden Partner nicht auseinanderbricht. Erst mit diesem Verständnis von »Identität-in-Transformation« kann die moderne Liebesehe der Gefahr der Untreue begegnen. Ist nämlich der Mensch - so die höfische frühneuzeitliche Anthropologie, so die medizinische Säfte- und Fibernlehre - unveränderlich - so flammt seine sexuelle Leidenschaft auf und vergeht mit ihrer Befriedigung. Ist der Mensch aber als weltoffenes, wandelbares Individuum gefaßt, können Interesse, Verständnis und Liebe andauern. 15 Im Verhältnis Julius' und Lucindes ist die umgebende, negative soziale Realität ausgespart. Schlegel setzt aber in seiner »Mythologie« auf eine allmähliche Veredelung, Verschönerung und Vermenschlichung der Gesellschaft durch die Liebe, ausgehend von der geglückten Zweierbeziehung, und entwirft so eine folgenreiche Sexualideologie: Sie enthält die Zulassung privaten Glücks und die Verheißung von mehr. Ein strukturell ähnliches Dilemma wie in Kants und Schillers ästhetischen Überlegungen tut sich auf: Geht es ihnen um eine tatsächliche Veränderung der Lebenswelt, oder mündet ihr Konzept in gesellschaftlich folgenlosen Ästhetizismus? Geht es Schlegel um gesamtgesellschaftliche Sinnstiftung durch eine neue Mythologie der Liebe oder um die therapeuti13
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Vgl. P. L. Berger/H. Kellner: Die Ehe und die Konstruktion der Wirklichkeit, in: Soziale Welt 16/3 (1965), S. 222. - Seit dem Aufsatz Berger/Kellners sind 28 Jahre vergangen, auf die nur noch entfernt eheähnlichen, dynamischen »Beziehungskisten« und Beziehungsexperimente, die seit 1968 laufen, treffen zentrale Aussagen des Textes nicht mehr zu. Der Aufsatz ist dennoch relevant: Beschreibt er doch das Modell der romantischen Liebesehe im 20. Jahrhundert, wie es bis in die 50er Jahre mindestens noch kulturell wirksam war. Luhmann, Passion, S. 45. Luhmann, Passion, S. 125ff., 169ff, 178.
sehe Hinwendung zum einzelnen? Und mündet seine Liebesehe nicht eventuell in eine weltfremde, geschlossene >Beziehungskistehohe< Literatur, früheste Beispiele für seine Bestimmung von Literatur entnimmt er der Dramentheorie Lessings und Wielands theoretischen Bemerkungen im »Agathon«.
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Im Gegensatz dazu müssen nicht-fiktionale Texte ihre Behauptungen verteidigen können. Das fuhrt zu einem mehr oder weniger argumentativen Stil, zu einer relativ einheitlichen Stillage und einer recht starken direkten Rückbindung an einen bestimmten Zweck, der außerhalb des Textes in der Realität selbst, in realen Interaktionen, liegt. Die »neue«, moderne Literatur, deren Beginn hier etwa mit den Namen Lessing und Wieland markiert werden soll, differenziert sich aus den rhetorischen Kommunikationsmodi der aufklärerisch-didaktischen Literatur zu einer Zeit aus, als die expositorischen Texte durch den neuen Primat der Vernunft immer stärker zum argumentativen Beweis ihrer Behauptungen gezwungen werden. Die relativ junge Gattung erzählender Literatur, der Roman, eignet sich von ihrer mangelnden Bestimmtheit als Genre her besonders für die Aufnahme heterogenster Elemente: Gegenüber den im engeren Sinne >pragmatischenhohen< Literatur findet die Diskussion eines fur die moderne Gesellschaft wichtigen Problemkomplexes statt: Wie können das körperlich-biologische, das psychische und das soziale System'(re-)integriert werden, wie kann ihrer Desintegration entgegengewirkt werden? Im Medium der Literatur wird die - evolutionär letzlich erfolgreiche - Engführung von Sexualität, psychischer Intimität/höchstpersönlicher Kommunikation und Ehe erprobt, eine Aufgabe, der die expositorischen Texte mit ihrer Fixierung auf die Physiologie bei gleichzeitiger Sexualabwehr nicht gewachsen waren. Mit der Ausdifferenzierung der Literatur schafft sich die im Wandel begriffene Gesellschaft die Möglichkeit, gegenläufige Probleme gleichzeitig zu behandeln: Die expositorischen Texte diskutieren die sozialen Verpflichtungen des Individuums, die literarischen - verkürzt gesprochen - seine asozialen und irrationalen Neigungen. Im »Werther« und in der »Lucinde« verschmelzen der disruptive Sexus und die problematische Identitätskonstitution des asozial gewordenen, desintegrierten Subjekts, die literarische Bearbeitung macht das Liebespaar treueund d.h. ehefahig. Literatur erfüllt um 1800 und bis in das Medienzeitalter hinein die 29 30
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Vgl. Dieter Janik: Literatursemiotik als Methode. Die Kommunikationsstruktur des Erzählwerks und der Zeichenweit literarischer Strukturen, Tübingen 1985, S. 105ff. Dies alles gilt hauptsächlich fur die sog. »Höhenkammliteratur« und wohl kaum oder nur in geringem Maße für die Trivial- und Unterhaltungsliteratur.
gesamtsystemrelevante Aufgabe der Integration des psychischen Systems in das soziale, indem sie eine Semantik für Intimität und Subjektivität bereitstellt - das alles allerdings um den Preis der Fiktionalisierung. Die Seelenregungen des fiktiven Personals, die intimen Interaktionen in der Fiktion, die dahinter stehende These des Autors - das alles sind Sinnangebote, die der Leser annehmen, aber auch ablehnen kann. Zumindest aber lernt er eines: Er lernt seine Möglichkeiten kennen. Literatur ist Probehandeln unter vermindertem Risiko:31 Im Schutze der Fiktion probieren die fiktiven Figuren abweichende Verhaltens- und Denkweisen aus. Im »Rollenspiel Literatur« kann der einzelne Leser psychische Mobilität einüben,32 im Nebeneinander von Identifikation und Distanz empfangt er Impulse zur Identitätsfindung.33 In der kritischen Auseinandersetzung mit literarischen Texten können sich Identität und Individualität profilieren. Literatur produziert konzeptuelle Varianten, eine Vielzahl »möglicher WeltenReihe< der in der vorliegenden Arbeit besprochenen literarischen Liebeskonzepte ließe sich rekonstruieren als Konzeptwandel durch Problemlösung,34 als die Ab31 32
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Vgl. Jürgen Landwehr: Text und Fiktion. Zu einigen literaturwissenschaftlichen und kommunikationstheoretischen Grundbegriffen, München 1975, S. 195. Vgl. die Ausführungen von Anselm Haverkamp: Illusion und Empathie. Die Struktur der Heilnehmenden Lektüre< in den >Leiden WertherskorrumpierenLucindeVorschule der Ästhetik< und Jean Pauls Erzählerische Technik, besonders im >TitanWerther< und Gottfried Arnolds >Kirchen- und KetzerhistorieLucindeLucindeDie Leiden des jungen WerthersWertherWally die ZweiflerinNeue Mythologie