Von der Wahrheit zur Wahrscheinlichkeit: Die Wissenschaft vom Menschen in der schottischen und deutschen Aufklärung 9783484970618, 9783484810365

In the 18th century, the science of man opened up the conceptual framework for re-interpreting the origins and developme

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German Pages 343 [344] Year 2008

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Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Wissenschaft vom Menschen
3. Das Projekt einer ‚Science of Man‘ in der schottischen Aufklärung
4. Der schottische Impuls
5. Schlussbetrachtung
Backmatter
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Von der Wahrheit zur Wahrscheinlichkeit: Die Wissenschaft vom Menschen in der schottischen und deutschen Aufklärung
 9783484970618, 9783484810365

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Hallesche Beitr ge zur Europ ischen Aufkl rung Schriftenreihe des Interdisziplinren Zentrums fr die Erforschung der Europischen Aufklrung Martin-Luther-Universitt Halle-Wittenberg

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Annette Meyer

Von der Wahrheit zur Wahrscheinlichkeit Die Wissenschaft vom Menschen in der schottischen und deutschen Aufklrung

n Max Niemeyer Verlag Tbingen

Herausgeber: Daniel Fulda, Ulrich Barth, Wolfgang Hirschmann, Gabriela Lehmann-Carli, Monika Neugebauer-Wçlk, Jrgen Stolzenberg, Heinz Thoma, Sabine Volk-Birke Wissenschaftlicher Beirat: Wolfgang Adam, Roger Bartlett, Gunnar Berg, Reinhard Brandt, Lorraine Daston, Wilhelm Khlmann, Wolfgang Levermann, Jean Mondot, Jrgen Osterhammel, Alberto Postigliola, Paul Raabe, Peter Hanns Reill, Heiner Schnelling Redaktion: Grit Neugebauer und Ulrich Diehl Satz: Kornelia Grn

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-81036-5

ISSN 0948-6070

@ Max Niemeyer Verlag, Tbingen 2008 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielfltigungen, Ebersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier. Printed in Germany. Druck und Einband: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten

Vorwort Vorliegende Studie ist die gekürzte Fassung meiner Dissertation, mit der ich im Dezember 2005 an der Universität zu Köln promoviert wurde. Ich danke den Herausgebern der Reihe für die Aufnahme in die Halleschen Beiträge zur Europäischen Aufklärung. Aus redaktionellen Gründen konnte Literatur, die nach 2005 zum Thema erschienen ist, nicht mehr eingearbeitet werden. Betreut wurde die Arbeit von Professor Otto Dann, der meine Faszination für die schottischen Aufklärung über viele Jahre unterstützt und gefördert hat. Ihm und den Teilnehmern unseres Oberseminars verdankt Anlage und Konzept der Doktorarbeit maßgebliche Impulse. Die Transferforschung zwischen Großbritannien und Deutschland stellte neben der inhaltlichen Beschäftigung mit dem Gegenstand auch immer eine methodische Herausforderung dar. Beide Wissenschaftssphären haben seit dem 19. Jahrhundert voneinander getrennte Forschungswege in der Geistesgeschichte eingeschlagen. Mit der systematischen Verschränkung beider Traditionen, i.e. Intellectual History und Ideengeschichte mit neueren wissenschafts- und historiographiegeschichtlichen Ansätzen, wurde ein Versuch zur Überwindung dieses geistesgeschichtlichen Limes unternommen. Meine Forschungsaufenthalte in London, Edinburgh und Wolfenbüttel markieren in diesem materialen und methodischen Erkenntnisprozess wichtige Stationen. Ich danke den Mitarbeitern des Deutschen Historischen Instituts in London, der University Library of Edinburgh, der National Library of Scotland und der HerzogAugust-Bibliothek für ihre Unterstützung sowie insbesondere Dr. Nicholas T. Phillipson, Dr. Gillian Bepler und Dr. Jörn Garber für wegweisende Gespräche. Finanziert wurde das Projekt durch die Graduierten Förderung des Landes Nordrhein-Westfalen, ein Fritz-Wiedemann-Stipendium an der Herzog-August-Bibliothek und ein Forschungsstipendium des Deutschen Historischen Instituts in London. Die Thesen meiner Dissertation durfte ich in den Forschungskolloquien von Professor Ute Daniel und Professor Herbert Mehrtens (Braunschweig), Professor Claudia Ulbrich (Berlin), Professor Günther Lottes (Potsdam), Professor Barbara Stollberg-Rilinger (Münster) sowie Professor Winfried Schulze (München) vorstellen und diskutieren. Besonderen Dank schulde ich den Freunden, die mein Vorhaben mit Rat, Kritik und Ermutigungen begleitet haben: Antje Flüchter, Jörg Huwer, Thomas Prüfer, Bethany Wiggin und Helmut Zedelmaier. Sven Speek danke ich für die Erstellung des Registers. Das unverzichtbare Fundament der Arbeit bildet der nie abreißende Dialog mit meinem Mann Gregor Pelger. Gewidmet ist das Buch meiner Mutter, die mich schon in jungen Jahren intellektuell und lebenspraktisch für das Projekt der Aufklärung begeisterte.

München, im September 2008

Annette Meyer V

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Wissenschaft vom Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. ‚Science‘ und ‚Wissenschaft‘: Vergleich zweier Konzepte . . . . 2.1.1. Der englische Wissenschaftsbegriff im 18. Jahrhundert . 2.1.2. Deutsche Begriffe von ‚Wissenschaft‘ in der Aufklärung 2.1.3. Gemeinsamkeiten und Differenzen . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Die Institutionalisierung der Wissenschaft vom Menschen in Schottland und den deutschen Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1. Akademien und Sozietäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2. Vergesellschaftetes Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3. Veränderungen der Universitätslandschaft . . . . . . . . . . 2.2.3.1. Der schottische Weg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3.2. Die Rolle der deutschen Universitäten . . . . . .

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3. Das Projekt einer ‚Science of Man‘ in der schottischen Aufklärung . . 3.1. Vom ‚Newton of the Mind‘ zum ,Newton of Natural History‘ . . . 3.1.1. Anthropologische Vorannahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2. Das Axiom von der ‚Uniformität der menschlichen Natur‘ 3.1.3. Die Thesen von der ‚Perfektibilität‘ und ,Soziabilität‘ des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Die Methoden der ‚Science of Man‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1. Der Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2. Der Analogieschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3. Die Verknüpfung nach Ursache und Wirkung . . . . . . . . . 3.3. Die Quellen der ‚Natural History of Mankind‘ . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1. Bibel und Bibelkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2. Die Glaubwürdigkeit der ‚Alten‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3. Reiseberichte und Quellenkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4. Modelle des Menschenstudiums in der schottischen Aufklärung .

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4. Der schottische Impuls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Die Rezeption der schottischen Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1. Zur Wahrnehmung englischsprachiger Literatur in der deutschen Aufkärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VII

4.1.2. Schottische Philosophie als Orientierung in der deutschen Spätaufklärung . . . . . . . . . . . . . 4.2. Übersetzungen als Mittel der Popularphilosophie . . . . . . . 4.3. Adaptionen der ‚Natural History of Mankind‘ . . . . . . . . . 4.4. Standortbestimmung und Selbstvergewisserung . . . . . . . . 4.4.1. Systematische Fragen der Enzyklopädik . . . . . . . . 4.4.2. Bestimmungen der ‚Geschichte der Menschheit‘ . . 4.5. Disziplinenbildung in der Wissenschaft vom Menschen . . 4.5.1. Anthropologie und Naturgeschichte des Menschen 4.5.2. Kulturgeschichte und philosophische Geschichte der Menschheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6. Modelle des Menschenstudiums in der deutschsprachigen Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6. Quellen- und Literaturverzeichnis 6.1. Manuskripte . . . . . . . . . . . . 6.2. Gedruckte Quellen . . . . . . . . 6.3. Literatur . . . . . . . . . . . . . . .

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7. Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VIII

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Einleitung

Homo sum, humani nihil a me alienum puto.

Es ist bezeichnend für das Selbstverständnis der Philosophen des 18. Jahrhunderts, dass zahlreiche unter ihnen das Zitat des römischen Komödiendichters Terenz als Motto für ihre theoretischen Bemühungen um Natur und Geschichte des Menschen gewählt haben.1 Drückt sich in diesem Leitsatz doch die Überzeugung aus, dass es – trotz aller möglichen Divergenzen in den Erscheinungen des Humanen – ein gemeinsames Wesen des Menschen gibt. Erst die Erkenntnis der eigenen Teilhabe an der ‚Menschheit‘ scheint für den Betrachter notwendig, um die empirische Erfahrung der Differenz zu überwinden und das besondere Merkmal dem substantiellen Befund, der überzeitlich geltenden Humanität, zurückzugliedern. Ursache dieser Reflexionen war eine für die Frühe Neuzeit charakteristische Differenzbeziehungsweise Fremdheitserfahrung innerhalb der eigenen Spezies, welche durch die Entdeckungen neuer Weltteile und ihrer Bewohner zunehmend virulent geworden war und im Verlauf des 18. Jahrhunderts die Ausbildung verschiedener Versuche zu einer ‚Wissenschaft vom Menschen‘ zeitigte. Als maßgebender Vertreter dieser neuen Wissenschaft kann der schottische Rechtsgelehrte Henry Home / Lord Kames (1696–1782) gelten, der seinem menschheitsgeschichtlichen Spätwerk Sketches of the History of Man (1774) das TerenzZitat emphatisch vorangestellt hatte. In der Konsequenz bedeutete diese Weisheit für ihn, dass die Partizipation an der Gattung unverdient sei, solange man seinen „fellow-creatures“ indifferent gegenüberstehe und keinen Versuch unternehme, sich diesem Gegenstand theoretisch zu nähern.2 Der Kieler Philosoph und Gartenbauarchitekt Christian Cay Lorenz Hirschfeld (1742–1792) nahm, ebenfalls unter besagtem Diktum, den Impuls des schottischen Theoretikers auf und edierte eine Sammlung von Reiseberichten unter dem Titel Bibliothek der Geschichte der Menschheit (1780–1782), die dazu dienen sollte, 1

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Publius Terentius Afer (ca. 195–159 v. Chr.) verwendete die Zeile „Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches achte ich mir als fremd“ in seiner Komödie Heautontimorumenos, 1, 2, 25. Den im 18. Jahrhundert benutzten Übersetzungen von Terenz’ Texten lagen zumeist die lateinischen Ausgaben des berühmten Cambridge-Professors Richard Bentley (1662–1742) zugrunde. Die Beliebtheit von Terenz im deutschsprachigen Raum zeigt sich im 18. Jahrhundert, neben mehreren Neueditionen, in allein vier Übersetzungen sämtlicher Stücke im Zeitraum von 1780 bis 1800. Vgl. Barbara R. Kes, Die Rezeption der Komödien des Plautus und Terenz im 19. Jh. Amsterdam 1988, S. 22f. Henry Home / Lord Kames, Sketches on the History of Man. Bd. 1. Edinburgh / London ²1778, S. VI.

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Beobachtungen und Gemälde für die Geschichte der Menschheit zu liefern. Reisebeschreibungen, von Forschern und Beobachtern gemacht, geben wieder so reiche Quellen für die Erweiterung der menschlichen Kenntnisse ab, daß fast jede Kunst und jede Wissenschaft, die nicht blos auf Speculation eingeschränkt ist, daraus zu ihrem Vortheil schöpft. Man hat für die Geographie, für die Landwirthschaft für die Thiergeschichte, für die Botanik, u.s.f. die Beobachtungen und Nachrichten der Reisenden vielfältig genutzt. Sollte die Philosophie und ihr wichtigster Theil, die Geschichte der Menschheit, nicht eben diese Vortheile wahrnehmen dürfen?3

Hirschfeld hatte mit diesen Ausführungen die ‚Geschichte der Menschheit‘ nicht nur als den wichtigsten Teil der Philosophie ausgewiesen, sondern die Notwendigkeit einer induktiven Erfassung des Menschen, gleich anderer Teile der Natur, betont. Damit wurde das Menschenstudium, gemäß dem Wissenschaftsideal der jüngeren Naturphilosophie, auf eine empirische Untermauerung verwiesen, die aus anthropologischen und historischen Betrachtungen bestehen sollte. Eine Kombination aus anthropologischer und historischer Forschung lag auch Johann Gottfried Herders (1744–1803) Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784) zugrunde, deren zweiter Teil ebenfalls Terenz’ Motto unterstellt war.4 Herder hatte mit dem Leitwort und der Form der Ideen erkenntnistheoretische Anleihen bei Kames’ Sketches genommen, indem auch seine Menschheitsgeschichte keinen metaphysischen Grundsätzen gehorchte, sondern an empirischen Daten über den Menschen orientiert sein sollte.5 Die theoretische Versicherung dieser Vorgehensweise bestand in der so genannten These von der ‚Uniformität des Menschen‘,6 der Terenz poetisch Ausdruck verliehen hatte.7 Die Ergebnisse einer auf Beobachtung und Analogiebildung basierenden ‚Wissenschaft vom Menschen‘ hatten nicht den Anspruch, nach formallogischen Aspekten wahr zu sein, sondern dienten zunächst dazu, ein Netz von Daten zu erzeugen. Auf Basis dieser umfassend ermittelten Daten sollte es wiederum möglich sein, sukzessive Regelmäßigkeiten des Gesamtsystems – nicht nur in seinen natürlichen, sondern auch seinen moralischen Erscheinungen – zu erkennen. Dass Herder glaubte, aus den Regelmäßigkeiten, die das Wesen des Menschen prägten, auch Gesetzmäßigkeiten im Gattungsprozess selbst ableiten zu können, stellt wiederum ein Spezifikum der weiteren Entwicklung der ‚Wissenschaft vom Menschen‘ dar. Deutlich vorsichtiger im Austarieren von induktivem Befund und deduktiven Kausalanalysen verfuhr der weltgereiste Naturhistoriker Georg Forster (1754– 1794), den der dichterische Ausspruch von Terenz als methodische Leitmaxime stets begleitete: 3 4

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Christian Cay Lorenz Hirschfeld, Vorbericht, in: Ders. (Hg.): Bibliothek der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Leipzig 1780, [unpag. a 2f.]. Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: Ders., Werke, Bd. 3/1, hg. v. Wolfgang Proß. München / Wien 2002, S. 185. Vgl. dazu Wolfgang Proß, Kommentar, in: Herder, Werke. Bd. 3/2, S. 361. Vgl. Wolfgang Proß, Kommentar, S. 23. Vgl. hierzu die Ausführungen in Kap. 3.2. Herder, Ideen zur Philosophie, S. 229.

Die Begebenheiten der Reise, die Gefahren der Reisenden, ihr erlittenes Ungemach, das Betragen der Einwohner ferner Gegenden, mit einem Worte, Handlung ist es, was auch die Leidenschaften des Lesers in das Spiel zieht, und das Interesse der Reisebeschreibung auf das höchste spannt. Ein jeder fühlt sich an der Stelle des Beobachters, oder des Handelnden, und bestätigt dadurch jene so allgemein bekannte, als feine und richtige Bemerkung des dramatischen Dichters: Homo sum: humani nihil a me alienum puto.8

Forster diente das Zitat an zahlreichen Stellen im Werk dazu, der erkenntnistheoretischen Problematik der Welterfahrung seiner Zeit Worte zu verleihen.9 Bezog der beobachtende Zugang stets die subjektive und unsichere Wahrnehmung des Betrachters mit ein, so war es gerade diese bloße ‚Erfahrung‘, durch welche die Welt in ihren inneren und äußeren Bestimmungen erschüttert worden war.10 Physikalische Erkenntnisse hatten ebenso wie Entdeckungsreisen die herkömmliche Interpretation des Kosmos nicht nur infrage gestellt, sondern erforderten eine Veränderung seiner wissenslogischen Durchdringung. Durch die Ort-, Zeit- und Subjektbindung von Erfahrung wurde dieser Erkenntnisform in der aristotelischen Logik nur eine geringe Erkenntnisgewissheit beigemessen.11 Doch die Infragestellung des biblischreligiös geprägten Weltbildes, das mit dem sprunghaft anwachsenden Wissen nicht mehr in Einklang zu bringen war,12 ließ schließlich die Empirie zu einer letztmöglichen Versicherung in einer Phase grundlegender Verunsicherung werden.13 Das größte epistemologische Manko der Empirie – die Subjektivität – wurde damit zur Bedingung der Möglichkeit von Wissenschaft. Die Regeln einer induktiv verfahrenden Wissenschaft bestanden nicht in reiner Logik, sondern in der Offenlegung 8

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Georg Forster, Cook, der Entdecker, in: Ders., Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe hg. v. der deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. 18 Bde. Berlin 1958ff., hier Bd. 5. Berlin 1985, S. 191–302, hier S. 278. Etwa in einem Brief an seinen Freund Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799): „Was ist im Grunde der Genuß des Lebens an und vor sich, ohne diesen Genuß? Ohne dieses vielumfassende Theilnehmen an Menschen unserer Art? und ohne das allgemeinere Theilnehmen an allem was das menschliche Geschlecht überhaupt angeht: homo sum pp – ist doch das schönste Motto, was man zur Regel des Denkens und Handelns mach kann.“ Forster an Lichtenberg, 1786, in: Ders., Werke. Bd. 14. Berlin 1978, S. 576f. Oder in einem Schreiben an den Historiker Johannes Müller (1752–1809), vgl. Forster an Müller, 1788, in: Ders. Werke. Bd. 15. Berlin 1981, S. 196. Siehe dazu auch den Hinweis bei Ludwig Uhlig, Georg Forster, Lebensabenteuer eines gelehrten Weltbürgers (1754–1794). Göttingen 2004, S. 93. Vgl. Paul Münch, Einleitung, in: Ders. (Hg.): ,Erfahrung‘ als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte. München 2001 (Beihefte HZ 31), S. 11–27. Die Bedeutung der ‚Erfahrung‘ besteht für Aristoteles in ihrer Funktion als Vorstufe höherer Wissensformen. Vgl. Herbert Schnädelbach, Erkenntnistheorie zur Einführung. Hamburg 2002, S. 111. Arno Seifert hat auf den wichtigen Umstand hingewiesen, dass die Bibel zunächst nicht in ihrem Wahrheitsgehalt, sondern vor allem als Quelle der Erkenntnis angezweifelt wurde. Vgl. Ders., Von der heiligen zur philosophischen Geschichte. Die Rationalisierung der universalhistorischen Erkenntnis im Zeitalter der Aufklärung, in: AKG 68 (1986), S. 81–117, hier S. 86f. Wolf Lepenies hat diesen Vorgang als ‚Empirisierungszwang‘ durch andauernden ‚Erfahrungsdruck‘ beschrieben. Vgl. Ders., Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. Baden-Baden 1978, S. 17f.

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der Konstruktionsleistungen des Forschers zwischen der täuschungsgefährdeten Beobachtung und den daraus abgeleiteten vernunftgesteuerten Schlussfolgerungen.14 Nur in der methodischen Reflexion des Irrtums, etwa bei Forster, lag die Chance der neuen Wissenschaft: die Einsicht in die Grenzen der Vernunft, die kritische Selbstbeschau des Betrachters und die Revidierbarkeit philosophischer Urteile. Die Fundierung der Wissenschaft in der wandlungsfähigen Naturumwelt der Phänomene erforderte eine systematische Revision der Daten und der durch sie bestimmten Erklärungsmuster von Welt, deren vorläufiger, heuristischer Charakter dem Forscher stets bewusst sein musste. Die Auseinandersetzung um einen veränderten Zugang zur Welt um den Preis der Selbstbescheidung der Wissenschaften hatte seit dem Ende des 17. Jahrhunderts, ausgehend von der Naturphilosophie, sukzessive um sich gegriffen. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts fand die Diskussion um die Erneuerung der Wissenschaften nicht mehr in abgeschlossenen Gelehrtenzirkeln statt, sondern war Diskussionsgegenstand einer breiteren Öffentlichkeit, wie der Zuwachs an ‚dilettierenden‘ Autoren und offenen Debatten in zeitgenössischen Lexika zeigt.15 Dabei umkreiste die Diskussion drei maßgebende Aspekte: zunächst die veränderte Gewichtung des traditionellen Kanons der Erkenntnisformen durch die Aufwertung der Erfahrung, dann die Veränderung der Gegenstände im gewandelten methodischen Blickwinkel und schließlich die Frage nach der praktischen, narrativen Umsetzung einer empirisch-deduktiv verfahrenden Forschung. Der Schritt der Übertragung von Erkenntnissen und Methoden der Naturphilosophie auf die Erscheinungen der ‚moralischen Welt‘ markiert dabei eine gravierende Zäsur für die Entwicklung der Wissenschaften im 18. Jahrhundert, der mit David Humes (1711–1776) anonym erschienenem Werk Treatise of Human Nature (1739/40) programmatisch Ausdruck verliehen worden war: „An Attempt to introduce the experimental Method of Reasoning into Moral Subjects“.16 Radikaler als seine Zeitgenossen hatte der umstrittene schottische Philosoph nicht nur eine empirische Grundlegung für die ‚Science of Man‘ gefordert, sondern diese Wissenschaft auch zur Grundlage aller anderen Erkenntnisformen erklärt.17 Die methodische Umsetzung dieser introspektiven Wende von der Naturumwelt auf den Men14

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In dieser Weise reflektierte der Berliner Prediger Daniel Jenisch (1762–1804?) das „Selbstbeobachten, Selbstbeschauen“ im Prozess der wissenschaftlichen Urteilsbildung. Auch er nutzte zur Illustration dieses Vorgangs Terenz’ Diktum. Vgl. Ders., Geist und Charakter des achtzehnten Jahrhunderts, politisch, moralisch, ästhetisch und wissenschaftlich betrachtet. Bd. 3. Berlin 1800–1801, S. 294. Untersucht wurden für den vorliegenden Zusammenhang englisch-schottische, deutsche und französische Lexika des 18. Jahrhunderts, die hier nach dem Erscheinungsjahr des ersten Bandes geordnet sind: Harris’ Lexicon Technicum (1704), Walchs Philosophisches Lexicon (1726), Chambers Cyclopaedia (1727), Zedlers Universal-Lexikon (1732), Diderots und D’Alemberts Encyclopédie (1751), Smellies Encyclopaedia Britannica (1768). So der programmatische Untertitel von Humes philosophischem Hauptwerk. Vgl. Ders., A Treatise of Human Nature, hg. v. L. A. Selby-Bigge. Oxford ²1978. Vgl. Kap. 1.1.

schen selbst, am Beispiel der praktischen Ausformung in den ‚Natural Histories of Mankind‘ schottischer Gelehrter sowie in verwandten Formen der ‚Natur-, Menschheits-, Kulturgeschichte‘ und ‚Anthropologie‘ in der deutschen Aufklärung ist das Thema vorliegender Untersuchung. In der Übertragung der methodischen, formalen und praktischen Aspekte beobachtungsgeleiteter Erkenntnis auf die Erforschung des Menschen bestand der besondere Beitrag der Aufklärungsphilosophie zur qualitativen Veränderung der Wissenschaftslandschaft in der Frühen Neuzeit. Die Herauslösung des Menschen aus seinen metaphysischen Bezügen und die selbstbestimmte wissenschaftliche Auslotung der eigenen Spezies wurden retrospektiv als Charakteristika des Beginns der Moderne identifiziert. Die vielfältigen theoretischen Bemühungen zu diesem Projekt um die Mitte des 18. Jahrhunderts sind – zwar in unterschiedlicher Form aber im Befund übereinstimmend – von der Forschungsliteratur als ‚anthropologische Wende‘ gekennzeichnet worden.18 Indessen fiel die Bewertung dieses Vorgangs verschieden aus: entweder als vielversprechender oder unheilvoller Auftakt der sich anschließenden Modernisierung. Als Verfechter einer positiven Deutung nahmen die ‚Sozialwissenschaften‘ in den 1960er Jahren, im Zuge der Abgrenzung vom ‚geisteswissenschaftlich‘ geprägten Historismus, bewusst methodische und materiale Anleihen bei der Aufklärungstheorie.19 Die geistige Wahlverwandtschaft bestand im Primat der ‚Empirie‘ sowie insbesondere in der ‚Kritik‘, die als Denkfigur gegen apologetische Tendenzen in den ‚Wissenschaften vom Menschen‘ schützen sollte.20 Materiale Bezugspunkte zur Aufklärungsepoche wurden in deren ethisch-sozialen

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Wie bereits in Ernst Cassirers früher Studie: „Er [der Mensch] tritt der Welt mit neuer Entdeckerfreude und mit neuem Entdeckermut gegenüber; er erwartet von ihr täglich neue Aufschlüsse: – und doch ist seine Wißbegier und intellektuelle Neugier nicht auf sie allein gerichtet. Noch tiefer ergriffen und noch leidenschaftlicher bewegt fühlt er sich bei der anderen Frage, was er selbst ist und was er selbst vermag [...]. Popes Wort: ‚the proper study of mankind is man‘ hat für dieses Grundgefühl der Epoche einen kurzen und prägnanten Ausdruck geschaffen.“ Ders., Die Philosophie der Aufklärung. Tübingen 31973 (11932), S. 3. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno sprachen von einem „Anthropomorphismus“ im Denken. Vgl. Dies., Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/M. 1989 (11944), S. 12. Zumeist wird die Wendung der ‚anthropologischen Wende‘ mit Michel Foucault verknüpft, der sie allerdings nicht wörtlich gebrauchte. Vgl. Ders., Die Ordnung der Dinge. Frankfurt/M. 131995 (11966), S. 26. In dieser Zeit entstand auch die bislang umfassendste Geistes- und Sozialgeschichte der Aufklärungsepoche. Vgl. Peter Gay, The Enlightenment. 2 Bde. New York / London 1995 (11966). Zum Verhältnis von historiographischer Theorie und Praxis und politischer Identitätsbildung seit den 1960er Jahren siehe Thomas Welskopp, Westbindung auf dem „Sonderweg“. Die deutsche Sozialgeschichte vom Appendix der Wirtschaftsgeschichte zur Historischen Sozialwissenschaft, in: W. Küttler / J. Rüsen / E. Schulin, Geschichtsdiskurs. Bd. 5. Frankfurt/M. 1999, S. 191–237.

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Maximen gesehen, denen bis heute eine in gesellschaftspolitischen Fragen fortwährende Gültigkeit im „unvollendeten Projekt der Moderne“ eingeräumt wird.21 Die Kehrseite dieser Interpretation der Aufklärung verstärkte sich vor dem Hintergrund einer allgemeinen Skepsis gegenüber den ‚Wohltaten der Moderne‘ und einer zunehmend ambivalenten Haltung gegenüber dem wissenschaftlich-technologischen Fortschritt.22 Michel Foucault verlieh diesem Argumentationsstrang eine exponierte Stimme, indem er es nicht bei der Kritik an der Instrumentalisierung der Welt durch den Menschen beließ, sondern die Vergegenständlichung des Menschen selbst in den Vordergrund rückte.23 Die aus dieser These abgeleiteten Überlegungen zur fortschreitenden Selbstverwaltung des Menschen in Strafvollzug, Klinik und Psychiatrie ließen eine Kritik an der Rationalität der Aufklärung konkreter fassbar werden, als es die Formel von der ‚Entzauberung der Welt‘ (Max Weber) vermochte. Dieser schonungslosen Diagnose folgte, wenn auch mit einiger Verzögerung, durch den ‚Foucault-Effekt‘ eine zunehmende Distanzierung zum Konzept ‚Aufklärung‘.24 Die Bedenken gegenüber dem Projekt der Moderne kulminierten in einer grundsätzlichen Aufklärungskritik, die aus dieser Gegnerschaft ihr eigenes, fernerhin als ‚postmodern‘ firmierendes Programm gewonnen hatte. Wissenschaftliches Interesse erfuhr nun die gescheiterte Aufklärung und ihre fatalen Folgen, die sie für die kulturelle und politische Identität der westlichen Welt und ihren – nach innen und außen gerichteten – imperialen Anspruch zeitigte. Während im Zuge der affirmativen Traditionsbildung zur Aufklärung die Entstehung der Soziologie, Ökonomie, Politik- und Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert verortet wurde, verhalf der veränderte Blick auf die Aufklärungsepoche zu neuen Perspektiven hinsichtlich der ‚Wissenschaften vom Menschen‘. Diesem kritischen

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Wie zum Beispiel in der Präambel der ‚Europäischen Verfassung‘. Die Aufklärung als andauerndes politisches Projekt anzusehen, verbindet sich in jüngerer Zeit vor allem mit dem Namen von Jürgen Habermas, Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. Rede anlässlich der Verleihung des Adorno-Preises der Stadt Frankfurt (1980), in: Ders. Die Moderne – Ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze 1977–1990. Leipzig 1990, S. 32–54. Neben dem vermeintlichen ‚Humanismus‘ des abendländischen Denkens kritisierten besonders Horkheimer und Adorno die Zentrierung des Menschen in der Wissenschaftsauffassung der Aufklärung und wandten sich damit gegen die systematische Vergegenständlichung der menschlichen Lebenswelt aufgrund von Berechenbarkeits- und Nützlichkeitserwägungen. Vgl. Dies., Dialektik, S. 12ff. Gleichwohl wäre es unzutreffend, Foucaults Haltung aus einer Gegnerschaft zur Aufklärung verstehen zu wollen. Er selbst sah enge Bezüge zur Aufklärung, etwa zu Kant, in Figuren seines eigenen Denkens. Vgl. Ders., Was ist Kritik? Berlin 1992, S. 22. Diese in Foucaults Werk ungewöhnliche Traditionsbildung ist neuerdings hervorgehoben worden. Vgl. Ulrich Johannes Schneider, Michel Foucault. Darmstadt 2004, S. 24. Die Bedeutung von Michel Foucaults Schriften kann für diesen Vorgang nicht überschätzt werden. Vgl. Paul Veyne, Foucault: Die Revolutionierung der Geschichte. Frankfurt/M. 1992. Unter ‚Foucault-Effekt‘ wird die Gleichsetzung des Philosophen Foucault mit dem Phänomen ‚Postmoderne‘ verstanden, wodurch ‚Foucault‘ zum ‚Alleszermalmer‘ moderner Werte oder zur Ikone eines antimodernistischen Affekts stilisiert wurde. Zu den Hürden der Foucault-Rezeption vgl. Schneider, Michel Foucault, S. 22.

Verfahren wurden vor allem scheinbar neutral-naturwissenschaftlich argumentierende Fächer wie Medizin, Psychologie oder Biologie unterzogen.25 Beide Forschungsperspektiven auf die protosozial- beziehungsweise humanwissenschaftlichen Strömungen der Aufklärung bergen indessen die Gefahr anachronistischer Betrachtung, durch welche die Diagnose einer ausschließlich fachspezifischen Entwicklung in die Vergangenheit projiziert wird. Foucaults Konzept einer ‚archäologischen Methode‘ sollte dazu dienen, genau diesem erkenntnistheoretischen Problem zu entgehen, das nach seiner Überzeugung im 18. Jahrhundert – mit dem epistemologischen Bruch zwischen repräsentierendem und historischem Bewusstsein – entstanden war.26 Gerade er hatte die genetischen Modernisierungsgeschichten einzelner Disziplinen zugunsten einer Lesart verworfen, die sich als schichtweise Analyse von erweiterten Diskursen verstand und den strukturellen Umbau von Wissensformen anvisierte.27 Eine Analyse der Wissensformen im 18. Jahrhundert vor dem Hintergrund der skizzierten Forschungstrends ist nur möglich, wenn man den „polemischen Charakter des Denkens in der Aufklärung und in ihren Interpretationen“28 in seinen maßgeblichen Positionen erkennt und dennoch nicht zum Ausgangspunkt seiner eigenen Untersuchung nimmt. Die Frage nach dem Projekt der Aufklärung etwa als Fortschritt, Modernisierung, Emanzipation oder Verwissenschaftlichung erhält ihre besondere Problematik aus dem inhärenten Superioritätsanspruch gegenüber vorhergehenden Epochen.29 Versteht man das Konzept der Moderne allerdings nicht als qualitativen Umbruch, sondern als veränderten erkenntnistheoretischen Bezugsrahmen, so ist sein heuristischer Wert unverzichtbar. Reinhart Koselleck hat mit seiner Definition von ,Moderne‘ diese Veränderungen der Bezugsgrößen als das Auseinandertreten von Erfahrungen und dem Erschließen einer offenen Zukunft beschrieben. Die Überwindung dieses neu entstandenen Hiatus erforderte neue Kategorien des Denkens und veränderte Strategien der narrativen Überbrückung der entstandenen Kluft.30 Ähnlich wie Foucault veranschlagt Koselleck für die 25

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Einen entsprechenden Ansatz verfolgen die Beiträge im Sammelband von Christopher Fox / Roy Porter / Robert Wokler (Hg.): Inventing Human Science. Eighteenth Century Domains. Berkeley / Los Angeles / London 1995. Die Vergegenständlichung des Menschen erfolge seither nach dem einzigen „Prinzip des Werdens und Seins“, also aus der Verschmelzung einer ontologischen und einer historischen Perspektive auf den Menschen. Vgl. Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 26. Vgl. Michel Foucault, Archäologie des Wissens. Frankfurt/M. 71995, S. 196. Panajotis Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. München 1986, S. 19f. Dieser zunächst an ästhetischen Fragen orientierte Anspruch leitet sich per definitionem aus dem Überlegenheitsgefühl der modernen Position gegenüber der Antike in der ‚Querelle des Anciens et des Modernes‘ her. Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, Modern, Modernität, Moderne, in: O. Brunner / W. Conze / R. Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 4. Stuttgart 1978, S. 93–131, hier S. 99ff. Reinhart Koselleck, ‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘ – zwei historische Kategorien, in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/M. ²1992, S. 349–375.

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Genese einer philosophischen Lösung dieser erkenntnistheoretischen Problemstellung den groben Zeitrahmen von 1750–1850, womit die Phase der ‚Spätaufklärung‘ für diesen Prozess ihre besondere Relevanz gewinnt.31 Einen Elementarbereich dieses epistemologischen Wandels stellt der Diskurs um die ‚Wissenschaft vom Menschen‘ dar, durch den ein alternativer Deutungsrahmen zu traditionellen Erklärungsmustern hinsichtlich des Wesens des Menschen und seiner Entwicklung gewonnen werden sollte. Die Methodisierungs- und Theoretisierungsstrategien dieser neuen Wissenschaft basierten auf der Unübersichtlichkeit der verschiedenen pragmatischen Bewältigungsversuche des überbordenden empirischen Materials. Die ‚Naturgeschichte des Menschen‘ hatte ihre Geltung zunächst dem Umstand zu verdanken, ein alternatives Darstellungsmodell zu den traditionellen Deutungsmustern der Gattung Mensch – wie sie die Bibel oder naturrechtliche Konstruktionen bereitgestellt hatten – geschaffen zu haben. Die auffällige Häufung von Schriften zur Natur-, Menschheits- und Universalgeschichte im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts können als solche Darstellungsmodi der angesammelten Daten innerhalb des beweglichen theoretischen Rahmens der ‚Wissenschaft vom Menschen‘ interpretiert werden. Dass diese Arbeiten als ‚Historien‘ firmierten, war vorerst dem Umstand geschuldet, dass ‚historia‘ der frühneuzeitlichen ‚Empirie‘ als Namengeberin diente.32 Doch erfuhr die Geschichte als ‚historia‘ zunehmend eine wissenslogische Aufwertung und wurde als Schauplatz des Humanen allmählich zum eigenständigen Forschungsgegenstand: der Bestimmung des Wesens der Geschichte selbst. Dieser sich verändernden Gewichtung des Konzepts ‚Geschichte‘ gilt das erkenntnisleitende Interesse folgender Untersuchung zur ‚Wissenschaft vom Menschen‘. Wendet man sich folglich den verschiedenen Varianten der ‚Geschichte der Menschheit‘ in der Spätaufklärung zu, die schon von den Zeitgenossen euphorisch als „Lieblingsstudium“33 oder argwöhnisch als „Modestudium“34 apostrophiert wurden, erfordert dies zunächst, die institutionellen und theoretischen Voraussetzungen der ‚Wissenschaft vom Menschen‘ im 18. Jahrhundert auszuloten. Die vorliegende Analyse möchte sich diesem Zentralbereich der europäischen Aufklärung nähern, indem ein Teilaspekt in den Mittelpunkt des Interesses gerückt wird, der 31

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Der Begriff der ‚Sattelzeit‘ hat mehr zur Verwirrung als zur konzeptuellen Versicherung beigetragen. Zentral bleiben die Überlegungen zur Epochenschwelle bei Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt/M. ²1999, S. 531–557. Vgl. dazu Reinhart Koselleck, Das Achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit, in: R. Herzog / R. Koselleck (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewusstsein. München 1987, S. 269–282. Vgl. Arno Seifert, Cognitio Historica. Die Geschichte als Namengeberin der frühneuzeitlichen Empirie. Berlin 1976. Hirschfeld, Vorbericht, [unpag. a 5]. Johann Gottfried Herder, Bemerkungen über den Unterschied der Stände in der bürgerlichen Gesellschaft von Joh. Millar, Esq., [Frankfurter gelehrte Anzeigen 77 (1772), S. 609–614], in: Herder, Werke. Bd. 4, hg. v. J. Brummack / M. Bollacher. Frankfurt/M. 1994, S. 849–853, hier S. 850.

von den Zeitgenossen als Nukleus der Debatte betrachtet wurde: der Impuls für die „Geschichte der Menschheit“ durch die „grossen Menschenkenner unter den Britten“.35 Dieser Einfluss, vorrangig der schottischen Schriften,36 soll innerhalb der entsprechenden Unternehmungen deutscher Aufklärer untersucht werden.37 Damit folgt die Arbeit zunächst dem rezeptionsgeschichtlichen Befund, nach welchem die schottischen Menschheitsstudien im deutschsprachigen Raum eine auffallend rege Aufnahme fanden.38 Die nähere Betrachtung des Rezeptionsvorgangs unterstützt die These, dass die Auseinandersetzung mit den schottischen Abhandlungen vielfach zum Ausgangspunkt für eigenständige Untersuchungen zu Mensch und Menschheit genommen wurde. Vorliegende Studie geht damit einem Strang des Diskurszusammenhangs in der Frühen Neuzeit nach, der bislang nur am Rande das Interesse der Forschung gefunden hat. So sehr die Erforschung zu Themen des Kulturtransfers in der Frühen Neuzeit in jüngster Zeit – vor allem für den Austausch zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich – thematisiert wurde,39 so rar sind die Untersuchungen zum schottischdeutschen Wissenstransfer. Die Bedeutung der schottischen Aufklärung für deutsche Gelehrsamkeit des 18. Jahrhunderts wurde bisher lediglich für die Philosophiegeschichte und die Geschichte der politischen Ideen näher ausgeleuchtet. Zu den wenigen neueren Arbeiten zu diesem Thema zählen philosophische Studien aus 35

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Mit dieser Bemerkung leitete der Leipziger Philosophieprofessor Friedrich August Carus sein Werk über die „Geschichte der Geschichte der Menschheit“ ein. Vgl. Ders., Ideen zur Geschichte der Menschheit, in: Friedrich August Carus, Nachgelassene Werke. Bd. 6. Leipzig 1809, S. 8. Im 18. Jahrhundert wurde kein hervorhebenswerter Unterschied zwischen Engländern, Schotten und Iren seitens der deutschen Rezipienten gesehen. ‚England‘ und ‚Britannien‘ wurde nahezu synonym gebraucht, da man ausgehend von der gemeinsamen Sprache keine gravierenden kulturellen Verschiedenheiten wahrnahm. John H. Zammito hat darauf aufmerksam gemacht, dass sich diese indifferente Haltung vor dem Hintergrund der Ossian-Rezeption und dem damit verbundenen patriotischen Abgrenzungsgestus Schottlands gegenüber England bei deutschen Lesern, wie Herder, markant veränderte. Vgl. Ders., Die Rezeption der schottischen Aufklärung in Deutschland. Herders entscheidende Einsicht, in: B. Schmidt-Haberkamp / U. Steiner / B. Wehinger (Hg.) Europäischer Kulturtransfer im 18. Jahrhundert. Berlin 2003, S. 113–138, hier S. 115. Es muss daran erinnert werden, dass die angelsächsischen Philosophen, im Gegensatz zu den kontinentaleuropäischen Denkern, nicht unter dem Eindruck standen, ein gemeinsames Projekt der ‚Aufklärung‘ voranzutreiben. Der Begriff ‚Enlightenment‘ wurde in Analogiebildung zur kontinentalen Epochenbeschreibung erst im 19. Jahrhundert auf die angelsächsische Geisteswelt des 18. Jahrhunderts übertragen. Vgl. Reinhard Brandt, Die englische Philosophie als Ferment der kontinentalen Aufklärung, in: S. Jüttner / J. Schlobach (Hg.): Europäische Aufklärung(en). Einheit und nationale Vielheit. Hamburg 1992, S. 66–79, hier S. 67. Die grundlegenden Arbeiten zur Rezeption der schottischen Aufklärung in Deutschland hat Norbert Waszek vorgelegt. Vgl. Ders., The Scottish Enlightenment and Hegel’s Account of ‚Civil Society‘, Dordrecht 1988. Waszeks Bibliographie zeigt, dass die Schriften der schottischen Philosophen oft schon in ihrem Erscheinungsjahr oder im darauf folgenden Jahr ins Deutsche übersetzt wurden. Vgl. Ders., Bibliography of the Scottish Enlightenment in Germany, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 230 (1985), S. 283–303. Vgl. etwa die Sammelbände von Hans-Jürgen Lüsebrink (Hg.): Kulturtransfer im Epochenumbruch. Frankreich – Deutschland 1770–1815. 2 Bde. Leipzig 1997.

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dem Umkreis der Marburger Universität. Zu nennen sind hier die grundlegenden Untersuchungen von Manfred Kühn,40 Reinhard Brandt und Heiner Klemme, wobei die umsichtigen Kommentierungs- und Editionsarbeiten des Letzteren besonders hervorzuheben sind.41 Der Schwerpunkt dieser Forschungen richtet sich allerdings meist auf die Rolle der schottischen Aufklärung für die Entstehung der kritischen Philosophie42 und des deutschen Idealismus.43 Fania Oz-Salzberger hat wiederum mit ihrer Studie zur Rezeption von Adam Fergusons Schriften in der deutschsprachigen Aufklärung eine Arbeit vorgelegt, die sich – ausgehend von der These einer strukturell vergleichbaren nationalen Identitätsbildungsphase beider Länder – mit den abweichenden Lesarten politischer Ideen im Transfer befasst.44 Eine systematische Analyse der Rezeption der schottischen Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts liegt trotz der Bedeutung, welche die zeitgenössischen deutschsprachigen Historiker dieser beimaßen, bislang allerdings nicht vor.45 Gleichwohl ist es nicht die immer wiederkehrende Nennung der Namen Hume, Robertson und Gibbon in ihrer Vorbildfunktion für die deutsche Historiographie des 18. Jahrhunderts, der im Folgenden nachgegangen werden soll, als vielmehr 40

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Vgl. Manfred Kühn, Scottish Common Sense in Germany, 1768–1800. A Contribution to the History of Critical Philosophy. McGill-Queen’s 1987. Ders., The German Aufklärung and British Philosophy, in: S. Brown (Hg.): British Philosophy in the Age of Enlightenment. London 1996, S. 309–331. Reinhard Brandt / Heiner F. Klemme, David Hume in Deutschland. Literatur zu Hume-Rezeption in Marburger Bibliotheken. Marburg 1989; Heiner F. Klemme (Hg.): Reception of the Scottish Enlightenment in Germany. Six Significant Translations, 1755–1782. 7 Bde. Bristol 2000; Heiner F. Klemme / Manfred Kühn (Hg.): The Reception of British Aesthetics in Germany. Seven Significant Translations, 1745–1776. 7 Bde. Bristol 2001. Als Ausgangspunkt diente hier Kants berühmte Bemerkung: „[D]ie Erinnerung des David Hume war eben dasjenige, was mir vor vielen Jahren den dogmatischen Schlummer unterbrach, und meinen Untersuchungen im Felde der speculativen Philosophie eine ganz andre Richtung gab.“ Vgl. Immanuel Kant, Prolegomena zu jeder künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, in: Ders., Werke in sechs Bänden, hg. v. W. Weischedel. Bd. 3. Darmstadt 1998, A 3–A 222, hier A 12, 13, 14. Vgl. dazu Kap. 7.2., S. 245. Reinhard Brandt hat jüngst die oftmals unterschätzte Bedeutung David Humes für die Entstehung des deutschen Idealismus betont. Vgl. Ders., Punktlandung im Ich. Eine Reflexion zu Dieter Henrichs epochaler „Grundlegung aus dem Ich“, in: SZ Nr. 220 (22. September 2004), S. 18. Fania Oz-Salzberger, Translating the Enlightenment. Scottish Civic Discourse in Eighteenth Century Germany. Oxford 1995. Darüber hinaus hat Oz-Salzberger eine Edition von Adam Fergusons Essay on the History of Civil Society [1767] mit einem instruktiven Vorwort vorgelegt. Fania Oz-Salzberger: Introduction, in: Adam Ferguson. Essay on the History of Civil Society, (Cambridge Texts in the History of Political Thought. Cambridge 1995, S. VII– XXXV. Der Zugang erfolgte bisher über personenbezogene Einzelstudien, wie sie etwa aus einer Tagung am DHI in London 1996 hervorgingen. Vgl. Fania Oz-Salzberger, Adam Ferguson’s Histories in Germany: English Liberty, Scottish Vigour, and German Rigour, in: B. Stuchtey / P. Wende (Hg.): British and German Historiography 1750–1950. Oxford 2000, S. 49–66. Wilfried Nippel, Gibbon and German Historiography, in: Ebd., S. 67–82. Vgl. auch Johan van der Zande, August Ludwig Schlözer and the English Universal History, in: S. Berger / P. Lambert / P. Schumann, Historikerdialoge. Geschichte, Mythos und Gedächtnis im deutsch-britischen kulturellen Austausch 1750–2000. Göttingen 2003, S. 135–156.

das Phänomen der ‚Natural History of Man‘, wie sie insbesondere in der schottischen Aufklärung ausgebildet wurde.46 Da es sich bei dieser Gattung und ihren Entsprechungen im deutschsprachigen Raum um keine historiographischen Unternehmungen im modernen Sinne handelte, ist ein erweiterter Zugriff über den Metadiskurs der ‚Wissenschaft vom Menschen‘ vonnöten. Weder eine rein historiographiegeschichtliche noch philosophiehistorische Perspektive kann der inhaltlichen und formalen Komplexität von ‚Natural History‘ oder ‚Menschheitsgeschichte‘ gerecht werden. Denn die dort praktizierte Vermischung der Gegenstände (Mensch, Menschheit, Humanität) und Methoden (Induktion und Deduktion) setzt einen fächerübergreifenden Ansatz voraus, der erst durch eine Kritik am ‚disziplinlosen‘ Menschenstudium gegen Ende des 18. Jahrhunderts in einzelne Spezialfächer separiert oder gänzlich marginalisiert wurde. In dem Maße wie sich die ‚Wissenschaft vom Menschen‘ als ‚Modestudium‘ seit den 1770er Jahren in einer Vielzahl von Schriften Bahn gebrochen hatte, entstand insbesondere im deutschsprachigen Raum ein Bewusstsein für die mangelnde philosophische und materiale Bestimmung des Forschungsfeldes und damit das Bedürfnis, das experimentelle Verfahren der vielgestaltigen Menschheitsstudien methodisch und institutionell zu ‚disziplinieren‘. Die ‚Science of Man‘ hatte als loses Rahmenwerk der ‚Geschichten der Menschheit‘ aller Art gedient, die große Teile ihrer Legitimation aus dem empirischen Credo und einer Frontstellung zu den metaphysischen Grundlagen der Schulphilosophie bezogen. In Immanuel Kants (1724– 1804) Einleitung seiner Anthropologie-Vorlesung (1772/73) wird einerseits die Bedeutung der schottischen Studien für die neue Wissenschaft benannt und nichtsdestotrotz ihre fehlende Systematik beklagt: „Aber warum ist nicht aus dem großen Vorrath der Beobachtungen Englischer Verfaßer eine zusammenhängende Wißenschaft des Menschen gemacht?“47 Kant selbst fand die Antwort in einer unzulässigen methodischen Vermischung von Metaphysik und Anthropologie, also rationaler und empirischer Erkenntnis, wie sie insbesondere durch die schottischen Philosophen in Anschlag gebracht worden war. Das ursprüngliche Projekt der ‚Science of Man‘ hatte aus seiner Perspektive ausgedient und wurde durch eine präzise Aufgabenverteilung in einen empirischen und rationalen Bereich unterteilt. Kants kritisches Urteil über einen eigentlich unverzichtbaren Leumund hat nicht unmaßgeblich zur mangelnden Auseinandersetzung mit dem grundlegenden geistesgeschichtlichen Zusammenhang von schottischem und deutschem Menschheitsstudium beigetragen.

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Ein erster Vorschlag zu einer systematischen Analyse dieses Phänomens im Umfeld der kontinentalen Entwicklung wurde in der Sektion ‚Universalgeschichte in der Frühen Neuzeit‘ auf dem Historikertag in Aachen 2000 unterbreitet. Vgl. Annette Meyer, Das Projekt einer ‚Natural History of Man‘ in der schottischen Aufklärung, in: Storia della Storiografia 39 (2001), S. 93– 102. Immanuel Kant, Vorlesungen zur Anthropologie [Textzeuge Collins], in: Kant’s gesammelte Schriften, hg. v. der Berlin Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 25. Berlin 1997, S. 7.

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Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen soll mit folgender Analyse der Aufnahme des schottischen Impulses im deutschsprachigen Raum und seiner eigenständigen Fortentwicklung bis zur Wende zum 19. Jahrhundert das Bild von einem bislang wenig beachteten ‚flow of ideas‘ in der europäischen Aufklärung vervollständigt werden. Zur umfassenden Illustration der Debatte wird auf ein breites Spektrum von Schriften zurückgegriffen, wobei dennoch keine ‚diskursanalytische‘ Methode im engeren Sinne verfolgt wird.48 Hinsichtlich der Referenz zwischen Autor und Text versteht sich vorliegende Untersuchung als Beitrag zu einer kritisch revidierten ‚Ideengeschichte‘, deren methodisches Potential derzeit unter dem Eindruck der ‚Intellectual History‘ überdacht wird.49 Gleichwohl werden Anregungen einer ‚archäologischen Beschreibung‘ aufgenommen, indem der Diskurs um die ‚Wissenschaft vom Menschen‘ als loses Regelwerk verstanden wird, dessen Praktiken und Methoden sowie die Frage nach der Kontinuität beziehungsweise Diskontinuität seiner Geltung dieser Studie erst ihren Aufbau verleihen. Dieser theoretische Zugang richtet sich somit an die Geltungskraft des bewusst offen gehaltenen Projekts der ‚Science of Man‘, wie es etwa Hume konzipiert hatte, an seine praktische Umsetzung in der ‚Natural History of Man‘ verschiedener schottischer Autoren und an Modelle des deutschsprachigen Menschenstudiums. Dem Transformationsprozess der ‚Wissenschaft vom Menschen‘ wird entlang von Texten nachgegangen, die im hermeneutischen Verfahren Kongruenzen und Divergenzen mit den herrschenden Diskursen offenbaren und damit dazu dienen sollen, den oft konstatierten „Methodenwechsel“ im 18. Jahrhundert differenzierter als bislang darzustellen. Diese Absicht erscheint nicht zuletzt deshalb als Desiderat, da den „schottischen Sozialhistoriker[n]“ auch in der Literatur ein maßgeblicher Anteil am Transformationsprozess von der Universalgeschichtsschreibung zur modernen Geschichtsphilosophie zugeschrieben wird.50 Schon in der Nabelschau des sonst so aufklärungskritischen Historismus wurde einigen schottischen Beiträgen der Status einer „Vorstufe“ zum historischen Denken zugebilligt.51 Ferner führte aus marxistischer Sicht

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Etwa im Sinne von Foucaults Regeln der ‚archäologischen Beschreibung‘, deren maßgeblicher Gegensatz zur Ideengeschichte in der Negation des „schöpferischen Subjekts als raison d’être eines Werkes“ besteht. Vgl. Ders., Archäologie des Wissens, S. 199. Mit ‚Intellectual History‘ beziehe ich mich auf die theoretischen Reflexionen der ‚Cambridge School‘ um Quentin Skinner. Vgl. Günther Lottes, „The State of the Art“. Stand und Perspektiven der „intellectual history“, in: F.-L. Kroll (Hg.): Neue Wege der Ideengeschichte. Festschrift für Kurt Kluxen zum 85. Geburtstag. Paderborn u.a. 1996, S. 27–45. Vgl. auch Eckhart Hellmuth, Christoph von Ehrenstein, Diskussionsforum. Intellectual History Made in Britain: Die Cambridge School und ihre Kritiker, in: GG 27 (2001), S. 149–172. Vgl. Reinhart Koselleck, Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historischanthropologische Skizze, in: C. Meier / J. Rüsen (Hg.): Historische Methode. München 1988, S. 13–61, hier S. 57. Zuletzt auch Johannes Rohbeck, Technik – Kultur – Geschichte. Zur Rehabilitierung der Geschichtsphilosophie. Franfurt a. M. 2000, S. 36. Zu den Keimen der Aufklärung, „die als Romantik, als Irrationalismus und Historismus im 19. Jahrhundert aufgingen“, zählt Friedrich Meinecke die Schriften Adam Fergusons. Vgl. Ders., Werke. Bd. 3: Die Entstehung des Historismus, hg. v. C. Hinrichs. München 1959, S. 243f.

die schottische Entdeckung von Eigentum und Arbeit als Kategorien gesellschaftlicher Fortentwicklung dazu, diese als Ausdruck einer proto-materialistischen Geschichtsauffassung zu interpretieren52 – ein Umstand, zu dem Karl Marx’ Rückgriff auf diese Pionierleistung im Kapital nicht unwesentlich beigetragen hat.53 Ein weiterer wichtiger Ansatz sieht die schottische Aufklärung in einer Kontinuitätslinie mit dem politischen und historischen Denken der Naturrechtstradition, was insofern erstaunt, als die dezidierte Abgrenzung von dieser Tradition und insbesondere von der Annahme eines statischen Naturzustandes der Ausgangspunkt aller ‚Natural Histories of Man‘ bildet.54 Anhänger dieses Ansatzes kommen, trotz verschiedener Modifikationen, zu dem Ergebnis, dass die ‚Geschichte‘ den schottischen Philosophen lediglich als Instrument gedient habe, das Bürgertugendideal in der ‚Commercial Society‘ zu exemplifizieren.55 Nimmt man indessen den Abgrenzungsgestus der Schotten von naturrechtlichen Konstruktionen ernst, kann man den Verdienst ihrer Naturgeschichten wiederum in einer „Historisierung des Naturzustandes“ sehen.56 Die von Hans Medick vorgelegte, bislang detaillierteste Reflexion der schottischen Naturgeschichtsschreibung geht nicht nur über diese Feststellung einer Kontinuität hinaus, sondern erkennt weiterhin bereits in der Geschichtsauffassung der Naturrechtstheoretiker selbst die „entscheidende Vorform“ für die Geschichtsphilosophie der Aufklärung.57 Problematisch scheint an dieser

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Verwiesen sei hier auf die ideengeschichtlich nach wie vor wichtigen Arbeiten von Ronald L. Meek, Smith, Turgot, and the ‚Four Stages Theory‘, in: Ders., Smith, Marx, and After. Ten Essays in the Development of Economic Thought. London 1977, S. 18–32. Marx zitierte die schottischen Gelehrten nicht im Zusammenhang mit seinen geschichtsphilosophischen Überlegungen. Abgesehen von Adam Smiths vielfach bezeugter Patenschaft für das Kapital interessierte Marx vor allem die ‚Entfremdungstheorie‘ Adam Fergusons, den er fälschlich als Lehrer Adam Smiths bezeichnete. Vgl. Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie [Bd. 1, 1867] in: Marx Engels Werkausgabe. Bd. 23. Berlin 11. Aufl. 1962, S. 137, 375, 382ff. Als Urheber dieser Tradition kann John G. A. Pocock gelten, der den ‚civic humanism‘ der schottischen Aufklärung als Weiterführung und Umformung einer Tradition deutet, deren Wurzeln er im staatsbürgerlichen Humanismus der Renaissance ausmacht. Vgl. Ders., The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition. Princeton 1975. Hans Medick hat wiederholt auf die Probleme dieser Interpretation hingewiesen, die dem schottischen Modell nicht gerecht werde. Vgl. etwa Zwi Batscha, Hans Medick, Einleitung, in: Adam Ferguson, Versuch über der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft (1767). Frankfurt/M. 1988, S. 7–93, hier S. 13f. Ein eigenständiger Wissenschaftsanspruch der ‚Natural Histories‘ wird jedoch nicht in Betracht gezogen. Vgl. Nicholas Phillipson, The Scottish Enlightenment, in: Roy Porter / Mikuláš Teich (Hg.): The Enlightenment in National Context. Cambridge 1981, S. 19–40, hier S. 40. Zu einem in der Substanz ähnlichen Ergebnis kommt auch die differenzierte Analyse von Knud Haakonssen, The Science of the Legislator. The Natural Jurisprudence of David Hume und Adam Smith. Cambridge 1981, S. 36ff. In diesem Sinne etwa Manfred Riedel, Gesellschaft, bürgerliche, in: O. Brunner / W. Conze / R. Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 2. Stuttgart 1975, S. 719–800, hier 784. Hans Medick, Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Die Ursprünge der bürgerlichen Sozialtheorie als Geschichtsphilosophie bei Samuel Pufendorf, John Locke and Adam Smith. Göttingen ²1981, S. 24.

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Interpretation sowohl die Feststellung einer ‚Geschichtsphilosophie‘ in der Naturrechtstradition als auch die Verlängerung dieser Diagnose in die schottische Aufklärung. Zudem basiert letztere hauptsächlich auf theoretischen Synthetisierungen einer späteren Generation schottischer Gelehrter und ihrer irreführenden Etikettierung der Methode als ‚Conjectural History‘.58 Desgleichen wurde im Zuge der Rehabilitierung der Aufklärungshistorie in den 1990er Jahren die „historisch orientierte Fortschrittstheorie“ der „englisch-schottischen Aufklärungsbewegung“ zur Grundlage der modernen Geschichtsphilosophie erklärt. Damit sprach man dieser auch im Hinblick auf methodische Fragen einen maßgeblichen Anteil am kontinuierlichen ‚Verwissenschaftlichungsprozess‘ der modernen Geschichtsschreibung zu.59 Die schottische Aufklärung jedoch unter den Auspizien von Methodisierung, Professionalisierung und Institutionalisierung einer entstehenden ‚Geschichtswissenschaft‘ zu betrachten, entspricht ebenso wenig der Methode wie dem Personal der schottischen ‚Natural History of Man‘. Nur ein einziger der im vorliegenden Kontext herangezogenen Autoren war von Hause aus Historiker: William Robertson (1721–1793), Kronhistoriker und Rektor der Universität von Edinburgh, der stets eine gewisse Distanz zu den anthropologischen Unternehmungen seiner Kollegen wahrte und seine eigene Zivilisationstheorie im Vorwort einer Lebensbetrachtung Karls V. verbarg.60 Auffallend ist an der Forschungslage zur Historiographie in der schottischen Aufklärung, dass besonders deutsche Historiker Interesse an diesem Gegenstand gefunden haben. Das mag zum einen damit zusammenhängen, dass Geschichtsschreibung im angelsächsischen Wissenschaftskontext nicht als ‚science‘ im modernen Sinne angesehen wird und sie damit nur wenig Aufmerksamkeit der ‚Wissenschaftsgeschichte‘ erfahren hat.61 Zum anderen gelten ‚Geschichtsphilosophie‘ und der ‚Historismus‘ als kontinentale Importe, die scheinbar auf keiner eigenen 58

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Medick orientiert sich vor allem an den Interpretationen von Dugald Stewart (1753–1828), dem Erbwalter der ersten Generation schottischer Aufklärer. Vgl. Ders., Naturzustand und Naturgeschichte, S. 145ff. Dugald Stewart charakterisierte die Naturgeschichten seiner Lehrergeneration als „Theoretical or Conjectural History“. Vgl. Ders., An Account of the Life and Writings of the Author, in: Adam Smith, Essays on Philosophical Subjects. Basil 1799, S. I–CXVIII, hier S. XLVII. Vgl. Friedrich Jäger, Jörn Rüsen, Geschichte des Historismus. Eine Einführung. München 1992, S. 12ff. Vgl. William Robertson, The History of the Reign of the Emperor Charles V. with A View of the Progress of Society in Europe, from the Subversion of the Roman Empire, to the Beginning of the Sixteenth Century. 4 Bde. London / Edinburgh neue Aufl. 1774. Vgl. dazu Kap. 5.2. Georg G. Iggers, der dem Konzept der ‚Verwissenschaftlichung‘ skeptisch gegenübersteht, da seiner Ansicht nach die Grenzen von ‚Vorwissenschaftlichkeit‘ und ‚Wissenschaftlichkeit‘ fließend seien, hat auf den wichtigen Punkt aufmerksam gemacht, dass im Englischen der Begriff ‚Geschichtswissenschaft‘ bewusst zugunsten von „historical studies“ und „historical scholarship“ vermieden würde. Vgl. Ders., Ist es in der Tat in Deutschland früher zur Verwissenschaftlichung der Geschichte gekommen als in anderen Ländern?, in: W. Küttler / J. Rüsen / E. Schulin (Hg.): Geschichtsdiskurs. 4 Bde. Frankfurt/M. 1993–1997, hier Bd. 2: Anfänge modernen hostorischen Denkens, Frankfurt/M. 1994, S. 73–86, hier S. 75.

Traditionsbildung basierten und bewusst nach England transferiert wurden.62 Durch die Konzentration auf die Geschichte als rhetorisches Arsenal in den politischen und ästhetischen Debatten der angelsächsischen Historiographiegeschichte besteht die Tendenz, den wissenschaftlichen Anspruch der ‚Natural History of Man‘ in der schottischen Aufklärung zu übersehen oder sogar zu negieren.63 Gleichzeitig stellt sich auch die Frage, ob mit einer Übertragung der deutschen Entwicklung der angemessene Rahmen für die Beschreibung der schottischen Naturhistorien gefunden wurde.64 Die Betrachtung standardisierter Hauptlinien der Geistesgeschichte – die Entstehung von Geschichtsphilosophie beziehungsweise der Geschichtswissenschaft – im ausgehenden 18. Jahrhundert hat vielmehr dazu beigetragen, die Bedeutung und auch die Kontinuitäten der Nebenlinien zu übersehen. Dieses Problem betrifft in keiner Weise nur die Interpretation der schottischen Menschheitsstudien, sondern durch die Verengung des Blicks werden auch die deutschsprachigen Alternativmodelle zugunsten von ideengeschichtlichen ‚Königswegen‘ ausgeblendet.65 Diesem Missstand soll mit vorliegender Studie entgegengetreten werden, indem die genaue Analyse der Besonderheiten des schottischen Modells dabei helfen soll, ein klareres Licht auf seine deutsche Entsprechung zu werfen und damit einen marginalisierten Textbestand in den Vordergrund zu rücken.66 Gemeint ist die Fülle der ‚Menschheitsgeschichten‘ in der deutschen 62

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Vgl. Jürgen Osterhammel, Epochen der britischen Geschichtsschreibung, in: Küttler / Rüsen / Schulin (Hg.): Geschichtsdiskurs. Bd. 1: Grundlagen und Methoden der Historiographiegeschichte, Frankfurt/M. 1993, S. 157–188, hier S. 173f. Eine der wenigen englischsprachigen Monographien zur Geschichtsschreibung in der schottischen Aufklärung erklärt die Zäsur durch die ‚Science of Man‘ Mitte des 18. Jahrhunderts zum Mythos. David Allan sieht die Herausbildung eines historischen Ansatzes, den er in der Tradition frühneuzeitlicher Gelehrsamkeit und nicht in der einer entstehenden Wissenschaftlichkeit verstanden wissen will, bereits in der Frühphase der schottischen Aufklärung. Vgl. Ders., Virtue, Learning and the Scottish Enlightenment. Ideas of Scholarship in Early Modern History. Edinburgh 1993, S. 7ff. In diesem Zusammenhang erscheint es als zumindest problematisch, die lineare Betrachtung des ‚Verwissenschaftlichungsprozesses‘ der deutschen Geschichtsschreibung auf Großbritannien zurückzuprojizieren: „Eigentümlicherweise mündet die Verwissenschaftlichung, Verfachlichung und Historisierung naturrechtlicher Theorietraditionen im Kontext der englisch-schottischen Aufklärung jedoch kaum in einer eigenständigen und institutionalisierten Geschichtswissenschaft.“ Jäger, Rüsen, Geschichte des Historismus, S. 14. Besonders unnachgiebig wurde im frühen 20. Jahrhundert über den deutschen Beitrag zur ‚Wissenschaft vom Menschen‘ geurteilt, der als „interessantes Phänomen eines unhistorischen Zeitalters“ bezeichnet wurde. Vgl. Felix Günther, Die Wissenschaft vom Menschen. Ein Beitrag zum deutschen Geistesleben im Zeitalter des Rationalismus mit besonderer Rücksicht auf die Entwicklung der deutschen Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts. Gotha 1907, S. 10. Entsprechend wurde auch auf die Phase der „geschichtsphilosophische[n] Vulgata“ bei der Entstehung der Geisteswissenschaften verwiesen. Vgl. Erich Rothacker, Logik und Systematik der Geisteswissenschaften. Bonn 1947, S. 5. Johannes Rohbeck hat jüngst ein überzeugendes Plädoyer für eine Geschichte der ‚Modelle‘ in der Transferforschung gehalten: „Die erzeugte Ähnlichkeit ist also weder in der alltäglichen Lebenserfahrung noch in der viel weniger erfahrbaren Universalgeschichte auffindbar, sondern resultiert allein aus dem wechselseitigen Transfer. Von Modellen zu sprechen, scheint mir hier deshalb sinnvoll zu sein, weil die Übertragung diskursiv geregelt ist und weil das Übertragene

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Spätaufklärung, von denen eine Vielzahl dem Autorenkreis der so genannten Popularphilosophie zugerechnet werden kann. Trotz erfolgreicher Bemühungen in der jüngeren Forschungsliteratur, die stigmatisierende Bezeichnung zu neutralisieren und die Meriten dieser Philosophengruppe für die Aufklärung herauszustellen,67 wurde die popularphilosophische Geschichtsschreibung nicht eigens in den Kanon wissenschaftlicher Leistungen aufgenommen. Aus der hier eingenommenen Perspektive gewinnt die Popularphilosophie nicht aus ihrer Entgegensetzung zur kritischen Philosophie an Kontur,68 sondern durch den Impuls, den sie durch die schottische Aufklärung erhalten hatte und der sich in Übersetzungen, Kommentierungen und eigenen methodischen Anstrengungen zu einer ‚Wissenschaft vom Menschen‘ entlud.69 Betrachtet man die historisch-philosophischen Arbeiten dieser Gruppe, die oft unter dem Eindruck der ‚Natural History of Man‘ entstanden, offenbart sich ein ‚dritter Weg‘ in der deutschen Aufklärungslandschaft, der im Hinblick auf seinen historiographischen Anteil noch kaum die Aufmerksamkeit der Forschung erfahren hat.70 Die Historiographiegeschichte hat sich zumeist auf die menschheitsgeschichtlichen Studien der ‚großen Denker‘ der Aufklärung beschränkt. Zu nennen sind hier allen voran Lessing, Kant, Herder und Schiller, deren universalgeschichtliche Entwürfe allerdings selten im größeren Kontext des zeitgenössischen Diskurses, als vielmehr wiederum innerhalb des jeweiligen Gesamtwerks verortet wurden.71 Es ist insbesondere das Verdienst von Helmut Zedelmaier und Jörn Garber, strukturelle

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bzw. das dabei entstandene Schema eine fixe Struktur erhalten hat.“ Vgl. Ders., Historisierung des Menschen. Zum Verhältnis von Naturgeschichte und Geschichtsphilosophie, in: W. Schmitz / C. Zelle (Hg.): Innovation und Transfer. Naturwissenschaften, Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Dresden 2004, S. 121–130, hier S. 123. Hervorzuheben ist hier nach wie vor der Sammelband der Philosophen Helmut Holzhey / Walther Ch. Zimmerli (Hg.): Esoterik und Exoterik der Philosophie. Beiträge zu Geschichte und Sinn philosophischer Selbstbestimmung. Basel / Stuttgart 1977. Doris Bachmann-Medick macht auf die grundlegende Bedeutung der schottischen Schriften für die Ausbildung der popularphilosophischen Ethik aufmerksam. Vgl. Dies., Die ästhetische Ordnung des Handelns. Moralphilosophie und Ästhetik in der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1989. Dieser Antagonismus wird in den Mittelpunkt einer neueren Analyse gestellt. Vgl. Christoph Böhr, Philosophie für die Welt. Die deutsche Popularphilosophie der deutschen Spätaufklärung im Zeitalter Kants. Stuttgart-Bad Cannstatt 2003. Die Orientierung an „ausländischen Vorbildern“ war neben der „Vernachlässigung von Logik und Metaphysik“ ein Aspekt zur Diskreditierung der ‚Popularphilosophie‘ und gilt heute als konstitutiv für die schwierige Aufgabe ihrer Definition. Vgl. Helmut Holzhey, Art. ‚Popularphilosophie‘, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 7. Basel 1989, Sp. 1093– 1100, hier Sp. 1094. Einen ersten Ansatz bietet Johan van der Zande, Popular Philosophy and the History of Mankind in Eighteenth-Century Germany, in: Storia della Storiografia 22 (1992), S. 37–56. Eine Ausnahme bildet hier die Kölner Dissertation von Thomas Prüfer, der Friedrich Schillers universalhistorischer Konzeption durch die Einbettung in den zeitgenössischen Diskurs um Anthropologie und Geschichte schärfere Konturen verleiht. Vgl. Ders., Die Bildung der Geschichte. Friedrich Schiller und die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft. Köln / Weimar / Wien 2002.

Analysen der Gattung ‚Menschheitsgeschichte‘ vorgelegt zu haben.72 Während Zedelmaier die Ablösung von Sinnstiftungssystemen und damit den Wandel ihrer jeweiligen philosophischen Verankerung zum Ausgangspunkt seiner Untersuchungen macht,73 ist es bei Garber die Veränderung der erkenntnistheoretischen Grundlage selbst, die ein neues historiographisches System zutage förderte.74 Für Zedelmaier „eroberten Philosophen mit einer neuen anthropologisch fundierten ‚Geschichte der Menschheit‘ die Totalität der Geschichte“, wodurch auch er die menschheitsgeschichtlichen Entwürfe auf den Fluchtpunkt ‚Geschichtsphilosophie‘ hin ausrichtet.75 Garber hingegen will den Zusammenhang von ‚Menschheitsgeschichte‘ und ‚Naturgeschichte‘ nicht zugunsten einer natur- oder geisteswissenschaftlichen Lesart auflösen und betrachtet die Analyse ihrer Verbindung aus „Anthropologie und Historie“ als offenes Forschungsdesiderat.76 Diesem Desiderat soll in vorliegender Studie dadurch entsprochen werden, dass mit der schottischen ‚Natural History‘ und der deutschen ‚Menschheitsgeschichte‘ zwei Phänomene in einen gemeinsamen Focus rücken, die in ihrem jeweiligen Wissenschaftskontext als Produkte einer natur- beziehungsweise geisteswissenschaftlichen Denktradition angesehen werden.77 Die Untersuchung der methodischen und theoretischen Praktiken beider Gattungen soll dazu dienen, ein von den später differierenden Entwicklungen unabhängiges Profil entwerfen zu können. Dabei wird die Frage aufgeworfen, ob die ‚Naturgeschichten der Menschheit‘ in der schottischen und deutschen Aufklärung nicht nur ein vergleichbares theoretisches Instrumentarium, sondern auch eine spezifische narrative Umsetzung ausbildeten, die man übergreifend als ‚pragmatische Historie‘ charakterisieren könnte. Mit dieser Bezeichnung würde ein bislang wenig beachteter Begriff der Zeit aufgenom72

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Vgl. Helmut Zedelmaier, Zur Idee einer „Geschichte der Menschheit“ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Eine Skizze, in: W. Müller / W. J. Smolka / Ders. (Hg.): Universität und Bildung. München 1991, S. 277–299. Jörn Garber, Von der Menschheitsgeschichte zur Kulturgeschichte. Zum geschichtstheoretischen Kulturbegriff der deutschen Spätaufklärung, in: Ders., Spätabsolutismus und bürgerliche Gesellschaft. Studien zur deutschen Staats- und Gesellschaftstheorie im Übergang zur Moderne. Frankfurt/M. 1992, S. 409–433. Zedelmaiers Ansatz ist in dieser Hinsicht an den Forschungen seines früh verstorbenen Lehrers Arno Seifert geschult. Vgl. Helmut Zedelmaier, Die Marginalisierung der Historia Sacra in der Frühen Neuzeit, in: Storia della Storiografia 35 (1999), S. 15–26. Garber spricht von „epistemologische[n] Verbundsystemen“, die zur Grundlage der Erforschung der Spätaufklärung gemacht werden sollen. Vgl. Ders., Selbstreferenz und Objektivität: Organisationsmodelle von Menschheits- und Weltgeschichte in der deutschen Spätaufklärung, in: H. E. Bödeker / P. H. Reill / J. Schlumbohm (Hg.): Wissenschaft als kulturelle Praxis 1750– 1900. Göttingen 1999, S. 137–185, hier S. 139. Vgl. Helmut Zedelmaier, Der Beginn der Geschichte. Überlegungen zur Auflösung des alteuropäischen Modells der Universalgeschichte, in: Storia della Storiografia 39 (2001), S. 87–92, hier S. 91. Vgl. Garber, Selbstreferenz und Objektivität, S. 139. Die Notwendigkeit der Synthese dieser beiden Richtungen im Verhältnis von ‚science‘ und ‚history‘ hat Peter Hanns Reill in seinen vielen Beiträgen zum Verständnis der ‚Naturgeschichte‘ immer wieder hervorgehoben. Vgl. Ders., Vitalizing Nature in the Enlightenment. Berkeley / Los Angeles / London 2005, S. 2.

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men,78 der im deutschen Sprachraum tatsächlich Anwendung für die philosophische Geschichte der Menschheit fand und in seiner Bedeutung auf den angelsächsischen Kontext übertragbar ist, wo das Wort ‚pragmatic‘ im 18. Jahrhundert noch nicht gebräuchlich war.79 Darüber hinaus erlaubt der philosophiegeschichtliche terminus technicus ‚Pragmatismus‘ bereits einen Ausblick auf den weiteren Austausch beider Länder hinsichtlich der ‚Wissenschaft vom Menschen‘ im 19. Jahrhundert, durch den wiederum Rückschlüsse auf die nunmehr veränderten Wissenschaftsauffassungen möglich werden.80 Es wird einer abschließenden Reflexion meiner Untersuchung vorbehalten sein, zu erwägen, ob die ‚Wissenschaft vom Menschen‘ im ausgehenden 18. Jahrhundert Modelle zeitigte, die in ihren Antworten Parallelitäten zu heutigen Problemstellungen an die ‚Humanwissenschaften‘ aufweisen und damit Anknüpfungspunkte für aktuelle Methodendebatten bieten.81 Den Ausgangspunkt dieser Arbeit bildet eine systematische Untersuchung der Konzepte von ‚science‘ und ‚Wissenschaft‘ im 18. Jahrhundert, die das Fundament für den Vergleich der erkenntnistheoretischen Vorgaben beider Formen des ‚wissenschaftlichen‘ Menschenstudiums darstellt.82 Den theoretischen Bedingungen der

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Mit der Frage nach der Bedeutung der ‚pragmatischen Historie‘ für die Entstehung einer wissenschaftlichen Geschichtsforschung folge ich den Überlegungen von Horst Dreitzel, Die Entwicklung der Historie zur Wissenschaft, in: ZhF 8 (1981), S. 257–284, hier S. 266. Vgl. dazu die begriffsgeschichtliche Analyse von Gudrun Kühne-Bertram: „Im Rahmen der philosophischen Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts findet der Begriff ‚pragmatisch‘ besonders in zwei Wissenschaftsbereichen Anwendung: 1. in Anthropologie, Ethik und Psychologie und 2. in der Philosophie der Geschichte und der Geschichtsschreibung. Folgende Grundbedeutungen lassen sich im Begriff ‚pragmatisch‘ unterscheiden: 1. konkret / lebensweltlich ausgerichtet / belehrend, 2. praktisch / anwendungsbezogen / zweckorientiert, 3. kausal erklärend / auf Motive zurückführend, 4. Zusammenhänge aufdeckend und entwickelnd.“ Vgl. Dies., Aspekte der Geschichte und der Bedeutungen des Begriffs „pragmatisch“ in den philosophischen Wissenschaften des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts, in: Archiv für Begriffsgeschichte 27 (1983), S. 158–168, hier S. 161. Etwa in der Entgegensetzung von ‚Pragmatismus‘ und ‚Historismus‘, die Stefan Jordan als charakteristisch für die Selbstlegitimierung der Geschichtsauffassung im 19. Jahrhundert in Deutschland identifiziert. Vgl. Ders., Geschichtstheorie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Schwellenzeit zwischen Pragmatismus und Klassischem Historismus. Frankfurt a.M. / New York 1999, S. 56ff. Ein ähnliches erkenntnisleitendes Interesse verfolgt auch John H. Zammito, der die Ansätze der Popularphilosophie als ernstzunehmende Alternativen zur kritischen Philosophie im 18. Jahrhundert verstanden wissen will und diesen durchaus theoretische Bedeutung für zeitgenössische Herausforderungen an die Wissenschaft zumisst. Vgl. Ders., Kant, Herder, and the Birth of Anthropology. Chicago / London 2002, S. 8ff. Es ist dem Rahmen dieser Arbeit und der vergleichsweise guten Literaturlage geschuldet, dass Bezüge zur französischen ‚science de l’homme‘ nur am Rande berührt werden können. Als maßgebend kann hier immer noch Sergio Moravias Untersuchung gelten, die sich der ‚Wissenschaft vom Menschen‘ in Frankreich sowohl aus philosophischer als auch aus institutionsgeschichtlicher Perspektive zuwendet, indem Programm und Wirksamkeit der Pariser Société des Observateurs de l’homme untersucht werden. Vgl. Ders., Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie in der Aufklärung. Frankfurt/M. 1989, (La Scienza dell’Uomo nel Settecento, 1970). Einen unverzichtbaren Überblick bietet weiterhin Georges Gusdorf, Les sciences

‚Science of Man‘ und der ‚Wissenschaft vom Menschen‘ wird auf Grundlage der zeitgenössischen Lexika nachgegangen, deren definitorische Bemühungen vor dem Hintergrund der philosophischen Debatten um die inhaltlichen und formalen Bestimmungen dessen, was ‚science‘ beziehungsweise ‚Wissenschaft‘ umfasst, erläutert werden. Entsprechend dieser Vorgaben wird es in einer Zusammenschau des Gebrauchs beider Begriffe darum gehen, die Gemeinsamkeiten und Differenzen der Konzepte herauszuarbeiten. Die Phase einer epistemologischen Umbruchssituation, die beide Wissenschaftssphären im Hinblick auf die sukzessive Öffnung zur erfahrungsgeleiteten Erkenntnis charakterisiert, wird von einer Betrachtung der gesellschaftlichen und praktischen Konsequenzen dieses Wandels begleitet. Der grundlegenden Bedeutung der ‚Wissenschaft vom Menschen‘ für die ‚Revolutionierung der Denkart‘ ebenso wie für den Strukturwandel der vormals hermetischen Gelehrtengesellschaft soll durch eine dichte Beschreibung dieses Diffusionsvorgangs von ‚Wissenschaft‘ und ‚Gesellschaft‘ Rechnung getragen werden. Als Schauplätze dieses Geschehens werden Akademien, Sozietäten und Vergesellschaftungsformen herangezogen. Den Universitäten wird besondere Aufmerksamkeit geschenkt, da sie nicht nur oftmals für besagten Vorgang – besonders auf den britischen Inseln – unterschätzt wurden, sondern auch weil in Schottland und bestimmten deutschen Regionen Reformuniversitäten neuen Typs entstanden, die sowohl den praktischen als auch den theoretischen Anforderungen der neuen ‚Wissenschaft vom Menschen‘ zu begegnen suchten (Teil A). Erst vor diesem Hintergrund konzeptueller und institutioneller Bedingungen ist es möglich, sich der eigentlichen Ausarbeitung der ‚Science of Man‘ in Schottland zuzuwenden, als deren ‚spiritus rector‘ David Hume gelten kann. Eine genaue Analyse der philosophischen Grundlegung der ‚Science of Man‘ durch den ‚Newton of the Mind‘ bildet die theoretische Ausgangslage für eine Synopse der verschiedenen Formen der ‚Natural History of Man‘. Die Betrachtung beschränkt sich folglich nicht auf die ‚großen Namen‘ der schottischen Aufklärung, wie Adam Ferguson (1723–1816), Adam Smith (1723–1790) oder John Millar (1735–1801), sondern schließt unterschiedliche Naturhistorien mit ein,83 die im Rahmen dieser Arbeit erstmals systematisch auf ihre theoretischen Vorgaben, Methoden und ihre empirische Basis hin untersucht werden. Der heuristische Zugriff über die ‚Naturgeschichte der Menschheit‘ bietet zudem die Möglichkeit Autoren heranzuziehen, die nicht im engeren Sinne zum akademischen Gelehrtenzirkel der schottischen

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humaines et la conscience occidentale, Bd. 6: L’avènement des sciences humaines au siècle des lumières. Paris 1973. David Allan hat die Konzentration auf einen kleinen Philosophenkreis als ‚reductio ad absurdum‘ scharf kritisiert. Vgl. Ders., Virtue, Learning and the Scottish Enlightenment. Edinburgh 1993, S. 3. Neben den besagten Autoren, wurden Texte von John Adams, James Anderson, James Burnett / Lord Monboddo, James Dunbar, Lord Kames, David Fordyce, John Gregory, James Hutton, John Logan, William Robertson, William Russell, Gilbert Stuart, William Smellie, Dugald Stewart und Alxander Fraser Tytler / Lord Woodhouselee bearbeitet.

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Aufklärung gehörten und dennoch den Diskurs um die ‚Wissenschaft vom Menschen‘ fundamental prägten, wie etwa den Verleger William Smellie (1740?–1795) mit seinem ehrgeizigen Projekt der Encyclopaedia Britannica (1768–1771). Die Archivlage in Edinburgh ermöglichte überdies, die kanonischen Texte der Klassiker zu erweitern, was in der Hauptsache Adam Fergusons ‚Unpublished Essays‘ betrifft. Dieser umfangreiche Bestand erlaubte tatsächlich erst eine genauere Rekonstruktion des Verhältnisses von ‚science‘ und ‚history‘ in seinem Werk.84 Des Weiteren ist es zur Verortung der schottischen Arbeiten in ihrem wissenschaftsgeschichtlichen Horizont unabdingbar – vor allem was die anthropologischen Annahmen anbelangt – die französischen Beiträge zur ‚science de l’homme‘ mitzuberücksichtigen.85 Als maßgebend können hier Montesquieus L’esprit des lois (1748), Buffons Histoire naturelle (1749ff.) und insbesondere Rousseaus Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (1755) gelten. Die Aufgliederung der schottischen Naturgeschichten nach ihrem theoretischen Ferment, ihrem methodischen Instrumentarium und schließlich ihren verwendeten Quellen bietet die Grundlage dafür, eine bislang unbeachtet gebliebene Entwicklung des Menschenstudiums innerhalb der schottischen Aufklärungsphilosophie herauszuarbeiten und nuanciert darzustellen (Teil B). Erst durch eine solcherart gewonnene Zwischenbilanz ist es möglich, dem Transfer dieses Modells in die deutschsprachige Spätaufklärung nachzugehen. Dabei sollen nicht einzelne Rezeptionslinien nachgezeichnet, sondern das Augenmerk auf einen Raum gerichtet werden, der unter dem schottischen Impuls erschlossen wurde und eine zunehmend eigenständige Ausgestaltung erfuhr. Um diesen Prozess illustrieren zu können, werden zunächst die formalen und materialen Voraussetzungen des Transfers dargestellt: sowohl die langsam einsetzende Wahrnehmung englischsprachiger Literatur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als auch das Interesse an schottischer Philosophie insbesondere. Anhand der von namhaften Gelehrten verfertigten Übersetzungen wird dabei deutlich, dass es sich nicht um einen unreflektierten Import von Schriften handelte, sondern dass diese als Vehikel eigener Überzeugungen in einem zensurgefährdeten Kontext genutzt werden konnten. Eine detaillierte Untersuchung des Transfers der ‚Natural Histories of Mankind‘ zeigt, dass zahlreiche Übersetzer und Kommentatoren ihre Tätigkeit zum Anlass für selbstständige Beiträge zur Debatte um Mensch und Menschheit nahmen. Durch die Rekonstruktion dieses Zusammenhangs können Autoren hervorgehoben werden, die bislang kaum das Interesse der Forschung 84 85

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Adam Ferguson, Unpublished Essays, MS. Dc. 1. 42 **, (Edinburgh University Library), [pp. 114]. Gleiches gilt für die Debatte um den Menschen in der englischen Aufklärung, deren Bedeutung lange auf die wissenschaftsgeschichtlichen Leistungen des 17. Jahrhunderts reduziert wurde und erst in neuerer Zeit eine systematische Darstellung erfuhr. Vgl. Roy Porter, The Creation of the Modern World. The Untold Story of the British Enlightenment. New York / London 2000, S. 156ff.

gefunden haben und noch seltener im Lichte ihrer menschheitsgeschichtlichen Schriften betrachtet wurden, obwohl sie im zeitgenössischen Diskurs zentrale Positionen vertraten. Auf diesem Wege werden Beiträge von Carl Friedrich Flögel (1729–1788), Eberhard August Wilhelm von Zimmermann (1743–1815), Julius August Remer (1738?–1803), Christian Daniel Beck (1757–1832) oder Daniel Jenisch (1762–1804?) herangezogen. Vor dem Hintergrund der rasch anwachsenden Anzahl von Menschenstudien seit den 1770er Jahren entstand die Frage nach dem systematischen Ort dieses ‚Genres‘ innerhalb der Wissenschaften und der adäquaten Methode seiner Bearbeitung. Dieser Frage, was unter der ‚Geschichte der Menschheit‘ eigentlich zu verstehen sei, ob sie der ‚Wissenschaft vom Menschen‘, der Philosophie oder der Geschichtsschreibung zuzuordnen ist, wird anhand der zeitgenössischen ‚Enzyklopädien‘ oder Lehrbüchern zur Wissenschaftskunde nachgegangen.86 Die Unterschiede in den Auffassungen über Aufgaben und Methoden des Menschenstudiums sollen dazu dienen, Orientierungspunkte in diesem unübersichtlichen und hart umkämpften Feld auszumachen und zu zeigen, dass die Varianz der Modelle sehr viel breiter war, als es aus der Perspektive der traditionellen Philosophie- und Historiographiegeschichte erscheinen mag. Auf der Basis dieser Überlegungen wird abschließend ein Vorschlag zu einer Typenbildung des Menschenstudiums unter dem Eindruck des schottischen Impulses in der deutschen Popularphilosophie unterbreitet. Diese Systematik soll dazu beitragen, verschiedene Ansätze der ‚Naturgeschichte des Menschen‘ (Isaak Iselin, Georg Forster), ‚Anthropologie‘ (Ernst Platner, Nikolaus Tetens), ‚Kulturgeschichte‘ (Karl Franz von Irwing) und ‚Philosophischen Geschichte der Menschheit‘ (Daniel Jenisch) als Varianten eines eigenständigen Weges – jenseits der Entwicklung zu Geschichtsphilosophie und Geschichtswissenschaft – im Feld der ‚Wissenschaft vom Menschen‘ in der Spätaufklärung zu betrachten (Teil C).

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Bearbeitet wurden für vorliegende Studie Johann Georg Sulzers Kurzer Begriff aller Wissenschaften und anderer Theile der Gelehrsamkeit (1745), Johann August Heinrich Ulrichs Erster Umriß einer Anleitung zu den philosophischen Wissenschaften (1772), Johann Georg Büschs Encyclopädie der historischen, philosophischen und mathematischen Wissenschaften (1775), Michael Hißmanns Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur in allen Theilen der Philosophie (1778), Christian Daniel Becks Anleitung zur genauern Kenntniß der allgemeinen Welt- und Völkergeschichte (1787), Christian Jakob Kraus’ Encyklopädische Ansichten der historischen Gelehrsamkeit (1789), Johann Joachim Eschenburgs Lehrbuch der Wissenschaftskunde (1792), Wilhelm Traugott Krugs Ueber den Zusammenhang der Wissenschaften unter sich und mit den höchsten Zwecken der Vernunft. Eine Vorlesung gehalten beym Anfange eines enzyklopädischen Kollegiums (1795), Johann Christian Lossius Neues philosophisches allgemeines Real-Lexikon oder Wörterbuch der gesammten philosophischen Wissenschaften (1803), Christian Jakob Kraus’ Encyklopädische Ansichten einiger Zweige der Gelehrsamkeit (1809) und Friedrich August Carus’ Ideen zur Geschichte der Menschheit (1809).

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2. Die Wissenschaft vom Menschen

Eine systematische Annäherung an die Projekte der ‚Science of Man‘ und der ‚Wissenschaft vom Menschen‘ in der schottischen und deutschen Aufklärung macht eine Betrachtung der Gemeinsamkeiten und Differenzen der Wissenschaftsbegriffe beider Kontexte erforderlich. Dabei ist auffällig, dass es trotz des wachsenden Interesses an Wissenschaftsgeschichte gerade in der internationalen Debatte an einer Verständigung, was unter ‚Wissenschaft‘ in den verschiedenen nationalen Kontexten zu verstehen sei, mangelt.1 Häufig wurden vorwiegend die unterscheidenden Merkmale beider Wissenschaftssphären, besonders was den vermeintlichen deutschen ‚Sonderweg‘ in der Ausbildung von ‚Geisteswissenschaften‘ anbelangt, betont.2 Dieser spezifisch deutschen Variante des Menschenstudiums wurde eine stärker naturwissenschaftliche Orientierung der ‚Humanwissenschaften‘ im angelsächsischen Raum gegenübergestellt. Neuerdings wird in der Literatur jedoch vermehrt auf das Problem der fehlenden Grundlagen einer systematisierenden Betrachtung der Wissenschaften in der Aufklärungsepoche hingewiesen. Solange der Diskurs durch einen wissenschaftshistorischen „Limes“ getrennt ist, „der die Forschungslandschaften teilt und voneinander absondert“,3 werden akademische Disziplinen und Gattungen – wie die ‚Naturgeschichte der Menschheit‘ – ausgehend von der jeweiligen nationalen Fortentwicklung der Wissenschaften im 19. Jahrhundert betrachtet. In folgenden Ausführungen soll eine systematische Grundlegung des Wissenschaftsdiskurses auf dem Wege eines begriffsgeschichtlichen Zugangs geschaffen werden.4 Die derart analysierten Auffassungen von ‚Wissenschaft‘ dienen dem Vergleich der dezidiert ‚wissenschaftlich‘ verfahrenden Menschenstudien in der schottischen und deutschen Aufklärung als theoretische Basis.

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In diesem Sinne verzeichnet The Oxford Companion to the History of Science keinen Eintrag zu ‚Science‘ (nur zu ‚Science Fiction‘), da ein allgemein gültiges Vorverständnis vorausgesetzt zu werden scheint. Vgl. Oxford Companion to the History of Science, hg. v. J. L. Heilbron. Oxford 2003. Vgl. Richard Olson, The Human Sciences, in: R. Porter (Hg.): The Cambridge History of Science. Bd. 4: Eighteenth Century Science. Cambridge 2003, S. 436–462, hier S. 446. Vgl. Jörn Steigerwald, Wissenschaft, Medizin und die Formierung des empfindsamen Menschen – zwei Neuerscheinungen zur Wissenschafts- und Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 28 (2004), S. 308–311, hier S. 308. Wichtige Anregungen zu einer überbrückenden Perspektive auf beide Wissenschaftssphären hat Lorraine Daston in ihren Arbeiten gegeben. Vgl. Dies., Die Kultur der wissenschaftlichen Objektivität, in: O. G. Oexle (Hg.): Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft. Einheit – Gegensatz – Komplementarität? Göttingen 1998, S. 9–39.

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2.1. ‚Science‘ und ‚Wissenschaft‘: Vergleich zweier Konzepte Die Bedingung für die vergleichende Untersuchung des Wissenschaftsbegriffs in Großbritannien und Deutschland ist die Herkunft der Konzepte von ‚science‘ und ‚Wissenschaft‘ aus einer gemeinsamen philosophischen Tradition. Der theoretische Ausgangspunkt dieser gemeinsamen Herkunft ist die Gleichsetzung von Philosophie und Wissenschaft bis weit in die Frühe Neuzeit. Eine weitere maßgebliche Voraussetzung der Vergleichbarkeit liegt in dem Umstand, dass ein grundlegender Bedeutungswandel beider Konzepte etwa zur selben Zeit erfolgte. Dabei lässt sich noch im Verlauf des 18. Jahrhunderts eine durchaus parallel verlaufende bezeichnungs- und bedeutungsgeschichtliche Phase identifizieren, die um 1800 und mit Nachhaltigkeit im 19. Jahrhundert eine divergierende Entwicklung einschlug.5 Die verfestigten Unterschiede der Begriffe von ‚science‘ und ‚Wissenschaft‘ haben in ihren Geltungsbereichen bis heute Bestand; die Konzepte von ‚Wissenschaft‘ und ‚science‘ sind seither nicht mehr bedeutungsgleich.6 Während der deutsche Wissenschaftsbegriff einen umfassenden Geltungsanspruch für alle akademischen Disziplinen wahren konnte, vollzog sich im angelsächsischen Sprachraum eine Einschränkung der Bezeichnung ‚science‘ auf die Mathematik und die Naturwissenschaften. Erst im Verlauf des achtzehnten Jahrhunderts ist eine Erweiterung der Bedeutung des lateinischen Begriffs ‚scientia‘ durch eine zunehmende Differenzierung seiner Untergattungen festzustellen.7 Ihren semantischen Niederschlag fand diese Entwicklung durch die Pluralbildungen ‚scientiae‘, ‚artes‘, ‚disciplinae‘ und ‚doctrinae‘, ebenso wie deren Präzisierungen durch adjektivische Zusätze wie ‚sacra‘, ‚humana‘, ‚naturalis‘ oder ‚civilis‘.8 Für die jeweilige Anwendung im angelsächsischen und deutschsprachigen Bereich ist dabei die Übertragung der Termini aus dem Lateinischen in die jeweilige Vernakularsprache von nicht zu überschätzender Bedeutung. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts wurde das Lateinische als lingua franca der Gelehrtenwelt schrittweise abgelöst, indem sich eigene nationale Wissenschaftssprachen etablierten. Damit erfolgte einerseits eine Aufwertung indigener Begriffe, wie etwa ‚know5

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Alwin Diemer, Die Differenzierung der Wissenschaften in die Natur- und Geisteswissenschaften und die Begründung der Geisteswissenschaften als Wissenschaft, in: Ders. (Hg.): Beiträge zur Entwicklung der Wissenschaftstheorie im 19. Jahrhundert. Meisenheim am Glan 1968, S. 174–223, hier S. 175. Eine der wenigen begriffsgeschichtlichen Analysen des Konzeptes ‚Wissenschaft‘ im Abgleich mit den englischen und französischsprachigen Äquivalenten bietet der Band von Alwin Diemer (Hg.): Der Wissenschaftsbegriff. Historische und systematische Untersuchungen. Meisenheim am Glan 1970. „In the 17th and 18th century the notion now usually expressed by science was commonly expressed by philosophy.“ Vgl. den Eintrag ‚Science‘, in: The Oxford English Dictionary. Bd. 14. Oxford ²1989, S.648–649, hier S. 649. Diemer, Die Differenzierung, S. 179.

ledge‘, ‚Gelehrsamkeit‘ oder ‚Wissenschaft‘, die mit präzisen definitorischen Bemühungen einherging. Andererseits zeichnete sich eine Bedeutungsabweichung der nunmehr zu Fremdwörtern gewordenen lateinischen Begriffe in den verschiedenen nationalen Sprach- und Wissenschaftsräumen ab. Von diesen Veränderungen zeugen die zeitgenössischen Lexika, deren Aufgabe für den Ablösungsprozess vom Lateinischen nicht allein in der sprachlichen Übertragung bestand, sondern deren Selbstverständnis darüber hinaus vom Bemühen um eine begriffliche Angleichung an neue Wissens- und Erkenntnisformen getragen war. Vor diesem Hintergrund ist das Bedürfnis nach sprachlicher als auch nach materialer Neuordnung der Wissenschaften zu verstehen, das sich ausdrücklich in den ‚Dictionaries of Arts and Sciences‘ oder ‚Lexika aller Wissenschaften und Künste‘ seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert manifestierte.9 2.1.1. Der englische Wissenschaftsbegriff im 18. Jahrhundert Als ein Wissenschaftskompendium neuen Typs kann John Harris’ Lexicon Technicum: Or, An Universal English Dictionary of Arts and Sciences (1704) gelten, das seine Autorität aus Bacons und insbesondere aus Newtons Schriften bezog und den Versuch einer neuen Ordnung der Wissenschaften nach alphabetischer Reihenfolge unternahm.10 Während der Eintrag zu ‚Science‘ auf einen Definitionssatz11 beschränkt bleibt und sich im Lexicon Technicum noch kein Eintrag für ‚Knowledge‘ finden lässt, stellt sich das wachsende Erfordernis nach der Klärung der Frage, was unter ‚Wissen‘ und ‚Wissenschaft‘ zu verstehen sei, im Nachfolgeprojekt zu Harris’ Lexikon schon deutlicher dar. Bereits in der Vorrede zu seiner Cyclopaedia (1741–1743) beklagte Ephraim Chambers die bis dahin mangelnde Differenzierung zwischen ‚arts‘ und ‚sciences‘, um dann seiner Auffassung Raum zu geben, dass die Wissenschaft – unabhängig von obskuren Bedeutungen und abstrakten Definitionen – endlich als das verstanden werden müsse, was sie eigentlich sei: [...] [T]he faculty whereby we perceive things and their relations [...]. Science is no other than a series of deductions, or conclusions, which every person, endued with those faculties, may, with a proper degree of attention, see, and draw: and a science; i. e. a formed science, is no

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Richard Yeo betont das ambivalente Verhältnis der großen Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts zu ihren Vorgängerprojekten, das im Anspruch begründet lag, nicht den Wissenskanon zu begrenzen, sondern „neues Wissen“ zur Verfügung zu stellen. Vgl. Richard Yeo, Encyclopaedic Visions. Scientific Dictionaries and Enlightenment Culture. Cambridge 2001, S. 12. John Harris, Lexicon Technicum: Or, An Universal English Dictionary of Arts and Sciences: Explaining not only the Terms of Art, but the Arts themselves. London 1704. Ein Ergänzungsband erschien 1710. Zu Harris vgl. Richard Yeo, Classifying the Sciences, in: Porter (Hg.), The Cambridge History of Science, S. 254–256. Harris Definition lautet: „SCIENCE, is the Knowledge founded upon, or acquire’d by clear, certain, and self evident Principles“; vgl. Harris, Lexicon Technicum, [unpag.].

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more than a system of such conclusions, relating to some one subject, orderly and artfully laid down in words.12

Als Beispiel für diese Befähigung führt Chambers die Philosophie Euklids an, zu deren Ergebnissen jedermann aufgrund seiner eigenen Wahrnehmung und durch eigenständiges Nachdenken gelangen könne und die er sogar erweiternd fortzusetzen in der Lage sei.13 Unter dem Begriff ‚Science‘ wird hinsichtlich seiner ersten Bedeutung – der Fähigkeit zu wissen – auf den sehr viel ausführlicher behandelten Eintrag ‚Knowledge‘ verwiesen.14 In Anlehnung an Locke wird hier eine elaborierte Erkenntnistheorie entwickelt, deren zentrales Anliegen der Nachweis des Vorrangs von Erfahrung ist. Die ‚Vorstellungen‘ (ideas) des Menschen entstünden nicht aus ‚qualvollen‘ Ableitungsvorgängen, sondern „by its natural power of perception“. Für diese wiederum hätten gelehrte Männer allgemeine Regeln und Prinzipien aufgestellt: „But no maxim can make a man know clearer, that round is not square, than the bare perception of these two ideas.“15 Die Grade der Gewissheit hingen wiederum von der Wissensform ab, nämlich ob Erkenntnis durch Intuition (Art. ‚Faith‘) oder durch Demonstration (Art. ‚Evidence‘) erworben würde. Die Grenzen des Wissens waren nach Chambers Auffassung durch die Begrenztheit menschlicher Erfahrung bestimmt, auf die der Gelehrte sich tatsächlich auch beschränken solle.16 Und auch wenn es eine scheinbar unumstößliche Auffassung unter Gelehrten sei, dass Wissenschaft auf Axiomen und Prinzipien beruhe, läge die Methode zur Erweiterung unserer Kenntnisse in der Zurückdrängung des Deutungsmonopols der Schulphilosophie17 und in der Besinnung auf unser intuitives 12

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Ephraim Chambers, Cyclopaedia: Or, An Universal Dictionary of Arts and Sciences; Containing An Explanantion of the Terms, and an Account of the Things Signified thereby, in the Several Arts, Both Liberal and Mechanical; and the Several Sciences Human and Divine: The Figures, Kinds, Properties, Productions, Preparations, and Uses of Things, Natural and Artificial: The Rise, Progress, and State of Things Ecclesiastical, Civil, Military and Commercial: With the Several Systems, Sects, Opinions, &c. among Philosophers, Divines, Mathematicians, Physicians, Antiquaries, Critics, &c. The whole intended as a Course of ancient and modern Learning. Extracted from the best Authors, Dictionaries, Journals, Memoirs, Transactions, Ephemerides, &c. in several Languages. 2 Bde. [1727]. London 51741–1743, Preface, S. IX. Während Yeo die starke Anlehnung der Cyclopaedia an das Lexicon Technicum betont, zeigt die veränderte Schwerpunktsetzung in den Begriffen eine markante Differenz zwischen den Enzyklopädien: Im Gegensatz zu Chambers verzeichnet Harris z. B. keine Einträge zu ‚history‘ oder ‚knowledge‘. Vgl. dazu auch Richard Yeo, Classifying the Sciences, S. 256–260. „By such means, without any other helps than penetration, and preservance, might he make out a infinite number of propositions; possibly more than Euclid has done […].“ Chambers, Cyclopaedia, Preface, Bd. I, S. IX. Interessanterweise nähern sich George S. Rousseau und Roy Porter in ihrem schulbildenden Neuansatz zur Wissenschaftsgeschichte über den ‚neutralen‘ Begriff ‚knowledge‘. Georg Sebastian Rousseau / Roy Porter (Hg.): The Ferment of Knowledge. Studies in the Historiograpgy of Eighteenth-Century Science. Cambridge u.a. 1980. Chambers, Art. ‚Knowledge‘, in: Cyclopaedia, Bd. 1, [unpag.]. „Experience is what which in this part we must depend on, and it were to be wished, that it were more improved […]. See EXPERIMENT, EXPERIMENTAL.“ Ebd. „[…] [T]he beaten road of the schools has been lay down.“ Ebd.

Erfahrungswissen, das unabhängig von Lehrsätzen bestünde. Der Weg der Erfahrung vollziehe sich immer von der Wahrnehmung der Besonderheiten zum Rückschluss auf das Allgemeine und nicht umgekehrt: „The way to improve knowledge, is not to swallow principles with an implicite faith and without examination, which would be apt to mislead men, instead of guiding them into truth.“18 Der abschließende Appell des Artikels verweist darauf, dass ein Fortschreiten der Vernunft nur möglich sei, wenn man die Methoden der Untersuchung an die Natur der Gegenstände angleiche. Abstraktes Wissen (Art. ‚Mathematics‘) zeitige abstrakte Theorien, während die Natur und die Bestimmung des Verhältnisses unter den Dingen eine vorsichtige, induktive Annäherung erfordere. Unter Wissenschaft sei nicht mehr zu verstehen als „a formed system of any branch of knowledge“.19 Diese verschiedenen Zweige des Wissens und die daraus abgeleiteten Gegenstände der Wissenschaften verhandelt Chambers unter dem Eintrag ‚Science‘, in dem er nach kurzen Präliminarien zum einen über die grundsätzliche Infragestellung der Möglichkeit von Wissenschaft (Art. ‚Scepticism‘) und zum anderen bei den gesetzten „sciences in God“ auf die verschiedenen Anwendungsbereiche der Wissenschaften zu sprechen kommt.20 Zu diesen zählt er zunächst die grundsätzliche ‚Kenntnis der Dinge‘ (knowledge of the things) – ihrer Verfassungen, Eigenheiten und Funktionsweisen, sowohl in materialer als auch immaterialer Hinsicht. Diese subsumiert er unter ‚natural philosophy‘, deren wissenschaftliche Erfassung Aufgabe der ‚Physik‘ und ‚Philosophie‘ sei. Dann nennt er die Lehre vom ‚zielgerichteten und richtigen Handeln‘ (skill of rightly applying our own powers), dessen Erforschung durch ‚Ethik‘ und ‚Moralphilosophie‘ erfolge, und schließlich die ‚Lehre der Zeichen‘ (doctrine of signs), die der Logik untergeordnet sei, deren Entschlüsselung der Erforschung der Sprache obliege.21 An den dargestellten Einträgen in der Cyclopaedia ist zweierlei bemerkenswert. Zum ersten findet hier eine scheinbar exklusive Gelehrtendebatte um Wissenstraditionen und Erkenntnisformen, die seit dem 17. Jahrhundert im Gange war, ihren klaren, dem Stand der Diskussion durchaus adäquaten, lexikalischen Niederschlag. Gleichzeitig wird aus den Einträgen deutlich, dass die Debatte noch andauerte und die Besetzung der Begriffe sich in einer offenen Umbruchphase befand. Die formale Bezeichnung mit ‚Science‘ schloss noch alle Wissensbereiche – inklusive Theologie, Philosophie oder die Philologien – mit ein. Als problematisch erwiesen sich vielmehr die Voraussetzungen des Wissens, also die Frage, wie man Wissen-

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Ebd. Chambers, Art. ‚Science‘, in: Cyclopaedia, Bd. 2, [unpag.]. Rom Harré hebt den theologischen Hintergrund des Diskurses hervor und betont, dass die Diskussion um die Grenzen des Wissens im 18. Jahrhundert genau im Spannungsfeld zwischen der Dominanz der Theologie und ihres gleichzeitigen Rückzugs in die Naturphilosophie interpretiert werden müsste. Vgl. Ders., Knowledge, in: Rousseau / Porter (Hg.): The Ferment of Knowledge, S. 11–54, hier, S. 18f. Chambers, Art. ‚Science‘, in: Cyclopaedia, Bd. 2, [unpag.].

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schaft von etwas erlangt. Hier werden Bacons und Lockes Gegenpositionen zur aristotelischen Logik und zur Schulphilosophie greifbar, deren Gemeinsamkeit in der Forderung nach dem Primat der Empirie bestand.22 Die besondere Voraussetzung dieses empirischen Wissenschaftsbegriffs lag vor allem in der Sicherung des Wissens und in der Ablehnung aller nicht als begründetes Wissen ausweisbarer Annahmen. Diese neuartige Erfassung von Wirklichkeit durch eine induktive Methode verbindet sich vor allem mit der Wissenschaftskonzeption von Francis Bacon, Lord Verulam (1561–1626), wie er sie grundsätzlich in seinem Novum Organum Scientarum (1620) darlegte, mit allgemeinen Überlegungen zur Wissenschaftslogik und Enzyklopädik in The Advancement of Learning (1605) belegte und auf die er ein institutionell und arbeitsteilig organisiertes Wissenschaftssystem in Nova Atlantis (1627) folgen ließ. Die Experimentensammlung Sylva Sylvarum (1628) kann schließlich als Bacons Werkstattbericht gelesen werden, dessen Untertitel OR A Naturall Historie die Bedeutung von ‚historia‘ in der Frühen Neuzeit in aller Deutlichkeit hervortreten lässt: Wie im Aristotelismus diente ‚historia‘ als Bezeichnung für alles aus Erfahrung gewonnene Wissen, nur dass Bacon die Bedeutung der induktiven Grundlegung von Wissenschaft sehr viel nachdrücklicher einforderte als seine Vorgänger.23 Mit Bacon wird der ‚historischen Erkenntnis‘ – also der Fähigkeit, aus Experiment und Erinnerung sichere Erkenntnis zu erlangen – eine fundamentale Rolle in der wissenschaftlichen Urteilsfindung zugesprochen.24 ‚Philosophie‘ als Überbegriff frühneuzeitlicher Wissenschaft ist damit ohne die Basis der ‚historia‘ nicht mehr möglich.25 Der ‚historia naturalis‘ stellt Bacon nun noch die ‚historia civilis‘ zur Seite, um damit die empirische Grundlage für eine ‚doctrina de homine‘ zu schaffen. Der Begriff der ‚Empirie‘ findet sich bei Bacon allerdings noch nicht. Er wird erst im 19. Jahrhundert allgemein gebräuchlich werden – im gleichen Zeitraum also, in dem auch die ‚historia‘ einen endgültigen Bedeutungswandel erfahren haben wird. Bei Bacon jedoch ist ‚Historie‘ noch die 22

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Die Veränderung des englischen Wissenschaftsverständnisses unter dem Vorzeichen der Empirie zeichnet nach: Jürgen Klein, Vom Baconianismus der Royal Society bis zu John Locke. Identität, Individualität und Wissenschaftsfunktion im englischen Empirismus des späten 17. Jahrhunderts, in: S. Neumeister (Hg.): Frühaufklärung. München 1994, S. 11–58. Zur Aufwertung des ‚Natural History‘-Konzeptes in England durch Bacon vgl. Paula Findlen, Francis Bacon and the Reform of Natural History in the Seventeenth Century, in: D. R. Kelley (Hg.): History and the Disciplines. The Reclassification of Knowledge in Early Modern Europe. Rochester 1997, S. 239–260. Dadurch, dass Bacon neben der ‚historia naturalis‘, deren Erkenntnisform die ‚experientia‘ ist, auch die ‚historia civilis‘ als Erfahrungsschatz einführt, wird die ‚memoria‘ als deren Erkenntnisform mit in die induktive Methode aufgenommen. Zum ‚historia‘-Begriff bei Francis Bacon die unentbehrliche Analyse von Arno Seifert, Cognitio Historica. Die Geschichte als Namengeberin der frühneuzeitlichen Empirie. Berlin 1976, S. 116–138. „Primo enim eam proponimus historiam naturalem, quae non tam aut rerum veritate delectet aut praesenti experimentorum fruct juvet, quam lucem inventioni causarum affundat, et philosophiae enutricandae primam mammam praebat.“ Francis Bacon, Novum Organon, Lateinisch – Deutsch, hg. v. W. Krohn. Darmstadt 1990, Bd. 1, S. 141.

zeitgenössische Bezeichnung für seine induktive Vorgehensweise, die sein Herausgeber wie folgt beschreibt: „[...] [T]rue Axioms must be drawne from plaine Experience, and not from doubtfull, And his Lordship course is to make Wonders Plaine, and not Plaine things Wonders.“26 Dennoch liegt diesem Induktionsverfahren kein naiver Realismusbegriff zugrunde, da sich Bacon über die Mängel sinnlicher Erfahrung durchaus im Klaren war und seine neue Methode vielmehr dahin zielte, die rationale ‚scientia‘ solider zu begründen.27 Nur vermittels der Annahme einer das Wirkliche faktisch leitenden Gesetzlichkeit, die sich insbesondere in den „Formen“ der Dinge ausdrücke, ist es nach Bacon möglich, kausale Erklärungen der singulären Erscheinungen herzustellen, wodurch es möglich ist, diese in die „Ordnung der Natur“ einzubetten.28 Bacons Verfahren bestand folglich nicht darin, Hypothesen induktiv zu belegen, sondern in der systematischen Falsifikation von Hypothesen.29 Es existierte also ein sich gegenseitig bedingendes Verhältnis von Induktion und Deduktion, das allerdings nicht den formallogischen Anforderungen an wissenschaftliche Aussagen – nämlich gewiss, allgemein und notwendig zu sein – gehorchte. Durch die folglich weiterhin bestehende Frage nach der Möglichkeit von Erfahrungswissenschaften überhaupt traten logische Formalismen in den Hintergrund und die inhaltliche Sicherung des Wissens, also die Frage nach den Erkenntnisquellen, wurde zum beherrschenden Thema. Diesen neuen Anforderungen entsprach John Lockes (1632–1704) Erkenntnistheorie, die er in seinem Essay Concerning Human Understanding (1690) darlegte und deren viel diskutierte Thesen als unabdingbare Grundlage einer neuartigen Wissenschaftsauffassung gelten können.30 Gegenstand des Werkes ist die „Natur des Verstandes“, dessen Vermögen einer physiologischen und philosophi26

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William Rawley, To the Reader, in: Francis Bacon, Sylva Sylvarum: Or A Naturall Historie. In Ten Centuries, written by the right honourable Francis Lo. Verulam Viscount St. Alban, published after the authors death, by William Rawley Doctor in Divinity, one of his Majesties Chaplaines. Hereunto is now added an Alphabeticall Table of the principall things contained in the whole Worke, the fifth edition. London 1639, [unpag.]. Bacon, Novum Organon, Bd. 1, S. 137f. Ebd., S. 144–145. Zur problematischen Stilisierung Bacons zum „Heerführer der Erfahrungsphilosophen“ (Hegel) siehe die detaillierten Ausführungen von Hans-Jürgen Engfer, Empirismus versus Rationalismus? Kritik eines philosophiegeschichtlichen Schemas. Paderborn u.a. 1996, S. 33–54. „One contradictory instance overthrows a conjecture as to the form.“ Bacon, Novum Organon, Bd. 2, S. 18. Ernan McMullin rückt dieses Verfahren in die Nähe von Poppers ‚Conjectures and Refutations‘. Vgl. Ders., Conceptions of Science in the Scientific Revolution, in: D. C. Lindberg / R. S. Westman (Hg.): Reappraisals of the Scientific Revolution. Cambridge 1990, S. 27–92, hier S. 54. Eine wichtige Voraussetzung für Lockes Erkenntnistheorie bildete wiederum die Philosophie von René Descartes, mit der sich Locke intensiv und kritisch auseinandersetzte. Vgl. Udo Thiel, John Locke. Hamburg 1990, S. 29. Auch wenn neuerdings auf den Gegensatz von heutiger Wahrnehmung und zögerlicher zeitgenössischer Rezeption Lockes hingewiesen wurde, kann die Bedeutung von Lockes Erkenntnistheorie im Verlauf des 18. Jahrhunderts keinesfalls überschätzt werden. Vgl. Jonathan I. Israel, Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity 1650–1750. Oxford 2001, S. 522ff.

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schen Analyse unterzogen wird. Durch eine „Historical, plain Method“ soll geklärt werden, wie der Verstand sich jene Begriffe von den Dingen aneignet, die wir haben.31 Mit dieser Fragestellung hatte sich Locke als Gegner der Auffassung von den ‚eingeborenen Ideen‘ (Innatismus) eingeführt und mit seiner Antwort, dass wirkliche Erkenntnis nur durch Selbstdenken erreicht werden könne, avancierte seine Erkenntnistheorie zum zentralen Ausgangspunkt der europäischen Aufklärungsphilosophie. Eine Lehre könne demnach nur dann als wahr anerkannt werden, wenn sie durch die eigene Verstandestätigkeit geprüft und für richtig befunden werde.32 Um eigene Erkenntnisse zu erlangen, müsse man lediglich die natürlich gegebenen Vermögen richtig gebrauchen. Das Material der Erkenntnis besteht für Locke in ‚Ideen‘, deren Ursprung wiederum in zwei Arten von Erfahrung begründet liegt: einer äußeren ‚sensation‘, durch die man Kenntnis von den wahrnehmbaren Eigenschaften der Gegenstände selbst erlangt, und einer inneren ‚reflexion‘, durch die Vorgänge des menschlichen Geistes, wie ‚Denken‘, ‚Zweifeln‘, ‚Glauben‘, erfolgen.33 Zur Erkenntnis beziehungsweise zu Urteilen über die Wirklichkeit gelange man folglich durch die Wahrnehmung von Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung von Ideen.34 Unter den verschiedenen Erkenntnisarten könnten – neben der sinnlichen, die uns der Existenz äußerer Gegenstände versichere – nur Intuition und Demonstration allgemeine Wahrheiten zutage fördern. Jede andere Form von Erkenntnis sei nichts anderes als schierer Glaube oder bloße Meinung.35 Mit dieser erkenntnistheoretischen Abgrenzung vom Innatismus und der formalen scholastischen Logik unterminierte Locke das mit deren Mitteln beförderte Herrschaftswissen und überantwortete Fragen der Erkenntnis dem Verstand jedes einzelnen Individuums, wobei die Erkenntniskritik in der Selbstbeobachtung der eigenen Denkvorgänge besteht. Man kann daher von einer ‚Demokratisierung der Erkenntnis‘ sprechen.36 Die freiwillige Restriktion der Erkenntnis auf den menschlichen Verstand einerseits und die Anerkennung allgemeiner abstrakter Begriffe andererseits lassen allerdings auch für Locke das Etikett des ‚Empiristen‘ zumin31

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Auch hier wird der Begriff ‚Historical, plain‘ wieder synonym zu ‚rein induktiv’ gebraucht. John Locke, An Essay Concerning Human Understanding, hg. v. P. H. Nidditch. Oxford 1975, Book I, Chap. 1, § 2. „So much as we ourselves consider and comprehend of Truth and Reason, so much we possess of real and true Knowledge.“ Ebd., Chap. 4, § 23. Hier wird die Lockesche Prägung der Cyclopaedia besonders deutlich. Ebd., Bd. 2, Chap. 1, § 1–3. Diese Definition Lockes findet wörtlichen Eingang in die Encyclopaedia Britannica: „Knowledge, is defined by Mr Locke, to be the perception of the connection and agreement, or disagreement of our ideas.“ Vgl. Encyclopaedia Britannica; Or A Dictionnary of Arts and Sciences, compiled upon a new plan. In Which The different Sciences and Arts are digested into distinct Treatises and Systems; and The various Technical Terms, &c. are explained as they occur in the order of the Alphabet. By a Society of Gentlemen in Scotland, Art. ‚Knowledge‘. Bd. 2. Edinburgh 1771, S. 857. Locke, Essay, Bd. 4, Chap. 2, § 14. „Nor is it a small power it gives one Man over another, to have the Authority to be the Dictator of Principles, and Teacher of unquestionable Truths;“ Ebd., Bd. 1 u. 4, § 24.

dest problematisch erscheinen. Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass Lockes Erkenntnistheorie sowohl empirische als auch rationalistische Züge trägt.37 Die kritische Auseinandersetzung mit der Spannung aus rationalistischen und empirischen Elementen in Lockes Erkenntnistheorie prägte die Diskussion der Folgezeit38 und forderte zur Frage heraus, ob die Möglichkeit abstrakter Wissenschaft generell geleugnet werden oder der Standpunkt des bloßen Empirismus einer Veränderung unterzogen werden müsse. Lockes Vorstoß hinsichtlich der kritischen Reflexion der Reflexion – also die Frage nach den Ursachen der Verknüpfung von Ideen, deren zufällige oder gewohnheitsmäßige Verbindung Phänomene wie Aberglauben und irrationale Anti- beziehungsweise Sympathien zeitige – schuf die Grundlage für eine psychologisierende Erkenntnistheorie oder Deutung menschlichen Handelns allgemein. Neben englischen und schottischen Autoren fanden sich auch in Deutschland viele Anhänger eines solchen psychologischen Deutungsmodells.39 Eine Fortführung der empirischen Grundlegung von Wissenschaft unternahm David Hume, dessen Skeptizimus in der Erkenntnisfrage zu einer weiteren Selbstbescheidung in der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt führte. Seine Erkenntnistheorie ist als erste differenzierende Fortentwicklung der Position Lockes mit nachhaltiger Wirkung für den Wissenschaftsbegriff in Großbritannien interpretiert worden,40 da Hume die Möglichkeit von Wissenschaft in einer Trennung von de37 38

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Ich folge hier der Interpretation von Thiel, Locke, S. 73f. In Deutschland war es vor allem Gottfried Wilhelm Leibniz, der Lockes Position als gefährlich materialistisch kritisierte und an einer metaphysischen Substanzlehre festhielt. Seine Nouveaux Essais wurden erst nach Lockes Tod fertig gestellt und fast fünfzig Jahre nach Leibniz’ Tod 1765 publiziert. Zu den beiden Positionen siehe Rainer Specht, Erfahrung mit Vernunft. Leibniz und Locke über die Möglichkeit von Erfahrungswissenschaften, in: F. Grunert / F. Vollhardt (Hg.): Aufklärung als praktische Philosophie. Tübingen 1998, S. 47–69. Zur direkten Auseinandersetzung zwischen Leibniz und Locke über den Mittelsmann Samuel Clarke vgl. Ursula Goldenbaum, Die Philosophie des 17. Jahrhunderts im Spannungsfeld von Vernunft und Glauben. Der Briefwechsel von Samuel Clarke und Gottfried Wilhelm Leibniz, in: Ebd., S. 387–417. Eine breitere Rezeption des Essay beginnt mit der ersten Übersetzung ins Deutsche von Heinrich Engelhard Poleyen, Herrn Johann Lockens Versuch vom Menschlichen Verstande, Altenburg 1757. Die vorherige Rezeption basierte auf einer von Locke autorisierten französischen sowie einer lateinischen Übersetzung. Poleyens Empfehlung für Locke begleitet eine interessante Distanzierung: „[...] [E]r hat auch oft gefehlet. Er sah die Philosophie der Schulweisen mit gar zu verächtlichen Augen an; und daher suchte er auch dieselbe mit aller Art zu bestreiten. Er sah nicht das Gold, das Herr von Leibnitz darinnen gefunden.“ Poleyen, Vorrede, [unpag. *3]. Zu den Anhängern des psychologisierenden Ansatzes zählen Johann Nicolaus Tetens, Christoph Meiners, Johann Georg Heinrich Feder und Franz von Irwing. Vgl. Thiel, Locke, S. 131f. Hume entwickelte eine Genealogie der ‚Science of Man‘ von Bacon zu Locke, Shaftesbury, Mandeville, Hutcheson und Butler, „who have begun to put the science of man on a new footing“. Vgl. Ders., Treatise, S. XVII. Dennoch wollte sich Hume von der Lockeschen Aufladung der Wahrnehmungsbegriffe zu Reflexionsbegriffen distanzieren: „Perhaps I rather restore the word, idea, to ist original sense, from which Mr. Locke had perverted it, it making it stand for all our perceptions.“ Ebd., Anm. 1, S. 2.

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monstrativer Vernunft einerseits und Erfahrungswissen andererseits begründete. Erfahrungswissen, also die Erkenntnis von Tatsachen, sei nur aufgrund ihrer Relation in Ursache und Folge erkennbar. Diese erschließe sich allerdings nicht aus der Vernunft, sondern nur aus einer gewohnheitsmäßigen Verbindung der beiden. Damit habe Hume die Festlegung des Wissenschaftsbegriffs auf die exakten mathematischen Naturwissenschaften vorangetrieben. Aus dieser Unterscheidung sei eine philosophische Brücke zum kosmologisch-physikalischen Denken Newtons geschlagen worden, woraus sich wiederum die üblich gewordene Einschränkung des ‚science‘-Begriffs auf Mathematik und Naturwissenschaften erkläre.41 Demgegenüber ist einzuwenden, dass Hume den eingeschränkten Erfahrungsbegriff aufgrund von Gewohnheit durchaus auch für naturwissenschaftliche Phänomene einführte, um damit die Grenzen und gleichzeitig erst die Möglichkeit von Erfahrungswissenschaft überhaupt zu begründen. Vor allem aber ist auf Humes Projekt einer ‚Science of Man‘ zu verweisen, wie er es im Treatise of Human Nature entwickelte. Die ‚Science of Man‘ sollte demnach eine zentrale Stellung innerhalb aller anderen Wissenschaften, wie Logik, Moral, Ästhetik und Politik, einnehmen. Hume betonte, dass sogar „Mathematics, Natural Philosophy, and Natural Religion, are in some measure dependent on the science of Man“, weshalb diese die Voraussetzung für alle Wissenschaften sei.42 Die einzig gesicherte Grundlage, die man dieser ‚Science of Man‘ geben könne, liegt für Hume in der Erfahrung und Beobachtung: „And as the science of man is the only solid foundation for the other sciences, so the only foundation we can give to this science itself must be laid on experience and observation.“43 Und ganz in der Tradition von Lockes ‚Historical, plain method‘ gehe es darum, die Fähigkeiten und Eigenschaften des Geistes, die in verschiedenen Umständen und Situationen hervorträten, zu beobachten und zu untersuchen. Auch bei Hume selbst kann also nicht die Rede von einer Reduzierung des Wissenschaftsbegriffes auf die mathematischen Naturwissenschaften sein. Am stärksten verbindet sich der Bedeutungswandel des Wissenschaftskonzepts in Großbritannien und Kontinentaleuropa – sowohl hinsichtlich seiner rein empirischen Ausrichtung als auch in seiner Übertragung auf die Naturwissenschaften – mit dem Namen Isaac Newtons (1642–1727). Die traditionelle Meistererzählung moderner Wissenschaft besagt, dass sich im 17. Jahrhundert und besonders in der Aufklärung unter dem Einfluss von Newton ein mechanistisches Weltbild durchsetzen konnte, wodurch die diesem Weltbild adäquaten Wissenschaften – Physik und Mathematik – einen Vorrang erlangten.44 Auf den Vorarbeiten anderer Denker, 41 42 43 44

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In diesem Sinne Wilhelm Risse, Der Wissenschaftsbegriff im England des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Diemer (Hg.): Der Wissenschaftsbegriff, S. 90–98, hier S. 97f. Hume, Treatise, S. XV. Ebd., S. XVI. Als maßgebliche Schriften gelten hier Issac Newtons Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (1687), die Opticks (1704) und das General Scholium, das den Principia 1713 beigefügt wurde.

wie Kopernikus, Kepler, Galilei und Leibniz, aufbauend, sei erst durch Newtons radikal neue empirische Methode eine Zäsur erfolgt, die der modernen Wissenschaftsauffassung den Weg ebnete. Ihren Ursprung fand diese Narrative bereits in der Selbstwahrnehmung der Philosophen des 16. und 17. Jahrhunderts, die ihre Arbeiten, wenn nicht als ‚bahnbrechend‘, so zumindest als ‚neu‘ betitelten.45 Ein bedeutsamer Anteil an der Interpretation der wissenschaftlichen Erfolge und des Umbruchs um 1700 als ‚revolutionär‘ kam allerdings der neu etablierten Wissenschaftsgeschichte der Aufklärung zu, die nicht müde wurde, Traditionsstränge abzuschneiden und eigene Kontinuitätslinien zu ziehen. Es ist ein Signum des Anspruchs auf die ‚Wiedergeburt der Wissenschaften‘ im 18. Jahrhundert, gesonderte Paten an deren Wiege zu stellen.46 Die Wissenschaftshistorie des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts trug zur Perpetuierung und Hypostasierung dieser wissenschaftstheoretischen Selbstverortung maßgeblich bei. Auch wenn viele wissenschaftsgeschichtliche Ansätze weniger positivistisch und naiv waren als später unterstellt, so blieb die gemeinsame Grundlage von Alexandre Koyré (1892–1964) über Herbert Butterfield (1900–1979) bis hin zu Thomas Kuhns Theorie vom Paradigmenwechsel, eine Modernisierungsgeschichte der Wissenschaften,47 vorangetrieben durch „wissenschaftliche Revolutionen“.48 In dieser Interpretation drückte sich der Siegeszug der Moderne in allen gesellschaftlichen und geistigen Kräften und Institutionen aus: Die politische Emanzipation hatte ihre Kulminationspunkte in der amerikanischen und vor allem der französischen Revolu-

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David C. Lindberg verweist auf die programmatische Häufung eines ‚new‘ in den einschlägigen Titeln: „[...] Kepler’s New Astronomy, Francis Bacon’s New Organon, and Galileo’s Two New Sciences.“ Vgl. Ders., Conceptions of the Scientific Revolution fom Bacon to Butterfield: A preliminary sketch, in: Lindberg / Westman (Hg.): Reappraisals of the Scientific Revolution, S. 1–26, hier S. 3. Margaret Jacob hat die Rolle der Aufklärung beim „Making of the Heroes“ betont. Vgl. Margaret Jacob, The Truth of Newton’s Science and the Truth of Science’s History. Heroic Science at Its Eighteenth-Century Formulation, in: Margaret J. Osler (Hg.): Rethinking the Scientific Revolution. Cambridge / New York 2000, S. 315–332, hier S. 319. Vgl. Lindberg, Conceptions of the Scientific Revolution, S. 15–20. Eine Zusammenfassung der am Beispiel des Übergangs von der aristotelischen zur newtonschen Physik entwickelten Theorie findet sich in Thomas S. Kuhn, What are Scientific Revolutions, in: Ders., The Road Since Structure. Philosophical Essays, 1970–1993. Chicago 2000, S. 13–32. Der wissenschaftsgeschichtliche Terminus „scientific revolution“ geht auf Alexandre Koyré zurück und avancierte 1954 durch Rupert Hall zum Buchtitel. Vgl. Steven Shapin, The Scientific Revolution. Chicago / London 1996, S. 2. Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass die Diskussion um die Frage, ob im 17. Jahrhundert tatsächlich eine wissenschaftliche Revolution stattgefunden habe oder nicht, müßig sei, solange sie von der Interpretation des Begriffs ‚science‘ abhängt. Das Desiderat bestünde vielmehr in „historicising the history of science“. Vgl. Jacob, The Truth of Newton’s Science and the Truth of Science’s History, S. 317.

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tion gefunden, während parallel dazu die Rezeption Newtons zum Synonym für die wissenschaftliche Revolution wurde.49 Mit der Entdeckung der Schattenseiten von Modernisierung und Technisierung und der damit einhergehenden Skepsis gegenüber uneingeschränkter Wissenschaftsgläubigkeit wuchs der Zweifel an der ungebrochenen Erfolgsgeschichte moderner Wissenschaft, der damit für eine jüngere Generation angelsächsischer Historiker zum Ausgangspunkt neuer Forschungen und Ansätze wurde.50 Newtons ehedem zugewiesene Rolle des Stammvaters empirischer Naturwissenschaft wurde durch Forschungen zu dessen religiösen, alchemistischen und okkultistischen Neigungen relativiert. Darüber hinaus entlarvten seine Arbeitshefte eine sehr viel weniger empirisch-systematische, als eine eher intuitiv-zufällige Vorgehensweise.51 Einzelne Untersuchungen zu Methode und Motivation von wissenschaftlichen Forschungen förderten irritierende Personalinteressen und Machtgefüge ans Tageslicht, die fundamentale Zweifel an der Durchsetzungskraft der bloßen Qualität von wissenschaftlichen Ergebnissen aufkommen ließen.52 Die Verunsicherung in der Frage, was ‚die Wissenschaft‘ und ‚die wissenschaftliche Methode‘ überhaupt sei, veranlasste eine jüngere Forschergeneration zu enger gefassten Untersuchungsrahmen einzelner Institutionen und Personen sowie zur Analyse ihrer konkreten Forschungspraktiken. Ein weiteres Desiderat war es, die Kategorien der Zeitgenossen späteren Etikettierungen vorzuziehen und schließlich vordem ausgeblendete, vermeintlich außerwissenschaftliche Bedingungen und Umstände von Forschung mit einzubeziehen.53 Gilt es also das Konzept von ‚science‘ für das ausgehende 17. und 18. Jahrhundert in einigen grundlegenden Thesen zu bündeln, ist der ‚Newtonianismus‘ 49

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Eine kluge Analyse der verschiedenen Ansätze zur Wissenschaftsgeschichte und hier besonders zur ‚internalistisch-disziplinengeschichtlichen‘ und zur ‚externalistisch-sozialgeschichtlich‘ orientierten Strömung bietet Peter Hanns Reill, The History of Science, the Enlightenment and the History of „Historical Science“ in Germany, in: K. H. Jarausch / J. Rüsen / H. Schleier (Hg.): Geschichtswissenschaft vor 2000. Perspektiven der Historiographiegeschichte, Geschichtstheorie, Sozial- und Kulturgeschichte. Festschrift für Georg G. Iggers zum 65. Geburtstag. Hagen 1991, S. 214–231. Reill verweist auf die jeder Interpretation drohende Gefahr, zu einer ontologischen Bestimmung zu werden. Ebd., S. 217. Dieser Impuls geht maßgeblich auf die wissenschaftsgeschichtlichen Studien von Michel Foucault zurück und findet eine erste Synthese bei George Rousseau und Roy Porter. Vgl. Simon Schaffer, Natural Philosophy, in: Rousseau / Porter (Hg.): The Ferment of Knowledge, S. 55–91, hier S. 86ff. Für diese Generation stehen des Weiteren die Namen von Margaret Jacob, Steven Shapin und Jan Golinski. In diesem Sinne Richard S. Westfall, Newton and Alchemy, in: Brian Vickers (Hg.): Occult and Scientific Mentalities in the Renaissance. Cambridge 1984, S. 315–336. Ein von dieser Kritik beeinflusster, aber nicht ausschließlich der Entzauberung Newtons gewidmeter Zugang findet sich in der neuen Biographie von James Gleick, Isaac Newton. New York 2003. Schulbildend wirkte hier Steven Shapin / Simon Schaffer, Leviathan and the Air Pump. Hobbes, Boyle, and the Experimental Life. Princeton 1985. Lindberg und Westman sprechen von einem „new and more thoroughgoing historicism“. Vgl. Introduction, in: Dies. (Hg.): Reappraisals of the Scientific Revolution, S. XVII–XXVII, hier S. XX.

weniger als inhaltliche Bestimmung sondern vielmehr als kennzeichnendes Phänomen seiner Epoche dienlich. Hinter der Interpretation und Verbreitung von Newtons Forschung standen konkrete wissenschaftstheoretische Interessen und politische Strategien, die dieser zur Durchsetzung verhalfen. Zur Distribution seiner Ideen wurde ein weitreichendes europäisches Netzwerk von Akademien und Gesellschaften genutzt.54 Dabei muss hervorgehoben werden, dass sich Newtons Wirkung weniger seiner exakt physikalischen Erklärung der Natur verdankte, als vielmehr ihrer Ordnung und Vereinheitlichung vermittels eines einzigen grundlegenden Gesetzes: There is an universal Power of Gravity acting in the whole system [...]. This Power is the same in all Places, and at all Times, and with regard to all Bodies whatsoever: This Power is entirely immechanical, and beyond the Abilities of all material Agents whatsoever.55

Mit dieser Interpretation war es möglich, die vormals unversöhnlichen Positionen der christlichen Theologie mit denen des moderaten Deismus in einem wissenschaftlich inspirierten Geist zu versöhnen.56 In einer Zeit des immensen Wissenszuwachses und grundsätzlicher Infragestellung der theologischen Weltordnung schien durch Newtons Theorie der empirische Beweis für ein göttliches Prinzip in der Natur gegeben.57 Mit diesem induktiven Nachweis eines göttlichen Plans innerhalb des Kosmos und der Welt verband sich die Hoffnung, einen solchen auch für die geistig-moralische Sphäre ausfindig machen zu können. Die Erforschung der Gesetze in der Natur des Menschen sollte dazu dienen, eine wissenschaftlich begründete Morallehre zu entwickeln.58 Aus diesem kursorischen Überblick zum englischen ‚science‘-Begriff lassen sich folgende Ergebnisse festhalten: Aus den Lexika und dem dahinterstehenden philosophischen Diskurs wird deutlich, dass ‚science‘ nicht im Gegensatz zu metaphysischen und religiösen Inhalten stand, sondern als Überbegriff für alle Wissensbereiche diente. Die Entgegensetzung zu traditionellen Wissensordnungen, wie sie im vorherrschenden Aristotelismus und in der Scholastik begründet waren, 54

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Dazu Simon Schaffer, Newtonianism, in: Companion to the History of Modern Science, hg. v. R. C. Olby / G. N. Cantor / J. R. R. Christie / M. J. S. Hodge. London / New York 1990, S. 610–626. Diese theologische Interpretation verbreitete sich vor allem durch Vertreter der ersten Generation von Newton-Jüngern wie dem anglikanischen Geistlichen und Mathematiker William Whiston (1667–1752). Ders., Astronomical Principles of Religion Natural and Reveal’d. London 1717, S. 40. Dieser Umstand wurde als die Grundlage des Erfolges der Newtonschen Theorie gewertet. Vgl. Israel, Radical Enlightenment, S. 519. Alexander Popes Essay on Man (1734) ist von dieser Idee getragen: „A mortal Man unfold all Nature’s law, Admir’d such wisdom in an earthly shape, And shew’d a NEWTON as we shew an Ape“, in: The Twickenham Edition of the poems of Alexander Pope, Bd. 3: Essayon on Man, hg. V. M. Mack. London / New York 1982, Vers 32–33. Zur Wirkung von Newton im 18. Jahrhundert vgl. die Untersuchung von Ulrich Dierse, Der Newton der Geschichte, in: Archiv für Begriffsgeschichte 30 (1986/87), S. 158–182, hier S. 164.

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bestand vielmehr in der Frage der Erkenntnisweise. Ein als explosionsartig empfundener Zuwachs an Erkenntnissen konnte in das herkömmliche Wissensgefüge nicht mehr integriert werden und an die Stelle logischer Wahrheitskriterien trat das Kriterium der Alltagserfahrung.59 Die Aufwertung der Alltagserfahrung wurde zur Grundlage eines empirischen Zugangs und das Vermögen der Kontrolle und Interpretation von Wahrnehmungen lag damit nicht mehr in einer formallogischen Urteilsbegründung, sondern in der ‚Vernunft‘ (reason) des einzelnen Individuums.60 Durch diese methodische Gegnerschaft zur Schulphilosophie entstand ein Spannungsverhältnis zwischen traditioneller Philosophie und moderner Wissenschaft. Ein Grund für diese Entgegensetzung lag in dem Erkenntnisanspruch, den die neue hypothetisch-deduktiv verfahrende ‚science‘ nicht nur für ‚naturwissenschaftliche‘ Phänomene, sondern für alle Wissensgebiete einforderte. Die praktischen Erfolge der physikalischen Naturerkenntnis sollten auch zur Erforschung der Natur des Menschen dienlich sein, indem der Mensch – wie jedes andere Naturwesen auch – in die ‚Natural History‘ integriert wurde. Unter Naturgeschichte begriff man allein die faktischen Phänomene der Natur (‚res naturae‘), also die empirische Datenbasis der neuen ‚science‘.61 Das geistige Lehrgebäude der Aufklärung entweder als Rationalismus oder die methodischen Vorgaben als reinen Empirismus beschreiben zu wollen, ist dabei nicht nur ein anachronistisches Verfahren, sondern verkennt darüber hinaus den engen theoretischen und methodologischen Zusammenhang von Induktion und Deduktion im 18. Jahrhundert. 2.1.2. Deutsche Begriffe von ‚Wissenschaft‘ in der Aufklärung Eine ähnliche Umbruchsituation charakterisiert auch den Gebrauch des deutschen Begriffs von ‚Wissenschaft‘ im Verlauf des 18. Jahrhunderts, wobei die Diskussion ungleich komplizierter und die Tendenzen und Konzepte sehr viel weniger klar bestimmbar sind. Johann Georg Walchs Philosophisches Lexicon (1726) – das erste dieser Art in deutscher Sprache – verzeichnet unter dem Eintrag ‚Wissenschafft‘ Definitionen und verschiedene Positionen zur Verwendung des Begriffs in

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Vgl. Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte, S. 17. Vgl. Specht, Erfahrung mit Vernunft, S. 47. In diesem Sinne auch Alexander Pope: „Reason’ at distance, and in prospect lie: That sees immediate good by present sense; Reason, the future and the consequence. Thicker than arguments, temptations strong, At best more watchful this, but that more strong.[…] Let subtle schoolmen teach this friends to fight, More studious to devide than to unite.“ Ders., Essay on Man, Bd. 2, Vers 72–82. Zum Bedeutungswandel innerhalb des Konzeptes von ‚natural history‘ vgl. Philip R. Sloan, Natural History, 1670–1802, in: Olby (Hg.): Companion to the History of Modern Science, S. 295–313, hier S. 296. Johnson verzeichnet unter „History“ neben „A narration of the events and facts“ auch „The knowledge of the facts and events“. Vgl. Samuel Johnson, A Dictionary of the English Language: In which the Words are deduced from their Originals and Illustrated in their Different Significations by Examples from the Best Writers to which are prefixed, A History of the English Language and English Grammar. Bd. 1. London 1755, [unpag.].

seiner Zeit: „Es ist dies Wort in einer zweyfachen Absicht gewöhnlich, indem es entweder auf unsere Erkenntniß; oder auf die Lehre, die wir erkennen, gehet.“62 Und es wird unmittelbar deutlich, dass über keine der beiden Bedeutungen Einigkeit besteht. Hinsichtlich der ‚Erkenntniß‘ werden verschiedene Grade bestimmt, die in drei Unterpunkten abgehandelt werden. Zunächst gibt es eine allgemeine Erkenntnis, die „eine gemeine; oder gelehrte, eine ganz gewisse, oder eine wahrscheinliche seyn“ kann. In diesem Sinne pflege man zu sagen, „man habe keine Wissenschafft davon“.63 Weiterhin gebe es Erkenntnis, bei der nicht der „geringste Zweiffel“ bestünde. Diese wiederum gründe auf „die Erfahrung, die Vernunfft und die heilige Schrifft, die sich alle auf den General-Grund, welcher die Empfindung ist, stützten“.64 Die Gewissheit über die Wahrheit der heiligen Schrift, schreibt der Theologe aus Jena, vermittele sich nicht nur über die Vernunft, sondern das christliche Zeugnis müsse auch empfunden werden.65 Im Gegensatz dazu würde die Erfahrung immer nur zu einer Erkenntnis führen, die an einzelnen, äußerlichen oder innerlichen Dingen wahrgenommen werden kann.66 Die Bedingung dafür sei die zweifelhafte Annahme, dass man sich auf die äußere Sinne verlassen könne. Doch das größte Problem sieht Walch in der Konstruktionsleistung des Verstandes angesichts des induktiven Befundes: Wie nun die Erfahrung mit einzelnen Sachen zu thun hat, die man unmittelbar empfindet; also ist die Vernunfft mit Ideen beschäfftiget, die sie betrachtet, und aus ihrer Natur einen Grund der Gewißheit an die Hand giebt. Denn sie macht Erklärungen der Dinge, und stellt sich deren Wesen und Beschaffenheit vor, daß wenn sie weiß, wie sich eine Idee gen die andere verhält, so urtheilt sie, und macht Sätze, welche sie wieder dazu brauchet, daß sie andere Weisheiten daraus folgert.67

Auf diese Weise erfolge, statt einer Definition, erst das ‚principium‘ und dann die ‚conclusio‘. Absolute Gewissheit bestünde ausschließlich im Hinblick auf die 62

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Art. ‚Wissenschafft‘ in: Philosophisches Lexicon, Darinnen Die in allen Theilen der Philosophie, als Logic, Metaphysic, Physic, Pneumatic, Ethic, natürlichen Theologie und Rechts-Gelehrsamkeit, wie auch der Politic fürkommenden Materien und Kunst-Wörter erkläret, und aus der Historie erläutert; die Streitigkeiten der ältern und neuern Philosophen erzehlet, die dahin gehörigen Bücher und Schriften angeführet, und alles nach Alphabetischer Ordnung vorgestellet worden, hg. v. Johann Georg Walch. Leipzig ²1733, Sp. 2920–2922. Zu Walchs Lexikon vgl. Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 4, hg. v. J. Mittelstraß. Stuttgart 1996, S. 619f. Walch, Art. ‚Wissenschafft‘, in: Philosophisches Lexicon, Sp. 2920. Ebd. Johann Georg Walch (1693–1775) bekleidete seit 1724 eine außerordentliche Professur für Theologie in Jena und seit 1734 das Amt eines herzoglichen Sachsen Weimarischen Kirchenrats. Vgl. Johann Georg Meusel, Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 verstorbenen teutschen Schriftsteller. Bd. 14. Nachdruck, Hildesheim 1968, S. 360–370. Besondere Bedeutung erlangte Walch als Herausgeber der hallischen Lutherausgabe. Vgl. R. Vierhaus / H. E. Bödeker (Hg.): Biographische Enzyklopädie der deutschsprachigen Aufklärung. München 2002, S. 312. Als Beispiele führt Walch interessanterweise die Ortung einer Magnetnadel oder die Willenskraft an. Walch, Art. ‚Wissenschafft‘, in: Philosophisches Lexicon, Sp. 2920. Ebd.

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göttliche Wahrheit, die sich weder aus der Erfahrung noch aus der Vernunft erschließe, da sie auf die heilige Schrift gründe, „deren Ausspruch schlechterdings wahr, weil er von GOtt kommt, der nicht kann, noch will betriegen“.68 Auch die zweite Bedeutung von ‚Wissenschafft‘, eine Lehre zu sein, lasse verschiedene Interpretationen zu. Besonders in der Frage der Wertung der verschiedenen Disziplinen der Philosophie habe unter ihren Vertretern schon immer darüber Streit bestanden, welche man als eine SCIENTIAM anzusehen habe. Denn was die Physic betrifft, so hat zwar Aristoteles, Cartesius und Gassendus nebst vielen andern davor gehalten, sie sei eine SCIENTIA, oder Wissenschafft; verschiedene neuere aber, sonderlich Rüdiger [...] haben sie vor [i. e. für] eine Lehre der Wahrscheinlichkeit ausgegeben, dem auch Thomasius beystimmte. Wie nun Aristoteles die Physic vor eine Wissenschafft hielte, also leugnete er hingegen die Gewissheit der Moral, und zwar aus der Ursach, weil er alle Gerechtigkeit und Ehrbarkeit bloß von bürgerlichen Gesetzen herleitete, welches aber von den neuern, als Pufendorfen, Buddeo und andern kräfftig widerlegt worden.69

Für Walch schien folglich die Möglichkeit, einen wissenschaftlichen Zugang zur Morallehre finden zu können, naheliegender – verbunden mit dem Anspruch notwendige und wahre Sätze festzulegen – als selbiges für einzelne physikalische Beobachtungen zu erreichen. Das Mitte des Jahrhunderts erscheinende Zedlers Universal-Lexikon (1748) orientierte sich sehr eng und teilweise wortgetreu an Walchs Eintrag.70 Doch brachte das Folgewerk auch einen Bedeutungszuwachs, da im Zedler ganze 186 Spalten aufgewendet wurden, um sich dem ‚Wissenschafts‘-Begriff zu nähern. Dabei ist auf die Erweiterung des Eintrags durch die neu hinzugekommene Pluralbildung der ‚Wissenschafften‘ zu verweisen, deren Hierarchie und adäquate Bearbeitung nun den überwiegenden Teil des Artikels ausmachten.71 Der inhaltliche Unterschied der beiden Lexika kann indessen darin gesehen werden, dass Walch seine Gewährsleute unter Thomasius, Pufendorf und Buddeus suchte, während das Zedlersche Lexikon als Großprojekt von Parteigängern der jüngeren Philosophie Christian Wolffs interpretiert worden ist.72 Erstere Gruppe von so genannten Früh68 69 70

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Ebd., Sp. 2921. Ebd., Sp. 2921f. Zum ‚Zedler‘ vgl. Horst Dreitzel, Zedlers „Großes vollständiges Universallexikon“, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 18 (1994), S. 117–124. Der Leipziger Buchhändler und Verleger Johann Heinrich Zedler (1706–1751) war auch noch, wie Walch, als Herausgeber von Luthers Sämmtlichen [...] Schriften und Wercken (22 Bde., 1729–1734) tätig. Seit 1738 leitete der Leipziger Kaufmann Johann Heinrich Wolf den Verlag. Vgl. Vierhaus / Bödeker (Hg.), Biographische Enzyklopädie, S. 327. Art. ,Wissenschaften‘ in: Grosses vollständiges Universal-Lexikon Aller Wissenschafften und Künste, Welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden. Leipzig / Halle 1748, Sp. 1346–1532. Walch hatte seinen Schwiegervater Johann Franz Budde in dessen Bedencken über die Wolffianische Philosophie (1724) mit einer eigenen Schrift unterstützt: Bescheidener Beweis, dass das Buddeische Bedenken noch fest stehe (1725). Dagegen räumte der Leipziger Wolffianer und spätere Herausgeber des Zedler, Carl Günther Ludovici, den Einträgen ‚Wolf, Chris-

aufklärern war vor allem um eine klare Abgrenzung von der Schulphilosophie und um die Etablierung einer praktischen ‚Weltweisheit‘ bemüht, deren vorrangiges Ziel in der ‚Glückseligkeit‘ der Menschheit bestehen sollte. Wolff und seine Anhänger rückten hingegen das Problem des Wissens als solches und das Interesse an einer methodisch abgesicherten Erkenntnislehre oder ‚Wissenschaft‘ wieder stärker in den Vordergrund.73 An erster Stelle findet sich im Zedler ein ‚Gebäude der Wissenschafft‘, in dem sich in den ersten drei Rängen Philologie, Philosophie und Historie untergebracht finden. Die Philosophie wiederum wird unterschieden in die Lehre „des Geistes und der Materie (‚Metaphysick‘), oder diejenige Wissenschafft, welche von den allgemeinen Wesen aller Dinge, und deren Hauptunterschied, des Geistes u. der materialischen Dinge, handelt“. Die ‚Natur-Lehre‘ oder ‚Physick‘ verhandelt hingegen die einzelnen und natürlichen Erscheinungen. Das bedeutet im Besonderen die Phänomene des Menschen (‚Anthropologie‘) und die „ausser dem Menschen befindlichen Cörpern“.74 Die ‚Historie‘ bietet in ihren verschiedenen Verästelungen (‚historia sacra‘, ‚historia profana‘, ‚historia civilis‘, ‚historia naturalis‘, ‚historia artificialis‘, ‚historia res morum & rituum‘, ‚historia res experimentorum‘, ‚historia res effectuum curiosorum‘) die faktische Basis der anderen Wissenschaften, und dadurch „billig ein Universal-Studium soll und muß genennet werden, weil keine von den übrigen Disciplinen selbige entbehren kann“.75 Das Ideal der universellen Behandlung der Wissenschaften konnte vor dem Hintergrund der zunehmenden Spezialisierung kaum mehr verwirklicht werden und war auch nicht mehr ein unbedingtes Desiderat: „[...] [S]o ist es nicht zu sehen, warum einer z. E. nicht eine vollkommene Sitten-Lehre schreiben könne, ohne von der Poesie Wissenschafft zu haben.“76 Im Vordergrund steht vielmehr das Problem, auf welche Weise man sich Wissenschaft von den Dingen verschafft. Durch die VernunftLehre kann man sich aus Eindrücken und Vorstellungen ‚Begriffe‘ von den Dingen machen. Das geschieht auf zweierlei Art: einmal durch ‚Abstraction‘ (vergleichen und auf Ähnlichkeit prüfen) und durch willkürliche Verbindung, die erst durch

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tian‘ und ‚Wolfische Philosophie‘ 477 Spalten im Lexikon ein. Vgl. Zedler, Universal-Lexikon, Bd. 58, Sp. 549–677 und Sp. 883–1232. Günter Mühlpfordt interpretiert „das meistkonsultierte Nachschlagewerk der Hochaufklärung“ als wirkungsträchtiges Medium der Wolffischen Philosophie. Vgl. Ders., Radikaler Wolffianismus. Zur Differenzierung und Wirkung der Wolffischen Schule ab 1735, in: W. Schneiders (Hg.): Christian Wolff. 1679–1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung. Hamburg 1983, S. 237–265, hier S. 239. Zu der Frage, was unter Philosophie im 18. Jahrhundert – zwischen Früh-, Hoch- und Spätaufklärung – zu verstehen sei, die unverzichtbaren Schriften von Werner Schneiders, Deus est philosophus absolute summus. Über Christian Wolffs Philosophie und Philosophiebegriff, in: Ders. (Hg.): Christian Wolff, S. 9–30. Vgl. auch Ders., Zwischen Welt und Weisheit. Zur Verweltlichung der Philosophie in der frühen Moderne, in: Studia Leibnitiana XV/1 (1983), S. 2–18, hier S. 13f. Zedler, Art. ‚Wissenschafften‘, Sp. 1401. Ebd., Sp. 1403. Ebd., Sp. 1405.

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‚Demonstration‘ oder ‚Erfahrung‘ zum eigentlichen ‚Begriff‘ von etwas wird.77 Die ‚Ungewißheit der Wissenschafften‘ liegt folglich zum einen in der Sprache und zum anderen in der formalen Logik. Dennoch würde man sich, bliebe man auf dem Wege einer immer kunstvoller werdenden Syllogistik, stetig weiter von einer möglichen ‚Verbesserung der Wissenschafften‘ entfernen. Der Weg zu einer möglichen Verbesserung bestünde vor allem darin, dass die Wissenschaften „vollständiger, gründlicher und leichter gemacht werden, wodurch sie also brauchbarer und nützlicher sind“.78 Dabei bietet jede Wissenschaft zwei Seiten zur Korrektur an: Materialität und Formalität. Um also eine neue ‚Erfindung‘ zu machen, brauchte man ein gedoppeltes Mittel: Die Erfahrung und das Nachdencken. Jene macht Gelegenheit dazu, dass wie alle Philosophischen Disciplinen ihren ersten Anfang aus der Erfahrung haben; also müssen sie auch daraus verbessert werden.79

Dennoch bliebe „die Erfahrung an sich, wenn das Nachdenken damit nicht verknüpfet wird, [...] todt und nutzet nichts“. In der Urteilsfindung wird also unterschieden zwischen erstens synthetischen Urteilen – wenn man etwas aus Erfahrungsgründen beweist, diese Beweise mit Definitionen und Prinzipien abgleicht und daraus Schlüsse zieht – und zweitens analytischen Urteilen, „wenn man anderer ihre Gedancken prüfet“.80 So sehr auch die Verbesserung der Wissenschaften nach diesen Maximen zu wünschen sei, so solle man gleichzeitig „die Saiten der Vernunfft nicht allzu hoch spannen wollen“. Die Welt berge durchaus ihre unergründlichen Geheimnisse, und man solle sich nicht „in den Kopf setzen, alle zu eigentlich so genannten Wissenschafften zu machen und überall unleugbare Wahrheiten zu suchen“. Eine besondere Gefahr bestünde darin, „wenn man allenthalben die Mathematische Methode appliciren will“.81 Die Verbesserung der Wissenschaften ist weniger in der Übertragung fremder Methoden, als in ihrer ungestört freiheitlichen Entfaltung zu suchen. Historisch gesehen habe die Wissenschaft immer dann stagniert, wenn sie am Gängelband einer vorherrschenden Lehre geführt worden sei, was für die jüngste Vergangenheit solange Stillstand bedeutete, „so lange als man nicht eines Nagels breit von der Aristotelisch-Scholastis. Philosophie abgehen durfte“.82 Es sei jedoch gerade förderlich, aus den Fußstapfen der Alten abzuweichen und, nach dem Vorbild des Baco de Verulamio, eigene Wege einzuschlagen. Jedem Einzel77 78

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Ebd., Sp. 1406f. Ebd., Sp. 1417. In dieser Argumentation lässt sich ein direkter und wörtlicher Bezug zu Wolff herstellen. Vgl. Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken Von den Kräfften des menschlichen Verstandes Und Ihren richtigen Gebrauche In der Erkäntniß der Wahrheit. Halle 10. Aufl. 1740, S. 48ff. Zedler‚ Art. ‚Wissenschafften‘, Sp. 1418. Ebd. Ebd., Sp. 1420. Ebd., Sp. 1425.

nen stünde es offen, Wissenschaft durch Bücher, eigenes Nachsinnen, Unterricht und durch die Erfahrung zu erlangen. Die Feinde dieser sich frei entfaltenden Wissenschaft seien allen voran die „so genannten Pietisten“, aber auch die Philosophen, die weiterhin an den „unnützen Aristotelischen und Scholastischen Grillen“83 festhielten. Ein historischer Überblick schließlich, vom Wachstum der Wissenschaften seit der Entstehung der Welt, vermerkt mit der Durchsetzung des Buchdrucks im 16. Jahrhundert eine deutliche Verbesserung durch die Verbreitung fremdländischer Literatur. Im 17. Jahrhundert konnte dann durch die „Aufrichtung neuer Universitäten und Gelehrter Gesellschafften, theils durch das Wachsthum neuer Bibliotheken“84 die Wissenschaftslandschaft merklich ausgebaut werden. Die Ausarbeitung der deutschen Sprache durch Literaten und Gelehrte habe in dieser Zeit dazu beigetragen, sie als Wissenschaftssprache überhaupt einrichten zu können. Die Fortschritte in der Philosophie und zwar erstlich die Logick belangend, so fieng Franciscus Baco de Verulamio, Cantzler von Engelland, an, viel Verbesserungen darinn zu zeigen; Cartesius brachte die Lehre von den praejudiciis auf; Johann Locke, ein vortreflicher Philosoph in Engelland, hat in seiner Schrifft von dem menschlichen Verstande ein grosses in diesem Stücke prästiret.85

Und auch die ‚Weltweißheit‘ habe unter diesem Einfluss eine gründliche methodische und thematische Veränderung erfahren, die sich mit den Namen Thomasius, Gundling, Buddeus und anderen verbinde und ihre präziseste Formulierung in der Philosophie von Christian Wolff gefunden habe.86 Auch diese Zusammenfassung der lexikalischen Definitionen des Wissenschaftsbegriffs bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts erlaubt einige Rückschlüsse hinsichtlich der Etablierung und Bedeutung des Konzeptes von ‚Wissenschaft‘ im deutschsprachigen Raum. Zunächst ist festzuhalten, dass die Zuordnung Walchs und Zedlers zu verschiedenen Positionen der so genannten Früh- beziehungsweise Hochaufklärung sich nicht eindeutig an den Ausrichtungen der Artikel aufzeigen lässt. Vielmehr erschwert das Nebeneinander vermeintlich klar zu differenzierender früh- und hochaufklärerischer Positionen eine Unterscheidung und zeigt, besonders im ,Zedler‘, dass noch keinerlei definitorische Klarheit oder ideologische Festlegung bestand. Es ist hervorzuheben, dass verschiedene Einlassungen des Artikels ‚Wissenschafften‘ im ,Zedler‘, wie beispielsweise die Skepsis hinsichtlich der Übertragung der mathematischen Methode auf die Philosophie oder die offene Kritik am Pietismus, nur schwerlich mit Wolffs Positionen in Einklang zu bringen sind.87 Elementar ist jedoch, dass die Frage, welche Rolle Philosophie und Wissen83 84 85 86 87

Ebd., Sp. 1463. Ebd., Sp. 1485. Ebd., Sp. 1495. Ebd., Sp. 1504. In diesem Sinne auch Horst Dreitzel, der gängige Allgemeinaussagen über den ,Zedler‘, hinsichtlich des vorherrschenden Einflusses der Philosophie Christian Wolffs oder der Verbin-

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schaft weiterhin spielen sollten, durch Christian Wolff (1679–1754) eine Zuspitzung erfahren hatte und seine Philosophie damit der Neukonzeption von Wissenschaft eine maßgebliche Ansatz- und Angriffsfläche bot.88 Im Unterschied zur traditionellen Scholastik behandelte Wolff die Philosophie nicht als die Lehre von den wirklichen Dingen, sondern setzte anstelle des Seins den Begriff der Möglichkeit des Seins. Demnach beschäftigten die Philosophie weniger die Dinge selbst als das Wissen von den Dingen.89 Neben der Seinsnotwendigkeit wurde gerade die Erkenntnisgewissheit in Frage gestellt und an deren Stelle trat eine praktische Vernunft, die ihre Erkenntnisse aus der Erfahrung bezog. Damit wird Wissenschaft ein erschließender Konstruktionszusammenhang zwischen empirischen Daten und einer Annäherung an das eigentliche Wesen der Dinge, über deren Inhalt man niemals Gewissheit, aber wahrscheinliche Aussagen erlangen kann. Dieses Wissen musste hinsichtlich seiner Einteilung in verschiedene Wissenschaften und seiner sicheren Erlangung differenziert werden.90 In der Folge fielen die beiden Bedeutungsinhalte von Wissenschaft als ‚Erkenntnis‘ einerseits und ‚Lehre‘ andererseits zunehmend in eins und traten dadurch mit der traditionellen Rolle der ‚philosophia‘ in Konkurrenz, die diese Ambiguität, gleichzeitig Erkenntnis und Lehre zu sein, stets in sich vereinigt hatte.91 Der Abgrenzungsgestus galt mithin in der Früh- als auch in der Hochaufklärung der traditionellen Schulphilosophie und dem Aristotelismus, die beide den Anforderungen des außerschulischen, realen Lebens nicht mehr gewachsen zu sein schienen und denen eine praktische und nutzbringende ‚Gelehrsamkeit‘ entgegengestellt werden sollte.92 Die Erlangung einer solchermaßen definierten ‚Weltweisheit‘ sollte wiederum jedem, durch Bücher, Erfahrung oder Unterricht, offen stehen, so dass auch hier von einer

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dung von Rationalismus und Pietismus, stark in Zweifel zieht. Vgl. Ders., Zedlers „Großes vollständiges Universallexikon“, S. 117f. Trotz der Problematik, klar abgegrenzte Schulen in der Aufklärung ausmachen zu wollen, ist der Feststellung, dass Christian Wolff ein neues philosophisches ‚System‘ schuf und dieses von seinen Gegnern auch als ‚scholastisch‘ empfunden wurde, zuzustimmen. Vgl. Schneiders, Zwischen Welt und Weisheit, S. 14. Dazu auch Wolfgang Walter Menzel, Vernakuläre Wissenschaft. Christian Wolffs Bedeutung für die Herausbildung und Durchsetzung des Deutschen als Wissenschaftssprache. Tübingen 1996, S. 87. Zur Auseinandersetzung mit Wolffs Philosophie in den Jahren 1730–1760 vgl. Raffaele Ciafardone, Von der Kritik an Wolff zum vorkritischen Kant. Wolff-Kritik bei Rüdiger und Crusius, in: Schneiders (Hg.): Christian Wolff, S. 289–305, hier S. 289. In diesem Sinne stellt Christian August Crusius in seinem Weg zur Gewissheit und Zuverlässigkeit der menschlichen Erkenntnis (1747) das erste Kapitel unter den Titel Vorbericht von der Philosophie überhaupt und den Wissenschaften derselben. Vor dem Hintergrund dieser Analyse ist der Feststellung Wolfgang Hardtwigs zu widersprechen, dass der Wissenschaftsbegriff bis ins späte 18. Jahrhundert „auf die einzelne Person des Wissenden“ bezogen blieb. Vgl. Ders., Die Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung und die Ästhetisierung der Darstellung, in: R. Koselleck / H. Lutz / J. Rüsen (Hg.): Formen der Geschichtsschreibung. München 1982, S. 147–191, hier S. 149. Der Begriff der ‚Gelehrsamkeit‘ war zunächst für die Schulphilosophie kennzeichnend und wird im Verlauf des 18. Jahrhunderts synonym mit ‚Wissenschaft‘ verwendet. Etwa bei Johann Andreas Fabricius, Abriß einer allgemeinen Historie der Gelehrsamkeit. 2 Bde. Leipzig 1752.

bewussten Öffnung eines vormals hermetischen Wissenschaftsbetriebs gesprochen werden kann. Die zur ‚Weltweisheit‘ gewandelte Philosophie entsprach damit dem modernen Wissenschaftsverständnis einer „theoriam cum praxi“.93 Die Erfahrung, das Faktenwissen der ‚cognitio historica‘, erhielt dabei gegenüber der Scholastik eine deutliche Aufwertung, indem sie zur unabdingbaren Basis der meisten Wissenschaften wurde. Die Funktion der ‚cognitio historica‘ bestand darin, zwischen den unableitbaren Prinzipien und den durch Induktion gewonnenen allgemeinen Begriffen zu vermitteln. Gleichzeitig verblieb die Historie damit auf der Ebene der ‚notitia nudi facti‘ – der faktischen Einzelerkenntnis, deren Ergebnisse immer nur wahrscheinlich sein können – und hatte damit selber nicht den Rang einer eigenen Wissenschaft.94 Die Historie behielt ihre doppelte Bedeutung und zweifache Funktion als Erkenntnisfundus der einzelnen Phänomene der Natur (‚historia naturalis‘) und spezieller der Erkenntnis über den Menschen und dessen Tun (‚historia moralis atque civilis‘). Der entscheidende Schritt, das bislang Kontingente einem wissenschaftlichen Verfahren zu unterziehen, bestand darin, auch in den ‚negotiis humanis‘ einen allgemeinen Zusammenhang, eine Gesetzmäßigkeit, erkennen zu wollen.95 Den Hintergrund für diese Operation bildete die Vorstellung einer göttlich gestalteten, gleichförmigen Ordnung der Welt, deren beiden Teile – die physische Welt wie die moralische – von den gleichen Gesetzen regiert würden. 2.1.3. Gemeinsamkeiten und Differenzen Rekapituliert man die verschiedenen Elemente des Wissenschaftsbegriffs in Deutschland im 18. Jahrhundert und vergleicht sie mit denen im angelsächsischen Raum, fallen zunächst die Ähnlichkeiten auf.96 Interessanterweise formierten sich 93

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Zur Definition von ‚Weisheit‘ als ‚Wissenschaft von der Glückseligkeit‘ bei Leibniz und Wolff vgl. Frank Grunert, Art. ‚Weisheit‘, in: W. Schneiders (Hg.): Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa. München 1995, S. 440–441. Diesem Anspruch entsprach auch die Konzeption des ‚Zedler‘, durch den „der Wissensstand der Zeit, das Wissenswerte und das Nützliche“ Verbreitung finden sollte. Vgl. Ulrich Johannes Schneider / Helmut Zedelmaier, Wissensapparate. Die Enzyklopädistik der Frühen Neuzeit, in: R. van Dülmen / S. Rauschenbach (Hg.): Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Köln u.a. 2004, S. 349–363, hier S. 361. Christian Wolff, Philosophia rationalis sive logica, methodo scientifica pertractata et ad usum scientarum atque vitae aptata praemittitur discursus praeliminaris de philosophia in genere. Frankfurt a.M. / Leipzig [³1740]. Nachdruck, Hildesheim 1983, § 3–7. Vgl. dazu Dreitzel, Die Entwicklung der Historie zur Wissenschaft, S. 271. Vgl. auch Arno Seifert, Nuda Facti Notitia. Historische Erkenntnis und historische Wahrscheinlichkeit bei Christian Wolff und in seiner Nachfolge, in: Ders., Cognitio Historica, S. 163–178. Christian Wolff entwickelte ein entsprechendes Projekt. Vgl. Ders., De nexu rerum negotiis humanis, prudentiae fundamento, in: Ders., Horae, suvessivae Marburgenses anni 1730. Frankfurt a.M. / Leipzig 1731, S. 291–322. Auch für den französischen Begriff der ‚science‘ ließe sich eine ähnliche Diagnose seit der Übertragung in die Nationalsprache im 18. Jahrhundert stellen. Vgl. Art. ‚Science‘, in: Denis

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beide Wissenschaftskonzepte um 1700 aus einer generellen Skepsis in der Frage, was überhaupt gewusst werden kann. In der Krise des Aristotelismus und in Abgrenzung von der als dogmatisch empfundenen Scholastik vollzog sich eine freiwillige Restriktion des Wissens. Die Zurückhaltung bei den durch einen erheblichen Zuwachs von Erkenntnissen erschütterten Großdeutungen verschaffte grundsätzlichen Erörterungen von Wahrnehmungsweisen und Erkenntnisfähigkeit breiteren Raum. Der Vorbehalt gegenüber metaphysischen Systemen ließ die grundsätzliche Frage virulent werden, auf welchen Vorgängen menschliche Wahrnehmung überhaupt beruht, und warf damit die Philosophen auf ihre eigene Wahrnehmungsfähigkeit zurück – auf ihr Dasein als wahrnehmungsbeschränktes Gattungswesen ‚Mensch‘. Philosophie als Selbstbeobachtung machte das ‚Menschenstudium‘ als Lösung erkenntnistheoretischer Probleme zu einer zentralen Aufgabe innerhalb der philosophischen Disziplinen. Die angelsächsische Philosophie hatte mit diesen psychologischen Themenstellungen gerade zur Grundlegung einer säkularen Moralphilosophie – mit Locke, aber auch mit Lord Shaftesbury und Francis Hutcheson – Pionierarbeiten und besonders erfolgreiche Exporte zu verzeichnen.97 Parallel zu dieser erkenntnistheoretischen Problemstellung gaben bahnbrechende Entdeckungen und Erfindungen in Physik und Astronomie98 Anlass zu der Hoffnung, auch in anderen Wissensbereichen – wie Ethik und Moralphilosophie – eine ‚kopernikanische Wende‘ erzielen zu können und dort ebenfalls anwendungsfähige Theorien zu entwickeln. Eine Aufwertung der Alltagserfahrung war damit einerseits Grundlage eines induktiv verankerten Wissenschaftskonzepts, wie dadurch andererseits die theoretische Voraussetzung für den Zugang und die Möglichkeit zur Teilhabe an den Wissenschaften für jedes denkende Individuum geschaffen wurde.99 Das Wahrheitskriterium in der Wissenschaft wich dem Wahr-

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Diderot / Jean le Rond D’Alembert, Encyclopédie, ou Dictionnaire raissouné des sciences, des arts et des métiers, Bd. 14. Paris / Neufchastel 1765, Sp. 787–793. In diesem Artikel wird aus den programmatischen Präliminarien der Encyclopédie zitiert und eine Traditionslinie von Bacon, Descartes, Newton, Locke, Leibniz in der Erforschung der Natur, zu Galilei, Huygens, Pascal, Boyle in der Physik, Boerhaave in der Medizin und zu Grotius, Pufendorf und Thomasius in Naturrecht, Ethik und Politik hergestellt. Vgl. ebd., S. 789. Allgemein dazu Lutz Geldsetzer, ‚Science‘ im französischen Sprach- und Denkraum, in: Diemer (Hg.): Der Wissenschaftsbegriff, S. 76–89, hier S. 88. Reinhard Brandt betont insbesondere den Einfluss Lockes für die Verknüpfung des LeibnizWolffischen Rationalismus mit dem modernen Empirismus im 18. Jahrhundert, verweist aber gleichzeitig auf den stillschweigenden Metaphysikverzicht der angelsächsischen Philosophie durch den psychologischen Subjektivismus, der sich auf dem Kontinent nie völlig durchsetzen konnte. Vgl. Brandt, Die englische Philosophie, S. 66f. In diesem Sinne kommt Max Dessoir zu der weitreichenden Aussage, dass „schon Locke den gesamten Umfang des Erfahrbaren der Psychologie unterworfen“ habe. Vgl. Ders., Abriß der Geschichte der Psychologie. Heidelberg 1911, S. 109. Vgl. dazu Stephen Toulmin / June Goodfield, The Fabric of Heavens. The Development of Astronomy and Dynamics. London / Chicago 1999, S. 182ff. Mit der Abgrenzung von den Schulen beginnt mit „Bacon und Descartes die Philosophie der Laien“. Vgl. Schneiders, Zwischen Welt und Weisheit, S. 7.

scheinlichkeitskriterium sowie der Prüfung durch Erfahrung. Mit diesem veränderten Focus auf ehemals kontingente Wissensbereiche erfährt die ‚cognitio historica‘ eine Aufwertung ihrer traditionellen Rolle als Namensgeberin der frühneuzeitlichen Empirie. Auch in dieser Hinsicht lässt sich eine parallele Entwicklung für das Wissenschaftskonzept im englisch- und deutschsprachigen Raum zeigen, der man mit einer nationenspezifischen Zuordnung innerhalb des Rationalismus-EmpirismusSchema nicht nur Gewalt antäte, sondern dadurch auch den konstitutiven Zusammenhang beider Richtungen für die Neukonstituierung sowohl des angelsächsichen als auch des deutschen Wissenschaftskonzeptes verkennen würde.100 Während das klassische Verständnis der ‚scientia‘ darauf ausgerichtet war, ein kategorisch-deduktives System absoluter Wahrheiten und Erkenntnisse zu schaffen, liegt das gemeinsame Ziel der modernen ‚science‘ oder ‚Wissenschaft‘ darin, ein hypothetisch-deduktives System konditioneller Sätze herzustellen.101 Die ‚Wissenschaftlichkeit‘ hypothetisch-deduktiv ermittelter Sätze erschließt sich nicht mehr aus absoluten Wahrheiten, sondern wird einem Sinnkriterium unterzogen, das wiederum an seiner Wahrscheinlichkeit gemessen wird. Das induktive Element in dem Verfahren besteht damit einerseits im erkenntnistheoretischen Austarieren dieser Plausibilität zwischen allgemeinen Prinzipien und der eigenen Erfahrung und andererseits im äußeren empirischen Befund. Diese methodisch-theoretischen Erwägungen können als grundlegend gemeinsames Thema der Konzepte von ‚science‘ und ‚Wissenschaft‘ im 18. Jahrhundert gelten. Neben der Lösung des Problems, wie man Wissenschaft von etwas erlangen kann, gewann – sowohl für den angelsächsischen als auch für den deutschen Sprachbereich – die Frage an Bedeutung, was material unter ‚sciences‘ und ‚Wissenschaften‘ zu fassen sei. Und auch hier ergibt sich ein ähnlich lautender Befund. In den formalen Konzepten von ‚science‘ und ‚Wissenschaft‘ in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts sind kaum Restriktionen zu finden. Eine erste Abgrenzung von den ‚arts‘ und ‚Künsten‘ lässt sich beider Orts schon an den Titeln der neuen Wissensordnungen ablesen. Das enzyklopädische Interesse an einer genaueren 100

Das philosophiegeschichtliche Schisma von Rationalismus und Empirismus korrespondiert mit einer Überbetonung der empirischen Anteile der angelsächsischen Philosophie einerseits und der Verengung der deutschen Aufklärungsphilosophie auf den Standpunkt des ‚Rationalismus‘ andererseits. Schon Ernst Cassirer hebt die „Vereinigung und Versöhnung des ‚Positiven‘ und des ‚Rationalen‘“ als Signum aufklärerischen Denkens hervor. Vgl. Ders., Die Philosophie der Aufklärung, S. 10. Als generellen Deutungsrahmen der Aufklärung und zur Infragestellung eines vorherrschenden Rationalismus nutzt dieses Schema Panajotis Kondylis in Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. 101 Diese Formel von ‚kategorisch-deduktiv‘ vs. ‚hypothetisch-deduktiv‘ zur Entgegensetzung ‚klassischer‘ und ‚moderner‘ Wissenschaftskonzepte entwickelt Alwin Diemer, Wissenschaftsbegriff in historischem und systematischem Zusammenhang, in: Ders. (Hg.): Der Wissenschaftsbegriff, S. 3–20, hier S. 5. Auch Ernan McMullin stellt als dritte Position zwischen ‚deductivism‘ und ‚inducitivism‘ die des ‚hypothetico-deductivism‘ als moderne Wissenschaftskonzeption vor. Vgl. Ders., Conceptions of Science in the Scientific Revolution, S. 31f.

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Zuschreibung der Wissenschaften war vor allem den Anforderungen eines außeruniversitären Leserkreises geschuldet und zunächst nicht vordringlich auf eine Hierarchisierung der verschiedenen Wissenschaften ausgerichtet.102 Religion, Philosophie, Physik, Naturkunde (knowledge of the things), Ethik und Moralphilosophie (the skill of rightly applying our own powers), sowie Logik und die Philologie (doctrine of signs) wurden in diesen Wissenschaftskonzepten mit einbezogen.103 Eine Verschiebung des Erkenntnisinteresses und die Neuformierung der Konzepte von ‚science‘ und ‚Wissenschaft‘ sind daher weniger am Kanon der Disziplinen als vielmehr an einer neuen Orientierung innerhalb ihrer Gegenstände ablesbar. Die wissenschaftliche Neugier kreiste seit dem 17. Jahrhundert in erster Linie um den Themenkomplex ‚Natur‘ und erst dann galt das Interesse dem ‚Menschen‘. Anders formuliert, war die neuartige Auseinandersetzung mit der Natur – als einem inneren und äußeren Erfahrungsraum – die Grundlage der jungen Wissenschaften, während der Mensch erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts zunehmend als Teilbestand dieses Erfahrungsraums untersucht wurde.104 Dabei ist offenkundig, dass das Interesse für diese beiden Themenfelder nicht neu war. Dennoch hatte sich das Erkenntnisinteresse solcherart verändert, dass man insbesondere in der Naturlehre nicht mehr, wie im Gefolge der aristotelischen Philosophie, nach Universalien suchte, sondern sich zunächst auf die Sammlung und Interpretation einzelner Erscheinungen begrenzen wollte.105 Der besondere Reiz einer Theorie wie der Newtons lag in der Möglichkeit, eben diese vereinzelten Erscheinungen der Natur an ein übergreifendes Gesetz zurückzubinden. Wieso sollte folgerichtig ein allgemeines Gesetz, wie es für die physische Welt der Natur bestimmend war, nicht auch für die ‚moralische Welt‘ des Menschen ausfindig gemacht werden können? Ein maßgeblicher Aspekt für die Veränderung der Konzepte von ‚science‘ und ‚Wissenschaft‘ im Verlauf des 18. Jahrhunderts bestand folglich darin, dass die Gegenstände ‚Natur‘ und ‚Mensch‘ zueinander in Beziehung gesetzt und ihre wissenschaftliche Erforschung homogenisiert wurde. ‚Natur‘ als Komplementärbegriff 102

Richard Yeo hat die zugespitzte These entwickelt, dass im 18. Jahrhundert, im Vergleich zum Vorgängerzeitraum und vor allem zum 19. Jahrhundert, nur ein geringfügiger Beitrag zur Klassifikation der Wissenschaften zu verzeichnen sei und das Desiderat in der Einheit der Wissenschaften gelegen habe. Vgl. Ders., Classifying the Sciences, S. 246. 103 Chambers, Art. ‚Science‘, in: Cyclopaedia, Bd. 2, [unpag.]. 104 Zum komplexen semantischen und erkenntnistheoretischen Einsatz des Naturbegriffs zur Bezeichnung der äußeren Naturdinge, des inneren Wesens der Dinge und des den Dingen innewohnenden Prinzips vgl. Thomas Leinkauf, Der Natur-Begriff des 17. Jahrhunderts und zwei seiner Interpretamente: „res extensa“ und „intima rerum“, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000), S. 399–418, hier S. 403f. 105 Ich folge hier Lorraine Dastons These von der neuen Aufmerksamkeit für das Besondere als Grundlage der Transformation in der Naturphilosophie. Vgl. Lorraine Daston, Die Lust an der Neugier in der frühneuzeitlichen Wissenschaft, in: K. Krüger (Hg.): Curiositas. Welterfahrung und ästhetische Neugierde in Mittelalter und Früher Neuzeit. Göttingen 2002, S. 147–175, hier S. 161f.

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zum Transzendenten, als Synonym für das Wirkliche überhaupt, als Urprinzip der ‚Gesetze der Natur‘ wurde nicht mehr als Entgegensetzung zu allem Menschlichen interpretiert, sondern bot die Basis, um dessen Wesenhaftigkeit neu zu bestimmen.106 Die solcherart ermittelte ‚Natur des Menschen‘ diente wiederum sowohl zur epistemologischen Grundlegung als auch als Forschungsgegenstand eines erneuerten Wissenschaftsgebäudes; war also Subjekt und Objekt weiter Teile der Gelehrsamkeit zugleich.107 Durch die Naturalisierung des Forschungsgegenstandes ‚Mensch‘ traten traditionelle Disziplinen wie Ethik oder Politik zunächst in den Hintergrund, da gerade das Verhältnis des Menschen zur Natur – seine physische Konstitution: durch seine Menschlichkeit (‚humanitas‘), durch seine Unterschiedenheit vom Tier, durch seinen Geist (‚pneuma‘) – ihm den Status eines Objektes der ‚historia naturalis‘ verliehen. Der naturalisierte Mensch wurde im Verlauf des 18. Jahrhunderts in die ‚historia humana atque civilis‘ zurückgeführt, wodurch eine neue Art der Menschheitsgeschichte entstand. Während allerdings im deutschen Wissenschaftskonzept, wie etwa im Zedler vermittelt, die ‚Historie‘ als Propädeutik in den Artikel ‚Wissenschafften‘ miteinbezogen wurde, hielt Chambers in der Cyclopaedia für die mannigfaltigen Erscheinungen der Natur und des Menschen die Artikel ‚Natural History‘ und ‚History‘ bereit und billigte nur der ‚Natural Philosophy‘ den Status einer ‚science‘ zu.108 Ein maßgeblicher Unterschied der beiden Wissenschaftskonzepte scheint daher in der jeweiligen Zuschreibungspraxis zu liegen. Während man im angelsächsischen Raum deutlich den Vorrang einer beschreibend-empirischen Vorgehensweise mit dem ‚science‘-Begriff verband, waren die deutschen Begriffe von ‚Wissenschaft‘ weniger darauf festgelegt, was unter dem Bezeichnungsrahmen induktiv-deduktiv vermittelter Erkenntnis zu fassen sei. Das bedeutete konkret, dass die Vergabepraxis des englischen Wissenschaftsbegriffs engen Vorgaben und Grenzen folgte, während man in der deutschen Enzyklopädik allen Disziplinen die Chance einräumte, im Zuge einer methodischen Erneuerung als ‚Wissenschaft‘ auftreten zu können. Signifikant wird diese Differenz dadurch, dass in den deutschsprachigen Lexika der Pluralbildung ‚Wissenschafften‘ ein eigener Eintrag zugebilligt wird, während der englische ‚science‘-Begriff im lexikalischen 106 107

Vgl. Leinkauf, Der Natur-Begriff, S. 400f. In diesem Sinne dient Martin Schmeitzel eine Abhandlung über die Natur des Menschen in seiner Historie der Gelehrtheit sowohl als Voraussetzung als auch zur Bestimmung ihres Subjekts: „Da auch die Gelehrtheit keine Substanz, sondern ein Accidens ist, welches in alio tanquam subjecto anzutreffen, so müssen wir nothwendig im Voraus de subjecto eruditionis reden [...]. Nun ist bekannt, daß einige deswegen eruditionem, cum addito: humanam nennen, weil der Mensch des subjectum erudiendum ist, dehero giebet sich’s von selbsten, dass wir zuvörderst den Menschen und dessen natürliche Beschaffenheit in Consideration ziehen müssen.“ Vgl. Martin Schmeitzel, Versuch zu einer Historie der Gelehrtheit. Jena 1728, S. 26. 108 Zedler, Art. ‚Wissenschafften‘, Sp. 1401. Chambers, Art. ‚Natural History‘: „a description of the Natural Products of the earth“; Art. ‚Natural Philosophy‘: „that science which considers the powers of nature, the properties of natural bodies, and their mutual action on one another, otherwise called physics. SEE PHYSICS“, in: Cyclopaedia, Bd. 2, [unpag].

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Gebrauch weniger als Bezeichnung verschiedener Disziplinen als zur Markierung einer bestimmten Erkenntnisform diente.109 Dennoch wäre es zu weit gegriffen, wollte man deshalb bereits Mitte des 18. Jahrhunderts von einer Begrenzung des Wissenschaftsbegriffs auf die Naturwissenschaften im angelsächsischen Raum sprechen, wie es ebenso unzutreffend wäre, dem Wissenschaftsbegriff im deutschen Sprachraum eine ausgesprochene Affinität zu philosophisch, historisch oder philologisch orientierten Disziplinen zu unterstellen. Das Wissen um die Entwicklung beider Wissenschaftskonzepte in verschiedene Richtungen hat den Blick für die überwiegenden Gemeinsamkeiten der methodischen und materialen Problemstellungen im 18. Jahrhundert verstellt. Die Wissenschaftsgeschichten beider nationaler Kontexte haben sich seit dem 19. Jahrhundert auf die jeweilig besonderen Entwicklungen ihrer Sphären kapriziert und damit meist eine restriktive Perspektive für die Entwicklung des eigenen Wissenschaftsraums eingenommen. Für den englischen Bereich hieß das in der Forschungsperspektive, dass sich die Auseinandersetzung mit ‚science‘ im 17. und 18. Jahrhundert vorherrschend auf das Feld der nachmaligen Naturwissenschaften konzentrierte. Aus diesem Blickwinkel wurde der empiristisch-naturwissenschaftlich orientierten angelsächsischen Wissenschaftsentwicklung ein Beharren auf romantisch-mystischen, vor allem aber antiszientistischen Traditionen im deutschen Raum antagonistisch gegenüber gestellt.110 Die deutsche Aufklärungsforschung hat sich ihrerseits gleichermaßen auf die geisteswissenschaftlichen Aspekte des 18. Jahrhunderts konzentriert, es zumeist bei der Erwähnung einer mehr allegorisch-formelhaften Berufung der untersuchten Autoren auf Newton belassen und dabei vernachlässigt, wie stark die deutsche Aufklärungsbewegung von den naturwissenschaftlichen Forschungen und Fragestellungen bestimmt war.111 Erst in neueren Untersuchungen ist der Versuch unternommen worden, die engen Grenzziehungen der jeweiligen Wissenschaftsauffassungen zugunsten eines systematischen Ansatzes zu überwinden, die dominierende Stellung der Figur Newtons in Frage zu stellen und vor allem die Bedeutung der vitalistisch-biologischen Konzepte seit Mitte des 18. Jahrhunderts für die Wissenschaftsentwicklung in Europa hervorzuheben.112 Ein systematischer Zugang 109 110

Vgl. Encyclopaedia Britannica, Art. ‚Science‘. Bd. 3. Edinburgh 1771, S. 570. In diesem Sinne jüngst etwa Rob Iliffe, Philosophy of Science, in: Porter (Hg.): The Cambridge History of Science, S. 267–284, hier S. 282. 111 Diese Kritik findet sich bereits in der Studie von Fritz Wagner, Der Wissenschaftsbegriff im Zeitalter der Aufklärung, in: K. Hammer / J. Voss (Hg.): Historische Forschung im 18. Jahrhundert. Organisation, Zielsetzung Ergebnisse. Berlin 1976, S. 14–26, hier S. 16. 112 Hier sind vor allem die Arbeiten von Peter Hanns Reill zu nennen, in denen, gegen die Dominanz der mechanistischen Deutung des 18. Jahrhunderts im Gefolge Newtons, der Einfluss eines vitalistisch-genetischen Weltbildes nach dem Modell von Buffons Histoire Naturelle hervorgehoben worden ist. Vgl. Peter Hanns Reill, Science and the Science of History in the Late Enlightenment and Early Romanticism in Germany, in: H. W. Blanke / F. Jäger / T. Sandkühler (Hg.): Dimensionen der Historik. Jörn Rüsen zum 60. Geburtstag. Köln u.a. O. 1998, S. 253– 262.

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über den Wissenschaftsbegriff – seine theoretischen Vorgaben und Methoden – bietet darüber hinaus nicht nur die Möglichkeit, nationale Perspektiven zu hinterfragen, sondern auch die engen Grenzziehungen zwischen den späteren Fächern zu überwinden.113 Die verschiedenen Begriffe von ‚Wissenschaft‘ in ihrer Disparatheit anzuerkennen, deren Charakteristika nicht nur in philosophischen Grundlegungen, sondern vor allem in ihren konkreten Praktiken zu suchen, ist das Verdienst der jüngeren angelsächsischen Forschung.114 Dennoch lässt sich auch in dieser Forschungsrichtung eine stärkere Akzentuierung der nachmaligen Natur- und Lebenswissenschaften feststellen, da auch nur sie vom heutigen Standpunkt aus in der angelsächsischen Terminologie als ‚Wissenschaften‘ gelten.115 In der deutschen Forschung wurde der wissenschaftsgeschichtliche Ansatz erst mit einiger Verspätung wahrgenommen und zunächst im Hinblick auf einzelne Disziplinen fruchtbar gemacht. Mit der Orientierung am französischen und englischen Vorbild in der jüngeren deutschen Wissenschaftsgeschichtsschreibung ist neuerdings auch eine deutlichere Neigung zur Auseinandersetzung mit den Natur-, Technik- und Lebenswissenschaften bemerkbar.116 In vorliegender Studie soll es nicht darum gehen, einen Perspektivenwechsel zu bewirken, sondern versucht werden, den Zustand vor dem großen Wissenschaftsschisma in Natur- und Geisteswissenschaften zu betrachten und sich der Grauzone zwischen den späteren Lagern im Feld der ‚Wissenschaft vom Menschen‘ zu nähern.117 Der erfolgte Überblick über die Konzepte von ‚science‘ und ‚Wissenschaft‘ bis etwa zur Mitte des 18. Jahrhunderts gewährt eine theoretische Grundlage für die Erschließung dieses spezifisch aufklärerischen Wissenschaftsprojektes einer ‚Science of Man‘ oder ‚Wissenschaft vom Menschen‘. Die Feststellung einer weitgehend übereinstimmenden formalen Offenheit in der inhaltlichen Bestimmung, 113

Diesem Ziel verschreiben sich Christopher Fox, Roy Porter und Robert Wokler (Hg.), Inventing Human Sciences. Eighteenth Century Domains. Berkeley / Los Angeles / London 1995. 114 Vgl. den Band von William Clark / Jan Golinski / Simon Schaffer (Hg.): The Sciences in Enlightened Europe. Chicago / London 1999. 115 Dieser Eindruck wird durch die Gewichtung der meisten Sammelbände bestätigt, wie etwa auch in Charles W. J. Withers / Paul Wood (Hg.): Science and Medicine in the Scottish Enlightenment. Glasgow 2002. Dennoch sind Ausnahmen hervorzuheben, wie die Einleitung von John Christie zum Sonderheft Origins of the Human Sciences, in: History of the Human Sciences 6 (1993), S. 1–12; oder auch der Beitrag von Richard Olson, The Human Sciences, S. 436– 462. Allerdings ist der Titel ‚Human Sciences‘, bereits als ‚statement‘, in Abgrenzung zu den Bezeichnungen ‚humanities‘, oder ‚scholarship‘, zu interpretieren. 116 Ganz in diesem Sinne versammelt Michael Hagner in der von ihm herausgegebenen Anthologie „klassische Texte“ angelsächsischer Autoren und neuere Beiträge der deutschen Wissenschaftsgeschichte, als deren zentrale Institution das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin gelten kann. Vgl. Ders., Ansichten der Wissenschaftsgeschichte. Frankfurt/M. 2001. 117 Bruno Latour hat diesen Versuch – in epistemologischer Entgegensetzung zur ‚Naturalisierung‘, ‚Sozialisierung‘ und ‚Dekonstruktion‘ – damit beschrieben, „den gordischen Knoten neu zu knüpfen“. Geschult an der Anthropologie sei es so möglich, „das nahtlos ineinander übergehende der ‚Natur / Kultur‘ zu untersuchen“. Vgl. Ders., Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt/M. 1998, S. 9ff.

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was dabei unter ‚science‘ und ‚Wissenschaft‘ zu verstehen sei, ermöglicht eine systematische Untersuchung der beiden Phänomene. Die Besonderheit der neuen ‚Wissenschaft vom Menschen‘ liegt vor allem in der methodischen Ausgestaltung durch ihre Schöpfer. Vorsichtig im Umgang mit metaphysischen Konzepten, initiierten sie eine deutliche Aufwertung induktiver Verfahrensweisen in beiden Wissenschaftsräumen, was allerdings keine Verabschiedung von erkenntnisleitenden Prinzipien bedeutete. Sowohl der englische als auch der deutsche Wissenschaftsbegriff dienten dazu, sich von den Methoden der traditionellen Philosophie abzugrenzen und sich den gleichen Themenstellungen aus einer anderen Richtung – nämlich von ihrer Partikularität statt ihrer Universalität her – zu nähern. Die Thematik ‚Mensch‘ wurde aus ihrer religiösen Einbettung zwischen Diesseits und Jenseits gelöst und in ihrer naturhaften Erscheinung zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung gemacht. Die möglichen Wahrnehmungsweisen des Menschen als geistiges oder physisches Wesen erlaubten diesen partikularen Zugang gleich auf zweierlei Weise: in einer Naturgeschichte des Geistes und einer Naturgeschichte des Körpers. Die gemeinsame Ursprung dessen, was man später in Natur- und Geisteswissenschaften unterscheiden wird, liegt folglich sowohl in der Methode als auch im Gegenstand der ‚Science of Man‘ oder ‚Wissenschaft vom Menschen‘.

2.2. Die Institutionalisierung der Wissenschaft vom Menschen in Schottland und den deutschen Ländern Ein wichtiger Bestandteil des Artikels ‚Wissenschafften‘ in Zedlers UniversalLexikon ist die Frage, ob „die Schulen und gelehrten Gesellschafften zur Beförderung der Wissenschafften etwas beytragen?“118 Die Antwort fällt eindeutig zugunsten der außerschulischen und damit außeruniversitären Institutionen aus.119 Allein schon aus dem Umstand, dass „die Lehrer auf den Schulen mit ihren angewiesenen Vorlesungen und andern ordentlichen Geschäfften so viel zu thun, daß sie auf nichts anders zu dencken Zeit haben“ schien auszureichen, um auf die Notwendigkeit der Einrichtung neuer Forschungsinstitutionen hinzuweisen.120 Es waren folglich nicht nur theoretische Bedenken, die man gegenüber den aristotelisch-scholastisch ausgerichteten Schulen hegte, sondern die ganze Institution der älteren Universität wurde nicht als ein Ort innovativen Denkens angesehen. Einerseits bestünde die Gefahr, dass der Lehrende „wegen seines Amtes und des davon abhängenden Unterhalts seines Lebens solche Künste und Wissenschafften lehre[n], darzu er von Natur weder Lust und Liebe, noch besondere Geschicklichkeit besit118 119

Zedler, Art. ‚Wissenschafften‘, Sp. 1428ff. Eine klare Unterscheidung von Schule und Universität erfolgt erst im ausgehenden 18. und im frühen 19. Jahrhundert. Vgl. Rudolf Stichweh, Wissenschaft, Universität, Professionen. Soziologische Analysen. Frankfurt/M. 1994, S. 193ff. 120 Zedler, Art. ‚Wissenschafften‘, Sp. 1428.

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zet“,121 während andererseits die Lehrer dazu neigten, in ausgetretenen Pfaden zu gehen und nur das zu wiederholen, was schon allgemein anerkannt sei, und damit keine große Herausforderung an ihr Publikum zu stellen.122 Das angesprochene Publikum waren idealiter nun jedoch keine unmündigen Studenten mehr, die abgeschlossene Systeme auswendig zu lernen hatten,123 sondern vernunftbegabte Individuen, die durch Bücher, eigenes Nachsinnen und Erfahrung Wissenschaft im Selbststudium – außerhalb der Schule – sich anzueignen in der Lage waren.124 Aufgrund der Nützlichkeitserwägungen und des Praxisanspruchs wurden neben Laien auch nicht akademische Berufsgruppen aus Handwerk und Landwirtschaft zum direkten Adressaten wissenschaftlicher Ergebnisse, wie sich ebenso die Wissenschaften an den Erfordernissen der Praxis orientierten.125 Mit den neuen erkenntnistheoretischen Vorgaben ging folglich ein veränderter Anspruch an den Gelehrten einher, wodurch die ‚Lehre‘ als Dogma in den Hintergrund trat und die ‚Forschung‘ sich als vordringliche Aufgabe des Wissenschaftlers etablierte. Für die Wissenschaftslandschaft bedeutete das seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert eine Neustrukturierung, die sich mit der Gründung von Akademien, gelehrten Gesellschaften und der Einrichtung eines rivalisierenden Universitätstyps verband.126 Es kann hier durchaus von der Entstehung einer neuartigen Öffentlichkeit gesprochen werden, wobei der diesem Vorgang zugrundeliegende ‚Strukturwandel‘ weniger als eine ‚Verbürgerlichung‘ beschrieben werden soll, als ein Ausdruck für die Öffnung der Akademia und damit als Resultat der gegenseitigen Bedingtheit einer neuartigen Auffassung von Wissenschaft und dem Selbstverständnis moderner Gesellschaften angesehen werden muss.127 121 122

Ebd., Sp. 1435. Im Zedler wird hier Nicolaus Gundling zitiert: „Zwar sind auf allen Universitäten Professores der Physick und Mathesis, aber diese müssen sich ad captum auditorum suorum richten; allermaßen, wenn sie was ediren, sie es gemeininglich vor ihre Zuhörer schreiben. Denn sie haben keine Zeit, sich sonst hervorzuthun. Wer hergegen in einer Societät stehet, der hat nicht Ursache sich ad captum auditorum suorum zu richten. Denn da wird von seinem Leser schon allles nöthige präsupponiret.“ Vgl. Zedler, Art. ‚Wissenschafften‘, Sp. 1429. 123 „[...] Selbstaneignung war ein Fremdwort, wie in der Schule wurde diktiert, repetiert und auswendig gelernt.“ Vgl. Richard van Dülmen, Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Bd. 3: Religion, Magie, Aufklärung, 16.–18. Jahrhundert. München 1994, S. 190. 124 Zedler, Art. ‚Wissenschafften‘, Sp. 1463. Gleichzeitig wird von der Autodidaktik abgeraten und auf die Institutionen zur Vermittlung der Gelehrsamkeit verwiesen. Vgl. Fabricius, Abriß einer allgemeinen Historie, S. 39f. 125 Zum veränderten Adressaten der Wissenschaften im 18. Jahrhundert der instruktive Aufsatz von Steven Shapin, The Audience for Science in Eighteenth Century Edinburgh, in: History of Science 12 (1974), S. 95–121, hier S. 100. 126 James McClellan spricht von einer Reorganisation von Wissenschaft nach dem Leitbild der Renaissance-Gelehrsamkeit außerhalb der „Bastionen des Aristotelismus“. Vgl. Ders., Scientific Institutions and the Organization of Science, in: Porter (Hg.): The Cambridge History of Science, S. 87–106, hier S. 88. 127 Jürgen Habermas’ klassische Studie zum Strukturwandel der Öffentlichkeit war getragen vom sozialgeschichtlichen Befund eines sich politisch emanzipierenden ‚Bürgertums‘, das zur Trägerschicht der ‚öffentlichen Meinung‘ wurde. Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öf-

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2.2.1.

Akademien und Sozietäten

Die junge Institution der Akademie schien den erforderlichen Rahmen für die neuen wissenschaftlichen Ansprüche zu bieten. Eine renommierte, gut bezahlte und unabhängige Mitgliedschaft sollte die Klientel bieten, um die Wissenschaft aus ihren ideellen und finanziellen Abhängigkeiten an den Universitäten zu befreien und in den Kontext einer erweiterten Öffentlichkeit zu stellen.128 Der Rückzug von der Wahrheit zur Wahrscheinlichkeit in den Wissenschaften hatte die Bedeutung von innerwissenschaftlichen Auseinandersetzungen – heute würde man von Intersubjektivität sprechen – immens erhöht. Die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung sollten mithin nicht nur einem breiteren Wissenschaftlerkreis durch die Akademien zugänglich gemacht werden, sondern damit auch den Raum für deren Berichtigungen und neue Ergebnisse bieten: [Die Akademie] muß die bereits anerkannten Wahrheiten überlegen, damit sie andere daraus entdecke, und mit nicht geringem Fleisse die Fehler und Mängel, welche sich in denen Wissenschafften und Künsten finden, anmercken, damit sie zu neuen Erfindungen Anlaß bekomme.129

Darüber hinaus war die Akademie geeignet – nicht zuletzt aufgrund ihrer Staatsnähe –, den Nutzen und die Anwendungsfähigkeit ihrer Forschungen für das Gemeinwohl im Blick zu behalten.130 Nach verschiedenen Akademiegründungen im Verlauf des 17. Jahrhunderts131 waren es vor allem die ‚Royal Society‘ in London fentlichkeit. Frankfurt/M. 71975 [11962]. Neuerdings wurde dieser Befund hinsichtlich seiner anachronistischen Lesart des 18. Jahrhunderts und der Frage nach seiner Übertragbarkeit auf andere europäische Länder in Zweifel gezogen. Vgl. Ute Daniel, How bourgeois was the public sphere in the Eighteenth Century? Or: Why it is important to historicize Strukturwandel der Öffentlichkeit? in: Das Achtzehnte Jahrhundert 26 (2002), S. 9–17. 128 „Weil nun die Academie der Wissenschafften die Wahrheit muß gründlich untersuchen, und auf untrügliche Proben stellen, auch neue erfinden können; so müssen dazu Leute genommen werden, die so wohl in der Erfahrungs- und Versuchs-Kunst, als in der Erfindungs-Kunst, oder wenigstens in einer von diesen dreyen geübet, oder auch den Zustand der Wissenschafften und Künste untersuchen und ihre Fehler und Mängel anzumercken geschickt sind“; Zedler, Art. ‚Wissenschafften, (Academien oder Societäten der)‘, Sp. 1518. 129 Ebd., Sp. 1517–1524, hier Sp. 1518. 130 „Weil die Academie der Wissenschafften alle Wissenschafft und Künste, sie mögen Nahmen haben wie sie wollen, in größere Aufnahme bringen soll, so muß sie auch alles untersuchen, was bey dem Ackerbau, bey dem Gartenbau, bey der Viehzucht [...], nicht weniger als alle Künste und Handwercke, absonderlich diejenigen, welche zur Erkenntniß der Natur etwas beytragen [...].“ Ebd., Sp. 1520. Das verbindende Glied zwischen Staat und Wissenschaft lag in der ‚Nützlichkeit‘ der Forschung in Handwerk, Landwirtschaft, Medizin und vor allem auch Kriegswesen. Vgl. Robert Fox, Science and Government, in: Porter (Hg.): The Cambridge History of Science, S. 107–128, hier S. 107. 131 Im ,Zedler‘ wird als Vorläufer unter anderem die Gründung der ‚Academia Naturae Curiosorum Leopoldina‘ (1652) in Schweinfurt genannt. Zedler, Art. ‚Wissenschafften, (Academien oder Societäten der)‘, Sp. 1490. Zum Praxisbezug dieser frühen Akademiegründung Rudolf Vierhaus, Die Organisation wissenschaftlicher Arbeit. Gelehrte Sozietäten und Akademien im 18. Jahrhundert, in: J. Kocka (Hg.): Die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin im Kaiserreich. Berlin 1999, S. 3–21, hier S. 9f.

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(1662) und die ‚Académie des Sciences‘ in Paris (1666), die Vorbildcharakter für alle weiteren Institutionen dieser Art hatten. Francis Bacons Nova Atlantis wurde als kodierter Leitfaden zur Gründung einer Akademie gelesen, deren vornehmstes Anliegen die induktive Erkenntnis der Natur sein sollte. Die Gründung der Akademie in London galt den Zeitgenossen als Einlösung dieses utopischen Desiderats.132 Die ‚Royal Society‘ war aus einem Kreis von Wissenschaftlern in Oxford hervorgegangen, die sich – so will es der zeitgenössische Bericht – enttäuscht von den konfessionellen Händeln und politischen Konflikten ihrer Zeit abwandten, um sich ganz auf das Studium der Natur auf dem Wege des ‚experimental learning‘ zurückzuziehen.133 Gegründet 1660, stieg diese Gesellschaft mit königlicher Unterstützung 1662 zu einer ‚Royal Society‘ auf, die seit 1665 ihre eigene Publikationsreihe der ‚Philosophical Transactions‘ herausgab und schon zwei Jahre später ihre Bedeutung in einer ersten History of the Royal-Society bestätigt sah.134 Das Erfolgsrezept dieser Institution schien in ihrer thematischen Selbstbeschränkung auf Naturphilosophie und in ihrer für die Zeit ungewöhnlichen Organisation zu liegen. So waren Mitglieder unabhängig von ihrer konfessionellen und nationalen Zugehörigkeit und ohne bestimmte akademische Vorbildung zugelassen. Damit sollte die „Pedantry of the Scholars“ in der Vermittlung unhinterfragter Systeme verhindert und die praxisorientierte ‚Forschung’ befördert werden.135 Im Vordergrund stand damit der ‚öffentliche Ertrag‘ (publick treasure) der Wissenschaft, der die große Anzahl, die überwiegende Lehrfreiheit und die gute Bezahlung der Akademiker rechtfertigen sollte. Die vorrangig praktizierte Methode des Experimentierens erforderte eine gute Ausstattung mit Instrumenten, deren Finanzierung ebenso durch ihren öffentlichen Nutzen gerechtfertigt werden musste.136 Mitte des 18. Jahrhunderts hatte sich die ‚Royal Society‘ wissenschaftlich und gesellschaft132

So beschreibt Christoph Haymann in seiner Genealogie gelehrter Gesellschaften seit der Antike den Bruch mit Bacons „Noua Atlantis“ (dt. 1665): „Es erhellet hieraus zur Genüge, daß die Absicht VERULAMII bey diesem also eingekleideten Vorschlage vornemlich auf die genauere Erkenntnis der Natur gerichtet gewesen. Und so ist denn kein Zweifel, daß dieser Entwurf als die erste Gelegenheit, und vermuthlich gar als der Grund von der nachmals errichteten so berühmten Königlichen Gesellschaft zu London anzusehen.“ Vgl. Christoph Haymann, Kurzgefasste Geschichte der vornehmsten Gesellschaften von den ältesten Zeiten bis auf die gegenwärtige. Erste Abt., 6. St., Leipzig 1743, S. 500. 133 Thomas Sprat, The History of the Royal-Society of London. For the Improving of Natural Knowledge. London 1667, S. 55f. 134 Diese Tatsache verdankt sich dem Umstand, dass die Forschungen der Society, insbesondere in klerikalen Kreisen, nicht nur auf positive Resonanz stießen und die ‚history‘ als „Defence and Recommendation of Experimental Knowledge“ angelegt war. Vgl. Sprat, The History of the Royal-Society, [Advertisement to the Reader, unpag.]. Zu Sprats Apologetik Larry Stewart, The Rise of Public Science. Rhetoric, Technology, and Natural Philosophy in Newtonian Britain, 1660–1750. Cambridge 1992, S. 5ff. 135 Sprat, The History of the Royal-Society, S. 63ff. 136 Als Beispiele werden „Watches, or Locks, or Guns, or Printing, or lately the Bow-dye“ genannt. Vgl. ebd., S. 74ff.

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lich ausreichend etabliert, so dass ihr öffentlicher Nutzen außer Frage stand.137 Rechtlich war die Akademie als öffentliche Institution angelegt, die zwar unter einer königlichen Charta, aber ohne Patronagesystem im engeren Sinne existierte.138 Die wissenschaftliche Bedeutung und das öffentliche Prestige hing dadurch maßgeblich von der Leitung durch ihren Präsidenten ab, als deren einflussreichster Isaac Newton (1703–1727) gilt, der diese Position weidlich zu wissenschaftspolitischen Zwecken nutzte und damit selbst zur Verbreitung des ‚Newtonianismus‘ beitrug.139 Auch unter den Präsidenten Hans Sloane (1727–1741) und Joseph Banks (1778–1820) blieb die vorrangige Orientierung an der Naturphilosophie bestehen, wobei man an dieser Reihung durchaus auch eine Verschiebung von physikalisch-mathematischen Fragestellungen zu physiologischen und schließlich eine stärkere Ausrichtung an biologisch-geographischen Fragen der Naturgeschichte ablesen kann.140 Auch die Gründung der Akademie in Berlin war von der Idee einer Erweiterung der Wissensräume getragen. Der Plan des gerade 21-jährigen Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) zur Gründung einer Akademie sah eine Reihe von mittel- und langfristigen Zielen vor: den Austausch unter Gelehrten zu gewährleisten, eine universale Bibliothek bereitzustellen, die Zusammenarbeit mit den französischen, englischen und italienischen Akademien herzustellen, medizinische und mathematische Fragen zu behandeln, Experimente zu befördern und schließlich die Nützlichkeit durch Behandlung von Fragen des Handwerks und Handels im Blick zu behalten.141 Die Gründung der ‚Kurfürstlich-Brandenburgischen Societät der Wissenschaften‘ unter Kurfürst Friedrich III., dem späteren König Friedrich I., in Berlin im Jahre 1700 basierte auf diesen Maximen, wobei der genaue Fächerkanon 137

„The services they have been to the public, are very great – They have improved naval, civil, and military architecture; advanced the security and perfection of navigation; improved agriculture; and put not only this kingdom, but also Irland, the Plantations, &c.“ Vgl. Chambers, Art. ‚Royal Society‘, in: Cyclopaedia, Bd. 2, [unpag.]. Vgl. auch die Dokumentation und Edition der wichtigsten Experimente und Arbeiten durch Thomas Birch, The History of the Royal Society in London. 2 Bde. London 1756. 138 Die Royal Society erhielt keine königliche Unterstützung, sondern finanzierte sich aus ihren Mitgliedsbeiträgen. Vgl. McClellan, Scientific Institutions, S. 92. 139 Vgl. Michael Hunter, Establishing the New Science. The Experience of the Early Royal Society. Woodbridge 1989, S. 2. Zu Newtons Wissenschaftspolitik Roy Porter, Enlightenment. Britain and the Creation of the Modern World. London 2000, S. 134ff. 140 Hans Sloane war ein Universalgelehrter, der als Mentor David Hartleys (Observations on Man, 1749) Interesse an physiologisch-anthropologischen Studien zeigte. Vgl. Porter, Enlightenment, S. 180. Joseph Banks war als Weltreisender und begeisterter Biologe maßgeblich an der Rezeption Linnés in England beteiligt. Vgl. John Gascoigne, Joseph Banks and the English Enlightenment. Useful Knowledge and Polite Culture. Cambridge 1994, S. 98ff. 141 Stark protestantisch-borussisch gefärbt, liefert die ausführlichste Geschichte der Berliner Akademie immer noch Adolf Harnack, Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. 4 Bde. Berlin 1900, siehe hier insbes. Bd. 1, S. 27. Kritisch hierzu bietet einen neueren kursorischen Überblick von der Gründung bis ins 20. Jahrhundert Conrad Grau, Die Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Eine deutsche Gelehrtengesellschaft in drei Jahrhunderten. Heidelberg u.a. 1993.

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der zu behandelnden ‚realen Wissenschaften‘ festgelegt wurde. Dieser bestand aus einerseits Mathematik mit den Untergliederungen in Geometrie, Astronomie, Architektonik, Mechanik und andererseits Physik, untergliedert in Chemie, ‚regnum minerale‘, ‚regnum vegetabile‘, ‚regnum animale‘ (Anatomie, Thierzucht, Waidwerk, die hohe Scienz der Medicin).142 Auf besonderen Wunsch des Kurfürsten und entgegen der ursprünglichen Konzeption, wurde auch eine philologisch-historische Klasse – die ‚Litteraria‘ – geschaffen.143 Auch wenn Leibniz in der ersten Ausgabe der Publikationsreihe ‚Miscellanea‘ 1710 die erste Klasse der ‚Litteraria‘ mit Überlegungen zum Ursprung der Menschheit einleitete, so muss noch bis weit in die 1730er Jahre von einem deutlich überwiegenden Anteil der Beiträge zu den Abteilungen der ‚Physica‘, ‚Medica‘ und ‚Mathematica‘ gesprochen werden.144 Berlin sollte nicht der einzige Versuch bleiben, dem englischen und französischen Beispiel einer Akademiegründung nachzueifern. Auch das Kurfürstentum Hannover hatte seit 1751 eine ‚Societät der Wissenschaften zu Göttingen‘ aufzuweisen und Kurfürst Maximilian III. Joseph stiftete 1759 die ‚Churfürstlich baierische Akademie der Wissenschaften‘ in München.145 Gerade in der bayerischen Stiftung fällt bei der Einteilung der Wissenschaften die Zuschreibung der ‚Naturlehre‘ zu „allen Theilen der Weltweisheit“ auf, während die Historie eine eigene Klasse erhielt. Damit wurde ihr eine vorrangige Bedeutung eingeräumt, wovon die Publikationstätigkeit in dieser Disziplin auch deutliches Zeugnis ablegt.146 In Berlin änderte sich das eher naturwissenschaftlich ausgerichtete Programm erst nach dem Amtsantritt Friedrich II. und der Vereinigung der Akademie mit der ‚Nouvelle Société Littéraire‘ zur ‚Académie Royale des Sciences et Belles Lettres‘ 1743. Friedrich II. gedachte als ‚Philosoph auf dem preußischen Thron‘ mit Unterstützung der französischen Denker Voltaire und Maupertuis sowie des Schweizers Euler die ursprüngliche Akademie gleichermaßen mit schöngeistigen Themen zu beschäftigen und diese nicht mehr den Parallelinstitutionen zu überlassen.147 Zu 142 143 144

Harnack, Geschichte der Akademie, Bd. 1, S. 83f. Grau, Die Preußische Akademie, S. 65. Gottfried Wilhelm von Leibniz, Brevis designatio meditationum de Originibus Gentium, ductis potissimum ex indicio linguarum, in: Miscellanea Berolinensia ad incrementum scientarum 1 (1710), S. 1–16. Eine genaue Auswertung der ‚Miscellanea‘ steht noch aus. Eine hervorragende Grundlage bieten die ‚Digitalisierten Akademieschriften und Schriften zur Geschichte der Akademie der Wissenschaften (1700–1900)‘. 145 Dazu Vierhaus, Die Organisation wissenschaftlicher Arbeit, S. 13ff. 146 Die eingehendste Arbeit zum Verhältnis von Akademiewesen und Historie im Reich findet sich immer noch bei Andreas Kraus, Vernunft und Geschichte. Die Bedeutung der deutschen Akademien für die Entwicklung der Geschichtswissenschaft im späten 18. Jahrhundert. Freiburg u.a. 1963, S. 262. Hierbei verweist der Untertitel auf die teleologische Ausrichtung und damit auf die Suche nach „würdigen Vorläufern“ in der Geschichtswissenschaft. Vgl. ebd., S. 234. 147 Ursprünglich schwebte Friedrich eine Doppelspitze aus Wolff und Maupertuis vor. Doch waren Wolff die Pläne des Königs wegen Maupertuis und Euler suspekt und statt „Kadeten zu informiren“, ließ er sich als Professor und Vizekanzler an die Universität Halle versetzten. Vgl. Harnack, Geschichte der Akademie, Bd. 1, S. 255. Durch die Berufung Maupertuis’ sah Wolff den Niedergang der Gelehrsamkeit „mit einer sog. Newtonischen Philosophie das Französische

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den ‚classe de philosophie experimentale‘ und ‚classe de mathématique‘ traten nun die ‚classe philosophie spéculative‘ (s’appliquera à la logique, à la métaphysique et a la morale) und die ‚classe de belles lettres‘ (comprendra les antiquités, l’histoire et les langues).148 Gerade die Integration der spekulativen Philosophie war umstritten und widersprach dem ursprünglichen Leitgedanken bei der Einrichtung der Akademien, der sich wie beschrieben vom traditionellen universitären Lehrsystem durch seine Hinwendung zur experimentellen Methode abhob. Was die Wirkung der Akademien angeht, spielten die wenigen Vorlesungen, die vor allem in Kollegien der Medizin und in den Ritterakademien abgehalten wurden, nur eine untergeordnete Rolle. Generell lässt sich feststellen, dass eine Popularisierung des Wissens nicht in der Intention des ursprünglichen Akademiegedankens lag und mit den Akademien in Abgrenzung zu den Universitäten zwar eine alternative Wissenschaftsinstitution geschaffen wurde, diese aber zunächst ein in sich geschlossenes System blieb. Diese Struktur sollte im Verlauf des 18. Jahrhunderts zunehmend aufgebrochen werden. Ein überaus wirksames Mittel zur tatsächlichen Öffnung und Veränderung der traditionellen Wissensräume bestand in den so genannten Preisaufgaben der Akademien, die jährlich ausgeschrieben und an eine sich etablierende europäische Gelehrtenwelt gerichtet wurden. Die Intention hinter den Preisfragen bestand darin, durch eine möglichst weitgefasste Formulierung wissenschaftlicher Fragen einen möglichst großen Kreis von Interessenten anzusprechen. Die Berliner Akademie folgte seit 1744 dem Pariser Beispiel, stellte jährlich eine große Preisaufgabe und rühmte sich, dabei „die kühnsten Fragen gestellt zu sehen, weil sie eine philosophische Klasse besaß und unter einem Könige arbeitete, der der Speculation keine Schranke zog“.149 Tatsächlich deckten die Fragen ein breites Spektrum der Wissenschaften ab, wobei ihre berühmtesten Antworten philosophisch historischen Themenkomplexen gewidmet waren.150 In Einrichtung, Struktur und Durchsetzung des Akademiewesens finden die Anforderungen des neuen Wissenschaftskonzepts ihren klaren institutionellen Niederschlag. Als Alternative zum scholastischen Lehrsystem der Universität war es mit der Aufgabe bedacht, das zu gewährleisten, was unter ‚Freiheit der Wissenschaf-

Fladderwesen verknüpft“; Wolff zitiert nach Harnack, Bd. 2: Urkunden und Aktenstücke, Nr. 176, S. 310. 148 Das Statut der Akademie vom 10. Mai 1746, in: Harnack, Geschichte der Akademie, Bd. 2, S. 300. 149 Ebd., S. 397. 150 1771 erhielt Johann Gottfried Herder den Preis mit der Frage : „En supposant les hommes abandonnés à leurs facultés naturelles, sont-ils en état d’inviter le langage?“ Dazu Cordula Neis, Anthropologie im Sprachdenken des 18. Jahrhunderts. Die Berliner Preisfrage nach dem Ursprung der Sprache (1771). Berlin / New York 2003. 1775 und 1780 wurde Herder ebenfalls zu den Fragen ausgezeichnet: „Quelles sont les causes de la décadence du goût chez les différens peuples?“ und „Quelle a été l’influence du Gouvernement sur les Lettres chez les nations où elles ont fleuri? Et quelle a été l’influence des Lettres sur le Gouvernement?“ Vgl. Harnack, Geschichte der Akademie, Bd. 2: Urkunden und Aktenstücke, Nr. 175, S. 305–310.

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ten‘ verstanden wurde.151 Ihrer existenziellen und didaktischen Zwänge entledigt, sollten die Gelehrten wissenschaftlichen Fragen nachgehen können, die nur schwerlich in den klassischen Disziplinenkanon der Universitäten integrierbar waren. Das Ziel dieser veränderten Forschungsperspektive lag nicht in der unbedingten Wahrheitsfindung als vielmehr in der Alltagstauglichkeit und Nützlichkeit der Ergebnisse. Solche auf dem Wege des Experiments erzielten Erträge entzogen sich der Überprüfung durch die Wahrheitskriterien der traditionellen Logik. Die Überprüfungsinstanz der vorbehaltlich ermittelten Resultate lag nun in einer akademischen Öffentlichkeit, die zu vernetzen eine Hauptaufgabe des Akademiewesens war. Eine neue wissenschaftlich interessierte Öffentlichkeit diente zunehmend nicht nur als kritische Instanz, sondern konnte – was die Praxis der Preisfragen zeigt – gleichermaßen als unverbrauchte Ressource innovativen Denkens genutzt werden.152 Einem gänzlich unbekannten Gelehrten war es auf diesem Wege möglich, schlagartig berühmt und bestimmend für den sich anschließenden Diskurs zu werden, wie es das Beispiel von Jean Jacques Rousseaus Antwort auf die Preisfrage der Akademie von Dijon, „Quelle est la source de l’inégalité parmi les hommes, et si elle est autorisée par la lois naturelle“ aus dem Jahr 1754 eindrucksvoll belegt.153 Darüber hinaus lässt sich anhand der Preisfragen eine thematische Erweiterung in den Wissenschaften im Verlauf des 18. Jahrhunderts aufzeigen. Während gerade die erste Hälfte des Jahrhunderts vorwiegend mit physikalischen, mechanischen und chemischen Fragen befasst war, sind es in der zweiten Jahrhunderthälfte zunehmend philosophisch spekulative Fragen, derer man sich ursprünglich zu enthalten vorgenommen hatte.154 Im Unterschied zu den Akademien hatten die esoter-

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„Wir behaupten, […] daß ohne die Freyheit die man denen Weltweisen verstatten muß, ihre Gedancken ohne besorgende Gefahr zu entdecken: unmöglich das Wachsthum der Wissenschafften statt finden könne.“ Vgl. Zedler, Art. ‚Wissenschafften‘, Sp. 1424. 152 „Je mehr Leute in einem Staat gefunden werden, die die Wissenschafften sich lassen angelegen seyn, ie mehrern Nutzen pfleget derselbige daraus zu erhalten.“ Vgl. ebd., Sp. 1446. Zum Procedere der Preisfragen am Beispiel der italienischen Akademien neuerdings Christine Damis, Die Preisfragen in den Statuten italienischer Akademien und Sozietäten, in: H. Zaunstöck / M. Meumann (Hg.): Sozietäten, Netzwerke, Kommunikation. Neue Forschungen zur Vergesellschaftung im Jahrhundert der Aufklärung. Tübingen 2003, S. 269–298, dazu S. 273. 153 Schon 1749 hatte der bis dahin unbekannte Rousseau mit einer negativen Antwort auf die Frage aus Dijon, si le rétablissement des sciences et des arts a contribué à épurer les mœurs, für Aufsehen gesorgt und dennoch den Preis erhalten, was ihm mit der Beantwortung der Frage nach dem Ursprung der Ungleichheit nicht mehr beschieden war. Vgl. Neis, Anthropologie im Sprachdenken, S. 84f. 154 In diesem Lichte ist die Frage der Berliner Akademie von 1763 zu sehen, deren Preis Moses Mendelssohn erhielt: „On demande, si les vérités métaphysiques en général et en particulier les premiers principes de la Théologie naturelle et de la Morale sont susceptibles de la même évidence que les verités mathématiques […]?“; vgl. Harnack, Geschichte der Akademie, Bd. 2: Urkunden und Aktenstücke, Nr. 175, S. 305–310. Dazu auch Heinz Dieter Kittsteiner, Universalhistorische und geschichtsphilosophische Fragestellungen an der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin im Zeitalter der Spätaufklärung, in: K. Garber / H.

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ischen Gruppierungen diese Hoffnung auf Klärung der letzten Fragen, wie das Streben nach ‚höchster Erkenntnis‘, nie aufgeben wollen, worin – neben vielen Überschneidungen – der markante Unterschied zwischen clandestinen und offiziellen Vereinigungen zur Beförderung der Wissenschaften im 18. Jahrhundert zu liegen scheint.155 In den offiziellen Institutionen hielt man indessen an der Überzeugung der Wissenssicherung durch eine induktive Herangehensweise fest und zog alternative Modi in der Beantwortung spekulativer Fragen heran. Die ‚Wissenschaft vom Menschen‘ konstituierte sich aus philosophisch-spekulativen Fragen, deren Beantwortung allerdings, den neuen Wissenschaftsmaximen gemäß, auf Daten der Beobachtung und Erfahrung basieren sollte. Überlegungen zu Entstehung der Sprache oder zum Ursprung der Ungleichheit der Stände sollten nicht in metaphysischen Traktaten, sondern vielmehr durch Sammlung empirischer Daten oder im Experiment eruiert werden. In diesem Zusammenhang sind auch die Expeditionen unter der Ägide der Akademien zu sehen, die nicht nur geographischen Zwecken dienten, sondern darüber hinaus mit eigens hergestellten Fragebögen wissenschaftliches Datenmaterial zum Menschenstudium zutage fördern sollten.156 2.2.2. Vergesellschaftetes Wissen Die Einrichtung gelehrter Gesellschaften ist nur schwerlich von der Entstehung des Akademiewesens zu trennen und in manchen Fällen strukturell kaum zu unterscheiden, was auch die synonyme Verwendung der Bezeichnungen zeigt. Eine deutliche Differenz liegt allerdings in den verschiedenen Rollen bei der Mediatisierung von Wissenschaft und Gesellschaft. Im Falle von Schottland markierte die Gründung der ‚Royal Society of Edinburgh‘ (1783) beispielsweise nicht den Auftakt zu differenzierteren Vergesell-

Wismann (Hg.): Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition. Tübingen 1996, Bd. 1, S. 1463–1477, hier 1470. 155 Ich folge mit dieser Abgrenzung der Argumentation von Monika Neugebauer-Wölk, ‚Höhere Vernunft‘ und ‚höheres Wissen‘ als Leitbegriffe in der esoterischen Gesellschaftsbewegung. Vom Nachleben eines Renaissancekonzepts im Zeitalter der Aufklärung, in: Dies. (Hg.): Aufklärung und Esoterik. Hamburg 1999, S. 170–210, S. 201. 156 Die ‚Académie des Sciences‘ in Paris entsandte schon in den 1730er Jahren Expeditionen nach Lappland und Peru. Diese Reisen dienten noch vordringlich geographischen Interessen. Vgl. McClelland, Scientific Institutions, S. 93. Mit dem veränderten Interesse korrespondierten etwa die Fragebogen, die Johann David Michaelis (1717–1791) im Auftrage des Königs von Dänemark für eine Expedition nach Arabien erstellte. Ders., Fragen an die Gesellschaft gelehrter Männer, die auf Befehl Ihrer Majestät des Königs von Dänemark nach Arabien reisen. Frankfurt/M. 1762. Michaelis war darüber hinaus mit der Auswahl der passenden Gelehrten für die Reise in Fragen der Theologie, Naturgeschichte, Geographie und Mathematik betraut worden, wobei für die letzte Disziplin seine Wahl auf den jungen Carsten Niebuhr fiel. Vgl. Johann David Michaelis, Lebensbeschreibung von ihm selbst abgefasst, mit Anmerkungen von J. M. Hassenkamp. Rinteln / Leipzig 1793, S. 66–76.

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schaftungen, sondern stellte vielmehr eine Homogenisierung und den vorläufigen Endpunkt einer regen gesellschaftlichen Organisationstätigkeit dar.157 Schon Ende des 16. Jahrhunderts lassen sich in Schottland erste freimaurerische Strukturen nachweisen, das heißt, dass Nicht-Handwerker (gentlemen-masons) den Rahmen der zünftigen Bauhütten zur Zusammenkunft und Beschäftigung mit glaubens- und wissenstheoretischen Fragen nutzten.158 Seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert war es vor allem das neu eingerichtete ‚Royal College of Physicians of Edinburgh‘ (1681), das sich in der Folge gegenüber jüngeren wissenschaftlichen Strömungen, wie dem Newtonianismus, aufgeschlossen zeigte und entgegen starker Widerstände der intellektuelle Ausgangspunkt für zahlreiche gesellschaftliche Initiativen blieb.159 Während diese Aktivitäten allerdings eher mit einer Universitätsreform und der Orientierung am niederländischen Lehrsystem verbunden waren,160 hatte ein weiterer Zweig gesellschaftlicher Organisierung seinen Ursprung in den übergreifenden Interessen der ‚landed society‘ oder ‚gentry‘. Diese schottische Gesellschaftsschicht des niederen landbesitzenden Adels hatte im Zuge der Parlamentsunion mit England 1707 einen Bedeutungszuwachs erlangt, indem sie die von der Reform verschonten Ämter übernommen hatte und diese eingeschränkten Funktionen zur Sicherung ihrer Selbstständigkeit und zur Umsetzung einschneidender Reformen nutzte.161 Aus der politischen Situation der gleichzeitigen Abgrenzung und Annäherung zum englischen Usurpator resultierte ein starkes Traditionsbewusstsein, gepaart mit einem radikalen Reformeifer, die rückständige schottische Gesellschaft an den Entwicklungsvorsprung Englands anzugleichen. Konzeptio-

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Detailliert schildert diesen Prozess Roger L. Emerson, The Scottish Enlightenment and the End of the Philosophical Society of Edinburgh, in: The British Journal for the History of Science 21 (1988), S. 33–66. Dazu auch Steven Shapin, Property, Patronage, and the Politics of Science: The Founding of the Royal Society of Edinburgh, in: British Journal for the History of Science 7 (1974), S. 1–41. 158 David Stevenson hat in seiner Studie, entgegen der verbreiteten Vorstellung, die Freimaurerei sei Anfang des 17. Jahrhunderts in England entstanden, den Nachweis für deren Ursprung im Schottland des ausgehenden 16. Jahrhunderts vorgelegt. Vgl. Ders., The Origins of the Freemasonry. Scotland’s Century, 1590–1710. Cambridge 1988. Monika Neugebauer-Wölk interpretiert die Freimaurerei als esoterischen Bund und gleichzeitig als Prototyp der Aufklärungsgesellschaft. Vgl. Dies., ‚Höhere Vernunft‘ und ‚höheres Wissen‘, S. 191. 159 Etwa die ‚Society for the Improvement of the Medical Knowledge‘ (1731). Vgl. John R. R. Christie, The Origins and Development of the Scottish Scientific Community, 1680–1760, in: History of Science 7 (1974), S. 122–141, hier S. 128. 160 Christie hebt den Einfluss der niederländischen Universitäten, insbesondere auf die medizinischen Fakultäten, in ganz Europa hervor. Der Leidener Professor Hermann Boerhaave hatte nicht nur fünf Professoren in Edinburgh, unter ihnen Alexander Monro, sondern auch Swieten in Wien, Haller in Göttingen, Eller in Berlin und Linné in Uppsala ausgebildet. Vgl. ebd., S. 129. 161 Die Sonderstellung der ‚gentry‘ war 1712 im so genannten ‚Patronage Act‘ verankert worden und sicherte ihr rechtlich die Besetzung aller wichtigen Ämter wie die der Geistlichen, Richter, Anwälte, Minister und Hochschullehrer. Vgl. Nicholas T. Phillipson, Towards a Definition of the Scottish Enlightenment, in P. Fritz / D. Williams (Hg.): City and Society in the 18th Century. Toronto 1973, S. 125–147, hier 130.

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niert und realisiert wurde dieses ambivalente Reformprojekt in einem engen Patronagegeflecht aus Landadel und bürgerlichen Gelehrten, das zur spezifischen Trägerschicht dessen wurde, was als ‚Scottish Enlightenment‘ in die Aufklärungsforschung eingegangen ist.162 Diese Koalition aus Gelehrtenwelt und landbesitzendem Adel schuf einen fruchtbaren Boden für die Ausarbeitung und Anwendung des neuen empirisch orientierten Wissenschaftskonzepts. Ihre Umsetzung fanden diese durchaus unterschiedlichen Interessen in den Programmen der ‚societies‘, die sich als probate Organisationsformen dieser heterogenen Gruppierungen erwiesen. ‚The Honourable Society of Improvement in the Knowledge of Agriculture‘ (1723) kann als solches Unternehmen der ‚gentry‘ gelten, die bei der Verbesserung der landwirtschaftlichen Erträge auf die Unterstützung durch wissenschaftliche Erkenntnisse baute und in der Folge neben agrarischen Fragen auch zunehmend Rechtsund Besitzfragen erörterte.163 In der Debatte um die ökonomische Entwicklung Schottlands traten Modelle einer arbeitsteiligen Gesellschaft auf den Plan, die von Manufakturwesen und Handel bestimmt sein sollten.164 Durch die Personalüberschneidungen in Gesellschaften der Kunst- und Gelehrtenwelt165 und solchen der ‚gentry‘ und höheren Verwaltung ergab sich bis zur Mitte des Jahrhunderts eine mächtige, breitgefächerte institutionelle Struktur, die mit den verschiedenen ‚societies‘ eine große thematische Spannbreite aufweisen konnte. Die ‚Philosophical Society of Edinburgh‘, 1731 zur Beförderung des medizinischen Wissens eingerichtet, wandelte sich in den 1730er Jahren unter der Ägide des berühmten New-

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W. R. Scott prägte 1900 den Begriff bezogen auf Francis Hutcheson. Ein breiteres Interesse am Aufklärungsgeschehen auf den britischen Inseln hatte sich gegenüber dem kontinentalen erst etwas verzögert entwickelt und verbindet sich für Schottland mit dem zweiten Internationalen Aufklärungskongress in St. Andrews 1967 und einem Vortrag von Hugh Trevor-Ropers / Lord Dacre, The Scottish Enlightenment, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 58 (1967), S. 1635–1658. Spätestens seit dieser Zeit ist ‚The Scottish Enlightenment‘ ein fester Bestandteil der internationalen Aufklärungsforschung. Vgl. Alexander Broadie, Introduction, in: Ders. (Hg.): The Cambridge Companion to The Scottish Enlightenment. Cambridge 2003, S. 1–7. 163 Eine wichtige Rolle spielten hier die sog. ‚legal lords‘ wie Henry Home / Lord Kames, James Burnett / Lord Monboddo, die neben der Verbesserung der Landwirtschaft vor allem die rechtliche Hinterfragung des feudalen Großgrundbesitzes und Lehenswesens im Sinn hatten. Vgl. Shapin, The Audience for the Scottish Science, S. 101. Vor seinen philosophischen und historischen Studien interessierte sich Kames für „agriculture as a science“, die auch ein Lehrbuch mit programmatischem Untertitel zeitigte: The Gentleman Farmer. Being an Attempt to Improve Agriculture by subjecting it to the test of Rational Principles (1776). Vgl. Alexander Fraser Tytler, Memoirs of the Life and Writings of the Honourable Henry Home of Kames. 2 Bde., 1. London 1807, hier: Bd. 1, S. 111. 164 Phillipson, Towards a Definition, S. 131f. 165 Zu nennen ist hier der 1716 gegründete ‚Rankenian Club‘, der sich intensiv mit englischer Literatur und Philosophie beschäftigte, insbesondere der Berkeleys, aber auch mit der Lockes und Newtons. Vgl. E. C. Mossner, The Life of David Hume. Oxford ²1980, S. 48f. Eine Regel des Clubs besagte, „they should not meddle with affairs of Church or State“. Vgl. Tytler, Memoirs, Bd. 2, S. 175.

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tonanhängers und Mathematikers Colin Maclaurin (1698–1746)166 zu einer ‚Society for Improving Arts and Sciences‘, die wiederum die Grundlage für die Einrichtung der ‚Royal Society of Edinburgh‘ darstellte.167 In den Statuten der ‚Philosophical Society‘ wird die Enthaltung zu Fragen der Theologie, Moral und Politik hervorgehoben – eine Maxime, die sich in den Satzungen der meisten Gesellschaften findet. Die philosophische Skepsis gegenüber der Sicherheit menschlicher Erkenntnisfähigkeit erleichterte darüber hinaus die Zurückhaltung bei delikaten religiösen und politischen Themen und motivierte die Hinwendung zu empirisch zugänglichen Fragen der Medizin, Landwirtschaft und Ökonomie.168 Aus erkenntnistheoretischer Perspektive manifestiert sich hier die akademische Skepsis des zweiten Sekretärs der Gesellschaft und Bibliothekars der ‚Advocates Library‘, David Hume. Auch die bedeutendste der Edinburgher Gesellschaften, die 1754 gegründete ‚Select Society‘, befolgte die Maxime, sich politischer Fragen zu enthalten, und formulierte ihr Anliegen folgendermaßen: The intention of these gentlemen was by practice to improve themselves in reasoning and eloquence, and by the freedom of debate, to discover the most effectual methods of promoting the good of the country.169

In den wöchentlichen Zusammentreffen wurde von im Turnus wechselnden Präsidenten eine zuvor im Komitee abgestimmte Fragestellung vorgetragen, zu der sich jeder Anwesende mit maximal drei Wortmeldungen äußern konnte.170 Der

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Erst neuerdings wurde auf die bedeutsame Rolle Maclaurins bei der Umsetzung des ‚Newtonianismus‘ in Schottland betont: „Maclaurin was not the first to bring Newtonian ideas to Scotland, but Maclaurin’s Newtonianism seems both the cause and the outward sign of his scientific success“. Die besondere Adaption bestand in der Übertragung des ‚Newtonian Style‘ – schrittweiser mathematischer Annäherung an systematische Überlegungen – auf andere Wissensbereiche, wie Ethik und Theologie. In dieser Tradition sind auch seine Schüler, wie etwa der Geologe James Hutton (1726–1797), zu verorten. Vgl. Judith V. Grabiner, Maclaurin and Newton: The Newtonian Style and the Authority of Mathematics, in: C. W. J. Withers / P. Wood (Hg.): Science and Medicine in the Scottish Enlightenment. Glasgow 2002, S. 143–171. 167 Ein relativ zeitnahes und durchaus kritisches Bild aus der Perspektive der nächsten Generation zeichnet davon Alexander Fraser Tytler, Memoirs, Bd. 2, 174ff. 168 „All the sciences are remarked to have a close connexion together; but none more than those of medicine and natural philosophy […]. The sciences of theology, morals, and politics, the society are resolved intirely to exclude from their plan. […] The great delicacy of the subject, the imperfections of the human understanding, the various attachments and inclinations of mankind, will forever propagate disputes with regard to these parts of erudition“. Vgl. Anonym., Preface, in: Essays and Observations, Physical and Literary. Read before a Society in Edinburgh and published by them. Bd. 1. Edinburgh 1754, S. IIIff. 169 Scots Magazine (1755), zitiert nach Roger L. Emerson, The Social Composition of Enlightened Scotland. The Select Society of Edinburgh, 1754–1764, in: Studies on Voltaire 114 (1973), S. 291–329, hier 297. 170 Scots Magazine (1755), nach Emerson, Social Composition, S. 297. Zu den bekanntesten Mitgliedern gehörten: Adam Smith, David Hume, der Maler Allan Ramsay, Lord Monboddo, Hugh Blair, Lord Kames, Adam Ferguson, William Cullen. Es ist nicht ohne Ironie, dass die berühmtesten Philosophen unter den genannten sich angeblich nie an den Diskussionen betei-

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überwiegende Anteil dieser Fragen setzte sich mit Problemen der Ökonomie auseinander. An zweiter Stelle wurden philosophische und gesellschaftliche Fragen behandelt171 und schließlich nur wenige Thesen zu Literatur und Ästhetik, deren besonderer Berücksichtigung man sich ursprünglich programmatisch verschrieben hatte. Der ungeheure Zulauf, den die ‚Select Society‘ in den Jahren nach ihrer Gründung aus allen gesellschaftlichen Kreisen erfuhr, ließ sich neben der Erörterung theoretischer Fragen zur Durchsetzung praktischer Ziele nutzen. Die Gesellschaft wurde damit über ihre wissenschaftliche Funktion hinaus, in David Humes Worten, „a national concern“.172 Aus dieser Einschätzung und Gewichtung der behandelten Fragen wird deutlich, dass die Gesellschaften weit weniger unpolitisch waren, als es ihre Statuten vermuten ließen.173 Dabei war die offizielle Enthaltung von religiösen und politischen Fragen nicht nur dem rechtlichen Status und einer möglichen Zensur geschuldet, vielmehr bot der Anspruch einer anwendungsorientierten Wissenschaftlichkeit eine Alternative zu den dogmatischen und oftmals aporetischen Diskussionen an den hohen Schulen und Universitäten. Die ‚Verbesserung‘ der Medizin, Landwirtschaft und Ökonomie konnte zum Gegenstand wissenschaftlicher Erörterung gemacht werden und gleichzeitig dem Allgemeinwohl zugute kommen. Gleichwohl bot die wissenschaftlich-empirische Annäherung an diese Gegenstände eine neutrale Basis, um sich durchaus brisanten gesellschaftlichen Fragen zu nähern. Erkenntnistheoretische Überlegungen, gepaart mit medizinischen Aspekten, schufen die Grundlage für eine induktive ‚Wissenschaft vom Menschen‘, welche die eigene Spezies zunächst als naturhafte Sinneswesen in den Blick nahm. Die Praxisorientierung der ‚societies‘ erforderte die Verortung dieses wissenschaftlich gefilterten, entmystifizierten Menschen innerhalb der ihn umgebenden Strukturen; seien es klimatische,

ligten: „David Hume and Adam Smith never opened their lips.“ Vgl. Tytler, Memoirs, Bd. 2, S. 177. 171 Solche Fragestellungen lauteten etwa: „Whether ought we to prefer ancient or modern manners with regard to the Condition and treatment of Women? […] Whether the Difference of National Characters be chiefly owing to the Nature of Different Climates, or to moral and political Causes?“ Vgl. Mossner, Life of David Hume, S. 281. 172 „It [The Select Society] has grown to be a national concern. Young and old noble and ignoble, witty and dull, laity and clergy, all the world are ambitious of a place amongst us, and on each occasion we are as much solicited by candidates as if we were to choose member of parliament.“ Hume to Allan Ramsay 1755, in: Letters of David Hume, hg. v. J. Y. T. Greig. 2 Bde., Oxford 1932, hier: Bd.1, S. 219. Die Mitgliederbeiträge galten „a project of engrafting on the Society a scheme for the encouragement of arts and sciences and manufactures of Scotland“. Vgl. Hume to Ramsay 1755, in: Letters, Bd. 1, S. 220. 173 Ein dezidiert politisches Anliegen vertrat der 1762 gegründete ‚Poker Club‘, der sich mit der Frage der Remilitarisierung Schottlands beschäftigte. Die schottischen Truppen waren von der Mobilmachung gegen Frankreich im siebenjährigen Krieg ausgeschlossen worden, da man ein Wiederaufleben des Jakobitismus befürchtete. Die Frage der ‚national defense‘ wurde von den schottischen Gelehrten im Kontext von Eigentum und Tugend, Dekadenz und moralischem Verfall debattiert. Vgl. Richard B. Sher, Adam Ferguson, Adam Smith, and the Problem of National Defense, in: The Journal of Modern History 61 (1989), S. 240–268, hier 243.

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gesellschaftliche, ökonomische oder politische. Die Wahrnehmung stark differierender Entwicklungsgrade der heterogenen schottischen Gesellschaft, zwischen Highlands und Lowlands einerseits und im Vergleich zur englischen Vorläufergesellschaft andererseits, ließen Fragen nach der Entstehung dieser Differenzen virulent werden. Äußere Aspekte der Reformierbarkeit der Landwirtschaft oder der zunehmenden Kommerzialisierung zogen grundsätzliche Überlegungen zur Entstehung von Eigentum, Besitz und hierarchischen Strukturen innerhalb der bestehenden Gesellschaft nach sich.174 Am Beispiel der schottischen Entwicklung lässt sich die Bedeutung der ‚societies‘ für die gegenseitige Durchdringung von Wissenschaft und Gesellschaft in einem vermittelnden Interesse an einer ‚Science of Man‘ deutlich illustrieren. Stärker als in den dezidiert als Wissenschaftsinstitutionen auftretenden Akademien konnte hier eine gegenseitige Bedingung und Annäherung gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Fragen erfolgen.175 Anthropologische Ergebnisse der ‚Natural History of Man‘, die besagten, dass der Mensch ein soziales Wesen sei und ihm die Fähigkeit zur Vervollkommnung innewohne, blieben keine innerwissenschaftlichen Feststellungen, sondern dienten als theoretische Grundlagen gesellschaftlicher Vernetzung und als Voraussetzung der Erziehungsfähigkeit des Menschen und der Menschheit, die wiederum zur konkreten Aufgabe der Gesellschaften wurde.176 Der öffentliche Nutzen war dabei nicht nur Teil der Programmatik, sondern wurde durch die Interessen der Mitglieder der ‚societies‘ repräsentiert und eingefordert.177 Gleichzeitig bot der wissenschaftlich-induktive Zugang eine Möglichkeit zur Neutralisierung dogmatisch umkämpfter Themen. Die ‚societies‘ waren damit ein Forum zur Öffnung und Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse und gleichzeitig ein Refugium vor öffentlicher Reglementierung und Zensur.

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Die Konfrontation zwischen ‚virtue‘ and ‚commerce‘, beziehungsweise klassischem Republikanismus und Liberalismus, ist als ideengeschichtlicher Hintergrund dieser Debatten, wie die der Remilitarisierung Schottlands, interpretiert worden. Zu diesem Begriffspaar die ihrerseits klassischen Studien von John G. A. Pocock, Virtue, Commerce and History. Essays on Political Thought and History, Chiefly in the Eighteenth Century. Cambridge 51995 (11985), S. 231. 175 Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass durch die Zunahme und Fragmentierung der ‚societies‘ im Verlauf des 18. Jahrhunderts das wissenschaftliche Interesse oftmals in den Hintergrund trat: „[...] [M]embers were often interested in a good dinner than in scientific discourse.“ Vgl. Peter Clark, British Clubs and Societies 1580–1800. The Origins of an Associational World. Oxford 2000, S. 440. 176 In diesem Sinne die Präliminarien zum Artikel ‚Society‘ in der Encyclopaedia Britannica: „The social principle in man is of such an expansive nature, that it cannot be confined within the circuit of a family, of friends, of a neighbourhood: it spreads into wider systems, and draws men into larger communities and commonwealths; since it is in these only, that the more sublime powers of our nature attain the highest improvement and perfection of which they are capable“. Vgl. Encyclopaedia Britannica, Art. ‚Society‘. Bd. 2. Edinburgh 1771, S. 614. 177 Es muss betont werden, dass dieses Patronagesystem – charakterisiert durch das Stichwort ‚landed interest‘ – auch starke Abhängigkeiten und Einschränkungen für die ‚societies‘ bedeutete. Vgl. Clark, British Clubs, S. 445.

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Auch wenn im deutschsprachigen Raum aufgrund der regionalen und konfessionellen Verschiedenheiten und aufgrund der stark differierenden Zielsetzungen innerhalb der Gesellschaftsbildungen ein direkter Vergleich im Einzelfall schwierig ist, so lässt sich am schottischen Beispiel eine Struktur aufweisen, die durchaus mit der Entwicklung im deutschsprachigen Raum korrespondiert.178 Die frühen Gesellschaftsgründungen, wie etwa die seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert entstandenen ‚Deutschen Gesellschaften‘, waren vorrangig literarisch-sprachlichen Themen gewidmet und zunächst als traditionell gesellige Vereinigungen konzipiert worden. Mit dem beginnenden 18. Jahrhundert traten sie – durch Anspruch, Inhalt und Verfassung als ‚Gelehrte Gesellschaften‘ – zunehmend in Konkurrenz zur traditionellen Universitätsgelehrsamkeit.179 Im weiteren Verlauf des Jahrhunderts lässt sich eine zweite Phase der Gründung patriotisch-gemeinnütziger Gesellschaften ausmachen, in die sich das beschriebene Programm der ‚Select Society‘ einfügen lässt.180 Dieser Gesellschaftstypus ging meistens auf Initiativen kleinerer Freundeszirkel zurück und entdeckte ein wirksames Instrument in der Herausgabe von Zeitschriften, der so genannten ‚Moralischen Wochenschriften‘.181 Ein geeignetes Beispiel für unseren Zusammenhang bietet hier die 1762 gegründete Berner ‚Patriotische Gesellschaft‘, die durch ihren spiritus rector Isaak Iselin (1728–1782) und dessen europaweite Verbindungen weitreichende Bedeutung für

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Mit dieser Typologisierung folge ich Otto Dann, Vereinsbildung in Deutschland in historischer Perspektive, in: H. Best (Hg.): Vereine in Deutschland. Vom Geheimbund zur gesellschaftlichen Organisation. Bonn 1993, S. 119–142, hier S. 122f. 179 Die Forschungslücke zu den an etwa 18 Orten ansässigen ‚Deutschen Gesellschaften‘ schließt neuerdings die Studie von Detlef Döring, Die Geschichte der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. Von der Gründung bis in die ersten Jahre des Seniorats Johann Christoph Gottscheds. Tübingen 2002. Die Gesellschaft war 1697 unter dem Namen ‚Görlitzer Collegium Poeticum‘ als Studentengesellschaft neuen Typs mit deutlichen Anleihen an frühere Sozietäten gegründet worden. Mit der zweiten Dekade des 18. Jahrhunderts traten an die Stelle der dichtenden Studenten Gelehrte der Dichtkunst. Vgl. ebd., S. 303f. Ein vergleichbarer Typus ist die ‚Patriotische Gesellschaft‘ in Hamburg, die auf die ‚Teutsch übende Gesellschaft‘ (1715–1717) zurückgeht. Vgl. Emanuel Peter, Geselligkeiten. Literatur, Gruppenbildung und kultureller Wandel im 18. Jahrhundert. Tübingen 1999, S. 86ff. 180 Die Hauptgründungsphase der patriotischen Gesellschaften erfolgt seit den 1760er Jahren und steht, ähnlich wie in Schottland, in engem Zusammenhang mit den ökonomischen und politischen Folgen des Siebenjährigen Krieges [Leipzig 1764, Zürich 1764 / 65, Karlsruhe 1765, Kassel 1765]. Zu den gut erforschten unter diesen zählt die ‚Hamburgische Gesellschaft zur Beförderung der Künste und nützlichen Gewerbe‘ (1765), deren Vorbild die Londoner ‚Society for Encouragement of Arts, Manufactures, and Commerece‘ (1754) war. Vgl. Dann, Vereinsbildung, S. 131. Dazu auch Richard van Dülmen, Die Gesellschaft der Aufklärer. Zur bürgerlichen Emanzipation und aufklärerischen Kultur in Deutschland. Frankfurt/M. 1986, S. 66ff. 181 Als Vorbild dienten den ‚Moralischen Wochenschriften‘ die englischen ‚moral weeklies‘ – eine Gattung, die Joseph Addison und Richard Steele mit dem Tatler (1708–1711), Spectator (1711/12) oder Guardian (1713) begründet hatten. Zu den bekanntesten deutschen Wochenschriften zählen Der Patriot (Hamburg 1724–1726), Die Vernünftigen Tadlerinnen (Halle / Leipzig 1725/26), Der Gesellige (1748–1750) und Der Mensch (Halle 1751–1756). Vgl. Helga Brandes, Art. ‚Wochenschriften, Moralische‘, in: Schneiders (Hg.): Lexikon der Aufklärung, S. 443–445.

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den Diskurs um die ‚Geschichte vom Menschen‘ erlangte.182 Der besondere Anspruch der ‚Patriotischen Gesellschaft‘ bestand darin, Fragen, die in den Augen der Gründer bislang von den bestehenden Akademien und Gesellschaften nicht ausreichend berücksichtigt worden waren, stärker in den Vordergrund zu rücken. Auf dem Wege des Preisausschreibens sollten vor allem Studien über die „Absichten, Gründe, Nachteile und Vorteile der Gesetzgebung aller Völker“ motiviert werden.183 Im Verlauf der 1770er Jahre lässt sich innerhalb der zweiten Phase beobachten, dass in vielen Gesellschaften die literarisch wissenschaftlichen Ansprüche hinter die praktischen Zielsetzungen zurücktraten, wie etwa in den Freimaurergesellschaften, deren Netzwerk eine bedeutsame Substruktur der höfischen und bürgerlichen Aufklärungszentren darstellte. Die Freimaurerlogen verfolgten weniger ein wissenschaftlich-diskursives oder äufklärerisches Programm, als vielmehr eine streng ritualisierte Vergesellschaftungsform, die in ihrer egalisierenden Wirkung dazu angetan war, die Schranken der bürgerlichen Welt zu der adeligen abzubauen.184 Gleichzeitig war die Attraktivität der Logen für den Adel und die Vertreter der gehobenen Verwaltung der Grund dafür, dass die Freimaurerei die Aufstiegsambitionen des Bürgertums beförderte und nicht zu einem Hort der politischen Opposition wurde.185 Mit den 1770er Jahren beginnt aber auch zugleich die dritte Phase gesellschaftlicher Organisationstätigkeit, die besonders durch die Gründung der so genannten Lesegesellschaften gekennzeichnet ist.186 Diese Form 182

Iselin hatte zu seiner ‚Geschichte der Menschheit‘ ein Preisausschreiben der patriotischen Gesellschaft von Bern zum Anlass genommen, die vergeblich eine Fusion mit der Helvetischen Gesellschaft angestrebt hatte. Den Hintergrund dazu bot eine Debatte um das Verständnis des Patriotismus-Begriffs, der in einer ‚radikal-politischen‘ Version durch Johann Jakob Bodmer (1698–1783) und in einer ‚philanthropisch-kosmopolitischen‘ Version durch Iselin besetzt war. Vgl. dazu Simone Zurbuchen, Patriotismus und Kosmopolitismus. Die Schweizer Aufklärung zwischen Tradition und Moderne. Zürich 2003, S. 71–97. Iselins Werk Über die Geschichte der Menschheit hatte seit seinem Erscheinen 1764 bis 1791 sieben Auflagen erlebt und lieferte der Diskussion, ausgehend von Rousseaus ‚Zweitem Diskurs‘, den maßgebenden Ausgangspunkt, den Reinhart Koselleck durch die Konzeptionierung einer histoire hypothétique in der besonderen Verbindung von Philosophie und Geschichte gegeben sieht. Vgl. Ders., Art. ‚Geschichte, Historie‘, in: O. Brunner / W. Conze / R. Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 2. Stuttgart 1975, S. 593–717, hier S. 670. 183 Die ‚Patriotische Gesellschaft‘ kann durch ihre semi-klandestine Struktur und ihre Ambitionen nicht als ‚typische‘ patriotische Gesellschaft gelten, und dennoch lässt sich an ihr deutlich der Anspruch aufzeigen, die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse auf einer ‚gesellschaftlichen‘ Ebene vermitteln zu wollen. Vgl. Ulrich Im Hof, Das gesellige Jahrhundert. Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung. München 1982, S. 160ff. 184 Die erste Loge ‚Absalom‘ wurde 1737 von England aus in Hamburg gegründet. Spätestens der Beitritt des preußischen Kronprinzen Friedrich zur Freimaurerei hatte die Gesellschaftsform ‚hoffähig‘ gemacht. Als König übernahm Friedrich II. die Großmeisterwürde der Berliner Loge ‚Aux trois Globes‘. Vgl. Dann, Vereinsbildung, S. 130; van Dülmen, Die Gesellschaft der Aufklärer, S. 57. 185 Vgl. Dann, Vereinsbildung, S. 130; van Dülmen, Die Gesellschaft der Aufklärer, S. 65. 186 Seit den 1780er Jahren kann man von einem wahren ‚Boom‘ der Lesegesellschaftsgründungen sprechen. Holger Zaunstöck konnte allein für Mitteldeutschland bis 1770 fünf, bis 1780 sieben

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der Gesellschaft kann als die populärste im Sinne ihrer allgemeinen, schichtenübergreifenden Anerkennung und Verbreitung gelten.187 Von den nahezu ebenso populären Freimaurerlogen unterscheidet sie sich vor allem durch ihren öffentlichen Charakter und offenen Zugang, sowie ihr bildungspolitisches Programm. Die Lesegesellschaften verdankten ihre rasche Ausbreitung dem Umstand, dass die sich formierende Wissensgesellschaft ebenso auf Grundlage der Vervielfältigung der Wissensproduktion basierte wie auf dem Zugewinn neuer Rezipienten.188 Die Entstehung des ‚Bildungsbürgertums‘ korrespondierte mit diesem Befund in zweifacher Hinsicht, nämlich einerseits durch eine explosionsartige Entwicklung des Buch- und Zeitschriftenmarktes und andererseits durch eine sich stetig vergrößernde literarisch und wissenschaftlich interessierte Öffentlichkeit.189 Innerhalb dieser ‚Leserevolution‘ bestand die Aufgabe der Lesegesellschaften darin, den expandierenden Buchmarkt, die Lexika und Periodika einem interessierten Publikum zugänglich zu machen. Das englische Vorbild hatte gezeigt, auf welche Weise das Wissens- und Bildungsmonopol von Klerus und Adel aufgelöst werden konnte.190 Aus den ‚coffeehouses‘, die als Umschlagsort für Zeitungen, Zeitschrifund bis 1789 ganze 46 Gründungen nachweisen. Vgl. Ders., Sozietätslandschaft und Mitgliederstrukturen. Die mitteldeutschen Aufklärungsgesellschaften im 18. Jahrhundert. Tübingen 1999, S.108. 187 Eine Übersicht der europäischen Lesegesellschaften und ihrer Erforschung findet sich bei Otto Dann / Annette Meyer, Art. ‚Cabinets de Lecture‘, in: Encyclopedia of the Enlightenment, hg. v. A. C. Kors. Bd. 1. Oxford 2003, S. 188–191. Der Darstellung einzelner nationaler Entwicklungen widmet sich der Band von Otto Dann (Hg.): Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation. Ein europäischer Vergleich. München 1981. 188 Wie in vergleichbaren englischen und französischen Untersuchungen ermittelt sich die steigende Alphabetisierungsrate, trotz Umstrittenheit dieser Methode, immer noch nach der so genannten Signierfähigkeit. Im Gegensatz zu älteren Forschungen weisen unterschiedliche regionale und soziologische Studien in toto für die Zeit um 1800 „immer einen Alphabetisierungsgrad von 60 Prozent nach, wobei dieser untere Wert für Frauen gilt, während die Männer bis zu 100 Prozent erreichen“. Vgl. Reinhart Siegert, Die Alphabetisierung in den deutschen Regionen am Ende des 18. Jahrhunderts. Methodische Überlegungen und inhaltliche Bausteine aus Quellenmaterial der Volksaufklärung, in: H. E. Bödeker / E. Hinrichs (Hg.): Alphabetisierung und Literalisierung in Deutschland in der Frühen Neuzeit. Tübingen 1999, S. 283–307, hier S. 286. 189 Zwischen 1700 und 1800 steigt die Zahl der jährlich erscheinenden Titel von 1000 auf nahezu 4000. Während um 1700 mit einem Lesepublikum von 80.000–85.000 Personen zu rechnen ist, kann man um 1800 wohl von 350.000–555.000 potentiellen Leserinnen und Lesern ausgehen, also etwa einem Viertel der damaligen Bevölkerung. Vgl. Otto Dann, Die deutsche Aufklärungsgesellschaft und ihre Lektüre. Bibliotheken in den Lesegesellschaften des 18. Jahrhunderts, in: Buch und Sammler. Private und öffentliche Bibliotheken im 18. Jahrhundert. Heidelberg 1979, S. 187–199. Zur rapiden Zunahme der Periodika allein in Edinburgh zwischen 1740 und 1790 Stephen W. Brown, William Smellie and Natural History: Dissent and Dissemination, in: C. W. J. Withers / P. Wood (Hg.): Science and Medicine in the Scottish Enlightenment. Glasgow 2002, S. 191–214, hier S. 192. 190 Die Maxime lautete: „Philosophy out of the Closets and [private] Libraries, Schools and Colleges, to dwell in Clubs and Assemblies, at Tea-Tables and in Coffee-Houses.“ Vgl. Joseph Addison / Richard Steele, The Spectator 1 (1711), Nr. 10, S. 54. In diesem Zusammenhang muss auf die Öffnungen verschiedener Privatbibliotheken hingewiesen werden: 1691 wurde die herzogliche Bibliothek in Wolfenbüttel der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, gefolgt von der

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ten und jede Art von Literatur dienten, hatten sich schrittweise organisierte Buchclubs formiert, die als ‚Lesegesellschaften‘ in Europa und Übersee vielfach nachgeahmt wurden.191 Besonderes Interesse für die Frage nach der Vermittlung von Wissenschaft und Gesellschaft verdienen die Lesegesellschaften in ihren Anschaffungspraktiken und durch die Präferenzen ihrer Mitglieder. Es ist dabei herausgearbeitet worden, dass weder Anschaffungs-, noch Lese- und Ausleihpraktiken direkt mit den Angeboten des Buch- und Zeitschriftenmarktes korrespondierten.192 Obwohl Zeitungen und Zeitschriften nur fünf Prozent unter den Titeln des allgemeinen Verlagsgeschäfts ausmachten, stellten sie den wichtigsten Lesestoff der Gesellschaften mit einem Anteil von bis zu 70 Prozent dar.193 Hier sind die führenden Zeitschriften der Zeit, aber auch die moralischen Wochenschriften und rein wissenschaftlichen Periodika zu nennen, in denen unter anderem die erwähnten Preisschriften publiziert wurden. Besondere Bedeutung erlangten die Periodika durch ihr extensives Rezensionswesen, dem ein Großteil der Auflage vorbehalten war und durch das auch ausländische Literatur Eingang in die allgemeine Diskussion fand. In der inhaltlichen Ausrichtung der Zeitschriften verhielt sich das Verhältnis unterhaltender und wissenschaftlicher Literatur im Vergleich zu Verlagsangebot und Anschaffungspolitik umgekehrt proportional. Während sich nahezu die Hälfte der Zeitschriften auf dem Markt literarisch unterhaltenden Titeln widmete, machte ihr Angebot in den Lesegesellschaften nicht einmal ein Viertel der angeschafften Periodika aus. Die politisch-historischen und wissenschaftlichen Titel wiederum, die nur etwa zehn Prozent des Marktes bestimmten, stellten hingegen bis zu einem Viertel des Gesamtbestandes der Lesegesellschaften dar. Ähnlich verhielt es sich bei den Monographien, die zu einem überwiegenden Anteil allgemeinbildender Natur waren. Entsprechend dem aufgeklärten Bildungsideal sollten „Bücher [...]

königlichen Bibliothek von Versailles (1720) und der kaiserlichen Hofbibliothek in Wien (1726). Vgl. Dann / Meyer, ‚Cabinets de Lecture‘, S. 189. 191 Das unbestrittene Zentrum des überseeischen Vergesellschaftungswesens war Philadelphia, was sicherlich mit der Präsenz des umtriebigen Philosophen, Erfinders und Verlegers Benjamin Franklin zusammenhing. Dieser sorgte gleich für die Gründung mehrerer Gesellschaften, wie dem Debattierclub ‚Junto‘, der ‚Union Fire Company‘, der ‚Philosophical Society‘ (1743), der ‚Library Company‘ (1731) und schließlich der Großen Freimaurerloge, in der Franklin ein führendes Mitglied war. Vor allem die so genannten ‚library companies‘ konnten sich in Nordamerika andauernd durchsetzen. Vgl. Dann / Meyer, ‚Cabinets de Lecture‘, S. 189. 192 Leider sind in jüngerer Zeit nur wenige solcher Auswertungen vorgenommen worden. Ich folge hier den Ausführungen von Otto Dann, Die deutsche Aufklärungsgesellschaft, S. 194ff. 193 Zur Bedeutung des Zeitschriftenwesens für die Popularisierung von Wissen im 18. Jahrhundert der Verfasser des Allgemeinen Sachregisters über die wichtigsten Zeit- und Wochenschriften (1790) Johann Heinrich Christoph Beutler: „Durch die Zeitschriften wurden die Kenntnisse, welche sonst nur das Eigentum der Gelehrten waren und in Büchern aufbewahrt wurden, die der größere Teil der Nation nicht verstand, nicht lesen konnte, und nicht lesen mochte, diese Kenntnisse der Gelehrten wurden durch die Zeitschriften allgemein in Umlauf gebracht, gereinigt und in die allgemeine Volkssprache übertragen.“ Zitiert nach Otto Dann, Das historische Interesse in der deutschen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, in: K. Hammer / J. Voss (Hg.): Historische Forschung im 18. Jahrhundert. Bonn 1976, S. 386–415, hier S. 389.

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zur Zeitgeschichte, zur Staatenkunde, zur genauren Kenntnis der Länder und Menschen dienen“, wie es der Gründungskodex einer kleinen mecklenburgischen Lesegesellschaft von 1790 vermerkt.194 Einen gewichtigen Anteil des Lektürestoffs der vergesellschafteten Leser bildete deshalb die Enzyklopädik mit ihren Nachschlagewerken, Handbüchern und Atlanten. Bei den Monographien sollten ökonomischtechnische Titel zur ‚nützlichen‘ Weiterbildung vorhanden sein, ebenso wie moralische Schriften und allgemeinverständlich Theologisches – im Sinne einer religiös inspirierten Erbauungsliteratur – nicht fehlen durfte. Die Schwerpunktsetzung auf ‚nützlich-instruktive Literatur‘ bis hin zu einer äußerst skeptischen Haltung gegenüber Romanen im Sortiment zeigt nicht nur den aufklärerischen Impetus der Gesellschaftsgründer, sondern spiegelt gleichzeitig das Selbstverständnis einer sich neu formierenden Bildungsschicht wider. Allgemeinbildendes, Reiseberichte und durchaus ‚wissenschaftlich‘ zu nennende Literatur waren nämlich nicht nur die zuvorderst angeschafften, sondern auch die zumeist gelesenen und ausgeliehenen Bücher.195 Die Lesegesellschaften waren damit der Gesellschaftstypus, der die Teilhabe an wissenschaftlichen Debatten für eine breitere Interessentenschicht ermöglichte und die hermetische Gelehrtenwelt, wie sie das Akademiewesen in gewisser Weise perpetuiert hatte, einer wissenschaftlich interessierten Öffentlichkeit zugänglich machte. Gleichzeitig war diese Öffnung die Grundlage dafür, dass Debatten, die schon seit geraumer Zeit unter Gelehrten geführt wurden, einen öffentlichen Charakter bekamen und deshalb tatsächlich von ‚Diskursen‘ gesprochen werden kann. Als ein solcher öffentlicher Diskurs kann die Diskussion um die Frage nach der adäquaten ‚Wissenschaft vom Menschen‘ angesehen werden. Auch wenn also ein langsamer Rückzug von der ursprünglich wissenschaftlichen Orientierung der gesellschaftlichen Zusammenschlüsse im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zu beobachten ist, so ist die Bedeutung der Gesellschaften für die Veränderung des Wissenschaftsverständnisses dennoch von nicht zu überschätzender Bedeutung. Erstens gewährleisteten die Gesellschaften das, was konstitutiv mit der neuen Auffassung von Wissenschaft verbunden war, nämlich die institutionelle Möglichkeit zur Selbstbildung. Zum zweiten sollte diese Selbstbildung nicht als Zugang zu einem akademischen Arkanum verstanden werden, sondern dem Allgemeinwohl dienen.196 Durch die Mitgliedschaft in einer Sozietät verstand man sich als Teil der ‚Gelehrtenrepublik‘ und trug damit Verantwortung zur Mitgestal-

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Zitiert nach Dann, Die deutsche Aufklärungsgesellschaft, S. 197. Auch hier gibt es bislang nur wenige detaillierte Studien. Ich beziehe mich auf die Ausführungen von George S. Rousseau, Science Books and their Readers in the Eighteenth Century, in: I. Rivers (Hg.): Books and their Readers in Eighteenth Century England. New York 1982, S. 197–255. 196 „In diesem Jahrhundert wurde Deutschland von einer großen Bildungsbewegung erfaßt, die die politisch und sozial fraktionierten Gesellschaften der deutschen Staaten zu einer gemeinsam geprägten Kulturlandschaft vereinigten.“ Vgl. Dann, Vereinsbildung in Deutschland, S. 124.

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tung der bürgerlichen Gesellschaft.197 Auch wenn damit nur im Sonderfall der Jakobinerclubs eine gegen die Obrigkeit gerichtete Programmatik einherging, so erhielten die Gesellschaften durch ihre egalitäre Verfassung eine zutiefst antiautoritäre und antiständische Struktur. Die stille Anerkennung der politischen Gegebenheiten bei gleichzeitiger Unterminierung derselben mit Hilfe einer wissenschaftlichen Infragestellung konstituierte eine Gesellschaft in der Gesellschaft, deren pädagogischer Impetus nicht unmaßgeblich zu ihrer raschen und flächendeckenden Ausbreitung beitrug. Ebenso wie im schottischen Fall waren religiöskirchliche und politisch-staatliche Themen nicht auf der offiziellen Agenda der deutschsprachigen Sozietäten, wobei auch analog zum schottischen Beispiel wissenschaftliche Erörterungen von Fragen der Natur des Menschen, des Weltbürgertums und der gesellschaftlichen Moral durchaus an der Tagungsordnung waren. Die ‚Wissenschaft vom Menschen‘ bot als Grundlage der Moralphilosophie und im herkömmlichen Sinne der Ökonomie die Möglichkeit, an der Zensur vorbei über politische Phänomene und Probleme zu diskutieren und diese wissenschaftlich zu bearbeiten. Die Vermittlung von Wissen innerhalb der Gesellschaft blieb damit keine ‚Einbahnstraße‘, die von der Gelehrtenwelt zu einem erweiterten Leserkreis führte. Das neue Interesse eines gebildeten (learned) Publikums an öffentlicher Artikulation in Debatten und vor allem in Zeitschriften wirkte sich vielmehr vice versa auf innerwissenschaftliche Schwerpunktsetzungen, neuartige Lehrbücher und Enzyklopädien sowie schließlich die Einrichtung spezieller Forschungsstätten und Professuren aus.198 Neben der sozialen ‚vertikalen Mobilität‘, die durch das Sozietätswesen innerhalb der Gesellschaft geschaffen wurde und durch die ‚Bildung‘ zu einem gesellschaftlichen Kapital werden konnte, ist neuerdings die Bedeutung der ‚horizontalen Mobilität‘ als weiterer wichtiger Effekt der Vergesellschaftung hervorgehoben worden. Besonders deutlich lässt sich diese Feststellung an den Doppel- und Mehrfachmitgliedschaften nachweisen, die keinen Sonderfall, sondern die Regel im gesellschaftlichen Organisationswesen des 18. Jahrhunderts darstellen.199 Aus diesen personalen Kontakten entstand auf der Karte der ‚Sozietätslandschaft‘ ein Koordinatensystem wissenschaftlicher Bezüge, das weit über den regionalen oder nationalen Rahmen gespannt war.200 Die Vergesellschaftung des Wissens – 197

‚Gelehrtenrepublik‘ im Sinne einer „Gemeinschaft aufgeklärter Bürger, die sich ihres Menschseins bewußt sind und über alle Grenzen hinweg ihr aufklärerisches Ideal zu verwirklichen suchen“. Vgl. van Dülmen, Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, Bd. 3, S. 225. 198 Vgl. Otto Dann, Vom Journal des Scavants zur wissenschaftlichen Zeitschrift, in: Bernhard Fabian / Paul Raabe (Hg.): Gelehrte Bücher vom Humanismus bis zur Gegenwart. Wiesbaden 1983, S. 63–80, hier S. 74f. 199 Ich beziehe mich hier auf die Studie von Holger Zaunstöck, der diese These von Horst Möller durch seine Untersuchungen für den mitteldeutschen Raum untermauert. Vgl. Ders., Sozietätslandschaft, S. 13ff. Vgl. auch Horst Möller, Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1986, S. 257. 200 Vgl. Zaunstöck, Sozitätslandschaft, S. 15ff. In Hinblick auf die internationalen Bezüge lässt sich dieser Befund bislang vor allem an den Mehrfachmitgliedschaften in den Akademien nachweisen: „Reciprocal elections of honorary and corresponding members reinforced these

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die Anforderung an Wissenschaft, praktisch und populär zu sein, sowie der Anspruch weiter Bevölkerungsschichten, sich zu bilden – schuf die Grundlage für die Entstehung einer öffentlichen ‚scientific community‘, die wissenschaftliche Fragen außerhalb der Mauern der traditionellen Orte des Wissens debattierte. 2.2.3. Veränderungen der Universitätslandschaft Die Infragestellung des traditionellen Universitätssystems gehörte seit dem 17. Jahrhundert konstitutiv zur Formulierung des neuen Wissenschaftsverständnisses.201 Die vehementen Angriffe auf die altehrwürdige Ausbildungsstätte betrafen zum einen formal die Universität in ihrer institutionellen Verfassung und zum anderen inhaltlich die Universität als Forschungs- und Lehreinrichtung. Der formale Vorwurf bestand zunächst darin, dass die Universitäten den Status ihrer rechtlichen Eigenständigkeit202 weniger zur Schaffung der Bedingungen freier Lehre und ungestörten Studierens nutzten, sondern vielmehr eine Freizügigkeit beförderten, die das studentische Leben zum Inbegriff einer undiszipliniert libertinären Daseinsform machte. Studentenleben wurde zuvorderst mit Trinken, ausgelassenem Zeitvertreib und groben Sittenverletzungen assoziiert, was nicht nur in der Gelehrtenwelt, sondern auch in der Bevölkerung der Universitätsstädte großen Anstoß erregte.203 Der Abgrenzungsgestus der sich etablierenden Gelehrtenrepublik richtete sich indessen hauptsächlich gegen das traditionelle Fakultäts- und Lehrsystem der Universitäten. Dieses erwies sich trotz andauernder Kritik als überaus reformresistent und beharrte auf seiner lateinisch-theologischen Tradition, die sich nicht nur im

ties, and collaborative projects [...] strengthened the reality of the international network of the academies and societies that spanned eighteenth-century Europe.“ Vgl. McClellan, Scientific Institutions, S. 94. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Besuche auswärtiger Gelehrter in verschiedenen Gesellschaften, wie etwa nachgewiesen bei François de Capitani, Die Gesellschaft im Wandel. Mitglieder und Gäste der helvetischen Gesellschaft. Stuttgart 1983, S. 50f. 201 Vgl. den Überblick von John Gascoigne, The Universities and the Enlightenment, in: Ders., Science, Politics and Universities in Europe, 1600–1800. Aldershot 1998, S. 1–13. 202 „Denn eine Universität bedeutet eigentlich ein Collegium oder Corpus von Lehrenden und Lernenden, welche gleichsam eine eigene Republick unter sich machen, ihre eigene Jurisdiction und Gesetze haben, von niemand, als des höchsten Landes-Obrigkeit, dependieren [...].“ Vgl. Zedler, Art. ‚Universität, Academie, Hohe Schule‘. Bd. 49. Leipzig / Halle 1746, Sp. 1771–1812, hier Sp. 1771. „In the eye of the law, an university is held a mere lay body, or community; though in reality, it be a mixed body, composed partly of laymen, and partly of ecclesiastics.“ Vgl. Chambers, Art. ‚University‘, Bd. 2, [unpag.]. 203 Der Artikel ‚Universität‘ im ,Zedler‘ unterstützt die Einrichtung einer Universität auch zum ökonomischen Nutzen einer Stadt, „doch seyend sie besser in Handels-Städten anzulegen, in dem der Mercurius ohnedem immer mit dem Appoline etwas auszumachen hat“. Vgl. Zedler, Art. ‚Universität‘, Sp. 1785f. Und weiter zur Kritik: „Allein da alle Menschen in allen Ständen dermassen verderbet, so darf man von den Academien auch keine Englische Reinigkeit verlangen.“ Vgl. ebd., Sp. 1810.

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Lateinischen als Wissenschaftssprache ausdrückte, sondern sich am deutlichsten im Festhalten an der spätmittelalterlichen Aufteilung der Fakultäten manifestierte. Unter den vier Fakultäten nahm die Theologie den höchsten Rang ein, ihr folgten die Jurisprudenz und die Medizin. Unterhalb dieser ersten drei Fächer rangierte die artistische Fakultät, in der die sieben freien Künste – die ‚artes liberales‘ – vermittelt wurden.204 Ihre Funktion bestand in der propädeutischen Grundlegung des Wissens vermittels des so genannten ‚triviums‘, der sprachlichen Annäherung an die Wahrheit durch Grammatik, Rhetorik und Logik, sowie der vier mathematischen Fächer Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik – dem ‚quadrivium‘.205 Mit dieser Aufteilung verband sich die Rezeption und Vermittlung festgelegter Lehrmeinungen, deren Autorität kaum infrage gestellt wurde. Für die Theologie war die spätmittelalterliche Scholastik beziehungsweise die lutherische Orthodoxie bestimmend, die Jurisprudenz orientierte sich am römischen Recht, die Medizin folgte in weiten Teilen der antiken Theorie Galens und die Philosophie blieb weitestgehend dem Aristotelismus verpflichtet.206 Unterrichtet wurden diese Stoffe an allen traditionellen europäischen Universitäten anhand von Vorlesungskompendien, wobei die Aufgabe der Studenten in der Hauptsache im Übersetzen und Auswendiglernen der Texte bestand.207 Der wachsende Zweifel an der Zuverlässigkeit und dem Nutzen der traditionellen Erkenntnisformen betraf im universitären Zusammenhang in der Hauptsache den sprachlichen Zugang durch das ‚trivium‘ – also durch Grammatik, Rhetorik und vor allem Logik. Die durch diese Zweifel genährte Skepsis beförderte die 204

Die vierte Fakultät verbindet sich mit dem Begriff der ‚scientia‘ respektive ‚philosophia‘. Mit der Übertragung in die Vernakularsprachen etablierte sich die Bezeichnung ‚Wissenschaften und Künste‘ beziehungsweise ‚arts and sciences‘ für die vierte Fakultät. Vgl. Chambers, Art. ‚University‘, Bd. 2, [unpag.]. Im Französischen: „Dans chaque université on enseigne ordinairement quatre sciences, savoir la théologie, le droit, la médecine, & les humanités ou les arts, ce qui comprend aussi la philosophie.“ Vgl. Art. ‚Université‘, in: Diderot / D’Alembert, Encyclopédie, Bd. 17. Paris 1756, S. 406–408. Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wird die vierte Fakultät auch zunehmend als ‚philosophische‘ bezeichnet. Vgl. Notker Hammerstein, Vom Rang der Wissenschaften zum Aufstieg der philosophischen Fakultät, in: A. Kohnle / F. Engehausen (Hg.): Zwischen Wissenschaft und Politik. Studien zur Universalgeschichte. Stuttgart 2001, S. 86–96, hier S. 87. 205 Vgl. Notker Hammerstein, Bildung und Wissenschaft vom 15. bis zum 17. Jahrhundert. München 2003, S. 3. 206 Vgl. van Dülmen, Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, Bd. 3, S. 189. Hammerstein, Bildung und Wissenschaft, S. 14f. In Hinblick auf den ‚Aristotelismus‘ muss immer wieder betont werden, dass Aristoteles weniger als Philosoph als vielmehr als dogmatischer ‚Kirchenvater‘ Vermittlung fand. Vgl. Jürgen Mittelstraß, „Die Weisheit hat sich ein Haus gebaut“ – die europäische Universität und der Geist der Wissenschaft, in: A. Patschovsky / H. Rabe (Hg.): Die Universität in Alteuropa. Konstanz 1994, S. 205–223, hier S. 208. 207 „Philosophie. Après avoir passé sept ou huit ans à apprendre des mots, ou à parler sans rien dire, on commence enfin, ou on croit commencer l’étude des choses; car c’est la vrai définition de la philosophie. Mais il s’en faut bien que celle des colléges mérite ce nom : elle ouvre pour l’ordinaire par un compendium, qui est, si on peut parler ainsi, le rendez-vous d’une infinité de questions inutiles sur l’Existence de la Philosophie, sur la Philosophie d’Adam, &c.“ Vgl. Art. ‚Collége‘, in: Diderot / D’Alembert, Encyclopédie, Paris 1751, Bd. 2, S. 634–640, hier S. 635.

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inneruniversitäre Hinwendung zur induktiven Methode, die vor allem in Fächern des ‚quadriviums‘, wie beispielsweise der Astronomie, eingesetzt werden und zum Erfolg führen konnte. Aus diesem Zusammenhang erschließt sich das Drängen nach einer stärkeren Differenzierung und expliziten Einbeziehung der empirischen Grundlagenwissenschaften – ‚historia naturalis‘ und ‚historia civilis‘ – in den traditionellen Fächerkanon.208 Im weiteren Verlauf ergab sich daraus die Forderung, naturwissenschaftlich-physikalischen, botanisch-biologischen sowie historischen Fragen mehr Platz einzuräumen und sie damit nicht mehr nur als untergeordnete zu behandeln. Eine eigenständige disziplinäre Zuweisung im universitären Rahmen war mithin gleichbedeutend mit der Anerkennung eines eigenständigen Erkenntnisgehalts. Den Ort dieses Umbaus der Wissensordnungen innerhalb der universitären Hierarchie stellte die artistische, philosophische, vierte oder ‚untere‘ Fakultät dar. Aus ihr emanzipierten sich einzelne Disziplinen, während die philosophische Fakultät selbst mit den ‚höheren‘ Fakultäten um die Rolle der Leitwissenschaft in Konkurrenz trat.209 Von der Unzufriedenheit mit der Universitätsausbildung zeugen theoretische Abhandlungen von Hobbes bis Gundling,210 aber auch autobiographische Skizzen der Studienzeit einiger Gelehrter belegen bis weit ins 18. Jahrhundert diese ablehnende Haltung. Vernichtend fiel bekanntermaßen Edward Gibbons Urteil über seine Studienzeit in Oxford aus, die er 1752 unter der Verheißung begann, den gleichen Geist wie einst Hooker, Chillingworth und Locke atmen zu können: To the University of Oxford I acknowledge no obligation; [...] The schools of Oxford and Cambridge were founded in a dark age of false and barbarous science, and they are still tainted with the vices of their origin. Their primitive discipline was adopted to the education of priests and monks; and the government still remains in the hands of the Clergy, an order of men whose 208

Dieses Thema wird unter der Überschrift ‚Die Ungewißheit der Wissenschafften‘ in Zedlers Universallexikon, Art. ‚Wissenschafften‘ (Sp. 1410ff.) abgehandelt. 209 Kant hat dieses Verhältnis 1794 näher beleuchtet, nachdem die Zensur auf die Schrift Religion innerhalb den Grenzen der bloßen Vernunft reagierte. Im Streit der Fakultäten forderte er die Freiheit der philosophischen Fakultät, deren Aufgabe in einer kritischen Reflexion der anderen Fakultäten zu bestehen habe, die naturgemäß in ihren dogmatischen und staatlichen Grenzen befangen seien: „Die philosophische Fakultät enthält nun zwei Departmente, das eine der historischen Erkenntnis (wozu Geschichte, Erdbeschreibung, gelehrte Sprachkenntnis, Humanistik mit allem gehört was die Naturkunde von empirischem Erkenntnis darbietet); das andere der reinen Vernunfterkenntnisse (reinen Mathematik und der reinen Philosophie, Metaphysik der Natur und der Sitten) und beide Teile der Gelehrsamkeit in ihrer wechselseitigen Beziehung auf einander. Sie erstreckt sich eben darum auf alle Teile des menschlichen Wissens (mithin auch historisch über die obern Fakultäten), nur daß sie nicht alle (nämlich die eigentümlichen Lehren und die Gebote der obern) zum Inhalte, sondern zum Gegenstande ihrer Prüfung und Kritik, in Absicht auf den Vorteil der Wissenschaften macht.“ Vgl. Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten, in: Werke, hg. v. W. Weischedel. Bd. 6. Darmstadt 51998, A III–A 205, hier A 27. 210 Vgl. die Aufzählung bei Fabricius: „[...] diejenigen welche überhaupt von Schulen und Universitäten hart geschrieben haben, und darin fast zu weit gehen, sind Thomas Hobbesius; Valentin Weigel, Rob. Barclajus, Just Kläger, Christi. Hoburg, Gottfried Arnold, Christian Democritus oder Jo. Conr. Dippel“. Fabricius, Abriß einer allgemeinen Historie, S. 794.

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manners are remote from the present World, and whose eyes are dazzled by the light of Philosophy. The legal incorporation of these societies by the charters of Popes and Kings had given them a monopoly of the public instruction; and the spirit of monopolists is narrow, lazy, and oppressive; their work is more costly and less productive than that of independent artists.211

Auch würde die vierte Fakultät der ‚artes‘ nicht dazu genutzt, neuere philosophische Richtungen miteinzubeziehen: The Arts are supposed to include the liberal knowledge of Philosophy and litterature; but I am informed that some tattered shreds of the old Logic and Metaphysics compose the exercises for a Batchelor [sic!] and Master’s degree.212

Auch wenn diese Einschätzung sicherlich auf das Engste mit Gibbons problematischem Verhältnis zur Kirche verknüpft ist, so ist sie auch und gerade deshalb zeittypisch.213 Die beiden einzigen Universitäten Englands waren – abgesehen von der Klerikerausbildung214 und gemessen an den Anforderungen einer neu orientierten Wissenschaftlergeneration – in die Bedeutungslosigkeit herabgesunken. Die Kritik kulminierte, wie sich an Gibbons Beispiel zeigt, in der Weltabgewandtheit und im fehlenden Praxisbezug der Universitätsausbildung.215 Doch den Zeitgenossen war auch bewusst, dass Ausnahmen von dieser Regel bestanden, was sich an den Wanderungsbewegungen der Studenten, den sich verändernden Einschreibungen, den Gründungen und Schließungen sowie Zusammenlegungen von Universitäten seit dem 17. Jahrhundert ablesen lässt.216 Um die erwünschte Ausbildung zu erlangen, musste man sich an derjenigen Universität einschreiben, die einen prestigeträchtigen Ruf für bestimmte Fakultäten zu verteidigen hatte. Als Reformunive211

Edward Gibbon, Memoir F. The latest and most perfect. Written in 1792–1793, brought down in 1753, in: The Works of Edward Gibbon, The Autobiographies. Printed Verbatim From Hitherto Unpublished MSS., hg. v. John Murray. New York 1907, S. 1–90, hier S. 57f. 212 Ebd., S. 59. 213 John Pocock führt die Ausfälle gegen die anglikanische Kirche auf eine Identitätskrise Gibbons zwischen familiärem Hintergrund, Religion und Fragen der Autorität in der Studienzeit zurück, die ihn schließlich zur Konversion zum Katholizismus veranlasst habe, dem er ebenfalls nicht die Treue halten konnte. Vgl. John Pocock, Barbarism and Religion. Bd. 1: The Enlightenments of Edward Gibbon. Cambridge 1999, S. 42ff. 214 Im ausgehenden 17. Jahrhundert wird dem deutschen Theologiestudenten ein Wechsel nach England durchaus empfohlen und die Vorzüge „Von dem Lande, welches einem Theologiae Studioso, nechst Holland, zu besuchen am nützlichsten ist“ dargelegt. Vgl. Heinrich Ludolff Benthem, Engeländischer Kirch- und Schulen-Staat. Lüneburg 1694, S. 1ff. 215 Als Kompensation dieses fehlenden Praxisbezugs sind die Gründungen von Kollegien oder ‚Fachhochschulen‘, wie dem ‚Collegium Medico Chirurgicum‘ 1724 in Berlin oder den Bergakademien in Clausthal-Zellerfeld (1775) und Freiberg (1776) zu sehen. Vgl. Mittelstraß, „Die Weisheit hat sich ein Haus gebaut“, S. 211. 216 Wolfgang Weber unterscheidet drei Phasen in der Frühen Neuzeit: eine Verdichtung der Universitäten im 15. und 16. Jahrhundert, eine Abschwächung dieser Entwicklung im 17. Jahrhundert und eine Austarierung von Gründungen und Aufhebungen, vor allem durch Zusammenlegungen, im 18. Jahrhundert. Vgl. Ders., Geschichte der europäischen Universität. Stuttgart 2002, S. 79. Mittelstraß spricht von „einer studentischen Abstimmung mit den Füßen“. Vgl. Ders., „Die Weisheit hat sich ein Haus gebaut“, S. 211.

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rsitäten galten Mitte des 18. Jahrhunderts nach wie vor die niederländischen Universitäten Leiden und Utrecht, neu erworben hatten sich einen solchen Ruf allen voran Göttingen und Edinburgh.217 Eine genauere Betrachtung der schottischen und deutschen Universitätslandschaft soll ein kritisches Licht auf die These vom fehlenden Anteil der Universitäten am Umbau der Wissenschaften seit dem 17. Jahrhundert richten. Das Universitätssystem in Schottland und in bestimmten deutschen Regionen spielte, wie zu zeigen ist, eine entscheidende Rolle für die Ausbildung der ‚Wissenschaft vom Menschen‘.218 2.2.3.1. Der schottische Weg Die Reformierung der Universität Edinburgh lag zum einen an den Folgen der Parlamentsunion mit England und – auch wenn es zunächst paradox erscheinen mag – an der Auseinandersetzung mit dem Calvinismus.219 Die schottische ‚Kirk‘ und die Universität waren – wie auch das Rechtssystem – souverän geblieben und oblagen einer von englischer Einflussnahme freien, eigenständigen Verwaltung. William Carstares, ein schottischer Geistlicher, der William von Oranien aus dem holländischen Exil gefolgt war und den König in Fragen der schottischen Politik beriet, wurde 1703 Oberhaupt der ‚Kirk‘ und Rektor der Universität von Edinburgh in Personalunion. Obgleich dieser doppelte Einfluss zunächst nur der Universität zugute kam, konnte sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die Verbindung der beiden Bereiche durch eine Liberalisierung in Kirche und Universität befruchtend aufeinander auswirken.220 Die Spaltung der Kirche in die Lager der traditionellen Presbyterianer und der Reformpartei der so genannten ‚moderates‘ wurde zumindest in der Ämterbesetzung seit den 1750er Jahren zugunsten der ‚moderates‘ entschieden. Damit wurde der ‚Kirk‘ gegen die Orthodoxie – deren Kräfte eine Reformierung der Universitäten in England verhinderten – eine reformfreudige Stimme verliehen. Die im Calvinismus tief verwurzelte Ansicht, die noch stark die 217

Vgl. Michael Maurer, Die Universitäten Englands, Irlands und Schottlands, in: N. Hammerstein (Hg.): Universitäten und Aufklärung. Göttingen 1995, S. 243–272, hier S. 244. Notker Hammerstein hat in verschiedenen Beiträgen die Bedeutung der Universitäten im deutschsprachigen Raum für die Entstehung der modernen Wissenschaften, etwa Jenas für die ‚Anthropologie‘, hervorgehoben. Vgl. Ders., Innovation und Tradition, Akademien und Universitäten im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, in: HZ 278 (2004), S. 591–623, hier S. 610f. 219 In Schottland gab es im 18. Jahrhundert fünf Universitäten. Die drei mittelalterlichen Gründungen St. Andrews (1410/14), Glasgow (1451), Aberdeen (1494/95) und die post reformatorischen Gründungen Aberdeen (1593) und Edinburgh (1582/83). Die Konzentration auf Edinburgh rechtfertigt sich unter anderem aus den Studentenzahlen, die sich dort im Gegensatz zu den nördlichen Universitäten im 18. Jahrhundert vervierfachten. Vgl. Maurer, Die Universitäten, S. 259. 220 Vgl. David Daiches, The Scottish Enlightenment, in: Ders. / P. Jones / J. Jones (Hg.): A Hotbed of Genius. The Scottish Enlightenment 1730–1790. Edinburgh 1986, S. 1–41, hier S. 12f. 218

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schottische Frühaufklärung prägte, dass der Mensch von Gottes Willen abhängig und in seinen Handlungen determiniert sei,221 wurde zunehmend durch die Vorstellung von der Freiheit und Selbstbestimmtheit des Menschen abgelöst. Im Gegensatz zur calvinistischen Betonung der negativen Antriebe menschlichen Handelns wurde nun deren Ambivalenz hervorgehoben. Die Auffassung von der Selbstbestimmtheit des Menschen rückte die Frage nach den Vernunftgründen und Gesetzmäßigkeiten menschlichen Handelns immer stärker in den Fokus der Wissenschaft, die damit zunehmend in einen Gegensatz zur Deutungshoheit der Kirche in Fragen moralisch richtigen Verhaltens geriet. Dennoch war weniger die Religion der Hauptgegner der Aufklärer in Schottland als vielmehr die verkrusteten dogmatischen Strukturen der Kirche. Ihre besondere Prägung erhielt die schottische Aufklärung sicherlich durch die Auseinandersetzung und Abgrenzung vom Calvinismus. Durch den Umstand aber, dass sich die Reformkräfte innerhalb der Kirche durchsetzen konnten, wurde diese vom Widerpart zu einem Träger der Aufklärungsbewegung, insbesondere durch ihre Rückbindung an die Universitäten. Der Einfluss der niederländischen Universitäten, besonders Leidens und Utrechts, war durch die von ihrem Kontinentalstudium zurückkehrenden Studenten schon seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert wirksam geworden. Auf diesem Umweg wurden Grotius und Pufendorf an den schottischen Universitäten rezipiert, deren Werke der Glasgower Professor Gershom Carmichael (1672–1729) edierte.222 Durch Carstares bekam dieser Austausch politisches Gewicht, indem er die Reformierung der Universitäten Edinburgh und Glasgow nach niederländischem Vorbild vorantrieb. Die wichtigste Neuerung war ein modernes System der Vorlesungen, vorgetragen von spezialisierten Professoren. Zuvor hatte ein Lehrer (regent) für einen Jahrgang alle Fächer unterrichtet.223 In dieser Reform der Lehre wurde aus der Retrospektive der Grund für den wissenschaftlichen Fortschritt an den Universitäten in Schottland gesehen.224 Denn der traditionelle Fächerkanon 221

Wie Francis Hutcheson schreibt, „We are all dependent creatures“; zitiert nach Charles Camic, Experience and Enlightenement. Socialization for Cultural Change in Eighteenth Century Scotland. Edinburgh 1983, S. 56. 222 Samuel Pufendorfii, De officio hominis et civis secundum legem naturalem libri duo, cum observationibus Ev. Ottonibus et Gottl. Gerh. Titii; cum supplementis & observationibus Gerschomi Carmichael, et annotationibus Gottl. Sam. Treueri; accedit Gerschomi Carmichael. 2 Bde. Lugduni Batavorum 1769. Zum Einfluss der Naturrechtslehre in der schottischen Aufklärung vgl. Anand C. Chitnis, The Eighteenth-Century Scottish Intellectual Inquiry: Context and Continuities versus Civic Virtue, in: J. J. Carter / J. H. Pittock (Hg.): Aberdeen and the Enlightenment. Aberdeen 1987, S. 77–92, hier S. 83. 223 Das so genannte ‚regenting‘ wurde in Edinburgh 1708, in Glasgow 1727, in St. Andrews 1747, im Marischal College Aberdeen 1755 und im King’s College Aberdeen 1789 abgeschafft. Vgl. Maurer, Die Universitäten, S. 261. 224 „These diversities of genius, in consequences of the connexions and affinities among the various branches of human knowledge, are all subsequent one to another; and when the production to which they gave birth are, by means of the press, contributed to a common stock, all the varieties of intellect, natural and acquired, among men are combined together into one vast engine, operating with a force daily accumulating, on the moral and political destiny of man-

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wurde zugleich um die Botanik erweitert und der Rechtswissenschaft sowie der Medizin wurden in den Jahren nach der Union bis 1726 sieben neue Lehrstühle untergliedert. Zur Jurisprudenz gehörig waren damit ‚Öffentliches Recht‘, ‚Bürgerliches Recht‘, ‚Schottisches Recht‘ und ‚Universalgeschichte‘ (1719). Die damit neu geschaffenen Lehrstühle der Jurisprudenz dürfen nicht als bloße Sinekuren der rechtswissenschaftlichen Fakultät interpretiert werden, sondern die nun betonte historische Herleitung von Rechtsverhältnissen markierte eine bedeutsame Interessenverschiebung hin zur Historisierung der Wissenschaften und damit einer Aufwertung der Historie selbst.225 Denn andererseits wurden auch in der medizinischen Fakultät mit dem Argument der Aufgeschlossenheit und Neutralität neue Lehrstühle für ‚Rhetoric and Belles Lettres‘ (1760), ‚History‘ (1767), ‚Astronomy‘ (1786) und ‚Agriculture‘ (1790) eingerichtet.226 Die Berufung von William Robertson – dem ‚Leader of the Moderate Party‘ – 1762 zum Rektor der Universität von Edinburgh war ein Politikum. Das Thema seiner Antrittsvorlesung „The Advantages to be derived from the study of stoic philosophy“ ließ auf die inhaltliche Neuorientierung der Universität schließen, die man mit dem Motto ‚scholarship before preaching‘ überschreiben könnte.227 Zunächst erhöhte er die Mittel für die Bibliothek, die er systematisieren und durch zuvor als heidnisch (‚pagan‘) stigmatisierte Titel bereichern ließ. Robertson legte den Grundstein für verschiedene Gebäude des ‚Natural History‘-Museums, einen Anatomiesaal, mehrere Chemiesäle und Laboratorien und schließlich für ein neues College.228 Ein englischer Reisender war bei seinem Besuch 1775 überwältigt vom umfassenden Lehrangebot und der Ausstattung der Universität, der er dadurch einen führende Stellung im europäischen Vergleich einräumte: In this, as in all other Colleges of Scotland, till of late, were only taught Divinity, School Philosophy, Mathematics, and Languages, but in the last reigns, the number of Professors was so augmented, that nothing is wanting to form a complete academical education; since all the liberal arts are taught as in the other celebrated universities in Europe. Divinity, Church History, Civil Law, the Law of Nature and Nations, and Scotch Law, Anatomy, Theory of Physic [sic!],

kind.“ Dugald Stewart, Dissertation. Exhibiting the progress of metaphysical, ethical and political philosophy since the revival of letters in Europe, in: Ders., Collected Works, hg. v. W. Hamilton. Bd. 1. Edinburgh 1854, S. 504f. 225 John Kenyon bewertet die Lehrstühle für Universalgeschichte in Edinburgh und St. Andrews als reine Sinekuren der rechtswissenschaftlichen Fakultät. Vgl. Ders., History Men. The Historical Profession in England since the Renaissance. London 1983, S. 58. 226 Thomas Reid bemerkte dazu, dass die medizinische Fakultät im Gegensatz zu den anderen weniger engstirnig sei. Vgl. Anand Chitnis, The Scottish Enlightenment. A Social History. London 1976, S. 134f. 227 Die Motive der Stoa hatten insofern Bedeutung für einen neuen Zugang zum Menschen, als durch sie die ‚dignitas hominis‘ ihren besonderen Ausdruck fand: Wenn der Mensch sich nicht mehr auf die Lenkung durch Gott verlässt, so muss er seinen Halt in der ‚Natur‘ finden. Vgl. Odo Marquard, Art. ‚Anthropologie‘, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. J. Ritter. Bd. 1. Darmstadt 1971, Sp. 363. Vgl. dazu auch Manfred Kühn, Art. ‚Stoicism‘, in: Kors (Hg.): Encyclopedia of the Enlightenment, Bd. 4, S. 130f. 228 Chitnis, The Scottish Enlightenment, S. 157.

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Practice of Physic, Chymistry [sic!], Botany, Mathematics, Universal History, Natural Philosophy, Logic, Metaphysics, and Ethics, Greek, Latin, and Hebrew languages, and each their respective Professor.229

Durch das umfassende Lehrangebot wirke sich der Ruf der Universität „for its instructing in particular branches of philosophy and literature“ als wirksamer Studentenmagnet aus, der sich wiederum positiv auf die ökonomische Entwicklung der gesamten Region niederschlage.230 Die frühzeitige Öffnung der Universität für neue Richtungen der Naturphilosophie und die Einrichtung entsprechender Lehrstühle schuf die Voraussetzung dafür, dass Edinburgh zu einem Hort innovativen Denkens werden konnte.231 Die auffallende Ballung geistiger Produktivität in Schottland ist schon von den Zeitgenossen als ‚hot-bed of genius‘232 wahrgenommen worden, was nicht ausschließlich, aber doch in großen Teilen auf die unzeitgemäße Aufgeschlossenheit der Universitäten zurückzuführen ist.233 Wie sich zeigt, gibt das enge Beziehungsgeflecht unter den schottischen Gelehrten – ihre direkten Verbindungen in Schüler-LehrerVerhältnissen auf der Ebene der Universität sowie ihre wissenschaftlich motivierten und persönlichen Kontakte – Anlass, durchaus von einer akademischen Gruppenbildung und damit von einem gemeinsamen Projekt einer ‚Science of Man‘ in der schottischen Aufklärung zu sprechen.234 229

Vgl. Edward Topham, Letters from Edinburgh. Written in the Years 1774 and 1775. Containing some Observations on the Diversions, Customs, Manners, and Laws, of the Scotch Nation, During a Six Month Residence in Edinburgh. London 1776, S. 206f. 230 „[...] [T]he number of young persons that crowd here from different countries is prodigious, and the profit arising from them is sensibly perceived through all Scotland, as they contribute to the support of many thousands of its inhabitants.“ Vgl. ebd., S. 207f. 231 Neuerdings ist die Parallelisierung von schottischer Aufklärung und Edinburgh kritisiert worden. Auch wenn Edinburgh durch die reformfreudige Universität sowie durch einflussreiche Gesellschaften und Verlage als geistiges Zentrum gelten kann, müssen Glasgow und Aberdeen als weitere Ballungspunkte genannt werden. In Glasgow lehrten unter anderen der Mediziner William Cullen (1710–1790) die Philosophen Thomas Reid (1710–1796) und Adam Smith (1723–1790) sowie der Erfinder der Dampfmaschine James Watt (1736–1819). Vgl. Roger L. Emerson / Paul Wood, Science and Enlightenment in Glasgow, 1690–1802, in: Withers / Wood (Hg.): Science and Medicine, S. 79–142. In Aberdeen lehrte etwa der Philosoph James Dunbar (1742–1798). Zu Aberdeen vgl. Jennifer J. Carter / Joan H. Pittock (Hg.): Aberdeen and the Enlightenment. Aberdeen 1987. 232 Diese mittlerweile zum Etikett der schottischen Aufklärung gewordene Bezeichnung geht zurück auf Tobias Smolletts Charakterisierung Edinburghs in seinem berühmten Reisebericht von 1771: „Edinburgh is a hot-bed of genius. – I have the good fortune to be made acquainted with many authors of the first distinction; such as the two Humes [Henry Home, David Hume], Robertson, Smith, Wallace, Blair, Ferguson, Wilkie, &c., and I have found them all as agreeable in conversation as instructive and entertaining in their writings“. Vgl. Tobias Smollett, The Expedition of Humphrey Clinker [1771]. Oxford 1984, S. 233. 233 Es muss dennoch betont werden, dass David Hume aufgrund seiner philosophischen Ansichten und seines Agnostizismus nie eine Anstellung an der Universität erhielt. 234 Abzugrenzen ist diese Feststellung von dem terminus ‚Schottische Schule‘, der im eigentlichen Sinne die Vertreter der ‚common sense‘-Philosophie in der Nachfolge von Locke und Shaftesbury bezeichnete. Später wurde dieser Begriff sowohl auf die theoretische als auch auf die gesellschaftliche Dimension der seit den 1750er Jahren entstehenden ‚scientific community‘ aus-

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Enttäuscht von einem sechsjährigen Studienaufenthalt am Oxforder Balliol College aus England zurückgekehrt, folgte der Begründer einer neuen Geschichtstheorie, Adam Smith, 1751 seinem Lehrer Francis Hutcheson (1694–1746) auf den Lehrstuhl für Moralphilosophie an die Universität Glasgow.235 Hutcheson hatte diesem Lehrstuhl durch Vorlesungen in englischer Sprache, eine radikale Erweiterung des traditionellen Lektürekanons – etwa durch Humes anonym erschienenen Treatise of Human Nature – und deutliche Kritik an Patronagesystem und Kirchenpolitik ein neues Gepräge verliehen.236 John Millar, der einflussreichste Schüler Smiths, war seinerseits durch die Vermittlung seines Lehrers und durch Henry Home / Lord Kames, 1761 zum ‚Professor of Law‘ an die Universität Glasgow berufen worden und trieb das Thema einer ‚History of Civil Society‘ seiner Lehrer aus juristischer Perspektive weiter voran.237 Mit einem ‚Essay‘ über den gleichen Gegenstand sollte Adam Ferguson im Jahre 1767 seinen größten publizistischen Erfolg haben, der noch zehn Jahre zuvor als Humes Nachfolger die Stelle des Bibliothekars an der ‚Advocates Library‘ eingenommen hatte; wiederum nicht ohne die Vermittlung seines Amtsvorgängers.238 Dugald Stewart (1753–1828) schließ-

geweitet. Vgl. Christie, The Origins and the Development, S. 122ff. Zum übergreifenden Projekt der schottischen Aufklärung vgl. auch Norbert Waszek, L’Écosse des Lumières. Hume, Smith, Ferguson. Paris 2003, S. 10. 235 Smith war mit einem großzügigen Stipendium für die Ausbildung zum Theologen nach Oxford gekommen, wo er seine Kenntnisse vor allem in den alten und neuen Sprachen erweitern konnte. In philosophischer Hinsicht hatte Oxford dem jungen Smith wenig zu bieten. Die Schriften Bacons und Newtons ignorierend, beschränkte man sich in Oxford weiter auf die Lehre der aristotelischen Logik. Es wurde kolportiert, dass Humes ‚Treatise‘ in Smiths Zimmer im College entdeckt und als ‚gottloses Buch‘ konfisziert wurde. Vgl. Ian Simpson Ross, Adam Smith. Leben und Werk. Düsseldorf 1998, S. 131. In seinem Hauptwerk beschreibt Smith die englischen Lehrstühle als reine Sinekuren: „In the university of Oxford, the greater part of the publick professors have, for these many years, given up altogether even the pretence of teaching.“ Vgl. Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of the Nations [1776], hg. v. R. H. Campbell / A. S. Skinner, Works. Bd. 2. Oxford 1976, S. 761. 236 Hutcheson hatte den Lehrstuhl in Glasgow 1729 erhalten. Seit den späten 1730er Jahren trat er mit Hume in einen regen wissenschaftlichen Austausch. Dennoch unterstützte er dessen Bewerbung 1745 um eine Professur in Edinburgh nicht. Vgl. dazu den Art. ‚Francis Hutcheson (1694–1746)‘, in: J. W. Yolton (Hg.), The Dictionary of Eighteenth Century Philosophers. 2 Bde. Bristol 1999, hier: Bd. 1, S. 453–460. 237 Millar schrieb über seinen Lehrer Adam Smith: „I am happy to acknowledge the obligations I feel myself under to this illustrious philosopher, by having, at an early period of life, had the benefit of hearing his lectures on the History of Civil Society and of enjoying his unreserved conversation on the same subject.“ Vgl. John Millar, An Historical View of the English Government from the Settlement of the Saxons in Britain to the Revolution in 1688, hg. v. J. Craig / J. Mylne. London 1803, S. 429f. Millar war bei Kames Hauslehrer gewesen und lernte durch ihn David Hume kennen. Vgl. William C. Lehmann, Henry Home, Lord Kames and the Scottish Enlightenment. The Hague 1971, S. 10ff. 238 1759 erhielt Ferguson nach zwei fehlgeschlagenen Versuchen schließlich mit Unterstützung von Hume und Robertson in Glasgow einen Lehrstuhl für ‚pneumatics and moral philosophy‘ an der Universität Edinburgh. Vgl. Jane B. Fagg, Biographical Introduction, in: Adam Ferguson, The Correspendence, hg. v. V. Merolle. Bd. 1. London 1995, S. XX–CXVII, hier S. XXXf.

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lich, idiographischer Verwalter des Erbes seiner Lehrer und gleichzeitig Wegbereiter einer neuen philosophischen Richtung, folgte 1785 Adam Ferguson auf dessen Lehrstuhl für Moralphilosophie in Edinburgh. Stewart hatte mit verschiedenen Biographien seinen Lehrern und Amtsvorgängern Tribut gezollt und dennoch galt es ihm, die gefahrvollen Ansätze des Skeptizismus und einer hypothesenfreudigen Wissenschaft aus dem akademischen Betrieb auszuschließen.239 Für die vielgestaltige Gattung der ‚natural histories‘ seiner Vorgänger prägte Stewart die Methodenbezeichnung ‚conjectural history‘, die weniger zum Verständnis als vielmehr zur Abwicklung einer zu diesem Zeitpunkt schon als unhaltbar angesehenen Vorgehensweise angetan war.240 Die Offenheit und Experimentierfreudigkeit der Lehre und Forschung verschloss sich in dem Moment, in dem eine bestimmte philosophische Richtung Dominanz erlangen konnte. Eine Entwicklung, die sich mit der schrittweisen Durchsetzung der ‚common sense‘-Philosophie seit den 1780er Jahren abzeichnete.241 Im Rückblick scheint sich wissenschaftsgeschichtlich für eine gewisse Zeit ein Raum eröffnet zu haben, in dem keine Schulphilosophie oder ‚herrschende Lehre‘ ein dominierendes Paradigma darstellte. Insofern war die schottische Aufklärung in ihrer Ideologiefreiheit, Praxisorientierung und Publikumsbezogenheit per definitionem ‚Popularphilosophie‘, die, zumindest temporär und partiell, die Ränge der Universitätsgelehrsamkeit eingenommen hatte.

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Vgl. Dugald Stewart, Account of the Life and Writings of Adam Smith, LL.D., in: Transactions of the Royal Society of Edinburgh 3 (1794); Account of the Life and Writings of William Robertson, D.D. Edinburgh 1801; Account of the Life and Writings of Thomas Reid, D.D., F.R.S.E. Edinburgh 1802. Vgl. Art. ‚Stewart, Dugald‘ (1753–1828), in: Yolton (Hg.), The Dictionary of Eighteenth-Century British Philosophers, Bd. 2, S. 831–835. Es muss betont werden, dass Stewart immer versuchte eine Mittlerposition zwischen den Fronten des Skeptizismus und des ‚common sense‘ einzunehmen. Als der Mathematikprofessor John Leslie (1766–1832) im Jahre 1805 aufgrund der Vertretung Humescher Thesen angegriffen wurde, gab Kames seiner Hoffnung Ausdruck, die schottischen Universitäten möchten sich doch weniger „priestridden“ verhalten. Vgl. Art. ‚Dugald Stewart‘, in: Dictionary of National Biography. Bd. LIV, hg. v. S. Lee. London 1898, S. 282–286, hier S. 284. 240 Zur Problematik der Bezeichnung ‚conjectural history‘ vgl. Meyer, Das Projekt einer ‚Natural History of Man‘, S. 94f. 241 Die Durchsetzung der ‚common sense‘-Philosophie verbindet sich mit den Namen James Beattie (1735–1803), Thomas Reid (1710–1796) sowie dessen Schüler Dugald Stewart (1753– 1828) und markiert eine deutliche ideengeschichtliche Zäsur. Gegen Adam Smiths ausdrücklichen Willen wurde Reid 1764 sein Nachfolger auf dem Lehrstuhl für Moralphilosophie in Glasgow. Vgl. R. H. Campbell / A. Skinner, Adam Smith. New York 1982, S. 124. James Beattie porträtierte 1767 David Hume in seinem Essay on Truth als despotischen Herrscher des Schlosses der Skepsis. Trotz seiner Mittelmäßigkeit war das Buch ein großer Erfolg, wurde von Edmund Burke als „wahre Philosophie“ gefeiert, verschaffte dem Autor eine Ehrendoktorwürde in Oxford und veranlasste Joshua Reynolds zu einem Gemälde, auf dem Beattie mit seinem Buch abgebildet ist, während im Hintergrund die Dämonen Skeptizismus, Sophismus, und Unglaube in Gestalt von Hume, Voltaire und Hobbes in den Abgrund stürzen. Vgl. Gerhard Streminger, David Hume. Reinbek ²1992, S. 114f.

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2.2.3.2. Die Rolle der deutschen Universitäten Ein vergleichbares Interim der Schulen lässt sich für den deutschen Raum vom Ende des 17. Jahrhunderts bis zur Jahrhundertwende um 1800 ausmachen, soweit man den Beginn der deutschen Aufklärung an der polemischen Distanzierung von der Scholastik, ihre Vollendung mit der kritischen Philosophie Kants und damit an der Etablierung einer neuen Schule festmachen will.242 Die Universitäten repräsentieren im solcherart umschriebenen 18. Jahrhundert zunächst die zu bekämpfenden Bastionen einer als überkommen empfundenen Gelehrsamkeit, dann die Orte verschiedener Reformbemühungen und schließlich, in der Form der Neugründungen, auch den Geist einer erneuerten Wissenschaft. Diesem neuen Geist gänzlich verschlossen und eher wegen der völlig verrohten Sitten ihrer Studenten bekannt waren die Universitäten von Duisburg, Köln, Fulda, Frankfurt an der Oder, Altdorf oder Wittenberg.243 Als erster Versuch einer Gründung mit reformerischem Impetus kann die preußische Landesuniversität ‚Fridericiana‘ in Halle 1694 gelten. Aber auch diese Initiative – ähnlich wie im schottischen Beispiel – kann nicht von der kirchlich religiösen Debatte ihrer Zeit isoliert betrachtet werden, was nur kurz damit belegt sei, dass die Grundsteinlegung in die so genannte „klassische Zeit (1690–1730/1770) des hallischen Pietismus“ fiel.244 Mit Thomasius konnte man für die junge Universität Halle einen Professor für Philosophie gewinnen, der als Kritiker des älteren Universitätssystems galt und zumindest dem äußeren Anschein nach im inneren Frieden mit dem in der Stadt vorherrschenden Pietismus stand. Er hielt nicht nur die ersten Vorlesungen in deutscher Sprache, sondern kann darüber hinaus als Vertreter einer Bürgerphilosophie gelten, die sich dem Anspruch nach an ‚jedermann‘ richtete.245 Neben seinen 242

Diese Analyse findet sich ausführlich bei Werner Schneiders, der in Wolff – nach Thomasius – einen neuen Vertreter der Schulphilosophie erkennt. Die Abgrenzung vom Systemcharakter dieser neuen Schulphilosophie wurde konstitutiv für die deutsche Popularphilosophie. Vgl. Schneiders, Zwischen Welt und Weisheit, S. 14f. Dazu Ders., Der Philosophiebegriff des philosophischen Zeitalters, in: R. Vierhaus (Hg.): Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung. Göttingen 1985, S. 58–92. 243 Mittelstraß misst den Bedeutungsverfall an den Studentenzahlen. Um 1800 hatte Duisburg noch durchschnittlich 38 Hörer und Erfurt 43. Vgl. Ders., „Die Weisheit hat sich ein Haus gebaut“, S. 211. Über den Fall Ingolstadt berichtet der Göttinger Philosophieprofessor Christoph Meiners: „Manche Lehrer haben nicht bloß von ihrem schuldigen Fleisse nachgelassen, sondern sind auch noch in allerley verderbliche Streitigkeiten und Parteyen zerfallen. [...] Die übrigen Studierenden [...] führen ein höchst liderliches Leben, verschwenden ihr Geld und ihre Zeit ohne den geringsten Nutzen, hintergehen ihre Eltern und Vorgesetzte auf eine frevelhafte Art, und verführen andere junge Leute, die sonst Jünger der Weisheit und Tugend gewesen wären.“ Christoph Meiners, Ueber die Verfassung und Verwaltung deutscher Universitäten. Bd. 1. Göttingen 1801, S. 4. 244 Dazu die erhellenden Thesen von Udo Sträter, Aufklärung und Pietismus – das Beispiel Halle, in: N. Hammerstein (Hg.): Universitäten und Aufklärung. Göttingen 1995, 49–61, S. 52. 245 „Die Weltweisheit ist so leichte, daß dieselbige von allen Leuten, sie mögen sey, von was für Stande oder Geschlechte sie wollen, begriffen werden kann.“ Thomasius, Einleitung zur Vernunftlehre, 1691, zitiert nach Schneiders, Der Philosophiebegriff, S. 64f.

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philosophischen und juristischen Vorlesungen, die er schon zuvor in Leipzig gehalten hatte, traten in Halle historische, zur Kirchen- und Philosophiegeschichte. Verbunden mit Moralphilosophie entwickelte er in seinen philosophiegeschichtlichen Vorlesungen eine Affektenlehre, die als Ansatzpunkt für seine ‚Lehre vom Menschen‘ interpretiert worden ist.246 Christian Wolff wurde 1706 nicht für Philosophie, sondern für Mathematik und Physik an die ‚Fridericiana‘ nach Halle berufen, wo er seit dem Wintersemester 1709/10 auch vermehrt philosophische Kollegien abhielt. Diese disziplinäre Mischung erwies sich als bezeichnend für Wolffs Ansatz, in dem er das mathematische Verfahren für eine umfassende Wissenschaft fruchtbar machen wollte. In diesem Sinne rückte er von dem Popularisierungskurs des Thomasianismus247 ab und strebte nach einer Etablierung der Philosophie als Universal- und Fundamentalwissenschaft.248 Eingedenk der Erkenntnisgrenzen sollte nach Wolff die Philosophie als die ‚Wissenschaft vom Möglichen‘ durchaus wieder den Anspruch absoluten Wissens und damit das Desiderat höchster Prinzipienerkenntnis einlösen können. Durch ein vollendetes System der Philosophie sollte die Phase der Ungewissheit zwischen den Polen scholastischer Metaphysik und bloßer Empirie vermittels einer an der Mathematik orientierten Methode überwunden werden.249 Wolffs Vertreibung aus Halle 1723 während der Regierungszeit von Friedrich Wilhelm I. (1713–1740) ist in diesem Zusammenhang weniger als Signum der Auseinandersetzung zwischen Pietismus und Aufklärung zu sehen, sondern vielmehr als Ausdruck des Streits zwischen der bestehenden theologischen und entstehenden philosophischen Fakultät um den ersten Rang und eine umfassende Deutungshoheit innerhalb der universitären Ordnung. Wolffs triumphale Rückberufung unter Friedrich II. (Regierungszeit 1740– 1786) nach Halle 1740 legt Zeugnis von der Veränderung im Kräfteverhältnis der beiden Fakultäten ab.250 Dennoch blieb, wie das Beispiel Wolff zeigt, die Universität Halle mit ihrer engen Verflechtung von politisch starkem Pietismus und der Konkurrenz der Fakultäten ein Sonderfall. Der Pietismus hatte als religiöse Reformbewegung manche inhaltliche und formale Affinität zur jungen Aufklärungsbewegung und konnte in einiger Hinsicht inspirierend auf sie wirken.251 Gleichzeitig waren dem Reformwillen und der ‚libertas philosophandi‘ klare Grenzen der 246

Max Wundt teilt die deutsche Aufklärung in drei Generationen, wobei er in der ersten – geprägt durch Thomasius – die Entstehung einer neuartigen ‚Lehre vom Menschen‘ verortet. Vgl. Ders., Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung. Tübingen 1945, S. 37. 247 Wolff schreibt in seinen Lebenserinnerungen über Thomasius: „In der Philosophie dominierte H. Thomasius, dessen sentiment aber und Vortrag nicht nach meinem Geschmack waren. Daher ließ ich mich die ersten Jahre mit der Philosophie gar nicht ein.“ Zitiert nach ebd., S. 136. 248 Vgl. Schneiders, Der Philosophiebegriff, S. 68ff. 249 Max Wundt interpretiert diese Position wie folgt: „Will man das Rationalismus nennen, so kann man sagen, daß er die Scholastik rationalisiert hat.“ Vgl. Wundt, Die Schulphilosophie, S. 151. 250 Ich folge hier der Argumentation von Udo Sträter, Aufklärung und Pietismus, S. 58. 251 Vgl. Hanspeter Marti, Ausbildung. Schule und Universität, in: van Dülmen / Rauschenbach (Hg.): Macht des Wissens, S. 391–416, hier S. 415.

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religiösen Überzeugung gesetzt.252 Dennoch markiert die Gründung der Universität Halle den Beginn einer „Universitätsreformation“ oder sogar einer allgemeinen „Universitäten-Revolution“.253 Eine radikalisierte Fortsetzung fand das hallische Konzept in der 1737 gegründeten ‚Georgia Augusta‘ in Göttingen unter dem Kurfürsten von Hannover, der niemand geringeres war als der König von England, George II. (Regierungszeit 1727–1760).254 Durch konfessionelle Offenheit wollte der Gründer und erste Kurator der Universität Göttingen, Adolf Freiherr von Münchhausen (1688–1770), einen Anziehungspunkt für ‚Personen von Stande‘ bieten und nicht enge scholastische Gelehrsamkeit als vielmehr einen empirisch ausgerichteten Pragmatismus und Weltgewandtheit vermitteln.255 In den Statuten unternahm man den Versuch, den neuen wissenschaftlichen Ansprüchen in Hinblick auf allgemeinen Nutzen, eigenständig verantwortliches Studieren und unabhängiges Forschen gerecht zu werden: Da alle Lehre deretwegen die wissenschaftlichen Universitäten geschaffen sind, auf das öffentliche Wohl (felicitatem publicam) abzielt und es weiter nicht genug ist, sich mit Wissen anzureichern, wenn einer nicht auch den Willen mitbringt, seine Sache gut zu machen, und wie schließlich der Verstand vom Verstand, so auch der gute Wille vom guten Willen sozusagen durch Ansteckung in Bewegung gesetzt wird – daraus wird augenscheinlich, daß auch der Professor, der diesen Namen verdienen und die Erwartung der Menschen erfüllen will, von beidem haben und daher ein guter Mann sein muß, des Lebens kundig. Unter einem guten Mann verstehen Wir, daß die jungen Leute, wenn sie seinem leben nacheifern, dadurch nicht weniger nützliche Bürger des Staates werden, als wenn sie seiner Lehre folgten.256

Mit dieser Regelung verband sich die Vorstellung, dass durch die universitäre Ausbildung die akademische Grundlage für ein aufgeklärt humanistisches Weltbild vermittelt würde und keine orthodoxen Lehren, die zu dogmatischen Disputen 252

Notker Hammerstein betont – ob in reformierten oder katholischen Regionen –, „die theologischen Bedürfnisse, die von den Universitäten zu berücksichtigen und befriedigen waren“. Vgl. Notker Hammerstein, Aufklärung und Universitäten in Europa: Divergenzen und Probleme, in: Ders. (Hg.): Universitäten und Aufklärung. Göttingen 1995, S. 191–205, hier S.193. 253 Mit diesen Worten beschreibt J. G. Carl Schlüter die Rolle seiner Alma Mater in einer Festschrift zu ihrem 100jährigen Jubiläum. Vgl. J. G. Carl Schlüter, Universitäten-Revolution. Ein Glückwunsch für die Universität Halle an ihrem ersten Jubelfeste. Cöthen 1794, S. 2ff. 254 Inwieweit der Reformwille auf diese Personalunion zurückging, ist schwer abschätzbar. Sicherlich verdankt sich diesem Umstand eine erhöhte Aufmerksamkeit für englische Literatur durch die Göttinger Wissenschaftler. Vgl. Rudolf Vierhaus, Göttingen und die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft, in: H. Boockmann / H. Wellenreuther (Hg.): Geschichtswissenschaft in Göttingen. Göttingen 1987, S. 9–29, hier S. 12. Gleichzeitig war die Abwesenheit des eigentlichen Gründers, George II., auch der Grund für die Handlungsfreiheit und Machtentfaltung des ersten Kurators der Universität Münchhausen. Vgl. Engelhard Weigl, Schauplätze der deutschen Aufklärung. Ein Städterundgang. Hamburg 1997, S. 192f. 255 Einen kritischen Blick auf die Apologetik rund um die Gründung der Reformuniversität Göttingen wirft Gerrit Walther, Das Ideal: Göttingen. Ruf, Realität und Kritiker der Georgia Augusta um 1800, in: G. Müller / K. Ries / P. Ziche (Hg.): Die Universität Jena. Tradition und Innovation um 1800. Stuttgart 2001, S. 33–45, hier S. 34f. 256 Vgl. §§ 36–37 zitiert nach Notker Hammerstein, Göttingen. Eine deutsche Universität im Zeitalter der Aufklärung, in: A. Patschovsky / H. Rabe (Hg.): Die Universität in Alteuropa. Konstanz 1994, S. 169–182, hier S. 172f.

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führten. Diesem Anliegen entsprach Münchhausen, indem er der Theologie durch verschiedene geschickte Schachzüge nicht mehr den ersten Rang unter den Wissenschaften einräumte. Eine deutliche Aufwertung erfuhren indessen die Fächer der sich langsam etablierenden Philosophischen Fakultät, die sich fortan religiösen Fragen auf dem Wege der Religions- und Kirchengeschichte beziehungsweise der kritischen Bibelwissenschaft zuwendete.257 Die Umsetzung des Reformprogramms bestand damit einerseits in einer neuen Gewichtung der Fachbereiche und andererseits in einer ausgeklügelten Personalpolitik. Die veränderte Gewichtung der Fachbereiche war dabei nicht darauf ausgerichtet, einer bestimmten Disziplin zum Durchbruch zu verhelfen, sondern verlieh vielmehr dem veränderten Erkenntnisinteresse in Hinblick auf Methode und Gegenstände der Wissenschaften gepaart mit einem aufklärerischen (Aus-)Bildungsideal Ausdruck. Das Interesse der Wissenschaft und der Bildungspolitik verlangte nach einer Lehre vom Menschen, die nicht nur dem veränderten naturwissenschaftlichen Blick genügen sollte, sondern gleichzeitig dem Menschen sein Menschsein, seine Humanität, zu vermitteln hatte, um damit eine Verfeinerung oder Humanisierung der Gesellschaft in allen Bereichen voranzutreiben.258 Akademische Beachtung sollten folglich Fragen nach der Natur des Menschen, nach den Motiven seines Handelns im historisch-anthropologischen Vergleich und schließlich den Auswirkungen dieses Handelns aus zukünftiger Perspektive finden. Zu dieser veränderten Fragerichtung konnten einige Disziplinen weniger und andere mehr beitragen, wodurch die Rangordnung innerhalb der Fakultäten in Bewegung geriet: Die Theologie als Leitwissenschaft rückte in den Hintergrund beziehungsweise näher an die Philosophie heran, die Jurisprudenz wurde aus dem Interesse an der Historizität von Rechts- und Sittenverhältnissen bedeutsamer, die Medizin erweitert und erneuert und die vierte, philosophische Fakultät in vielfacher Hinsicht zum Sammelbecken des veränderten Erkenntnisinteresses und der daraus resultierenden fachlichen Diversifikationen.259 Und schließ257

Zu nennen sind in diesem Zusammenhang die Göttinger Orientalisten Johann David Michaelis (1717–1791) und Johann Gottfried Eichhorn (1752–1827). Vgl. Walther, Das Ideal: Göttingen, S. 35f.; Hammerstein, Göttingen: Eine deutsche Universität im Zeitalter der Aufklärung, S. 176. 258 In diesem Sinne schreibt Christoph Meiners in seinem Leitfaden zur Einrichtung von Reformuniversitäten am Beispiel der ‚Georgia Augusta‘: „Unter allen öffentlichen Anstalten, welche entweder auf die Erhaltung der Gesundheit und des Lebens, oder der Sicherheit und des Eigenthums der Staatsbürger, oder auf die Bildung des Cörpers, Geistes, und Herzens, oder auf die Vermehrung des häuslichen und allgemeinen Wohlstandes abzielen, ist keine, die bey einer guten Einrichtung, und Verwaltung so viel Nutzen, bey einer schlechten soviel Schaden stiftete, als Universitäten stiften. Gut eingerichtete, und verwaltete hohe Schulen liefern dem Staat tüchtige und gewissenhafte Aerzte, Volks- und Jugendlehrer, so wie alle übrigen öffentliche Beamte. Sie tragen durch diese ihre Zöglinge dazu bey, daß das Leben und Eigenthum, die Ehre und übrigen Rechte der Mitbürger geschützt: daß gute Sitten, und vorzüglich eine jede Art von nützlicher Thätigkeit befördert, wohlthätige Anstalten verviefältigt [...] werden.“ Meiners, Ueber die Verfassung und Verwaltung, S. 1. 259 Vgl. Notker Hammerstein, Die deutsche Universitätslandschaft im ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Müller / Ries / Ziche (Hg.): Die Universität Jena, S. 13–25, hier 14ff.

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lich etablierten sich zudem neue Fakultäten, so dass die Zeitgenossen das Phänomen der „Vervielfältigung der Facultäten“ diskutierten.260 Für die Fachphilosophie bedeutete dies in Göttingen eine bewusste Abkehr von Dogmatik jeder Art inklusive des inzwischen weit verbreiteten Wolffianismus und stattdessen eine Hinwendung zu Pragmatismus und Allgemeinverständlichkeit; Maximen, die sich auch dem englischen Einfluss verdankten.261 Unter diesem Vorzeichen folgten der Berufung des Frühaufklärers Samuel Christian Hollmann (1696–1787) in der nächsten Generation Johann Georg Heinrich Feder (1740– 1821), Christoph Meiners (1747–1810) und Michael Hißmann (1752–1784). Mit ihrer Orientierung an der englischen Philosophie und einer eklektischen Methode trugen insbesondere Feder und sein Schüler und Freund Meiners einen bedeutsamen Anteil an der Begründung der so genannten Popularphilosophie in Deutschland. Alle drei Philosophen der jüngeren Generation waren sich einig in der Ablehnung der Scholastik und generellen Skepsis gegenüber der traditionellen Metaphysik.262 In einer freien Adaption von Lockes und Humes Erkenntnistheorie wurde die Trennung von Wahrheit (Sein) und dem Zweifel an der Erkenntnismöglichkeit derselben (Schein) aufgelöst, indem alles das, was den Menschen qua Wahrnehmung zugänglich sei, uniformen Problemen und Defiziten unterliege und nichtsdestotrotz und gerade deshalb ‚wahr‘, ‚wirklich‘ und ‚recht‘ sei. Die Metaphysik wurde durch eine anthropologisch fundierte Erkenntnistheorie aufgelöst und in eine ‚Grundwissenschaft‘ zur Erforschung der „allgemeinsten Gesetze der Natur“ überführt.263 Philosophie als ‚Naturwissenschaft vom Menschen‘ bedurfte mithin einer empirischen Grundlegung, die bei Feder und Hißmann in eine tendenziell psychologische, bei Meiners in eine historische Richtung neigte.264 Als eigentliche 260

Christoph Meiners verteidigte die Einheit der ‚Philosophischen Fakultät‘ und riet von der Einrichtung neuer Fakultäten ab: „Gesetzt nun, man zerlegte die bisher bestehende philosophische Facultät in die philosophisch-mathematische, in die historisch-statistische, und in die cammeralistische; so würden wahrscheinlich die Mitglieder aller dieser Facultäten zugleich einbüßen.“ Meiners, Ueber die Verfassung und Verwaltung, S. 333f. 261 Vgl. Werner Schneiders, Akademische Weltweisheit. Die deutsche Philosophie im Zeitalter der Aufklärung, in: G. Sauder / J. Schlobach (Hg.): Aufklärungen. Frankreich und Deutschland im 18. Jahrhundert. Heidelberg 1986, S. 25–44, hier S. 35. 262 Vgl. dazu Walther C. Zimmerli, „Schwere Rüstung“ des Dogmatismus und „anwendbare Eklektik“. J. G. H. Feder und die Göttinger Philosophie im ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Studia Leibnitiana XV/1 (1983), S. 58–71, hier S. 59. 263 „Aus diesem allen erhellet nun, daß die Wahrheit einer Empfindung darinne besteht, daß der gegenwärtige Schein der Sache von den wirklichen Beschaffenheiten derselben herrühret.“ Vgl. Johann Georg Heinrich Feder, Logik und Metaphysik. Göttingen 5. vermehrte Aufl. 1778 (Göttingen 11769), S. 155ff. 264 Christoph Meiners hatte, von Feder und Spittler gefördert, mit seiner Schrift Die Revision der Philosophie (1772) auf sich aufmerksam gemacht und erhielt noch im gleichen Jahr eine außerordentliche Professur an der Göttinger Universität. Michael Hißmann verstarb nur zwei Jahre nachdem er 1782 sein Ordinariat in Göttingen angetreten hatte. Dennoch ist seine Wirkung durch die von ihm übersetzten französischen Autoren (Condillac, De Brosses, Delisle, Démeunier) und die von ihm herausgegebene Zeitschrift Magazin für die Philosophie und ihre Geschichte (6 Bde., 1778–1783) bislang nicht ausreichend untersucht.

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Aufgabe der Philosophie benannte Meiners nunmehr die ‚Wissenschaft vom Menschen‘: [...] [D]ie Bestimmung der Philosophie [ist] leicht; es bleibt ihr nichts übrig als der Mensch. Sie wird eine Wissenschaft vom Menschen. Der Mensch, in so ferne er ein Gegenstand der Philosophie ist, muß genau bestimmt werden, weil noch andere Wissenschaften sich gleichfalls mit dem Menschen beschäftigen. Die Philosophie theilt sich in theoretische und praktische, je nachdem sie den Menschen als ein Geschöpf betrachtet, das solche Empfindungen, solche Organen, solche Kräfte, Fähigkeiten und Kenntnisse hat: oder nachdem sie den guten und schlimmen Gebrauch bestimt [sic!], den er von allen diesen Eigenschaften zu seinem und anderer Nutzen oder Schaden machen kann. Die Theorie der Weltweisheit enthält nach gewissen Systemen eine ganze Menge von Wissenschaften, deren Ordnung und Folge viele Schwierigkeiten verursacht haben. Wie bringt man die auf die Oekonomie der menschlichen Natur zurück?265

Während die Göttinger Lehrer der Weltweisheit damit beschäftigt waren, der Philosophie methodisch und inhaltlich den Status einer ‚Wissenschaft vom Menschen‘ zu verschaffen, hatten die Inhaber neu geschaffener Lehrstühle für Geschichte, Universalgeschichte, Statistik, Politik und Staatengeschichte ihrerseits zunächst damit zu tun, Aufgabe und Umfang ihrer wissenschaftlichen Domänen auszuloten. Heute spricht man in diesem Zusammenhang von der Ausbildung der ‚Göttinger Schule‘, die sich vor allem mit den Namen von August Ludwig Schlözer (1735– 1809) und Johann Christoph Gatterer (1727–1799) verbindet, die beide auf ihre Weise methodische Überlegungen zum Einsatz der Historie als „Lehrerin des menschlichen Geschlechts“ anstellten.266 Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass dem keine übergreifende Programmatik, als vielmehr die Überzeugung zugrunde lag, dass die Historie über ihre Funktion als Hilfswissenschaft für Theologie und Jurisprudenz hinaus eigene Ergebnisse zu Tage fördern könne. Münchhausen hatte dieser Auffassung von vornherein institutionell Vorschub geleistet, indem er die Professur für Universalgeschichte nicht, wie traditionellerweise, der juristischen Fakultät untergliederte, sondern in der ‚unteren‘ philosophischen Fakultät angesiedelt hatte.267 Dennoch ist die Besonderheit der Universität von Göttingen nicht ausschließlich in ihrer Funktion als Keimboden für spätere Disziplinenbildungen zu suchen, sondern bestand gerade in den Ansprüchen und Legitimationsanstrengungen der Aufgabenbereiche in der Etablierungsphase der jüngeren Universitäten. Alle der genannten Professoren hatten Theologie und Philosophie studiert und verbanden darüber hinaus ihre Interessen an Anthropologie, Völkerkunde, Literatur, Sprachen, Biologie und Naturphilosophie zu einem pragmatischen Zugang zum Wissen, der in jeweils eigene Präferenzen und Wege münden

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Christoph Meiners, Kurzer Abriß der Psychologie zum Gebrauche seiner Vorlesungen. Göttingen / Gotha 1773, S. 6. 266 Vgl. Johann Christoph Gatterer, Zufällige Gedanken über die teutsche Geschichte, in: Allgemeine historische Bibliothek 2 (1767), S. 23–24. 267 Vgl. Vierhaus, Göttingen und die Anfänge moderner Geschichtswissenschaft, S. 11ff.

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sollte.268 Das gemeinsame Ziel bestand indessen in der wissenschaftlichen, empirisch unterfütterten Untersuchung des Menschengeschlechts und damit in der Beförderung des Ideals der Humanität. In dieser Zielsetzung stimmten der Gründungsgeist der Universität und seine Umsetzung durch die Lehrenden überein. Als Variante zum Göttinger Modell und gleichermaßen als Reaktion auf die veränderten Anforderungen an Wissenschaft und Ausbildung muss die Reformierung und Umgestaltung der Universität ‚Salana‘ in Jena verstanden werden. Seit den 1780er Jahren erlebten die Fächer der artistischen Fakultät, ebenfalls aus Erwägungen praktischer Aus- und idealistischer Allgemeinbildung der Studenten, einen immensen Aufschwung. Als Mikrokosmos des Übergangs von der Aufklärung zum Idealismus von größter philosophiehistorischer Bedeutung269 verdient es Jena darüber hinaus als Ort der „Symbiose von Ästhetik, Naturphilosophie und menschheitsbezogener Humanität“ hervorgehoben zu werden.270 Erst jüngere Forschungen haben auf die Bedeutung der ‚Naturwissenschaften‘ um 1800 in Jena hingewiesen, wobei gerade die Interessensverschiebungen und Grenzüberschreitungen innerhalb der angestammten Fakultäten von besonderem Interesse sind.271 Exemplarisch sei hier der einflussreiche Hochschullehrer Joachim Georg Darjes (1714–1791) genannt, der nach einem Theologiestudium an der juristischen Fakultät promoviert wurde und 1744 einen Lehrstuhl für Politik und Moral an der Jenaer Universität erhielt.272 Neben seiner überaus erfolgreichen Tätigkeit als staats- und wirtschaftspolitischer Berater Friedrichs II. betrieb er verschiedenste Reformprojekte, von Ausbildungsstätten bis hin zur Landwirtschaft, und erhielt

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Einen in keiner Weise auf die Historiographie verengten Blick für seine Überlegungen wählt Peter Hanns Reill, Die Geschichtswissenschaft um die Mitte des 18. Jahrhundert, in: R. Vierhaus (Hg.): Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung. Göttingen 1985, S. 163–193, besonders S. 168f. 269 Erst neuerdings wurde diese philosophiehistorische Verdichtungsphase mit einer äußerst filigran verfahrenden Studie gewürdigt: „An der Universität Jena vollzog sich die Aufnahme und die schnelle Verwandlung der Kantischen Philosophie, zunächst in der Gestalt von Karl Leonhard Reinholds und Johann Gottlieb Fichtes Systemen und binnen kurzem dann in der Umbildung von Fichtes Wissenschaftslehre zu Entwürfen, die mit Fichte selbst bereits konkurrierten, und zur frühromantischen Philosophie der Kunst.“ Vgl. Dieter Henrich, Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus. Tübingen – Jena (1790–1794). 2 Bde. Frankfurt/M. 2004, hier Bd. 1, S. 10. 270 Vgl. Hammerstein, Die deutsche Universitätslandschaft, S. 23. 271 Zu verweisen ist hier auf die Publikationen im Umfeld des SFB 482 ,Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800‘, der seit 1998 an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena arbeitet. Vgl. Olaf Breidbach / Paul Ziche (Hg.): Naturwissenschaften um 1800. Wissenschaftskultur in JenaWeimar. Weimar 2001; Georg Eckardt / Matthias John / Temilo van Zantwijk / Paul Ziche (Hg.): Anthropologie und empirische Psychologie um 1800. Ansätze einer Entwicklung zur Wissenschaft. Köln u.a. O. 2001. 272 Diesen Einfluss verdankte Darjes seinem Werk Elementa metaphysices (1743–1744), beruhend auf seiner Dissertatio Metaphysica sistens de Mundo Eiusque Conceptu Meditationem (1741), das vielen Philosophieprofessoren, wie etwa noch Feder währen Professorentätigkeit am Gymnasium in Coburg, als vorlesungsbegleitendes Lehrbuch diente. Vgl. Wundt, Die Schulphilosophie, S. 291 und 304ff.

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schließlich den Auftrag zur Einrichtung einer ‚Gelehrten Gesellschaft‘ an seiner späteren Wirkungsstätte in Frankfurt an der Oder. Deren erstes Anliegen sollte es sein, sich den Rechts-, Cameral-, Polizei-, Commerz- und Manufakturwissenschaften zuzuwenden, „weil [...] die Erfahrung gelehret, daß die beständige Beschäftigung mit den so genannten schönen Wissenschaften bei vielen die Lust zu reellen Dingen wankend gemacht“.273 Als ehemals überzeugter Anhänger von Wolff hatte sich Darjes zunehmend von der Schulphilosophie distanziert274 und sich einem pragmatischen Zugang zu den Wissenschaften verschrieben, mit dessen Hilfe konkrete Handlungsanweisungen für Politik, Wirtschaft und Kultur gegeben werden sollten. Auf dem Wege der ‚Wissenschaft‘ sollte eine vermittelnde Ebene zwischen Praktikern und Verwaltung bis hin zum Regenten hergestellt werden.275 Durch die Schriften und Schüler von Darjes, wie etwa den späteren Erfurter Philosophieprofessor Johann Christian Lossius (1743–1813), konnte von Jena aus ein wichtiger Impuls für eine pragmatisch orientierte und gleichzeitig universitär angebundene ‚Lehre vom Menschen‘ ausgehen. Neben Jena ist in diesem Zusammenhang auch die Universität von Leipzig von Bedeutung, der die Anerkennung als ein Zentrum der Aufklärung lange versagt blieb und erst neuerdings mit Recht zugesprochen wurde.276 Leipzig erlangte nicht nur als wichtiger Verlagsort Rang und Einfluss,277 sondern gerade die Universität 273

Zu Darjes siehe den instruktiven Beitrag von Joachim Bauer und Gerhard Müller, Zwischen Theologie und praktischen Wissenschaften: Der Aufklärer Joachim Georg Darjes, in: Breidbach / Ziche (Hg.): Naturwissenschaften um 1800, S. 142–154. Darjes zitiert nach ebd., S. 153. 274 Vgl. Joachim Georg Darjes, Weg zur Wahrheit, auf Verlangen übersetzt und mit Anmerkungen und Beyträgen begleitet. Frankfurt/O. 1776, Anm., S. 11ff. 275 Von dieser Auffassung zeugt das Lehrbuch des Jenaer Mathematikers Laurenz Johann Daniel Suckow, Die Cameral-Wissenschaften nach dem Grund-Risse des Herrn Geheimen-Rath Darjes zum akademischen Gebrauch entworfen. Jena 21784 (Jena 11768). Behandelt werden in diesem Werk Ackerbau, Viehzucht, Stadtwirtschaft, Polizeiwesen und Staatswirtschaft. Der besondere Verdienst von Darjes wird darin gesehen, „die Wissenschaften wissenschaftlich“ gemacht und damit praktische Anforderungen und akademische Erörterungen vermittelt zu haben. Vgl. ebd., Vorrede, [unpag. a 4’ff]. In Darjes’ Staatslehre sollte in ‚Kollegien‘ die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft stattfinden. Vgl. Bauer / Müller, Zwischen Theologie und praktischen Wissenschaften, S. 145. 276 Detlef Döring führt die andauernde Missachtung der Universität Leipzig für die Aufklärung vor allem auf die wirkungsvolle Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts zurück, die ihr Verdikt über Leipzig mit der Vertreibung bedeutender Denker wie Pufendorf, Leibniz, Thomasius und Francke belegte und dabei die rege intellektuelle Tätigkeit in der zweiten Jahrhunderthälfte in der Nachfolge von Johann Christoph Gottsched (1700–1766) ignorierte. Diese Ignoranz wiederum verdanke sich den französischen und englischen Einflüssen auf die Leipziger Hochschullehrer, die im 19. Jahrhundert der Suche nach der Entstehung der deutschen Nationalliteratur im Wege gestanden haben. Vgl. Detlef Döring, Die Universität Leipzig im Zeitalter der Aufklärung. Geschichte, Stand und Perspektiven der Forschung, in: Historisches Jahrbuch 122 (2002), S. 413–461, hier S. 420ff. 277 Leipzig wird Mitte des 18. Jahrhunderts zum Zentrum der deutschen Literatur. Eine wichtige Rolle spielten dabei die Messen, auf denen Bücher, neben Pelzen, zur wichtigsten Ware avancierten. In einer Stadtbeschreibung von 1799 wird aufgezählt: „46 Buchhändler nebst einigen Antiquaren, 8 Buchdrucker, die zugleich Buchhändler sind und über 300 fremde zur Leipziger Messe kommende Buchhändler aus allen Ländern.“ Vgl. Friedrich Gottlob Leonhardi, Ge-

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hatte eine besondere Rolle in der Vermittlung von neueren wissenschaftlichen Strömungen und bei der studentischen Ausbildung. Abgesehen von dem bemerkenswerten Umstand, dass die wichtigsten schulphilosophischen Ansätze von Wolff und Crusius in Leipzig eine ernsthafte Fortführung erfuhren, war es in der Nachfolge von Christian Fürchtegott Gellert (1715–1769) gerade die Tätigkeit der Popularphilosophen, welche die Universität Leipzig zum Sammelbecken von undogmatischen Reformversuchen der traditionellen Fakultäten werden ließ. Neben dem kurzen Wirken von Christian Garve (1742–1798) waren hier Christian Felix Weiße (1726–1804), Ernst Platner (1744–1818), Johann Christoph Adelung (1732– 1806), Johann Karl Wezel (1747–1819), Christian Friedrich von Blankenburg (1744–1796), Johann Jakob Engel (1741–1802) und Friedrich August Carus (1770–1807) tätig. Die meisten von ihnen waren durch publizistische Arbeiten an Leipzig gebunden und pflegten freundschaftliche Beziehungen untereinander; Lehrstühle hatten allerdings nur Garve, Platner und Carus inne. Während auf verschiedene Ansätze der genannten Gelehrten später noch genauer einzugehen sein wird, sei bereits hier auf ihr übergreifendes Interesse an einer wissenschaftlich fundierten Ethik verwiesen. Das Anliegen war diesbezüglich weniger, die Moralphilosophie innerhalb eines philosophischen Systems zu verorten, als vielmehr zum direkten Nutzen der Menschheit zu forschen. Der empirische Grundstoff für diese neue Ethik sollte in der Natur des Menschen liegen beziehungsweise durch Berichte über den Menschen in der zeitlichen und räumlichen Dispersion angereichert werden. Dabei orientierte man sich an französischen und englischen Vorgängerprojekten dieser Art – ein Zusammenhang, der neben den vermeintlichen Qualitätsschwächen Rückschlüsse auf die minimale Rezeption der Popularphilosophen im 19. Jahrhundert zulässt.278 Der Eklektizismus als Programm der Popularphilosophie belegt jedoch gleichzeitig, dass zahlreiche Universitäten im Verlauf des 18. Jahrhunderts nicht mehr der Ort der kanonischen Lehren, sondern der experimentierfreudigen jungen Wissenschaften geworden waren. Viele andere Universitätsstädte, auch in den katholischen Territorien, ließen sich in diese Reihe aufnehmen, doch interessanterweise liegt gerade im mitteldeutschen Raum eine Schwerpunktbildung der ‚Wissenschaft vom Menschen‘.279 Festzuhalten bleibt, dass die Universitäten sowohl in Schottland als auch im deutschsprachigen Kulturraum nicht unbeeindruckt von den Vorgängen in Wissenschaft und Gesellschaft ihren traditionellen Aufgaben nachgehen konnten. Die

schichte und Beschreibung der Kreis- und Handelsstadt Leipzig nebst der umliegenden Gegend. Leipzig 1799, S. 308, zitiert nach Weigl, Schauplätze der deutschen Aufklärung, S. 104. 278 Döring führt als Beispiel für die Arroganz der Höhenkammphilosophie Karl Rosenkranz an, der die Popularphilosophie als ‚die ausgeartetste Form‘ der Aufklärung und Leipzig als deren Zentrum ansah. Vgl. Döring, Die Universität Leipzig, S. 426. 279 Hiermit folge ich der These Max Wundts, der die Universitäten des mitteldeutschen Raums als Zentren der ‚Lehre vom Menschen‘ identifiziert. Vgl. Ders., Die deutsche Schulphilosophie, S. 287ff.

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Reformen und Neugründungen zeigen den Versuch, sich an die neuen Anforderungen anzupassen. Gleichwohl wäre es verfehlt, den Universitäten im 18. Jahrhundert einen rein passiv-reaktiven Charakter zuzuweisen. Interpretiert man ‚Wissenschaft‘ als ein Funktionssystem der Gesellschaft, ist die Universität als eine Institution der Wissenschaft vielmehr Ausdruck einer geistigen Verfassung, die sich eine Gesellschaft offiziell zugesteht.280 Wissenschaft repräsentiert sich in gesellschaftlichen Institutionen wie Universitäten, Akademien und dem Sozietätswesen. Ein Blick auf die Geschichte der Institutionen scheint insofern sinnvoll, als in ihm zweierlei Aspekte zusammenfallen: die organisatorischen Bedingungen und die gleichzeitigen Normsetzungen neuer wissenschaftlicher Strömungen.281 Es stellt sich also die Frage, ob über Differenzen und Gemeinsamkeiten im Wissenschaftssystem Aussagen über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Gesellschaften getroffen werden können. Dabei ist festzustellen, dass sich die Durchsetzung neuerer wissenschaftlicher Modelle in England eher im Konflikt als im Kontext der Universitäten vollzog. Oxford und Cambridge kam weiterhin vor allem die Aufgabe der Kleriker- und Verwaltungsbeamtenausbildung zu. Offiziell blieb die Gesellschaft in England der neuen pragmatischen Orientierungen in den Wissenschaften verschlossen; es konnte sich jedoch eine Wissenschaftskultur außerhalb der traditionellen Orte des Wissens etablieren.282 In Schottland hingegen konnte eine von England deutlich verschiedene, lebendigere Universitätstradition gesellschaftliche und wissenschaftliche Impulse aufnehmen. Insbesondere mit Edinburgh konnte eine Reformuniversität ersten Ranges in Europa geschaffen werden. Der Behauptung der Selbstständigkeit in einer von der Union 1707 unberührten Institution und ein gewisser Abgrenzungsgestus sind dabei nicht zu vernachlässigende Bedingungen dieses schottischen Weges. Die Entwicklung in Schottland ist damit auf der gesellschaftlichen und der wissenschaftlichen Ebene der deutschen Situation ähnlicher als der englischen. Dennoch soll nicht übersehen werden, dass auch in Schottland etliche der maßgebenden Denker nicht an der Universität tätig waren und wirkungsvolle Publikationen, wie etwa die Encyclopaedia Britannica, außer-

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Diese Überlegungen schließen an die komplexe Theorie autopoietischer Sozialsysteme von Niklas Luhmann an. Luhmann entwickelt darin eine Selbstgestaltungstheorie sozialer Systeme, in die er auch die ‚Wissenschaft‘ als Referenzsystem der Gesellschaft mit einbezieht. Vgl. Ders., Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. ²1994, S. 9f. 281 Vgl. Matthias Middell / Gabriele Lingelbach / Frank Hadler, Institutionalisierung historischer Forschung und Lehre. Einführende Bemerkungen und Fragen, in: Dies. (Hg.): Historische Institute im Vergleich. Leipzig 2001, S. 9–37, hier S. 27. 282 In diesem Sinne versucht Roy Porter der Aufklärung in England über Hintertreppen und bei Einzelpersonen, unabhängig von einer ‚Bewegung‘ oder der Universitätsgelehrsamkeit, nachzugehen: „Science was energetically promoted amongst the public. Initially in London’s coffee houses, lecturers began to offer demonstrations with globes, orreries and other instruments displaying the marvels of the clockwork universe, while performing chemical, magnetic, electrical and airpump experiments besides“. Vgl. Ders., Enlightenment Britain and the Creation, S. 142.

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halb der Universität entstanden.283 Es ist deshalb nicht weiter verwunderlich, dass den Universitäten in der angelsächsischen Forschung kaum ein bedeutender Anteil an der Hervorbringung und Umsetzung aufklärerischen Denkens zugesprochen wird.284 Gerade das schottische Beispiel zeigt, dass radikal neue Ideen – wie Humes anonym erschienener Treatise of Human Nature – nur außerhalb der Universität verfasst werden konnten und ihre Artikulation den Zugang zu einem Lehramt verhinderte. Die Wirkung solcher Ideen konnte sich indessen – befördert durch gelehrte Gesellschaften – durch den Lehrbetrieb und die entsprechend veränderten Forschungsinteressen an der Universität entfalten.285 Dieser Einfluss verdankte sich den engen personalen Verknüpfungen zwischen den Protagonisten der schottischen Aufklärung in den verschiedenen gelehrten Gesellschaften und an der Universität. Im genannten Beispiel muss etwa David Humes Mentorenrolle für den Rektor der Universität, William Robertson, und die Philosophieprofessoren Adam Ferguson, Adam Smith und John Millar betont werden.286 Die Maximen von Nützlichkeit und Praxisorientierung der Wissenschaft fanden ihre direkte Umsetzung in der Aufwertung der angewandten Wissenschaften an den Universitäten.287 Die Praxis war nicht nur der Adressat, sondern war gleichzeitig Methode des Forschens und Vermittlungsform der neuen Wissenschaften. Von dieser Auffassung zeugt die Einrichtung von Hörsälen, Laboratorien, naturkundli283

Der Herausgeber der Encyclopaedia Britannica, William Smellie, war ein Verleger, den man aufgrund seiner schriftstellerischen, aber auch Übersetzungs- und Herausgebertätigkeit durchaus als Gelehrten bezeichnen kann. Dennoch blieb ihm eine Anstellung an der Universität, wie im Falle der Vergabe des Lehrstuhls für Naturgeschichte 1779, versagt. Seine Kontakte zu Akademikerkreisen wurden vor allem durch die Mitgliedschaften in gelehrten Gesellschaften gewährleistet. Vgl. Richard B. Sher, Introduction, in: R. Kerr, Memoirs of the Life, Writings, and Correspondence of William Smellie [1811]. Bristol 1996, S. V–XVIII. Gleiches gilt für die berühmten Herausgeber der Encyclopédie, Denis Diderot (1713–1784) und Jean le Rond D’Alembert (1717–1783). Vgl. Dennis F. Essar, Art. ‚Alembert‘, in Kors (Hg.): Encyclopedia of the Enlightenment, Bd. 1, S. 38ff.; Walter E. Rex, Art. ‚Diderot‘, ebd., S. 356–360. Carl Günther Ludovici (1707–1778) war unterdessen seit 1733 Professor für Weltweisheit an der Universität Leipzig und gab seit 1740 den ‚Zedler‘ heraus. Vgl. Vierhaus / Bödeker (Hg.): Biographische Enzyklopädie, S. 193f. Zum Wandel des ‚Zedler‘ unter seiner Herausgeberschaft vgl. Schneider / Zedelmaier, Wissensapparate, S. 361f. 284 „Die Universitäten mochten ihre traditionelle Funktion als Lehranstalten auch weiterhin effizient ausüben, doch im allgemeinen waren es nicht die Stätten, aus denen heraus sich neue Ideen entwickelten. Sie litten sozusagen unter institutioneller Inertie: Sie hielten krampfhaft an ihren körperschaftlichen Traditionen fest und isolierten sich damit selbst von neuen Entwicklungen.“ Vgl. Peter Burke, Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft. Berlin 2001, S. 63. Problematisch wird diese scharfe Einschätzung spätestens, wenn sie auf andere Länder übertragen wird. 285 So hatte Francis Hutcheson seine Studenten, wie etwa Adam Smith, mit Humes ‚Treatise‘ bekannt gemacht. Vgl. Streminger, Adam Smith, S. 20. 286 Hume war stets über die Projekte seiner Kollegen im Bilde und sparte nicht mit Kritik und Anregungen. Die Manuskripte seiner Kollegen durchwanderten seine strenge Korrektur, wie etwa Robertsons History of Scotland (1759). Vgl. Hume to Robertson 1757, in: New Letters of David Hume, hg. v. R. Klibansky / E. C. Mossner. Oxford 1954, S. 27. 287 Wie etwa Landwirtschaftslehre, Nautik oder Geburtshilfe. Vgl. Maurer, Die Universitäten, S. 268.

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chen Sammlungen und botanischen Gärten. Dass Beobachtung und Experiment als Grundlagen der Wissenschaft nicht auf die Naturforschung beschränkt blieben, zeigen auch die Erweiterungen der Bibliotheken. Neben Lehrbüchern wurden nun auch moderne Laien-Literatur und Reiseberichte angeschafft, die dem Forscher die menschliche Natur in allen Facetten präsentierten.288 Dem mangelnden Praxisbezug, der Hermetik und Kanonisierung des Wissens in der traditionellen Universitätsgelehrsamkeit, die den Gelehrten lange ein Dorn im Auge waren und Anlass für heftige Polemiken geboten hatten, war zumindest an einigen Orten Abhilfe geschaffen worden. Nützlichkeitserwägungen, Praxisanforderungen und Bildungsmaximen wurden von den Reformuniversitäten in Forschung und Lehre eingelöst, wodurch ihnen besonders in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine maßgebliche Bedeutung für die Umsetzung aufklärerischer Ideale zukam. Gerade in Deutschland kann die Reform der Wissenschaften nicht von der Institution der Universitäten abgekoppelt werden und es ist vielmehr so, dass sich aufklärerische Ideen besonders durch die Integration an den Universitäten wissenschaftlich etablieren konnten.289 Die Universitäten nahmen daher in der deutschen Aufklärungslandschaft eine dominierende Rolle ein.290 Diese Rolle der Universitäten ist gerade deshalb von besonderem Interesse, als sich dadurch die neuen Wissenschaftsauffassungen auch institutionell Durchsetzung verschaffen konnten, was sich besonders an der Einrichtung neuer Disziplinen und an der veränderten Hierarchie unter den Fakultäten ablesen lässt. In Schottland wie an deutschen Universitäten wurden im Verlauf des 18. Jahrhunderts Lehrstühle für Naturgeschichte, Geschichte, Geographie, Geologie oder Sprachkenntnis eingerichtet, an denen sich das neue Forschungsinteresse zeigte. Den klassischen Feldern der ‚historia‘, in ihrer traditionellen Gleichsetzung mit empirischer Propädeutik, wurde damit auch institutionell ein eigenständiger Erkenntniswert eingeräumt. In Schottland wurden die genannten Disziplinen nicht unbedingt der vierten Fakultät untergliedert wie in den deutschen Beispielen. Durch den Zuwachs an Fächern in der ‚unteren‘ Fakultät an den deutschen Universitäten erklärt sich institutionell der rasante Aufstieg im Selbstbewusstsein ihrer Vertreter, welche die 288

Zur Anschaffungspolitik der Bibliotheken gibt es noch kaum nähere Untersuchungen. Außer Zweifel steht, dass die Auswahl der anzuschaffenden Bücher ein Politikum war, wie es Humes Schwierigkeiten in der ‚Advocates Library‘ zeigen. Nach seinem Kauf von La Fontaines Contes, Crébillon fils’ L’Écumoire und Bussy-Rabutins L’histoire amoreuse des Gauls wurden diese aus den Regalen entfernt und ihm das eigenständige Anschaffungsrecht entzogen. Vgl. David Hume to Adam Smith 1754, in: The Correspondence of Adam Smith, hg. v. E. C. Mossner / I. Simpson Ross. Oxford 1977, S. 16ff. Eine von mir vorgenommene Auswertung des ‚Accession Book‘ der University Library of Edinburgh aus den Jahren 1762–1792 zeigt, dass Reisebeschreibungen nach medizinischen Büchern zu den am häufigsten angeschafften Titeln gehörten. Vgl. MS. Da. 1. 46. (EUL), [unpag.]. 289 Vgl. dazu auch Möller, Vernunft und Kritik, S. 244. 290 Im Vergleich mit den Universitäten der „großen westlichen Nachbarländer“ kommt zu diesem Ergebnis auch die klassische Studie von Friedrich Paulsen, Die deutschen Universitäten und das Universitätsstudium. Berlin 1902, S. 55.

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philosophische Fakultät als Ort der Kritik und damit als unabhängige Meta- und damit Leitwissenschaft zu den anderen Fakultäten zu etablieren suchten.291 Die Kerndisziplinen der ‚Science of Man‘ und der ‚Wissenschaft vom Menschen‘ hatten sich, unter der geistigen Ägide der Philosophie, als eigene Fächer an der Universität eingerichtet. Allerdings kamen ihnen an den deutschen Universitäten, im Konzert der philosophischen Fakultät, ein eher systematischer Charakter und größeres institutionelles Gewicht zu.

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Während Kant die Freiheit der philosophischen Fakultät im Gegensatz zu den anderen drei Fakultäten postulierte, ist insbesondere seine ironische Abgrenzung zur Theologie zum locus classicus avanciert: „Auch kann man allenfalls der theologischen Fakultät den stolzen Anspruch, daß die philosophische ihre Magd sei, einräumen (wobei noch immer die Frage bleibt: ob diese ihrer gnädigen Frau die Fackel vorträgt oder die Schleppe nachträgt); wenn man sie nur nicht verjagt, oder ihr den Mund zubindet;“ Kant, Der Streit der Fakultäten, A 25, 26. Vgl. dazu Hans Erich Bödeker, Von der „Magd der Theologie“ zur „Leitwissenschaft“. Vorüberlegungen zu einer Geschichte der Philosophie des 18. Jahrhunderts, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 14 (1990), S. 19–57, besonders S. 31ff.

3. Das Projekt einer ‚Science of Man‘ in der schottischen Aufklärung

Die schrittweise Veränderung der Wissenschaftsauffassung seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert war durch eine grundlegende Skepsis gegenüber metaphysischer Erkenntnis und den daraus resultierenden Maßnahmen zur Sicherung des Wissens mit Hilfe einer induktiven Grundlegung geprägt. In dieser Hinsicht folgte die Neukonstituierung der Wissenschaften dem Beispiel der Naturphilosophie, in der die empirische Beobachtung von Naturphänomenen dazu genutzt wurde, allgemeine Gesetzlichkeiten zu bestimmen. Diese hypothetisch angenommenen Regeln lieferten den disparaten Erscheinungen wiederum ihre systematische Ordnung. Eine solche erkenntnistheoretische Umbruchsituation charakterisierte die angelsächsische Wissenschaftslandschaft der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts und zeitigte direkte Auswirkungen im Gesellschafts- und Universitätssystem. Die Selbstbeschränkung der Wissenschaften auf die Erfahrung hatte nicht nur zu einem Umbau innerhalb des akademischen Systems, sondern auch zu einem freieren Wissenszugang in der Gesellschaft geführt. Die experimentelle Erschließung der Welt – durch Entwicklung und Überprüfung wissenschaftlicher Thesen auf dem Wege der Beobachtung – ließ den praktischen Nutzen der Wissenschaften greifbar werden. Die neuen Themenfelder der Akademien, gelehrten Gesellschaften und Universitäten spiegeln diesen erkenntnistheoretischen Anspruch wider, der auf eine praxisorientierte Forschung zielte. Dennoch stellte es eine besondere Hürde dar, die wissenschaftstheoretischen Überlegungen zur Erfassung der äußeren Erscheinungen der Welt auf den Menschen selbst zu übertragen. Eine in Skepsis begründete, nach hypothetisch-deduktivem Urteil verfahrende und damit letztlich materialistische Perspektive auf den Menschen bedeutete eine radikale Infragestellung der religiösen Verankerung des Weltbildes im 18. Jahrhundert und damit eine grundsätzliche Unterminierung des Deutungsanspruchs der Theologie. Obwohl die Etablierung einer ‚Wissenschaft vom Menschen‘ nach Maßgabe der empirischen Naturphilosophie ein Gebot der Zeit zu sein schien, bedurfte es eines ,Kairos‘ um die Mauern des traditionellen Gebäudes der Wissenschaften bis in die Grundfesten zu erschüttern. Ein solcher Scheitelpunkt wurde mit David Humes Schrift Treatise of Human Nature überschritten, die damit weniger exemplarisch als programmatisch für den Beginn einer neuen Form des Menschenstudiums in der schottischen Aufklärung steht.

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3.1. Vom ‚Newton of the Mind‘ zum ‚Newton of Natural History‘ Der Untertitel von Humes Treatise of Human Nature beschreibt das Projekt der schottischen Aufklärung knapp und eindringlich: „An Attempt to introduce the experimental Method of Reasoning into Moral Subjects.“ Hume zeichnete in der Vorrede dieses umfangreichen Werkes ein äußerst finsteres Bild der Wissenschaften seiner Zeit und gemahnte damit an „the present imperfect condition of the sciences“.1 Im Blick hatte er dabei besonders die Metaphysik, deren bisherige Erfolge weniger in wissenschaftlichen Untersuchungen begründet, als an logischen ‚Vernünfteleien‘ und rhetorischem ‚Bramarbasieren‘ ausgerichtet seien. Um diesem, in Humes Augen, unhaltbaren Zustand Abhilfe zu schaffen, sei es nötig, to leave the tedious lingering method, which we have hitherto followed, and instead taking now and then a castle or village on the frontier, to march up directly to the capital or center of these sciences, to human nature itself; which being once masters of, we may every where else hope for an easy victory.2

Die militärische Metaphorik für Humes Vorhaben entbehrte nicht einer inneren Logik, hatte ihr Autor tatsächlich nicht vor, einige Reformen innerhalb der Wissenschaften zu lancieren, sondern ein radikal neues System zu installieren, wodurch mächtige Gegner auf den Plan gerufen wurden:3 From this station we may extend our conquests over all those sciences, which more intimately concern human life; [...]. There is no question of importance, whose decision is not compriz’d in the science of man; and there is none, which can be decided with any certainty, before we become acquainted with that science. In pretending therefore to explain the principles of human nature, we in effect propose a compleat system of the sciences, built on a foundation almost entirely new, and the only one upon which they can stand with any security.4

Mit diesem Schlachtplan hatte Hume der sich neu etablierenden Wissenschaftstradition eine veränderte Stoßrichtung verliehen.5 So waren es nun nicht mehr die Phänomene der physischen Welt, denen auf dem Wege von Erfahrung und Be1 2 3

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Hume, Treatise, S. XIII. Ebd., S. XVI. Ein ähnlich radikales Vorläuferprojekt kann in George Turnbulls Principles of Moral Philosophy (1740) gesehen werden. George Turnbull (1698–1748) hatte in der Vermittlung von Shaftesbury und Newton für die Universität von Aberdeen eine vergleichbare Bedeutung wie Hutcheson für Glasgow. Sein bedeutendster Schüler war Humes Antipode Thomas Reid. Zur Wirkung Newtons in der schottischen Aufklärung vgl. Christopher Berry, Social Theory of the Scottish Enlightenment. Edinburgh 1997, S. 52. Hume, Treatise, S. XVI. Reinhard Brandt spricht davon, dass Hume mit der ‚Science of Man‘ eine ‚neuartige Geisteswissenschaft‘ eingerichtet hätte. Vgl. Ders., Einführung, in: David Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur. Bd.1: Über den Verstand. Hamburg 1989, S. XI–L, hier S. XI. Zur Entstehung und Begriffsbildung der ‚Geisteswissenschaften‘ über David Hume zu John Stuart Mill und der Übersetzung seines Systems der deduktiven und induktiven Logik (1863) vgl. HansGeorg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Bd. 1. Tübingen 61990 (11960), S. 9.

obachtung beizukommen war, sondern auch die moralische Welt sollte diesem Verfahren unterzogen werden.6 Darüber hinaus sollte die ‚Science of Man‘ mit ihren Aufschlüssen über Natur und Erkenntnisfähigkeit des Menschen die Grundlage für alle anderen Wissenschaften darstellen. Warum ein solches Projekt – die auf Erfahrung basierende Methode auf die Moralphilosophie zu übertragen – nicht schon längst unternommen worden sei, erklärte sich Hume aus der Wissenschaftsgeschichte. Immerhin habe es den gleichen Zeitabstand zwischen Thales und Sokrates erfordert, der nun auch zwischen seinem Projekt und dem seiner Vorreiter liege. Hume beleumundete dabei „Lord BACON and some late philosophers in England, who have begun to put the science of man on a new footing, and have engaged the attention, and excited the curiosity of the public“.7 Für die Leserschaft dieser Zeilen schien es durch diese Traditionsbildung und die Parallelanordnung zu den Erfolgen in der Naturphilosophie unzweifelhaft, dass Hume sich als ‚Newton of the Mind‘ zu etablieren suchte.8 Auch wenn Hume in seinem Konzept nicht direkt auf Newton als Vorläufer rekurrierte, so sprach er von einer Philosophie im newtonschen Sinne, was seinem Anliegen entsprach, ein analytisch-synthetisches Verfahren auf die Erforschung des Menschen übertragen zu wollen.9 Von der bisherigen Praxis der Moralphilosophie, Hypothesen und Mutmaßungen als Prinzipen ersten Ranges auszugeben, müsse sich, laut Hume, nun endgültig

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Es ist hervorgehoben worden, dass in dieser Verbindung von ‚human science‘ und ‚natural science‘ die zentrale Bedeutung von Humes ‚Treatise‘ besteht. Bei dem Konzept der ‚Science of Man‘ boten Hobbes, Grotius und Pufendorf durchaus Anknüpfungspunkte, auf die Hume jedoch nicht explizit rekurrierte. Vgl. Christopher Fox, Introduction. How to Prepare a Noble Savage: The Spectacle of Human Science, in: Fox / Porter / Wokler (Hg.): Inventing Human Science, S. 1–30, hier S. 2. Zum besonderen schottischen Beitrag in der Verbindung von ‚natural‘ and ‚moral philosophy‘ vgl. auch Richard Olson, Scottish Philosophy and British Physics 1750–1880. A Study in the Foundation of the Victorian Scientific Style. Princeton 1975, S. 12. Mit „some late philosophers in England“ bezog sich Hume auf „Mr. Locke, my Lord Shaftesbury, Dr. Mandeville, Mr. Hutchinson, Dr. Butler, &c.“. Diese erfolgreiche angelsächsische Traditionsbildung führte er im Übrigen auf die Toleranz und Freiheit zurück, die in diesem Land herrsche. Vgl. Ders., Treatise, S. XVII. Diese Zuschreibung wurde auch dem englischen Arzt und Philosophen David Hartley (1705– 1757) sowie Thomas Reid und Adam Ferguson zuteil. Vgl. Gary Hatfield, Remaking the Science of the Mind. Psychology as Natural Science, in: Fox / Porter / Wokler (Hg.): Inventing Human Science, S. 184–231, hier S. 208. Humes Bezug auf Newton ist indessen schwierig zu rekonstruieren und gerade im ‚Treatise‘ eher als kritisch zu beurteilen. Durch seinen Lehrer Robert Steuart im Kurs für Naturphilosophie 1724–1725 soll Hume vor allem mit der experimentellen Methode Robert Boyles bekannt geworden sein. Vgl. Michael Barfoot, Hume and the Culture of Science in the Early Eighteenth Century, in: M. A. Stewart (Hg.): Studies in the Philosophy of the Scottish Enlightenment. Oxford 1990, S. 151–190, hier S. 160ff. „He set out to do for the mind what Newton had done for the matter.“ Vgl. George Macdonald Ross, Science and Philosophy, in: Olby (Hg.): Companion to the History of Modern Science, S. 799–815, hier S. 806. Zur Bezeichnung ‚Newton der Psychologie‘ vgl. auch Dierse, „Der Newton der Geschichte“, S. 167.

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verabschiedet werden.10 Denn die Schwierigkeit, Prinzipien a priori aufzustellen, teile die ‚Science of Man‘ mit allen anderen Wissenschaften, da keine Wissenschaft hinter die Erfahrung zurückgehen könne. Der Nachteil der Moralphilosophie gegenüber den anderen Wissenschaften bestehe allerdings in dem Umstand, dass sie ihre Experimente nicht absichtsvoll, wie etwa in der Physik, anordnen könne. Die Unternehmung eines solchermaßen vorsätzlich angeordneten Experiments am Menschen müsse scheitern, da der Vorsatz stets das Ergebnis beeinflussen würde. Ein Problem, das sicherlich auch zur verzögerten Aufnahme der beobachtungsgeleiteten Erkenntnis in diesem Bereich geführt habe. Aus diesem Grund müsse die ‚Science of Man‘ mit besonderem Bedacht vorgehen und ihre Quellen sorgsam auswählen: We must therefore glean up our experiments in this science from a cautious observation of human life, and take them as they appear in the common course of the world, by man’s behaviour in company, in affairs, and in their pleasures. Where experiments of that kind are judiciously collected and compared, we may hope to establish on them a science, which will not be inferior in certainty, and will be much superior in utility to any other of human comprehension.11

Um dieser nützlichsten aller Wissenschaften also eine stabile Basis zu verschaffen, entwickelte Hume seine Erkenntnistheorie, die für unseren Zusammenhang insofern von Bedeutung ist, als in ihr der theoretische Ausgangspunkt und die methodischen Vorgaben für die späteren Bearbeiter der ‚Science of Man‘ gelegt wurden.12 Die Besonderheit der Humeschen Erkenntnistheorie bestand darin, dass in ihr nicht nur die ‚Eindrücke‘ (impressions) von den Dingen auf eine sinnliche Erfahrung zurückgeführt wurden, sondern auch die Vorstellungen oder ‚Ideen‘ (ideas) von ihnen: In short, all the materials of thinking are derived either from our outward or inward sentiment: the mixture and composition of these belongs alone to the mind and will. Or to express myself in a more philosophical language, all our ideas or more feeble perceptions are copies of our impressions or more lively ones.13

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Humes Ziel bestand darin, „in avoiding that error, into which so many have fallen, of imposing their conjectures and hypotheses on the world for the most certain principles“. Vgl. Ders., Treatise, S. XVIII. Ebd., S. XIX. Entgegen der Tendenz, die Denker der schottischen Aufklärung isoliert zu betrachten, steht in dieser Untersuchung der Projektcharakter im Vordergrund, der m.E. seine maßgeblichen Impulse von Hume erhalten hatte. Das betont auch Norbert Waszek: „Sur la route suivie par le mouvement des Lumières en Écosse, Le Traité de Hume marque une étape dont l’importance ne saurait être surestimée.“ Vgl. Ders., L’Écosse des Lumières, S. 37. Diese Feststellung wurde als der ‚Hauptsatz des Empirismus‘ bezeichnet, der seine klassische Niederlegung in der geglätteten und überarbeiteten Fassung des ‚Treatise‘, der 1748 erschienenen Enquiry Concerning Human Understanding, gefunden hat. Vgl. David Hume, Enquiries Concerning Human Understanding and Concerning the Principles of Morals, hg. v. P. H. Nidditch. Oxford. 161997, S. 19. Nachdem der ‚Traetise‘, zu Humes großer Enttäuschung „fell dead-born from the press“, wollte er die ‚Enquiry‘ allein als Darstellung seiner philosophischen Ansichten und Prinzipien betrachtet wissen. Vgl. David Hume, My Own Life, in: Ders.,

Durch die erkenntnistheoretische Feststellung, dass jeder ‚Idee‘ sinnliche Erfahrungen vorausgehen, galt diesen Humes besondere Aufmerksamkeit und er unterteilte sie wiederum in ‚Sensationen‘ und ‚Reflexionen‘. Während er das Studium der ‚Sensationen‘ den Anatomen und Naturphilosophen überließ, interessierten ihn besonders die ‚Reflexionen‘ des menschlichen Geistes. Denn aus der Korrespondenz von sinnlichen Erfahrungen, die in der Seele wiederum Impressionen von Verlangen und Aversion, Hoffnung und Angst veranlassten, entstünden durch die Fähigkeit von Erinnerung und Vorstellungskraft erst die Ideen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, wieso die Fähigkeit des Menschen, Eindrücke zu wiederholen, eine besondere Rolle in Humes Erkenntnistheorie spielt. Die ‚Erinnerung‘ (memory) dient nämlich nicht vornehmlich dem Erhalt einzelner Ideen, als vor allem ihrer Ordnung und ihrer systematischen Untergliederung.14 An diesem Punkt dringt man in das Zentrum des geistigen Gebäudes von Hume vor, welches durch die Überzeugung gestützt wird, dass die äußere Ordnung unabhängig von unserer Wahrnehmung besteht und ihre tatsächlichen Zusammenhänge nicht erfasst werden können. Nach Hume werden diese Zusammenhänge vorsätzlich zur Erfassbarkeit und zum Verständnis von Welt durch den Erkennenden ‚gemacht‘. Die im Verhältnis zu seinen Vorgängern erhärtete Skepsis in der Frage, was wirklich gewusst werden kann, und der Rückgriff auf den fragilen Rettungsanker der äußerst unsicheren sinnlichen Erfahrung machen deutlich, wieso David Hume als der Begründer des modernen Skeptizismus und gleichzeitig des Positivismus beziehungsweise Empirismus gilt und worin die Spannung zwischen diesen beiden Positionen besteht.15 Die skeptische Haltung gegenüber jedweder Urteilsbildung ist in Humes System notwendig, um die beobachtungsgeleitete Erkenntnis als problematische und dennoch einzig wirksame Form derselben einzurichten.16 Nur die Einsicht in die Grenzen der Erkenntnis und die Konstruktivität menschlicher Verstandesleistungen unterscheidet Wissen von Glauben und schützt die Wissenschaft vor Glau-

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Essays, Moral, Political, and Literary, hg. v. T. H. Green / T. H. Grose. Bd. 1. London 1875, S. 1–8, hier S. 2. Aus heutiger Perspektive erscheint der ‚Treatise‘ allerdings als die ausführlichere, zugleich mutigere und verzagtere Schrift in der Auseinandersetzung mit den Grenzen des Wissens. Zum Verhältnis von ‚Treatise‘ und ‚Enquiry‘ vgl. Gerhard Streminger, David Hume: ‚Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand‘. Ein einführender Kommentar. Paderborn 1995, S. 19–53. „An historian may, perhaps for the more convenient carrying on his narration, relate an event before another, to which it was in fact posterior; but then he takes notice of this disorder, if he be exact; and by that means replaces the idea in its due postion.“ Vgl. Hume, Treatise, S. 9. Im angelsächsischen Raum ist Hume lange Zeit zuvorderst als ‚Skeptiker‘ wahrgenommen worden. Während auch in Deutschland bis weit in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts die Lesart Humes als religionskritischer Skeptiker dominierte, war es Kant, auf den die später dominierende Etikettierung Humes als ‚Empiristen‘ zurückging. Vgl. Engfer, Empirismus versus Rationalismus, S. 312f. Zu Humes skeptischer Haltung und ihrem zeitgenössischen Konterpart in Thomas Reids An Inquiry into the Human Mind on the Principles of Common Sense (1764) vgl. Heiner F. Klemme, Scepiticism and common sense, in: Broadie (Hg.): The Cambridge Companion to the Scottish Enlightenment, S. 117–135, hier S. 118.

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benssätzen, die in der bis dato dominanten Wissenschaftstradition als Prinzipien erster Gültigkeit ausgegeben worden seien. Das hauptsächliche Anliegen von Humes anschließenden Ausführungen bestand nun darin, den Gedanken einer notwendigen oder metaphysischen Verbindung der beobachteten Zusammenhänge abzulegen und sich stets ihres ‚Gemacht-Seins‘ gewahr zu bleiben. In besonderem Maße betraf dies den Zusammenhang von Vergangenheit und Zukunft, also die Frage, ob wir in der Vergangenheit beobachtete Phänomene auch für die Zukunft erwarten dürfen;17 eine notwendige Voraussetzung für den Erkenntniswert empirischer Studien. Humes Antwort ist, dass dieser Zusammenhang nur in Kategorien von ‚Wahrscheinlichkeit‘ (probability) und Möglichkeit beschrieben werden kann, somit aufgrund der Ähnlichkeit der Erscheinungen.18 Und auch hier gab Hume zu bedenken, dass Ähnlichkeiten trügerisch sein können und erst recht kein innerer Zusammenhang zwischen den beobachteten Phänomenen hinter der Erfahrung bestehe.19 Die Übertragung von Erfahrungen aus der Vergangenheit in die Zukunft folge keiner Notwendigkeit, sondern der Gewohnheit des Menschen. In besonderem Maße betraf diese Problematik den Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Humes Bestrebung lag darin, den Ursache-Wirkungs-Zusammenhang jedweder metaphysischen Verbindung zu entlarven, die etwa eine heimliche Kraft oder Energie dahinter suggerierte.20 Die einzig erkennbare Macht hinter einem notwendigen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang sei die der Gewohnheit des Erkennenden.21 Die regelmäßig als Ursache und Wirkung auftretenden Erscheinungen erzeugten einen Glauben an eine dahinterstehende Gesetzmäßigkeit oder metaphysische Macht. Humes Lösung des Dilemmas, einer radikal skeptische Haltung kaum entrinnen zu können, bestand in der Haltung einer gemäßigten Form des Skeptizimus, wie er ihn in der Enquiry Concerning Human Understanding darlegte: There is indeed, a more mitigated scepticism or academical philosophy, which may be both durable and useful, and which may, in part, be the result of this Pyrrhonism, or excessive scepticism, when its undistinguished doubts are, in some measure, corrected by common sense and reflection.22

Gemäßigt werden sollten hier einerseits dogmatische Philosophen, deren erstarrte Standpunkte moderater, nützlicher und weniger überheblich wären, wenn sie der 17 18 19

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Hume, Treatise, S. 134. Ebd., S. 137. „That there is nothing in any object, consider’d in itself, which can afford us a reason for drawing a conclusion beyond it; and, That even after the observation of the frequent or constant conjunction of objects, we have no reason to draw any inference concerning any object beyond those of which we have had experience […].“ Vgl. ebd., S. 139. Ebd., S. 158. „Upon the whole, necessity is something, that exists in the mind, not in the objects […].“ Vgl. ebd., S. 165. Vgl. dazu Annette C. Baier, A Progress of Sentiments. Reflections on Hume’s Treatise. Harvard 1994, S. 70f. Hume, Enquiry, S. 161.

merkwürdigen Schwächen des menschlichen Geistes gewahr und würden die Neigung der Menschen zu hochfliegenden, metaphysischen Theorien akzeptierten. Die ‚Epoché‘ – die Selbstbeschränkung der Wissenschaft auf solche Gegenstände, die den begrenzten Fähigkeiten des menschlichen Geistes angemessen seien – war Humes Erkenntnisdesiderat.23 In der Urteilsbildung müsse sich der Wissenschaftler stets Rechenschaft über deren Grenzen und ihren konstruktiven Charakter ablegen beziehungsweise deren Analyse systematisch zu seiner Methode machen.24 Humes gezähmte Skepsis wurde mithin zur notwendigen Voraussetzung der Ausbildung einer wissenschaftlichen Methodologie.25 Die Zusammensetzung der Ideen ließ sich nach Hume auf drei maßgebliche Formen zurückführen: „RESEMBLANCE, CONTIGUITY in time or place, and CAUSE and EFFECT.“26 Hume nannte diese Zusammensetzungen ‚Relationen‘ oder ‚Beziehungen‘ und spezifizierte sie wiederum in sieben Untergruppen. Zunächst war die ‚Ähnlichkeit‘ (resemblance) der Phänomene zu benennen, die die Grundlage jeder philosophischen Relation darstellt, da erst sie den Vergleich ermögliche. Des Weiteren wird die ‚Identität‘ als Voraussetzung konstanter, unveränderlicher Gegenstände eingeführt. Dieser folgt direkt die Beschreibung des Verhältnisses in Bezug auf Zeit und Raum, die erst vergleichende Zuschreibungen – wie entfernt, angrenzend, über, unter, vorher oder nachher – zulässt. Alle Objekte, die in ‚Qualitäten‘ oder der Anzahl nach verglichen werden können, bergen weitere Zusammenhänge dieser Art. Schließlich besitzen Dinge auch noch gemeinsame ‚Qualitäten‘ oder sind gegensätzlich, wobei die Grundlage dieser Gegensätzlichkeit immer ein gewisser Grad von Ähnlichkeit ist. Schließlich bleibt als interessantester und gleichzeitig schwierigster Zusammenhang der von Ursache und Wirkung.27 Neben diesen philosophischen Grundrelationen der Vorstellungen bestehen nach Hume keine ‚abstrakten Ideen‘. Alle abstrakten Vorstellungen gingen auf sinnliche Eindrücke zurück und unterschieden sich nur in der Intensität des hinterlassenen Eindrucks und seiner innerseelischen Kopie.28 Damit war Humes Programm entfaltet. Eine künftige ‚Science of Man‘ konnte sich ganz auf die Empirie stützen, um dann ihre synthetisch-analytische Vorgehensweise zu untermauern. Die Metaphysik wurde ebenso wie die Logik als

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Ebd., S. 162. „It may be perhaps be esteemed an endless task to enumerate all those qualities, which make objects admit of comparison, and by which the ideas of philosophical relation are produced.“ Vgl. Hume, Treatise, S. 14. Zu den einzelnen Schritten des Dekonstruktionsvorgangs vgl. Baier, A Progress of Sentiments, S. 97ff. Zu diesem Zusammenhang vgl. die grundlegende Untersuchung von Markus Völkel, „Phyrrhonismus historicus“ und „fides historica“. Die Entwicklung der deutschen historischen Methodologie unter dem Gesichtspunkt der historischen Skepsis. Frankfurt a.M. / Bern / New York 1987, S. 335f. Hume, Treatise, S. 11. Ebd., S. 14f. Ebd., S. 19.

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Scheinwissenschaft abgelöst und durch eine induktiv untermauerte ‚Science of Man‘ ersetzt. Diese neuartige Anthropologie diente mithin nicht mehr den anderen Wissenschaften als Propädeutik, sondern wurde zum Zentrum aller Wissenschaften erhoben.29 Worin genau allerdings das empirische Datenmaterial für diese neue Anthropologie bestehen solle und wie die ‚Science of Man‘ im Einzelnen methodisch zu verfahren habe, waren Fragen, die Hume nur in zweiter Linie beschäftigten. Mit dem ‚Treatise‘ hatte der ‚Newton of the Mind‘ ein neuartiges Wissenschaftskonzept vorgestellt, das durch seine gänzliche Infragestellung des traditionellen Wissenssystems und seine skeptische Grundhaltung zu einem streitbaren Hasardstück geworden war, dessen erste Aufgabe darin bestand, die neue Methodenvorgabe gegen äußere Einwände und innere Instabilitäten abzusichern.30 Die zunächst verhaltene und später überaus kritische Rezeption des Buches sowie Humes eigene Einschätzung sind Zeugnis der schwierigen Geburt der ‚Science of Man‘, deren radikale Niederlegung erst in der moderateren Version der ‚Enquiry‘ ihre methodische Ausgestaltung fand.31 Hier kam Hume genauer auf die Methoden und vor allem den Umgang mit den Quellen der ‚Science of Man‘ zu sprechen. Diese Quellen sollten aus historischen Berichten und anthropologischen Feldstudien bestehen, die in der Hauptsache über Reiseberichte gewonnen werden konnten.32 Besonders die Geschichte bot ein Reservoir von ‚Fallstudien‘, die das Experiment in den Naturwissenschaften ersetzen konnten: These records of wars, intrigues, factions, and revolutions, are so many collections of experiments, by which the politician or moral philosopher fixes the principles of his science, in the same manner as the physician or natural philosopher becomes acquainted with the nature of plants, minerals, and other external objects, by the experiments which he forms concerning them.33

Die Geschichte war damit die wichtigste empirische Datenbasis für die ‚Science of Man‘.

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Reinhard Brandt hat hier auf den fundamentalen Unterschied zu Kants Anthropologie verwiesen, die als ‚Naturkunde des Menschen‘ weiterhin das „empirische Seitenfeld neben der als Transzendentalphilosophie erneuerten Metaphysik“ bildet. Vgl. Ders., Einführung, S. XI. „He has indeed turned objections to his own theory against the objectors!“ Vgl., Baier, A Progress of Sentiments, S. 75. „I had always entertained a notion, that my want of success in publishing the Treatise of Human Nature, had proceeded more from the manner than the matter, and that I had been guilty of a very usual indiscretion, in going to the press to early. I, therefore, cast the first part of that work anew in the Enquiry concerning Human Understanding, […].“ Hume, My Own Life, S. 3. Zur Rezeption des ‚Treatise‘ vgl. James Fieser, The Eighteenth-Century British Reviews of Hume’s Writings, in: Journal of the History of Ideas 57 (1996), S. 645–657, hier S. 646f. Antony Pagden versteht diese Verbindung von Geschichte und Anthropologie als ‚archetypisch‘ für die Entstehung der ‚Human Sciences‘. Vgl. Ders., Eighteenth-Century Anthropology and the „History of Mankind“, in: D. R. Kelley (Hg.): History and the Disciplines. The Reclassification of Knowledge in Early Modern Europe. Rochester 1997, S. 223–235, hier S. 231. Vgl. Hume, Enquiry, S. 83f.

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Für Humes eigenes Werk ist indessen auffällig, dass eine gewisse Trennung zwischen der Tätigkeit des Philosophen und der des Historikers vorliegt, da er seine historischen Arbeiten nicht direkt als Teile einer ‚Science of Man‘ auswies oder in philosophischen Studien auf eigene historische Werke zurückgriff. Die berufliche Zuschreibung Humes und seine spätere Wahrnehmung blieben angesichts der beiden Betätigungen als Philosoph und Historiker auch immer bemerkenswert zwiespältig. Hume hat keine der beiden ‚Berufungen‘ an der Universität als Hochschullehrer ausüben können. Er bemühte sich mehrfach um eine Professur für Philosophie und betrieb gleichzeitig seine historischen Studien als Privatgelehrter.34 Während dem Philosophen die zeitgenössische Anerkennung – zumindest im eigenen Land – weitgehend versagt blieb und seine Bekanntheit vor allem auf seiner Umstrittenheit basierte, war er als Historiker anerkannt und berühmt.35 Betrachtet man jedoch Humes Werk als einheitlichen Korpus und versteht seine Geschichtsschreibung nicht als lukrativen Nebenerwerb, so wird deutlich, dass Philosophie und Geschichte sehr eng aufeinander bezogen sind.36 Allerdings erscheint es problematisch, etwa im Falle der History of England, von einer ‚philosophischen Geschichtsschreibung‘ zu sprechen.37 Humes Geschichte von England blieb weitgehend an der Schilderung der politischen Ereignisse orientiert und ihre Innovationskraft lag weniger in einem neuartigen Umgang mit Quellen oder einer theoretischen Grundlegung der Geschichte, als vielmehr in der unparteiischen Haltung zwischen den Whig- und Tory-Fraktionen sowie einem literarisch anspruchsvollen, 34

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Die Stigmatisierung als Häretiker, die Hume seit dem Erscheinen des ‚Treatise‘ erfahren hatte, erwies sich stärker als der rührige Einsatz seiner Freunde im Bemühen um einen Lehrstuhl: „I am inform’d, that such a popular Clamour has been raised against me in Edinburgh, on Account of Scepticism, Heterodoxy & other hard Names, which confound the ignorant, that my Friends find some Difficulty, in working out the Point of my Professorship, which once appeared so easy.“ Vgl. Hume to Matthew Sharpe of Hoddam 1744, in: Letters, Bd. 1, S. 59. Zu Humes ‚academic illusion‘ bei der Bewerbung um einen Lehrstuhl für Ethik und Pneumatik in Edinburgh vgl. Mossner, The Life of David Hume, S. 153ff. Dieser Hiatus findet auch in zwei voneinander getrennten Rezeptionslinien seinen Niederschlag. Im Unterschied zu der Einschätzung seiner Zeitgenossen wird David Hume heute vor allem als Philosoph wahrgenommen. Sein Ruhm im 18. Jahrhundert als ‚English Tacitus‘ verdankte sich indes vor allem der Publikation seiner sechsbändigen History of England (1754– 1762), was sich auch finanziell für ihn auswirkte: „I was become not only independent, but opulent.“ Vgl. Hume, My Own Life, S. 6. Abgesehen von einzelnen Versuchen liegt keine überzeugende Studie vor, die beide Anteile des Humeschen Werks als zusammengehörig interpretiert. Unter den älteren Arbeiten ist hinzuweisen auf die kritische Studie von Julius Goldstein, Die empiristische Geschichtsauffassung David Humes mit Berücksichtigung moderner methodologischer und erkenntnistheoretischer Probleme. Leipzig 1903; und auf eine bei Max Scheler entstandene Dissertation. Vgl. Arno Wegrich, Die Geschichtsauffassung David Hume’s im Rahmen seines philosophischen Systems. Köln 1926. Vgl. Nicholas Phillipson, Hume. New York 1989, S. 4. In diesem Sinne auch Gerhard Streminger, David Hume als Historiker, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 40 (1986), S. 161–180, hier S. 161f. In diesem Sinne argumentiert Ernest Mossner: „The recognition of this essential affinity of history and philosophy is what makes Hume’s History of England ‚philosophical‘.“ Vgl. Ders., The Life of David Hume, S. 301.

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ironischen Stil.38 Auch wenn es sich dem ersten Anschein nach um eine ‚Nationalgeschichte‘ handelte, war die History of England in ihrer gesamten Anlage kosmopolitisch ausgerichtet, da die Identitätsbildung der Leser gerade im Abgleich mit den Ähnlichkeiten und Unterschieden zu anderen Nationen erzielt werden sollte.39 Wie sich an diesem Werk, aber vor allem auch an den politischen Essays zeigen lässt, diente der Einsatz von Geschichte Humes politischer Aufklärungsarbeit und der Erziehung seiner Leser zu kritischen und mündigen Bürgern.40 Vor diesem Hintergrund wurde Humes Verständnis von Geschichte der ‚Historia Magistra Vitae‘-Tradition zugeordnet und damit als Ausdruck der klassischen Rhetorik im Sinne einer Moral in Beispielen gewertet.41 Dieser Interpretation ist insofern zuzustimmen, als nur unter Humes wiederholtem Verweis auf das gleichbleibende Wesen des Menschen die Geschichte als ‚storehouse of examples‘ für die ‚Science of Man‘ zu etablieren war und ihr damit die klassische Rolle als Hilfswissenschaft für moralische und politische Fragen zugewiesen werden konnte.42 Andererseits wollte Hume mit der ‚Science of Man‘ keine weitere Einzelwissenschaft und keinen Ersatz für die traditionelle Moralphilosophie schaffen, der die Geschichte als Propädeutik dienen solle. Das Menschenstudium wird als Teil und Voraussetzung einer umfassenden Naturphilosophie angesehen. Die Befragung der Geschichte als empirische Grundlegung der ‚Science of Man‘ wird mit den Experimenten in der Natur verglichen und somit nicht als unerschöpflicher Fundus von Anekdoten im rhetorischen Sinne herangezogen, sondern vermag entsprechend dem Naturgeschehen über die Entwicklung bestimmter menschlicher Eigenarten Auskunft zu geben.43 Hume nimmt damit eine Sonderstellung im Geschichtsdenken 38

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Hayden White hat diese Ironie als stilistischen Ausdruck der Haltung des Skeptizismus interpretiert, die auch Humes Geschichtswerke bestimmte. Vgl. Ders., Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt/M. 1994, S. 78f. Die besondere literarische Anlage der ‚History‘ bestand darin, dass Hume sie rückwärts, beginnend mit dem 17. Jahrhundert bis zur Invasion Julius Caesars, erzählte. Vgl. David Hume, The History of England from the Invasion of Julius Caesar to the Revolution in 1688. 8 Bde., a new Edition with the Authors last Corrections and Improvements. London 1807. Vgl. dazu die hervorzuhebenden Ausführungen von Karen O’Brien, Narratives of Enlightenment. Cosmopolitan History from Voltaire to Gibbon. Cambridge 1997, S. 3ff. Mit dieser Interpretation folge ich Osterhammel, Epochen der britischen Geschichtsschreibung, S. 170. Siehe auch Jürgen Osterhammel, Nation und Zivilisation in der Britischen Historiographie von Hume bis Macaulay, in: HZ 254 (1992), S. 281–340, hier S. 309. Vgl. dazu auch O’Brien, Narratives of Enlightenment, S. 4. Vgl. Streminger, Hume als Historiker, S. 167. Reinhart Koselleck sieht in der Verwendung des ‚Historia Magistra Vitae‘-Begriffs „ein untrügliches Indiz für die hingenommene Stetigkeit der menschlichen Natur, deren Geschichten sich zu wiederholbaren Beweismitteln moralischer, theologischer, juristischer oder politischer Lehren eignen“. Vgl. Ders., Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte, in: Ders., Vergangene Zukunft, S. 38–66, hier S. 40. Ernst Cassirer räumt Hume insofern eine Sonderposition in der ‚Eroberung der geschichtlichen Welt‘ ein, als „er die Geschichte nicht als stetige Entwicklung [beschreibt]; aber er erfreut sich an ihrer rastlosen Veränderung, an der Anschauung des Werdens als solcher. Er sucht in diesem Werden keine ‚Vernunft‘ und er glaubt nicht an sie; aber statt dieses rationalen Interesses

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der Aufklärung ein, als er einerseits an einem statischen Geschichtsbild festhält und andererseits die beharrende Grundstruktur benötigt, um seine psychologischen Studien zu regelhaften Veränderungen der menschlichen Natur anstrengen zu können. Die Geschichte wird als Erfahrungsraum benutzt, der es erlaubt, unterschiedliche Phänomene simultan zu betrachten, als Ausdruck identischer Verhaltensweisen zu interpretieren und Entwicklungsmuster durch die Verknüpfung von vergleichbaren Ursachen historischer Prozesse für ähnliche Wirkungen festzustellen.44 Gleichzeitig wäre es verfehlt, bei Hume eine ‚Fortschrittsidee‘ im Sinne einer teleologischen Betrachtung des Geschichtsverlaufs ausmachen zu wollen.45 Seine Charakterisierung der politischen Fortentwicklung der Gesellschaft ist zwar an die Aufeinanderfolge von Verfassungstypen gebunden, deren Ideal für das Gedeihen der Kultur in der republikanischen Verfassung gesehen wird; der Verfall der Wissenschaften und Künste ist jedoch gleichermaßen Bestandteil dieses Entwicklungskonzepts.46 Der Ablauf der geschichtlichen Ereignisse stellt sich dem Beobachter in der selben Weise als regelhafte Ereigniskette dar wie die Vorgänge des Gedeihens und Vergehens in der äußeren Natur.47 Die Geschichte wird in den Kosmos des naturhaften Geschehens miteinbezogen und von Hume insofern als ‚Natural History‘ verstanden, als sie einer naturwissenschaftlichen Betrachtung unterzogen werden kann.48 Diese beobachteten Zusammenhänge sollten jedoch nicht, in Übereinstimmung mit Humes Erkenntnistheorie, als notwendige Verbindungen von

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ist es ein psychologisches und ein ästhetisches Interesse, was ihn immer zu ihm zurückführt.“ Vgl. Ders., Die Philosophie der Aufklärung, S. 302. „[…] [H]e made a strong theoretical case for the position that, given man’s nature and situation, the future will resemble the past, that history provides us with illustrations of the probable consequences of actions taken under various circumstantial conditions.“ Vgl. Corvey Venning, Hume on Property, Commerce, and Empire in the Good Society. The Role of Historical Necessity, in: Journal of the History of Ideas 37 (1976), S. 79–92, hier S. 79. Diese Anschauung vertritt Ulrich Voigt, der zwar die ‚Fortschrittsidee‘ bei Hume in vielerlei Hinsicht einschränkt, aber dennoch den unzutreffenden Terminus beibehält. Vgl. Ders., David Hume und das Problem der Geschichte. Berlin 1975, S. 48ff. „That when the arts and sciences come to perfection in any state, from that moment they naturally [...] decline, or seldom or never revive in that nation, where they formerly flourished.“ Vgl. David Hume, Of the Rise and Progress of the Arts and Sciences, in: Ders., The Philosophical Works, hg. v. T. H. Green / T. H. Grose. Bd. 3. London 1882, S. 174–197, hier S. 195. Diese Analogie findet ihren Niederschlag häufig im Vergleich mit dem Gedeihen und Verderben von Pflanzen: „The arts and sciences, like some plants, require a fresh soil; and however rich the land may be, and however you may recruit it by art or care, it will never when once exhausted, produce anything that is perfect or finished in the kind.“ Vgl. ebd., S. 197. Humes Begriff der ‚Natural History‘ wurde besonders auf sein gleichnamiges Werk zur Naturgeschichte der Religion zurückgeführt. Vgl. David Hume, The Natural History of Religion, in: Ders., Essays, Bd. 2, S. 307–363. Für Dugald Stewart ist Humes ‚Natural History of Religion‘ sogar stilbildend für eine neue literarische Gattung, die Stewart ‚Conjectural History‘ nannte: „[...] [A]n expression which coincides pretty nearly in its meaning with that of Natural History, as employed by Mr. Hume [*see his Natural History of Religion] […].” Vgl. Ders., An Account of the Life and Writings of Adam Smith, S. XLVII.

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Ursache und Wirkung gedeutet werden.49 Woraus sich erklärt, weshalb in Humes Konzept der ‚Natural History‘ keinesfalls Prinzipien eines natürlichen Fortschritts, also Gesetzmäßigkeiten, sondern nur Regelmäßigkeiten im Verlauf der Geschichte festgestellt werden können.50 Humes Auffassung von der Kontingenz im eigentlichen Sinne historisch-politischer Prozesse erlaubte nur, für allgemein anthropologische Beobachtungen grobe Entwicklungslinien nachzuzeichnen. Sein Interesse galt deshalb allen voran allgemeinen zivilisatorischen Entwicklungen und erst in zweiter Linie den sekundären, gesellschaftlichen Systemen, wie Religion, Wirtschaft oder Recht. Erst aufgrund der Feststellung der allgemein gültigen anthropologischen Grundlagen konnten wandelbare, historische Systeme verglichen, dekonstruiert und damit erklärt werden.51 Die allgemein gültigen Prinzipien, die mit Hilfe der ‚Science of Man‘ zur Grundlegung aller anderen Wissenschaften dienen sollten, lagen nicht in der Geschichte, sondern in der Natur des Menschen. Hume wollte durch die wissenschaftlich gesicherte Kenntnis der Antriebe menschlichen Handelns Erkenntnisse über Phänomene der Gesellschaft erlangen, wie beispielsweise Religion, Ökonomie und Sitten. Die Geschichte selbst blieb ein wissenschaftlich nicht zu erfassender Raum, dessen Gesetze, ebenso wie die der Natur, nicht zu entschlüsseln waren. Aus diesen Gründen scheint es zumindest problematisch, aus den verschiedenen Schriften Humes Aussagen über den Verlauf der Geschichte zu einer konsistenten Geschichtsphilosophie synthetisieren zu wollen.52 Die Geschichte lag nicht im Fokus seines wissenschaftlichen Interesses, sondern bot der ‚Science of Man‘ für die Untersuchung der Motive menschlichen Handelns eine empirische Ebene. Der Nutzen der Geschichte lag also weiterhin in ihrer propädeutischen Funktion.53 49

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Vgl. Hermann Gogarten, David Hume als Geschichtsschreiber, in: AfK 61 (1979), S. 120–153, hier S. 147. Demzufolge ist auch der Interpretation von Christopher Berry zu widersprechen, der zumindest aufgrund der Uniformität der menschlichen Natur und die Konstanz der daraus entstehenden Tätigkeiten eine ‚Notwendigkeit‘ in den menschlichen Handlungsweisen bei Hume zu erkennen glaubt. Vgl. Ders., Hume, Hegel and Human Nature. Den Haag 1982, S. 59. Vgl. Wegrich, Die Geschichtsauffassung, S. 70. Die Entstehung der Religion beschrieb er deshalb als sekundäres Phänomen, das nicht ersten anthropologischen Prinzipien, wie der Neigung zu glauben, gehorche: „The belief of invisible, intelligent power has been very generally diffused over human race, in all places and all ages; but it has neither perhaps been so universal as to admit of no exception, nor it has been in any degree, uniform in the ideas, which it has suggested.“ Vgl. Hume, Natural History of Religion, S. 309. Vgl. dazu Lorne Falkenstein, Hume’s poject in ‚The natural history of religion‘, in: Religious Studies 39 (2003), S. 1–21, hier S. 3. In diesem Sinne schreibt Duncan Forbes: „Hume’s philosophical history has gaps and inconsistencies and hesitancies.“ Vgl. Ders., Hume’s Philosophical Politics. Cambridge 1975, S. 309. Auch Ronald L. Meek macht auf das Problem aufmerksam. Vgl. Ders., Social Science and the Ignoble Savage. Cambridge 1976, S. 30. Dies wird besonders deutlich in Humes kurzem Essay über das Studium der Geschichte, das er besonders dem schönen Geschlecht in aufklärerischer Absicht anempfahl: „There is nothing which I would recommend more earnestly to my female readers than the study of history [...]. But history is a most improving part of knowledge, as well as an agreeable amusement; and in a great part in what we commonly call Erudition […]. I must add, that history is not only a valu-

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Humes Erkenntnistheorie hatte durch ihre skeptische Haltung hinsichtlich der Grenzen des Erkennens und ihre daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen über die Selbstbescheidung der Wissenschaften auf empirisch belegbare Hypothesen tatsächlich eine Revolution des Geistes bewirkt, die ihm die Zuschreibung eines ‚Newton of the Mind‘ eintrug. Doch als ‚Newton der Naturgeschichte‘ hätte sich Hume wahrscheinlich nicht verstanden wissen wollen und als ein solcher galt den Zeitgenossen vielmehr sein Freund Adam Smith: „The great Montesquieu pointed out the road. He was the Lord Bacon in this branch of Philosophy. Dr. Smith is the Newton“.54 Die Naturgeschichte war für die schottischen Kollegen David Humes zur probaten Form der Umsetzung des Projektes der ‚Science of Man‘ geworden, indem sich ihr Interesse zunehmend von der Natur des Menschen auf den Gattungsverlauf verschob. Adam Smith erweiterte dabei die Rolle der Geschichte über die rein rhetorische Tradition hinaus, indem er ihre Bedeutung von einem Erfahrungsraum in einen offenen Gestaltungsraum transformierte: The design of historical writing is not merely to entertain; (this perhaps is the intention of an epic poem); besides that, it has in view the instruction of the reader. It sets before us the more interesting and important events of human life, points out the causes by which these events were brought about and by this means points out to us by what manner and method we may produce similar good effects and avoid similar bad ones.55

Innerhalb des traditionellen Genres der Naturgeschichte bot sich die Möglichkeit, den Menschen – wie jedes andere Naturwesen auch – als Teil des Naturgeschehens zu interpretieren und damit die ‚Wissenschaft vom Menschen‘ als umfangreiches Forschungsunternehmen einzurichten. Adam Ferguson stellte in diesem Zusammenhang Reflexionen über das Verhältnis von ‚science‘ und ‚natural history‘ an und kam zu dem Ergebnis, dass die Wissenschaft von der Diversität der Fakten zu allgemeinen Theorien und Regeln aufzusteigen habe. Die Naturgeschichte habe dagegen den Vorteil, den Handlungsspielraum der Menschen auf die Frage hin auszuloten, was tatsächlich ‚praktikabel‘ für die Zukunft sei. Auf diese Weise könne man sich durch die Naturgeschichte nicht nur Wissen, sondern – über die Kenntnis der Praktikabilität – auch gesellschaftspolitische Macht aneignen.56

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able part of knowledge, but opens the door to many other parts, and affords materials to most of the sciences.“ Vgl. Ders., Of the Study of History, in: Hume, Essays, Bd. 2, S. 388–391. Vgl. John Millar, An Historical View of the English Government. Bd. 2. London 1787, S. 431. In einem ähnlichen Sinne schreibt Jeremy Bentham: „What Bacon was to the physical world, Helvetius was to the moral. The moral world had therefore had its Bacon; but its Newton is yet to come.“ Zitiert nach Dierse, „Der Newton der Geschichte“, S. 169. Adam Smith, Lecture XVII, Wednesday January 5, 1763, in: Ders., Lectures on Rhetoric and Belles Lettres, reported by a student, 1762–1763, hg. v. J. M. Lothian. London u.a. 1963, S. 84–92, hier S. 85. Vgl. Adam Ferguson, Of the Science of which the Subject is Mind, in: Unpublished Essays, MS. Dc. 1. 42 **, No. 22, (EUL), [unpag.]. Für hilfreiche Hinweise zu den bislang unpublizierten ‚Essays‘ von Adam Ferguson danke ich Vincenzo Merolle, dessen gründliche Edition und Kommentierung der Werke auf dem Weg ist.

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Unter der Ägide der induktiv verfahrenden neuen Wissenschaften war es möglich, die Geschichtsschreibung unter dem Dach der Naturgeschichte schrittweise zu emanzipieren. Die Bedingungen und Voraussetzungen dieses Forschungsprojektes lagen nicht nur in einer erneuerten Erkenntnistheorie, sondern konnten auf Vorläuferunternehmungen dieser Art, vor allem aus der jüngeren französischen Tradition der ‚science de l’homme‘, zurückgreifen. 3.1.1. Anthropologische Vorannahmen Voraussetzung der ‚Science of Man‘, die ihre empirische Grundlage aus historischen und ethnologischen Berichten beziehen sollte, war eine Methode, die es ermöglichte, Erfahrungen und darüber hinaus Fremderfahrungen, wie etwa Reiseberichte, darzustellen und zu analysieren. Um also Aussagen über historische Fakten und fremde Völker, dem neuen Wissenschaftsparadigma gemäß, eine intersubjektive Geltung zu verschaffen, mussten anthropologische Bedingungen möglicher Erfahrung gefunden werden. ‚Anthropologie‘ war seit dem Humanismus die Bezeichnung für die ‚doctrina humanae naturae‘ – die ‚Lehre von der menschlichen Natur‘.57 Diese beinhaltete sowohl die geistige als auch die körperliche Natur des Menschen, die als ‚psychologia‘ und ‚somatotomia‘ abgehandelt wurden. In der Philosophie von René Descartes (1596–1650) wurde, entgegen dieser prinzipiellen Einheit, die so genannte ‚Doppelnatur‘ des menschlichen Wesens hervorgehoben. Dies geschah vor dem Hintergrund des mechanisch-mathematischen Weltbildes von Descartes, dem auch der Körper des Menschen unterworfen wurde, um damit die ‚unkörperliche‘ Seele als bewegende Ursache auszuschließen. Dadurch veranlasste Descartes einen strengen Dualismus, der die Vernunftnatur des Menschen anderen Gesetzen unterstellte als seinen körperhaftes Wesen. Auf dieser argumentativen Grundlage wurde die Anthropologie ein Teil der Naturphilosophie und deren physikalisch-mechanischer Erklärung.58 Einen anderen Weg schlug Francis Bacon ein, der der Anthropologie in seinem Wissenschaftssystem nicht nur eine gleichberechtigte Position neben Theologie und Physik zubilligte, sondern eine umfassende – über die psychosomatische Betrachtung des Menschen hinausgehende – ‚doctrina de homine‘ entwarf.59 Durch die weitreichende Wirkung von Bacons Wissenschaftssystematik im 18. Jahrhundert wurde auch seine wissenschaftssystematische Anerkennung der Anthropologie

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Mareta Linden bezieht sich in ihrer detaillierten Studie zum Anthropologiebegriff hier auf Otto Casmanns (1562–1607) Psychologia anthropologica; sive animae humanae doctrinae (1594). Vgl. Dies., Untersuchungen zum Anthropologiebegriff des 18. Jahrhunderts. Bern / Frankfurt a.M. 1976, S. 1. Vgl. ebd., S. 6f. Vgl. dazu Seifert, Cognitio historica, S. 122.

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als selbstständige philosophische Disziplin an prominenter Stelle übernommen.60 Diese Übernahme umfasste, über die Bestimmung der Natur des Menschen hinaus, auch dessen Einbettung in seine natürlichen und historischen Umstände. Deren verschiedene Dimensionen lagen wiederum in der Beschreibung des Menschen hinsichtlich seiner Vorzüge und Mängel, der Frage nach der Verbindung von Körper und Geist und schließlich in der Analyse des Menschen als Gattungswesen in Form der so genannten ‚Naturgeschichte‘. Bacons Grundlegung der ‚doctrina de homine‘ blieb sowohl hinsichtlich der Erweiterung ihres Gegenstandes als auch in ihrer ‚doktrinären‘ Darlegungsform ein maßgeblicher Ausgangspunkt für die schottischen Denker. Dennoch war es nicht die ‚Anthropologie‘ selbst, der die Untersuchungen der Autoren galten, da durch die Erweiterung ihrer Themenstellung eine neue Fragerichtung hinsichtlich der eigenen Spezies gegeben war.61 Dementsprechend finden sich die Schriften auch nicht als ‚Anthropology‘, sondern vielmehr als ‚Natural History‘, ‚History of Man‘, ‚History of Mankind‘ betitelt und gattungsmäßig gekennzeichnet.62 Nichtsdestotrotz nahmen die Untersuchungen stets ihren Ausgang bei den anthropologischen Bedingungen der Naturgeschichte des Menschen. 3.1.2. Das Axiom von der ‚Uniformität der menschlichen Natur‘ Um die Allgemeingültigkeit und damit die Wissenschaftlichkeit der Aussagen über die Prinzipien der menschlichen Natur gewährleisten zu können, bedurfte es einer philosophischen Fundierung der ‚Science of Man‘. Eine solche philosophische Grundlegung bestand in der Annahme von der ‚Uniformität der menschlichen Natur‘, die besagte, dass das menschliche Wesen zu allen Zeiten und überall in der Welt gleichbleibend sei.63 Die Vorstellung von der gleichbleibenden Natur des 60

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Zum Beispiel die Aufteilung der Wissenschaften in 1. Gotteskunde, 2. Menschenkunde, 3. Naturkunde in der Encyclopédie. Das Verhältnis von Philosophie und physischer Menschenkunde wird folgendermaßen bestimmt: „La Philosophie nous montre donc ce qui peut arriver dans le monde par les forces des corps & par la puissance des esprits. On nomme pnéumatologie ou doctrine des esprits, la partie de la Philosophie où l’on explique ce que peuvent effectuer les esprits; & l’on appelle physique ou doctrine de la nature cette autre partie où l’on montre ce qui est possible en vertu des forces des corps.“ Vgl. Encyclopédie, Art. ‚Philosophie‘, Bd. 12, S. 511–515, hier S. 513. Werner Krauss hat bereits vor einiger Zeit darauf hingewiesen, dass die ‚Anthropologie‘ im 18. Jahrhundert mehr als Fragestellung denn als Disziplin fungierte. Vgl. Ders., Zur Anthropologie des 18. Jahrhunderts. Die Frühgeschichte der Menschheit im Blickpunkt der Aufklärung. Berlin 1978, S. 12. Chambers definiert ‚Anthropology‘ als „a discourse, or treatise upon man, or human nature: considered as in a found or healthy state.[…] Anthropology includes the consideration both of the human body and soul, with the law of their union, and the effects thereof, as sensation, motion, &c“. Vgl. Chambers, Art. ‚Anthropology‘, in: Cyclopaedia, Bd. 1, [unpag.]. Die Annahme von der ‚einen‘ menschlichen Natur ist fest in der Naturrechtsphilosophie verankert. Otto Dann hat darauf hingewiesen, dass sie dort vor allem zur Grundlegung der Gleichheit vor dem Gesetz diente, aber auch die maßgebliche Grundlage für das Gleichheitsdenken der

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Menschen war eine Übertragung der Theorie von der uniformen Natur(umwelt), die der jüngeren Naturforschung als stabiler Forschungsrahmen diente.64 Die Vorstellung von einer stabilen Naturumwelt war wiederum die Bedingung für die Erforschung der sie bestimmenden Gesetzmäßigkeiten.65 Zunächst wurde der Mensch als Teil dieser Ordnung mit einer einheitlichen Ausstattung eingeführt. David Hume ließ keinen Zweifel an der Richtigkeit dieser Annahme aufkommen: „It is universally acknowledged that there is a great uniformity among the actions of men, in all nations and ages, and human nature remains still the same, in its principles and operations“.66 Dabei ging es Hume nicht um eine ontologische Bestimmung des Menschen oder seines Geistes, sondern ausschließlich um die Erkenntnis der Motive seines Handelns.67 Erst die Auffindung der Zusammenhänge innerhalb dieser Antriebe schuf die Datenbasis der ‚Science of Man‘: The same motives always produce the same actions. [...] Ambition, avarice, self-love, vanity, friendship, generosity, public spirit: these passions, mixed in various degrees, and distributed through society, have been from the beginning of the world, and still are, the sources of all the actions and enterprises, which have ever been observed among mankind.68

Stünde hinter diesen Beobachtungen der variablen Äußerungen menschlichen Handelns nicht ein gleichbleibendes Wesen, wäre es dem Wissenschaftler nach Hume nicht möglich, vom Besonderen zu Allgemeinen aufzusteigen und vice versa, das heißt, von den vereinzelten empirischen Beobachtungen auf die Prinzipien der menschlichen Natur zu schließen und umgekehrt. Hume charakterisierte in diesem Zusammenhang seine proto-hermeneutische Methode:

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Sozialtheorie in der Konzeption einer ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ bildete. Gleichzeitig sei jedoch die als faktisch angenommene Uniformität der menschlichen Natur von der methodischen Vorgabe ‚de iure‘ gleicher Rechtssubjekte, wie im Gesellschaftsvertrag bei Hobbes, zu unterscheiden. Vgl. Ders., Einleitung, in: O. Dann / D. Klippel (Hg.): Naturrecht, Spätaufklärung, Revolution. Hamburg 1995 (Studien zum 18. Jahrhundert 16), S. 1–3, hier S. 1. Vgl. dazu auch Ders., Gleichheit und Gleichberechtigung. Das Gleichheitspostulat in der alteuropäischen Tradition und in Deutschland bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert. Berlin 1980, S. 95. Neuerdings ist darauf verwiesen worden, dass Newtons Modell des ‚absoluten Raums‘ eine Vorraussetzung für die Erkenntnistheorie des 18. Jahrhunderts schuf. Vgl. dazu Marcus Sandl, Raumvorstellungen und Erkenntnismodelle im 18. Jahrhundert, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000), S. 419–431, hier S. 422. Es muss jedoch betont werden, dass die These von der ‚einen‘ Menschennatur, etwa bei Wolff, ihre Grundlegung durch die ältere Naturrechtstheorie erfahren hatte. Reinhart Koselleck nennt in diesem Zusammenhang Bacon, dem daran gelegen war, die Gesetze der Natur zu erkennen, um sie beherrschbar zu machen. Vgl. dazu Ders., Art. ‚Fortschritt‘ in: Brunner / Conze / Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, S. 351–423, hier S. 367. Hume, Enquiry, S. 83. Gilles Deleuze stellte seiner Untersuchung zu David Humes Erkenntnistheorie die wichtige Feststellung voran, dass es Humes erstes Anliegen gewesen sei, „an die Stelle einer Psychologie des Geistes eine Psychologie der Affekte zu setzen“. Vgl. Ders., David Hume. Frankfurt a.M. / New York 1997, S. 7. Hume, Enquiry, S. 83.

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By means of this guide, we mount up to the knowledge of men’s inclinations and motives, from their actions, expressions, and even gestures; and again, descend to the interpretation of their actions from our knowledge of their motives and inclinations.69

Dennoch war Hume nicht daran gelegen, aus diesen Überlegungen einen Determinismus abzuleiten beziehungsweise dadurch die Vorstellung zu untermauern, dass alle Menschen unter den gleichen Bedingungen immer genau in der gleichen Art und Weise empfinden und handeln würden.70 Humes Verständnis der ‚Uniformität der menschlichen Natur‘ war mehr als eine wissenschaftliche Annahme, sondern darüber hinaus ein unumstößlicher Erfahrungsgrundsatz: But were there no uniformity in human actions, and were every experiment, which we could form of this kind irregular or anomalous, it were impossible to collect any general observation concerning mankind; and no experience, however accurately digested by reflection, would ever serve to any purpose.71

Erst die Feststellung dieses allgemein geteilten Erfahrungsschatzes – auf der Basis des ‚common sense‘ – schuf die Voraussetzung für den wissenschaftlichen Einsatz der These von der einen Menschennatur.72 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, in welcher Weise Hume die Geschichte als Experimentierfeld der verschiedenen Handlungsäußerungen des Menschen einzuführen gedachte. Seine ‚Experimente‘ galten jedoch nicht den Bedingungen im Feld selbst, sondern den Gleichförmigkeiten der darin Handelnden. Nur so konnte neben dem synchronischen Blick auf die Naturumwelt auch die Geschichte zum diachronischen Erfahrungsraum werden: Would you know the sentiments, inclinations, and course of life of the Greeks and Romans? Study well the temper and actions of the French and English: You cannot be much mistaken in transferring to the former most of the observations which you have made with regard to the latter.73

Diese Überlegungen führten Hume zu seinem oft zitierten Diktum über die Funktion der Geschichte: „Mankind are so much the same in all times and places that history informs us of nothing new or strange in this particular“.74 Die ‚Eine Natur des Menschen‘ und die daraus resultierenden Handlungen gehörten nach Hume 69 70 71 72

73 74

Ebd., S. 84f. „Such a uniformity in every particular, is found in no part of nature.“ Vgl. ebd., S. 85. Als Beispiel dient Hume hier der alte Landwirt, der die Motive und den Erfolg seines Handelns aus einer größeren Erfahrung motivieren kann, als der junge Bauer. Vgl. ebd., S. 85. Die Frage, ob es sich bei Humes ‚Uniformitätsthese‘ um eine substantielle oder eine methodologische Vorschrift handelt, beschäftigt die Forschung seit vielen Jahren. M.E. sind beide Vorstellungen nicht voneinander trennbar, da jede substantielle Bestimmung bei Hume einen konstruktiven und damit methodologisch reflektierten Gehalt hat. Vgl. zu der Debatte Simon Envine, Hume, Conjectural History, and the Uniformity of Human Nature, in: Journal of the History of Philosophy 31 (1993), S. 589–606, hier S. 592. Hume, Enquiry, S. 83. Ebd.

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ebenso zum allgemeinen Erfahrungsschatz der Menschheit wie zu dem Gesetze der Natur. Was hier als Zirkelschluss, insbesondere bei Humes strengen Vorgaben vom Primat der Empirie, interpretiert werden könnte, war in der Naturrechtslehre und gesamten europäischen Aufklärungsphilosophie ein unbestrittenes Axiom. Spätestens Voltaires Festschreibung der ‚Uniformität der menschlichen Natur‘ in seinem berühmten Essai sur l’histoire générale et sur les mœurs et l’esprit des nations (1756) bestärkte viele Autoren der Zeit in ihrer Ausgangsthese.75 Die Annahme von der gleichbleibenden Natur des Menschen, die einen integralen Bestandteil der Aufklärungsphilosophie bildete, hat das Urteil über das ‚unhistorische Denken‘ in der Aufklärung immer wieder bestärkt.76 Der Impetus hinter der Feststellung der Uniformität des menschlichen Wesens war allerdings das Gegenteil dessen, was später als Signum aufklärerischer Abstraktheit und Vernachlässigung des Besonderen gegenüber dem Allgemeinen durch eine übergroße Neigung zu Theorien gedeutet und kritisiert wurde.77 Zunächst sollte damit die Naturhaftigkeit menschlicher Existenz hervorgehoben werden, um mit dieser anthropologischen Fundierung den Menschen ebenso in die ‚Natural History‘ eingliedern zu können wie alle anderen Elemente der Natur. Die Vertreter der ‚Natural History‘ verstanden sich als Teil eines gewaltigen Unternehmens, dessen Aufgabe darin bestand, die gesamte Schöpfung neu zu beschreiben und zu klassifizieren. Der Mensch sollte dabei keine Ausnahme bilden und ihm musste, wie jeder Art, eine gesonderte Rubrik in der ‚Bibliothek der Natur‘ zugeordnet werden.78 Durch 75

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„L’ homme, en générale, a toujours été ce qu’il est.“ Voltaire, Essay sur les mœurs, in : Œuvres complètes. hg. v. L. Moland. Bd. 9. Paris 1880, S. 21. Cassirer sieht in Voltaires eigentümlicher Mischung aus Philosophie und Geschichte den maßgeblichen Impuls für die Versuche einer ‚philosophischen Geschichtsschreibung‘ im 18. Jahrhundert. Vgl. Ders., Die Philosophie der Aufklärung, S. 268. Hume selbst war weder ein enthusiastischer Anhänger der Philosophie noch der Geschichtsschreibung Voltaires. Vgl. Mossner, The Life of David Hume, S. 487. Nach Gogarten beispielsweise sei Hume „der irrigen Meinung, daß die Menschheit zu allen Zeiten und an allen Orten die selbe sei, eine Anschauung, die sich auf sein geschichtliches Denken nachteilig auswirken musste, da dann die Geschichte nicht Neues oder Fremdartiges mehr zu bieten hatte“. Vgl. Ders., David Hume, S. 147. Eduard Fueter wiederholte diesen Vorwurf auch in einer vermeintlich positiven Bilanzierung der Aufklärungshistorie, indem er schreibt, „daß die Historiker der Aufklärung zwischen Menschen und Menschen keinen Unterschied gemacht und Individuen der verschiedenen Zeiten und Länder, als wenn es mathematische Größen wären, einander gleich gesetzt hätten“. Vgl. Ders., Geschichte der Neueren Historiographie. München / Berlin 1911, S. 341. In der jüngeren Hume-Forschung wurde die Bedeutung der ‚Uniformitätsthese‘ abgeschwächt, um Humes „historicist conception of human nature“ hervorzuheben. Vgl. Envine, Hume and Conjectural History, S. 591. Dagegen ist einzuwenden, dass Hume seine historischen Profilierungen separater Entwicklungsstränge nur durch die Annahme der substantiellen Gleichheit der Menschen methodisch abgesichert sah und der Einsatz der ‚Uniformitätsthese‘ deshalb nicht im Gegensatz zu seinen historischen Analysen interpretiert werden muss. Nach Adam Ferguson müssten alle Formen menschlicher Lebensäußerungen gesammelt werden: „The works of fancy like the subjects of natural history, are distinguished into classes and species; the rules of every particular kind are distinctly collected; and the library is stored like a warehouse, with the finished manufacture of different arts.“ Vgl. Ders., Essay on the History of Civil Society [1767], hg. v. F. Oz-Salzberger. Cambridge 1995, S. 180. Das gemeinsame Inte-

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diese Einbindung des Menschen in den Horizont der Naturgeschehnisse konnten jene Ansätze, die Hypothesen und Mutmaßungen über das menschliche Geschlecht unabhängig von einer empirischen Grundlage bildeten, desavouiert werden: „[...] [T]he natural historian thinks himself obliged to collect facts, not to offer conjectures.“79 Die darin artikulierte Frontstellung zu religiösen Entwürfen ist als der „antitheologisch gemeinte Primat der Anthropologie“ interpretiert worden, der in den untersuchten schottischen Schriften allerdings meist nur implizit seinen Ausdruck findet.80 Explizit werden Naturzustandtheorien und Berichte von sagenhaften Ursprungsmythen als unvereinbar mit den Kenntnissen über die Stetigkeit der menschlichen Natur deklariert.81 Die auf allgemeiner Erfahrung fußende induktive Methode sollte die Nachprüfbarkeit der Prinzipien ermöglichen, wodurch die Intersubjektivität zu einem Konstituens dieses Wissenschaftsverständnisses wurde: What would become of history, had we not a dependance on the veracity of the historian according to the experience which we have had of mankind? How could politics be a science, if laws and forms of government had nor a uniform influence upon society? Where would be the foundation of morals, if particular characters had no certain or determinate power to produce particular sentiments, and if these sentiments had no constant operation on actions?82

Erst die Feststellung der Konstanz der menschlichen Natur konnte folglich die Mannigfaltigkeit der historischen Umstände auf dem Weg des Vergleichs deutlich werden lassen. Eine notwendige methodische Voraussetzung also, um der Relativität des historischen Urteils zu entgehen. Die These von der ‚Uniformität der menschlichen Natur‘ hatte bei Hume ihre elementare theoretische Niederlegung gefunden und kann auch in der Anwendung der späteren Naturhistoriker der Menschheit nicht nur als methodisches Korrektiv gelten, sondern hatte axiomatischen Charakter für die Theoriebildung. Wenn man die mannigfaltigen Manifestationen menschlichen Handelns in eine ‚Wissenschaft vom Menschen‘ überführen wollte, dann galt es – im Sinne von Newton – ihre Gesetzmäßigkeiten zu entschlüsseln, die wiederum in ihrer gemeinsamen substantiellen Gleichheit fußten: [...] [A]ny action conformable to the common nature of the species, is considered by us as regular and good. It is according to order, and according to nature. But if there exist a being, with a constitution different from that of its kind, the actions of this being, though conformable to its own peculiar constitution, will, to us, appear whimsical and disorderly [...]. These reflec-

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resse von ‚science‘ und ‚natural history‘ bestünde im Sammeln und Klassifizieren der Phänomene. Vgl. Ders., Of the Science, MS. Dc. 1. 42 **, No.22, (EUL), Ferguson, Essay, S. 8. Vgl. Kondylis, Die Aufklärung, S. 423. „If conjectures and opinions formed at a distance, have not sufficient authority in the history of mankind, the domestic antiquities of every nation must, […], be received with caution. They are, for most part, the mere conjectures and fictions of subsequent ages; […].“ Vgl. Ferguson, Essay, S. 76. Hume, Enquiry, S. 90.

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tions lead us to the foundation of our nature. They are to be derived from the common nature of man, of which every person partakes who is not a monster.83

Die Ausnahme bestätigte die Regel und bildete damit die Grundlage „for the sake of the order in our discourse“,84 dessen Infragestellung durch die Wahrnehmung der Diversität und Kontingenz der äußeren empirischen Erscheinungen entschieden entgegenzutreten war.85 Interessant ist die Beobachtung, dass die ‚Uniformitätsthese‘ von einigen Verfassern einer ‚Natural History of Mankind‘ umstandslos aufgenommen,86 hingegen von anderen auf ein absolutes Minimum eines gemeinsamen anthropologischen Gehalts des Menschseins kondensiert wurde.87 Gerade die Variabilität der menschlichen Erscheinungsformen in Zeit und Raum bildete den Ausgangspunkt für etliche Versuche zu einer einheitlichen Menschheitsgeschichte, wie etwa die Essays on the History of Mankind in Rude and Cultivated Ages (1780) des Aberdeener Professors James Dunbar (1742–1798): „Human Nature, in some respects, is so various and fluctuating; so altered, or so disguised by external things, that its independent character has become dark and problematical“.88 Deutlich zeigt sich im Verlauf der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, dass die Interessen an universellen Beobachtungen im Sinne einer ‚Philosophy of Nature‘ und die Beschreibung ihrer partikularen Erscheinungen als ‚History of Nature‘ stärker auseinanderdrifte83 84 85

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Vgl. Henry Home / Lord Kames, Essays on the Principles of Morality and Natural Religion. Bd. 1. London 1758, S. 26. Vgl. James Hutton, An Investigation into the Principles of Knowledge and of the Progress of Reason, from Sense to Science and Philosophy. Bd. 1. Edinburgh / London 1794, S. X. Lorraine Daston und Katharine Park machen auf die ‚Normalisierung‘ in der Wahrnehmung von ‚Monstern‘ im Verlauf des 18. Jahrhunderts aufmerksam, die sie als Teil eines Funktionalisierungsvorgangs interpretieren, in dem das Regelwidrige der Regel unterworfen wird. Vgl. Dies., Wunder und die Ordnung der Natur. 1150–1750. Frankfurt/M. 2002, S. 242. In diesem Sinne etwa bei John Millar, The Origin of the Distinction of Ranks. An Inquiry into the Circumstances which gave Rise to the Influence and Authority in the Different Members of Society. Edinburgh 41806, S. 3. „[…] [I]n every particular instance, there are habits which serve to fix the manners of men, no less than instinct is observed to fix the practice of animals. If this were not the case, human life would be a scene of inextricable confusion and uncertainty.“ Vgl. Adam Ferguson, Principles of Moral and Political Science; Being Chiefly a Retrospect of Lectures delivered in the College of Edinburgh. Bd. 1. Edinburgh 1792, S. 232. Vgl. James Dunbar, Essays on the History of Mankind in Rude and Cultivated Ages. London / Edinburgh ²1781, S. 1. Dieses Werk James Dunbars wurde wegen seiner Anlage und seines Gegenstands den vergleichbaren ‚Natural Histories‘ der Kollegen in Edinburgh zugerechnet, wobei Dunbar die Menschheitsgeschichte nach physiologisch-psychologischen Entwicklungsstadien des Menschen gliederte und nicht nach Subsistenzweisen. In dieser Hinsicht ist Dunbar sicherlich stärker seinem Umfeld in der ‚Aberdeener Philosophical Society‘ um John Gregory, Alexander Gerard, George Campbell und Thomas Reid verpflichtet geblieben. Vgl. dazu Christopher J. Berry, Introduction, in: Dunbar, Essays on the History of Mankind, S. V–XV. Durch seine Kritik der englischen Politik gegenüber den amerikanischen Kolonien geriet Dunbar jedoch in Gegensatz zu seinen Aberdeener Kollegen; besonders zu George Campbell und Alexander Gerard. Vgl. Ders., De Primordiis Civitatum oratio. In qua agitur de Bello Civili inter M. Britanniam et Colonias nunc flagranti. London 1779.

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ten beziehungsweise die Gewichtung beider Aspekte zur Ausbildung zweier Stränge der ‚Wissenschaft vom Menschen‘ führte.89 Für Ferguson etwa manifestierte sich in den instinktähnlichen ‚Gewohnheiten‘ das Menschsein ‚an sich‘, während eine erzwungene Suche nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten ein mechanistisches Weltbild voraussetze, das dem variablen Ausdruck menschlichen Lebens widerspreche.90 Nach Ferguson war es gerade die Diversität der Menschheit, die den Menschen vom Tier unterschied und die für den Menschheitshistoriker die große Herausforderung darstellte: What two animals in nature are more different in their manner of life, than the Greenlander, alone in his boat, launched upon the stormy sea, in pursuit of the seal or other prey by which he subsists; and the wealthy citizen of London or Paris formed by the accomodations which wealth, and the multiplied inventions of art, have procured.91

Die These von der ‚Uniformität der menschlichen Natur‘ war eine unabdingbare Erkenntnisgrundlage der ‚Science of Man‘, half aber nicht dabei, die Variablen innerhalb der Menschheit zu erklären. Sie konnte nur als Voraussetzung einer ‚General History of the Human Species‘92 dienen, deren Entwicklungsprinzipien, aber vor allem Entwicklungsdifferenzen, es zu erläutern galt. 3.1.3. Die Thesen von der‚Perfektibilität‘ und ‚Soziabilität‘ des Menschen Ein weiterer maßgeblicher Baustein der ‚Science of Man‘ war die These von der Perfektibilität des Menschen, die oft im Widerspruch zum Axiom von der ‚Uniformität der menschlichen Natur‘ interpretiert worden ist. Unter der ‚Perfektibilität‘ wurde eine Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen verstanden, was in der Kritik als unvereinbar mit der Annahme von der Konstanz der menschlichen Natur angesehen wurde.93 89

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„As general conclusions differ from particular observations, as the investigation of causes differs from the detail of the appearances, so differs the philosophy from the mere history of nature.“ Vgl. Doctor James Dunbar’s Lectures in naturally Philosophy transcribed in the year 1777 by Wm. Mackenzie of Ross-Shire, at King’s College Aberdeen, MS. Dc. 7. 124 (EUL), [unpag.]. „Were intelligent beings so anomalous in their disposition and conduct, the consequence would be no less perplexing, in the rational system, than the want of a uniform law, upon which to proceed, would be in the practice of mechanical arts; and would equally frustrate every exertion of prudence or foresight in the conduct of life.“ Vgl. Ferguson, Principles, Bd. 1, S. 233. Für Dunbar war nur der Körper, nicht der Geist des Menschen, unterworfen „the laws of Mechanism which are established in the material World: This Science must be founded on Natural History.“ Vgl. Ders., Lectures in naturally Philosphy, MS. Dc. 7. 124 (EUL), [unpag.]. Ferguson, Principles, Bd. 1, S. 231. Ebd. Johannes Rohbeck spricht von einem „Dilemma, das die gesamte Anthropologie der Aufklärung kennzeichnet. Bevor die Menschen in die Geschichte eintreten, verfügen sie bereits über bestimmte Eigenschaften, durch die sie erst imstande sind, Geschichte zu machen“. Er sieht darin den „Widerspruch anfänglichen Geschichtsdenkens der Neuzeit [...]. Die Fähigkeit sich

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Der Gebrauch und der Bedeutungszuwachs des Perfektibilitätsbegriffs sind indessen dazu angetan, seine Entwicklung von einer anthropologischen These zu einer geschichtsphilosophischen Dimension genauer in den Blick zu nehmen.94 Während Hume die Vorstellung der ‚Perfektibilität‘ ablehnte, war es die breite Rezeption und die kritische Auseinandersetzung mit den Werken seines Freundes Jean Jacques Rousseau, durch die diese These Eingang in die Philosophie der Aufklärung fand. Rousseau hatte den Begriff perfectibilité mehrfach in seinen kulturkritischen Schriften verwandt, die er als Antwort auf die Preisfragen der Akademie von Dijon veröffentlicht hatte. Die Schrift Sur l’origine et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes (1755) war die Antwort auf die zweite Frage der Akademie, für die er zwar keinen Preis mehr erhielt, deren Thesen ihn jedoch weltberühmt machen sollten.95 Schon 1756 beschäftigte sich Adam Smith mit Rousseaus Schrift in dem neu gegründeten Rezensionsorgan Edinburgh Review, dessen ungefilterte Wahrnehmung der neueren europäischen Literatur sicherlich als Ursache für die massive Gegenwehr der Kirche Edinburghs und die baldige Einstellung der Zeitschrift gelten kann.96 Smith verfasste seine Rezension in Form eines anonymen Briefes an die Redaktion, in dem er ein Panoramabild der zeitgenössischen Literaturlage in Europa entwarf. Während die schottische Forschung erst im Begriff sei, sich in der Gelehrtenwelt Profil zu verschaffen, entstünden in Frankreich und England die maßgeblichen Beiträge zur neueren Wissenschaft und Literatur. Obwohl sich in Italien und Spanien die Morgenröte des ‚modernen Geistes‘ zu erkennen gegeben habe, hätten diese Länder neuerdings keinerlei Beiträge zu eben dieser Geisteswelt zu verzeichnen. Die deutsche Literatur kranke hingegen daran, dass sie nie die eigene Sprache gepflegt habe. Deshalb fielen ihre Beiträge zu den ‚belles lettres‘ gering aus, ihre Anteile an den Wissenschaften, die ein klares Urteil, Eifer und Arbeitseinsatz erforderten – wie Medizin, Chemie,

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zu verändern und zu vervollkommnen, wird zu einer unwandelbaren Eigenschaft erklärt.“ Vgl. Ders., Turgot als Geschichtsphilosoph, in: Anne Robert, Jacques Turgot, Über die Fortschritte des menschlichen Geistes, hg. v. J. Rohbeck / L. Steinbrügge. Frankfurt/M. 1990, S. 7–87, hier S. 54. Zum Gebrauch des Perfektibilitätsbegriffs, besonders in der deutschen Aufklärungsphilosophie, vgl. Gottfried Hornig, Perfektibilität, in: Archiv für Begriffsgeschichte 24 (1980), S. 221– 257, hier S. 221f. Zu den Umständen des Erscheinens des ‚Zweiten Diskurses‘ vgl. Heinrich Meier, Kommentar, in: Jean Jacques Rousseau, Discours sur l’inégalité. Kritische Ausgabe des integralen Textes. Paderborn u.a. 41997, Anm. 74, [unpag.]. Der Edinburgh Review wurde von Adam Smiths Freund Alexander Wedderburn gegründet, um halbjährlich aktuelle schottische, englische und anderssprachige Bücher zu rezensieren. Zu den genauen Umständen der Einstellung des zwischen Januar 1755 und März 1756 erschienenen Edinburgh Review vgl. Tytler, Memoirs, Bd. 1, S. 233. Viele der umstrittenen Artikel wurden nochmals, etwa im Scots Magazine, abgedruckt. Seit 1760 war William Smellie Herausgeber des Scots Magazine und erhöhte in dieser Funktion deutlich die Beiträge zur ‚Natural History‘. Vgl. Brown, William Smellie, S. 195.

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Astronomie und Mathematik – seien indessen auffällig stetig.97 Nahezu alle großen Entdeckungen in der Naturphilosophie, die nicht aus Deutschland oder Italien gekommen waren, gingen in jüngerer Zeit auf Engländer zurück. Soweit auch der Cartesianismus zur Reformierung des aristotelischen Weltbildes beigetragen habe, so sei erst durch Newton eine wirklich neuartige Philosophie auf den Weg gebracht worden. Den Franzosen obliege jedoch neuerdings das Geschick, die Philosophie der Briten zu systematisieren und zu popularisieren, was an der dezidiert epigonalen Haltung französischer Werke zu Autoren wie Bacon, Boyle oder Newton abzulesen sei. Adam Smith nennt das bewundernswerte Unternehmen der Encyclopédie, das ursprünglich nur als französische Übersetzung von Chambers Cyclopaedia begonnen und gänzlich am Wissenschaftssystem von Bacon ausgerichtet war.98 Seine Hochachtung gilt des Weiteren dem Großprojekt einer Histoire naturelle von Buffon und Daubenton, das gegen den Einwand einer willkürlichen Systematisierung durch seine vielen präzisen Beobachtungen und Experimente von Smith verteidigt wird. Überhaupt betrieben die Franzosen keine Wissenschaft mit so viel Eifer wie die der ‚Natural History‘.99 Ebenso seien die Schriften zur Moralphilosophie, nach originellen Impulsen aus Britannien, neuerdings besonders von Franzosen vermehrt worden. Nun erst kommt Smith auf den eigentlichen Gegenstand seiner Rezension zu sprechen: den ‚Zweiten Diskurs‘ über die Ungleichheit von Jean Jacques Rousseau. Er vergleicht das Werk mit Mandevilles Bienenfabel,100 die er in vielerlei Hinsicht kopiert sieht, wobei Rousseau den Naturzustand nicht als unglücklich und miserabel, sondern als erstrebenswert und vollkommen charakterisiert. Der graduelle Fortschritt der Gesellschaft würde indes von beiden Autoren in 97

Adam Smith, Letter to the Edinburgh Review, in: The Glasgow Edition of the Works and Correspondence of Adam Smith. Bd. 3: Essays on Philosophical Subjects, hg. v. I. S. Ross. Oxford 1980, S. 242–254, hier S. 242f. Smith hebt noch die Akademien in Deutschland, Italien und Russland hervor, bemerkt aber auch dort die Dominanz französischer und englischer Autoren. Vgl. ebd., S. 243. 98 Smith, Letter to the Edinburgh Review, S. 245. Vgl. Frank A. Kafker, Art. ‚Encyclopédie‘, in: J. W. Yolton u a. (Hg.): The Blackwell Companion to the Enlightenment. London 1995, S. 145–150, hier S. 145. 99 Smith, Letter to the Edinburgh Review, S. 248. 100 Die Wirkung von Mandevilles Fable of the Bees (1714–1728) auf die französische und schottische Aufklärung kann nicht überschätzt werden. Der in Holland geborene Bernard Mandeville (1670–1733) hatte bereits zuvor in England mit diversen Publikationen auf sich aufmerksam gemacht. Die Moral der berühmten Bienenfabel besagte, dass eine Gesellschaft, egal wie fortgeschritten sie sei, nicht die Schlechtigkeit und den Egoismus der Menschen als deren maßgebliche Antriebe ausräumen könne. Mandeville verspottete damit Shaftesburys Position des sogenannten ‚moral sense‘, die davon ausging, dass der Mensch an sich gut sei. Vgl. Ders., The Fable of the Bees; Or, Private Vices, Public Benefits. With an Essay on Charity and Charity Schools, and A Search into the Nature of Society. London 1795, S. 205. Bei den französischen Aufklärern wurde die Fabel überwiegend positiv aufgenommen, während die Rezeption der schottischen Moralphilosophie ambivalent blieb und dennoch wichtige Impulse erhielt. Vgl. Irwin Primer, Art. ‚Mandeville, Bernard‘, in: Kors (Hg.): Encyclopedia of the Enlightenment, Bd. 3, S. 16–18. Zur Rezeption vgl. die Textausgabe von John Martin Stafford, Private Vices, Publick Benefits? The Contemporary Recetion of Bernard Mandeville. Solihull 1997.

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ähnlicher Weise beschrieben. Für zumindest problematisch befindet Smith Rousseaus Entgegensetzung eines glücklichen Naturzustands einerseits und eines deterministischen Entwicklungskonzepts andererseits. Beide Einschätzungen seien einseitig und obendrein inkompatibel, da sie eine Zäsur voraussetzen, die mit der Natur des Menschen unvereinbar sei. Die scharfe Konturierung beider Teile des Buches schreibt Smith dabei Rousseaus Rhetorik zu, deren Bestreben es sei, um jeden Preis das Interesse der gelehrten Öffentlichkeit zu gewinnen.101 Tatsächlich hatten sich Roussaus Vorstellung vom ‚bon sauvage‘ und sein ‚Perfektibilitätsgedanke‘ wie ein Paukenschlag in der akademischen Welt Gehör verschafft und beide waren gleichermaßen Gegenstand der Kritik wie der Bewunderung. In jedem Fall war die Auseinandersetzung mit Rousseaus Thesen häufig der Ausgangspunkt für menschheitsgeschichtliche Überlegungen102 und die perfectibilité war als Lehnwort in die englische und deutsche Sprache eingegangen.103 Das Theorem von der Perfektibilität verdeutlicht das Selbstverständnis der ‚Natural Historians of Mankind‘, die parallel zum neuen Entwicklungsdenken in der Naturhistorie eine natürliche Fähigkeit des Menschen zur Vervollkommnung annahmen. Der von Smith neben Rousseau beleumundete Georges-Louis LeClerc, Comte de Buffon (1707–1788) hatte mit seiner seit 1749 erscheinenden Histoire naturelle générale et particulière maßgeblichen Einfluss auf diesen Transfer. Für die Vermittlung von Buffons Denken in der schottischen Aufklärung wiederum spielte der umtriebige Verleger, Herausgeber und Übersetzer William Smellie (1740–1795) – „perhaps the fastest pen in the Scottish Enlightenment“ – eine nicht zu überschätzende Rolle.104 Smellie hatte sich während seines Studiums von einem 101

„Mr. Rousseau, intending to paint the savage life as the happiest of any, presents only the indolent side of it to view, which he exhibits indeed with the most beautiful and agreeable colours, in a style, which, tho’ laboured and studiously elegant, is every where sufficiently nervous, and sometimes even sublime and pathetic.“ Vgl. Smith, Letter to the Edinburgh Review, S. 251. Smith zieht diesem Stil den Voltaires vor, „the most universal genius perhaps which France has ever produced“. Vgl. ebd., S. 254. Für Karl Graf Ballestrem zeichnet sich in der Kritik an Rousseau ab, dass Smith bereits selbst ein eigenes Buch zum Thema ‚Ungleichheit‘ plante. Vgl. Ders., Adam Smith. München 2001, S. 40. 102 Ulrich Kronauer hat darauf hingewiesen, dass viele Autoren sich „auf Kosten von Rousseau zu profilieren“ suchten und den idealtypischen Zuschnitt von ‚Naturzustand‘ und ‚Perfektibilität‘ bewusst ignorierten. Vgl. Ders., Georg Forsters Einleitung zu ‚Cook der Entdecker‘. Forsters Auseinandersetzung mit Rousseau über Fortschritt und Naturzustand, in: J. Garber (Hg), Wahrnehmung, Konstruktion, Text. Bilder des Wirklichen im Werk Georg Forsters. Tübingen 2000, S. 31–42, hier S. 33. Gleichwohl hat Smiths frühe Einschätzung der Anlage des ‚Zweiten Diskurses‘ als rhetorische Figur beziehungsweise als bewusste Polemik sicherlich einige Berechtigung. 103 Vgl. Hornig, Perfektibilität, S. 226. Zur Rezeption der französischen Aufklärung in Schottland der kursorische Überblick von John Henry Brumfitt, Scotland and the French Enlightenment, in: W. H. Barber / J. H. Brumfitt / R. A. Leigh (Hg.): The Age of the Enlightenment. Edinburgh / London 1967, S. 318–329, hier S. 323. Für die deutsche Entsprechung ‚Vervollkommnung‘ vgl. Koselleck, Art. ‚Fortschritt‘, S. 379. 104 Vgl. John R. R. Christie, Ideology and Representation in Eighteenth Century Natural History, in: Oxford Art Journal 13 (1990), S. 3–10, hier S. 9. Vgl. auch Stephen W. Brown, Art.

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überzeugten Anhänger der Theorien Linnés (1707–1778) zu einem leidenschaftlichen Renegaten entwickelt.105 Seine Auffassung von Naturgeschichte profilierte sich geradezu aus einer Gegnerschaft zu Linné und durch seine Orientierung an Buffon und den Schriften seines Mentors Lord Kames.106 Gegen die taxonomische Einteilung der Naturgeschichte und eine Trennung der verschiedenen Naturreiche stellte Smellie den Menschen in das Zentrum seiner Betrachtung und bezog seine Erkenntnisse, wie sein Vorbild Buffon, gerade aus dem Vergleich des Menschen mit den Tieren beziehungsweise der Tiere mit den Pflanzen.107 Dieses ungewöhnliche Verfahren stand allerdings in dem Verdacht, Ausdruck eines heterodoxen Weltbildes zu sein, schien dadurch doch die Ordnung der Schöpfung – deren unbestrittene Krönung der Menschen darstellt – in Frage gestellt zu sein. Die herkömmliche Vorstellung der Natur war von einer Stufenleiterordnung bestimmt, der so genannten ‚scala naturae‘, die eine lineare Abfolge von Wesenheiten darstellte und ihre Ordnung nach den Vollkommenheitsgraden der verschiedenen Wesen vornahm.108 Eine Auflösung dieses hierarchischen Weltbildes und Vergleiche zwischen den verschiedenrangigen Wesenheiten standen auf dem Index. Die beständige Gefahr der Zensur erklärt den merkwürdigen Umstand, wieso sich Smellie in seiner ehrgeizigen Unternehmung der Übersetzung von Buffons Histoire naturelle in Teilen vorbehaltlich oder sogar kritisch zu dem Text positionierte.109 Dennoch ‚Smellie, William (1740–1795)‘, in: The Dictionary of Eighteenth-Century British Philosophers. Bd. 2. Bristol 1999, S. 804–808. 105 Smellies Ablehnung betraf in der Hauptsache Linnés Einteilung der Pflanzen nach ihrem Geschlecht. Vgl. zu dieser These Emma C. Spary, Art. ‚Linnaeus, Carolus‘, in: Kors (Hg.): The Encyclopedia of the Enlightenment, Bd. 2, S. 410–413. 106 „Smellie found the inspiration for the sort of natural science he wanted to write, one that used moral philosophy to create contexts within which to explore the natural world, with an appreciation of human psychology as its final outcome.“ Vgl. Brown, William Smellie, S. 200. 107 Als Kondensat von Smellies verschiedenen Beiträgen zur Naturgeschichte kann sein manchmal kryptisch erscheinendes Hauptwerk abgesehen werden. Vgl. Ders., Philosophy of Natural History. 2 Bde. Edinburgh 1793. Scharf kritisiert wurde dieses Werk von Smellies Antipoden John Walker, der 1775 nach hartem Ringen an Smellies Stelle den Lehrstuhl für ‚Natural History‘ erhielt. Smellie äußerte sich wie folgt dazu: „It is an unavoidable circumstance, much to be deplored, that the appointments to professorships in the University of Edinburgh, […], are too much apt to be influenced by political considerations, instead of being open to competition of genius and learning.“ Vgl. Kerr, Memoirs of the Life, Bd. 2, S. 90f. Während Smellie einen stärker ‚philosophischen‘ Zugang zur Naturgeschichte wählte, folgte Walker einer empirischen Systematisierung der Natur. Vgl. dazu auch Charles W. J. Withers, Natural Knowledge as cultural property: disputes over ‚ownership‘ of natural history in late eighteenth-century Edinburgh, in: Archives of Natural History 19 (1992), S. 289–303, hier S. 290ff. 108 Die klassische Untersuchung zur Entstehung und vor allem Dominanz der Vorstellung von der ‚Kette der Wesen‘ bietet immer noch Arthur O. Lovejoy, The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea. Cambridge / Mass. 1950. Tatsächlich beförderte die Stufenleitervorstellung die Suche nach morphologischen ‚Zwischengliedern‘ in der Naturgeschichte. Damit vermochte sie auch höhere Wesen und Fabelwesen zu integrieren. Vgl. Ilse Jahn, Geschichte der Biologie. Theorien, Methoden, Institutionen, Kurzbiographien. Jena u.a. ³1998, S. 245ff. 109 Smellie, Philosophy of Natural History, Bd. 1, S. 267 und Bd. 2, S. 114. Tatsächlich wurde Smellie von David Dalrymple / Lord Hailes dringend davor gewarnt, die gefährliche Schrift des Franzosen zu übersetzen. Vgl. Christie, Ideology and Representation, S. 9.

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rückte er nicht davon ab, Mensch und Tier in einer gemeinsamen Kategorie abzuhandeln und analytische Aussagen über den Menschen aus Analogien zur Tierwelt herzuleiten. Während der „Schöpfer“ nur an wenigen Stellen Erwähnung findet, werden die allermeisten Zusammenhänge auf „Naturkräfte“ zurückgeführt. Gleichzeitig ist Smellies Übersetzung von eigenständigen Einlassungen und der Bemühung bestimmt, das Konzept Buffons mit der Newtonschen Methode zu amalgamieren.110 Auch wenn das Erscheinen von Smellies Übersetzung nach langjähriger Bearbeitung des Textes 1780 von einigen kritischen Passagen begleitet war, so ist es von umso größerer Bedeutung, dass der Vielschreiber und Zeitungsmann Smellie bereits vor dem Erscheinen der Übersetzung eine großangelegte Popularisierungsmaschinerie für die Entwicklungstheorie Buffons in Bewegung gesetzt hatte.111 Nachhaltigen Ausdruck fand dies in Smellies Herausgeberschaft wichtiger schottischer Zeitschriften112 und in seinem Großprojekt der Encyclopaedia Britannica (1768–1771), das in der Ausrichtung der Einträge seine Handschrift trug und damit seiner philosophischen Orientierung eine diskursbestimmende Wirkungsmacht verlieh.113 Smellie wollte sein Lexikonprojekt von denen seiner berühmten 110

Smellie hatte als junger Mann durch eine Art Stipendium der ‚Select Society‘ Kurse in Botanik, Chemie, Medizin, Naturgeschichte und Kunst an der Universität Edinburgh besuchen können. Ein Abschluss blieb ihm aus Kostengründen verwehrt. Das Französische hatte er sich autodidaktisch beigebracht und er wusste nicht, wie es auszusprechen war, was einen Freund Buffons bei einem Besuch in Schottland sehr in Erstaunen versetzte. Gerade weil Buffon mit der Übersetzung, trotz ihrer Freiheiten, sehr zufrieden war, wollte er, dass jener auch seine Geschichte der Vögel übersetzen solle. Smellies zeitgenössischer Biograph Kerr schreibt: „The character of the translation has ever been deservedly high; and some of the reviewers, at its first appearance, very justly observed, that Buffon now appeared to more advantage in his new dress than he had done in the original.“ Vgl. Ders., Memoir of the Life, Bd. 2, S. 118f. 111 Die deutsche Übersetzung von Smellies Philosophy of Natural History besorgte der berühmte Naturgelehrte und Professor für Mathematik und Physik am Collegium Carolinum Braunschweig, Eberhard August Wilhelm von Zimmermann (1743–1815). Vgl. William Smellie’s Philosophie der Naturgeschichte, aus dem Englischen übersetzt, mit den Zusätzen des Herrn Rektor Lichtensteins hg. u. mit Erläuterungen versehen von E. A. W. Zimmermann. 2 Bde. Berlin 1791. Zimmermanns Definition von ‚Naturgeschichte‘ zeigt die explizite Übernahme des vitalistischen Modells von Buffon: „Sie ist der Inbegriff der Resultate, welche sich aus der Betrachtung der Form, des Entstehens, der Verbindung, des Wirkens und der verschiedenen Absichten aller natürlichen Körper herleiten lassen.“ Vgl. Ders., Vorrede des Uebersetzers, S. XV–XXX, hier S. XV. Buffon wird allerdings für seine „zu lebhafte Einbildungskraft“ gerügt, die ihn zwar in die Fähigkeit setzte, eine „Philosophie der Naturgeschichte“ zu entwickeln, der aber die ruhigere und genauere Ordnung eines Linné abgehe. Vgl. ebd., S. XXVIf. 112 Von 1759–1765 war Smellie Mitherausgeber des Scots Magazine und 1773–1776 des Edinburgh Magazine and Review. Auch für das Edinburgh Weekly Journal (1757/1771), den Edinburgh Chronicle (1759–1760) und den Scottish Chronicle (1788) spielte er eine maßgebliche Rolle. Darüber hinaus war er der offizielle Verleger der Universität von Edinburgh. Vgl. Brown, ‚Smellie, William‘, S. 804. „In the conduct of the ,Edinburgh Magazine and Review‘, the whole of the article History, or News, […], was confined to the sole management of Mr Smellie.“ Vgl. Kerr, The Memoirs of the Life, Bd. 1, S. 401. Unter diesen war auch eine hymnische Besprechung von Buffons ‚Natural History‘. Vgl. The Edinburgh Magazine and Review IV (1775/76), S. 591–594, S. 649–653. 113 Smellie verfasste nicht nur zahlreiche Einträge selbst, sondern hatte auch erheblichen Einfluss auf seine Koautoren. Kerrs Sammlung verdeutlicht dies an der Diskussion um den Art. ‚Æther‘.

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Vorläufer – Chambers, Owen, Diderot und D’Alembert – unterschieden wissen, da er aus deren „törichter“, rein alphabetischer Ordnung technischer Termini gelernt zu haben hoffte und die Wissenschaften zwar in eine alphabetische aber zuvorderst systematische Ordnung zu bringen gedachte.114 Diese Systematik wurde auch weitgehend eingehalten, wobei die Länge der Artikel, die den verschiedenen Wissensbereichen zugebilligt wurden, stark differierte, woraus Rückschlüsse auf ihren offiziellen Status innerhalb des Wissenschaftssystems abgeleitet werden können. Während der Artikel ‚Natural History‘ nach der allgemeinen Definition nur äußerst knapp die sechs Klassen der Tiere nach dem Linnéschen System vorstellt,115 kommt unter dem ausführlichen und vermeintlich unverdächtigen Eintrag ‚Moral Philosophy‘ ein völlig neuartiges Wissenschaftsverständnis zum Tragen: Moral Philosophy has this in common with Natural Philosophy, that it appeals to nature or fact; depends on observation; and builds its reasonings on plain uncontroverted experiments, or upon the fullest induction of particulars of which the subject will admit. We must observe in both these sciences, how nature is affected, and what her conduct is in such and such circumstances. Therefore Moral Philosophy inquires, not how man might have been, but how he is, constituted. […] It is thus we understand the office and use of watch, a plant, an eye, or hand. It is the same with a living creature, of the rational, or brute kind.116

Eine solche naturgeschichtliche Grundlegung der Moral, die nahezu ohne göttliche Begründung auskam, blieb nicht ohne Kritiker beziehungsweise es bestand trotz und wegen der Popularisierungsanstrengungen weiterhin der Verdacht der Heterodoxie gegenüber Buffon und seinen Anhängern, der sich in Schottland besonders Vgl. Kerr, Memoirs of the Life, Bd. 1, S. 369ff. Die Popularisierung von Buffons Konzept der Naturgeschichte durch die Encyclopaedia Britannica ist vergleichbar mit dem französischen Fall, da Buffons Mitarbeiter Daubenton für den anonym erschienenen Artikel ‚Histoire Naturelle‘ in der Encyclopédie verantwortlich zeichnete und damit der Buffonschen Variante, gegenüber Linné, implizit den Vorzug gab. Vgl. dazu Herbert Dieckmann, Naturgeschichte von Bacon bis Diderot: Einige Wegweiser, in: R. Koselleck / W.-D. Stempel (Hg.): Geschichte, Ereignis und Erzählung. München 1973, S. 95–114, hier S. 95f. 114 Smellies vollmundig angekündigtes Lexikonprojekt unterschied sich vor allem durch die Kürze und Prägnanz der Artikel von seinen Vorgängermodellen. Im Gegensatz zum ‚Zedler‘ oder zur Encyclopédie werden kaum differierende Auffassungen von Konzepten wiedergegeben, sondern nur klare Definitionen. Insofern löste Smellie sein oberstes Ziel der ‚Nützlichkeit‘ dieser Publikation ein. Vgl. Ders., Preface, in: Encyclopaedia Britannica, Bd. 1, [unpag.]. 115 „NATURAL HISTORY, is that science which not only gives compleat descriptions of natural productions in general, but also teaches the method of arranging them into Classes, Orders, Genera, and Species.“ Vgl. Art. ‚Natural History‘, in: Encyclopaedia Britannica, Bd. 3, S. 362– 364. 116 „Therefore, to determine the office, duty, or destination of man; […] we must inspect his constitution, take every part to pieces, examine their mutual relations one to the other, and the common effort or tendency of the whole.“ Vgl. Art. ‚Moral Philosophy‘, in: Encyclopaedia Britannica, Bd. 3, S. 270–309, hier S. 270. Roger Vladimir Price hat darauf aufmerksam gemacht, dass William Smellie für den Artikel ‚Moral Philosophy‘ teilweise wörtlich das posthum erschienene Lehrbuch Elements of Moral Philosophy (1754) des Aberdeener Philosophieprofessors David Fordyce (1711–1751) übernommen hat. Vgl. John V. Price, Introduction, in : David Fordyce, The Elements of Moral Philosophy [1754]. 3 Bde. Bristol 1990, Bd. 1, S. V–X, hier S. VI. Wörtlich findet sich das Zitat bei Fordyce, The Elements, S. 8.

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bei einer klar umrissenen Gruppe Aberdeener Professoren im Umkreis von Thomas Reid und James Beattie erhielt,117 den offiziellen Vertretern der so genannten ‚common sense‘-Philosophie. Für die meisten anderen schottischen Autoren – wie etwa Henry Home / Lord Kames, James Burnett / Lord Monboddo, Adam Ferguson und Adam Smith – bot Buffons ‚Natural History‘ hingegen ein unerschöpfliches Reservoir der Naturgeschichte und einen wichtigen Anstoß zu Erklärung der Entwicklung des Menschengeschlechts.118 Buffons Werk stellte insofern einen Markstein in der Veränderung der Naturgeschichte dar, als darin in Abgrenzung zu abstrakt taxonomischen Systemen der Natur – insbesondere dem Linnés – für eine alternative Methode in der Erfassung der Natur plädiert wurde.119 Diese sollte in einer ‚physischen‘ Vorgehensweise bestehen, die den Vorgängen in der Natur in Buffons Augen mehr entsprach als willkürliche, metaphysische und mathematische Abstraktionen. Denn es waren weniger die einzelnen Phänomene der Natur als ihre Verhältnisse zueinander, ihre Antriebe und Abfolge, deren Analyse der Erforschung der Natur angemessen seien. Die Ganzheit der Natur wurde dabei bei Buffon als ein abstrakter, überzeitlicher Rahmen aufgefasst,120 während ihren einzelnen Elementen ein akzidentieller, variabler Charakter zugeschrieben wurde. Damit war die Natur „un ouvrage perpétuellement vivant“ und die Zeit ihr „ouvrier“, wodurch die Veränderung der Erde und der sie belebenden Gattungen zum eigentlichen Forschungsgegenstand der Histoire naturelle avancierte.121 Interessanterweise entstand Buffons Konzept einer dynamisierten Naturgeschichte in Anlehnung an die Menschheitsgeschichte.

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Auch wenn Beattie in der Nachfolge von David Fordyce und Alexander Gerard stand, so hatte er doch sehr klare Auffassungen von der falschen und wahren Philosophie: „Being honoured with the care of a part of the British youth; and considering it as my indispensible duty [...] to guard their minds against impiety and error, I endeavoured […] to form a right estimate of Mr Hume’s philosophy […].“ Zitiert nach Price, Introduction, S. IX. 118 Vgl. Paul B. Wood, The Natural History of Man in the Scottish Enlightenment, in: History of Science 28 (1990), S. 89–123, hier S. 100. Buffons Histoire Naturelle rangierte vor Carl von Linnés Systema Natura (1735) und Albrecht von Hallers Elementa physiologicae (1757–1766) als das häufigst angeschaffte Kompendium in der University Library of Edinburgh im Zeitraum von 1762–1792. Vgl. MS. Da. 1. 46. (EUL), [unpag.]. Ferguson lehnte seine ‚Natural history of Man‘ direkt an Buffons Konzept an. Vgl. Adam Ferguson, Institutes of Moral Philosophy. For the use of the Students in the College of Edinburgh. Edinburgh / London ²1773, S. 15. Vgl. auch Kames, Sketches, Bd. 1, S. 5. 119 Während Michel Foucault Buffon in einem größeren Umbauprozess der Naturgeschichte von einer repräsentierenden Raumstruktur in der Erfassung der Naturdaten hin zu einer klassifizierenden Zeitstruktur verortete, betonte besonders Peter Hanns Reill die einschneidende Bedeutung von Buffons ‚Vitalismus‘ als Bedingung eines modernen Geschichtskonzepts. Vgl. Foucault, Die Ordnung der Dinge, S.165ff. und Peter-Hanns Reill, Anti-Mechanism, Vitalism and their Political Implications in the Late Enlightened Scientific Thought, in: Francia 16 (1989), S. 195–212, hier S. 198ff. Im Sinne von Reill vgl. auch Sloan, Natural History, S. 304ff. 120 „[...] [D]ans tous ses ouvrages elle [la Nature] présente le sceau de Éternel : cette empreinte divine, prototype inaltérable des existences, est le modèle sur lequel elle opère.“ Vgl. Buffon, Histoire naturelle, in : Œuvres complètes. Nouvelles Édition. Bd. 1. Paris 1804, S. 2. 121 Buffon, Histoire naturelle, S. 1f.

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Buffon ging davon aus, dass die Natur ebenso eine Geschichte hat wie die Menschheit und übertrug Parameter der Menschheitsgeschichte, wie den Epochenbegriff, auf die Natur.122 In welcher Weise die Einbettung des Menschen in eine solchermaßen dynamisierte Naturgeschichte wiederum auf die Neuformulierung der Menschheitsgeschichte zurückwirkte, soll uns im folgenden beschäftigen. Die Neuartigkeit von Buffons Histoire naturelle de l’homme (1749) bestand, neben dem Verfahren, dass er den Menschen wie jedes andere Wesen der Natur abhandelte, vor allem darin, dass er sich aus diesem Grund weniger für das Individuum als für die Gattung interessierte.123 Was die Entwicklung der Gattungen anbelangte, konnte sich bis weit in das 18. Jahrhundert die so genannte ‚Präformierungstheorie‘, trotz aller Widersprüche hinsichtlich von Fragen der Vererbung, Hybridisierung und möglichen Abweichungen innerhalb der Arten, hartnäckig behaupten. Sie besagte, dass die Entwicklung biologischer Arten im Akt der Schöpfung vollständig determiniert sei, da in ihm alle bestimmenden Faktoren in den ‚Urkeimen‘ festgelegt worden seien.124 Die Gegner dieser Theorie vertraten die Hypothese von der ‚Epigenese‘, die davon ausging, dass die Entwicklung der Arten nicht auf einer Urzeugung, sondern auf der Konfigurierung ‚lebender Atome‘ durch eine vegetative Kraft basierte. Insbesondere der englische Naturforscher John Turberville Needham (1713–1781) entwickelte im Rekurs auf Leibniz und Newton eine vitalistische Theorie der Epigenese, die er in Paris an Buffon weitervermittelte.125 Needhams mikroskopische Untersuchungen an Kalmaren hatten ihn zu dem Ergebnis gebracht, dass etwas wie eine, von der Umwelt abhängige, spontane Fortpflanzung der ‚Keime‘ (animalculi) existiere.126 Buffon sah diese Theorien durch seine eigenen Studien bestätigt, die 122

„Ces variations, si sensibles pour l’homme, sont indifférentes à la Nature.“ Vgl. Buffon, Histoire naturelle, S. 17. Zum Epochenbegriff vgl. Jacques Roger, Introduction, in : Buffon, Les époques de la nature. Édition critique avec le manuscrit. Paris 1962, S. XLIII–LXXXI, hier S. LXXIII. Vgl. auch Dieckmann, Naturgeschichte, S. 114. 123 Claude Blanckeart hat die Stilisierung von Buffon zum Begründer der Anthropologie als Mythos der Wissenschaftsgeschichte kritisiert, dem durch Untersuchungen zum komplexen Entstehungsprozess der ‚Natural History of Man‘ entgegengewirkt werden solle. Vgl. Ders., Buffon and the natural history of man: writing history and the ‚foundation myth‘ of anthropology, in: History of Human Sciences 6 (1993), S. 13–50, hier S. 40ff. Im Rahmen des Diskurses der neuen ‚Naturgeschichte‘ ist es allerdings von Bedeutung, wie viele Zeitgenossen sich in ihrer Auseinandersetzung mit der Spezies Mensch explizit auf Buffon beriefen und damit frühzeitig den Mythos mitentwarfen. 124 Die ‚Präformationslehre‘ schien eine Erklärung für die Phänomene zu bieten, die durch die Gesetze der Mechanik nicht erklärt werden konnten, ließ sich mit der Schöpfungslehre vereinbaren und „befriedigte Theologen und Deisten gleichermaßen“. Vgl. Jahn, Geschichte der Biologie, S. 256. 125 Epigenetische Theorien, wie sie etwa auch Maupertuis vertrat, hatten zunächst rein hypothetischen Charakter und wurden besonders von Caspar Friedrich Wolff (1734–1794) weitergeführt. Vgl. ebd., S. 262ff. 126 John Turberville Needham sah diese Annahme, in Anlehnung an die berühmten Forschungen zur Fortpflanzung des Polypen von Abraham Trembley, bestätigt. Vgl. Ders., An Account of Some Microscopical Discoveries. London 1745. Vgl. dazu Kathleen Wellman, Art. ‚Needham,

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ihn ebenfalls die lebenden Körper auf ‚organische Moleküle‘ zurückführen ließen, deren ‚Modellierung‘ schließlich vermittels einer ‚durchdringenden Kraft‘ erfolge.127 Allerdings nahm Buffon ‚innere Formen‘ der Moleküle an, die dafür sorgten, dass die Nachkommenschaft im Wesentlichen den elterlichen Vorgaben entsprach und damit die Konstanz der Arten sicherte.128 Beide Theorien hatten für die Analyse der Spezies Mensch zur Konsequenz, dass der Drang zur Vervollkommnung als Naturanlage des Individuums gedeutet wurde, die sich entweder im Sinne einer Präfiguration oder nach physikalischen Gesetzen definiere. Seine Ausprägung finde dieser Vervollkommnungstrieb in physischen Bedürfnissen wie Selbsterhaltung und Fortpflanzung. Das Motiv der Selbsterhaltung als Urmuster menschlicher Handlungen oder als physischer Trieb galt damit als grundlegendes Prinzip der menschlichen Natur. Und Rousseau bezog sich vertrauensvoll auf die Autorität Buffons, wenn er zwei Prinzipien geltend machte: „[Q]u’à voir les hommes tels qu’ils se sont faits“.129 ‚Selbsterhaltung‘ und ‚Mitgefühl‘ seien beides Prinzipien, die den Fortbestand und den Fortgang der Gattung sicherten und damit die so genannte ‚Perfektibilität‘ ausmachten. Die erste Bedeutung von ‚Perfektibilität‘ wurde von Rousseau im Sinne eines überzeitlichen Prinzips der Entwicklung jedes menschlichen Individuums gedeutet, das es mit der instinktgeleiteten Natur der Tiere teile. Das unterscheidende Merkmal zwischen Mensch und Tier sei nicht der Verstand, den Rousseau auch den Tieren zubilligte, sondern die Eigenschaft des Menschen, ein frei handelndes Wesen zu sein.130 Durch den freien Willen besitze der Mensch eine Fähigkeit, die ihn grundsätzlich vom Tier unterscheide: „[C]’est la faculté de se perfectionner; faculté qui, à l’aide des circonstances, développe successivement toutes les autres, et réside parmi nous John Turberville‘, in: Kors (Hg.): Encyclopedia of the Enlightenment, Bd. 3, S. 156f. Die Entdeckung der ‚animalculi‘ ging auf den niederländischen Pionier der Mikroskopforschung Antoni van Leeuwenhoek (1632–1723) zurück, der allerdings ein Gegner der Theorie von der spontanen Fortpflanzung war. 127 Zu den verschiedenen ‚Kraft-Modellen‘ in der Aufklärung, der antiken ‚plastischen Kraft‘, der ‚Seelenkraft‘ Georg Ernst Stahls, der ‚wesentlichen Kraft‘ Caspar Friedrich Wolffs und dem ‚Bildungstrieb‘ Johann Friedrich Blumenbachs, vgl. Tanja van Hoorn, Dem Leibe abgelesen. Georg Forster im Kontext der physischen Anthropologie des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2004, S. 205. 128 Durch die These von den ‚moules intérieurs‘ behielt Buffons Theorie der Epigenese einen „präformatorischen Beigeschmack“. Vgl. Jahn, Geschichte der Biologie, S. 261. Durch seine theoretischen Bemühungen um die Begründung der Konstanz der Arten verließ er das sichere Terrain der milieutheoretischen Deutung (etwa der Klimatheorie) und schuf damit ‚versehentlich‘ eine wichtige Grundlage für spätere evolutionstheoretische Überlegungen. Vgl. Wolfgang Lefèvre, Die Entstehung der biologischen Evolutionstheorie. Frankfurt a.M. / Berlin 1984, S. 123. Zur Verortung Buffons innerhalb der verschiedenen Entwicklungstheorien des 18. Jahrhunderts vgl. Johannes Rohbeck, Die Fortschrittstheorie der Aufklärung. Französische und englische Geschichtsphilosophie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. / New York 1987, S. 61. 129 Rousseau, Discours sur l’inégalité, S. 56. 130 „La Nature commande à tout animal, et la Bête obéït. L’homme éprove la même impression, mais il se reconnoît libre d’acquiescer, ou de resister […].“ Vgl. ebd., S. 100.

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tant dans l’espéce, que dans l’invidu […]“.131 Die Fähigkeit zur ‚Perfektibilität‘ wohnte folglich sowohl dem Individuum als auch der Gattung inne und war dennoch gleichzeitig dazu bestimmt, als Grundlage von Rousseaus gesellschaftlicher Verfallsgeschichte zu dienen. Die ‚Perfektibilität‘ im Rousseauschen Sinne war stets begleitet von der Gefahr der Depravierung des Menschengeschlechts und damit nicht geeignet, der Entwicklung einer fortschrittsorientierten Geschichtssicht zu bereiten. Die zweischneidige Entwicklungsfähigkeit des Menschen kann bei Rousseau vielmehr als ein genereller Versuch zur Herleitung der Historizität des Menschen gelten.132 Die ‚Perfektibilität‘ beschrieb damit als eine ‚potentia‘ nicht den Vervollkommnungsprozess des Menschengeschlechts selbst, sondern als besondere Ausstattung des Menschen nur dessen ermöglichende Bedingung. Die Kontingenz des historischen Prozesses selbst wurde von diesen Überlegungen nicht angetastet, auch wenn Rousseau in der Fähigkeit zur Vervollkommnung ‚die Quelle allen Unglücks‘ sah, die den Menschen aus seinem ursprünglich glücklichen Zustand lockte.133 Anders als die entelechisch verstandene ‚Soziabilität‘ im Naturrecht bezeichnete ‚Perfektibilität‘ bei Rousseau die Fähigkeit des Menschen zur Entwicklung zu einem soziablen, sprechenden, vernünftigen Wesen. Eine Fähigkeit also, durch welche die geschichtliche Entwicklung des Menschen nicht determiniert war, die jedoch die anthropologische Bedingung der Möglichkeit historischer Entwicklung zuallererst gestattete.134 In der Frage der Perspektive auf diese historische Entwicklung lag der entscheidende Unterschied zwischen Rousseau und den schottischen Gelehrten, die die These von der ‚Perfektibilität‘ mit dem Axiom von der ‚Uniformität des menschlichen Wesens‘ in Übereinstimmung brachten. Rousseaus Charakterisierung der ‚Perfektibilität‘ als Voraussetzung für einen gattungsgeschichtlichen und moralischen Bruch zwischen dem ursprünglichen Zustand der Menschen und ihrer gegenwärtigen Verfassung, ob diese nun als ‚vervollkommnet‘ oder ‚depraviert‘ zu werten war,135 erschien den Schotten als ein jegliche empirische Grundlage entbeh131 132

Ebd., S. 102. Vgl. Günther Buck, Selbsterhaltung und Historizität, in: H. Ebeling (Hg.): Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne. Frankfurt/M. 1996, S. 208–302, hier S. 213. 133 Rousseau, Discours sur l’inégalité, S. 104. 134 Ich folge hier den Überlegungen von Thomas Prüfer: „Die Perfektibilität muß als metahistorische Kategorie angesehen werden, als Bedingung der Möglichkeit eines geschichtlichen Fortschritts.“ Vgl. Ders., Die Bildung der Geschichte, S. 190. Günther Bucks Interpretation, dass mit der ‚Perfektibilitätsthese‘ kein anthropologischer Ansatz, sondern eine politische Philosophie verfolgt würde, erscheint insofern problematisch, als es die ‚anthropologische Differenz‘ ist, die den Mensch erst in die Lage versetzt, sich über den Status des Tieres zu erheben und gleichzeitig auch hinter diesen zurückfallen zu können. Vgl. Buck, Selbsterhaltung, S. 215. Zur ‚anthropologischen Differenz‘ vgl. Meier, Kommentar, Anm. 110, S. 89f. 135 „En effet, il n’est pas concevable que ces premiers changemens, par quelque moyen qu’ils soient arrivés, aient altéré tout à la fois et de la même maniére tous les Individus de l’espéce ; mais les uns s’étant perfectionnés ou détériorés, et ayant acquis diverses qualités bonnes ou mauvaises qui n’étoient point inhérentes à leur Nature, les autres restérent plus longtems dans

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rendes Konstrukt.136 Adam Ferguson nahm zweifellos Bezug auf Rousseaus Thesen, wenn er dessen Unterfangen zu unterscheiden, was in der aktuellen Natur des Menschen ursprünglich und was künstlich ist, entgegenhält: „[...] [A]rt itself is natural to man. He is in some measure the artificer of his own frame, as well as his fortune, and is destined, from the first age of his being, to invent and contrive“.137 Die Perfektibilitätsthese wurde insofern übernommen, als das Streben nach Vervollkommnung ein Prinzip der konstanten Natur des Menschen zu sein schien. Dabei verlasse der Mensch aber weder einen Naturzustand noch verfehle er seine natürliche Bestimmung, da er nur wie jedes Lebewesen einem Prinzip seiner Natur folge: „If we admit that man is susceptible of improvement, and has in himself a principle of progression, and a desire of perfection, it appears improper to say, that he has quitted the state of nature [...]“.138 Die Kritik am Naturzustandstheorem war ein elementarer Ausgangspunkt für die ‚Natural History of Mankind‘ in der schottischen Aufklärung, da sie der einfachen Entgegensetzung von ‚Barbarei‘ und ‚Zivilisation‘ entgegentrat, um stattdessen die Struktur der Entwicklung von Gesellschaften mithilfe synchroner wie diachroner Betrachtung zu erklären.139 Die Frage danach, ob ein Naturzustand jemals existiert habe oder ob dieser ein naturrechtliches Konstrukt sei, war für einen Naturhistoriker der Menschheit wie Ferguson der die Ursprungsfrage aus einem anthropologischen Blickwinkel beantwortete, obsolet: If we are asked therefore, Where the state of nature is to be found? we may answer, It is here; and it matters not whether we are understood to speak in the island of Great Britain, at the Cape of Good Hope, or the Straits of Magellan.140

leur état originel; et telle fut parmi les hommes la premiére source de l’inegalité, qu’il est plus aisé de démontrer ainsi en général, que d’en assigner avec précision les véritables causes.“ Vgl. Rousseau, Dicours sur l’inégalité, S. 44ff. 136 Rousseau ist der einzige Naturzustandstheoretiker, den Adam Ferguson explizit angreift: „The progress of mankind from a supposed state of animal sensibility, to the attainment of reason, to the use of language, and to the habit of society, has been accordingly painted with a force of imagination, and its steps have been marked with a boldness of invention, that would tempt us to admit, among the materials of history, the suggestions of fancy […].“ Vgl. Ders., Essay, S. 11. Vgl. auch Ders., Principles, Bd. 1, S. 198ff. In diesem Sinne auch Adam Smith, Letter to the Edinburgh Review, S. 251. 137 Ferguson, Essay, S. 12. 138 Ebd., S. 14: „So that writers who suppose man originally berest of intelligence, and yet place him on a level with the brutes, have, in reality, given to this creature of their own imagination a rank, in the scale of being, higher than that to which he would be entitled [* Rousseau, Origin de l’inégalité, &c.].“ Vgl. Ferguson, Principles, Bd. 1, S. 55. 139 Die Bedeutung der Naturrechtstheorie für die schottische Aufklärung ist bereits in einigen Punkten dieser Arbeit und in der Literatur hervorgehoben worden. Vgl. Medick, Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft, S. 19. Dennoch muss die Abgrenzung der schottischen Naturhistoriker besonders vom Naturzustandstheorem und den Vertragstheorien als konstitutiv für die spezifisch aufklärerische Konzeptionierung der Menschheitsgeschichte angesehen werden. 140 Ferguson, Essay, S. 14.

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Der Untersuchungsgegenstand ‚Natur‘ und analog die ‚Natur des Menschen‘, seien unveränderlich, aber das Verständnis ihrer Regeln sei durch die empirische Methodenerneuerung in den Wissenschaften zu entschlüsseln und eröffne dem Menschen damit gänzliche Selbsterkenntnis:141 It is not, however, to be supposed, that man ever existed apart from the qualities and operations of his own nature, or that any operation and quality existed without the others. The whole, indeed, is connected together, and any part may vary in measure or degree, while in its nature and kind it is still the same.142

Die jetzt bestehende Menschheit, nicht die isolierten Vorstellungen eines vermeintlich vorgesellschaftlichen Urtypus ‚Mensch‘, welche die abstrakten Naturzustandstheorien legitimierten, bot nach Ferguson das Quellenmaterial für den Naturhistoriker.143 Dieses müsse allerdings nach verschiedenen Gesichtspunkten unter den Wissenschaften aufgeteilt werden: In treating Man, as a subject of history, we collect facts, and endeavour to conceive his nature as it actually is, or has actually been, apart of any notion of ideal perfection, or defect. In treating him as a subject of moral sciences, we endeavour to understand what he ought to be […].144

Es handelte sich folglich um eine epistemologische und methodologische Trennung, die auch das rein physische Wesen des Menschen einschloss, und deren separate Bearbeitung Ferguson durch die Erkenntnisinteressen der Naturzustandstheoretiker unterminiert sah. Ferguson kam zu dem Ergebnis, dass der Mensch seiner ‚progressiven Natur‘ folgt, die Ausdruck seines gleichbleibenden Wesens ist. Der Mensch produziert durch seine Ambition zur Progression die Gesetze des Systems der Menschheit.145 Das System der Menschheit ergab sich für Ferguson aus der Verschränkung von ‚Soziabilität‘ und ‚Perfektibiltät‘ als unhintergehbaren Prinzipien der menschlichen Natur: Mankind are to be taken in groupes, as they have always subsisted. The history of the individuals is but a detail of the sentiments and thoughts he has entertained in the view of the species: and every experiment relative to this subject should be made with entire societies, not with single men.146

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Vgl. Koselleck, Art. ‚Fortschritt‘, S. 371. Ferguson, Principles, Bd. 1, S. 195. Ferguson hatte mit seiner Kritik am Naturzustand ebenso Roussaus ‚edlen Wilden‘ wie den ‚homo homini lupus‘ Hobbesscher Provenienz im Blick. Vgl. ebd., S. 197ff. 144 Ebd., S. 1f. 145 „The bulk of mankind are, like other parts of the system, subjected to the laws of their nature, and, without knowing it, are led to accomplish its purpose.“ Vgl. ebd., S. 201. 146 Ferguson, Essay, S. 10. Fergusons vehementes Eintreten für die Untersuchung der ‚Gesellschaft‘ hat ihm die Würdigung als ‚Begründer der Soziologie‘ eingebracht. Vgl. William Christian Lehmann, Adam Ferguson and the Beginning of Modern Sociology. New York / London 1930; Herta Helena Jogland, Ursprünge und Grundlagen der Soziologie bei Adam Ferguson. Berlin 1959. Es sei jedoch darauf verwiesen, dass Ferguson diesen ‚soziologischen An-

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In der These von der ‚Soziabilität‘ manifestiert sich der Einfluss von Charles Louis de Secondat, Baron de la Brède et de Montesquieu (1689–1755) – insbesondere seiner Schrift L’esprit des lois –, in der er seine Abneigung gegenüber abstrakter Theoriebildung und Hinwendung zu einer mehr induktiv verfahrenden Untersuchung der Umstände menschlichen Lebens kenntlich gemacht und damit breiten Anklang in der schottischen Aufklärung gefunden hatte.147 Montesquieus Unterfangen, die unterschiedlichen Ausprägungen gesellschaftlicher Institutionen aus den Bedingungen und dem Umfeld ihrer Entstehung zu erklären, war die theoretische Grundlage für die strukturelle Analyse der jeweilig ort- und zeitgebundenen Kulturerscheinungen in den verschiedenen Gesellschaften.148 Dennoch erkannten die schottischen Rezipienten Montesquieus, bei aller Bewunderung für dessen systematischen Zugang, den fragmentarischen Charakter des Esprit des lois und bemängelten das Fehlen eines Organisationsprinzips, das es ermöglichte, die verschiedenen Gesellschaftsformen in einen übergreifenden Zusammenhang zu stellen.149 Die Bedeutung, die man in Montesquieus Beitrag zur Entwicklung der ‚Science of Man‘ sah, belegt der eingangs zitierte Vergleich von Millar, der den Verdienst Montesquieus um den induktiven Zugang mit dem Bacons in der Naturphilosophie gleichsetzte.150 Die tatsächliche Umsetzung des Vorhabens in der ‚Natural History of Mankind‘, das heißt die Ordnung der empirischen Daten in einem durch Gesetzmäßigkeiten bestimmten Prozess, sah man allerdings erst durch die Naturfor-

satz‘ gerade in Abgrenzung zu naturrechtlichen Konstrukten forcierte und ihn weniger die Gesellschaft als solche, als vielmehr die sie bestimmenden moralphilosophischen Kategorien in der Natur des Menschen beschäftigten. Vgl. Batscha / Medick, Einleitung, S. 52. Zu dieser empirischen Variante der Moralphilosophie vgl. auch Bachmann-Medick, Die ästhetische Ordnung des Handelns, S. 12f. 147 Hume hatte das Buch im Jahr seines Erscheinens in Italien gelesen und es mit nach Schottland gebracht, wo er 1750 zwei Kapitel (Buch XI, Kapitel 4: ‚Worin die Freiheit besteht‘ und Buch XIX, Kapitel 27: ‚Auf welche Weise die Gesetze bei der Ausbildung der Sitten, des Lebensstils und Charakters einer Nation mitzuwirken vermögen‘) im Original herausgab. Noch im gleichen Jahr erschien eine komplette französische Fassung und sechs Jahre später eine englische mit einer hohen Anzahl späterer Neuauflagen. Vgl. Trevor-Roper, The Scottish Enlightenment, S. 1655. Besonders Ferguson und Smith wurden stark von Montesquieu beeinflusst. Vgl. Vincenzo Merolle, Kommentar, in: The Correspondence of Adam Ferguson, Anm. 14, S. 39. 148 Isaiah Berlin nennt Montesquieu in diesem Zusammenhang treffend den „Botaniker der menschlichen Gesellschaft”, der „die idealen Typen der von ihm klassifizierten Organismen“ beschreibt. Vgl. Ders., Montesquieu, in: Ders., Wider das Geläufige. Ansätze zur Ideengeschichte. Frankfurt/M. 1994, S. 219–258, hier S. 231. 149 Ferguson schrieb über sein Studium der Naturphilosophie: „I like my Situation very well, & begin to admire Sr Issac Newton as I did Homer & Montesquieu.“ Vgl. Ferguson to Gilbert Elliot 1759, in: The Correspondence of Adam Ferguson, S. 36. Zum französischen Begriff der ‚Histoire Raisonnée‘, der durch Dugald Stewart mit ‚Conjectural History‘ parallelisiert wurde, vgl. Phyllis K. Leffler, The ‚Histoire Raisonnée‘, 1660–1720. A Pre-Enlightenment Genre, in: Journal of the History of Ideas 37 (1976), S. 219–240, hier S. 237. 150 „The great Montesquieu pointed out the road. He was the Lord in this branch of Philosophy. Dr. Smith is the Newton.“ Vgl. Millar, An Historical View, S. 431.

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schungen Newtons und ihres Einsatzes in der Menschheitsgeschichte eingelöst.151 Im Prinzip ergab sich aus der offenen Kritik an Rousseaus ‚Perfektibilitätsthese‘ und den Vorbehalten gegenüber Montesquieus Systemtheorie der Gesellschaften das spezifisch schottische Menschheitsgeschichtskonzept, in dem das statische Kulturgeschichtsmodell Montesquieus durch eine Synthese aus ‚Uniformitätsthese‘ und ‚Perfektibilität‘ im Sinne Rousseaus in gattungsgeschichtlicher Perspektive dynamisiert wurde.152 Ferguson führte dazu aus, dass, auch wenn die übergreifendenden Konsequenzen im Gattungsverlauf nicht durch den Einzelwillen der Menschen intendiert seien, sich die Prozesse der Menschheitsgeschichte durch die Uniformität der menschlichen Antriebe ähnelten.153 Gleichzeitig verwehrte sich Ferguson dagegen, aus diesen Überlegungen eine gesetzmäßige Notwendigkeit des Gattungsverlaufes ableiten zu wollen. Durch seinen freien Willen sei der Mensch, im Gegensatz zu Pflanzen und Tieren, in der Lage den Prozess selbst zu beeinflussen, wobei dieser von der ständigen Gefahr begleitet sei, zirkulär zu verlaufen: The progress of nations in one age, to high measures of intellectual attainment and cultivated manners, is not more remarkable than the decline that sometimes ensues in their fall to extreme depravation and intellectual debility.154

Aus der Erkenntnis der Bestimmtheit des Menschen durch seine Naturanlagen konnte wiederum die Bestimmung des Menschengeschlechts abgeleitet werden, da die ‚Perfektibilität‘ nicht nur das Individuum, sondern auch den Gattungsverlauf determinierte.155 Der Grad der gesellschaftlichen Fortschrittlichkeit war wiederum 151

Peter Stein sieht den entscheidenden Schritt zu einer historischen Untersuchung der Entwicklung der Gesellschaft in Adam Smiths Synthese aus Montesquieus ‚Soziologie‘ und Kames’ ‚Historismus‘. Vgl. Ders., Law and Society in Eighteenth Century Scottish Thought, in: N. Phillipson / R. Mitchison (Hg.): Scotland in the Age of Improvement. Edinburgh 1970, S. 148– 168, hier S. 159. Die Bedeutung von Rousseau wurde in diesem Zusammenhang oftmals unterschätzt. 152 Neben den klaren Bezügen der schottischen Autoren zu Montesquieu, die besonders die Verfassungstypologie betrafen, verdankt sich die Inkorporierung der schottischen Naturgeschichtsschreibung in die ‚School of Montesquieu‘ vor allem der Rezeptionsgeschichte. Vgl. Tytler, Memoirs, Bd. 2, S. 200 und Stewart, Account of the Life and Writings of Adam Smith, S. XLVIII f. 153 Noch in der Frühphase der schottischen Aufklärung stand die Diskussion um die menschlichen Antriebe im Vordergrund der Frage der Vergesellschaftung (Hutcheson). So wurde einerseits die Debatte um die instinkthafte Soziabilität (Pufendorf, Locke) im Umfeld der Frage von erlernten oder angeborenen Ideen geführt und andererseits die Theorie der Formierung der Gesellschaft als spontanous order der unintended consequences menschlichen Handelns vertreten (Mandeville). Diese Fragen haben auch noch in der Spätaufklärung Relevanz für die Ursachen gesellschaftlicher Veränderung, wobei die Frage nach dem Ursprung von Gesellschaft überhaupt in den Hintergrund tritt. Vgl. Ronald Hamowy, The Scottish Enlightenment and the Theory of Spontanous Order. Carbondale 1987, S. 7ff. 154 Ferguson, Principles, Bd. 1, S. 202. 155 Zur aufklärerischen Vorstellung der ‚Bestimmung der Menschheit‘ als ‚Humanität‘, die besonders in der deutschen Diskussion hervortrat, vgl. Hans-Erich Bödeker, Art. ‚Menschheit, Humanität, Humanismus‘, in: Brunner / Conze / Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe.

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vom sittlichen Status ihrer Mitglieder abhängig.156 Den Unternehmungen der Naturhistoriker der Menschheit, wie etwa dem James Dunbars, ging es darum, die Ordnung dieses Entwicklungssystems – mit seinen Fort- und Rückschritten – zu durchschauen: „But it is the order of improvement merely, not the chronological order of the world, that belongs to this enquiry. Degeneracy, as well as improvement, is incident to man.“157 Rousseaus Thesen veranlassten auch den Glasgower Juraprofessor John Millar zu einer kritischen Auseinandersetzung, indem er seine Schrift über die Diversifikation der Gesellschaft als bewusste Umdeutung der gleichen Fragestellung anlegte, die auch Rousseau in seinem ‚Zweiten Diskurs‘ beschäftigt hatte. Diese Umdeutung ist schon an der Wahl des Titels abzulesen: „The Origin of the Distinction of Ranks: Or, An Inquiry into the Circumstances which gave Rise to the Influence and Authority in the Different Members of Society.“158 Rousseau hatte seinen ‚Diskurs‘ damit begonnen, alle Tatsachen beiseite zu lassen: Il ne faut prendre les Recherches, dans lesquelles on peut entrer sur ce Sujet, pour des verités historiques, mais seulement pour des raisonnemens hypothétiques et conditionnels; plus propres à éclaircir la Nature des choses, qu’à en montrer la veritable origine, et semblables à ceux que font tous les jours nos Physiciens sur la formation du Monde.159

Millar hatte sowohl mehr Zutrauen zur zeitgenössischen Naturphilosophie als auch in die Möglichkeit der Erkenntnis ‚historischer Wahrheiten‘, die methodisch exakt dem induktiven Verfahren der Ersteren zu folgen habe, um zu Erfolg und über hypothetische Mutmaßungen hinaus zu gelangen.160 Nach Millar hatte sich Rousseau dazu verstiegen, den Geist der Freiheit als Naturanlage des Menschen zu sehen, der mit dem Fortschreiten der Zivilisation sukzessive abnehme. Dieser roBd. 3. Stuttgart 1982, S. 1063–1128, hier S. 1063. Der Doppelbedeutung von ‚Menschheit‘ entsprechen im Englischen verschiedene Begriffe. Während ‚mankind‘ als Gattungsbezeichnung dient, bezeichnet ‚humanity‘ die Natur des Menschen, was ihn als Menschen ausmacht – die Humanität. Vera Nünning sieht in der „Entdeckung der Menschlichkeit“ im 18. Jahrhundert ein Gegenkonzept zur virtù als oberste Maxime des Handelns in der civic tradition. Vgl. Dies., Die Entdeckung der Humanität als kulturgeschichtliches Phänomen. Veränderung in Menschenbild und Selbstverständnis von Engländern im 18. Jahrhundert, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 68 (1994), S. 214–237, hier S. 217. 156 Ferguson, Principles, Bd. 1, S. 205. 157 Dunbar, Essays on the History of Mankind, S. 3. 158 In der ersten Auflage von 1771 hatte der Titel des Werks Observations concerning the Distinction of Ranks in Society gelautet. Erst die dritte Auflage von 1779 trug diesen selbstbewussteren Titel. Die Änderung des Titels wurde auch als Anlehnung an eine Kapitelüberschrift von Adam Smith, ‚Of the Origin and Ambition and of the Distinction of Ranks‘, in dessen Theory of Moral Sentiments interpretiert. Zu den verschiedenen Auflagen vgl. William C. Lehmann, Introduction of the Editor, in: John Millar of Glasgow 1735–1801. His Life and Thought and his Contributions to Sociological Analysis. Cambridge 1960, S. 167–172. 159 Rousseau, Discours sur l’inegalité, S. 70. 160 Millar nennt Newton, Locke, Hume und Smith als seine Vorbilder in der englischen Philosophie. Vgl. Ders., Letter I to the Editor of the Scots Chronicle 1796, in: Ders., Letters of Crito, hg. v. V. Merolle. Rom 1984, S. 45.

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mantischen Vorstellung vom Naturzustand hielt Millar ihre mangelnde historische Absicherung entgegen. Seines Erachtens habe sich erst mit der Einführung des Eigentums eine Hierarchie in der Gesellschaft entwickelt, aus deren Subordinationsstrukturen das Bewusstsein der Liebe zur Freiheit hervorgegangen sei.161 Nur eine Untersuchung der historischen Umstände könne die Entstehung der Ungleichheit und damit die Gründe für die Unterdrückung der Idee der Freiheit erklären.162 Millars Überlegungen galten folglich weder dem Naturzustand noch einer detaillierten anthropologischen Grundlegung der Gesellschaft als ihrer Entwicklung selbst. Dabei wird deutlich, dass Millar anders als Ferguson nicht als Moralphilosoph, sondern als Rechtshistoriker Geschichte schrieb.163 Nicht überzeitliche Handlungsnormen sollten aus der Geschichte abgeleitet werden, sondern die Ursachen politischer und gesellschaftlicher Veränderungen, um Rechtsnormen zur Stabilisierung der Gesellschaft bilden zu können, die wiederum auf das Wesen des Menschen zurückwirkten. Das Ziel einer ‚bürgerlichen Freiheit‘ war für ihn nicht wie bei Ferguson eine moralische Haltung des Bürgers innerhalb der ‚polis‘, als ein souveräner Rechtsstatus gleichgestellter Bürger. Die ‚commercial society‘ bot dabei die Chance, durch die Möglichkeit zu unabhängiger Erwerbstätigkeit die gesellschaftliche Ungleichheit aufzuheben und die Grundlage einer bürgerlichen Gleichheit zu schaffen.164 Die Vorstellung eines ‚natürlichen Fortschritts‘ des Men-

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„Where ever men of inferior condition are enabled to live in affluence by their own industry, and in procuring their livelihood, have little occasion to court the favour of their superiors, there we may expect that the ideas of liberty will be universally diffused.“ Vgl. Millar, The Origin, S. 241f. 162 Neben Rechtsfragen interessierten John Millar die politischen Fragen seiner Zeit. Im Gegensatz zu Adam Ferguson gehörte er zu den Befürwortern der Unabhängigkeitsbestrebungen der amerikanischen Kolonien und war auch nach der Enthauptung Ludwigs XVI. ein überzeugter Anhänger der Französischen Revolution: „In the proportion as the French Revolution was grateful to those who rejoiced in the extension of political liberty, it gave rise to the unpleasant sensations in the absolute sovereigns of Europe. Their authority was obviously founded on opinion; and that opinion rested on old custom and prejudice. If the people should once be led to think upon the subject of government, they must immediately see the absurdity of sacrificing their lives, and everything they hold valuable, to the private interest, to the avarice and ambition, to the whim and caprice of a single individual. They must immediately see that government is intended, by the wise and good Author of nature, for the benefit of the whole community; and that every power, inconsistent with this great principle, assumed by any person, king, or emperor, is manifestly unjust and tyrannical.“ Vgl. Ders., Letters II–XV to the Editor of the Scots Chronicle 1796, in: Ders., Letters of Crito, S. 48–149, hier S. 52f. Zu Millar vgl. auch Hans Medick / Annette Leppert-Fögen, Frühe Sozialwissenschaft als Ideologie des kleinen Bürgertums: John Millar of Glasgow, 1735–1801, in: H.-U. Wehler (Hg.): Sozialgeschichte heute. Göttingen 1974, S. 22–48. 163 In der rechtstheoretischen Ausrichtung der Menschheitsgeschichte hatten Kames Schriften vorbildhaften Charakter für Millar ebenso wie für seinen Lehrer Adam Smith. Vgl. Stein, Law and Society, S. 159. 164 Millar, The Origin, S. 295. Hans Medick und Annette Leppert-Fögen haben am Beispiel von Millars Schriften die Thesen John Pococks kritisiert, der einerseits durch seinen „starren Blick auf die Kontinuität des politischen Humanismus antiker Provenienz“ die veränderte politische Funktion der Werke übersehe und andererseits die gesellschaftlichen Veränderungen durch die

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schengeschlechts entstand bei Millar – ähnlich wie bei Ferguson und Dunbar – aus einer Kombination der Perfektibilitätsthese mit der Annahme von der gleichbleibenden Menschennatur.165 Eine deutliche Entgrenzung dieses Modells erfolgte jedoch, insoweit Millar ‚Perfektibiltät‘ und ‚Uniformität‘ mit dem historischen Prozess selbst in Zusammenhang brachte: There is, however, in man a disposition and capacity for improving his condition, by the exertion of which, he is carried on from one degree of advancement to another; and the similarity of his wants, as well as of the faculties by which those wants are supplied, has every where produced a remarkable uniformity in the several steps of his progression.166

Mit diesem Schritt der Übertragung der anthropologischen Konstanten auf die Entwicklung der Gesellschaft verdeutlicht sich der Übergang von der ‚Science of Man‘ zur ‚Natural History of Mankind‘.167 Ein Schritt vom Primat der Anthropologie zum Studium des Sozialen und Geschichtlichen unter anthropologischem Blickwinkel, dem Hume einen eigenständigen Erkenntniswert und den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit abgesprochen hatte. Die Entwicklung der Menschheit wird bei John Millar hingegen als substantieller Emanzipationsprozess hin zu einer mündigen Bürgergesellschaft verstanden, die den idealen Ausdruck des Menschseins bildet. Als Basis der Untersuchung des Menschengeschlechts wird die Selbsterhaltung als grundlegendes Prinzip der konstanten Natur des Menschen und die Perfektibilität in eins gesetzt.168 Gerade die Beschäftigung mit der Naturgeschichte des Menschen in seinen verschieden Zuständen – von „rude“ bis „refined“ – schien eine fortschreitende Ausbildung der Vernunft zu offenbaren, sowohl im Entwicklungsvorgang des Individuums als auch der Gattung. Diese Überzeugung vertrat zumindest ein prominenter Schüler Smiths und Millars, David Steuart Erskine / Lord Cardross / Earl of Buchan (1742–1829): Nor is the change in the condition of man, in consequence to the progress of reason, by any means contrary to the general anology of his natural history. In the infancy of the individual, his existence is preserved by instincts, which disappear afterwards, when they are no longer ‚commercial society‘ für das politische Bewusstsein der Autoren unterschätze. Vgl. Dies., Frühe Sozialwissenschaft, S. 25f. 165 Millar, The Origin, S. 4. 166 Ebd., S. 2f. 167 „The following Inquiry is intended to illustrate the natural history of mankind in several important articles. This is attempted, by pointing out the more obvious and common improvements which gradually arise in the state of society, and by showing the influence of these upon the manners, the laws, and the government of a people.“ Vgl. ebd., S. 11. Der Terminus ‚Natural History of Mankind‘ (Ferguson, Millar) und ‚History of Mankind‘ (Kames, Dunbar, Russell) nimmt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auffällig zu und kann als klarer Ausdruck der Erweiterung der älteren anthropologisch orientierten Konzepte der ‚Science of Man‘ (Hume) oder der ‚Observations on Man‘ (Hartley) gewertet werden. Hans Medicks Bezeichnung als ‚Natural History of Society‘ ist insofern irreführend, als sie eine Neuschöpfung ist und den ‚sozialwissenschaftlichen‘ Aspekt der Schriften stark in den Vordergrund rückt. Vgl. Ders., Naturzustand und Naturgeschichte, S. 134. 168 Vgl. Buck, Selbsterhaltung und Historizität, S. 217.

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necessary. In the savage state of our species, there are instincts which seem to form a part of the human constitution, and of which no traces remain in those periods of society in which their use is superseded by a more enlarged experience.169

Ausgehend von diesen Überlegungen stellte sich für Buchan die weitergehende Frage, ob nicht ähnliche Entwicklungen auch für die politisch-gesellschaftliche Ordnung in der Zukunft zu erhoffen seien:170 „Why then should we deny the probability of something similar to this in the history of man, considered in his political capacity?“171 Die Erkenntnisse über die Emanzipation des selbstständigen Subjekts von natürlichen Zwängen konnten selbige auch für die politischen Bedingungen in Aussicht stellen und eröffneten somit die Perspektive auf eine frei gestaltbare Zukunft.172 Die Möglichkeit zur freien Gestaltung einer zukünftigen Entwicklung musste allerdings wiederum auf den Kenntnissen der Gesetze der Natur basieren, die einerseits den Menschen in seinen Antrieben und, in den Augen mancher Theoretiker, nun auch den Gang der Gesellschaft selbst betreffen konnten.173 Diese Überlegungen hinsichtlich seiner Hoffnungen „of the progress of the human race“ stellte David Steuart Erskine / Earl of Buchan unter dem Pseudonym ‚Albanicus‘ 1792 in einer Buchbesprechung an. Der schottische Adelige hatte bei Millar in Glasgow studiert, zählte sich vor 1791 zu den Anhängern der Französischen Revolution und setzte sich für einen demokratisierenden Wahlmodus bei der Berufung der schottischen Abgesandten für das englische Parlament ein. Sein offener Fortschrittsoptimismus wurde von wenigen seiner akademischen Kollegen mitgetragen und markiert dennoch einen Tenor, der viele populärere Artikel der Spätzeit der schottischen Aufklärung bestimmt. Vgl. Ders., On [Dugald] Stuart’s Elements [of the Philosophy of the Human Mind. 3 Bde. Edinburgh 1792–1827], in: The Bee, or a literary weekly Intelligencer, 10 (1792), S. 140–146, hier S. 145. Zur Auflösung des Pseudonyms vgl. William Cushing (Hg.): Initials and Pseudonyms. A Dictionary of Literary Disguise. London 1886, S. 8. Ian Simpson Ross attestiert Buchan, dass „er in seinem Denken und Tun in einem Maße furchtlos [war], das nachgerade als exzentrisch galt“. Vgl. Ders., Adam Smith, S. 209. 170 Ein Biograph Buchans schreibt über ihn: „No nobleman of Scotland never entered more warmly into the cause of freedom.“ Vgl., The Dictionary of National Biography, S. 820. 171 Buchan, Stuart’s Elements, S. 145. 172 Adam Ferguson interpretierte gerade die scheinbare Unvollkommenheit der menschlichen Natur als Triebfeder zur Einlösung seiner Bestimmung zur Vollkommenheit im Verlauf der Geschichte der Menschheit: „That the birth of a man is more painful and hazardous; that the state of his infancy is more helpless, and of longer duration, than is exemplified in the case of any other species, may be ranked with the apparent comparative defects of his animal nature: But this circumstance, we may venture to affirm, like many others of his seeming defects, is of a peace with that superior destination, which remains to be fulfilled in the subsequent history of mankind.“ Vgl. Ders., Principles, Bd. 1, S. 28. Hier wird die von Reinhart Koselleck für die Entstehung historischen Denkens kategoriale Trennung von ‚Erfahrung‘ und ‚Erwartung‘ deutlich. Die Erfassung von Vergangenheit, Gegenwart und die Eröffnung einer veränderten Zukunftsperspektive soll zu einem kohärenten Entwicklungsprozess – der ‚Geschichte der Menschheit‘ – verschmolzen werden. Vgl. Ders., ‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘, S. 362f. 173 Eine sehr markante Postion findet sich hier wiederum bei David Steuart Erskine / Earl of Buchan: „[...] [A]nd therefore what we commonly call political order, is, at least in a great measure, the result of the passions and wants of man, combined with the circumstances of his situation, or, in other words, it is chiefly the result of the wisdom of nature. So beautifully, indeed, do these passions and circumstances act in subserviency to her designs; and so invariable have they been found, in the history of past ages, to conduct men, in time, to certain beneficial 169

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Eine Interessensverschiebung also von der ‚Science of Man‘ zur ‚Natural History of Mankind‘, die sich besonders in der jüngeren Generation schottischer Aufklärer und der populären Umsetzungen ihrer Schriften Bahn brach.174

3.2. Die Methoden der ‚Science of Man‘ Die Annahme, dass die Veränderungsmuster des Menschen universale Gültigkeit besitzen, ließ die Geschichte zum realiter existierenden Prüfstein für die Theoriebildung werden.175 Das weiterhin bestehende methodische Problem, wonach die Beschreibung historischer Begebenheiten einer willkürlichen Anordnung der gesammelten Daten gehorche, machte es nötig, diese Faktengewinnung wissenschaftlichen Standards anzunähern.176 In diesem Sinne stellte Adam Ferguson grundsätzliche Überlegungen über das Wesen einer ‚Wissenschaft vom Menschen‘ an, die er als vorlesungsbegleitenden Leitfaden publizierte.177 Dieser 1769 unter

arrangements, that we can hardly bring ourselves to believe that the end is not foreseen by those who were engaged in the pursuit. Even in those rude periods of society, when, like the lower animal, he follows blindly his instinctive principles of action, he is lead by an invisible hand, and contributes his share to the execution of a plan, of the nature and advantages of which he has no conception […].“ Vgl. Ders., Stuart’s Elements, S. 145f. Mit dem Konzept der ‚invisible hand‘ rekurriert Buchan klar auf Adam Smith, den er zu Beginn des Artikels auch als Mentor beleumundet. Buchan beschreibt sich selbst im Wandel der Philosophie der zurückliegenden 40 Jahre als „subject of historian ages“. Vgl. ebd., S. 141. Zu diesem Wandel der Wahrnehmung der Zeitgenossen und seiner philosophischen Verarbeitung vgl. neben Koselleck auch Heinz-Dieter Kittsteiner, Naturabsicht und Unsichtbare Hand. Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Denkens. Frankfurt a.M. / Berlin / Wien 1980, S. 34ff. 174 Aus der ‚jüngeren‘ Generation der ‚Natural Historians‘ sind besonders hervorzuheben John Millar (1735–1801) und James Dunbar (1742–1798). Eine ‚journalistische‘ Umsetzung erfolgt etwa in den Schriften des Earl of Buchan (1742–1829) oder in der populären Kompilation von John Adams, Curious Thoughts in the History of Man; chiefly abridged and selected from the celebrated works from Lord Kaimes, Lord Monboddo, Dr Dunbar, and the immortal Montesquieu: Replete with useful and entertainment instruction, on a variety of important an popular subjects. Designed to promote a spirit of enquiry in the British Youth of Both Sexes. And to make the Philosophy as well as the History of the human species, familiar to ordinary capacities. London 1789. 175 „So history is a goldmine for the science of human nature.“ Vgl. Marina Frasca-Spada, The Science and Conversation of Human Nature, in: Clark / Golinski / Schaffer, The Sciences in Enlightened Europe, S. 218–245, hier, S.222. 176 „[...] [D]escriptive History is in a certain degree arbitrary & may be varyed to facilitate comprehension or memory: but in science it is fixed in Nature and cannot be varied without frustrating the very Purpose for which it is instituted.“ Vgl. Ferguson, Of the Science, MS. Dc. 1. 42 **, No. 22, (EUL), [unpag.]. 177 Als Vorläufer dieses Leitfadens gilt die kleine Schrift Analysis of pneumatics and moral philosophy, die Ferguson 1766 unter den Hörern seiner Vorlesungen verbreiten ließ. Vgl. Norbert Waszek, Art. ‚Adam Ferguson‘, in: H. Holzhey (Hg.): Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 18. Jh. Bd. 1/1. Basel 2004, S. 603–618, hier S. 608.

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dem Titel Institutes of Moral Philosophy erschienene Leitfaden erreichte für ein Lehrbuch dieser Zeit eine ungewöhnlich große Popularität:178 These institutes contain heads from which lectures are given, which comprize masterly reflections on the history of mankind, and an instructive analysis of the human mind; which exhibit an elegant and ingenious system of morality; and the most comprehensive views on jurisprudence and political law.179

Das kleine Oktavbändchen erfuhr mehrere Auflagen, wurde als Reprint der englischen Ausgabe in Frankfurt (1786), Basel (1800) und Madras (1828) vertrieben.180 Die erste deutsche Übersetzung von Christian Garve erschien schon 1772 in Leipzig,181 eine von Ferguson autorisierte französische Fassung 1775 in Genf, eine italienische 1790 und eine russische 1804. Die weite Verbreitung des Werkes und sein ausgesprochener Lehrbuchcharakter182 geben Einblick in das angewandte Wissenschaftsverständnis der Menschheitshistoriker in der schottischen Aufklärung. Wissenschaftliche Ergebnisse können nach Ferguson erst dann erzielt werden, wenn aus den gesammelten Einzelerscheinungen ‚allgemeine Regeln‘ abgeleitet werden könnten. Jede allgemeine Regel, die Tatsachen beschreibe beziehungsweise vorgebe, was ‚gut‘ und ‚richtig‘ sei, bezeichnet man als ‚Gesetz der Natur‘. Eine ‚allgemeine Regel‘, die auf Einzelerscheinungen übertragen wird, heißt ‚Prinzip‘. Erklärungen, die auf solchen Prinzipien basieren, werden ‚Theorie‘ oder ‚System‘ genannt. Die Wissenschaft verfahre dabei einerseits in der Methode zur Festsetzung ‚allgemeiner Regeln‘ aus Einzelbeobachtungen ‚analytisch‘, während andererseits die synthetische Methode dazu angetan sei, von einer allgemeinen Regel zu ihrer besonderen Anwendung fortzuschreiten. Die analytische Methode leiste die ‚Erfindungen‘ in der Wissenschaft, während die synthetische zur ‚Belehrung‘

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Das Buch wurde für zwei Schilling und sechs Pence in den Seminaren verkauft und die Inhaltsangabe sowie Exzerpte wurden im Scots Magazine abgedruckt. „The Institutes proved to be more popular than most textbooks“. Vgl. Fagg, Biographical Introduction, S. XLI. 179 So der Rezensent über die zweite Auflage in: The Edinburgh Magazine and Review 1 (1773/74), S. 103. 180 Vgl. Fagg, Biographical Introduction, S. XLI. 181 Fergusons ‚Institutes‘ haben durch Christian Garves Übersetzung in Deutschland weite Verbreitung gefunden. Schon 1787 erschien die zweite Auflage. Garve hat seiner Übersetzung einen langen Kommentar beigefügt, in dem er sich ausführlich und durchaus kritisch mit Ferguson auseinandersetzte. Vgl. Ders., Anmerkungen des Uebersetzers, in: Adam Fergusons Grundsätze der Moralphilosophie. Leipzig 1772, S. 287–420. Zu Garves ‚eigenwilliger‘ Übersetzung und ihrer Rezeption vgl. Oz-Salzberger, Translating the Enlightenment, S. 196ff. 182 So gehörten Fergusons ‚Institutes‘ in Garves Version zu Friedrich Schillers Lektüre in der Karlsschule, wo Ferguson als „der Lieblingsphilosoph auf der Militärakademie“ zu gelten schien. Vgl. Oz-Salzberger, Translating the Enlightenment, S. 283. Lord Kames soll das Buch nicht sehr hoch geschätzt haben und hielt es für „a careless trifle intended for his scholars and never meant to wander out of that circle“. Vgl. Fagg, Biographical Introduction, Anm. 72, S. CVII.

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diene. Die Beweise würden entweder vom ‚Gesetz‘ „a priore“ oder von der ‚Einzelerscheinung‘ her „a posteriore“ geführt.183 Diese proto-hermeneutische Methode beziehungsweise die Parallelität zweier Methodenauffassungen in einem Wissenschaftsbegriff, wie sie im 18. Jahrhundert durchaus üblich war, ist hinsichtlich der Verschiedenheit ihrer Untersuchungsgegenstände und ihrer methodischen Vorgaben auf Missverständnisse und Kritik gestoßen.184 Der geistige Erbwalter der schottischen Aufklärung, Dugald Stewart, blendete den empirischen Anspruch dieses Ansatzes mit seiner induktiven Methode zur Gänze aus und konnte daher in seiner Beurteilung zu dem Ergebnis gelangen, es handele sich bei den ‚Natural Histories of Mankind‘ um ein rein durch a-priorische Grundsätze fundiertes Unternehmen: „To this species of philosophical investigation [...] I shall take the liberty of giving the title of Theoretical or Conjectural History“.185 Bezüglich der Quellen, die, wie vor allem die Reiseberichte Teil einer jeden Untersuchung dieser Art waren, kam Stewart zu dem Ergebnis, dass diese zur Unterstützung der Glaubhaftigkeit abstrakter Spekulationen dienten;186 von empirischer Grundlegung jedoch nicht die Rede sein könne. Die Bezeichnung ‚conjectural‘ legt von dieser Überzeugung beredtes Zeugnis ab, während ‚history‘ nur den Gegenstand als ‚einzelne Erscheinung‘ in der Erkenntnistheorie bezeichnet, nicht aber als Beschreibung eines historischen Zusammenhangs gesehen wird. Gleichzeitig billigte Stewart diesem Ansatz zu, dass er durch seine an Wahrscheinlichkeit grenzenden Mutmaßungen das Vakuum des mangelnden historischen Be183 184

Vgl. Ferguson, Institutes, S. 2f. Peter Hanns Reill hat es unternommen, die Kritik an der angeblich unzulässigen Grenzüberschreitung in der Wissenschaftsauffassung dieses Ansatzes zugunsten einer synthetischen Lesart der Methoden als unzutreffend darzulegen. Einerseits schlage das Argument eines dominierenden aufklärerischen Rationalismus (Hayden White) fehl, und andererseits setze die Ablehnung der Übertragung naturwissenschaftlicher Modelle auf die ‚Geisteswissenschaften‘ (Friedrich Meinecke) eine Trennung voraus, die im 18. Jahrhundert nicht vorfindlich gewesen sei. Reill sieht in diesem Modell hingegen „einen einzigartigen Versuch zur Verbindung des allgemeinen mit dem Besonderen“. Dieser Interpretation verdankt vorliegende Arbeit maßgebliche Einsichten, wobei der innovative Vergleich von Ferguson und Schlözer die Gefahr birgt, den Focus zu stark auf eine wissenschaftlich betriebene Historie zu verengen. Diese lag im Blickpunkt Schlözers, während Ferguson eine historisch fundierte Wissenschaft vom Menschen befördern wollte. Vgl. Ders., Das Problem des Allgemeinen und des Besonderen im geschichtlichen Denken und in den historiographischen Darstellungen des späten 18. Jahrhunderts, in: K. Acham / W. Schulze (Hg.): Teil und Ganzes. München 1990, S. 141–168, hier S. 146. 185 Erstmalig verwendet hat Stewart diese Bezeichnung in Vorträgen, die er 1793 über Smiths akademische Bedeutung vor der Royal Society in Edinburgh hielt. Er bezog sich dabei auf Smiths Dissertation on the Origin of the Languages (1761) und weitete die Bezeichnung, die er in einer Tradition zu Montesquieu sah, auf Schriften von Hume, Kames und Millar aus. Vgl. Stewart, Account, S. XLVII ff. Alexander Fraser Tytler / Lord Woodhouselee (1747–1813) zählte auch Adam Fergusons Essay on the History of Civil Society (1767) als „the most elegant of this specimen“ zu dieser Gattung. Vgl. Ders., Memoirs, Bd. 2, S. 200. 186 „In such inquiries, the detached facts which travels and voyages afford us, may frequently serve as land-marks to our speculations; and sometimes our conclusions a priori, may tend to confirm the credibility of facts, which, on a superficial view, appeared to be doubtful or incredible.“ Vgl. Stewart, Account, S. XLVI.

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richts zu füllen vermocht hatte, das sonst ‚Phantasmagorien‘ offen gestanden habe.187 Obwohl es Stewart zunächst darum ging, die ungewöhnlichen Arbeiten seiner Lehrer zur Menschheitsgeschichte schlicht zu charakterisieren und zu benennen, ist der kritische Unterton unüberhörbar.188 Stewart stellte den praktischen Nutzen dieser philosophisch erbauenden Schriften in Frage, da sie seiner Auffassung nach weder eine Bildungsfunktion erfüllten noch den Anforderungen moderner Wissenschaftlichkeit genügten: To a philosophical mind, no study can certainly be more delightful than this species of history; but as an organ of instruction, I am not disposed to estimate its practical utility [...]. It does not seem to me at all adapted to interest the curiosity of novices; nor is it so well calculated to engage the attention of those who wish to enlarge their scientific knowledge, as persons accustomed to reflect on the phenomena and laws of the intellectual world.189

In der Beurteilung von Fergusons Schüler Stewart190 manifestierte sich die Verengung des Wissenschaftsbegriffs auf eine stark induktiv ausgerichtete Methode.191 187

„[...] [Y]et if we can show, from the known principles of human nature, how all its various parts might gradually have arisen, the mind is not only to a certain degree satisfied, but a check is given to the indolent philosophy, which refers to a miracle, whatever appearances, both in the natural and moral worlds, it is unable to explain.“ Vgl. ebd., S. XLVI f. 188 In seinem Urteil deutlicher wurde Stewarts Kollege Alexander Fraser Tytler: „To readers of a metaphysical turn, or even to those of a lively imagination and sanguine temperament, who are caught by a beautiful and artful hypothesis, such inquiries afford the highest pleasure; while by the more sober, cautious, yet penetrating intellect, they are received with jealousy, scrutinized with phlegm, and in the end coldly laid aside, as airy, vague, and unsubstantial speculations.“ Vgl. Ders., Memoirs, Bd. 2, S. 112. 189 Dugald Stewart, Dissertation, in: Ders., Collected Works. Bd. 1. Edinburgh / London 1854, S. 384f. 190 Dugald Stewart hatte in Edinburgh unter anderem auch Fergusons Vorlesungen zur Moralphilosophie gehört, denen die ‚Institutes‘ als Begleittext dienten. Für seine eigenen Vorlesungen zur Moralphilosophie in Fergusons Lehrstuhlnachfolge (ab 1785) berief er sich indessen in der Hauptsache auf Thomas Reid, bei dem er ebenfalls ein Jahr (1771–1772) in Glasgow studiert hatte. Die Anhänglichkeit an Reid – „the true philosophical prophet“ – zeigt, dass Stewart der ‚common-sense‘-Philosophie offenbar näher stand als der Erkenntnistheorie im Gefolge Humes. Zu diesem Ergebnis gelangt auch der Stewart-Biograph John Veitch, der Humes Philosophie als zerstörerisch und Reid als den Erneuerer der Moralphilosophie in Schottland charakterisiert, dessen treuester Schüler Stewart gewesen sei: „No pupil ever caught the spirit of a master more fully, or more intelligently appreciated his method of philosophical inquiry.“ Vgl. Ders., Memoir of Dugald Stewart, in: Stewart, Collected Works. Bd. 10. London 1858, S. V–CXV, hier S. XXV. Eine klare Linie von Reid zu Stewart zieht auch Knud Haakonssen, Natural Law and Moral Philosophy. From Grotius to the Scottish Enlightenment. Cambridge 1996, S. 227. 191 Stewarts Charakterisierung des Ansatzes beeinflusste nachhaltig dessen Beurteilung. Auch die skeptische Haltung gegenüber den schottischen Autoren im 19. Jahrhundert basierte auf dem Urteil, es handele sich um eine rein spekulativ-deduktive Methode. So schreibt Henry Thomas Buckle, dass sich bei allen großen schottischen Autoren des 18. Jahrhunderts zeige, „that they regarded such inductions as unimportant in themselves, and as only valuable insofar as they supplied the premises for another deductive investigation“. Vgl. Ders., Introduction to the History of Civilization in England (1857–1861), Neuauflage, hg. v. J. M. Robertson. London / New York o.J., S. 798. Zu Stewarts ambivalenter Position vgl. auch Olson, Scottish Philosophy, S. 94ff.

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Seine Festschreibung des Ansatzes der ‚Natural Historians‘ als ‚philosophical investigation‘ vernachlässigte deren bewusste Ablehnung mutmaßlicher Thesen.192 Dabei darf auch nicht außer Acht gelassen werden, dass Stewart seine hagiographischen Studien dazu nutzte, seinen eigenen Ansatz als krönenden Abschluss einer beschwerlichen Suche nach der richtigen Methode zu stilisieren. Diese bestand für Stewart „in strict conformity to the rules of inductive philosophizing“ und damit in strikter Abgrenzung von Systemen, die auf ‚Hypothesen‘ fußten. Ein methodischer Vorwurf, den Stewart, im Gefolge Reids, an Humes ganzes philosophisches System sowie an die ‚conjectural historians‘ richtete, die in Humes Tradition standen.193 Tatsächlich erschien den solchermaßen verdächtigten Naturhistorikern nichts sinnloser als das bloße Sammeln von Fakten ohne systematischen Zugang: In collecting the materials of history, we are seldom willing to put up with our subject merely as we find it. We are loth to be embarrassed with a multiplicity of particulars, and apparent inconsistencies. In theory we profess the investigation of general principles; and in order to bring the matter of our inquiries within the reach of our comprehension, are disposed to adopt any system.194

Um der willkürlichen Wahl irgendeines systematischen Zugriffs entgegenzuwirken, führte Ferguson die Anordnung der Fakten wiederum auf zwei Gesetze der Natur zurück, die ‚physischen‘ und die ‚moralischen‘. Dabei bezeichneten die physischen Gesetze eine Veränderung, die wiederum zweierlei Ursachen zugeschrieben werden konnte: „Efficient, and final. The efficient cause, is the energy or power producing an effect. The final cause, is the end or purpose for which an effect is produced.“195 Die ‚Endursache‘ sei das Ziel der moralischen Gesetze und deren Geltungskraft obligatorisch, während die physischen Gesetze sich auf die tatsächlichen Veränderungen bezögen und damit der unmittelbare Gegenstand der Wissenschaften seien. Demnach bestand die Funktion einer Theorie für Ferguson darin, die beobachteten Veränderungen auf allgemeine Prinzipien a priori zurückzuführen.196 Diese allgemeinen Prinzipien dürften jedoch nicht willkürlich

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Ferguson warnt vor dem Abgleiten einer Untersuchung in bloße Mutmaßungen: „We are often tempted in these boundless regions if ignorance and conjecture [...].“ Vgl. Ders., Essay, S. 12. 193 Auch Paul B. Wood nutzt Stewarts biographische Skizzen, um mehr Licht auf die Entwicklung und die Spannungen innerhalb der schottischen Aufklärungsphilosophie zu werfen. Vgl. Ders., The Hagiography of Common Sense: Dugald Stewart’s Account of the Life and Writings of Thomas Reid, in: A. J. Holland (Hg.): Philosophy, Its History and Historiography. Dordrecht 1985, S. 305–322, hier S. 316. 194 Ferguson, Essay, S. 21. 195 Ferguson, Institutes, S. 4f. Garve übersetzt „Wirkende und Endursachen“. Vgl. Ders., Grundsätze, S. 4. 196 „Theory consists in referring particular operations to the principles, or general laws, under which they are comprehended; or in referring particular effects to the causes from which they proceed“. Ferguson, Institutes, S. 7.

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angenommen werden, sondern müssten nach Maßgabe der ‚Probabilität‘ und der ‚Kompatibilität‘ mit den übrigen Gesetzen der Natur aufgestellt werden.197 Auch Kames gab dieser Überzeugung Ausdruck, indem er seine erkenntnistheoretischen Überlegungen zur Naturphilosophie mit der Aussage krönte: „[...] [P]robability comes in place of certainty, and the convictions inferior in degree.“198 Die Problematik der theoretischen Unterscheidung einer willkürlichen und einer wahrscheinlichen Feststellung einer allgemeinen Regel wurde dabei häufig – wie auch bei Ferguson – durch eine Gegenüberstellung von Newtons Methode und dem cartesianischen Weltbild verdeutlicht. Während Newton seine Bewegungslehre der Planeten aus allgemeinen Gesetzen der Mechanik abgeleitet habe, habe Descartes durch seine unhaltbaren Hypothesen eine ‚falsche Wissenschaft‘ befördert: „Thus the vortex of Descartes, being a mere suppostition, could not explain the planetary motions: and the terms, idea, image, or picture, of things, being terms merely metaphorical, cannot explain human knowledge and thought“.199 Der Gegensatz von induktiver und deduktiver Methode wurde an dieser Stelle aufgeweicht, da es augenscheinlich sei, dass jede Theorie letztlich auf Grundfakten beruhe und nicht für jedes Faktum ein Beweis a priori geführt werden könne.200 Alle Materialien, die nicht einer allgemeinen Regel unterworfen werden könnten, seien Gegenstände der ‚Natural History‘. Die ‚Maxime‘, denen diese Wissenschaft zu folgen habe, bestehe darin, dass nichts zu einem Gesetz der Natur gemacht werden dürfe, bevor man dieses faktisch durch beobachtungsgeleitete Forschung in der Natur bestätigt finde.201 Ähnlich lautende methodische Überlegungen sind auch aus den Vorlesungsmitschriften der Hörer James Dunbars erhalten: [...] [N]ature’s laws can only be discovered by an attentive and accurate observation of the Phenomena. When these laws are thus ascertained then, and not till then, the synthesis is introduced with propriety.202

Dieses sich gegenseitig bedingende Verhältnis aus Naturgesetz und singulärer Naturerscheinung sei nach Ferguson ebenso auf die Naturgeschichte der Menschheit 197

Der ‚hermeneutische Probabilismus‘ fungierte als Gegenkonzept zum Anspruch auf ‚Notwendigkeit‘ der Urteile in der klassischen Philosophie. Da mir keine Untersuchung zu diesem philosophischen Problem in der Forschung zur schottischen Aufklärung bekannt ist, orientiere ich mich an den Ausführungen zur deutschen Aufklärung von Lutz Danneberg, Probabilitas hermeneutica. Zu einem Aspekt der Interpretations-Methodologie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Aufklärung 8 (1994), S. 27–48. 198 Kames, Sketches, Bd. 3, S. 189. 199 Ferguson, Institutes, S. 8. In einem ähnlichen Sinne, aber etwas milder gegenüber Descartes, vgl. Voltaire, Briefe aus England, hg. v. R. Bittner. Zürich 1994, S. 80ff. 200 Ferguson, Institutes, S. 8f. 201 „Maxims of Reason, to be followed in speculations, as well as in common life.“ Vgl. ebd., S. 10. 202 Dunbar macht die Vernachlässigung des analytischen Urteils und die Liebe zum System der klassischen Philosophie dafür verantwortlich, dass sie keine bahnbrechenden Entdeckungen in der Naturphilosophie zu verzeichnen gehabt habe. Vgl. Ders., Lectures in naturally Philosophy, MS. Dc. 7. 124 (EUL), [unpag.].

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übertragbar, da nur auf diesem methodischen Wege sichere Aussagen zur Gesetzlichkeit der moralischen Welt zu erlangen seien: Before we can ascertain rules of morality fitted to any particular nature, the fact relating to that nature should be known. Before we ascertain rules of morality for mankind, the history of man’s nature, his dispositions, his specific enjoyments and sufferings, his condition and future prospects, should be known.203

Ferguson begann seine Vorlesung folglich mit der ‚Natural History of Man‘ und zwar hinsichtlich ihrer physischen, geographischen, moralischen, soziologischen, politischen und kulturellen Aspekte. Eine weitere methodologische Entfaltung dieses Vorhabens nahm er nicht vor. Er folgte seinen wissenstheoretischen Vorgaben, das Besondere aus dem Allgemeinen und das Allgemeine aus dem Besonderen erkennen zu wollen: To comprehend any particular subject, is to know some general predicament or class to which it may be referred. [...] To comprehend any operation or phenomenon, is to be able to refer it to some established rule, or known law of nature. [...] From this law may be explained all the phenomena of science, the uses of classification, investigation and experiment, of hypothesis, theory, and system.204

Die einschlägigen Gesetze über die Natur des Menschen waren zunächst das Gesetz der Selbsterhaltung, dann das Gesetz der Vergesellschaftung und schließlich das Gesetz der Aufwertung sowie des Aufstiegs.205 Diese Naturgesetze dienten dazu, ihnen Einzelerscheinungen zuzuordnen und damit vice versa die Erscheinungen zu bestimmen, aus denen sie eigentlich hervorgegangen waren. Zu diesen Bestimmungen zählten „substance, quality, quantity, number, perfection, defect, good, evil, time, place, &c. Others are more arbitrary, and chosen to render human knowledge methodological and comprehensive.“ Bei seiner methodischen Umsetzung bildeten wiederum die folgenden ,Verhältnisse‘ oder ,Bestimmungen‘ (predicaments) die Grundlage: der Vergleich, der Analogieschluss sowie die Erkenntnis aus dem Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Drei Vorgehensweisen, die eng mit den erkenntnistheoretischen Vorgaben in Humes Treatise korrespondieren: „To me, there appear to be only three principles of connexion among ideas, RESEMBLANCE, CONTGUITY in time or place, and CAUSE and EFFECT“.206 203

Ferguson, Institutes, S. 11. Eine ähnlich lautende Definition und methodologische Vorgabe bestimmt auch den Eintrag zu ‚Moralphilosophie‘ in der Encyclopaedia Britannica: „[…] [W]e must collect the appearances of nature in any given instance; trace these from general principles, or laws of operation; and then apply these principles or laws to the explaining of other phænomena.“ Vgl. Art. ‚Moral Philosophy‘, in: Encyclopaedia Britannica, S. 270. 204 Ferguson, Institutes, S. 83f. 205 „[T]he law of self-preservation […], the law of society, […], the law of estimation, or of progression.“ Vgl. Ferguson, Institutes, S. 86ff. In den späteren Manuskripten Fergusons fehlt der Zusatz ‚progression‘ im dritten Gesetz. Vgl. Adam Ferguson, Of the freedom of wit and Humour and their Value as a Test of Rectitude. Truth, in: Unpublished Essays, MS. Dc. 1. 42 **, No. 16, (EUL), [unpag.]. 206 Hume, Treatise, S. 11.

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Wie stilbildend die methodischen Vorgaben von Ferguson – angelehnt an Humes Erkenntnistheorie – für die kommende Generation der Naturhistoriker wurden, zeigt beispielsweise die Schrift Elements of the Philosophy of History (1781) seines Schülers John Logan (1748–1788).207 Unter diesem vielversprechenden Titel, der zu den ersten zählt, die als ‚Geschichtsphilosophie‘ firmierten, verbirgt sich im ersten Teil nicht viel mehr als eine sachgetreue Wiedergabe der ‚Institutes‘ von Ferguson, während sich der zweite Teil mit den entstehenden antiken Gesellschaften Griechenlands und Roms beschäftigt. An dieser Kompilation sind indessen dreierlei Aspekte bemerkenswert: die implizite Übernahme der Erkenntnistheorie Humes,208 die Festschreibung der daraus abgeleiteten Methoden im Sinne von Ferguson209 und das wachsende Interesse an einer Gesellschaftstheorie im Gefolge einer methodisch und stilistisch verfeinerten Geschichtsschreibung.210 Für Logan stand nicht mehr der Vergleich der Antriebe menschlichen Handelns im Vordergrund, der Rückschlüsse auf Regelmäßigkeiten in der Entstehung gesellschaftlicher Systeme zuließ, sondern die Betrachtung der gesellschaftlichen Bedingungen 207

John Logan hatte bei Ferguson Moralphilosophie studiert und sich anschließend, protegiert von Ferguson und Blair, geraume Zeit erfolglos um einen Lehrstuhl an der Universität Edinburgh bemüht. Die Elements waren eine Zusammenfassung von privaten Vorlesungen. Den Umstand, dass er bei der Besetzung des Lehrstuhls für ‚Civil History‘ wegen Tytler übergangen wurde, führte er auf eine Intrige des Rektors William Robertson zurück, worauf er sich verbittert nach London zurückzog, wo er früh verstarb. Vgl. Richard B. Sher, Introduction, in: John Logan, Elements of the Philosophy of History. Part First (1781). Dissertation on the Governments, Manners, and Spirit, of Asia. (1787) Bristol 1995, S. V–XXI. Auch Adam Smith hatte in einem Schreiben Logan dem Londoner Verleger Andew Strahan wärmstens als Rezensenten anempfohlen, aus dessen Zeilen ebenfalls Kritik an der ungerechten Behandlung durch Robertson mitschwingt: „But the best of all his works which I have seen, are some lectures upon Universal History, which were read here some years ago, but which, notwithstanding they were approved and even admired by some of the best and most impartial judges, were run down by the prevalence of a hostile literary faction, to the leaders of which he had imprudently given some personal offence.“ Vgl. Smith to Strahan 1785, in: The Correspondence of Adam Smith, S. 285. 208 „Science consists in the Discovery, the Arrangement, and the Concatenation of the facts in nature. […] Our first perceptions have no other bond of union but that of contiguity in time and place.“ Vgl. Logan, Elements, S. 7f. 209 Das Kapitel ‚First Principles in the Study of History‘ ist eine teilweise wortgetreue Widergabe des ersten Kapitels der ‚Institutes‘. Vgl. ebd., S. 12ff. 210 Logan lobt in einem Brief an einen gleichaltrigen Schüler, Gilbert Stuart (1743–1786), Fergusons History of the Progress and Termination of the Roman Republic (1783) für ihren klaren Stil, wobei er die Gelegenheit ergreift, um Robertsons Stil zu diffamieren: „The pomp and glitter; the point & antithesis; and all the tawdry meretricious ornaments which mark and disgrace some popular historians [Robertson], he [Ferguson] avoids & disdains. He writes History with the simplicity and dignity of an Old Roman.“ Vgl. John Logan to Gilbert Stuart 1783, in: MS. La II 419, 6 (EUL), [unpag.]. Gilbert Stuart selbst prangerte Robertsons Machtund Hegemonialstellung als Hofhistoriograph in wissenschaftlicher und politischer Hinsicht beständig an. Vgl. [Ders.] Anonymous, Character of a Certain POPULAR HISTORIAN, now Ministerial Agent, for Reconciling our Complaisant Clergy to the Church of Rome. Fro [!] the Writings of a Celebrated Philosopher now deceased, o.O. o.J., MS. 3118, f. 199 (NLS), [unpag.]. Zu Stuart vgl. William Zachs, Without Regard to Good Manners. A Biography of Gilbert Stuart. Edinburgh 1992, S. 7.

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selbst, die ähnliche Prozesse inhärent produzierten und deren systematischer Vergleich ihre Binnenstruktur offen legte: „Similar situations produce similar appearances; and where the state of society is the same, nations will resemble one another“.211 3.2.1. Der Vergleich Die Methode des systematischen Vergleichs war von fundamentaler Bedeutung für die Naturgeschichte der Menschheit des 18. Jahrhunderts.212 Ursprünglich aus der Mathematik entliehen, war es durch dieses Verfahren möglich, abstrakte Annahmen zu erhärten.213 Der Vergleich konnte als Vermittlungsinstrument zwischen Beobachtung und Abstraktion oder – anders gewendet – zwischen Empirismus und Rationalismus, also den vermeintlichen Antipoden in der Aufklärungsphilosophie, fungieren. David Hume benannte den Vergleich als wichtigste Grundlage der Urteilsbildung: „All kinds of reasoning consist in nothing but a comparison, and all discovery of those relations, either constant or inconstant, which two or more objects bear to each other“.214 Der Vergleich berge darüber hinaus den Vorteil, dass auch Dinge, die nicht zur gleichen Zeit am gleichen Ort vorfindbar seien, sich vergleichen ließen. Mit diesem Instrument war somit die Grundlage zur Erschließung der zeitlichen Dimension einer Naturgeschichte der Menschheit gegeben.215 Die Annahme von der Uniformität der menschlichen Natur und der sie bestimmenden Gesetze war dabei die Voraussetzung für den Vergleich historischer und gleichzeitig existierender Völkerschaften. Die schottischen ‚natural historians‘ waren davon überzeugt, dass frühere Stufen der Entwicklung der Menschheit nicht durch hypothetische Annahmen zu erklären seien – wie es Stewarts Definition ihrer Arbeiten als ‚conjectural‘ suggeriert –, sondern glaubten, dass sich die tatsächlichen Verläufe wissenschaftlich rekonstruieren ließen. So konnten auf dem Wege des Vergleichs Ähnlichkeiten gesellschaftlicher Zustände ermittelt werden und die Erfahrung der ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘ zur Erkenntnisgrundlage

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Logan, Elements, S. 16f. „Comparaison is one of the principal cognitive acts of the modern human sciences. It is quite significant that it was worked out during the Enlightenment.“ Vgl. Sergio Moravia, The Enlightenment and the Science of Man, in: History of Science 18 (1980), S. 247–268, hier S. 250. 213 „No other reasoning affords so clear a notion of the foregoing process, as which is mathematical. Equality is the only mathematical relation; and comparison therefore is the only means by which mathematical propositions are ascertained. To that science belong a number of intuitive propositions, termed axioms, which are all founded on equality“. Vgl. Kames, Sketches, Bd. 3, S. 193f. 214 Hume, Treatise, S. 73. 215 Hume hebt allerdings hervor, dass sich die Intensität des Vergleichs abschwächt, je weiter die Parameter entfernt liegen. Vgl. ebd., S. 378.

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eines weltgeschichtlichen Zusammenhangs werden.216 James Hutton (1726–1797) reflektierte am Ende einer langen Forschungstätigkeit die besondere erkenntnistheoretische Funktion des wissenschaftlichen Vergleichs: Man […] is enabled to compare many things in order to know their differences; having once learned to form those abstract ideas by which things are judged to be different, he then proceeds to reason in a most extensive and interesting manner; in finding similarities and equalities, connections and dependencies, the contemplation of which gives him pleasure. Man thus learns to generalise consciously.217

Auf dem Wege der vergleichenden Methode war es möglich, Differentes in ein universelles Bezugssystem zu setzen und Ähnlichkeiten herauszupräparieren.218 Der Vergleich der menschlichen Antriebe war dazu angetan, die anthropologischen Annahmen zu verifizieren und die räumlichen und zeitlichen Distanzen im Forschungsfeld der Naturgeschichte zu überwinden: The Gauls and the Germans are come to our knowledge with marks of similar condition; and the inhabitants of Britain, at a time of the first Roman invasions, resembled, in many things, the present natives of North America: They were ignorant of agriculture; they painted their bodies; and used for cloathing, the skins of beasts.219

Die ‚Wilden‘ wurden auf diese Weise nicht zuvorderst als ‚verschieden‘ angesehen, als vielmehr auf einer anderen Stufe der gemeinsamen Zivilisationsgeschichte verortet. Einigen schottischen Gelehrten – wie etwa Ferguson und Millar – war es ein Anliegen, durch den Einsatz des Vergleichs die ‚Gleichheit‘ bestehender und historischer Völkerschaften zu betonen und damit Naturzustandstheorien und die Überhöhnung des Ursprungs der eigenen Nationen zu relativieren.220 Ferguson 216

Zur Herkunft dieser Wendung von Hans Freyer bis zu ihrem Einsatz als geschichtstheoretische Kategorie bei Reinhart Koselleck vgl. Paul Nolte, ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘, in: Stefan Jordan (Hg.): Lexikon Geschichtswissenschaft. Stuttgart 2002, S. 134–137. 217 Hutton, An Investigation, S. 73. James Huttons Investigation of the Principles of Knowledge (1794) gehört zu den wenigen rein erkenntnistheoretischen Schriften der schottischen Aufklärung. Obwohl Hutton durch seine Theory of the Earth (1795) zu den zentralen Gestalten der Wissenschaftsgeschichte seiner Zeit gezählt wird und als Begründer der Geologie gilt, haben seine wissenstheoretischen Schriften vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit erfahren. Durch die Entdeckung von Salmiak finanziell unabhängig reiste Hutton durch ganz Britannien und stellte seine geologischen Forschungen an. Hutton war ein enger Freund Adam Smiths und Adam Fergusons. Vgl. Peter Jones / Jean Jones, Introduction, in: Hutton, An Investigation, S. V–XI. 218 „It is evident that the mind takes pleasure in observing the resemblances that are discoverable betwixt different objects.“ Vgl. Adam Smith, The Principles which Lead and Direct Philosophical Enquiries; Illustrated by the History of Astronomy, in: The Glasgow Edition of the Works and Correspondence of Adam Smith. Bd. 3: Essays on Philosophical Subjects, hg. v. I. S. Ross. Oxford 1980, S. 37. 219 Ferguson, Essay, S. 75. 220 Ferguson wurde aufgrund dieser Ansicht von Lord Kames angegriffen, der seine ‚europäischen Vorfahren‘ den ‚nordamerikanischen Wilden‘ in Tapferkeit und Mut als überlegen ansah: „A noted author [*Mr Ferguson] holds all savages to be bold, impetuous, and proud; assigning for a cause, their equality and independence. As in that observation he seems to lay no weight on

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formulierte in diesem Zusammenhang sein methodisches Credo, in dem er sich dezidiert von ‚bloßen Mutmaßungen‘ absetzte und stattdessen einen systematischen Vergleich auf der Basis der Annahme der Uniformität des Menschen einforderte: The inquiry refers to a distant period, and every conclusion should build on the facts which are preseved for our use. Our method, notwithstanding, too frequently, is to rest the whole on conjecture; to impute every advantage of our nature to those arts which we ourselves possess; and to imagine, that a mere negation of all our virtues is a sufficient description of man in his original state.221

Diese theoretische Entgegensetzung von ‚Wildheit‘ und ‚Zivilisation‘ schlage indessen fehl, wenn man die Menschen unabhängig von ihren Lebensbedingungen vergleiche: Who would, from mere conjecture, suppose, that the naked savage would be a coxcomb or a gamester? that he would be proud and vain, without the distinctions of title and fortune? and that his principal care would be to adorn his person, and to find an amusement? Even if it could be supposed that he would thus share in our vices, and, in the midst of his forest, vie with the follies which are practised in the town; yet no one would be so bold as to affirm, that he would likewise, in any instance, excel us in talents and virtues.222

Ferguson sah sich dazu im Stande, die Vorurteile und die naturrechtstheoretischen Konstrukte zu überborden und die Ähnlichkeiten unter den Völkern zu betonen. Ebenso wie die Sicht auf die ‚Wilden‘ als Negation der eigenen Zivilisation relativiert werden müsse, stünden die Ursprungsmythen der europäischen Nationen auf dem Prüfstand ihrer Faktizität: If conjectures and opinions formed at a distance have no sufficient authority in the history of mankind, the domestic antiquities of every nation must, for this reason, be received with caution. They are, for most part, the mere conjectures or the fictions of subsequent ages.223

Ein kursorischer Überblick der ‚rude nations‘ Asiens, Afrikas und vor allem Nordamerikas im Abgleich mit denen der quellenfundierten europäischen Antike veranlasste Ferguson, ihre prinzipielle Gleichheit zu betonen und damit ihren systematischen Vergleich zur Basis seiner ‚History of Mankind‘ zu machen.224 Diese umfasste nicht nur die Frage nach dem Ursprung der Menschheit, sondern im Vergleich mit den ‚wilden‘ Stämmen lag auch die Möglichkeit, mehr Licht auf andere entlegene Epochen der Gattungsgeschichte zu werfen.225 Dabei rückte auch die

climate, and as little on original disposition, it is with regret that my subject leads me in this public manner to differ from him with respect to the latter.“ Vgl. Kames, Sketches, Bd. 1, S. 44f. 221 Ferguson, Essay, S. 75. 222 Ebd., S. 75f. 223 Ebd., S. 76 224 Ebd., S. 97. 225 Vgl. Wilfried Nippel, Griechen, Barbaren und ‚Wilde‘. Alte Geschichte und Sozialanthropologie. Frankfurt a.M. 1990, S. 66.

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vielbewunderte Antike in Fergusons egalisierenden Blick, wenn er über die Ursprünge der römischen Republik schrieb: [...] [T]hey had been an assemblage of hearsmen and warriors, ignorant of letters, of money and commercial arts, [...] subsisting chiefly by the produce of their herds, and the spoils of their enemies, may be safely admitted; because we find them, in the most authentic parts of their history, supplying these defects, and coming forward in the same direction, and consequently proceeding from the same origin, with other rude nations, being in reality a horde of ignorant barbarians.226

Der Vergleich ermöglichte es dabei nicht nur, die Zeitschranken zu überwinden, sondern insbesondere das Phänomen der gleichzeitig existierenden Verschiedenheit der Gesellschaften zu erklären.227 Waren die verschiedenen Völkerschaften aus historischem Blickwinkel zeitlich getrennte Erscheinungen, so erlaubte die vergleichende anthropologische Sichtweise die Feststellung einer Kongruenz oder ‚Gleichheit‘ der Völker, die in der Vorstellung eines Zeittableaus existierte, welches Vor- und Rückschritte zu erklären half. Die Unveränderlichkeit der menschlichen Natur als anthropologische Bedingung und deren Übertragung auf Veränderungsmuster durch die Perfektibilität war auf dem Wege des Vergleichs auf eine Faktenebene verwiesen worden, die es nun empirisch zu erforschen galt. Durch die Annahme der Uniformität menschlicher Antriebsstruktur und die daraus abgeleitete Ähnlichkeit historischer und gleichzeitig existierender Völkerschaften wurde der Vergleich zum wesentlichen Instrument der ‚Natural History of Mankind‘. Die menschlichen Antriebe und die äußeren Bedingungen konnten durch dieses ‚methodische Hauptprinzip‘ soweit synonymisiert werden, dass eine erklärende sowie typisierende Gesellschaftstheorie entstehen konnte.228

226

Adam Ferguson, The History of the Progress and Termination of the Roman Republic. Bd. 1. Basil 1791, S. 8. 227 Reinhart Koselleck hat auf die Auflösung der semantischen Dualstruktur ‚Barbaren‘ und ‚Hellenen‘ bereits bei Thukydides hingewiesen, der darauf aufmerksam machte, dass die Hellenen ehemals auf der gleichen Kulturstufe gestanden hätten, wie die zu seiner Zeit als barbarisch wahrgenommenen Völker. „Der Dualismus gerät somit, wie wir heute sagen, in eine geschichtliche Perspektive. [...] Die Zeit gewinnt für sich mit ihren ändernden Gewohnheiten eine argumentative Kraft.“ Vgl. Ders., Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, in: Ders., Vergangene Zukunft, S. 211–259, hier S. 223. 228 „Zu den Zielen eines vollständigen Vergleichs gehört entweder die Erklärung der vorgefundenen Unterschiede und Gemeinsamkeiten oder ihre Typisierung. Erklärung und Typisierung haben dabei verschiedene Ziele: Die Erklärung sucht normalerweise nach Ursachen für Unterschiede und Gemeinsamkeiten aus einem größeren gemeinsamen Zusammenhang. Die Typisierung behandelt eher die unterschiedliche innere Logik der gleichen Phänomene in verschiedenen Gesellschaften und lässt damit ihre Besonderheit verständlich werden.“ Vgl. Hartmut Kaelble, Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M. / New York 1999, S. 12f.

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3.2.2. Der Analogieschluss Über den systematischen Vergleich hinaus zielte das daraus abgeleitete Verfahren der Analogiebildung.229 Wenn man davon ausging, dass die Naturanlagen des Menschen uniform, der Drang zur Vervollkommnung dementsprechend überzeitlich präsent ist, und damit gewisse Regelmäßigkeiten in der Gattungsgeschichte festzustellen waren, konnten aus ähnlichen Umständen wahrscheinliche Begebenheiten abgeleitet werden. Erst durch den Einsatz der Analogiebildung war es möglich, Ähnlichkeiten zwischen eigentlich differenten Erscheinungen zu entdecken.230 Für die ‚Natural History of Man‘ hatte das zur Folge, dass verschiedene Äußerungsformen des Menschen in ein übergreifendes System der ‚Menschheit‘ eingebettet werden konnten. Darüber hinaus war durch das analogische Verfahren das logische Hilfsmittel gegeben, die anzuzweifelnde Vorgeschichte des Menschengeschlechts durch Berichte über Völkerschaften zu ersetzen, die sich in einem ‚ähnlichen‘ Status befanden.231 David Hume hatte die Analogie als eine Untergattung der Wahrscheinlichkeit wissenschaftlicher Urteile eingeführt, die das erkenntnistheoretische Resultat der unsicheren Erfahrung und der unklaren Ursachen sei.232 Auch wenn Hume die Analogiebildung damit unter seinen skeptischen Generalverdacht stellte und deutlich machte, dass es sich bei ihr um keine reale Verbindung der beobachteten Phänomene handelte, so empfahl er sie dennoch als probates heuristisches Mittel: Without some degree of resemblance, as well as union, `tis impossible there can be any reasoning: but as this resemblance admits of many different degrees, the reasoning becomes proportionably more or less firm and certain.233

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Der Begriff der ‚Analogie‘ entstammt ursprünglich der Mathematik und diente zur Bestimmung der ‚Mitte‘, die den Abstand zwischen den Außengliedern überbrückt und sie in eine Reihe bindet. Aristoteles nahm den ‚Mitte-Gedanken‘ in seine Tugendlehre auf, die weder zu Übertreibungen noch zum Zurückbleiben tendieren dürfe, sondern ‚Gleichheit‘ herstellen müsse. Die Analogie wurde hier zu einem methodisch einsetzbaren logischen Hilfsmittel. Seinen sprachlichen Niederschlag fand dies darin, dass via Analogieschluss bei Aristoteles die Grenze von ‚Gattung‘ und ‚Art‘ aufgelöst wurde. Ähnlich benutzt die Biologie bis heute die Analogie, um über die Gattungsgrenzen hinweg funktionale und strukturelle Gemeinsamkeiten festzustellen, nach dem Muster: was dem Vogel der Flügel, ist dem Fisch die Flosse. Vgl. Wolfgang Kluxen, Art. ‚Analogie‘, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 1. Stuttgart 1971, S. 214–227. 230 „Analogical reasoning became the functional replacement for mathematical analysis. With it one could discover similar properties or tendencies between dissimilar things that approximated natural laws without dissolving the particular in the general.“ Vgl. Reill, Science and the Science of History, S. 255. 231 Seit der Spätantike wird der ‚Analogia‘ die Kraft zugeschrieben „Zweifelhaftes auf etwas Ähnliches, das nicht in Frage steht, zu beziehen, um Ungewisses durch Gewisses zu beweisen“ (Quintilian). Vgl. Kluxen, Art. ‚Analogie‘, S. 219. 232 Hume, Treatise, S. 142. 233 Ebd., S. 142. Der Einsatz der ‚Analogie‘ als eingeschränkt heuristisches Mittel und damit als ‚Theorie mittlerer Reichweite‘ findet sich bereits bei Bacon: „[...] Bacon maintained that imagination was of use primarily in the preliminary stages of experiment and induction; once

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Gerade das Bewusstsein von den Wahrnehmungsschwächen des menschlichen Geistes und den Auswüchsen der Vorstellungskraft, die Bacon als ‚Zerrspiegel‘ der Wirklichkeit beschrieben hatte, erforderte ein bewusst konstruktives Verfahren zur Erschließung von ‚Welt‘, das seine Grundlagen ständig reflektierte.234 Die Analogiebildung war damit Ausdruck eines Wissenschaftsverständnisses, das, eingedenk der Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit, nicht notwendige Wahrheiten, sondern hohe Wahrscheinlichkeiten zu seinem Erkenntnisziel erhoben hatte.235 Es erscheint daher anachronistisch, das ‚konjekturale‘ Verfahren als ‚unwissenschaftlich‘ und als Ausdruck reiner philosophischer Spekulationen zu werten. Die ‚natural historians‘ verschrieben sich vielmehr dem neuen Anspruch der Wissenschaft ihrer Zeit, durch eine analytisch-synthetische Methode höchst wahrscheinliche Aussagen zu treffen, deren stetige Revision dazu dienen sollte, eine Annäherung an die Wirklichkeit der Menschheitsgeschichte zu ermöglichen.236 Es ist eher zutreffend, dieses Verfahren als eines von ‚conjectures and refutations‘ – besser bekannt als Methode des ‚trial and error‘ – zu beschreiben,237 wie es James Hutton mit anderen Worten tat: Whereas, the making of an experiment is a voluntary action of the mind; and this follows in consequence of reasoning of judgements, concerning cause and effect, which have been already made. In this manner that conjectures, or probable conclusions, formed in reason from analogy, may be converted into knowledge; and thus a progress may be made in science, by a mind advancing in this manner to philosophy.238

Der Analogieschluss war bei diesem Unternehmen von weitreichenderer Bedeutung als der Vergleich, weil durch ihn die Grenzen der Induktion überschritten und gleichzeitig analytische Urteile gefällt werden konnten. Ein Umstand, der dem

the scientist had found out the path to the higher axioms, he could turn his back on the uncertainties of sensible analogy and progress toward more certain logical indications of form and cause.“ Vgl. Katherine Park, Bacon’s ‚Enchanted Glass‘, in: Dies. / L. J. Daston / P. L. Galison, Bacon, Galileo, and Descartes on Imagination and Analogy, in : Isis 75 (1984), S. 287– 326, hier S. 301. 234 Vgl. Park, Bacon’s ‚Enchanted Glass‘, S. 290. 235 „Das Prinzip der Ähnlichkeit führt zu keinem entscheidbaren Urteil, sondern benennt (metaphorische) Reduktionsparameter von Überkomplexität.“ Vgl. Jörn Garber, „So sind also die Hauptbestimmungen des Menschen [...].“ Anmerkungen zum Verhältnis von Geographie und Menschheitsgeschichte bei Georg Forster, in: Ders. (Hg.): Wahrnehmung, Konstruktion, Text. Bilder des Wirklichen im Werk Georg Forsters. Tübingen 2000, S. 193–230, hier S. 215. 236 Es ist bezeichnend, dass sich William Robertson, unangefochtener Nestor der schottischen Geschichtsschreibung, schon als Student mit der Frage der Wahrscheinlichkeit in der historischen Urteilsbildung beschäftigte. Vgl. Ders., De probilitate historica, sive evidentia morali, in: Ders., Works (Reprint der Ausg. London 1791–1796). Bd. 12: Miscellaneous Works. London 1996, S. 1–7. 237 Trotz gewisser Einschränkungen sieht Karl Popper in Humes Methode des Verifizierens und Falsifizierens theoretischer Annahmen einen Gewährsmann für die Entwicklung seiner Wissenschaftstheorie. Vgl. Ders., Conjectures and Refutations. The Growth of Scientific Knowledge. London ³1969, S. 50ff. 238 Hutton, An Investigation, S. 221.

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Verfahren den Ruf einbrachte, es handele sich um „airy, vague, and unsubstantial speculations“.239 Den Naturhistorikern der Menschheit war es jedoch genau um das Gegenteil zu tun. Vagen Mutmaßungen, „only recorded by uncertain tradition, or by fabulous history“, galt es eine wissenschaftliche Methode der Ableitung aus gesicherten Fakten entgegen zu halten.240 Das analoge Schließen sollte dabei zu einer Historisierung des Naturzustandes führen, auch wenn die Urgeschichte der Menschheit nicht durch eine quellengesicherte Basis zu eruieren war. Übereinstimmend waren die schottischen Gelehrten der Ansicht, dass erst durch den synthetisierenden Vergleich die Spezifika der verschiedenen Erscheinungen, damit Rückschlüsse auf ihre Bedingungen und schließlich Wechselwirkungsverhältnisse offenbar würden: The objects around us, beside their seperate appearances, have their relations to one another. They suggest, when compared, what would not occur when they are considered apart; they have their effects and mutual influences; they exhibit, in like circumstances similar operations, and uniform consequences.241

Der Analogieschluss war mithin die methodische Grundlage für die Festlegung allgemeiner Regeln über die menschliche Natur, da es mittels seiner Anwendung möglich war, die verschiedenen Erscheinungsformen des Menschen auf gemeinsame Ursachen und Bedingungen zurückzuführen. James Dunbar erweiterte den Vergleich Fergusons zwischen den Sitten der ‚Wilden‘ Nordamerikas und der Ureinwohner Britanniens durch eine Analogiebildung zu einer universellen Kategorie: „The custom of painting the body with such rude materials as the savage life affords, is a practice which, in the infancy of society, appears to be almost universal“.242 In diesem Umfeld wurden Fragen der klimatischen Bedingungen,243 der Sitten und Moral, der politischen Verfassung, des Rechtssystems, der Religion, der Rolle der Künste sowie der Literatur untersucht und in ihrer Relevanz diskutiert. Diese traditionelle Beschäftigung mit den äußeren Bedingungen des Zustandes der ‚Wildheit oder Barbarei‘ (Natur, Klima, Verfassung) – seiner naturhaften Andersartigkeit244 – sollte nun zugunsten der Analyse einer strukturellen Gleichheit überwunden werden. In diesem Sinne sollten systematische Ansatzpunkte nicht als Substrat von Klassifikationen und Typisierungen, sondern als empirische Grund239 240 241 242 243

Tytler, Memoirs, Bd. 1, S. 112. Millar, Origin, S. 7. Ferguson, Essay, S. 30f. Dunbar, Essays on the History of Mankind, S. 380. Obwohl Montesquieu ein wichtiger Bezugspunkt für die schottischen Aufklärer war, wurde seine Klimatheorie durchaus ambivalent behandelt. Insbesondere John Millar übte Kritik an diesem Ansatz, wenn er schrieb: „How far these conjectures have any real foundation, it seems difficult to determine.“ Vgl. Ders., Origin, S. 10. 244 Koselleck sieht diese Trennung von Innen und Außen für die Festschreibung des ‚Fremden‘ auf seine naturhaften und damit wandelresistenten Bedingungen zur Begründung des ‚eigenen‘ Herrschaftsanspruchs als konstitutiv an. Vgl. Ders., Zur historisch-politischen Semantik, S. 221f.

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lage einer allgemeinen ‚Wissenschaft vom Menschen‘ und ihrer „universal principles“ dienen.245 In diesem Unterfangen folgten die Naturhistoriker der Menschheit dem Beispiel des Umbaus der älteren Naturgeschichte. Nicht der typisierenden Einteilung der mannigfaltigen Erscheinungen des Menschen, als vielmehr der Durchdringung ihrer übergreifenden Strukturähnlichkeiten, ihrer Antriebe und ihrer Entwicklung – ganz im Sinne Buffons – galt das Forschungsinteresse der Menschheitshistoriker. Die genetische Methode erwies sich in diesem Unternehmen als probate Vorgehensweise, da es mit ihr möglich wurde, die Starrheit der klassifikatorischen Systeme durch einen Vergleich gewonnener Erkenntnisse aufzulösen. Es darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass die Vereinheitlichung der differenten Erscheinungen in der ‚Geschichte der Menschheit‘ nicht etwa ausschließlich egalisierenden Vorstellungen diente, sondern im wissenschaftlichen Kontext vor allem als heuristisches Mittel verwendet wurde, um ‚universelle Gesetze‘ der Gattung feststellen zu können. Eine Diversifizierung der Menschheit erfolgte im Rahmen der traditionellen Debatte um ‚Nationalcharaktere‘ und in der anthropologisch orientierten Naturgeschichte zunehmend nach Maßgabe biologischer Kriterien wie ‚Hautfarbe‘ und verschiedener ‚Rasse‘-Merkmale.246 Die spannungsreiche Beziehung zwischen beiden Diskussionsforen um die Diversität der Menschheit zeigt sich deutlich innerhalb ein und desselben Essays Of National Characters (1748) von David Hume.247 Während Hume die allgemeine Neigung zur Bildung nationaler Stereotypen als ‚vulgär‘ bezeichnete, führte er zwei Aspekte an, die gemeinhin als Bedingungen der Ausbildung von ‚Nationalcharakteren‘ gelten: ‚moralische‘ und ‚physikalische‘. Unter ‚moralischen Gründen‘ verstand Hume die Regierung sowie die allgemeinen politischen äußeren und inneren Bedingungen einer Nation, während er mit ‚physikalischen Gründen‘ die natürlichen Verhältnisse der Luft, der Ernährung und des Klimas bezeichnete.248 Beide akzidentielle Bedingungen – die politischen und die physikalischen – müssten ihre Geltung nur an der substantiellen Uniformität der menschlichen Natur erweisen. Hume bescheinigte, nach eingehender Diskussion der Argumente für klimatische Faktoren bei der Ausbildung nationaler Eigenheiten, den ‚physikalischen Bedingungen‘ keine nennenswerte Auswirkung auf den Menschen. Damit distanzierte sich Hume deutlich, wie die meisten seiner Mitstreiter, von den Klimatheorien des sonst vielbewunderten Montesquieu. Hinsichtlich der ‚moralischen Bedingungen‘ war Hume weniger skeptisch und formulierte äußerst vorsichtig neun Thesen zur Ausbildung bestimmter nationaler Eigenheiten unter bestimmten politisch-kulturellen Bedingungen, deren akzidentiellen Charakter er hervorhob und damit ihre 245 246 247

Dunbar, Essays on the History of Mankind, S. 386. Ebd., S. 385f. Zu den verschiedenen Ausgaben und Überarbeitungen der ‚Essays‘ vgl. Udo Bermbach, Einleitung, in: David Hume, Politische und ökonomische Essays. Bd.1. Hamburg 1988, S. VII–LIII, hier S. XLIX. 248 David Hume, Of National Characters, in: Essays, Bd. 1, S. 244–258, hier S. 244.

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historische Wandelbarkeit an mehreren Beispielen belegte.249 Angesichts dieses differenzierten und skeptisch eingeschränkten Umgangs Humes mit der in seiner Zeit sehr beliebten Stereotypenbildung hat eine 1753 hinzugefügte Fußnote – zu der Aussage, dass die meisten Festschreibungen über die südlichsten und nördlichsten der bekannten Völker in ihren unzulässigen Generalisierungen falsch seien – neuerdings besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen: I am apt to suspect the negroes, and in general all the other species of men (for there are four or five different kinds) to be naturally inferior to the whites. There never was a civilized nation of any other complexion than white, nor even any individual eminent either in action or speculation. No ingenious manufactures amongst them, no arts, no sciences. On the other hand, the most rude and barbarous of the whites, such as the ancient GERMANS, the present TARTARS, have still something eminent about them, in their valour, form and government, or some other particular. Such a uniform and constant difference could not happen, in so many countries and ages, if nature had not made an original distinction betwixt these breeds of men.250

Humes Eintreten für die These von der Uniformität des Menschen, vor deren Hintergrund Aussagen über Differenzen und strukturelle Gemeinsamkeiten der Menschen ermöglicht werden sollten, wurde mit dieser vermeintlich lapidaren Bemerkung radikal eingeschränkt. Geradezu im Gegenteil beschrieb Hume die Überlegenheit ‚weißer‘ gegenüber ‚nicht-weißer‘ und insbesondere afrikanischer Völker als überzeitlich und substantiell, wodurch eine apriorische Hierarchisierung der Völker vorgenommen wurde, anstatt des geforderten synthetisch-analytischen Verfahrens der ‚Science of Man‘. Dass die Uniformitätsthese als methodisches Konstrukt eingeführt worden war und nicht bei allen Autoren mit einem emanzipatorischen Gleichheitsdenken einherging, wird an diesem ‚Subtext‘ Humes, wie bei anderen Autoren, deutlich.251 249

„I assert, then, that all national characters, where they depend not on fixed moral causes, proceed from such accidents as these, and that physical causes have no discernable operation on the human mind.“ Vgl. ebd., S. 249. 250 Ebd., Anm. 1, S. 252. Die Fußnote wurde in der revidierten und von Hume autorisierten Neuauflage von 1777 wieder übernommen. 251 Ferguson kann in diesem Zusammenhang, neben Millar, als einer der schottischen Autoren gelten, für den sich die These von der Uniformität mit einem substantiellen Gleichheitsanspruch der Völker verband. Hume scheint hingegen einige seiner Vorurteile mit Lord Kames geteilt zu haben, der diese ‚Differenz‘ der Rassen theoretisch zu untermauern suchte. Während die Fußnote in älteren Darstellungen (Mossner) oftmals keine Erwähnung findet, wird sie in neueren Untersuchungen als zentrales Datum eines sich radikalisierenden Rassismus angesehen. Vgl. Pierre H. Boulle, Art. ‚Race‘, in: Kors (Hg.): Encyclopedia of the Enlightenment, Bd. 3, S. 384–387, hier S. 386. Dennoch erscheint es problematisch, die Fußnote aus Humes Erkenntnistheorie herleiten zu wollen, wie Richard H. Popkin, Hume’s Racism Reconsidered, in: Ders., The Third Force in Seventeenth-Century Thought. Leiden u.a. 1992, S. 64–75, hier S. 64 und Emmanuel C. Eze, Hume, Race, and Human Nature, in: Journal of the History of Ideas 61 (2000), S. 691–698, hier S. 693. Humes Aussage über ‚Nicht-Weiße‘ steht im Gegensatz zur Programmatik der ‚Science of Man‘ sowie zu seiner Theorie über die Entstehung von Vorurteilen. Vgl. Hume, Treatise, S. 146f. Gerade der Umstand, dass Humes rassistische Aussage nicht aus seinem kritischen System herzuleiten ist, zeigt die Persistenz solcher Vorurteile jen-

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Der Vergleich und die Analogiebildung waren vor allem als heuristische Instrumente zur Bewältigung des umfassenden empirischen Materials zur Geschichte der Menschheit zu verstehen, das zunächst keine zeitliche oder gattungsgemäße Einschränkung erfahren hatte. In dieser Gemengelage aus einer induktiven Grundlegung durch den synchronen Vergleich und einer analytischen Anlage des Stoffes in einer diachronischen Struktur liegt das Spezifikum und zugleich das methodische Problem der ‚Natural History of Mankind‘. Mit dem Analogieschluss wurde ein methodisches Korrektiv geschaffen, das es ermöglichte, zwischen den empirischen Erscheinungen der Menschheit und den idealtypischen Annahmen vom Menschen eine Brücke zu schlagen. Anders als dem rein vergleichenden Verfahren haftete der Analogiebildung allerdings stets der Makel an, nur eine methodische Hilfskonstruktion zu sein, deren Resultat sich nicht aus den Fakten ergebe, sondern sich aus seiner Suggestionskraft herleite.252 Ein Schwachpunkt, der den Analogieschluss später zum methodischen Ausweis der mutmaßlichen Vorgehensweise der Menschheitshistoriker werden ließ. Aller Skepsis zum Trotz wurde es jedoch zum wichtigsten Anliegen dieser jungen Wissenschaft, auf dem Wege der Analogiebildung Ursachen für die mannigfaltigen Erscheinungsformen der Menschheit in Raum und Zeit benennen zu können, um daraus allgemeine Gesetze abzuleiten: When we contemplate the phenomena of the universe, we not only find things resembling, which we put into one class; but we perceive also, that these are connected with others. To trace the connections between them, to refer effects to their cause, and particular operations to general laws, is the last and most perfect work of Science.253

Die Herstellung des Ursache-Wirkung-Zusammenhangs bildete die Basis für den Vorgang der Zuordnung naturhafter Einzelerscheinungen zu Naturgesetzen, wie auch umgekehrt, und stellte damit die zentrale methodische Herausforderung für die ‚scientists of man‘ dar. 3.2.3. Die Verknüpfung nach Ursache und Wirkung Dass der eigentliche Gegenstand der Wissenschaft ‚wirkende Ursachen‘, also Phänomene der Natur seien, stand für die Vertreter der schottischen Aufklärung außer Frage. Strittig erschien indessen das Verhältnis von Ursache und Wirkung, dessen Ableitungszusammenhang für das Verständnis der Naturphilosophie konstitutiv gewesen war.254 Differierende Ansichten bestanden über das Wesen dieses Zusam-

seits einer vermeintlich von Vorurteilen gereinigten ‚Science of Man‘ und damit die Grenzen von Humes eigener Ideologiekritik. Adam Smith bezeichnete das analogische Verfahren als „[...] [T]he great hinge upon which every thing turned“. Vgl. Ders., History of Astronomy, S. 47. 253 Logan, Elements, S. 9. 254 „The relation of cause and effect is familiarly conceived; but metaphysicians are not agreed on the origin of this conception.“ Vgl. Ferguson, Principles, S. 116. 252

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menhangs, wobei den so genannten ‚Materialisten‘ vorgeworfen wurde, eine ‚Notwendigkeit‘ zwischen Ursache und Wirkung herzustellen. Die Gegner der Vorstellung einer solchen notwendigen Verknüpfung waren davon überzeugt, dass sich der Materialismus im Gefolge Humes hypothetischer Annahme über die ‚Kraft‘ von Ursache und Wirkung und deren fehlgeleiteter Rezeption herausgebildet habe.255 Den Anhängern Humes lag es jedoch ganz im Gegenteil daran, die Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung von Ursache und Wirkung zu verabschieden und gleichzeitig diesen Zusammenhang als maßgebliches erkenntnistheoretisches Instrument der Wissenschaft zu etablieren.256 Diese scheinbar paradoxe Position beförderte ihre kritische Infragestellung, trug maßgeblich zur Verwässerung der Argumente bei und diente als rhetorischer Nährboden für die polemische Zuspitzung der Debatte. Adam Ferguson hatte seiner Haltung zu Humes Philosophie dadurch unmissverständlich Ausdruck verliehen, dass er dessen Schriften 1756 als Mitglied der ‚moderate party‘ in der Generalversammlung der ‚Church of Scotland‘ verteidigte und damit die Indizierung seiner Werke verhinderte.257 Seiner Überzeugung gemäß versuchte Ferguson in seinen Lehrbüchern den scheinbar paradoxen Vorgang der Dekonstruktion des Ursache-Wirkung-Zusammenhangs auf der einen Seite und seine wissenschaftliche Instrumentalisierung auf der anderen als das kenntlich zu machen, wodurch Hume in das Visier der Zensur geraten war: als Ideologiekritik. Ferguson betrieb mit seinen Vorlesungen eine entschärfte Popularisierung der humeschen Erkenntnistheorie, ohne hinter deren Komplexität zurückzufallen. Ganz im Sinne von Hume beschrieb er dabei das Verhältnis von Ursache und Wirkung weder als kontingent noch als ontologisch bestimmbar, sondern vielmehr als ein vom menschlichen Geist ‚gemachtes‘: The relation of cause and effect is probably conceived first in the mind itself; the relation of its own efforts to their intended effect; in the relation of evidence to the conviction produced by it.258

Die unreflektierte Gewohnheit in der Beobachtung von Ursache und Wirkung veranlasse den Menschen allerdings zur Vorstellung einer notwendigen Abfolge der Ereignisse, die darüber hinaus in die Zukunft projiziert werde: 255

Als eifernder Kritiker trat hier der Edinburgher Medizinprofessor James Gregory (1753–1821) auf, der mit seiner Kritik an den ‚Necessarians‘ Joseph Priestley im Blick hatte. Das Ferment der materialen Verknüpfung von Ursache und Wirkung vermutete Gregory jedoch in der Rezeption der Schriften des von ihm durchaus bewunderten David Hume, dessen Theorien „have convinced some persons, and confused and puzzled many more“. Vgl. Ders., Power, MS. La. III. 789 (EUL), S. 31. Zu Gregory vgl. Dictionary of National Biography. Bd. 8. London 1908, S. 542–544. 256 Hume hatte Regeln aufgestellt, nach denen das Urteil aus Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen als frei von metaphysischen Suggestionen einzuschätzen sei. Vgl. Ders., Treatise, S. 173f. 257 Vgl. Fagg, Biographical Introduction, S. XXVI. 258 Ferguson, Principles, S. 116.

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Where this is the case, we assume the relation of cause and effect; and, as there is a necessary connection betwixt evidence and belief, we assume also, not the mere concomitancy, but the necessity of an effect from its cause, and conversely the necessity of a cause to the production of an effect.259

Wenn sich keine passende Ursache zu einer Wirkung ausmachen ließe, sei der Mensch dazu verleitet, eben eine solche wahllos zu erfinden. Und Ferguson blieb seinem Wissenschaftsverständnis treu, wenn er die Lösung aus diesem Dilemma in der systematischen Abwägung hypothetischer Naturgesetze, die auf Erfahrung fußten, und ihrer kritischen Infragestellung durch die gesammelten empirischen Daten sah: Although, therefore, we sometimes define science to be the knowledge of causes, and of their effects; yet it is safer and more accurate, or more congenial to the actual state of our conception to say that it is the knowledge of the laws of nature, comprehending a multiplicity of diversified appearances, which the law might serve to explain.260

Was die Wissenschaft vom Menschen anging, könne man der unzulässigen Vermischung von Hypothese und Faktizität nur entgehen, wenn man sich auf die Beobachtung der Erscheinungen der Naturgesetze in diesem Feld bescheide. Allein durch die Annahme und Entschlüsselung der Gesetze der Natur sei es der Wissenschaft möglich, zu neuen Erkenntnissen zu gelangen.261 Denn ohne eine empirische Untersuchung der verschiedenen Ausformungen des menschlichen Daseins könne man keine allgemeingültigen Aussagen über den Menschen treffen. Anstelle abstrakter naturrechtlicher Klassifikationen sollte ein ‚natürliches System‘ zur Erklärung der komplexen kausalen Verknüpfungen – den Methoden der Buffonschen Histoire Naturelle vergleichbar – treten: „The works of intelligent power are comprised under general law or generic descriptions.“262 Ziel der ‚History of Mankind‘ war eine solche Gattungsbeschreibung in genetischer Abfolge. Die kausalen Beziehungen waren dabei insofern von Bedeutung, als durch die Erkenntnisse über den Menschen in seinen natürlichen Bedingungen Ursachen für historische Veränderungen benannt werden konnten, analog zu den äußeren Bedingungen physikalischer Phänomene.263 Zugleich war es nur auf dem 259

Ebd., S. 117. Eine ähnliche Position findet sich, um die Zukunftsproblematik erweitert, auch in Fergusons ‚Essay‘: „[...] [W]e are ill qualified, from our supposed knowledge of causes, to prognosticate effects, or to determine what must have been the properties and operations, even of our own nature, in the absence of those circumstances in which we have seen it engaged.“ Vgl. Ders., Essay, S. 75. 260 Ferguson, Principles, S. 118. 261 „The boast of Science is to investigate the law from which they are derived. This is satisfactory it is a Form of Advance or promotion of which human Intelligence is susceptible and is accordingly a deduction in what is progress is carried on.“ Vgl. Adam Ferguson, Wisdom, in: Unpublished Essays, MS. Dc. 1. 42 **, No. 10, (EUL) [unpag]. 262 Ferguson, Principles, S. 118. 263 „Thus it is that we have a greater curiosity to pry into the causes of thunder and lightning and of celestial motions, than of gravity, because they naturally make a greater impression on us.

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Wege der Kausalität möglich, zwischen den Antrieben des menschlichen Handelns und den daraus resultierenden Handlungen eine Verbindung herzustellen: In searching for the foundation of the laws of our nature, the following reflections readily occur. In the first place, two things cannot be more intimately connected than a being and its actions: for the connection is that of cause and effect.264

Diese Verbindung bot folglich die Grundlage der Vermittlung zwischen moralischer Disposition und historischer Dimension menschlichen Handelns. In der historiographischen Umsetzung dieser doppelt genetischen Vorgehensweise zur Darstellung der inneren und äußeren Beweggründe dienten den ‚natural historians‘ die antiken Geschichtsschreiber als Vorbild. Adam Smith unterschied die Ursachen, die für ein historisches Ereignis in Anschlag gebracht werden können, in zweierlei Arten: The causes that may be assigned for any event are of two sorts, either the external causes which directly produced it, or the internal ones, that is, those causes that, though they no way effected the event, yet had an influence on the minds of the chief actors so as to alter their conduct from what it would otherwise had been.265

Smith benennt als typische Vertreter des Externalismus Caesar, Polybius und Thukydides, da alle drei an den historischen Ereignissen selbst teilhatten, die sie später beschrieben und deshalb vor allem äußere Bewegungsgründe für wichtig erachtet hätten.266 Tacitus hingegen habe mehr Charakterstudien betrieben und damit interne Gründe für historische Ereignisse gesucht. Im Vergleich dazu steht für Smith außer Frage, dass Thukydides großes Lob für die Herleitung der Kausalzusammenhänge gebührt: „There is no author who has more distinctly explained the causes of events than Thukydides“.267 Was die Anordnung des historischen Stoffes angehe, machte Smith auf den Umstand aufmerksam, dass die Abfolge von Ursache und Wirkung ihren stilistischen Niederschlag in der chronologischen Erzählung finde, die wiederum der ‚natürlichen Wahrnehmung‘ des Menschen entspreche: The mind naturally conceives that the facts happened in the order they are related, and when they are by this means suited to our natural conception, the notion we form of them is by that

Hence it was that we have naturally a greater curiosity to examine the causes and relations of those things which pass without us, than those which pass within us, the latter naturally making very little impression.“ Vgl. Smith, Lecture XVII, S. 87f. 264 Kames, Essays on the Principles of Morality, S. 26. 265 Smith, Lecture XVII, S. 88. 266 Die gleiche Auffassung vertrat auch Adam Ferguson: „It follows that Statesmen are the fittest to record matters of State and warriors to record operations of War.“ Vgl. Ders., Of History and its appropriate Stile, in: Unpublished Essays, MS. Dc. 1. 42 **, No. 3, (EUL), [unpag.]. 267 Smith, Lecture XVII, S. 90.

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means rendered more distinct. The rule is quite evident, and accordingly few historians have trespassed against it.268

Smith verwies damit wieder auf die Konstruktivität des Ursache-Wirkung-Zusammenhangs und zugleich auf die Aufgabe des Historikers, diesen intellektuellen Vorgang stilistisch zu spiegeln. Wenn Smith das Problem der Darstellung verschiedener Ereignisse an unterschiedlichen Orten zur gleichen Zeit dadurch löste, dass er auf die Möglichkeit des darzustellenden Zusammenspiels der Ereignisse an einem Ort einerseits und die Beschreibung der zeitlichen Parallelität andererseits verwies (contiguity in time and place), bewegte er sich weiterhin in Humes erkenntnistheoretischem Rahmen. Dennoch war für ihn kein anderer Zusammenhang für die Geschichtsschreibung von mehr Bedeutung als der von Ursache und Wirkung.269 Nichts lasse den Leser unbefriedigter zurück als eine fehlende Begründung für ein Ereignis. Tatsächlich bestünde oftmals eine Verbindung zwischen Ereignissen, die sich zu verschiedenen Zeiten an unterschiedlichen Orten abgespielt hätten. Diese Situation stellte eine besondere Herausforderung an den Menschheitshistoriker Smith dar, welcher der Überzeugung war, dass diese Ereignisse erst ihre Entstehungsursache offenbarten, wenn man sie zueinander in Beziehung setzte: Now there is often such a connection betwixt the facts that have happened at different times in different countries, that one cannot be explained distinct from the other. They would appear altogether unintelligible unless those which produced them were also understood.270

Smith weitete diese Frage aus, indem er auf das Verhältnis von Ereignis und Struktur zu sprechen kam, das in seinen Augen eng mit der Herstellung von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen einherging. Während nämlich ein historiographischer Fehler darin bestehe, den Strukturzusammenhang in Abfolgen von Ursache und Wirkung zu sehr in den Vordergrund zu rücken und damit die Besonderheit des Ereignisses aus dem Blick zu verlieren, so sei es ein mindestens ebenso großes Problem, die Eigenheit des Ereignisses überzubetonen und damit den strukturellen Zusammenhang zu vernachlässigen.271 An diesem Punkt des Abgleichs erkenntnistheoretischer Probleme mit der traditionellen Historie erfolgte die Verschränkung des Wissenschaftsverständnisses der schottischen Gelehrten mit der Geschichtsschreibung als Mittel der Umsetzung der ‚Science of Man‘. Die wissenschaftlichen Anforderungen und ihre methodische

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Adam Smith, Lecture XVIII, Friday, 7 January 1763, in: Ders., Lectures on Rhetoric, S. 93–99, hier S. 93. 269 „There is no connection with which we are so much interested as this of cause and effect.“ Vgl. ebd., S. 93. 270 Ebd., S. 94. 271 „The difficulty of accomodating the explaining of the causes that have produced the different events with the distinctness that is necessary to give one clear notion of any one series of events, has led different authors into error in both the distinctness of events and the connection of causes with events.“ Vgl. ebd.

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Umsetzung in Vergleich, Analogiebildung und Ursache-Wirkung-Zusammenhang wurden auf die Historiographie übertragen, deren methodische Selbstreflexion nun die älteren stilistischen Fragen aus der rhetorischen Tradition zunehmend in den Hintergrund treten ließ. Entgegen dieser Interpretation wurde eingewendet, dass der besondere Einsatz der Kausalität in der schottischen Aufklärung weniger als Signum des Durchbruchs einer wissenschaftlichen Methode, als vielmehr als Ausdruck des erzieherischen Anspruchs der Moralphilosophie gedeutet werden muss.272 Fraglos lieferten Beispiele aus der Geschichte den Philosophen, so die meisten von ihnen tatsächlich dieses Fach an der Universität unterrichteten, die Grundlage für Rückschlüsse auf ihre praktische Philosophie. Dennoch etablierte sich die ‚History of Mankind‘ zunehmend als eigenes Genre, das methodische und materiale Herausforderungen an seine Autoren stellte, die weit über rhetorische Fragen hinausreichten. Der Kausalzusammenhang wurde in der Moralphilosophie zunächst als Brücke von den inneren Antrieben hin zu den äußeren Geschehnissen eingesetzt, während im Ausbau der ‚Naturhistorie der Menschheit‘ der UrsacheWirkung-Zusammenhang in steigendem Maße auch für die Verknüpfung der äußeren historischen Bedingungen selbst zum Einsatz kam. Hume selbst hatte einen solchen Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Geschichtsschreibung für zumindest problematisch erachtet. Seine Anhänger beschäftigte die wissenschaftliche Erfassung der Geschichte hingegen vermehrt, wobei betont werden muss, dass die Interessensverschiebung von moralphilosophischen Fragestellungen hin zur Erforschung des historischen Raums selbst bei den verschiedenen hier vorgestellten Autoren in sehr unterschiedlichem Ausmaß zum Tragen kam. Während Adam Fergusons Anliegen in einer quellenfundierten Geschichte der Menschheit bestand, deren allgemeinere Aussagen der Moralphilosophie dienen sollten, galt Adam Smiths Interesse der wissenschaftlichen Auslotung eines offenen gesellschaftlichen Gestaltungsraums in moralphilosophischer Absicht. Erst die Schülergeneration mit Millar, Logan oder Buchan stellte die Entwicklung der Menschheit in das Zentrum ihrer wissenschaftlichen Studien und machte damit die Geschichte selbst zum Gegenstand ihrer Wissenschaft. Die Übertragung der Kausalität als wissenschaftliches Operationsmodell auf historische Zusammenhänge und die zunehmende Vernachlässigung des skeptischen Vorbehalts gegenüber diesem heuristischen Mittel waren maßgebliche Bestandteile dieser Entwicklung.

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David Allan hat mit seiner Untersuchung zu zeigen versucht, dass der Einsatz von ‚Geschichte‘ in der schottischen Aufklärung zutiefst dem moralphilosophischen Anliegen der Autoren verpflichtet war und damit noch ganz in der rhetorischen Tradition stand. Er trägt damit seinem Ansatz Rechnung, dass die Schriften als Beiträge zur Moralphilosophie und nicht zu einer modernen Sozialwissenschaft gelesen werden sollen. Diese lange vernachlässigte Rückbindung an die humanistische Tradition vernachlässigt jedoch wiederum den entwicklungsgeschichtlichen Ansatz der ‚Natural History of Mankind‘. Vgl. Ders., Virtue, Learning and the Scottish Enlightenment, S. 169ff.

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Die systematische Analyse der Methoden, die in der ‚Natural History‘ zum Einsatz kamen, zeigt allerdings, dass ein hohes Maß an theoretischem Bewusstsein für einen komplexen Vorgang ausgebildet wurde. Die wissenschaftstheoretische Herausforderung bestand in der bewusst konstruktiven Verbindung der anthropologischen Basis mit der menschheitsgeschichtlichen Hypothesenbildung im historischen Raum durch Vergleich, Analogieschluss und die Herstellung von Kausalzusammenhängen. In dieser Hinsicht muss die Naturgeschichte in der schottischen Aufklärung als Medium der ‚Science of Man‘ verstanden werden, das der Vermittlung von Induktion und Deduktion diente. Dieser wissenschaftliche Anspruch konnte durch das traditionelle Verfahren der ‚Historia Magistra Vitae‘ nicht eingelöst werden, sondern nur anhand einer Feststellung von Regelmäßigkeiten in der Natur des Menschen und ihren Ausprägungen erfolgen. Die solchermaßen entwickelten wissenschaftlich nachprüfbaren Parameter sollten dabei nicht auf beliebige historische und anthropologische Zeugnisse rekurrieren. Die Auswahl und Kritik der Quellen war vielmehr ein weiterer maßgebender methodischer Aspekt des wissenschaftlichen Verfahrens im schottischen Menschheitsstudium.

3.3.

Die Quellen der ‚Natural History of Mankind‘

3.3.1. Bibel und Bibelkritik Als grundlegend für die Ausbildung des neuen Ansatzes einer ‚Natural History of Man‘ kann die Infragestellung der Bibel als Quelle der Geschichte der Menschheit gelten. Diesen Vorgang vorschnell als ‚Säkularisierung‘ zu beschreiben, erscheint allerdings problematisch, insofern nicht das gesamte theologisch inspirierte Geschichtsbild ersetzt werden sollte, sondern zunächst lediglich die Bibel als Erkenntnisgrundlage hinterfragt wurde.273 Der kritische Umgang mit der Bibel muss mithin als Ausdruck der generellen Erkenntnisproblematik seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert angesehen werden; also als grundsätzliche Skepsis, wie überhaupt gesichertes Wissen erlangt werden kann.274 Die neuen ‚wissenschaftlichen‘ Sicherungssysteme von Erkenntnis, die nun auch an die Geschichtsschreibung herange273

Vgl. Arno Seifert, Von der heiligen zur philosophischen Geschichte, S. 82. Der Vorstellung, dass mit der Säkularisierung die Heilsgeschichte durch die Geschichtsphilosophie substituiert worden sei, ist bereits Karl Löwith mit seiner Studie zur Kontinuität in der teleologischen Ausrichtung beider Sinnstiftungssysteme vehement entgegengetreten. Die Säkularisierung bezeichnet bei Löwith die ‚Umformung‘ eines substantiell gleichen Denkmodells. Obwohl unter dem Titel The Meaning of History. The Theological Implications of the Philosophy of History auf Englisch geschrieben und 1949 in den USA erschienen, hat Löwith die angelsächsische Entwicklung in seine Überlegungen nicht miteinbezogen. Vgl. Ders., Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Vorraussetzungen der Geschichtsphilosophie. Stuttgart u.a. 51967 (11953), S. 11f. Zu Löwith vgl. Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, S. 35ff. 274 In diesem vorsichtigen Umgang mit der Säkularisierungsthese als Ausdruck eines erkenntnistheoretischen Wandels folge ich Blumenberg, ebd., S. 20.

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tragen wurden und in einer erfahrungsgebundenen Grundlegung bestanden, erforderten auch einen kritischen Quellenbefund für das älteste bekannte Geschichtsbuch – die Bibel. Die Frage nach der Tauglichkeit der Bibel als empirische Basis für die Menschheitsgeschichte hatte zunächst zur Folge, dass weniger die Wahrheit des biblischen Berichts infrage gestellt wurde, als vielmehr seine Suffizienz als Quelle.275 Frühere Versuche der ‚Akkomodation‘ neuerer empirischer Befunde mit der Bibel wurden damit kaum weiter verfolgt.276 Stattdessen wurden nun auch die Naturhistoriker der Menschheit vom Prozess kritischer Betrachtung des empirischen Textgehaltes erfasst,277 der die Gelehrten im 17. Jahrhundert veranlasst hatte, die Bibel als Grundlage der Naturforschung außer Acht zu lassen.278 Einigen Einfluss hatte in diesem Zusammenhang die Position des Nestors der englischen Geschichtsschreibung im 18. Jahrhundert, Henry Saint John / Viscount Bolingbroke (1678–1751). Durch seine engen Verbindungen zur französischen Aufklärung – insbesondere zu Montesquieu und Voltaire – kann er als wichtige Gestalt der Vermittlung ‚wissenschaftlicher‘ Methodenauffassungen für eine ‚philosophische‘ Geschichtsschreibung gelten.279 Bolingbroke hatte sich frühzeitig in einer für ihn letztlich unbefriedigenden Weise mit den gängigen philosophischen Positionen seiner Zeit auseinandergesetzt und weder im cartesianischen Rationalismus noch im reinen Empirismus das Ziel seiner Studien gefunden. Orientiert an Newton und Locke schien es ihm bedeutsam, das induktive Verfahren auch auf das Geschichtsstudium zu übertragen. Er war maßgeblich daran beteiligt, den Begriff der ‚historia‘ aufzuwerten, indem er ihn nicht mehr nur synonym mit ,Erfahrung‘ gebrauchte.280 Seines Erachtens versetzte erst die Beschäftigung mit der Geschichte 275

„Die Streitfrage war dabei [...] nicht, ob die Erkenntnisse von Erfahrung und Vernunft der Offenbarung widersprechen dürften, sondern ob der Literalsinn der Schrift auch dort, wo er empirisch-rationaler Erkenntnis widersprach, unantastbar sei.“ Vgl. Seifert, Von der heiligen zur philosophischen Geschichte, S. 86. 276 Einen letzten großen Versuch zur Erneuerung des biblischen Weltbildes unternahm Jacques Bénigne Bossuet (1627–1704) in seinem vielbewunderten Discours sur l’histoire universelle (1681), der den Aufklärungshistorikern Material zur zensurfreien Abarbeitung des biblischen Weltbilds bot. Vgl. Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, S. 294, und Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, S. 129ff. 277 In besonderem Maße betraf das Bestreben zur ‚Akkomodierung‘ die biblische Chronologie, die jedoch auch spätestens seit der Mitte des 18. Jahrhunderts einem Prozess der ‚Euthanasie‘ unterworfen wurde. Vgl. Edoardo Tortarolo, Die Angst des Aufklärers vor der Tiefenzeit. Oder: Die Euthanasie der biblischen Chronologie, in: G. Hübinger / J. Osterhammel / E. Pelzer (Hg.): Universalgeschichte und Nationalgeschichten. Freiburg 1994, S. 31–50. 278 Einen sehr guten Überblick zu den Veränderungen in der Kosmologie seit dem 17. Jahrhundert, insbesondere in England, bietet Stephan Cartier, Licht ins Dunkel des Anfangs. Studien zur Rezeption der Prähistorik in der deutschen Welt- und Kulturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts. Herdecke 2000, S. 36ff. 279 Zur Person vgl. Harry T. Dickinson, Art. ‚Bolingbroke, Henry St. John‘, in: Kors (Hg.): Encyclopedia of the Enlightenment, Bd. 1, S. 159–160. 280 Henry Saint John Bolingbroke, Letters on the Study and Use of History. Bd. 1. London 1752, S. 20. Das Manuskript für dieses Buch hatte Bolingbroke lange vor seinem Erscheinen fertiggestellt und es seinem Freund Alexander Pope anvertraut, der schon 1738 einige Druckexemp-

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den Menschen in die Fähigkeit, ein Bewusstsein für erfahrungsgeleitete Erkenntnis zu entwickeln.281 Die eigene Erfahrung könne nämlich nur durch die Erkenntnisse anderer Menschen in verschiedenen Räumen und Zeiten zu einem aussagekräftigen Bild vervollständigt werden.282 Würde man die Erfahrung nicht in ausreichendem Maße berücksichtigen, hätte die ‚Wissenschaft der Menschheit‘ mit den gleichen rationalen Irrlehren zu kämpfen, die in früheren Zeiten auch die Kosmologie bestimmt hätten. Erfahrung und Geschichte seien nicht deckungsgleich, sondern müssten korreliert werden, um eine ausreichende Basis für die ‚Wissenschaft der Menschheit‘ zu bieten: Mere sons of earth, if they have experience without any knowledge of the history of the world, are but half scholars in the science of mankind. And if they are conversant in history without experience, they are worse than ignorant, they are pedant, always incapable, sometimes meddling and presuming.283

Die Vorgehensweise sollte also darin bestehen, historische Berichte mit Erfahrungswerten abzugleichen beziehungsweise die Erfahrung durch historische Zusammenhänge in einen größeren Bezugsrahmen zu setzen. Was den Quellenwert des biblischen Berichts anbelangte, kam Bolingbroke vor diesem erkenntnistheoretischen Hintergrund ohne Umschweife zu dem Ergebnis: „[...] [W]e may assert without scruple, that the genealogies and histories from the old testament are in no respect sufficient foundations for a chronology from the beginning of time, nor for Universal history“.284 Und obwohl Bolingbrokes Letters ein gutes Beispiel dafür bieten, dass es nicht das Ziel der Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts war, die Bibel grundsätzlich in ihrer Substanz zu hinterfragen, ist es umso bemerkenswerter, dass dieser Leitfaden zur Beschäftigung mit der Geschichte einen gewaltigen Sturm der Entrüstung auf Seiten der Kirche und bei den Verteidigern des Glaubens auslöste.285 Die aufgebrachte Gegenwehr zeigt die engen Grenzen, in denen Kritik an der Überlieferung der christlichen Religion formuliert werden konnte und verdeutlicht, dass die behandelten Schriften stets vor dem Hintergrund der drohenden Zensur gelesen werden müssen.286

lare im kleinen Kreis zirkulieren ließ. Vgl. Andreas Urs Sommer, Kritisch-moralische exemplaHistorie im Zeitalter der Auflärung: Viscount Bolingbroke als Geschichtsphilosoph, in: Saeculum 53 (2002), S. 269–310, hier S. 272. 281 „The school of example is the world: and the masters of this school are history and experience. I am far from contending that the former is preferable to the latter. I think upon the whole otherwise: but this I say, that the former is absolutely necessary to prepare us for the latter, and to accompany us whilst we are under the discipline of the latter, that is, through the whole course of our lives.“ Vgl. Bolingbroke, Letters on the Study and Use of History, Bd. 1, S. 20. 282 Bolingbroke, Letters on the Study and Use of History, Bd. 1, S. 21. 283 Ebd. 284 Ebd., S. 98. 285 Vgl. Sommer, Kritisch-moralische exempla-Historie, S. 273. 286 Adam Smith soll unter anderem deshalb gezögert haben, Humes Dialogues concerning Natural Religion nach dessen Tod zu publizieren, da er befürchtete, wie der Herausgeber von Bo-

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Bolingbrokes Geschichtsverständnis war deutlich der ‚Historia Magistra Vitae‘Tradition verpflichtet und dennoch lassen sich entscheidende Neuerungen in der Aufwertung der Historizität des Daseins als erkenntnistheoretischer Prius aller Erfahrung und in der unumwundenen Ablehnung des biblischen Berichts als historische Quelle erkennen.287 Das Bestreben Bolingbrokes lag darin, ‚historia sacra‘ und ‚historia humana‘ voneinander zu trennen und nicht das heilsgeschichtliche Gerüst in seiner Sinnstiftung infrage zu stellen oder sogar durch ein anderes Ordnungsprinzip zu ersetzten. Die Kritik der schottischen ‚natural historians‘ sollte aber unter beiden Aspekten der Behandlung der Bibel weiter reichen.288 Die Radikalisierung der Bibelkritik in der schottischen Aufklärung äußerte sich auf scheinbar unspektakuläre Weise, indem nämlich das Problem des biblischen Berichts als Quelle kaum mehr Erörterung fand. James Hutton etwa befand es nicht mehr für nötig, in seiner Theorie der Entstehung der Erde die Schöpfung, wie sie im ersten Buch Mose (Genesis) dargestellt ist,289 als Ursache in seine Überlegungen mit einzubeziehen oder gar auszuschließen und kam vielmehr zu dem Schluss: „[...] [S]o that, with respect to human observation, this world has neither a beginning nor an end.“290 Die wissenschaftliche Fundierung der Theorie aus analytischen Urteilen a-posteriori schloss die Bibel als Quelle per definitionem aus: That there is nothing visionary in this theory, appears from its having been rationally deduced from natural events, from things which had already happened; things which have left, in the particular constitutions of bodies, proper traces of the manner of their production; and things which may be examined with all the accuracy, or reasoned upon with all the light, that science can afford. As it is only by employing science in this manner, that philosophy enlightens man with the knowledge of that wisdom or design which is to be found in nature, the system now proposed, from unquestionable principles, will claim the attention of scientific men, and may

lingbrokes Letters, David Mallet, aufgrund des Deismusvorwurfes massiv angegriffen zu werden. Vgl. The Correspodence of Adam Smith, Anm. 7, S. 9. 287 Zu der Ansicht, dass bei Bolingbroke ein Nebeneinander von scheinbar schwer miteinander zu vereinbarenden geschichtstheoretischen Postionen vorfindlich ist, kommt auch Daniel Brühlmeier, Art. ‚Henry St John, Viscount Bolingbroke‘, in: Holzhey (Hg.): Grundriss der Geschichte der Philosophie, S. 294–303, hier 299. 288 Hume hielt Bolingbroke für einen schlechten Autor und kritisierte dessen vordergründigen Deismus: „The Clergy are all enrag’d against him; but they have no Reason. Were they never attack’d by more forcible Weapons than his, they might for ever keep Possession of their Authority.“ Vgl. Hume to the Abbé le Blanc 1754, in: Letters of David Hume, Bd. 1, S. 208. Adam Smith fühlte sich von der Lektüre Bolingbrokes zum Einschlafen angeregt. Vgl. Ders., Lecture II, Friday, 19 November 1762: in: Ders., Lectures on Rhetoric, S. 1–6, hier S. 4. 289 Erstes Buch Mose, Genesis, 1, 1 Satz 1. Thomas Burnets Telluris Theoria Sacra (1680) hatte noch versucht, die Divergenzen zwischen ‚Physiologia‘ und ‚Theologia‘ argumentativ zu versöhnen, während William Whiston in seiner New Theory of the Earth (1691) eine eher allegorische Lesart der Genesis vorschlug. Vgl. Manfred Petri, Die Urvolkhypothese. Ein Beitrag zum Geschichtsdenken der Spätaufklärung und des deutschen Idealismus. Berlin 1990, S. 40f. 290 Hutton, Abstract of a Dissertation. Read in the Royal Society of Edinburgh upon the Seventh of March and Fourth of April 1785. Concerning the system of the Earth its Duration and Stability. (Reprint) Edinburgh 1997, S. 28.

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be admitted in our speculations with regard to the works of nature, notwithstanding the many steps in the progress may remain unknown.291

Bedeutsam an dieser Grundlegung von Huttons Theorie zur Entstehung der Welt ist, dass die Schöpfungsgeschichte unerwähnt bleibt und die beobachtungsgeleitete Erforschung der Spuren des Entstehungsprozesses als einzige Möglichkeit zur Erkenntnis der ‚Ordnung der Natur‘ (design of nature) bezeichnet wird. Es ist nicht der göttliche Plan, der nun auf dem Wege der empirischen Erkenntnis entschlüsselt wird, sondern ein Prozess des natürlichen Werdens, dessen Gesetze die Wissenschaft erforscht.292 Ähnliche Zurückhaltung im Umgang mit dem biblischen Ursprung des Menschengeschlechts belegen auch andere ‚Natural Histories of Mankind‘, die entweder die Schöpfungsgeschichte übergehen oder nur sehr am Rande verhandeln.293 Die meisten Untersuchungen beginnen mit der Beschreibung einer Art Urgesellschaft, deren Entstehung nicht weiter erörtert wird.294 Diese sukzessive Ausgrenzung der biblischen Anfangsgeschichten war charakteristisch für die spätaufklärerischen Menschheitskonzepte und ebnete den Weg ihrer spezifisch ‚modernen‘ Ausgestaltungen in Weltgeschichte, Kulturgeschichte und schließlich einem geschichtsphilosophischen Ansatz.295 Der These von der Uniformität der menschlichen Natur gehorchend waren die Naturhistoriker der Menschheit übereinstimmend der Ansicht, dass sich diese ursprüngliche Gesellschaft im ‚Stadium der Wildheit‘ (savage state) befunden habe, wie es bei historischen Völkern und den zeitgleich existierenden ‚wilden Stämmen‘ (rude tribes), etwa Nordamerikas, noch immer vorfindbar sei. Eine zugespitzte Form fanden diese Thesen in Henry Homes / Lord Kames, Sketches of the History of Man (1774), deren antibiblischer Gehalt nicht direkt im Zusammenhang mit der Schöpfung, sondern mit der Frage nach der Entstehung der

291 292

Ebd., S. 22f. Grundlegend ist in diesem Zusammenhang die Entgegensetzung von Natur und Religion bei David Hume: „If nature be oppos’d to miracles, not only the distinction betwixt vice and virtue is natural, but also every event, which has ever happen’d in the world, excepting those miracles, on which our religion is founded.“ Vgl. Ders., Treatise, S. 474. 293 Paolo Rossi vertritt die These, dass sich Ende des 17. Jahrhunderts aus der Analogiebildung der prozesshaften Entstehung der Erde ein spezifisch ‚historischer‘ Zugang mit entsprechenden methodologischen Anforderungen für die Entwicklung der Zivilisation entwickelte. Vgl. Ders., The Dark Abyss of Time. The History from the Earth & The History of Nations from Hooke to Vico. Chicago 1984, S. 4. 294 Helmut Zedelmaier entwickelt verschiedene theoretische Modelle der Ablösung vom christlichen Konzept der Universalgeschichte im Umgang mit dem Anfang des Menschengeschlechts: das Naturzustandstheorem, die Philosophiegeschichte, die Zivilisationsgeschichte und die Geschichtsphilosophie. In dieser Typologie kann die schottische ‚Natural History of Mankind‘ der Zivilisationsgeschichte zugerechnet werden. Vgl. Ders., Der Beginn der Geschichte, S. 87–92. 295 Vgl. dazu ausführlich Helmut Zedelmaier, Der Anfang der Geschichte. Studien zur Ursprungsdebatte im 18. Jahrhundert. Hamburg 2003, S. 7ff.

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Sprachen verhandelt wurde.296 Im Hinblick auf den biblischen Bericht betraf die Sprachfrage in der Hauptsache die Geschichte des Turmbaus von Babel, die besagte, dass die Menschheit ursprünglich eine Sprache gesprochen habe: eine Untermauerung der gemeinsamen Abstammung der Menschheit von einem Elternpaar.297 Kames ‚Preliminary Dicourse, concerning the Origin of Men and of Languages‘ vertrat eine besonders brisante Gegenposition zur kirchlichen Lehre, indem hier die Monogenese infrage gestellt und die Vorstellung von der ‚Wildheit‘ der Urgesellschaft bekräftigt wurde, was beides in unmittelbarem Gegensatz zur Darstellung der Genesis stand.298 Die Diskussion um eine mögliche Polygenese der Menschheit wurde im Zusammenhang mit den Entdeckungsreisen bereits seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert geführt und erlebte in der Aufklärung, besonders durch Voltaires polemische Einlassungen, eine breite Rezeption.299 Kames verfasste eine kleinteilige Herleitung seiner Theorie, basierend auf den Kenntnissen aller bekannten historischen und gleichzeitig lebenden Völkerschaften, die besagte, dass es mehrere Elternpaare der Menschheit gegeben habe, die, klimatischen Zonen entsprechend, verschiedenen Rassen angehört und ursprünglich verschiedene Spra296

Auch James Dunbar verhandelte die Frage der ‚origin of nations‘ in seinem Essay ‚On language, as an Universal Accomplishment‘. Darin wollte er den Gedanken verabschieden, dass die Sprechfähigkeit jemals ‚erschaffen‘ wurde und statt dessen dafür plädieren, dass sie sukzessive ‚erlernt‘ worden sei: „[A] design, competent, perhaps, to superior beings, but by no means compatible with the limited capacity of the human mind.“ Vgl. Ders., Essays on the History of Mankind, S. 94. Zum philosophischen Ursprung der entstehenden Philologie vgl. Hans Aarsleff, From Locke to Saussure. Essays on the Study of Language and Intellectual History. London 1982, S. 146ff. 297 Erstes Buch Mose, 11, 1. Arno Borst sieht die englisch-schottische Aufklärung an der Spitze der Infragestellung einer heilsgeschichtlichen Vorsehung und der Ordnungsmacht der Sprache durch die Empirisierung der Wissenschaft. Vgl. Ders., Der Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker. Bd. 3/2. Stuttgart 1961, S. 1396ff. 298 Die ‚Sketches’ können als philosophisches Vermächtnis des hochbetagten Lord Kames (1696– 1782) gelten – „child of his grey hairs“ – in denen er seine Forschungen zur Philosophie, Anthropologie, Wissenschaftslehre und Zeitgeschichte zusammentrug. Die erste ‚Skizze‘ mit dem Titel ‚Diversity of Men and Languages‘ wurde zum ‚Preliminary Discourse‘ der zweiten Auflage von 1778. Unabhängig von den zeitgleich erscheinenden ‚Natural Histories of Mankind‘ beansprucht diese gelehrte Kompilation in der Hinsicht Anspruch auf Originalität, als ihr dezidiertes Ziel dem Nachweis der so genannten Polygenese galt. Vgl. Kames, Sketches, Bd. 1, S. 2. 299 Das Wiedererwachen der polygenetischen Theorien verbindet sich vor allem mit dem Namen des französischen Publizisten Isaac de La Peyrère (1596–1667) und seinen Schriften Du Rappel des Juifs (1643), Præadamitæ (1655) und Systema Theologicum ex Preadamitarum hipothesi (1655). Nach Peyrère gab es vor Adam und der Einführung der göttlichen Gebote einen Naturzustand, in dem Menschen gelebt haben; die so genannten ‚Präadamiten‘. Zur Diskussion um die Entstehung der Menschheit im 17. Jahrhundert vgl. Martin van Gelderen, Hugo Grotius und die Indianer. Die kulturhistorische Einordnung Amerikas und seiner Bewohner in das Weltbild der Frühen Neuzeit, in: R. Schulz (Hg.): Aufbruch in neue Welten und neue Zeiten. Die großen maritimen Expansionsbewegungen der Antike und der Frühen Neuzeit. München 2003, S. 51–78, hier S. 66f. Zum ideengeschichtlichen Kontext der Theorie La Peyrères vgl. Anthony Grafton, Defenders of the Text. The Traditions of Scholarship in an Age of Science, 1450–1800. Cambridge / London 1991, S. 208.

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chen gesprochen hätten.300 Diese Hypothese stehe, ganz gleich wie gut sie begründet sei, im Widerspruch zu dem, was der biblische Bericht vorgebe: But this opinion, however plausible, we are not permitted to adopt; being taught a different lesson by revelation, viz. that God created but a single pair of the human species. Tho’ we cannot doubt the authority of Moses, yet his account of the creation of man is not a little puzzling, as it seems to contradict every one of the facts mentioned above.301

Kames süffisante Haltung gegenüber den Aussagen des mosaischen Berichts gipfelte in der Kritik an der Vorstellung, dass Adam, ausgestattet mit größter Weisheit, das Menschengeschlecht begründet hätte; eine Annahme, die für Kames allen Kenntnissen über Urgesellschaften diametral entgegenstand. Antike und neuere Berichte über erste Gesellschaften zeigten diese allesamt als roh und ungebildet. Zwar seien die Argumente der Bibel für die Degenerierung der ersten Menschengesellschaft in der Sintflut und in der Dispersion der Sprachen zu finden. Doch biete die Bibel hier als Beleg die nur wenig glaubwürdige Geschichte des Turmbaus zu Babel,302 die schon deshalb zu bezweifeln sei, da man nach der Sintflut wiederum von der Verbreitung einer Ursprache auszugehen habe. Trotz der fundamentalen Zweifel an der historischen Faktizität der Geschichte vom Turmbau zu Babel bot sie für Kames die einzig plausible Theorie, um die Beobachtungen der Naturhistorie mit dem biblischen Bericht zu versöhnen: Against this history [the history of the tower of Babel] it has indeed been urged, that the circumstances mentioned evince it to be purely an allegory; [...]. But that this is a real history, must necessarily be admitted, as the confusion of Babel is the only known fact that can reconcile sacred and profane history.303

Obgleich dieses scheinbaren Kompromisses hielt Kames an seinen Fundamentalaussagen fest: Alle Kenntnisse über die frühesten Perioden der Menschheit geben Anlass zu der Annahme, dass viele kleine Gesellschaftsformationen ursprünglich gleichzeitig im Stadium der Wildheit lebten, von wo aus sie sich den unterschiedlichen Bedingungen gemäß verschieden entwickelten.304 Demnach sei es die 300

„As far back as history goes, or tradition kept alive by history, the earth was inhabited by savages devided into many small tribes, each tribe having a language peculiar to itself. Is it not natural to suppose, that these original tribes were different races of men, placed in proper climates, and left to form their own language?“ Vgl. Kames, Sketches, Bd. 1, S. 75. 301 Ebd., S. 76f. 302 „[…] [T]hat men never were so frantic as to think of building a tower whose top might reach to heaven; and that it is grossly absurd, taking the matter literally, that the Almighty was afraid of men, and reduced to the necessity of saving himself by a miracle“. Vgl. ebd., S. 78f. 303 Ebd., S. 78f. 304 Diese Thesen hatten den Lehrer David Doig (1719–1800) aus Stirling veranlasst, sich seit 1775 mit kritischen Briefen an Kames zu wenden, in denen er den faktischen Gehalt des biblischen Berichts durch eine Analyse der Verwandtschaft der Sprachen unter Beweis stellen wollte. Doig war daraufhin mit Kames in direkten Dialog getreten und publizierte die Briefe erst nach dessen Tod. Vgl. Ders., Two Letters on the Savage State, Addressed to the late Lord Kames. London 1792, S. 23. Doigs Biograph des beginnenden 19. Jahrhunderts entschied den Disput

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eigentliche Aufgabe der Naturhistoriker der Menschheit, nicht über deren Ursprung, sondern über die verschiedenen Grade ihrer Entwicklung Theorien aufzustellen.305 Hinter Kames’ Eintreten für eine Polygenese der Menschheit verbarg sich nicht nur eine Bibelkritik. Im Gegensatz zu einigen seiner Protegés – insbesondere Ferguson und Millar – war Kames kein Vertreter des Gedankens der substantiellen Gleichheit aller Menschen. Dies hatte sich bereits in seiner Kritik an Fergusons Vergleich der ‚Wilden‘ Nordamerikas mit den Ureinwohnern Britanniens gezeigt und kulminierte in der These, dass jene aufgrund ihrer physischen und moralischen Disposition im Stadium der Wildheit stagniert seien.306 Durch diese Disposition waren die Indianer zwar nicht vom allgemeinen Zivilisationsprozess ausgeschlossen, vollzogen ihn jedoch erheblich langsamer als andere Nationen.307 Kames erweiterte mit dieser These die Diskussion der ‚Nationalcharaktere‘ um eine rassisch bedingte physiologisch-moralische Differenz.308 Dieser uneingestandene Partikularismus und die radikale Beschneidung der Uniformitätsthese bedeutete nicht nur ein methodisches Problem für die Vertreter dieses hemisphärengeschützten Universalismus, sondern fungierte ferner hin als Grundfigur rassistischer Theorien.309 umstandslos für Doig und artikulierte maliziös seinen Generalverdacht gegen die Naturhistoriker der Menschheit: „This was a paradox which he [Kames] did not himself devise, but which had already been exhibited in the variety of shapes by Condillac, Rousseau, Hume, Smith, Monboddo, and divers other spectators. Some of these lovers of wisdom delight in representing the human species as very closely allied to what we venture to describe as the lower animals; and whether the remote ancestors of men were not downright monkies, or at least ourang-outangs, they feel a very philosophical degree of hesitation in deceiding.“ Vgl. David Irving, Lives of Scottish Writers. Bd. 2. Edinburgh 1839, S. 313–324, hier S. 317f. 305 „Some nations, stimulated by their own nature, or by their climate, have made a rapid progress; some have proceeded more slowly; and some continue savages. To trace out that progress toward maturity in different nations, is the subject of the present undertaking.“ Vgl. Kames, Sketches, Bd. 1, S. 84. 306 Kames stand mit seiner Stereotypenbildung des feigen, unbehaarten, frigiden amerikanischen ‚Wilden‘ nicht alleine und hatte einen vielzitierten Leumund in dem holländischen Naturhistoriker Cornelius de Pauw (1739–1799) und seinen Recherches philosophiques sur les Américains, ou Mémoires intéressantes pour servir à l’Histoire de l’Espèce humaine (1768/69). 307 „The principles of morality are little understood among savages: and if they arrive at maturity among enlightened nations, it is by slow degrees.“ Vgl. Kames, Sketches, Bd. 3, S. 1. Damit ist der These von Silvia Sebastiani entgegenzutreten, dass die ‚Wilden‘ bei Kames gänzlich vom Zivilisationsprozess ausgeschlossen seien. Vgl. Dies., Race and national characters in eighteenth-century Scotland: the polygenetic discourses of Kames and Pinkerton, in: Studi Settecenteschi 21 (2001), S. 265–281, hier S. 269. 308 „What resource then have we for explaining the opposite manners of the islanders above mentioned, but that they are of different races? The same doctrine is strongly confirmed upon finding courage or cowardice to be a national character. Individuals differ widely as to these; but a national character of courage or cowardice must depend on a permanent and invariable cause.“ Vgl. Kames, Sketches, Bd. 1, S. 40. 309 Die Grundlegung rassistischen Denkens in der Aufklärung ist in jüngerer Zeit vermehrt zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen geworden. Vgl. Boulle, Art. ‚Race‘, S. 384– 387. Für die schottische Debatte vgl. die Ausführungen von Sebastiani, Race and National Characters, S. 272.

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Doch neben Kames spezifischem Erkenntnisinteresse stand auch bei ihm die These von der ‚Soziabilität‘ des Menschen im Vordergrund, die dazu angetan war, gegen Naturzustandstheorien zu polemisieren und darüber hinaus den Naturhistoriker der Menschheit davon entband, grundsätzliche Erwägungen über den Anfang der Menschheitsgeschichte anstellen zu müssen und damit in offenen Gegensatz zur biblischen Überlieferung zu geraten. Implizit antagonistisch zur Bibel standen die Naturgeschichten bereits dadurch, dass sie den Urzustand der Menschheit aus der Parallelisierung mit der Tierwelt herleiteten beziehungsweise den Urmenschen als tiergleich darstellten.310 Die spektakulärste Position vertrat in dieser Frage James Burnett / Lord Monboddo (1714–1799), der mit Bezug auf Rousseau die erweiterte These vertrat, dass der Mensch und der Orang-Utan der gleichen Spezies angehörten.311 Die an die Bedeutung des Wortes ‚Orang-Utan‘ angelehnte Bezeichnung ‚men of woods‘ stand für Monboddo als Synonym für alle heute so bezeichneten Menschenaffenarten, die allerdings in seinem System die Position der ‚speechless savages‘ zwischen den ‚brutes‘ und den ‚proper savages‘ einnahmen. Seine These bestand darin, dass die ‚men of woods‘ aus noch zu erforschenden Gründen vom allumfassenden stufenartigen Entwicklungsprozess der Menschheit bislang ausgeschlossen gewesen seien, obwohl sie ohne Zweifel zur gleichen Gattung zählten.312 Aufschluss erhoffte er sich in der Frage von den so genannten ‚wilden Menschen‘,313 die sich in einem ähnlichen Zustand befänden beziehungsweise in mancherlei Hinsicht sogar hinter den – in den Reiseberichten verzeichneten – Fähigkeiten der Orang-Utans zurückstanden.314 Aus diesen proto-evolutionistischen Überlegungen folgerte er, dass der Mensch ebenso wie der Orang-Utan ursprünglich sprachlos gewesen sei, die Sprache erst ‚erfunden‘ wurde und sie mithin keine natürliche 310

„The destitute condition of man, as an animal, has been a usual topic of declamation among the learned; and this alone, according to some theories, is the foundation both of social union and of civil combinations.“ Vgl. Dunbar, Essays on the History of Mankind, S. 6. 311 Wissenschaftliches Interesse fanden diese frühen Abstammungsideen bereits bei Arthur O. Lovejoy, Monboddo and Rousseau, in: Modern Philology 30 (1932/33), S. 275–296. 312 James Burnett / Lord Monboddo, Of the Origin and Progress of Language. Bd. 1. Edinburgh 1773, S. 2. 313 Monboddo schrieb das Vorwort zur Übersetzung eines französischen Berichts über ein ‚wildes Mädchen‘, das 1731 in Frankreich gefangen worden war und ein breites Interesse auf sich zog. Vgl. An Account of a savage Girl caught in the Woods of Champagne. With a Preface, containing several particulars omitted in the original Account. Edinburgh 1768. Vgl. dazu Julia V. Douthwaite, Rewriting the Savage. The Extraordinary Fictions of the Wild Girl of the Champagne, in: Eighteenth Century Studies 28 (1994/95), S. 163–192, hier S. 182ff. Zur Überzeugung der Überlegenheit der Orang-Utans gelangte Monboddo auch durch seine Zusammentreffen mit Peter, dem ‚wilden Jungen‘ von Hannover. Vgl. Alan Barnard, Monboddo’s Orang Outang and the Definition of Man, in: R. Corbey / B. Theunissen (Hg.): Ape, Man, Apeman. Changing Views since 1600. Leiden 1995, S. 71–82, hier S. 75f. 314 Der Befund die Fähigkeiten der Menschenaffen betreffend entstammte hier vor allem den gesammelten Reiseberichten des Abbé Prévost in der Histoire générale des voyages (1749ff.), wo davon berichtet wurde, dass Affen beim Herstellen von Werkzeugen, Totenritualen und dem Einsatz von Feuer beobachtet worden seien.

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Anlage sei.315 Die mühsam erworbene, vor allem aus Vokalen bestehende Ursprache könne man noch zeitgenössisch an den Ureinwohnern Nordamerikas studieren. Die verschiedenen Widersprüche, die sich aus diesen Thesen mit dem biblischen Bericht ergaben, kommentierte Monboddo nur an einzelnen Stellen, machte keinen Hehl aus seiner polygenetischen Überzeugung und akzeptierte Babel formal als mögliche Kompromisslösung.316 Trotz dieser Bedenken ließ Monboddo keinen grundsätzlichen Zweifel an seinem Gottesglauben aufkommen. Die eigentliche Schöpfungsgeschichte der Genesis fand in den Naturgeschichten der Menschheit nur in Ausnahmen Erwähnung und wurde in diesen Fällen, wie etwa bei Ferguson, als eine unter verschiedenen Ursprungsgeschichten eingereiht.317 Die Aufzählung der diversen ‚Ursprungsmythen‘ diente in dieser allgemeineren Form zur Abgrenzung der eigenen methodisch gesicherten Vorgehensweise: The curiosity, entertained by all civilized nations, of enquiring into the exploits and adventures of their ancestors, commonly excites a regret that the history of remote ages should be so much involved in obscurity, uncertainty, and contradiction. [...] The fables, which are commonly employed to supply the place of true history, ought entirely to be disregarded.318

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Monboddo schreibt in einem Brief über sein Anliegen mit aller gebotenen Vorsicht: „The matter of my Book […] may be reduced to three heads – first that Language is not natural to Man – Second, that it is possible (for I say no more) that it may have been Invented – and, lastly – upon that Suppostition – to show how it was invented.“ Vgl. Monboddo, zitiert nach Art. ‚Monboddo, James Burnett, Lord‘, in: The Dictionary of Eighteenth-Century British Philosophers, Bd. 2, S. 629–631, hier S. 629. 316 Monboddo, Of the Origin and Progress of Languages, Bd. 1, S. 318ff. Monboddo hatte im Kreis der schottischen Gelehrten die Rolle eines Exzentrikers, der den Errungenschaften der Moderne abschwor und an traditionellen Gepflogenheiten festhielt; er benutzte beispielsweise keine Kutschen. Zu den Thesen seines adeligen Konterparts, Lord Kames, stand er in kritischer Distanz. Vgl. Robert Wokler, Apes and Races in the Scottish Enlightenment: Monboddo and Kames on the Nature of Man, in: P. Jones (Hg.): Philosophy and Science in the Scottish Enlightenment. Edinburgh 1988, S. 145–168, hier S. 146. Johann Gottfried Herder sah Monboddos ‚Philosophie über den Menschen‘ im Vergleich zu Kames’ Menschheitsgeschichte als die weit überlegen an: „Ich läugne daher nicht, daß ich nach der Geschichte des Menschen, auf die Monboddo irgendwo in diesem Buche Hoffnung giebt, sehr verlange und überzeugt bin, daß sie vor dem in einzelnen Theilen vortreflichen, im Ganzen aber sehr mittelmäßigen Werk seines Landsmannes Home viele Vorzüge haben müsste.“ Vgl. Ders., Vorrede, in: Des Lord Monboddo Werk von dem Ursprunge und Fortgange der Sprache, in: Herder, Sämmtliche Werke, Bd. 15, hg. v. B. Suphan. (Reprint) Hildesheim 1967, S. 179–188, hier S. 182. Monboddo selbst machte keinen Hehl daraus, dass er sich Kames theoretisch weit überlegen fühlte. Vgl. Ian Simpson Ross, Lord Kames and the Scotland of his Day. Oxford 1972, S. 335f. 317 Fergusons kurze Darstellung des biblischen Anfangs der Menschheit zeugt, neben den Berichten der Griechen und Römer von äußerster Distanznahme: „In sacred history, we find the parents of the species, as yet a single pair, sent forth to inherit the earth, and to force a subsistence for themselves admidst the briers and thorns which were made to abound its surface. Their race, which was again reduced to a few, had to struggle with the dangers that await a weak and infant species […].“ Vgl. Ferguson, Essay, S. 74. 318 Hume, The History of England, Bd. 2, S. 3f.

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In diesem Zusammenhang verdient hervorgehoben zu werden, dass die Bibel von der Kritik der ‚fabelhaften‘ Ursprungstheorien nicht dezidiert ausgeschlossen wurde oder als gesonderte Quelle Behandlung fand:319 As a greater part of those heroes and sages that are reputed to have been the founders and modellers of states, a only recorded by uncertain tradition, or by fabulous history, we may be allowed to suspect that, from the obscurity in which they are placed, or from the admiration of distant posterity, their labours have been exaggerated, and misrepresented.320

Als Beispiele bedeutender ‚Gesetzgeber‘ dienten den Menschheitshistorikern die mythischen Staatengründer Griechenlands und Roms, Solon, Lykurg sowie Romulus: We are therefore to receive, with caution, the traditionary histories of ancient legislators, and founders of states. Their names have long been celebrated; their supposed plans have been admired; and what were probably the consequences of an early situation, is, in every instance, considered as an effect of design. [...] They [Romulus, Lycurgus] were not surely more disposed to embrace the schemes of innovators, or to shake off the impression of habit: they were not more pliant and ductile, when their knowledge was less; not more capable of refinement, when their minds were more circumscribed.321

Die kritische Position zum Verhältnis von Ursache und Wirkung wurde von Ferguson auf intentionales Handeln und die Entstehung von Gesellschaftsformen übertragen, mit dem Ergebnis, dass dieser einfache Zusammenhang in Zweifel gezogen wurde und die Ursachen historischer Gegebenheiten seiner Auffassung nach vielmehr in strukturellen Bedingungen zu finden seien.322 Angesichts dieser kritischen Analysen ist es kein Zufall, dass sich auch Moses unter die Beispiele mythischer Gesetzgeber eingereiht findet.323 Die damit implizit einhergehende Historisierung dieser Gestalt des Alten Testaments, die zwischen Gottes Wort und dessen Verschriftlichung – dem gesamten Pentateuch – sowie seiner Kodifizierung durch 319 320 321 322

Vgl. auch die ähnlichen Formulierungen bei Ferguson, Essay, S. 76. Millar, Origin, S. 7. Ferguson, Essay, S. 120. „An author and a work, like cause and effect, are perpetually coupled together. This is the simplest form under which we can consider the establishment of nations: and we ascribe to a previous design, what came to be known only by experience, what no human wisdom could foresee, and what, without the concurring humour and disposition of his age, no authority could enable and individual to execute.“ Vgl. Ferguson, Essay, S. 120. Auch hier findet sich die implizite Kritik – wie sie später auch auf Moses übertragen wird –, dass die ‚Gesetzgeber‘ nicht die ausführenden Organe eines höheren Plans seien. 323 Das Erscheinen der Schrift The Divine Legation of Moses Demonstrated (1737–1741) des anglikanischen Bischofs William Warburton (1698–1779) markiert den Beginn einer Diskussion um die Person des biblischen Gesetzgebers. Die Diskussion kreiste um die Fragen, ob Moses den Offenbarungsglauben kodifiziert, dem Naturrecht gehorcht habe oder allgemeinen politischen Disziplinierungsmaßnahmen gefolgt sei. Vgl. Otto Dann, Kommentar, in: Friedrich Schiller, Historische Schriften und Erzählungen. Bd. 1. Frankfurt/M. 2000, S. 871. Schiller hatte mit seiner Schrift Die Sendung Moses (1790) zur Interpretation von Moses als ‚Staatsmann‘ beigetragen, als die er auch Lykurg und Solon qualifiziert hatte. Vgl. Prüfer, Die Bildung der Geschichte, S. 221.

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den Menschen fungiert, ist dabei von höchster Brisanz. Durch die Parallelisierung des geoffenbarten biblischen Textes mit antiken Traditionen wird die implizite Kritik an der Suffizienz der Bibel als Quelle überdeutlich. Nicht der Offenbarungsglaube selbst wurde hinterfragt, doch zumindest seine Überlieferung kritisch beleuchtet, wodurch die Bibel als historischer Text neben anderen behandelt wurde. Für den schottischen Verleger und Publizisten William Russell (1741–1793)324 stand es in seiner 1793 veröffentlichten History of Ancient Europe außer Frage, dass aufgrund ihres ‚fabelhaften‘ Charakters die Bibel eine überaus ungeeignete Quelle für die Geschichte der Menschheit biete: Unless we have recourse to that Divine Revelation communicated through the Hebrews, emphatically styled the People of God, we shall for ever remain ignorant of the creation of the world, and of the primitive state of man; subjects which, among all other nations, are lost in the Chaos of Fable. Yet have we, setting aside the Reverence of such Revelation, a strong desire to trace as high as Historical Records reach, or as Heathen tradition furnishes a chain of probable facts, the Rude Story of the Human Race. To gratify, without abusing, this Curiosity, is the business of the Historian.325

Die Betrachtung der verschiedenen Nationen und unterschiedlichen Völker zeige vielmehr, dass die biblische Erzählungen mit den historischen Nachrichten und Berichten über gleichzeitig existierende Völker nicht in Einklang zu bringen sei. Das Problem der mangelnden Konvergenz entstehe allerdings nur dann, wenn man die mosaische Urkunde wörtlich nehme.326 Man entgehe diesem Dilemma, indem man das zweite Buch Mose (Exodus) als mythische oder politische Apologetik historischer Ereignisse qualifiziere: „[...] [W]e consider that mysterious narrative 324

William Russell war als Verleger ausgebildet und lebte neben Übersetzungen aus dem Französischen, wie etwa Antoine-Léonard Thomas’ Essay on the Character of Women (1772), in der Hauptsache von dieser Tätigkeit. Mit seinen belletristischen Versuchen blieb Russell vergleichsweise erfolglos, während er mit seinen historischen Schriften einige Bekanntheit erlangte. Seine History of America (1778) wurde in der deutschen Übersetzung zumindest als Äquivalent zu William Robertsons amerikanischer Geschichte angesehen: „Da Russel die Arbeit dieses seines Vorgängers [Robertson] vor sich hatte, so hat er ihn auch pflichtmäßig genutzt, ohne ihn doch auszuschreiben; vielmehr hat er mehrmals Gelegenheit gefunden, ihn zu berichtigen und zu verbessern.“ Vgl. die Vorrede des deutschen Herausgebers, in: William Russell, Geschichte von Amerika von dessen Entdeckung an bis auf das Ende des vorigen Krieges. Nebst einem Anhange, welcher eine Geschichte des Ursprunges und des Fortganges des gegenwärtigen unglücklichen Streites zwischen Groß-Britannien und seinen Colonien enthält. Bd. 1. Leipzig 1779, S. V. 325 William Russell, The History of Ancient Europe; With a View of the Revolutions in Asia and Africa. In a Series of Letters to a Young Nobleman. Bd. 1. London 1793, S. 2. 326 „If we receive, in a literal sense, the Mosaic history of the creation, of the antediluvian world, and the dispersion of mankind, after the flood, at Babel, or Babylon, we shall find little difficulty in assigning reason, why the banks of Euphrates and Tigris were crowned with great cities, crowded with inhabitants, skilled in all the useful and ingenious arts, before a single city was erected at the banks of Danube or Rhine. Yet shall we still be at a loss how to account for the no less early population and improvement of Aegypt, India, and China; for the two latter countries were very distant from the scene of dispersion, and the former separated from it by almost impassable deserts.“ ebd., S. 4.

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of the Hebrew legislator, as mythical and political apologue, composed for the introduction and support of the Jewish theocracy“.327 Weder die Vorstellung der Schöpfung noch das Konstrukt des Naturzustandes stimme mit den historischen Kenntnissen über die Menschheit überein;328 beide seien hingegen geeignet, bestimmte Idealtypen zu konstruieren, um in disziplinierender Absicht klare Aussagen über die Natur des Menschen zu erwirken.329 Die Naturhistoriker wollten sich von den zielgeleiteten Erwägungen zur Konstitution des Menschengeschlechts ihrer Vorgänger distanzieren und zu einem empirisch untermauerten Bild der Menschheit gelangen. Die induktive Vorgehensweise sah vor, die Thesen nur mit Experimenten und Augenzeugenberichten zu begründen. Waren solche nicht möglich, mussten historische Erzählungen und Reiseberichte genutzt werden, die dann allerdings kritisch auf ihre Glaubwürdigkeit als Quelle überprüft werden mussten, um dem wissenschaftlichen Anspruch zu genügen. Die Bibel konnte dieser Überprüfung als Quelle der ‚Natural History of Mankind‘ nur insofern standhalten, als ihre Erzählungen mit anderen historischen Quellen parallelisiert wurden.330 So nutzte zum Beispiel John Millar neben Berichten der ersten Entdeckungsreisen des Kolumbus und der Odyssee das Buch Ruth als Quelle für das Verhältnis der Geschlechter und die Funktion ihrer Nacktheit in ‚rude nations‘ und ‚barbarous ages‘.331 In diesem Sinne dienten die Geschichten der Bibel ebenso wie andere mythische Berichte als kulturgeschichtliche Quelle für den politischen und sozialen Hintergrund, vor dem sie entstanden waren: It were absurd to quote the fable of Iliad or the Odyssey, the legends of Hercules, Theseus, or Oedipus, as authorities in matter of fact relating to the history of mankind; but they may, with great justice, be cited to ascertain what were the conceptions and sentiments of the age in which they were composed, or to characterise the genius of that people, with those imaginations they were blended, and by whom they were fondly rehearsed and admired.332

327 328 329

Ebd., S. 5. Ebd., S. 6. Zur Rezeption einer ‚positiven‘ und ‚negativen‘ Anthropologie aus der Bibel in den Denkströmungen der Frühen Neuzeit vgl. die detaillierte Studie von Dieter Groh, Schöpfung im Widerspruch. Deutungen der Natur und des Menschen von der Genesis bis zur Reformation. Frankfurt/M. 2003, S. 20ff. 330 In diesem Zusammenhang wurde zumeist auf Geschichten des Alten Testaments zurückgegriffen, die als Fundus der Kulturgeschichte dienten. In der Häufigkeit der Zitierungen liegt die Bibel weit hinter den Reiseberichten und auch hinter den antiken Autoren. Etwa in Millars ‚Origin‘: 94 x Reiseberichte, 71 x antike Autoren, 25 x Altes und Neues Testament. Erhoben von William C. Lehmann, Principal Authors and Works Cited in the ‘Ranks’, in: Ders., John Millar of Glasgow, S. 171. 331 „Rude nations are usually distinguished by greater freedom and plainness of behaviour, according as they are farther removed from luxury and intemperance. In the Odyssey, when Telemachus arrives at Pylos, he is stripped naked, bathed and anointed by the king’s daughter. […] A remarkable instance of plainness and simplicity occurs in the behaviour of Ruth and Boaz her kinsman.“ Vgl. Millar, Origin, S. 30ff. 332 Ferguson, Essay, S. 76.

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Als Quelle für die tatsächlichen Umstände der Entstehung der Menschheit und für die Prinzipien ihrer Entwicklung hatte die Bibel für die ‚Natural Historians of Mankind‘ keinen weiteren Bestand. Dass diese kritische Position gegenüber der Bibel nur kurzfristig die Ränge einer, auch universitär vermittelten, Lehrmeinung behaupten konnte, ist jüngst am Beispiel der Entwicklung der Auflagen der Encyclopaedia Britannica gezeigt worden. Während in Smellies erster Auflage von 1773 eine große Aufgeschlossenheit gegenüber der induktiv verfahrenden Naturgeschichte der Menschheit und ihrer kritischen Haltung zum biblischen Bericht offenbar wird, trägt die dritte Auflage (1788–1797) die restaurative Handschrift ihres neuen Herausgebers, des episkopalischen Geistlichen George Gleig (1753–1840).333 Die Angst vor Denkströmungen wie ‚Atheismus‘, ‚Rationalismus‘ und ‚Materialismus‘, die in der Französischen Revolution kulminiert zu sein schienen, bot auch auf den britischen Inseln seit den 1790er Jahren den ideologischen Hintergrund für das schnelle Vordrängen der Restauration und die Diskreditierung einer naturwissenschaftlich operierenden ‚History of Mankind‘. 3.3.2. Die Glaubwürdigkeit der ‚Alten‘ Eine ungleich stärkere geistige Tradition als zur Bibel bauten die ‚Natural Historians of Mankind‘ zum Erbe der Antike auf – die Beinamen ‚der schottische Cato‘ (Ferguson) und ‚der englische Tacitus‘ (Hume) zeugen von dieser Traditionsbildung.334 Dabei stand die Ausbildung verschiedener Traditionsstränge zur Antike für die unterschiedlichen Erkenntnisinteressen hinter dem Gesamtprojekt der ‚Science of Man‘.335 Ein Großteil der Bewunderung für das Altertum lag in der griechischen Literatur, die trotz ihres ‚fabelhaften‘ Charakters wegen ihres ästhetischen Gehalts überzeitliches Interesse weckte: The fables, which are commonly employed to supply the place of true history, ought entirely to be disregarded; or if any exception be admitted to this general rule, it can only be in favour of

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Vgl. dazu die Untersuchung von Silvia Sebastiani, Conjectural History vs. The Bible. Eighteenth-Century Scottish Historians and the Idea of History in the Encyclopaedia Britannica, in: Storia della Storiografia 39 (2001), S. 51–61, hier S. 52. Gleig fungierte auch als Herausgeber der Letters on the Savage State von David Doig an Lord Kames. Vgl. Irving, Lives of Scottish Writers, S. 317. 334 Ferguson bezog diesen Beinamen aus einem Bericht des Edinburgh Review 125 (Januar 1867), S. 125. Zitiert nach Batscha / Medick, Einleitung, S. 18. 335 Gerade vor dem Hintergrund der Antikerezeption und den verschiedenen staatspolitischen Auffassungen der schottischen Gelehrten zeigt sich die Differenz der einzelnen Protagonisten zum erkenntnistheoretischen Gesamtprojekt. Auf die Unterschiede in den politischen Perspektiven hat neuerdings Fania Oz-Salzberger wieder aufmerksam gemacht. Vgl. Dies., Scots, Germans, Republic and Commerce, in: M. v. Gelderen / Q. Skinner (Hg.): Republicanism. A Shared European Heritage. Bd. 2: The Values of Republicanism in Early Modern Europe. Cambridge 2002, S. 197–226, hier S. 200.

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the ancient Grecian fictions, which are so celebrated and so agreeable, that they will ever be the objects of the attention of mankind.336

Die Benennung der Hochzeit der englisch-schottischen Aufklärung als augusteisches Zeitalter folgte dieser ästhetischen Orientierung der Gelehrten an Kunst, Architektur und literarischem Stil der klassischen Antike.337 Die jüngsten Entdeckungen der Überreste römischer Bauwerke in Herkulaneum (1748–1749) und Pompeji (1755–1792) hatten epochemachenden Eindruck auf die bildende Kunst und Architektur hinterlassen, während insbesondere die Neuübersetzung und literarische Auseinandersetzung mit Homer die Bande zur griechischen Antike festigten.338 Die Bewunderung für den klassischen Stil hatte das Bedürfnis nach Bereinigung und Aufwertung der eigenen Sprache zur Folge. Für Hume bedeutet dies die Vermeidung von „Scotticisms“339 und die Einigung auf eine gemeinsame englische Hochsprache: Notwithstanding all the Pains, which I have taken in the Study of the English Language, I am still jealous of my Pen. As to my Tongue, you have seen, that I regard it as totally desperate and irreclaimable.340

Hume teilte mit William Robertson die Ansicht, dass erst der politische Anschluss an England den Weg zur kulturellen Blüte in Schottland ebnen würde.341 Bei anderen schottischen Gelehrten entstand hingegen die Idee, dass ein Äquivalent zum homerischen Epos in der Vorgeschichte Schottlands existiert haben könnte, wodurch die Unverbildetheit und Würde der ursprünglichen schottischen Gesellschaft betont wurde, wie sie in den ‚Highland Clans‘ noch fortdauernd existierten: The most admired of all poets lived beyond the reach of history, almost of tradition. The artless song of the savage, the heroic legend of the bard, have sometimes a magnificent beauty, which no change of language can improve, and no refinements of the critic reform.342

Als besagte schottische Ilias galten den Zeitgenossen die Balladen des Ossian, angeblich aus keltischer Zeit stammende Bardengesänge, die auch auf dem Konti-

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Hume, The History of England, Bd. 2, S. 3f. Zu ‚Scotlands Augustans‘ vgl. Mossner, The Life of David Hume, S. 370ff. Vgl. Seymour Howard, Art. ‚Neoclassicism‘, in: Kors (Hg.): Encyclopedia of the Enlightenment, Bd. 3, S. 157–162, hier S. 157. 339 Trotz allen Lobes für William Robertsons History of Scotland (1759) machte Hume unnachgiebig auf deren vermeidbare „Scotticisms“ aufmerksam. Vgl. Hume to Robertson 1759, in: New Letters of David Hume, S. 45. 340 David Hume to John Wilkes 1754, in: Letters of David Hume, Bd. 1, S. 205. 341 Vgl. Osterhammel, Nation und Zivilisation, S. 332. 342 Ferguson, Essay, S. 166. Ferguson war der überzeugteste Vertreter der Highland-Romantik. Aus den Highlands stammend und als einziger unter den Gelehrten Gälisch sprechend publizierte er sogar in dieser Sprache. Ferguson war als Kaplan des 43. Highland Regimentes ‚Black Watch‘ im Gefolge des Österreichischen Erbfolgekrieges 1745 in Flandern stationiert. Vgl. Fagg, Biographical Introduction, S. XX ff.

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nent begeisterte Anhänger fanden.343 Tatsächlich waren diese Balladen das Konstrukt des Zeitgenossen James Macpherson (1736–1796), der es meisterhaft verstand, dem Interesse an Archaischem entgegenzukommen und proto-romantische Gefühle zu wecken.344 Die Debatte um die Verse des Ossian, der Nachweis ihrer Authentizität im Abgleich mit antiker Poesie, gibt – vor dem Hintergrund des Spannungsfeldes von ‚Romanität‘ versus ‚Germanität‘ – einigen Aufschluss über den agonalen Umgang mit dem antiken Erbe.345 Während es der einen Gruppe darum ging, die Vernakularsprache zu einer literarischen Hochsprache auszubauen, waren die Vertreter der Echtheit des Ossian-Epos darum bemüht zu zeigen, dass auch in der eigenen Tradition mindestens ein literarisches Äquivalent zum Altertum bestanden habe. Macpherson hatte Ossians Versen eine ‚historische Einführung‘ vorangestellt, in der die moralische und physische Überlegenheit der Kaledonier und Kelten gegenüber anderen ‚wilden‘ Völkern sowie den Stämmen der Antike hervorgehoben wurde.346 Für Hume hingegen, den überzeugtesten OssianSkeptiker, blieb Homer das uneingeholte sprachliche Vorbild, auch wenn er der Ansicht war, dass die Engländer in Hinblick auf die Vorbildlichkeit der politischen Verfassung die Antike längst eingeholt hätten.347 Mit Adam Ferguson lässt sich indessen die entgegengesetzte Position auf der Skala des Abgleichs moderner Errungenschaften der ‚Commercial Society‘ mit traditionellen Werten markieren. Sie 343

Zu den Bewunderern in Deutschland gehörte vor allem Johann Gottfried Herder, der Ossian neben Homer und Milton zu den größten epischen Dichtern zählte und dem Liedgut eine große Bedeutung für den Schutz des „Nationalgeistes“ durch Tradierung von „Lehre, Geschichte, Gesetz und Sitten“ einräumte: „O hätten wir noch die Gesänge der Barden! Hätte unter unsern Vätern ein Ossian gelebt!“ Vgl. Ders., Über die Wirkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und in neuen Zeiten, in: Herder, Werke. Bd. 4, hg. v. J. Brummack / M. Bollacher. Frankfurt/M. 1994, S. 149–214, hier S. 187. Zu Herders Ossian-Rezeption vgl. Wolf Gerhard Schmidt, ‚Homer des Nordens‘ und ‚Mutter der Romantik‘. James Macphersons Ossian und seine Rezeption in der deutschsprachigen Literatur. Bd. 2. Berlin / New York 2003, S. 642ff. 344 Schon unter den Zeitgenossen gab es eine lebhafte Auseinandersetzung über die Echtheit der Verse, wobei Hume seit ihrem Erscheinen im Gegensatz zu Robertson, Blair sowie vor allem Kames und Ferguson von einer Fälschung überzeugt war. Ferguson war dabei bemüht, die Authentizität des Epos aus einem Vergleich mit der antiken Dichtung zu erweisen. Vgl. Ferguson to John Douglas 1781, in: The Correspondence of Adam Ferguson, Bd. 2, S. 268. Die andauernde Diskussion über die Fälschung und deren Güte spiegelt sich in der disziplinenübergreifenden intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Ossian‘. Vgl. Colin Kidd, Subverting Scotland’s Past: Scottish whig historians and the creation of an Anglo – British identity, 1689– 1830. Cambridge u.a. 1993, S. 219ff. 345 Vgl. Markus Völkel, „Romanität“ / „Germanität“, in: W. Schmale (Hg.): Kulturtransfer. Kulturelle Praxis im 16. Jahrhundert. Innsbruck 2003, S. 247–260. Im 16. Jahrhundert wurde sogar die These vertreten, dass das Hebräische als Ursprache im Keltischen / Gallischen und damit im damaligen Französischen fortlebte. Auch wenn sich diese Idee nicht durchsetzte, so zeigt sie die Agonalität in der Traditionsbildung. Vgl. ebd., S. 256. 346 James Macpherson, An Introduction to the History of Great Britain and Ireland. London 1773, S. 13f. 347 „Who can doubt, but the English are at present a more polite and knowing people than the GREEKS were for several ages after the siege of Troy? Yet is there no comparison between the language of MILTON and that of HOMER.“ Vgl. Hume, Of National Characters, S. 253.

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bestand weder im uneingeschränkten Rekurs auf die klassisch-republikanische Politiktradition noch in bloßer proto-romantischer Rückwärtsgewandtheit, als vielmehr im Bemühen um die Kompensation aller Herausforderungen der modernen kommerzialisierten Gesellschaft durch Wiedererweckung bürgerlich-‚republikanischer‘ Tugenden.348 Hume stand den Herausforderungen der Moderne weniger skeptisch und eher mit positiven Erwartungen gegenüber und befürchtete stattdessen, dass die politische Romantik Fergusons und der damit einhergehende Aktivismus die ‚delikate Meinungsbalance‘ zwischen Politik, Universität und Kirche in der Edinburgher Gesellschaft gefährden könnte.349 Die solcherart geführten Auseinandersetzungen um die Frage der Bedeutung antiker Vorbilder ist im Kontext der ‚Battle of the Books‘ zu sehen – dem englischen Schauplatz des Ringens der Tradition mit der entstehenden Moderne, die etwas zeitversetzt mit der ‚Querelle des Anciens et des Modernes‘ in der letzten Dekade des 17. Jahrhunderts ausgetragen wurde.350 Seinen Namen hatte dieser Wettstreit erst 1704 aus Jonathan Swifts (1667–1745) gleichnamiger Satire erhalten.351 Der Streit, der zunächst die Gültigkeit des Nachahmungsprinzips in der Literaturtheorie zum Gegenstand hatte, zeitigte keine klaren Gewinner, sondern hatte eine klare Lagerbildung zur Folge. Die eine Partei vertrat die Position der ‚Akkumulation‘, der prozesshaften Fortentwicklung der Literatur, während sich die andere Fraktion die ‚Imitation‘, als Anlehnung an die uneingeholten Leistungen der antiken Literatur, aufs Panier geschrieben hatte. Beide Positionen fanden auf der Grundlage verschiedener Auffassungen von historischen Prozessen statt, wodurch die Interpretationshoheit darüber, was unter ‚Geschichte‘ zu verstehen sei, zum

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Mit dieser Interpretation von Fergusons Konzept der ‚civil society‘ folge ich Zwi Batscha und Hans Medick, in Abgrenzung zu John Pococks Diktum, dass in Ferguson ‚the most Macchiavellian of Scottish thinkers‘ zu finden sei. Vgl. Batscha / Medick, Einleitung, S. 13f. Einen Ausgleich in der Interpretation von Fergusons politischem Denken zwischen Republikanismusund Naturrechtstradion unternimmt neuerdings auch Marco Geuna, Republicanism and Commercial Society in the Scottish Enlightenment: The Case of Adam Ferguson, in: van Gelderen / Skinner (Hg.): Republicanism, Bd. 2, S. 177–195, hier S. 181. 349 Vgl. Batscha / Medick, Einleitung, S. 21. Humes Einstellung zu Fergusons politischer Position äußerte sich vor allem in seiner zurückhaltenden Reaktion auf das Erscheinen des Essay, dessen vermeintlich kurzfristigen Erfolg er mit dem Erscheinen von Montesquieus L’esprit des lois gleichsetzte. Fergusons Essay drohe, ebenso wie Montesquieus Esprit, dem Vergessen anheim zu fallen, da jenes Buch wie dieses zu „false Refinements and [...] rash and crude positions“ neige. Vgl. Hume to Hugh Blair 1767, in: Letters of David Hume, Bd. 2, S. 133. 350 Im Streit um die Bedeutung Homers wurde in Großbritannien die letzte Phase der französischen ‚Querelle‘ fortgeführt. Vgl. Hans Robert Jauß, Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion der ‚Querelle des Anciens et des Modernes‘, in: Charles Perrault, Parallèle des Anciens et des Modernes. München 1964, S. 8–64, hier S. 8. Vgl. auch Wilfried Nippel, Gibbons ‚philosophische Geschichte‘ und die schottische Aufklärung, in: W. Küttler / J. Rüsen / E. Schulin (Hg.): Geschichtsdiskurs. Bd. 2. Frankfurt/M. 1994, S. 219–228, hier S. 219. 351 Jonathan Swift, A Full and True Account Of The Battel [sic!] Fought last Friday, Between the Ancient and the Modern Books in St. James’s Library. London 1704.

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eigentlichen Gegenstand der ‚Battle of the Books‘ avancierte.352 Betrachtet man die Auseinandersetzung der schottischen Gelehrten vor diesem Hintergrund, kann man die Verschiebung des Konflikts in seiner Versprengung auf verschiedene Schlachtfelder klarer konturieren. Die Antike als ästhetisches Vorbild wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kaum mehr infrage gestellt, wobei die zunehmende Gelassenheit mit einem wachsenden Selbstbewusstsein der eigenen kulturellen Validität einherging. Während im Vergleich der politischen Systeme, besonders hinsichtlich ihrer jeweiligen moralischen Verfassung, unterschiedliche Auffassungen bestanden,353 war man sich einig über die wissenschaftliche Überlegenheit der eigenen Zeit.354 In der Geschichtsschreibung sei der grundlegende Unterschied vor allem darin zu suchen, dass sie in der Antike ausschließlich der Unterhaltung gedient und keine philosophischen Erwägungen befördert habe.355 Für die Interpredation aller Felder lässt sich jedoch eine gemeinsame Tendenz zum Konzept der ‚Akkumulation‘ historischer Prozesse ausmachen, deren Durchsetzungsfähigkeit vor dem Hintergrund der um sich greifenden Perfektibilitätsthese und der damit einhergehenden Auffassung vom sukzessiven Fortschreiten – trotz des Bewusstseins für drohenden Niedergang – der Gesellschaft gesehen werden muss.356 Innerhalb dieses Akkumu352

Mit dieser Interpretation folge ich der umfassenden Analyse von Joseph M. Levine, The Battle of the Books. History and Literature in the Augustan Age. Ithaca / London 1991, S. 415ff. 353 Hume hielt die gemischte englische Verfassung aus Monarchie, Aristokratie und Demokratie für die historisch überlegene. Vgl. Ders., Of National Characters, S. 252. Auch für Ferguson war die konstitutionelle Monarchie ein Novum in der Geschichte der Menschheit: „Rome and England, under their mixed governments, the one inclining to democracy, the other to monarchy, have proved the great legislators among nations. The first has left the foundation, and great part of the superstructure of its civil code, to the continent of Europe: the other, in its island, has carried the authority and government of law to a point of perfection, which they never attained befor in the history of mankind.“ Vgl. Ders., Essay, S. 159. Seine Bedenken galten hingegen den fehlenden moralischen Tugenden der ‚commercial societs‘ im Vergleich zu den klassischen Republiken: „We live in societies, where men must be rich, in order to be great; where the pleasure itself is often pursued from vanity; where the desire of a supposed happiness serves to inflame the worst passions, and is itself the foundation of misery; where public justice, like fetters applied to the body, may, without inspiring the sentiments of candour and equity, prevent the actual commission of crimes.“ Vgl. ebd., S. 155. 354 „But our island has produced as great men, either for action or learning, as GREECE or ITALY has to boast of.“ Vgl. Hume, Of National Characters, S. 253. 355 Unter dem Pseudonym ‚Philo‘ erwägt ein unbekannter Autor die Unterschiede in der Geschichtsschreibung: „None of the ancient historians have attained to that comprehensive, and accurate knowledge of the extent of nature’s operations, and all the possibilities of things of which the moderns have arrived: The indelible deeds of ancient heroes, and the wild tales of Grecian mythology, seem still to believed by the most enlightened of them: Their object was chiefly to propose a subject of entertainment, never professedly to philosophise.“ Vgl. Anonymous (‚Philo‘), Of the Mode of Writing History. In ancient and modern times, in: The Bee 7 (1792), S. 121–127, hier S. 125. 356 Mit der Übertragung der Perfektibilitätsthese auf die Menschheit findet eine Entgrenzung des klassisch-humanistischen Ideals der Perfektion des Menschen statt, das Hans Robert Jauß noch als Paradox für die Position der französischen ‚Modernes‘ geltend gemacht hatte. Vgl. Ders., Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion, S. 14. „Die Vorstellung, daß sich auf der

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lationsmodells wurde der Antike ein nicht zu unterschätzendes und dennoch überholtes kulturelles Kontingent eingeräumt.357 Einen besonderen Schauplatz dieser Differenz boten die antiken Positionen zur Naturgeschichte der Menschheit. Diese betrafen zunächst grundsätzlich stilistische Fragen der Historiographie, dann die naturgeschichtlichen Interpretationen der antiken Autoren selbst und schließlich den Quellenwert antiker Berichte über fremde Völkerschaften. In Fragen des Stils boten die antiken Schriftsteller maßgebliche Orientierungspunkte,358 wobei Adam Smith betonte, dass sich die moderne Geschichtsschreibung seiner Zeit von der antiken durch ihren Anspruch auf historische Authentizität unterscheide: „Historical truths are now in much greater request than they ever were in the ancient time“.359 Die genauere Prüfung historischer Wahrheiten und ihrer Beweise erklärte Smith aus dem Umstand, dass jede politische und religiöse Position ihre Ansprüche neuerdings aus der Geschichte herleite.360 Dieser Faktenglaube der neueren Geschichtsschreibung ginge allerdings zu Lasten des Stils, der immer noch bei den ‚Alten‘ vorbildlich sei. Herodot galt Smith als erster Historiker, der einen Plan der Geschichte entworfen hätte. Doch trotz aller Anerkennung für dessen Stil erscheint Herodots planvolle Geschichtsschreibung wiederum mehr der Ästhetik als systematischen Überlegungen geschuldet, wiewohl Herodot zwar weniger ‚fabelhaften‘ Geschichten aufsitze als seine Vorgänger, sein Werk jedoch immer noch stark von diesen geprägt sei.361 Auch Ferguson bemerkte dieses Defizit und führte es auf einen Mangel an Quellen und zu beleumundenden Autoritäten zurück.362 Für Smith vermochte es erst Thukydides in seiner Geschichte des letzten Zivilisationsstufe technischer Fortschritt, kommerzielle und politische Entwicklung so miteinander verschränkten, daß der Zivilisationsprozeß unumkehrbar geworden sei, lässt sich sicherlich als communis opinio der schottischen Theoretiker ausmachen [...].“ Vgl. Nippel, Gibbons ‚philosophische Geschichte‘, S. 221. 357 Ferguson beschrieb diesen Prozess für den Fortschritt der Künste: „When the attentions of men are turned toward particular subjects, when the acquisitions of one age are left entire to the next, […] devices accumulate; and it is difficult to find the original of any art. The steps which lead to perfection are many; and we are at a loss on whom to bestow the greatest share of our praise; on the first or on the last who may have bore a part in the progress.“ Vgl. Ders., Essay, S, 163. 358 Adam Ferguson bezog sich mit dieser Orientierung auf den Verteidiger der antiken Prosa, Jonathan Swift: „Proper words in proper Places History may excell in Stile no less than any other denomination of Writing and Composition.“ Vgl. Ders., Of History and its appropriate Stile, in: Unpublished Essays, MS. Dc. 1. 42 **, No. 3, (EUL), [unpag.]. 359 Smith, Lecture XVIII, S. 97. 360 „The truth and evidence of historical facts is now in much more request and more critically examined than amongst the ancients, because of all the numerous sects among us, whether civil or religious. There is hardly one the reasonableness of whose tenet does not depend on some historical fact.“ Vgl. ebd. 361 „He has not near so many of those fabulous and marvellous accounts as we are told the authors who proceeded him had; but then he has still a good number scattered in his work.“ Vgl. Smith, Lecture XIX, Monday, 10 January 1763, in: Ders., Lectures on Rhetoric, S. 100–106, hier S. 101. Zu Herodot als Autor und Quelle der Naturgeschichte vgl. Nippel, Griechen, Barbaren und ‚Wilde‘, S. 11ff. 362 Ferguson, Essay, S. 168.

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Peleponnesischen Krieges (404–400 v. Chr.) durch die sinnvolle Verkettung von Ursache und Wirkung eine plausible Struktur der Geschichte zu erwirken. Einen wirklichen Einstieg in die Geschichte der Völker habe allerdings erst Polybios gewährt, der zwar den anderen Autoren in Eleganz und Strenge nachstehen mochte, ihnen jedoch in Schärfe und Genauigkeit bei weitem überlegen sei; Tugenden, die den ,Modernen‘ näher stünden als die der stilistischen Brillanz.363 Smith räumte Livius unter den römischen Historikern den ersten Rang ein. Dieser nehme zwar keine präzisen Herleitungen der Kausalitäten vor, sei aber dennoch in der Lage, eine ‚natürliche Ordnung‘ der dargestellten Ereignisse stilistisch herzustellen.364 Ferguson hingegen bemängelt an Livius gerade dessen rhetorisches Vermögen, welches den Eindruck verstärkt habe, dass er seine Römische Geschichte (seit 27 v. Chr.) besser als ‚Panegyrium‘ betitelt hätte.365 Ein Historiker, der unparteiisch und glaubwürdig wirken wolle, habe hingegen seine Fakten zu behandeln wie ein Journalist oder neutraler Beobachter und einen solchen nüchternen Zugang zu seinem Gegenstand habe erst Tacitus gefunden: The historians, again, made their aim not only to amuse, but by narrating the more important facts, and those which were most concerned in the bringing about great revolutions, and unfolding their causes, to instruct their readers in what manner such events might be brought about or avoided. In this state it was that Tacitus found historical writing.366

Die Besonderheit seines Zugang bestünde darin, dass Tacitus – gemäß der Vorstellung der Verknüpfung von Ursache und Wirkung in der ‚Science of Man‘ – eine Verbindung zwischen den Motivationen der Akteure und den daraus resultierenden Handlungen hergestellt hätte: Yet the method he describes these is so interesting, he leads us so far in the sentiments and minds of the actors, that they are some of the most striking and interesting passages to be met with in any history.367

Trotz dieses Lobes für den ‚Internalismus‘ des Tacitus gibt der Menschheitshistoriker Smith dessen gleichzeitige Vernachlässigung der externen Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zu bedenken: 363 364

Smith, Lecture XIX, S. 104. „Of all the Latin historians, Livy is without doubt the best; and if to be agreeable were the chief view of an author, he would merit the chief rank amongst the whole number. […] [H]e renders his descriptions extremely interesting by the great number of affecting circumstances he has thrown together, and that not without any connection, as is the method of Thucydides, but in an order natural to the times in which they happened and the circumstances themselves.“ Vgl. ebd. 365 „Livy is justly placed in the first Class of Writers or Artist[s] bent on the decoration not the mere exact Delineation of their Subject but he ought to have entitled his word the Panegyric not the History of the Romans.“ Vgl. Adam Ferguson, Of History and its appropriate Stile, in: Unpublished Essays, MS. Dc. 1. 42 **, No. 3, (EUL), [unpag.]. 366 „He [Tacitus] departed altogether from the plan of the former historians, and formed one of a very different sort for his own writings.“ Vgl. Adam Smith, Lecture XX, Wednesday, 12 January 1763, in: Ders., Lectures on Rhetoric, S. 107–112, hier S. 107. 367 Smith, Lecture, XX, S. 109.

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In his History [105ff.] he gives us indeed some more insight into the causes of events, and keeps up a continued series of events: but even here he so far neglects connection as to pass over entirely those connecting circumstances that tend to no other purpose.368

Mit diesem Urteil über Tacitus‘ Methode sowie einer ähnlich kritisch-anerkennenden Bewertung von Caesars Commentarii rerum gestarum (seit 58 v. Chr.) wurden zwei Autoren stilistisch verhandelt, deren Werke zu den wichtigsten antiken Quellen der Naturhistoriker der Menschheit gehörten.369 Noch deutlicher als in Fragen des Stils zeigt sich das eigene wissenschaftliche Überlegenheitsgefühl der ‚natural historians‘ bei der materialen Berufung auf naturhistorische Überlegungen der ‚Alten‘. Für die These von der ‚Soziabilität‘ des Menschen und zur Infragestellung isolierter Naturzustandstheorien berief man sich gerne auf den ‚weisesten aller Philosophen‘ – Aristoteles: A state of nature, says the most sagacious of all philosophers, is a state of society of man. He is by nature a social animal; and although a sense of mutual wants, and mutual aid, did not dictate the necessity of civil union and cohabitation, yet would mankind herd, and live together.370

Ebenso häufig wurde in diesem Zusammenhang der griechische Historiker Strabon mit seiner Historika Hypomnemata (seit 25 v. Chr.) beleumundet, um naturrechtliche und insbesondere biblische Deutungsansprüche durch vorchristliche Autoritäten als zeitgebunden zurückzuweisen: I have had recourse to these authorities, in order to overthrow an opinion, which has been propagated not only by the followers of Hobbes, but by many other respectable writers on the foundation of society; That men were originally induced to unite in society merely to avoid the injuries to which they were exposed from each other in a state of nature See the divine legation of Moses […]. Whereas the truth is, That men associated from instinct, or natural affections; and laws were invented, and religion instituted, to bind them more closely together; to curb their irregular passions, and render them more happy, in the social state.371

Ähnlich positiv fiel die Bezugnahme auf Aristoteles‘ klassifikatorisches System der Naturgeschichte aus: [...] [I]n Natural Philosophy, or any other science of that sort, we may either, like Aristotle, go over the different branches in the order they happen to [be] cast up to us, giving a principle, commonly a new one, for every phenomenon.372

Gleichwohl war auch der Rekurs auf Aristoteles eher die Ausnahme und die Naturgeschichtsschreibung der Antike diente eher dazu, die Erneuerung derselben als 368 369

Ebd., S. 110. Über Caesars Commentarii schreibt Smith: „Caesar’s style is constantly crowded; he hurries from the one fact of importance to another, without touching on anything that is not of importance betwixt them.“ Vgl. ebd., S. 103. 370 „Aristot. Polit. lib. iii, cap. iv“, in: Russell, The History of Ancient Europe, Anm. 5, S. 7. 371 Russell, The History of Ancient Europe, Anm. 5, S. 7. 372 Adam Smith, Lecture XXIV, Monday, 24 January 1763, in: Ders., Lectures on Rhetoric, S. 139f.

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dringend notwendig zu illustrieren: „The Greeks and Romans made an illustrious figure in poetry, rhetoric, and all the fine arts; but they were little better than novices in natural history“.373 Kames führte diesen beklagenswerten Umstand darauf zurück, dass die Hälfte des Globus den antiken Autoren unbekannt gewesen sei und ihre Vorstellungskraft deshalb nicht von besserem Wissen gezügelt werden konnte. Die unwissenden Autoren der Antike seien deshalb übermäßig aufgeschlossen gewesen für Wundergeschichten, die allein schon dem gesunden Menschenverstand widersprächen: „Men at that period were ignorant in a great measure of nature, and of the limits of their operations“.374 Und auch wenn diese Unkenntnis in Teilen entschuldbar sei, so erstaune nichtsdestotrotz die Leichtgläubigkeit der ‚Alten‘, die ihre Nachbarländer weniger gut gekannt hätten als Kames Zeitgenossen die Antipoden. Kames schließt seine Polemik mit der Konsequenz, dass er der Autopsie der Reiseberichte deshalb mehr vertraue als antiken Naturhistorien: Natural history, that of man especially, is of late years much ripened: no improbable tale is suffered to pass without a strict examination; and I have been careful to adopt no facts, but what are vouched by late travellers and writers of credit.375

Anders fiel das Urteil jedoch aus, wenn nicht die natur- und menschheitsgeschichtlichen Anstrengungen der antiken Autoren selbst betrachtet wurden, sondern ihre Berichte über fremde Völker. Gerade Tacitus’ Darstellung der Germanen und Caesars Kriegsberichterstattung aus Gallien versprachen aufgrund der eigenen Anschauung einen hohen Authentizitätsgrad und konnten darüber hinaus für die fehlende Überlieferung der eigenen Vorzeit als Quellen dienen. In diesem Sinne schrieb Ferguson: It is from the Greek and Roman historians, however, that we have not only the most authentic and instructive, but even the most engaging, representations of the tribes from whom we descend. Those sublime and intelligent writers understood human nature, and could collect its features, and exhibit its characters in every situation.376

William Robertson führte die mangelnde Überlieferung nicht etwa nur auf die Illiteralität der barbarischen nordeuropäischen Völkerschaften zurück, sondern vertrat die These, dass diese der Bildung aus Sorge vor Degenerierung und Verweichlichung ablehnend gegenübergestanden hätten: „The barbarous nations were not only illiterate, but regarded literature with contempt“.377 Wegen der Weigerung 373 374 375 376 377

Kames, Sketches, Bd. 1, S. 70. Ebd. Ebd., S. 70f. Ferguson, Essay, S. 78. William Robertsons gesellschaftsgeschichtliche Überlegungen finden sich unter dem Titel ‚A View of the Progress of Society in Europe‘ im ersten Band in seiner Geschichte Karls des V. (1769). Robertson ließ als einziger Historiker seine Gesellschaftsgeschichte zumindest dem Titel nach erst mit der quellengesicherten Zeit des Untergangs des römischen Reichs beginnen und unterschied sich durch diese Vorgehensweise grundsätzlich von den anderen ‚Natural Historians of Mankind‘. Vgl. Ders., The History of the Reign of the Emperor Charles V. Bd. 1.

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zur Bildung habe es einiger Zeit bedurft, bis die ‚wilden‘ Völker selbst dazu in der Lage gewesen seien, ihre Geschichten aufzuzeichnen. Bis zu diesem Zeitpunkt war damit alle Erinnerung an ihre ursprüngliche Verfassung verloren gegangen und für die ersten Schreiber existierte kein ‚Monument‘ zur Orientierung. Das sei auch der Grund, wieso die Erwartungen meist enttäuscht würden, wenn man sich mit Fragen zu den Sitten und Gebräuchen der Goten, Langobarden oder Franken an die mittelalterlichen Beschreibungen des Jornandes, Paulus Diaconus oder Gregor von Tours wende.378 Diese Kritik ist schon deshalb bemerkenswert, da ein aktives Mitglied der ‚Church of Scotland‘379 den Berichten eines katholischen Goten, eines langobardischen Diakons und schließlich eines berühmten Bischofs weniger vertraute als den ‚paganen‘ Geschichtsschreibern, von denen er größere Aufschlüsse über die dunklen Ursprünge der ‚wilden‘ Stämme Europas erwartete: „Whatever imperfect knowledge has been conveyed to us of their ancient state, we owe not to their own writers, but to the Greek and Roman historians“.380 Robertson zählte unter diesen Cäsar und Tacitus zu den Fähigsten, die Aufschlüsse über den ursprünglichen Zustand der heutigen europäischen Völker gaben: „These are the

London / Edinburgh 1774, S. 234, Note II. Die Konzeptionierung der Geschichte Karls V. war von Anbeginn von Kritik begleitet. Vgl. Hume to Robertson 1759, in: New Letters of David Hume, S. 48. Robertson hoffte wegen der Skepsis seiner Landsleute auf Erfolg auf dem Kontinent: „As the History of Charles V will probably be more interesting to foreigners than that of a small & detached kingdom like Scotland. I should wish much that it might be soon translated.“ Vgl. Robertson to Edmonstone 1762, in: MSS. 1005, ff. 5 (NLS), [unpag.]. 378 „If one expects to receive any satisfactory account of the manners and laws of the Goths, Lombards, or Franks, during their residence in those countries where they were originally seated, from Jornandes, Paulus Warnefriedus, or Gregory of Tours, the earliest and most authentick historians of these people, he will be miserably disappointed.“ Vgl., Robertson, The History of the Reign of the Emperor Charles V., Bd. 1, S. 235, Note II. Ähnlich fiel Fergusons Urteil über die mittelalterliche Geschichtsschreibung aus: „With them [bred to the profession of monks], a narration was supposed to constitute history, whilst it did not convey any knowledge of men; and history itself was allowed to be complete, while, admidst the events and the succession of princes that are recorded in the order of time, we are left to look in vain for those characteristics of the understanding and the heart, which alone, in every human transaction, render the story either engaging or useful.“ Vgl. Ferguson, Essay, S. 78. 379 „L’historien William Robertson […] resta sa vie Durant un ecclésiastique. Il réussit à obtenir non pas seulement le poste de Président (principal) de l’université d’Edimbourg, mais aussi celui de Président (moderator) de l’organe suprême (la general assembly) de l’Eglise écossaise (1766–1780) : une fonction qui lui permit d’avoir de l’influence tout à la fois sur la politique et sur les institutions éducatives de son pays.“ Vgl. Norbert Waszek, Les vecteurs des Lumières en Écosse, in : W. Schneiders (Hg.): The Enlightenment in Europe. Unity and Diversity. Berlin 2003, S. 219–232, hier S. 225. 380 Robertson, The History of the Reign of the Emperor Charles V., Bd. 1, S. 235, Note II. David Hume war nüchterner, was den Wert der antiken Quellen anbelangte: „The ancient Greek History has several Recommendations, particularly the good Authors from which it must be drawn: But the same circumstance becomes an objection, when more narrowly considered: For what can you do in most places with these Authors, but transcribe & translate them. No Letters or State Papers from which you coud correct their Errors, or authenticate their Narration, or supply their Defects.“ Vgl. Hume to William Robertson 1759, in: New Letters of David Hume, S. 48.

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most precious and instructive monuments of antiquity to the present inhabitants of Europe“.381 Von beiden Autoren bezog Robertson seine Kenntnisse der Sitten und Gebräuche und der politischen Verfassung der ‚german tribes‘, die er zu einem vollständigen Gemälde der ‚edlen Barbarei‘ zusammengefügte.382 Auf der zivilisatorischen Stufe der Jagd- und Hirtengesellschaft sei diese geprägt gewesen von eingeschränkter, zweckgebundener Herrschaft, gesellschaftlicher Mitsprache und der Möglichkeit zur freien Artikulation individueller Ansprüche.383 Nachdem Robertson dieses Bild inklusive einiger Besonderheiten und Abweichungen gezeichnet hatte, kam er auf vergleichbare Stämme und Völker zu sprechen, die diesem Profil in mancherlei Zügen zu entsprechen schienen: I mean the various tribes and nations of Savages in North America. It cannot then be considered either as digression, or as an improper indulgence of curiosity, to enquire, whether this similarity in their political state has occasioned any resemblance between the character and manners.384

Würde sich dieser Vergleich als begründet erweisen, so besäße man in den überprüfbaren Augenzeugenberichten authentische Quellen, die sogar das Zeugnis eines Cäsar oder eines Tacitus übertreffen würden: „If the likeness turns out to be striking, it is a stronger proof that a just account has been given of the ancient inhabitants or Europe, than the testimony even of Caesar or of Tacitus“.385 Und tatsächlich kam Robertson nach einer vergleichenden Analyse und entsprechenden Analogieschlüssen zu dem Urteil, dass – trotz aller Verschiedenheiten im Detail – sich beide Völker in einem ähnlichen Stadium der (Un-)Zivilisiertheit befunden hätten beziehungsweise noch befänden:

381 382

Robertson, The History of the Reign of the Emperor Charles V., Bd. 1, S. 246, Note VI. Ein ähnlich überhöhtes Bild der ‚alten Germanen‘ zeichnete Robertsons größter Gegner, Gilbert Stuart: „Ignorant of all those distinctions which refinement and civility make known to mankind, they were strangers to the pride of family and possessions, and to the meanness and ridicule inseparable of a divided labour and particular professions; and living entirely at large, and on a footing of equality, paid no respect but to merit; and incapable of fraud and circumvention, possessed a greatness and extent of mind, which are not generally attained in more advanced ages.“ Vgl. Ders., An Historical Dissertation concerning the Antiquity of the English Constitution. Edinburgh / London 1768, S. 20f. Zur politischen Instrumentalisierung des ‚Germanenmythos‘ seit dem 17. Jahrhundert vgl. Frauke Geyken, Angelsächsische Gründungsmythen und ihr Einfluß auf die englische Geschichtsschreibung im 18. Jahrhundert, in: S. Berger / P. Lambert / P. Schumann (Hg.): Historikerdialoge. Geschichte, Mythos und Gedächtnis im deutsch-britischen kulturellen Austausch, 1750–2000. Göttingen 2003, S. 219–233, hier S. 230f. 383 „As every individual was so independent, and master in so great a degree of his own actions, it became, of consequence, the great object of every person among the Germans who aimed at being a leader, to gain adherents, and attach them to his person and interest.“ Vgl. Robertson, The History of the Reign of the Emperor Charles V., Bd. 1, S. 247, Note VI. 384 Ebd., S. 250, Note VI. 385 Ebd.

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The resemblance, however, between their condition, is greater perhaps than any that history affords an opportunity of observing between two races of uncivilized nations, and this has produced a surprising similarity of manners.386

Die Vergleichbarkeit der Selbsterhaltungsweisen beider Völker, der Vorstellung von der Freiheit des Individuums, des Widerstands gegen Unterordnung sowie der eingeschränkten Macht der Regierung offenbarten Ähnlichkeiten zwischen den germanischen und indianischen Stämmen, die beiden raum- und zeitverschobenen Völkerschaften die gleiche Stufe in einem größeren Zivilisationsmodell zuwiesen und Erkenntnisse über die eine aus genauer belegtem Wissen über die andere zuließen.387 Robertson gab mit dieser Studie zum Zivilisationsstadium der ‚Barbarei‘ ein herausragendes Beispiel der so genannten ‚Four-Stages-Theory‘, dem berühmtesten Theorieexport der schottischen Aufklärung, die ihre klassische gewordene Niederlegung bei Adam Smith gefunden hatte.388 Die Rivalitäten um die Begründung der Theorie betrafen eben gerade besagte Autoren, da Smith befürchtete, Robertson, der mit seinen Vorlesungen vertraut und, nicht zu vergessen, gleichzeitig Rektor seiner Universität war, könnte vor ihm selbst mit seinen theoretischen Analysen im Anwendungsbeispiel hervortreten. Mit Sorge betrachtete Smith deshalb das Erscheinen des ersten Bandes von Robertsons History of Charles V. mit dem programmatischen Titel A View of the Progress of Society in Europe (1769).389 Gleichwohl sollte diese Theorie nicht zum alles beherrschenden Thema der schottischen Aufklärung gemacht werden. Ebenso darf sie nicht als Folie angesehen werden, die über verschiedene Gesellschaftsformen gelegt wurde, um ein vorgefasstes Analysemuster zu bestätigen. Das vergleichende Verfahren der ‚Science of Man‘, mit dem zeitgenössische und historische Berichte über fremde Völkerschaften analysiert werden konnten, hatte methodischen Vorrang vor einer 386 387

Ebd., S. 253f., Note VI. „The resemblance holds in many other particulars. It is sufficient for my purpose to have pointed out the similarity of those great features which distinguish and characterize both peoples.“ Vgl. ebd., S. 252, Note VI. 388 Der locus classicus der ‚Four-Stages-Theory‘ bei Adam Smith lautet: „There are four distinct stages which mankind passes thro [sic!]: - 1st, the Age of Hunters, 2dly, the Age of Shepherds, 3dly, the Age of Agriculture, 4thly, the Age of Commerce.“ Vgl. Ders., Lectures on Jurisprudence [1762/63], hg. v. R. L. Meek / D. D. Raphael / P. G. Stein. Oxford 1978, S. 14. Besondere Aufmerksamkeit hat die Forschung der ‚Four-Stages-Theory‘ vor dem Hintergrund ihres proto-materialistischen Gehalts geschenkt. Einen hervorragenden Einblick in die Genese der Theorie bieten, trotz ihres anachronistischen Verfahrens, die Arbeiten von Ronald L. Meek, so etwa der Aufsatz „Smith, Turgot, and the ‚Four-Stages‘ Theory“. 389 „Evidence exists about Robertson making use of Smith’s ideas at an earlier stage in his career. John Callender of Craigforth who heard Smith’s lectures on jurisprudence c. 1750–1 averred that ‚Dr Robertson borrowed the first volume of his History of Charles V. from them as every student could testify‘. […] According to Callender, Smith said Robertson ‚was able to form a good outline but he wanted industry to fill up the plan‘.“ Vgl. William Robertson to Adam Smith, in: The Correspondence of Adam Smith, Anm. 2, S. 192. Vgl. dazu auch Meek, Smith, Turgot, and the ‚Four Stages‘ Theory, S. 28.

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rein schematischen Zuordnung der Völker. Das methodische Credo an das Primat des Empirischen wurde durch die Spurensuche nach Elementen der modern anmutenden Stufentheorie oftmals vernachlässigt.390 Durch den zunehmend kritischen Umgang mit den Quellen, die als Äquivalent zu den Experimenten in der Naturphilosophie fungieren sollten, rückte ihre Überprüfbarkeit, Wiederholbarkeit und eventuelle Revision in den Vordergrund. Dieser Anspruch auf Wissenschaftlichkeit der ‚natural historians‘ verdeutlicht, wieso – selbst für den einzigen ‚Fachhistoriker‘ Robertson – die antiken Quellen zwar einen gewissen Aussagewert zur Geschichte der Menschheit hatten, deren eigentliche empirische Grundlegung jedoch in der Auseinandersetzung mit Reiseberichten bestand. 3.3.3. Reiseberichte und Quellenkritik Die Skepsis in der Frage, was über die Welt, ihre Entstehung und die Menschheit überhaupt gewusst werden kann, hatte einen methodischen Vorbehalt gegenüber apriorischen Sätzen zu dieser Thematik befördert. Die vorsichtige Annäherung an Fragen dieser Art über den Weg der wahrscheinlichen Thesen sollte durch die Erfahrung vermittelt, möglichst intersubjektivierbar, also jedem Menschen über die schiere Kongruenz seiner Wahrnehmung und seiner Daseinsform mit der anderer Menschen zugänglich sein.391 Mit der Infragestellung von ‚Wahrheiten‘ der traditionellen Erklärungsmuster von Welt ging ein ausgeprägtes Bewusstsein für die ‚Echtheit‘ der erfahrungsgebundenen Quellen einher, welche die Basis neuer Thesen stellen sollten.392 Ein Vorgang, der sich als Übergang vom Streben nach ‚veritas‘ der frühneuzeitlichen Gelehrsamkeit zur ‚rectitudo‘ als, skeptisch eingeschränkte, höchste Maxime der modernen Wissenschaft beschreiben lässt. Wäh390

Als weiteres maßgebliches Datum für die Ausarbeitung einer Stufentheorie der Gesellschaft sind die etwa zeitgleich zu Smiths ‚Lectures on Jurisprudence‘ gehaltenen Vorlesungen des französischen Philosophen Anne Robert Jacques Turgot (1727–1781) hervorgehoben worden. Dennoch sind die Berührungspunkte rezeptionsgeschichtlich nur punktuell nachzuweisen. Methode und Anspruch von Turgots ‚Fortschritten des menschlichen Geistes‘ sind gleichwohl durchaus mit der ‚Natural History of Mankind’ der schottischen Aufklärung vergleichbar. Vgl. Rohbeck, Turgot als Geschichtsphilosoph, S. 67. Vor dem Hintergrund dieser Ähnlichkeit wurde die Bedeutung Rousseaus jedoch, auch als Abgrenzungsbewegung, oftmals unterschätzt wie etwa bei Meek, The Ignoble Savage, S. 76ff. 391 An dieser Stelle sei an das vielfach in diesem Kontext verwendete Motto von Terenz erinnert: Home sum,: humani nihil a me alienum puto. Etwa durch Georg Forster in seinem Nachruf auf James Cook (1728–1779), der 1789 in einer Sammlung von Essays erschien. Vgl. Einleitung, S. 3. 392 Jürgen Osterhammel hat auf die Veränderung des Wahrheitsbegriffs aufmerksam gemacht, „der nicht das Tradierte und kollektiv Geglaubte, sondern das in der Anschauung des Objekts Bewiesene zum Kern hat, und auf dem Bewußtsein [beruhte], den neuen induktiven Wissenschaften von Natur und Gesellschaft Erfahrungsmaterial zu verschaffen“. Vgl. Ders., Von Kolumbus bis Cook: Aspekte einer Literatur- und Erfahrungsgeschichte des überseeischen Reisens, in: M. Maurer (Hg.): Neue Impulse der Reiseforschung. Berlin 1999, S. 97–131, hier S. 122.

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rend es dem Wesen wissenschaftlicher Hypothesen entsprach, revidierbar zu sein, waren manche der eben diese Hypothesen belegenden Quellen nicht revisionsfähig und mussten deshalb einem kritischen Verfahren unterzogen werden.393 Wollte man ein Äquivalent zum Experiment für die Naturgeschichte schaffen, war die Augenzeugenschaft der höchste Ausweis für die Authentizität einer Quelle und gleichzeitig bot dieses Verfahren die Möglichkeit der Revision.394 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wieso Reiseberichte zur maßgeblichen empirischen Basis der ‚Science of Man‘ wurden und die Bedeutung des Reisens für die ‚Natural History of Mankind‘, gerade in Abgrenzung zur Antikerezeption, kaum zu überschätzen ist.395 Die zunehmende Reisetätigkeit bedeutete dabei in zweierlei Hinsicht einen Einschnitt für die ‚Natural History‘. Zum einen wurden durch ihre Berichterstattung vermeintliche Gewissheiten über die Beschaffenheit der Welt und ihrer Bewohner infrage gestellt und zum anderen lieferte sie die Basis für die Überprüfung dieses Weltbildes und, darüber hinaus, verschiedene Optionen für die Erstellung eines neuen.396 Reiseberichte waren die notwendige Grundlage für die populärste Gattung der expandierenden Aufklärungsliteratur, der Naturgeschichte: sowohl in Lesezirkeln als auch unter Gelehrten.397 Die ungeheure Bandbreite dieses neuen Mediums machte gerade den gelehrten Benutzern bewusst, dass die grundlegenden Reiseberichte nur in den seltensten Fällen als wissenschaftliches Material angelegt waren und gattungsgemäß eher den ‚Belles Lettres‘ zugerechnet werden mussten. Darüber hinaus waren fingierte Reisberichte mehr als jedes andere literarische Genre dazu geeignet, utopische und politisch brisante Inhalte an der Zensur vorbei zu befördern, wie die berühmten Beispiele, so Montesquieus Lettres persanes (1721), Jonathan Swifts Gulliver’s Travels (1726) und vor allem

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In dieser Weise beschrieb auch der Historiker Gilbert Stuart das Verhältnis von wissenschaftlichen Aussagen und der Beschaffungsproblematik der sie begründenden Quellen: „If at present, when learning and science are so generally diffused, the different opinions concerning it are every day the occasion of dispute and animosity, how shall its boundaries be delineated, in times which a remote antiquity has concealed from observation?“ Vgl. Ders., An Historical Dissertation, S. 25. 394 Bis heute beansprucht der Augenzeugenbericht den höchsten Vorrang unter den Quellen eines Historikers. Vgl. Klaus Arnold, Der wissenschaftliche Umgang mit Quellen, in: H.-J. Goertz (Hg.): Geschichte. Ein Grundkurs. Reinbek 1998, S. 42–58, hier S. 44. 395 Erst durch die Reiseberichte wurden die Schranken der antiken Autoritäten gesprengt und die Berufung auf die Autopsie trat in den Vordergrund. Vgl. William E. Stewart, Die Reisebeschreibung und ihre Theorie im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Bonn 1978, S. 31. 396 Zwar brachte das 18. Jahrhundert nur noch eine geringe Horizonterweiterung im Hinblick auf die geographische Weltkenntnis mit sich, aber es stellte „eine entscheidende Etappe hinsichtlich der Systematisierung und Neuperspektivierung des europäischen Wissens über die außereuropäische Welt dar“. Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink, Wissen und außereuropäische Erfahrung im 18. Jahrhundert, in: van Dülmen / Rauschenbach (Hg.): Macht des Wissens, S. 629–653, hier S. 629. 397 „Books about Natural history shared a vast readership eager to learn about living creatures in nearby and remote places.“ Vgl. George Rousseau, Science Books and their Readers, S. 224.

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Voltaires Lettres philosophiques (1734), belegen.398 In Reiseberichten oszillierten Faktizität und Fiktionalität, wodurch sie einerseits als Quellen moderner wissenschaftlicher Werke dienen konnten und wodurch andererseits das Bewusstsein für die Problematik der Echtheit von Quellen besonders geschärft wurde.399 Zugespitzt ließe sich die These formulieren, dass erst die Beschäftigung mit Reiseberichten als Quelle für die Naturgeschichte der Menschheit eine grundsätzlich skeptische Haltung gegenüber der ‚Überlieferung‘ (testimony of others) und daraus resultierend eine systematische Quellenkritik in diesem Genre beförderte.400 Dieser Vorgang betraf neben den geographischen Daten vor allem ethnographische Berichte, die ihre Erkenntnisse insbesondere aus der Schifffahrt bezogen – ob zu Handels-, Entdeckungs- oder missionarischen Zwecken.401 Schon früh warnte Shaftesbury vor Leichtgläubigkeit gegenüber dieser neuen Quellengattung: Historys of Inkcas and Iroquois, written by Fryars and Missionarys, Pirates and Renegades, Sea-Captains and trusty Travellers, pass for authentick Records, and are canonical, with the Virtuoso’s of this sort. Tho Christian Miracles may not so well satisfy ‘em; they dwell with the highest Contentment on the Prodigys of Moorish and Pagan Countries. They have far more Pleasure in hearing the monsterous Accounts of monsterous Men, and Manners; than the politest and best Narrations of the Affairs, the Governments and Lives of the wisest and most polish’d people.402

Shaftesbury benannte mit dieser Kritik zwei der Hauptprobleme für die Glaubwürdigkeit des Reiseberichts: erstens die fehlende Eignung oder das spezielle Erkennt398

Unter diesem Aspekt hat sich vor allem die Literaturgeschichte eingehend mit dem Genre ‚Reisebeschreibung‘ in der Aufklärung befasst. Vgl. etwa den Band von Wolfgang Griep und Hans-Wolf Jäger (Hg.): Reisen und soziale Realität am Ende des 18. Jahrhunderts. Heidelberg 1983. Zur Einordnung des Reisberichts als einer literarischen Gattung vgl. Peter J. Brenner, Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte. Tübingen 1990 (IASL Sonderheft 2), S. 266ff. 399 Der besondere Reiz lag darin, die berühmten ‚Travel Liars‘ als ‚wahre Geschichten‘ auszugeben. Jonathan Swift versah Gulliver’s Travels mit vermeintlichen Zertifizierungen und schrieb: „Thus, gentle reader, I have given thee a faithful history of my travels for sixteen years and above seven months; wherein I have not been studious of ornament as truth. I have perhaps like others have astonished thee with strange improbable tales; but I rather chose to relate plain matter of fact in the simplest manner and style; because my principal design was to inform, and not to amuse thee.“ Vgl. Ders., Gulliver’s Travels. London 1994, S. 322f. Vgl. dazu Doris Kaufmann, Die ‚Wilden‘ in Geschichtsschreibung und Anthropologie der ‚Zivilisierten‘, in: HZ 260 (1995), S. 49–73, hier S. 57. 400 Kames schenkte dem schwierigen Thema in seinen erkenntnistheoretischen Überlegungen zu seiner Menschheitsgeschichte besondere Aufmerksamkeit: „Human testimony [...] produces belief, more or less strong, according to circumstances. In general, nature leads us to rely upon the veracity of each other; and commonly the degree of reliance is proportioned to the degree of veracity.“ Vgl. Ders., Sketches, Bd. 3, S. 208f. 401 Diesen Zusammenhang von geographischem und historischem Wissen betont Hans-Jürgen Pandel, Historik und Didaktik. Das Problem der Distribution historiographisch erzeugten Wissens in der deutschen Geschichtswissenschaft von der Spätaufklärung zum Frühhistorismus (1765–1830). Stuttgart-Bad Canstatt 1990, S. 33f. 402 Antony Ashley Cooper / Third Earl of Shaftesbury, Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times. Bd. 1. London 1711, S. 345.

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nisinteresse der jeweiligen Verfasser und zweitens deren Befangenheit im scheinbar menschlichen Wesenszug der Neugierde, also dem meist größeren Interesse an außergewöhnlichen Erscheinungen als an der Übersetzung der Phänomene im Rahmen des eigenen Kulturkontexts. Ganz im Sinne der problematischen Verfasserschaft kritisierte auch Rousseau den Umstand, dass es Seemänner, Kaufleute, Soldaten und Missionare seien, deren ‚études de l’homme‘ man Vertrauen schenken müsste. Im Gegensatz zu Shaftesbury war er allerdings der Ansicht, dass das eingeschränkte Blickfeld dieser ungeeigneten Beobachter zur Folge habe, dass man in den Berichten nur das zu lesen bekomme, was jeder ohnehin schon gewusst zu haben glaubte: die pseudo-philosophische Ansicht nämlich, dass die Menschen überall die gleichen wären.403 Mit Rousseaus Anspielung auf die Uniformitätsthese verband sich die Umkehr des Arguments gegen die Neigung zur Monstrosität in einen Vorwurf an die Trivialität der Reisebeschreibungen aufgrund ihrer ungeeigneten Autorschaft.404 Hume hingegen war der Ansicht, dass die These von der gleichbleibenden Natur des Menschen eine unverzichtbare Grundlage für die kritische Auseinandersetzung mit den Reiseberichten bot: Should a traveller, returning from a far country, bring us an account of men, wholly different from any with whom we were ever acquainted [...] we should immediately, from these circumstances, detect the falsehood, and prove him a liar, with the same certainty as if he had stuffed his narration with stories of centaurs and dragons, miracles and prodigies.405

Für Hume war die Auffassung von der Uniformität der menschlichen Natur die Vorraussetzung der universellen Gültigkeit von Erfahrungssätzen, die wiederum die Basis der ‚Science of Man‘ bildeten: But were there no uniformity in human actions, and were every experiment which we could form of this kind irregular and anomalous, it were impossible to collect any general observations on mankind.406

403

„De-là est venu ce bel adage de morale, si rebatu par la tourbe Philosophesque, que les hommes ont partout mêmes passions et les mêmes vices, il est assés inutile de chercher à charactériser les différens Peuples.“ Vgl. Rousseau, Discours sur l’inégalité, S. 340ff. 404 Ganz im Sinne von Rousseaus Argument werden Reiseberichte der Frühen Neuzeit heute vermehrt als Spiegel der ‚eigenen‘ Gesellschaften im Focus der ‚anderen‘ interpretiert. Vgl. Michael Harbsmeier, Reisebeschreibungen als mentalitätsgeschichtliche Quellen: Überlegungen zu einer historisch-anthropologischen Untersuchung frühneuzeitlicher deutscher Reisebeschreibungen, in: A. Maçzak / H. J. Teuteberg (Hg.): Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte. Aufgaben und Möglichkeiten der historischen Reiseforschung. Wolfenbüttel 1982, S. 1–31, hier S. 7. 405 Hume, Enquiry, S. 84. Mit einem ähnlichen Wortlaut begründet Herder den methodischen Einsatz der Uniformitätsthese: „[N]ur Ein’ und dieselbe Gattung ist das Menschengeschlecht auf der Erde. Wie viele Fabeln der Alten von menschlichen Ungeheuern und Missgestalten haben sich durch das Licht der Geschichte bereits verloren.“ Vgl. Ders., Ideen zur Philosophie, S. 229. 406 Hume, Enquiry, S. 85.

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Den Experimenten der Naturphilosophie entsprachen in der Wissenschaft vom Menschen die Reiseberichte, die die Funktion eines Reagenzglases für die Geschichte zu erfüllen versprachen. Wollte man sich der Beschreibung der Frühzeit der Geschichte der Menschheit nicht entziehen, war man folglich auf die Berichte der Reisenden angewiesen. Darüber hinaus entsprachen ethnographische Beschreibungen ‚gesitteter und ungesitteter‘ Völker durch Reisende sehr viel eher dem Erkenntnisinteresse der ‚Scientists of Man‘ als der Primat der außenpolitischen Händel in den, im engeren Sinne, historiographischen Quellen: Historians of reputation have commonly overlooked the transaction of the early ages, as not deserving to be remembered; and even in the history of later and more cultivated periods, they have been more solicitous to give an exact account of battles, and public negociations, than of the interior police and government of a country.407

John Millar begründete mit diesem Argument seine Bevorzugung von Reiseberichten gegenüber anderen Quellen in der Naturgeschichte der Menschheit, auch wenn er sich über die vielfältigen Fehlerquellen, die sie behafteten, im Klaren war: Our information, therefore, with regard to the state of mankind in the rude parts of the world, is chiefly derived from the relations of travellers, whose character and situation in life, neither set them above the suspicion of easily being deceived, nor of endeavouring to misrepresent the facts which they have related.408

Trotz der Skepsis gegenüber der Reiseberichterstattung gerade der Missionare boten diese als meistbenutzte Kompendien der Menschheitshistoriker nicht nur eine materiale sondern darüber hinaus eine analytische Vorwegnahme der eigenen Methode. Dies traf zumindest für die Berichte des französischen Jesuitenpaters Joseph-François Lafitau (1681–1746) zu, dessen Werk Mœurs des sauvages ameriquains comparées aux mœurs des premiers temps (1724) erstmals einen umfassenden Eindruck der Lebensgewohnheiten der nordamerikanischen Indianer aufgrund detaillierter Beschreibungen lieferte.409 Lafitau, der selbst fünf Jahre unter den ‚Wilden‘ in Kanada gelebt hatte, wollte gleichermaßen seinen Gastgebern wie auch Erkenntnisobjekten ethnologische Gerechtigkeit angedeihen lassen, indem er sie nicht einem direkten synchronen Vergleich aussetzte, sondern sie im historischen Raum mit vergleichbaren Kulturen verschaltete. Mit seiner präzisen Charakterisierung der Irokesen- und Huronen-Stämme am St. Louis-Strom schrieb Lafitau gegen die in Europa verbreitete Vorstellung von den zivilisationslosen ‚Wilden‘ an und revidierte damit deren Beurteilung als recht-, sitten- und gottlose Gesellschaft. Damit versuchte er zwar die eigenständige Kulturleistung der India407 408 409

Millar, The Origin, S. 12. Ebd. Joseph-François Lafitau, Mœurs des Sauvages Amériquains, Comparées aux Mœurs des Premiers Temps. Ouvrage enrichi de Figures en taille-douce. 2 Bde. Paris 1724. In der deutschen Übersetzung mit einer Vorrede von Siegmund Jacob Baumgarten, Algemeine [sic!] Geschichte der Länder und Völker von Amerika. Halle 1752.

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ner anzuerkennen, allerdings um den Preis, sie in eine systematische, europäisch geprägte Sittengeschichte zu integrieren und ihnen dort einen statischen, unhistorischen Rang zuzuweisen.410 Im Resultat seiner Überlegungen hatte Lafitau seinen Bericht als Vergleich zwischen den Indianern und den Hellenen der homerischen Frühzeit angelegt und damit eine analytische Modellstudie geschaffen, die das Interesse einer ganzen Generation von Menschheitshistorikern auf sich zog.411 Lafitau schien diese Wirkung, nach der sein Werk wiederum als Quelle philosophischer Erörterungen über die Menschheit dienen würde, zu antizipieren und verstand es als Anstoß zur Verbesserung des Genres der Naturgeschichte der Menschheit.412 Seine besondere Leistung bestand darin, dass er seine Berichte nicht, wie so viele seiner Vorgänger, auf das Hörensagen stützte, sondern auf eigenes Anschauungsmaterial, und diese Daten wiederum durch Abgleich mit Überlieferungen aus der antiken Tradition verifizierte.413 In der Rezeption Lafitaus durch die Aufklärungshistoriker fällt indessen auf, dass dessen vergleichende Methode, obwohl er der am häufigsten zitierte Reisebeschreiber war, nicht eigens hervorgehoben wurde. Weder Ferguson oder Robertson noch Millar beleumundeten Laftitau für ihren eigenen Vergleich der ‚wilden‘ mit antiken Stämmen, sondern zogen ausschließlich dessen Ausführungen als Quelle der Lebensverhältnisse der Indianer heran.414 Der Unterschied zwischen Lafitau und den schottischen 410

„La matiere des Mœurs est une matiere vaste qui embrasse tout dans son étendue, qui referme bien des choses disparates, & lesquelles ont très-peu de rapport entre elles: c’est pourquoy il a été très-difficile de les rassembler sous un point de vue. La parallelle continuelle que je fais des Mœurs Ameriquains avec celles des Anciens, a encore augmenté beaucoup la difficulté. Je n’ai pas laissé neanmoins d’y donner un certain ordre Par la division que je’ai faite, en réduisant les principales choses sous certain titres, tels que la Table des Matieres les présente.“ Vgl. Lafitau, Mœurs des Sauvages, S. 16f. 411 Vgl. Pagden, Eighteenth Century Anthropology, S. 226. 412 „Quant aux Sçavans qui ont traité de cette matiere, leurs Dissertations n’ayent été faites que sur les Mémoires imparfaites & superficiels, ne pouvoient être que défectueuses; leurs conjectures sont si vagues & si incertaines, qu’elles font naître plus de doutes qu’elles n’en éclaircissentes; & les rapports qu’ils prétendent trouver entre les Langues Barbares & les Langues Sçavant qui leurs sont connues, sont fondez sur des mots si estropiés, qu’on n’en peut tirer que des consequences fausses.“ Lafitau, Mœurs des Sauvages, S. 2. 413 Wilfried Nippel sieht die ‚Pionierleistung‘ Lafitaus darin, dass er „die Befunde der antiken Überlieferung und aus der zeitgenössischen Ethnographie zur gegenseitigen Kontrolle“ einsetzte. Vgl. Ders., Griechen, Barbaren und ‚Wilde‘, S. 54. 414 Anthony Pagden hat darauf aufmerksam gemacht, dass Lafitaus Vorwegnahme vergleichender Feldstudien erst im frühen 20. Jahrhundert als historische Anthropologie gewürdigt worden ist. Vgl. Ders., Eighteenth Century Anthropology, S. 226. Ferguson bezog sich im Kapitel ‚Of Rude Nations prior to the Establishment of Property‘ maßgeblich auf Lafitau. Vgl. Ders., Essay, S. 82ff. Millar verdankte beispielsweise seine Kenntnisse der ‚wilden‘ Eheschließungen oder der Stammesführerschaft den ‚Mœurs‘, verglich diese mit antiken Gesellschaften ohne auf Lafitaus Analyse einzugehen. Vgl. Ders., The Origin, S. 22f., S. 168f. Auf den Vergleich aufmerksam macht Siegmund Jacob Baumgarten: „Es bestehet demnach dieses Werk aus zwey Haupabtheilungen [sic!]. In der ersten wird von der Lebensart und Verfassung, oder von den Sitten und Gebräuchen der so genanten Wilden in Amerika dargestellt, und eine Vergleichung derselben mit den Altertümern der ungesitteten Zeiten der übrigen Welttheile angestellet.“ Vgl. Ders., Vorrede, in: Algemeine Geschichte, [unpag.].

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Stadientheoretikern bestand darin, dass jenem der Vergleich nicht dazu diente, Aufschlüsse über die Lebensgewohnheiten in der Antike zu erhalten, sondern als rhetorische Figur zur didaktischen Aufbereitung der ‚alterité‘ der beschriebenen Völker. Die Vorstellung, dass die Indianer sich zwar in einem inferioren aber entwicklungsfähigen Gesellschaftsstadium befinden könnten, war Lafitau fremd.415 Mindestens ebensoviel Wertschätzung wie Lafitau wurde einem anderen Jesuitenmissionar von den schottischen Gelehrten entgegengebracht, Pierre François Xavier de Charlevoix (1682–1761), dessen Berichte auch den kanadischen Flussgebieten und ihren Bewohnern gewidmet waren. Der Quellenwert seiner Histoire et description générale de la nouvelle France (1744) wurde besonders hoch angesiedelt, da sie ebenfalls keine Kompilation anderer Autoren darstellte, sondern auf Zeugenaussagen beruhte, die die hohe Authentizität dieser Sittengeschichte gewährleisteten.416 Für Robertsons Vergleich der Germanen mit den Indianern diente Charlevoix’ Beschreibung der ‚Amerikaner‘ als stichhaltiges Quellenmaterial.417 Durch die Augenzeugenschaft unterschieden sich die Reiseberichte von Lafitau und Charlevoix maßgeblich von den sonst verbreiteten Reisekompendien.418 Ihr enzyklopädischer Charakter diente den Naturhistorikern der Menschheit dennoch als Fundus für Gesellschaftsstudien, wie etwa die Histoire Générale Des Voyages, deren Quellenwert immer noch höher eingeschätzt wurde als der der meisten antiken Berichte.419 Durch die Berufung auf Autopsie und Revisionsfähigkeit war es möglich, die Experimente der Naturwissenschaften für die ‚Science of Man‘ durch Reiseberichte zu substituieren, wodurch sie zum belangreichsten Quellenkorpus der ‚Natu-

415

Vgl. Jürgen Osterhammel, Distanzerfahrung. Darstellungsweisen des Fremden im 18. Jahrhundert, in: H.-J. König / W. Reinhard / R. Wendt (Hg.): Europäische Beobachter außereuropäischer Kulturen. Berlin 1989, S. 9–42, hier S. 34f. 416 Pierre François Xavier de Charlevoix, Histoire et Description Générale de la Nouvelle France avec Le Journal Historique d’un Voyage fait par ordre du Roi dans l’Amérique Septentrionnale. 3 Bde. Paris 1744. Dort heißt es in der Vorrede : „ [...] [L]e devoir d’un Historien est de lui faire un récit fidele, & de lui fournir avec exactitude & et sans préjugé les pieces, sur lesquelles il peut porter son jugement ; & c’est ce que je vais tâcher de faire avec tout le soin & toute la sincerité, dont je suis capable.“ Vgl. ebd., S. 2 und Ferguson, Essay, S. 86. 417 Robertson, The History of the Reign of the Emperor Charles V., Bd. 1, S. 250ff., Note VI. 418 Zum ‚Autopsieanspruch‘ an die Reiseliteratur vgl. auch Horst Walter Blanke, Politische Herrschaft und soziale Ungleichheit im Spiegel des Anderen. Untersuchungen zu den deutschsprachigen Reisebeschreibungen vornehmlich im Zeitalter der Aufklärung. Bd. 1. Waltrop 1997, S. 186ff. 419 Die berühmteste dieser Kompilationen war die anonym herausgegebene des Abbé Prévost: Histoire Générale Des Voyages ou Nouvelle Collection de Toutes les Relations de Voyages par Mer et par Terre, Qui ont été publiées jusqu’ à présent dans les différentes Langues de toutes les Nations connues : Contenant Ce Qu’Il Y A De Plus Remarquable, De Plus Utile Et De Mieux Averé Dans Les Pays Ou Les Voyageurs Ont Penetre’: Avec Les Mœurs Des Habitants; La Religion, Les Usages, Arts, Sciences, Commerce, Manufactures, &c Pour Former Un Systême Complet d’Histoire & de Géographie moderne, qui représente l’état actuel de toutes les Nations. Paris 1749ff.

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ral Histories of Mankind‘ heranwuchsen.420 Der Umgang mit dieser überaus problematischen Quellengattung beförderte eine grundlegende Quellenkritik, deren erkenntnistheoretische Maxime in der allgemein anthropologischen Vermittlungsfähigkeit von Erfahrungssätzen bestand.421 Das Menschsein, das heißt die Teilhabe an der Menschheit, versetzte den Leser in die Lage, Glaubwürdiges von Unglaubwürdigem zu unterscheiden und bot damit die Grundlage jedweden Wahrscheinlichkeitsurteils über die Naturgeschichte der Menschheit. Ferguson stellte an den Beginn seines ‚Essay‘ ein Plädoyer für den emphatischen Verstehensbegriff, um keine grundsätzliche Kritik an dem von ihm am häufigsten benutzten Quellenkorpus, den Reiseberichten, aufkommen zu lassen und seine Bevorzugung der synchronen gegenüber den diachronen Berichten zu erläutern: But we need no remote observation to confirm this position: The wailings of the infant, and the languors of the adult, when alone; the lively joys of the one, and the chearfulness of the other, upon the return of company, are sufficient proof of its solid foundations in the frame of our nature.422

Verzichte man hingegen auf diese Erkenntnisgrundlage im ‚common sense‘, falle jedes menschliche und historische Zeugnis einer radikal skeptischen Beurteilung anheim.423 Die methodische Absicherung dieses Umgangs mit Fremderfahrung – ebenso wie in der zeitlichen, nun auch in der räumlichen Dimension – basierte auf vergleichenden Verfahren: dem analogischen Schließen und der Herstellung von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen.424 Vor diesem Hintergrund fasst Millar die Problematik des Reiseberichts als empirisches Material wie folgt zusammen: When to all this, we are able to add the reasons to those particular customs which have been uniformly reported, the evidence becomes as complete as the nature of the thing will admit. We cannot refuse our assent to such evidence, without falling into a degree of scepticism by which the credibility of all historical testimony will be destroyed.425

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„The Reservoir of Human ‚Experiments‘: History and Travel Accounts.“ Vgl. das Kapitel bei Olson, The Human Sciences, S. 442ff. 421 Das ‚Alltägliche‘ als Substanz der Erfahrung in der Frühen Neuzeit in Abgrenzung zur modernen ‚Unübersetzbarkeit‘ von Erfahrung beschreibt Gorgio Agamben, Kindheit und Geschichte. Zerstörung der Erfahrung und Ursprung der Geschichte. Frankfurt/M. 2004, S. 24. 422 Ferguson illustrierte diesen Ausdruck der Empathie an dem Beispiel des Reiseberichts einer Schiffscrew im Nordmeer, die in einem wortlosen Austausch mit einem Zug von Lappländern stand. Vgl. Ders., Essay, S. 22. Ferguson gehörte zu den schottischen Autoren, die sich am extensivsten mit Reiseberichten beschäftigten. Vgl. Michel Faure, Le Scottish Enlightenment: naissance d’une anthropologie sociale, in: Revue des Synthèse 107 (1986), S. 411–425, hier S. 417. 423 „When illiterate men, ignorant of the writings of each other, and who, unless upon religious subjects, had no speculative systems to warp their opinions, have, in distant ages and countries, described the manners of people in similar circumstances, the reader has an opportunity of comparing their several descriptions, and from their agreement or disagreement is enabled to ascertain the credit that is due to them.“ Vgl. Millar, The Origin, S. 12f. 424 Vgl. Koselleck, Erfahrungswandel, S. 36. 425 Millar, The Origin, S. 13.

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Die Herangehensweise des Menschheitshistorikers, der dazu angehalten war, die Fremderfahrung mit den Maßstäben der eigenen Erfahrungswelt zu bemessen und als glaub- oder unglaubwürdig zu qualifizieren, reflektiert die hermeneutischen Methodenvorgaben der ‚Science of Man‘. Es handelt sich um den Abgleich empirischer Daten mit allgemeinen Naturgesetzen und die hypothetische Annahme neuer Naturgesetzlichkeiten durch die Vernetzung fremdartigen empirischen Datenmaterials.426 Millar beschreibt dieses Verfahren am Beispiel der Überprüfung der Reiseberichte auf ihre Echtheit: According to this method of judging, which throws the veracity of the relater very much out of the question, we may be convinced of the truth of extraordinary facts, as well as of those that may be more agreeable to our own experience. It may even be remarked, that in proportion to the singularity of any event, it is more improbable that different persons, who design to impose upon the world, but who have no concert with each other, should agree in relating it.427

Das Bewusstsein der Abhängigkeit von Reiseberichten als maßgebender Quelle der ‚Natural History of Mankind‘ unterstützte die Forderung nach einem methodisch gesicherten Umgang mit Quellen.428 Diese Methodenreflexion basierte wiederum auf den anthropologischen Annahmen der ‚Science of Man‘: der Uniformitätsthese als Grundlage eines hermeneutischen Erfahrungs- und Verstehensbegriffs sowie der Perfektibilitätsthese als Voraussetzung der Verortung verschiedener ethnographischer Berichte in verschiedenen Stadien einer gemeinsamen Entwicklung. Obwohl die ‚Methodisierung der Erfahrung‘ auch eine ‚Methodisierung des Reisens‘ im Verlauf des 18. Jahrhunderts nach sich gezogen hatte und immer höhere Ansprüche an die wissenschaftliche Eignung der Verfasser solcher Berichte gestellt wurde,429 war es eben diese Quellengattung und ihre Behandlung, die seitens der Kritiker der ‚Natural History of Mankind‘ moniert worden ist. Der wahllose Gebrauch von Reiseberichten, der unsystematische Vergleich völlig unterschiedlicher Regionen und Völker unter der dogmatischen Annahme der einen menschlichen Natur gebe den Menschheitsgeschichten ihren willkürlichen Charakter als Ausdruck rein philosophischer Mutmaßungen, die ganz nach Belieben mit ethnographischen Versatzstücken versehen würden.430 426

Zur Aufgabe des reisenden Beobachters als ‚Hermeneut‘ vgl. Osterhammel, Distanzerfahrung, S. 21. 427 Millar, The Origin, S. 13. 428 Vgl. Stewart, Die Reisebeschreibung und ihre Theorie, S. 41. 429 Hans Erich Bödeker hat auf diesen Zusammenhang hingewiesen. Ein Vorgang, der sich als Übergang von der ‚Kavalierstour‘ zur ‚gelehrten Reise‘ beschreiben ließe und besonders in der deutschen Aufklärung befördert wurde. Vgl. Ders., Reisebeschreibungen im historischen Diskurs der Aufklärung, in: Bödeker / Iggers / Knudsen (Hg.): Aufklärung und Geschichte, S. 276–298, hier S. 279. Neben der Erstellung von Fragebögen ist das wissenschaftliche Personal auf den Reisen, wie etwa Johann Reinhold und Georg Forster auf der zweiten Weltumsegelung von James Cook (1772–1775), Ausdruck dieser Entwicklung. Vgl. Brenner, Der Reisebericht, S. 268ff. 430 Dugald Stewart formuliert seine grundsätzlich kritische Position am Beispiel von Montesquieus Quellenbelegen durch Reiseberichte im L’esprit des lois: „[...] [W]e frequently find him

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Tatsächlich spiegelt sich aber im Einsatz der Reiseberichte der hybride Charakter der Naturgeschichten der Menschheit, zwischen induktivem Anspruch und philosophischer Verfassung. Einerseits wollten die Menschheitshistoriker ausgehend von anthropologischen Annahmen ethnologische und historische Daten verstehen und andererseits schien sich ihnen langsam eine gesetzmäßige Struktur in der Geschichte zu offenbaren, von der aus man Zivilisationsgrade der Gesellschaft zu erklären vermochte. Der Versuch einer Beantwortung der Frage, was die Naturgeschichte der Menschheit in der schottischen Aufklärung zu leisten versuchte – eine induktiv verfahrende Anthropologie, eine theoriegeleitete Geschichtsschreibung oder eine empirisch untermauerte Moralphilosophie? –, war der Anfang vom Ende dieses übergreifenden Projektes: „An Attempt to introduce the experimental Method of Reasoning into Moral Subjects“.431

3.4. Modelle des Menschenstudiums in der schottischen Aufklärung Mit Humes Konzept der ‚Science of Man‘ waren das Erkenntnisziel und die Methoden eines wissenschaftlich erneuerten Menschenstudiums ausgelegt. Die induktive Methode sollte nicht mehr länger nur auf die Naturphilosophie angewandt, sondern auch auf das Studium der Antriebe menschlichen Handelns übertragen werden. Während allerdings bei Hume erkenntnistheoretische Fragen den Ausgang und Gegenstand seines Projektes gebildet hatten, war es die Herausforderung an seine schottischen Zeitgenossen, den empirischen Imperativ am Studienobjekt ‚Mensch‘ einzulösen. Dieses Studienobjekt konnte dabei aus vielfacher Richtung betrachtet und unter gänzlich verschiedenen Erkenntnisinteressen analysiert werden, was sich im Variantenreichtum der Studien zum Menschen in der schottischen Aufklärung zeigt. Sowohl hinsichtlich der Fragerichtungen als auch bezüglich der konkreten Ausgestaltungen lässt sich innerhalb dieser unterschiedlichen Arbeiten eine markante Verschiebung von der ‚Science of Man‘ zur ‚Natural History of Mankind‘ im Verlauf der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts feststellen.432 In Anlehnung an die Naturphilosophie stand zunächst die Frage nach den ‚Gesetzen‘ in der Natur des Menschen im Vordergrund, also die Suche nach seiner verallgemeinerbaren moralischen und physiologischen Disposition. Trotz des Imborrowing his lights from the most remote and unconnected quarters of the globe, and combining the casual observations of illiterate travellers and navigators, into a philosophical commentary on the history of law and manners“. Vgl. Stewart, Account, S. XLIX. 431 Hume, Untertitel des ‚Treatise‘. 432 Jacob W. Gruber hat diese Verschiebung als „shift from a definition of the nature of man to that of man in nature“ beschrieben. Eine Verschiebung also von der Ethik zur Anthropologie, die durch vorliegende Studie um die Dimension der Historisierung der Natur und damit auch um die des Menschen zu erweitern gilt. Vgl. Ders., Introduction, in: T. H. H. Thoresen (Hg.): Toward a Science of Man. Essays in the History of Anthropology. The Hague / Paris 1975, S. 1–13, hier S. 10.

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perativs zur Empirie vollzog sich der Erkenntnisvorgang im methodischen Abgleich von Deduktion und Induktion.433 Die Naturgesetze, denen der Mensch unterworfen war, wurden hypothetisch entwickelt, ein Vorgang wie ihn die Astronomie und Physik erprobt hatte. Durch das empirisch erhobene Datenmaterial galt es, Hypothesen als zutreffend oder unzutreffend zu erweisen.434 Der entscheidende Schritt in der Etablierung der neuen Wissenschaft bestand darin, vom Ideal der Wahrheit philosophischer Urteile a priori zum Desiderat der Wahrscheinlichkeit analytischer Urteile a posteriori in der ‚Science of Man‘ überzugehen. Von besonderem Interesse waren – vor dem Hintergrund der zu bestimmenden Regelhaftigkeiten – die natürlichen Differenzen innerhalb der Gattung ‚Mensch‘, wie Geschlechter, Lebensalter, Temperamente, Charaktere, Hautfarben. Während sich im deutschsprachigen Raum seit dem 17. Jahrhundert für diese Forschungsdisziplin die Bezeichnung ‚Anthropologie‘ einbürgerte und diese sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts auf den Aspekt der physiologischen Untersuchung verengte, firmieren die englischen Arbeiten analog zu naturphilosophischen Betrachtungen als ‚Natural Histories‘.435 Deutlich tritt in der Übernahme des Begriffs ‚historia‘ als Synonym für Empirie das methodische Credo dieser Werke zutage, welches sowohl die physiologische als auch die moralisch-geistige Dimension bei der Erfassung des Menschen beinhaltete. Als typisches Beispiel des Versuchs zu einer solch umfassenden ‚Natural History of Man‘ können David Hartleys (1705–1757) Observations on Man, His Frame, His Duty, and his Expectations: Containing Observations on the Frame of the Human Body and Mind, and on Their Mutual Connexions and Influences (1749) gelten.436 Hartley hatte Ende der 1720er Jahre in Cambridge studiert 433

„[...] [T]he idea that the eighteenth century was totally empiricist and sensist is only one of the many historiographical fables which are perpetuated [...].“ Vgl. Moravia, The Enlightenment and the Science of Man, S. 248. 434 „To collect a multiplicity of particulars under general heads, and to refer a variety of operations to their common principle, is the object of science.“ Vgl. Ferguson, Essay, S. 31. 435 Durch das neuere Interesse an den Grundlagen der entstehenden ‚Anthropologie‘ wurde auch die englisch-schottische Tradition unter dieser disziplinären Matrix betrachtet. Vgl. Robert Wokler, Anthropology and Conjectural History in the Enlightenment, in: Fox / Porter / Wolker (Hg.): Inventing Human Science, S. 31–52. Dabei wird allerdings außer Acht gelassen, dass dieser Terminus, im Gegensatz zu französischen und deutschen Texten des 18. Jahrhunderts, nicht als zeitgenössische Bezeichnung für die ‚Natural Histories‘ fungiert. Der Zugang bleibt damit ebenso problematisch, wie die vorhergehende Suche nach den Ursprüngen der ‚Soziologie‘. Vgl. ebd., S. 47. Ertragreicher scheint deshalb die Untersuchung der Verschiebung des Konzepts von ‚Natural History‘ im ausgehenden 18. Jahrhundert. Vgl. Phillip Sloan, The Gaze of Natural History, in: Fox / Porter / Wokler (Hg.): Inventing Human Science, S. 112–151, hier S. 114ff. Den Versuch zu einer differenzierten Deutung des Anthropologiekonzepts in der schottischen Aufklärung unternimmt Aaron Garrett, Anthropology: the ‚original‘ of human nature, in: Broadie (Hg.): The Cambridge Companion to the Scottish Enlightenment, S. 79–93, hier S. 79. 436 Hartleys Religiosität und sein Umgang mit materialistischen Theorien ermöglichten seinem Buch eine breite Rezeption, vor allem unter englischen Autoren, wie Joseph Priestley oder Erasmus Darwin. Trotz der unterschiedlichen Persönlichkeiten von David Hartley und David Hume hat Roy Porter die erstaunliche Konvergenz ihrer philosophischen Thesen hervorgeho-

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und wurde dort mit Lockes Assoziationslehre und Newtons physikalischen Theoremen vertraut. Beide verwob er zu einer physiologischen Theorie, die durch eine ‚Doctrine of Vibrations‘ Geist und Körper zueinander in Verbindung setze. Diese komplexe, zukunftsträchtige Hypothese ermöglichte es ihm, in enger Synthese mit der christlichen Morallehre eine positive Grunddisposition für den Menschen zu entwerfen,437 die darüber hinaus optimistische Jenseitsvorstellungen zuließ.438 Die Zukunft der Menschheit lag für Hartley nicht in einem offenen historischen Raum, sondern im „future state“ der göttlichen Vorsehung.439 Neben der merkwürdigen Vermischung von naturwissenschaftlicher Analyse und theologischem Überbau eignet sich Hartleys Untersuchung als klar definiertes Beispiel einer ‚Natural History of Man‘, da dort, in ethischer Absicht, ausschließlich das Individuum unter Aspekten von Körper, Geist, Moral und Entwicklung, von der Geburt bis nach dem Tod, betrachtet wurde.440 Die Charakterisierung der Entwicklung des Individuums erfolgte entlang eines Lebensaltermodells. Dieser darstellerische Grundzug prägte noch einen späten Beitrag zur schottischen ‚Natural History of Mankind‘: James Dunbars Essay on the History of Mankind in Rude and Cultivated Ages (1781), in dessen Anlage sich die Herkunft des Autors aus der moralphilosophischen Schule des Aberdeener ‚common sense‘ offenbart.441 Mit John Gregory (1724–1773) hatte zunächst ein älteres Mitglied der ‚Aberdeen Philosophical Society‘ eine bahnbrechende Studie zur naturhaften Konstitution des Menschen vorgelegt: A Comparative View on the State and Faculties of Man with those of the Animal World (1765). Der Freund von Hume, Kames und Monboddo hatte mit diesem Werk ein klassisches Exempel der ‚Natural History of Man‘ verfasst, dessen wissenschaftlicher Anspruch analog zur Naturphilosophie verlief, indem der Mensch in seinen natürlichen Zusammenhang eingebettet und mit der Tierwelt verglichen wurde.442 Neben anthropologischen Daten wurden ben. Vgl. Ders., The Creation of the Modern World, S. 179. „I do most firmly believe, upon the Authority of the Scriptures.“ Vgl. David Hartley, Observations on Man, His Frame, His Duty, and his Expectations: Containing Observations on the Frame of the Human Body and Mind, and on Their Mutual Connexions and Influences. Bd. 1. London 1749, S. VIII. 437 Hartley, Observations on Man, Bd. 1, S. 81. 438 Ebd., Bd. 2, S. 382ff. 439 Ebd., S. 383. 440 „Hartley’s chief aim, like that of most of his contemporaries, was ethical, and he discusses in a very interesting way the gradual development of pure benevolence from the simpler passions.“ Vgl. Dictionary of National Biography. Bd. 9. London 1917, S. 66–68. 441 Dunbars Arbeit ist im Kontext anderer Arbeiten von Mitgliedern der ‚Aberdeen Philosophical Society‘ zu interpretieren, wie etwa Alexander Gerards Essay on Genius (1774) oder Thomas Reids Inquiry into Human Mind (1764). Vgl. Berry, Introduction, in: Dunbar, Essay, S. X. Thomas Preston Peardon gruppiert in einer älteren Arbeit Dunbar als ‚conjectural historian‘ zu Hume, Ferguson und Millar. Vgl. Ders., The Transition in English Historical Writing 1760– 1830. New York 1933, S. 52. 442 Gregory hatte sich unter dem Einfluss seines Cousins, Thomas Reid, neben seinem Medizinstudium auch zunehmend mit Fragen der Moralphilosophie befasst. Vgl. Dictionary of National Biography. Bd. 8. London 1908, S. 545. James Dunbar war im Jahr des Erscheinens des Com-

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dabei auch gesellschaftliche Phänomene – wie Erziehung, Geschmack und Religion – verhandelt, doch stets im Hinblick auf die physiologisch-moralische Ausstattung des Einzelnen im Zusammenhang mit seiner Gattung.443 Dieser Vergleich der Spezies Mensch mit anderen Tiergattungen war, gerade im Vergleich zu Entwürfen wie etwa denen Hartleys revolutionär,444 und diente dazu, den Menschen als reines Naturwesen zu betrachten sowie die Spezifika des Humanen durch die Analyse der Sprach- und Vernunftbegabung herauszuarbeiten. Dennoch wurde in dieser Variante der älteren schottischen Anthropologie der Gattungsgeschichte des Menschen und damit der historischen Dimension der Menschheit keine Aufmerksamkeit geschenkt. Dunbar durchbrach dieses ältere Muster, insofern er drei Epochen in der Geschichte der menschlichen Spezies ausmachte, die er in einer Mischung aus psycho-physiologischen und historischen Betrachtungen bestimmte: erstens eine vorsprachliche, individualisierte Phase, zweitens eine sprachbestimmte, ungeordnete soziale Phase und drittens eine Phase der bürgerlich verfeinerten Gesellschaft.445 Dieser Dreischritt in der Gattungsgeschichte korrespondierte mit der Entwicklung des Individuums von der Emotionalität, über die Entstehung von Rationalität hin zur Ausbildung von Intellektualität. Aus dieser Analogie zwischen Individuum und Gattung leitete Dunbar die grundlegende These seiner Untersuchung ab: The progress of nations and of men, though not exact parallel, is found in several respects to correspond: and in the interval from infancy to manhood, we may remark this gradual opening of the human faculties.446

Die schrittweise Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten bewirkte nicht nur die stetige Wiederholung und damit die Gleichförmigkeit in der Gattung, sondern auch die Fähigkeit zur Vervollkommnung potenzierte sich im Verlauf der Generationen zu einem fortschreitenden Prozess der Menschheitsgeschichte. Durch diese Fähigkeit, die sich in Sprach-, Sozial- und Vernunftbegabung des Menschen äußerte, unterschied sich die Spezies Mensch maßgeblich von den Tieren. Gerade die Befähigung zur Sprache hatte auch die ältere Generation schottischer Aufklärer, wie

parative View in die ‚Aberdeen Philosophical Society‘ eingetreten und zu ihrem ‚Mitvorsitzenden‘ (joint-regent) geworden. Vgl. Berry, Introduction, S. IX. 443 John Gregory, A Comparative View of the State of Faculties of Man with those of the Animal World. London 1765, S. 202f. Das Verhältnis der ‚Natural History‘ Gregorys zum Projekt der ‚Science of Man‘ diskutiert Paul B. Wood, The Science of Man, in: N. Jardine / J. A. Secord / E. C. Spary (Hg.): Cultures of natural history. Cambridge 1996, S. 197–210, hier S. 198ff. 444 Hartley ließ keinen Zweifel an der Differenz zwischen Tier und Mensch sowie der Superiorität des Menschen aufkommen: „We may suppose then, that Brutes in general differ from, and are inferior to Man, in intellectual Capacities, […].“ Vgl. Hartley, Observations on Man, Bd. 1, S. 404ff. 445 Dunbar, Essays on the History of Mankind, S. 2f. 446 Ebd., S. 16.

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Monboddo447 und Kames,448 beschäftigt und sie zu ihren Theorien über die Verwandtschaft mit – beziehungsweise Unterschiedenheit von – den Tieren veranlasst. Adam Smith kombinierte die naturhafte Befähigung des Menschen zur Sprache mit dessen Vernunftbegabung und leitete daraus die spezifisch menschliche Fähigkeit zu abstraktem Denken ab, welches den Menschen erst in die Lage versetze, Wissen zu tradieren und damit die Entgrenzung der Erkenntnisse über Generationen zu befördern.449 Die verschiedenen Entwicklungsgrade von Gesellschaften führte Smith auf die unterschiedlichen gesellschaftlichen Voraussetzungen für die Notwendigkeit einer Abstrahierung der Sprache zurück und schloss daraus auf die divergierende Komplexität der jeweiligen Tradition.450 Dunbar übernahm fundamentale Grundsätze dieser Theorie. Das ursprüngliche Konzept der ‚Science of Man‘ in seiner theoretischen Begründung einer induktiv untermauerten Analyse der Antriebe menschlichen Handelns wurde um die Bedingungen dieses Handelns erweitert. Diese äußeren Bedingungen waren jedoch nicht, was die kritische Auseinandersetzung mit Klimatheorien zeigt, in der Naturumwelt zu suchen, als vielmehr in der Tiefenstruktur der Gattung Mensch selbst. Hume grenzte sich von Entwürfen wie Hartleys ab, indem er eine epistemologisch abgesicherte ‚Science of Man‘ als anthropologische Grundlegung aller anderen Wissenschaften verstanden wissen wollte. Die Geschichte der Menschheit interessierte ihn nur insofern, als durch ihren Datenfundus der empirische Anspruch eingelöst werden konnte. Humes akademische Kombattanten entsprachen dem Bestreben nach einer induktiv verfahrenden ‚Science of Man‘, indem sie historische Zeugnisse und Reiseberichte zur Untermauerung ihrer hypothetischen Annahmen über den Menschen heranzogen.451 Dabei rückten sie zunehmend von der stark axiomatischen Prägung der anthropologischen Thesen zur Verwissenschaftlichung der Moralphilosophie ab. Die Perspektive auf die Entwicklung der Gattung, die ‚Natural History of Mankind‘, hielt – über die menschliche Antriebsstruktur hinaus – Schlüssel für die Analyse des Zivilisations447

„This inquiry becomes the more interesting, as well as of greater curiosity, when we consider, that it leads us back to what may be called the origin of the human race; since without the use of reason and speech we have no pretensions to humanity, nor can we with any propriety be called men; but must be contented to rank with other animals here below, over whom we presume so much superiority, and exercise dominion chiefly by means of the advantages that the use of language gives us.“ Vgl. Monboddo, Of the Origin and Progress, Bd. 1, S. 1f. 448 Kames, Sketches, Bd. 1, S. 5. 449 Adam Smith, Considerations Concerning the First Formation of the Languages, and the Different Genius of original and compounded Languages, in: The Early Writings of Adam Smith, hg. v. J. R. Lindgren. New York 1967, S. 225–251, hier S. 229f. 450 Vgl. Nicholas Phillipson, Language, Sociability, and History: Some Refelections on the Foundations of Adam Smith’s Science of Man, in: S. Collini / R. Whatmore / B. Young (Hg.): Economy, Polity and Society. British Intellectual History 1750–1950. Cambridge 2000, S. 70– 84, hier S. 78. 451 Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass Adam Smith Bedenken gegen Humes methodische Ausarbeitung der ‚Science of Man‘ hegte. Vgl. Phillipson, Language, Sociability, and History, S. 74.

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prozesses und seiner erklärungsbedürftigen Unterschiede bereit. Adam Ferguson hatte sein Essay on the History of Civil Society (1767) als Kompendium der Charakteristika in der Natur des Menschen angelegt, wobei sich diese, seiner Ansicht nach, erst aus Regelhaftigkeiten in der fortschreitenden Gattung erschlössen: This progress in the case of man is continued to a greater extent than in that of any other animal. Not only the individual advances from infancy to manhood, but the species itself from rudeness to civilization.452

Ferguson machte im Unterschied zu Hume hiermit seine Auffassung deutlich, dass sich die Fragen nach der Natur des Menschen nicht aus beliebigen Beispielen der Geschichte ableiten ließen, sondern nur aus der systematisch vergleichenden Rückschau in den gesamten Zivilisationsprozess: „If the question be put, What the mind of man could perform, when let to itself, and without the aid of any foreign direction? we are to look for our answer in the history of mankind.“453 Ferguson folgte den Maximen der ‚Science of Man‘ insofern, als er ein Konzept zur Naturalisierung der animalisch-intellektuellen Doppelnatur des Menschen vorlegte und bei seiner Analyse die anthropologischen Prämissen der Uniformität und Perfektibilität des menschlichen Wesens heranzog.454 Das Ziel seiner Untersuchung bestand darin, allgemeingültige Gesetze über die Natur des Menschen aufzustellen. Dieses Programm wurde von Ferguson jedoch um einen maßgeblichen Aspekt erweitert, da er als seinen Untersuchungsgegenstand nicht ‚den Menschen‘, sondern ‚die Menschheit‘ wählte: Mankind are to be taken in groups, as they have always subsisted. The history of the individual is but a detail of the sentiments and the thoughts he has entertained in the view of his species; and every experiment relative to this subject should be made with entire societies not with single men.455

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Ferguson, Essay, S. 7. „Particular experiments which have been found so useful in establishing the principles of other sciences, could probably on this subject, teach us nothing important, or new: we are to take the history from every active being from his conduct in the situation to which he is formed, not from his appearance in any forced or uncommon condition; a wild man therefore caught in the woods, where he had always lived apart from his species, is a singular instance, not a specimen of any general character.“ Vgl. Ferguson, Essay, S. 9. Mit dieser Bemerkung stellte sich Ferguson gegen die Vorgehensweise einiger Kollegen, etwa Monboddos, am Beispiel ‚wilder Menschen‘ einen quasi vorzivilisatorischen Urzustand der Menschheit auffinden zu können. Zum Phänomen der ‚wilden Menschen‘ im 18. Jahrhundert vgl. Julia V. Douthwaite, The Wild Girl, Natural Man, and the Monster. Dangerous Experiments in the Age of the Enlightenment. Chicago / London 2002. 454 „[...] [T]race every mode of being to its source; it may be safely affirmed, that the character of man, as he now exists, that the laws of this animal and intellectual system, on which his happiness now depends, deserve our principal study […].“ Vgl. Ferguson, Essay, S. 8f. Mit ‚animal and intellectual system‘ wird die bis dahin apostrophierte Körper-Seele-Dichotomie durch die Trieb-Vernunft-gesteuerte Doppelnatur ersetzt, wobei die Vernunft nicht als göttliche Gabe, sondern als physische Fähigkeit definiert wird. Vgl. dazu Hume, Enquiry, S. 66. 455 Ferguson, Essay, S. 10.

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Denn nur indem man das System der Dinge erkenne und die verschiedenen Ausprägungen des menschlichen Daseins betrachte, sei es möglich, der Prinzipien in der Natur des menschlichen Wesens gewahr zu werden.456 Der Umstand, dass Ferguson die ‚Gesellschaft‘ in den Mittelpunkt seiner Betrachtung rückte, hat Anlass gegeben, ihm eine bedeutende Rolle für die Entstehung der ‚Soziologie‘ einzuräumen.457 Fraglos hat erst die Objektivierung der Gesellschaft eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihren verschiedenen Formen und Bedingungen befördert, wobei nicht außer Acht gelassen werden darf, dass darin nicht das eigentliche Erkenntnisinteresse Fergusons lag. Fergusons Untersuchung galt zunächst der wissenschaftlichen Untermauerung der Moralphilosophie, um dadurch Leitlinien für seine praktische Philosophie ableiten zu können.458 Eine zunehmende Erkenntnis über die eigene Spezies gewähre dem Menschen folglich Einblick in die Gesetze seiner Natur und eröffne ihm die Möglichkeit zur freien Gestaltung seiner Umwelt. Analog zur Naturphilosophie, die durch die Erforschung der Gesetze der Natur den Weg zu ihrer Beherrschung ebnen sollte, ging für Ferguson mit der Erforschung der Gesetze der Natur des Menschen seine Befreiung von äußeren Zwängen und die Möglichkeit zur Selbstbestimmung einher: „And it may be said of mankind in general, that the extension of knowledge is an accession of power.“459 Mit dieser Option auf einen offenen Entwicklungs- und Gestaltungsraum für die Menschheit in der Zukunft verband sich bei Ferguson eine Erweiterung des älteren Konzeptes der ‚Natural History‘ – als Propädeutik anthropologischer Daten für die Moralphilosophie – durch das der ‚Civil History‘.460 Die Ambivalenz seines Ansatzes spiegelt sich in der Zweiteilung des Essay wider, der im ersten Teil dem Ideal einer theoriegeleiteten, induktiven Methode entsprach und in dessen zweitem Teil Ferguson durch seine genetische Vorgehensweise eine narrative Struktur in pragmatischer Absicht erwirkte. Fergusons Versuch einer ‚Civil History‘ darf daher nicht ausschließlich als „humanistisches Experiment“ zur Vermittlung seiner Auf-

456

„There is also much to be learned from the system of things, in the midst of which mankind are placed, and from the varieties of aspect under which the species has appeared under different ages and nations.“ Vgl. Ferguson, Principles, Bd. 1, S. 6. 457 Vgl. John D. Brewer, Conjectural History, Sociology and Social Change in Eighteenth Century Scotland: Adam Ferguson and the Division of Labour, in: D. McCrone / S. Kendrick / P. Straw (Hg.): The Making of Scotland. Nation, Culture and Social Change. Edinburgh 1989, S. 13–30, hier S. 26. 458 Herta Jogland weist auf die Bedeutungszunahme von ‚morals‘ gegenüber ‚ethics‘ in der schottischen Philosophie hin, wobei der subjektiv- und objektivethische Bedeutungsgehalt von ‚Moral‘ im englischen Verständnis stärker erhalten geblieben sei als im deutschen. Vgl. Dies, Ursprünge und Grundlagen, S. 42. 459 Ferguson, Principles, Bd. 1, S. 2. 460 Interessante Überlegungen zur doppelten Konnotation des Geschichtsverständnisses bei Ferguson, als Weiterentwicklung dieses dualen Gebrauchs bei Bacon, entwickelt David Kettler, History and Theory in Ferguson’s Essay on the History of Civil Society, in: Political Theory 5 (1977), S. 437–460, hier S. 455.

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fassung der „civic vitues“ begriffen,461 sondern muss als Manifest des immer stärker werdenden Einflusses eines spezifisch historischen Denkens innerhalb der schottischen Aufklärung interpretiert werden. Der Essay on the History of Civil Society markiert innerhalb des Gesamtwerkes von Ferguson einen Wendepunkt, in dem sich seine größer werdende Distanz zur reinen Moralphilosophie und sein stärker werdendes Interesse an einer philosophisch betriebenen Geschichte als unabdingbare Grundlage seiner Anthropologie zeigt. Die Beschreibung historischer Prozesse selbst erlangte dabei in Form von Modellstudien der Menschheitsgeschichte zunehmend an Bedeutung. Fergusons History of the Progress and Termination of the Roman Republic (1783), deren Untersuchung er selbst als sein Hauptwerk ansah, ist das Produkt dieser Entwicklung.462 Am Beispiel Fergusons lassen sich sowohl der veränderte Gegenstand als auch der neue Adressat der Moralphilosophie zeigen. Unter den Auspizien einer empirisch verfahrenden Wissenschaft war es nicht mehr das Individuum, dem das Erkenntnisinteresse der praktischen Philosophie galt, sondern die gesamte Gattung und ihre Geschichte. ‚Menschheit‘ wurde damit zum Adressaten und Zielbegriff einer zu verbreitenden ‚humanitas‘ als höchster Ausbildung der Anlagen des Menschseins im Gattungsfortschritt. Von entscheidender Bedeutung war dabei für die Rolle der Geschichte als Hilfswissenschaft der Moralphilosophie, ob sie einer handlungsorientierten oder einer zielorientierten Variante der praktischen Philosophie zu Grunde lag.463 Humes Beschäftigung mit Geschichte war der ersten Variante verpflichtet und zeigte ihren normativen Gehalt in der Dekonstruktion historischer Gegebenheiten und gleichzeitig den Versuch einer wissenschaftlich fundierten Implementierung von Gesetzen, Regeln und Prinzipien. Diente die Geschichte, wie in Fergusons Essay, als Grundlage einer zielorientierten praktischen Philosophie, lässt sich eine Verschiebung des Telos beobachten: weg von den Handlungsmaximen hin zum historischen Prozess selbst. Die Zielvorstellung bestand nicht, wie noch bei Hartley, aus dem Abgleich eines weltlichen mit einem göttlichen Moralkodex, sondern die Grenzen der zeitlich erfassbaren Menschheit wurden zu Rahmenbedingungen einer historisch deduzierten, diesseitigen Moralphiloso461 462

In diesem Sinne Pocock, The Machiavellian Moment, S. 499f. Zunächst wurde The History of the Roman Republic positiv aufgenommen und hatte prägenden Einfluss, etwa auf Edward Gibbon und John Stuart Mill. Schon ein Jahr nach ihrem Erscheinen wurde das sechsbändige Werk ins Deutsche und Französische übertragen. Vgl. Adam Ferguson, Geschichte des Fortgangs und Untergangs der Römischen Republik, aus dem Englischen frey übersetzt und mit Anmerkungen und Zusätzen begleitet von Christian Daniel Beck. Leipzig 1784. Zu Beginn des 19. Jahrhundert mehrten sich jedoch auch kritische Stimmen. allen voran die Barthold Gottfried Niebuhrs, der auf die mangelnde Quellengrundlage von Fergusons Geschichte der Römischen Republik und ihre Neigung zu moralischen Urteilen verwies. Vgl. Ders., Vorträge über alte Geschichte, an der Universität Bonn gehalten, hg. v. M. Niebuhr. Bd. 1. Berlin 1847, S. 54. 463 Zu dieser Unterscheidung vgl. Onova O’Neill, Art. ‚Practical Reasons and Ethics‘, in: E. Craig (Hg.): Routledge Encyclopedia of Philosophy. London / New York 1998, S. 613–620, hier S. 614.

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phie.464 Was den lebensweltlich ausgerichteten, anwendungsbezogenen und kausal erklärenden Aspekt dieser historisch argumentierenden Ethik anbelangt, erscheint es angemessen, von der Ausbildung einer ‚pragmatischen Geschichtsschreibung‘ zu sprechen.465 Das Spektrum der Varianten der ‚Natural History‘ in der schottischen Aufklärung eröffnet sich über die unterschiedliche Bestimmung des Verhältnisses von moralphilosophischem Erkenntnisinteresse, philosophischer Hypothesenbildung und historischer Grundlegung. Während Humes Projekt der ‚Science of Man‘ die philosophischen Hypothesen für eine erneuerte Erkenntnistheorie in den Vordergrund rückte, lässt sich in Fergusons Werk eine Entwicklung von der moralphilosophischen Fragestellung hin zu geschichtstheoretischen Versuchen feststellen. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang auch Lord Kames’ Schriften, in denen der pragmatische Anspruch der ‚Natural History of Mankind‘ dadurch wirksam wird, dass er die Dekonstruktion historischer Gegebenheiten dazu nutzt, die Geschichte als offenen Gestaltungsraum auszuweisen.466 Für Kames als Juristen galt dieses historische Interesse zuvorderst dem Rechtssystem: Law in particular becomes then only a rational study, when it is traced historically, from its first rudiments among savages, through successive changes, to its highest improvements in a civilized society.467

Durch seine Studien vermochte Kames, das Feudalsystem als korrigierbares Phänomen der Geschichte und das Privateigentum als wünschenswerte Grundlage einer modernen zukünftigen Gesellschaft zu charakterisieren.468 Im Gegensatz zu Ferguson billigte Kames dabei zu, dass ihn diese Rekonstruktionsarbeit zuweilen vom Feld der mangelnden gesicherten Daten auf das der vorsichtigen Mutmaßungen führe:

464

Eine spezielle Untersuchung zur Ethik als Grundlage einer lebenspraktisch orientierten Identitätsbildung unternimmt Sebastian Bott, ‚Friends and lovers of virtue‘, Tugendethische Handlungsorientierungen im Kontext der schottischen Aufklärung, 1750–1800. Frankfurt/M. u.a. 1999, S. 238ff. 465 Der Terminus ‚pragmatic‘ wird im englischen Sprachraum erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gebräuchlich. Vgl. Kühne-Bertram, Aspekte der Geschichte und der Bedeutung des Begriffs ‚Pragmatisch‘, S. 159. Unter der Bezeichnung ‚Pragmatics‘ hat im Englischen die traditionelle Sprachtheorie Eingang in die Philosophie gefunden. Vgl. François Recanati, Art. ‚Pragmatics‘, in: Craig (Hg.): Routledge Encyclopedia of Philosophy, S. 620–633, hier S. 620. 466 Vgl. George W. Stocking, Lord Kames’ Philosophical View of Civilization, in: Thoresen (Hg.): Toward a Science of Man, S. 65–89, hier S. 78. 467 Henry Home / Lord Kames, Historical Law-Tracts. Bd. 1. Edinburgh / London 1758, S. V. 468 Kames, Historical Law-Tracts, Bd. 1, S. VII. Ian Simpson Ross schreibt dazu, dass „die Sensibilität für die Geschichtlichkeit des Rechts die Evaluation seiner Rationalität zu jedem bestimmten Zeitpunkt ermöglicht und dass die Unvollkommenheiten des Rechts erst im Lichte des Verständnisses ihrer historsichen Entstehung eine adäquate Korrektur erfahren können.“ Vgl. Ders., Rechtsphilosophie, in: Holzhey (Hg.): Grundriss der Geschichte der Philosophie, S. 525–542, hier S. 538.

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In tracing the history of law through in dark ages unprovided with records, or so slenderly provided, as not to afford any regular historical chain, we must endeavour, the best way we can, to supply the broken links, by hints from poets and historians, by collateral facts, and by cautious conjectures drawn from the nature of the government, of the people, and of the times. If we use all the light that is afforded, and if the conjectural facts correspond with the few facts that are distinctly vouched, and join all in one regular chain, nothing further can be expected from human endeavours. The evidence is compleat [sic!], so far at least as to afford conviction, if it be the best of the kind.469

Die historische Konstruktion beanspruchte für Kames insoweit Richtigkeit, als sie an ihrer Überzeugungsfähigkeit gemessen werden konnte und jederzeit revisionsfähig war. Der methodische Garant für diese äußeren Unsicherheitsfaktoren im Einzelfall war die universelle Vergleichbarkeit mit entsprechenden Entwicklungen bei anderen Völkern qua der gleichbleibenden Natur des Menschen.470 Trotz der mancherorts beklagten Mängel seiner Schriften wurde Kames aufgrund seines Pragmatismus und seiner Betonung der Historizität gesellschaftlicher Phänomene zum Mentor der ‚Natural Historians of Mankind‘: „[...] [W]e must every one of us acknowledge Kames for our master“.471 Kames entging der Fragmentarisierung einzelner historischer Studien zu Sitten, Recht, Religion oder Geschlecht, indem er die Geschichte selbst zum Organisationsprinzip seiner wissenschaftlichen Untersuchungen machte.472 Selbst Robertson, der in scheinbarer Distanz zu den philosophisch-politischen Einlassungen der Arbeiten seiner Kollegen stand, lobte Kames für dessen vielgestaltiges und dennoch zielgerichtetes Werk: [...] [H]is knowledge of human nature is just and profound: his acquaintance with the history of mankind, and with the progress of society, is accurate and extensive. [...] The gradual advances of mankind towards perfection and refinement in the government are traced with great care; and the ideas naturally arising from thoses circumstances, which, in different ages, dictated laws, and regulated the opinions of judges, are observed with minute attention; and by such investigation, customs and institutions, which formerly appeared inexplicable, accidential, or capricious, are seen to be the natural effects of powerful causes.473

Vor dem Hintergrund dieser Charakterisierung nimmt es nicht weiter Wunder, dass Hume den teleologischen Erwägungen von Kames mehr als skeptisch gegenüberstand und sie als eine absonderliche Mixtur aus Metaphysik und schottischem

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Kames, Historical Law-Tracts, Bd. 1, S. 36. „We must be satisfied with collecting the facts and circumstances as they may be gathered from the laws of the different countries: and if these put together make a regular system of causes and effects, we may rationally conclude, that the progress has been the same among all nations, in the capital circumstances at least; for accidents, or the singular nature of a people, or of a government, will always produce some pecularities.“ Vgl. ebd., Bd. 1, S. 37. 471 Adam Smith zitiert nach Alexander Fraser Tytler, Memoirs, Bd. 1, S. 160. 472 Auf diesem Wege meinte Kames das vielgerügte Defizit des von ihm bewunderten L’esprit des lois Montesquieus ausgeräumt zu haben. Vgl. Stein, Law and Society, S. 157. 473 William Robertson, Review of Henry Home, Lord Kames, Historical Law-Tracts, in: Critical Review 7 (1759), S. 356–367, in: Ders., Miscellaneous Works, S. 95–114, hier S. 98.

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Recht abqualifizierte.474 Der von Hume selbst vorgezeichnete methodische Weg der ‚Science of Man‘ war mit dieser Art von Menschheitsgeschichte endgültig verlassen worden. Besonders die Arbeiten von Adam Smith und seines Schülers John Millar stehen in der von Kames maßgeblich beeinflussten Tradition einer vergleichenden Rechtsund Sittengeschichte in pragmatischer Absicht. Der politische Impetus ist bei beiden Autoren unübersehbar, ebenso wie der damit verbundene erzieherische Geist: The following Inquiry is intended to illustrate the natural history of mankind in several important articles. This is attempted, by pointing out the more obvious and common improvements which gradually arise in the state of society, and by showing the influence of these upon the manners, the laws, and the government of a people.

Millar umriss mit diesen programmatischen Präliminarien das Unternehmen seiner ‚Natural History of Mankind‘, nämlich die Erklärung der differierenden Zivilisationsgrade und ihrer Parameter in Sitten, Gesetzen und Regierungsformen durch die Entwicklungsstufen der Gesellschaft selbst. Die Untersuchung der menschlichen Antriebe war nur noch insofern von Bedeutung, als sie grundlegende Daten der gesamtgesellschaftlichen Äußerungsformen, wie etwa Selbsterhaltungsweisen, lieferten. Im Zentrum des Interesses standen nunmehr die im eigentlichen Sinne historischen Zusammenhänge, die – verdichtet zu einer komplexen Geschichtstheorie – Rückschlüsse auf die Widerstände und Maßnahmen zur Beförderung der Gesellschaft zuließen. Die Entschlüsselung der Gesetze der menschlichen Natur wurde nun auf verallgemeinerbare Regelmäßigkeiten in der Zivilisationsgeschichte übertragen. Dennoch erscheint es problematisch, die schottischen ‚Natural Histories‘ als Entwürfe zur entstehenden Geschichtsphilosophie qualifizieren zu wollen.475 Im Vordergrund stand das Bemühen um eine Theorie der Zivilisationsgeschichte, eingedenk ihrer Rückschläge basierend auf universell ermittelten anthropologischen Daten, als Grundlage eines gesamtgesellschaftlichen, emanzipatorischen Projekts. Trotz der Disparität der verschiedenen Entwürfe war durch die ‚Natural History of Mankind‘ – aufgrund ihrer gemeinsamen theoretischen Vorgaben und Methoden – in der schottischen Aufklärung eine anschlussfähige Systemtheorie der Menschheit vorgelegt worden.

474

„I am afraid of Kames’ Law Tracts, A man might as well think of making a fine sauce by a mixture of wormwood and aloes, as an agreeable composition by joining metaphysics and Scottish law. However, the book, I believe, has merit; though few people will take the pains of enquiring into it.“ Vgl. Hume to Adam Smith 1759, in: Letters of David Hume, Bd. 1, S. 304. 475 Wie etwa Medick, Naturzustand und Naturgeschichte, S. 24. Oder auch Jäger, Rüsen, Geschichte des Historismus, S. 12.

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4.

Der schottische Impuls

4.1.

Die Rezeption der schottischen Werke

4.1.1. Zur Wahrnehmung englischsprachiger Literatur in der deutschen Aufklärung Im Gegensatz zum langandauernden Einfluss der französischen Literatur im deutschen Sprachraum während der Frühen Neuzeit nimmt die Wahrnehmung englischsprachiger Werke erst mit dem ausgehenden 17. Jahrhundert ein erwähnenswertes Quantum an.1 Zu einem etablierten Sektor innerhalb des Buchmarktes werden englische Werke erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ausweislich der Buchmessekataloge. Dabei muss unterschieden werden zwischen reinen Übertragungen ins Deutsche, englischen Originaltiteln und schließlich Schriften, die als lateinische und französische Übersetzungen der englischen Originale die deutschen Leser erreichten. In diesem Zusammenhang bildeten die englischen Werke noch eine wichtige Untergruppe, die als deutsche Weiterübersetzungen ihrer jeweiligen französischen Fassungen auf den Buchmarkt gelangten.2 Während Übersetzungen ins Französische aufgrund der sich erst langsam durchsetzenden Englischkenntnisse in der akademischen Öffentlichkeit oft den Vorzug fanden, waren lateinische Übertragungen bald nur noch Marginalerscheinungen. Die mangelnden Englischkenntnisse der gebildeten Bevölkerung mögen auch erklären, wieso Neueditionen von Originaltexten nicht den maßgebenden Weg der Verbreitung englischer Schriften darstellten.3 Nur als Exemplare für Bibliophile spielten autorisierte

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Vgl. zum buchgeschichtlichen Hintergrund der Rezeption englischsprachiger Literatur in Deutschland die Anthologie der vielfältigen Arbeiten von Bernhard Fabian. Ich beziehe mich vor allem auf: Ders., English Books and Their Eighteenth-Century German Readers, in: Ders., Selecta Anglicana. Buchgeschichtliche Studien zur Aufnahme der englischsprachigen Literatur in Deutschland im 18. Jahrhundert. Wiesbaden 1994, S. 11–94, hier S. 11. Etwa Adam Smiths Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of the Nations (1776), über die Recherches sur la nature et les causes de la richesse des nations, Traduites de L’anglois sur la 4e édition par M. Roucher et suivies d’un volume de notes par M. le Marquis de Condorcet (4 Bde. Paris 1790/91), hin zu der Untersuchung der Natur und Ursachen von Nationalreichthümern, aus dem Englischen von Johann Friedrich Schiller (3 Bde. Leipzig 1792). Vgl. dazu Wilhelm Graeber / Geneviève Roche, Englische Literatur des 17. und 18. Jahrhundert in französischer Übersetzung und deutscher Weiterübersetzung. Eine kommentierte Bibliographie, hg. v. J. von Stackelberg. Tübingen 1988, S. 113. Bernhard Fabian konstatiert, „daß der Kreis derer, die Englisch konnten, eine Elite war, eine Minderheit auch unter den Gelehrten und Gebildeten“. Vgl. Ders., Englisch als Fremdsprache

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Neufassungen der Originale eine besondere Rolle, wie etwa Johann Heinrich Mercks4 Ossian-Publikation oder Abdrucke von Textauszügen in Periodika, die sich jedoch bereits an Kenner und Liebhaber der englischen Literatur richteten. Als beispielhafte Zeitschriften für den englisch-deutschen Kulturtransfer können die von Karl Wilhelm Müller herausgegebene Brittische Bibliothek (1757–1767)5 und Johann Joachim Eschenburgs Brittisches Museum für die Deutschen (1777– 1780)6 gelten. Eschenburg vertrat mit seiner Zeitschrift einen nahezu bibliographischen Anspruch für die umfassende Kenntnis des literarischen Lebens auf den britischen Inseln. Neben Berühmtheiten wie Hume und Robertson druckte und kommentierte er auch weniger bekannte Autoren, etwa Gilbert Stuart und William Russell. Im Falle von Gilbert Stuarts Beitrag zur Menschheitshistorie, View of Society in Europe, in its Progress from Rudeness to Refinement (1778), fiel die Rezension – in befreiender Unkenntnis der personalen Verstrickungen – sogar sehr viel positiver aus, als die zeitgenössische Reaktion in Schottland.7 Darüber hinaus

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des 18. Jahrhunderts, in: D. Kimpel (Hg.): Mehrsprachigkeit in der deutschen Aufklärung. Hamburg 1985, S. 178–196, hier S. 191. Johann Heinrich Merck (1741–1791) hatte schon als Student mehrere Texte aus dem Englischen übertragen; darunter hervorzuheben: Franz Hutchesons Untersuchungen unserer Begriffe von Schönheit und Tugend in zwo Abhandlungen. Frankfurt / Leipzig 1762, hg. u. eingel. v. H. F. Klemme. (Reprint) Bristol 2001. „Die Verfasser dieser Schrift wollen von englischen Büchern, die sie selbst gelesen haben, ohne sich auf die neuesten einzuschränken, umständlich Auszüge und Beurtheilungen machen.“ Vgl. Vorbericht, in: Brittische Bibliothek 1 (1757), [unpag.]. Neben übersetzten Auszügen aus Hutchesons System of Moral Philosophy (1755) und Kames Elements of Critcism (1762) wurden auch Textteile von Adam Smiths Theory of Moral Sentiments (1759) auf Deutsch abgedruckt. Vgl. Adam Smith, Von der Sympathie. Aus Smith’s Theory of Moral Sentiments übersetzt, in: Brittische Bibliothek 6 (1767), S. 291–315. Eschenburg (1743–1820) war ‚Professor der schönen Litteratur und der Philosophie‘ am Collegium Carolinum in Braunschweig. Sein akademischer Ruf gründete sich auf seine wenig künstlerischen, doch soliden Shakespeare-Übersetzungen, aber auch auf die Übertragung zeitgenössischer philosophischer Werke wie Joseph Priestleys Vorlesungen über die Redekunst und Kritik (1779). 1780 gründete Eschenburg die Annalen der Brittischen Litteratur, in denen ausschließlich Rezensionen abgedruckt wurden. Nach dem Tod Georg Forsters setzte er seit 1791 dessen Sammelrezensionen zur englischen Literatur in Johann Wilhelm von Archenholtzens (1743–1812) Annalen der Brittischen Geschichte (seit 1789) fort. Vgl. Johann Georg Meusel, Das Gelehrte Teutschland: oder Lexikon der jetzt lebenden teutschen Schriftsteller, Bd. 2. Lemgo 1796, S. 239–244. Herder räumte Eschenburg, neben Lessing und Christian Friedrich von Blankenburg (1744–1796), eine bedeutsame Rolle für die Verbreitung englischer Literatur in Deutschland ein. Vgl. Ders., Fragment 106, in: Sämmtliche Werke, hg. v. B. Suphan, Bd. 18, Berlin 1883, S. 131. Gilbert Stuart hatte sich, nachdem seine Hoffnungen auf einen Lehrstuhl in Edinburgh unerfüllt blieben, in extremen Gegensatz zum eingeführten Zirkel der schottischer literati begeben. Vgl. William Zachs, Introduction, in: Gilbert Stuart, A View of Society in Europe, In its Progress from Rudeness to Refinement, Edinburgh ²1792. (Reprint) Bristol 1995, S. V–XV, hier S. X. Eschenburg stellte Stuarts Arbeit hingegen ohne Umschweife neben die Montesquieus, Voltaires, Kames’ und Millars und lobte dessen „Aufsuchung mancher bisher vernachlässigter historischer Umstände“. Besondere Aufmerksamkeit zog Stuart wegen der besonderen Behandlung der ‚alten Deutschen‘ auf sich. Vgl. Ueber das gesellschaftliche Leben in Europa, in

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fanden sich in Eschenburgs Zeitschrift Auszüge der ‚Philosophical Transactions of the Royal Society‘ in London und es wurden alle neuen Übersetzungen englischer Bücher angezeigt. Ein etwas erweitertes Forum für die englische Literatur schufen Georg Christoph Lichtenberg und Georg Forster mit ihrem Göttingischen Magazin der Wissenschaften und Litteratur (1780–1782).8 Die Spezialisierung der genannten Zeitschriften markiert schon einen qualitativen Umbruch in der Wahrnehmung englischsprachiger Werke, der nunmehr – vergleichbar mit der französischsprachigen Literatur oder sogar in Ablösung von dieser – in Kommentaren, Rezensionen und Abdrucken in eigenen Fachorganen seinen Ausdruck fand. Der Umstand, dass die französische Sprache als Kommunikationsform des Adels diente, ließ mit zunehmender Kritik am Feudalwesen, welches gerade mit dem französischen Absolutismus identifiziert wurde, das Interesse daran schwinden, sich des Idioms der Höfe zu bedienen. In der Orientierung an Kultur und Sprache des Mutterlandes des Parlamentarismus, England, bestand damit – zumindest in den Jahrzehnten vor der französischen Revolution – die Möglichkeit, sich zu einer bürgerlich geprägten Politik- und Gesellschaftsform zu bekennen.9 Dementsprechend lässt sich auch eine Stagnation beziehungsweise ein Rückgang der Englandbegeisterung mit den gesellschaftspolitischen Veränderungen in Frankreich seit den 1790er Jahren feststellen.10 Herder brachte offen sein Bedauern über diesen Abbruch der Bezugnahme auf die englische Kultur nach der Französischen Revolution zum Ausdruck. Er verband dieses Datum mit dem Tod Georg Forsters, dessen Sammelrezensionen die deutschen Gebildeten mit der englischen Literatur vertraut gemacht hatten11 und der als einer der wenigen verbliebenen Anhänger der Revolution 1794 in Paris gestorben war:

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seinem Uebergange aus dem rohen in deren verfeinerten Zustand, von Dr. Gilbert Stuart, in: Brittisches Museum 3 (1778), S. 42–62, hier S. 43. Lichtenbergs und Forsters Unternehmen hatte einen deutlich umfassenderen Anspruch als das Eschenburgs und bezog gleichermaßen Neuerscheinungen der französischen Literatur mit ein. Ein Schwerpunkt bildete das gemeinsame Forschungsgebiet der ‚Naturgeschichte‘. Gleichzeitig diente die Zeitschrift als Forum für Originaltexte. Vgl. Anonymus, Über einige englische Dichter und ihre Werke, aus Johnson's Prefaces biographical and critical to the works of the english poets London 1781, in: Göttingisches Magazin der Wissenschaften und Litteratur 3 (1782), S. 62–100. Es ist darauf hingewiesen worden, dass die Hypostasierung der englischen Staatsform zum erstrebenswerten Modell weniger einer genauen Kenntnis der britischen Gesellschaftsverfassung als vielmehr dem Einsatz eines rhetorischen Gegenmodells zur französischen Staatsform geschuldet war. Vgl. Michael Maurer, Germany’s Image of Eighteenth-Century England, in: J. Canning / H. Wellenreuther (Hg.): Britain and Germany Compared: Nationality, Society and Nobility in the Eighteenth Century. Göttingen 2001, S. 15–36, hier S. 23ff. Vgl. Michael Maurer, Europäische Kulturbeziehungen im Zeitalter der Aufklärung. Französische und englische Wirkungen in Deutschland, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 15 (1991), S. 35–61, S. 37f. Vgl. Georg Forster, Geschichte der Englischen Literatur, in: Annalen der Brittischen Geschichte 1 (1790), S. 274–325, 3 (1790), S. 41–95, 5 (1791), S. 184–314, 7 (1793), S. 65–147, 9 (1794), S. 208–396.

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Auch mit Georg Forster wie viel ist uns in diesem Betracht gestorben! Ein böser Genius scheint sein Spiel zu haben, indem er (und wogegen?) den Faden zu zerreißen sucht, der uns mit den Gedanken anderer Nationen verknüpfet. Wir wollen auf unserem eigenen Grunde metaphysiciren, oder uns damit bemühen, womit sich andere längst bemühet haben.12

Trotz der sprunghaft ansteigenden Auseinandersetzung mit Land und Sprache13 hatte sich schließlich unter den verschiedenen Wahrnehmungsweisen die deutsche Übersetzung englischsprachiger Literatur als probateste Form der Rezeption durchgesetzt und ließ diese – spätestens seit dem Ende des Siebenjährigen Krieges14 – zu einem eigenständigen Segment auf dem deutschen Buchmarkt heranwachsen.15 In Zahlen ausgedrückt lässt sich diese Entwicklung wie folgt charakterisieren: Während in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts pro Jahr zumeist nur zehn bis zwanzig Titel englischer Autoren auf der Buchmesse in Leipzig verzeichnet wurden, steigerte sich die Rate vom Anfang der 1750er Jahre bis 1780 kontinuierlich auf nahezu hundert Titel.16 Die verschiedenen deutschen Verlage hatten dabei unterschiedliche Schwerpunkte, wobei den ‚wissenschaftlichen‘ Werken – anders als es die meist literaturgeschichtlich ausgerichteten Studien zu diesem Thema suggerieren – der maßgebliche Anteil zukam. Dieser umfasste in der Hauptsache medizinische Lehrbücher, aber auch philosophische Schriften, historische Werke und Reiseberichte.17 Als Christian Gottlob Heyne (1729–1812) 1763, neben seinen neuen Aufgaben als Professor der Poesie und Beredsamkeit sowie als Direktor des Philologischen Seminars, auch Bibliothekar an der Universität von Göttingen wurde, fand er bereits einen beachtlichen Bestand englischsprachiger Literatur vor, der vierteljähr12 13

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Herder, Fragment 106, in: Sämmtliche Werke, Bd. 18, S. 132. Hinter diesem Diktum ließe sich auch eine indirekte Kritik an Immanuel Kant vermuten. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts hatten sich professionelle Englischlehrer zumindest in Städten wie Hamburg, Braunschweig, Göttingen und Leipzig etabliert, die, ebenso wie Reisende, Unterricht in der englischen Sprache anboten. Vgl. Maurer, Germany’s Image, S. 20. Michael Maurer beschreibt den Siebenjährigen Krieg mit den Stimmen der Zeitgenossen als Epochenscheide, was die positive Wahrnehmung Englands auf dem Kontinent anbelangt. Vgl. ebd., S. 21. Der in London lebende deutsche Prediger Gebhard Friedrich August Wendeborn (1742–1811) sprach von einer „Uebersetzungswuth“: „[W]enn sogar deutsche Buchhändler, die Uebersetzungsfabriken halten, hier in England aufpassen lassen, damit sie englische Schriften, die noch erst herauskommen sollen, und davon hiesige Gelehrte oft selbst kaum etwas wissen, in den Meßkatalog setzen und eine Uebersetzung davon ankündigen lassen können, aus Furcht, es möchte ihnen jemand zuvorkommen.“ Vgl. Ders., Der Zustand des Staats, der Religion, der Gelehrsamkeit und der Kunst in Grosbritannien gegen das Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Bd. 4. Berlin 1788, S. 18. Vgl. die graphische Darstellung bei Fabian, English Books, S. 19. Laut Wendeborn wurden in den 1780er Jahren etwa 5000 Bücher jährlich in deutscher Sprache gedruckt, während auf den britischen Inseln nicht mehr als 600 pro Jahr erschienen. Vgl. Wendeborn, Der Zustand, S. 18f. „Finally, there is the travel book (as distinct from the geographical treatise). It appears to have been one of the most distinctive English contributions to eighteenth-century German reading. Apart from the continued success if the early stories of actual or fictitious adventures, the numerous accounts of voyages, above all the reports of Cooks discoveries, enjoyed an ever widening public.“ Vgl. Fabian, English Books, S. 65.

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lich durch neue Ankäufe aus London aufgestockt wurde. Zum Reformkonzept des Gründungskurators von Münchhausen und seinem Anspruch an die Göttinger Universität ‚Georgia Augusta‘, eine umfassende Bildungsinstitution darzustellen, gehörte eine umfangreiche und weltoffene Bibliothek, die „nicht nach Liebhaberey einzelner Fächer, nicht nach Prachtliebe, nicht nach dem Schein des Aeußerlichen, sondern nach Inbegriff und Umfassung der wichtigsten Schriften aller Zeilen und Volker (!) in allen Wissenschaften in einheimer und ausländischer Litteratur“ sortiert sein sollte.18 Entsprechend dieser Maxime wurden nicht nur berühmte wissenschaftliche Werke angeschafft, sondern auch alles, was zu einer umfassenden Bildung gehörte, wie ‚Nützliches‘, ‚Erbauliches‘ und ‚Unterhaltendes‘. Die Buchlieferungen aus England wurden durch die diplomatischen Beziehungen des Hauses Hannover gewährleistet und von einem ehemaligen Göttinger Studenten und späteren Bibliotheksassistenten des ‚British Museum‘ umgesetzt. Was die Anschaffungspolitik anbelangte, so war diese nicht systematisch, sondern eher pragmatisch ausgerichtet, da sie sich vorwiegend an Forschungskonjunkturen und Moden in Literatur und Wissenschaft orientierte.19 Im Lichte dieser Anschaffungspolitik ist festzuhalten, dass die schottischen Aufklärer eine besonders starke Präsenz in der Abteilung philosophischer Werke aufweisen. Nahezu lückenlos sind vor allem die Werke des klassischen ‚common sense‘ vertreten, wie etwa die von James Beattie. So war es auch die Göttinger Bibliothek, die kurz nach dem Erscheinen von Adam Smiths Wealth of the Nations ein Exemplar anschaffte und sich damit als einzige öffentliche Bibliothek der Zeit im Besitz der Erstausgabe dieses Werkes befand. Auch David Humes Werke wurden, trotz ihrer Umstrittenheit, direkt nach ihrem Erscheinen Buch für Buch für die Bibliothek erworben und deren deutsche und französische Übersetzungen.20 Die sonst schwer zu klärende Frage, ob und zu welchen Ausgaben deutsche Gelehrte Zugang zu englischen Werken hatten, liegt damit für die Göttinger Professoren etwas klarer als in anderen Fällen.21 Die Philosophieprofessoren Johann Georg Heinrich Feder und Christoph Meiners machten in der Vorrede zu der von ihnen gegründeten Zeitschrift Philosophische Bibliothek (seit 1788) deutlich, dass es sich dabei auch um ein Organ zur Bekanntmachung ausländischer philosophischer Schriften handeln solle: Ein Hauptbeweggrund dazu war, daß bey der Seltenheit solcher ausländischen philosophischen Schriften, die ganz übersetzt zu werden verdienten, dennoch in manchen derselben, und in sol18 19 20 21

Christian Gottlob Heyne [Vorbemerkung], in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 86 (1810), S. 849–855, hier S. 852. Vgl. ebd., S. 181. Vgl. ebd., S. 181f. „Given the reception of the works of the Scottish philosophers in the Göttingische Gelehrte Anzeigen, and given the close affiliation of the University of Göttingen, the ‚Georgia Augusta‘, with Britain, it is not surprising that the philosophers of Göttingen, Feder and Meiners, were closely acquainted with the Scottish common-sense philosophy.“ Vgl. Kühn, Scottish Common Sense, S. 70. Kühns Arbeit ist eine Pionierstudie zur Rezeption der schottischer ‚common sense‘-Philosophie in Deutschland.

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chen, die unter uns fast gar nicht in Umlauf kommen, einzelne Artikel so gut ausgeführt sind, daß sie wohl werth wären ausgehoben und mitgetheilt zu werden.22

Zu den solcherart ausgehobenen Schriften zählten die von Locke, Reid und Hume.23 Für die Rezeption Humes ist im Hinblick auf die Marburger Universitätsbibliothek festgestellt worden, dass obwohl seine Arbeiten bemerkenswert präsent waren,24 eine direkte Auseinandersetzung mit dem schottischen Philosophen aufgrund seines häretischen Odiums äußerst verhalten blieb.25 In dieser Hinsicht muss differenziert werden zwischen der Wahrnehmung von englischsprachigen Autoren im Allgemeinen und der Rezeption von britischer beziehungsweise schottischer Philosophie im Besonderen. 4.1.2. Schottische Philosophie als Orientierung in der deutschen Spätaufklärung Untersucht man die Wahrnehmung der anglo-schottischen Philosophie in der deutschen Gelehrtenwelt des 18. Jahrhunderts so lässt sich festhalten, dass deren Bedeutung für die Ausprägung der deutschen Aufklärungsphilosophie wohl kaum überschätzt werden kann.26 In thematischen und stilistischen Fragen erhielten die deutschen Gelehrten wichtige Impulse von den britischen Inseln, die eine Distanznahme von der Schulphilosophie – auch der Wolffischer Provenienz – beförderten. 22 23

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Vgl. Johann Georg Heinrich Feder, Vorrede, in: Philosophische Bibliothek 1 (1788), S. III– VII, hier S. IIIf. Johann Georg Feder, David Hume über die menschliche Natur aus dem Englischen, nebst kritischen Versuchen zur Beurtheilung dieses Werkes, von Ludwig Heinrich Jacob, Prof. der Philosophie in Halle, Halle 1790, in: Philosophische Bibliothek 4 (1791), S. 155–169. Mit Ludwig Heinrich von Jakobs (1759–1827) Publikation lag die erste konsistente Übersetzung des ‚Treatise‘ vor, wobei auch Jakob vehemente Eingriffe vornahm, indem er Textpassagen des ‚Treatise‘ durch Teile aus der ‚Enquiry‘ ersetzte. Vgl. Günter Gawlick / Lothar Kreimendahl, Hume in der deutschen Aufklärung. Umrisse einer Rezeptionsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, S. 17. Vgl. Brandt / Klemme, David Hume in Deutschland, S. 25. Vgl. die Bestätigung dieses Rufs in einer Literaturankündigung zu Humes posthum veröffentlichten Dialogues concerning Natural Religion (1779): „Nothwendig erregen diese Gespräche durch ihren Inhalt, durch den Namen ihres Verfassers, und vornehmlich durch den Zeitpunkt, auf welchen derselbe ihre Bekanntmachung verschob, die größte Neugier denkender Leser; [...]. Doch der Leser setze selbst die Betrachtungen fort, worauf ihn diese Gespräche ganz natürlich führen müssen. Dem philosophischen, auch nur dem vernünftigen Denker wird ihre Lesung gewiß nicht schaden; aber den Schwindelkopf, den Lasterhaften, den Mann ohne Grundsätze, können sie gar leicht in seinen Vorurtheilen wider Tugend und Religion bestärken.“ Vgl. Anonym, Gespräche über die natürliche Religion von David Hume, in: Brittisches Museum für die Deutschen 6 (1780), S. 41–72. Vgl. Brandt, Die englische Philosophie, S. 78. Walther C. Zimmerli spitzt diese These dahingehend zu, dass die schottische ‚common-sense‘-Philosophie und der ‚Deutsche Idealismus‘ als zwei Kehrseiten einer Medaille zu interpretieren seien, nämlich als erkenntnistheoretische Versuche, den Verständlichkeits- und Vermittelbarkeitsanspruch der Aufklärung einzulösen. Vgl. Ders., „Schulfüchsige“ und „handgreifliche“ Rationalität – oder: Stehen dunkler Tiefsinn und Common sense im Widerspruch?, in: H. Poser (Hg.): Wandel des Vernunftbegriffs. Freiburg / München 1981, S. 137–176, hier S. 142.

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Die Abgrenzung von Dogmatik, Metaphysik und reiner Logik auf der einen Seite sowie der Anspruch auf einen ansprechenden, allgemeinverständlichen Stil auf der anderen waren Maximen, für welche die englische Philosophie des ‚common sense‘ vorbildhaft war.27 Mit der Durchsetzung der kritischen Philosophie Immanuel Kants in den 1790er Jahren war diese systemfreie, praxisbezogene Art des Philosophierens als oberflächlich stigmatisiert und zunehmend in Misskredit geraten. Die Hochzeit der Rezeption englischer Werke als Grundlage einer bestimmten Strömung der deutschen Aufklärungsszenerie, die unter der gleichermaßen unglücklichen wie unpräzisen Bezeichnung ‚Popularphilosophie‘ firmiert,28 kann mithin ziemlich genau zwischen den 1750er Jahren, nach Wolffs Tod, und den 1790er Jahren, mit der Durchsetzung der kritischen Philosophie und den Nachwehen der französischen Revolution, verortet werden.29 Und obwohl es der Schotte David Hume war, dem Kant zugestand, ihn aus seinem „dogmatischen Schlummer“ erweckt zu haben,30 so ist es kein Zufall, dass es in vielen Fällen die Skeptiker gegenüber der Kantischen Philosophie waren, die sich weiterhin stärker am angelsächsischen Vorbild orientierten. Im Spiegel der kritischen Wende schienen diese anglophilen Autoren, eben durch ihre Bezugnahme auf die populären britischen Werke, immun zu sein gegen die Revolutionierung der Denkart durch die kritische Philosophie Kants. Besonders signifikant ist dieses spätere Verfahren, die kritische Wende als Wasserscheide zwischen philosophiehistorisch relevanten und irrelevanten Autoren einzurichten, im Falle des Göttinger Philosophieprofessors Johann Georg Heinrich Feder.31 Ihm wurde die erste, unvorteilhafte Rezension von 27

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Eine präzise Definition, wer der schottischen Schule des ‚common sense‘ zuzurechnen sei, wurde in der deutschen Rezeption nicht unternommen. Vgl. Kühn, Scottish Common Sense, S. 13ff. Der philosophiehistorische Kampfbegriff ‚Popularphilosophie‘ entstand direkt im Umfeld der zeitgenössischen Auseinandersetzung um Kants Kritik der reinen Vernunft und operierte, mit dem Vorwurf der Vernachlässigung von Logik und Metaphysik sowie einer überproportionierten Orientierung an ausländischen Vorbildern, bei einer nicht näher bezeichneten Gruppe von Autoren, die der Kantischen Philosophie zumindest skeptisch gegenüberstanden. Vgl. Holzhey, Art. ‚Popularphilosophie‘, Sp. 1094. Mit dieser Datierung folge ich den Überlegungen von Kühn, German Aufklärung, S. 310. „Ich gestehe frei: die Erinnerung des David Hume war eben dasjenige, was mir vor vielen Jahren den dogmatischen Schlummer unterbrach, und meinen Untersuchungen im Felde der speculativen Philosophie eine ganz andre Richtung gab. [...] Wenn man von einem gegründeten, obzwar nicht ausgeführten Gedanken anfängt, den uns ein anderer hinterlassen, so kann man wohl hoffen, es bei fortgesetztem Nachdenken weiter zu bringen, als der scharfsinnige Mann kann, dem man den ersten Funken des Lichts zu verdanken hatte.“ Vgl. Immanuel Kant, Prolegomena, A 12, 13, 14. Zwi Batscha bezeichnet Feders akademische Laufbahn als ‚typisch‘ für ein Gelehrtenleben der Zeit: 1740 in Mittelfranken geboren, studierte er in Erlangen Philosophie und Pädagogik, wo er sich sukzessive von der Philosophie Wolffs entfernte. Er arbeitete einige Zeit als Hauslehrer, bis er mit einer kritischen Arbeit über Rousseaus ‚Zweiten Diskurs‘ promoviert wurde. 1768 wurde er auf Vermittlung von Ernesti und von Münchhausen Ordinarius für Philosophie in Göttingen. Die Berufung basiert auf seinem Grundriß der philosophischen Wissenschaften (1767), der trotz seines Rufes oberflächlich zu sein als Lehrbuch weit verbreitet war. Seine auch den Königsmord überdauernde Anhängerschaft an die Revolution in Frankreich mag ein

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Kants Kritik der reinen Vernunft (1781) zugeschrieben, deren überwiegender Teil jedoch ursprünglich von Christian Garve verfasst worden war.32 Feder hatte diese Rezension allerdings für den Druck mit deutlich verändernden Konnotationen überarbeitet und ihr noch einen Vergleich des Kantischen Idealismus mit der Philosophie Berkeleys und Humes hinzugefügt. Der beleidigende Unterton in der dort formulierten Kritik belief sich auf den Vorwurf, dass Kant den skeptischen Positionen Berkeleys und Humes im eigentlichen Sinne nichts substantiell Neues hinzugefügt habe und sein originärer Beitrag darin bestehe, diesen lange bekannten skeptischen Einwänden zum Trotz einen fragwürdigen Versuch zur Rettung der Metaphysik unternommen zu haben.33 Kant formulierte seine Replik auf die in seinen Augen ärgerlich missverständliche Rezension in den Prolegomena zu jeder künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783), woraufhin Feder wiederum mit der Schrift Ueber Raum und Caussalität. Zur Prüfung der Kantischen Philosophie (1787) reagierte. Vor dem Hintergrund des Anspruchs auf Verständlichkeit in der verehrten schottischen Philosophie war ein grundsätzlicher Einwand Feders gegen Kants Kritik der reinen Vernunft ihre komplizierte abstrakte Sprache, die weniger der Komplexität des Themas als dem künstlichen Bemühen um „mehreres Ansehen von Neuheit und Tiefsinn“ geschuldet sei.34 Feder sprach damit seine Bedenken darüber aus, die gerade gewonnene Allgemeinverständlichkeit in der Philosophie wieder gegen eine hermetische, aus Begriffen einer formallogisch folgernden Gelehrtensprache einzutauschen. Mit seiner Kritik an der dogmatischen Metaphysik habe Kant wiederum einen – längst von den Skeptikern wie Hume dekonstruierten – Scheingegner aufgebaut, um diesen in einem zweiten Schritt durch eine neue Dogmatik zu ersetzen.35 Kant habe damit die formallogisch argumentierende Scho-

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Grund für seine Versetzung (1797) an eine Schule nach Hannover gewesen sein. Vgl. Zwi Batscha, „Despotismus von jeder Art reizt zur Widersetzlichkeit“. Die Französische Revolution in der deutschen Popularphilosophie. Frankfurt/M. 1989, S. 61ff. Vgl. Manfred Kühn, Kant. Eine Biographie. München 2003, S. 292f. Vgl. Christian Garve / Johann Georg Heinrich Feder, Rezension der Kritik der reinen Vernunft, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 3, Zugabe 1, (1782), S. S. 40–48. Vgl. dazu auch die autobiographischen Aufzeichnungen von Johann Georg Heinrich Feder, Leben, Natur und Grundsätze. Zur Belehrung und Ermunterung seiner lieben Nachkommen, auch Anderer die Nutzbares daraus aufzunehmen bereit sind. Leipzig / Hannover / Darmstadt 1825, S. 118. Vgl. Johann Georg Heinrich Feder, Ueber Raum und Caussalität. Zur Prüfung der Kantischen Philosophie. Göttingen 1787, S. V. Feder spielt hier auf Kants Berufung auf Hume an: „Nicht aber aus dem Grunde, wie vielleicht den meisten andern, und wie der Verf. selbst in den Prolegomenis überhaupt zu vermuthen scheint, hat die Kritik der R. V. Unzufriedenheit in mir erregt. Nicht dadurch, daß sie mich aus einem behaglichen dogmatischen Schlummer, von dem ich kaum in meinen Jünglingsjahren etwas erfahren habe, geweckt hat. [...] Sondern gerade umgekehrt; darin scheint mir der Königsberger Philosoph es versehen zu haben, daß er in manchen Stücken selbst noch zu sehr dogmatisirt; d.h. zu sehr auf Gewissheit Anspruch macht, und, mehr als sich thun läßt, aus allgemeinen Begriffen und Grundsätzen ableiten und erklären oder erklärt haben will.“ Vgl. Feder, Ueber Raum und Caussalität, S. VII.

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lastik rehabilitiert und die Erfolge der sich neuerdings durchsetzenden „empirischen Philosophie“ diskreditiert. Mit diesem Argument perpetuiere Kant auf anderer Ebene die niedrige Meinung von empirisch-analogischen Urteilen in der klassischen Philosophie, die stets darauf beharrt habe, solcherart gewonnenen Sätzen nicht den Rang der ‚Wissenschaftlichkeit‘ zuzubilligen.36 Beunruhigend war für Feder, dass Kant die „Herabwürdigung der Erfahrungsphilosophie“ besonders im Feld der Moralphilosophie und natürlichen Theologie vorantreibe, auf dem durch empirisch fundierte Studien vom Menschen in den vergangenen Jahrzehnten so viel gewonnen worden sei: Aufs neue also durch die Kritik der R. V. und die sichtbaren Wirkungen, die sie bisher hervorgebracht hat, und, ich darf es sagen, nach sorgfältiger Prüfung derselben mehr als je davon überzeugt, daß nichts, was in gewöhnlicher Sprache Begriff, Erkenntnis, Grundsatz irgendeiner Art heißen kann, vor aller sinnlichen Wahrnehmung und Empfindung dem Menschen beywohne; und von der Schädlichkeit des Glaubens an eine nicht auf Erfahrung und analogischen Schlüssen völlig beruhenden Philosophie aufs neue und lebhafteste überzeugt, hielt ich es in meiner Pflicht gemäß, ausführlichere Untersuchungen über den menschlichen Verstand herauszugeben; in der Absicht, wo möglich, den Glauben vollends zu vernichten, wovon der kleinste Ueberrest, wie Kants Beyspiel beweiset, noch so schädlich werden kann, den Glauben an Begriffe, die nicht empirischen Ursprungs sind.37

Mit der Gründung der Philosophischen Bibliothek hatten Feder und sein Schüler Meiners schließlich ein Medium geschaffen, welches in Variationen das Plädoyer für eine empirisch fundierte Wissenschaft vom Menschen wiederholte und im Selbstverständnis als verbliebene Bastion gegen die vermeintlich rein apriorisch hergeleitete Begriffsphilosophie Immanuel Kants und seiner Anhänger fungierte.38 Sehr viel weniger umständliche Reflexionen als seine schottischen Vorläufer verwendete Feder auf die Frage, in welcher Weise die Hypothesen zustande kommen, die der empirischen Untersuchung vorausgehen. Er zog sich auf eine einfache psychologische Begründung der Erkenntnis, um den Preis der Subjektivität von Wahrheit, zurück, wodurch seine Einwände gegen die Kantische Epistemologie nur auf tönernen Füßen standen. Das Modell, das Feder der Transzendentalphilosophie entgegenstellte, lag in einem, vom skeptischen Erkenntnisvorbehalt beförderten, Rückzug in die praktische Philosophie.39 Ähnlich wie seine schottischen Vorläufer 36 37 38

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Ebd., S. X. Ebd., S. XIIf. Feder hoffte dabei auf eine Annäherung oder zumindest das Ende der Zurückweisungen durch Kollegen und Studenten: „Aber noch lieber würde es mir seyn, wenn sie etwas dazu beytrüge, daß die streitenden Parteyen sich immer mehr gegeneinander verständigen, und wenn auch nicht völlig sich vereinigten, was ich in der That weder hoffe noch wünsche, – doch wechselseitig einander ernstliches Nachdenken und redliche Absichten zutrauten.“ Vgl. Ders., Abhandlung. Versuch einer möglichst kurzen Darstellung des Kantischen Systems, in: Philosophische Bibliothek 3 (1790), S. 1–13, hier S. 2. „Die Allgem. Prakt. Philosophie ist zwar, nach den Hauptstücken des Inhaltes betrachtet, nichts weniger als eine neue Wissenschaft. Aber sie ist es doch, nicht nur in Ansehung des Namens, sondern auch in Ansehung der Lehrart und Grenzen. Immer mehr hebt sie ihr Haupt unter den Wissenschaften empor; und wenn vielleicht einige andere ihr wissenschaftliches Ansehen ein-

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war er bereit, das Streben nach Erkenntnisgewissheit gegen die Selbstbeschränkung auf ‚vernünftige Wahrscheinlichkeiten‘ einzutauschen.40 Noch ganz im Sinne des Gründungsanspruchs der ‚Georgia Augusta‘ war Feders Konzept den Maximen von Nützlichkeit und den praktischen Grundlagen zur Verbesserung einer zukünftigen Gesellschaft sowie der direkten Verbreitung von Humanität geschuldet. Dass praktische Philosophie und politisches Denken dabei eng aufeinander bezogen waren, ist ein weiteres Spezifikum des historisch argumentierenden Popularphilosophen.41 Die Nachwelt betrachtete es indessen als „verhängnisvoll für eine spätere wissenschaftliche Laufbahn“, dass Feder sich in diesen Gegensatz zur kritischen Philosophie begeben hatte.42 Sein Festhalten am ‚common sense‘ wurde als ein unglückliches Beharren interpretiert, durch welche die Zeichen der Zeit nicht erkannt werden konnten. Das Beispiel Feders macht – ungeachtet der Frage, ob er sich der theoretischen Herausforderung durch die Kantische Philosophie gewachsen zeigte – deutlich,43 wieso die dem ‚common sense‘ verwandte deutsche Popularphilosophie erst mit dem Aufleben der Aufklärungsforschung in den 1970er Jahren einige Aufmerksamkeit in der Philosophiehistorie erlangt hat44 und nicht nur als Vernachlässigungswürdiges Intermezzo in der Kluft zwischen den großen Denkern Leibniz und Kant beziehungsweise als Vorspiel zur kritischen Philosophie betrachtet wird.45 Erst die neuere Forschung hat auf die enge Verbindung von schottischer Philosophie und weiten Teilen der philosophischen Strömungen der deutschen Spätaufklärung hingewiesen und versucht, diesen Rezeptionswegen nachzugehen.46

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mal verlieren sollten: so wird sie das ihrige gewiß noch behaupten.“ Vgl. Johann Georg Heinrich Feder, Vorrede, in: Ders., Lehrbuch der praktischen Philosophie. Göttingen / Gotha 31773, [unpag.]. Johann Georg Heinrich Feder, Untersuchungen über den menschlichen Willen. Bd. 4. Lemgo 1793, S. 160. Zu Feders ‚Philosophie der Wahrscheinlichkeit‘ vgl. auch Batscha, Despotismus, S. 72. Feder, Vorrede, in: Untersuchungen über den menschlichen Willen, Bd. 4, S. V–XX. Vgl. den Art. ‚Johann Georg Heinrich Feder‘, in: ADB. Bd. 6. Berlin 1877, S. 595–597. Walther C. Zimmerli hat dargelegt, in welcher Weise Feder, ebenso wie die schottische ‚common sense‘-Philosophie, vor dem Problem der von Kant thematisierten Metaphysikkritik selbst gescheitert waren. Vgl. Ders., Schwere Rüstung, Kap. II, S. 69f. Vgl. Helmut Holzhey, Der Philosoph für die Welt – eine Chimäre der deutschen Aufklärung, in: Ders. / Zimmerli (Hg.): Esoterik und Exoterik der Philosophie, S. 117–138, hier S. 124. Vgl. auch Schneiders, Zwischen Welt und Weisheit, S. 15; Zimmerli, Schwere Rüstung, S. 59ff. Vielen Darstellungen dient die Philosophie dieser Zwischenzeit ausschließlich als Vorgeschichte der Kantischen Philosophie: „Had Kant not lived, German philosophy between the death of Leibniz in 1716 and the end of the eighteenth century would have little interest for us, and would remain largely unknown. In Germany between Leibniz and Kant, there was no world-class philosopher of the stature of Berkeley, Hume, Reid, Rousseau, Vico, or Condillac.“ Vgl. Lewis White Beck, From Leibniz to Kant, in: R. C. Solomon / K. M Higgins (Hg.): The Age of Idealism. London / New York 1993, S. 5–39, hier S. 5. Etwa die von Heiner Klemme besorgten und instruktiv kommentierten Reprints einschlägiger deutscher Übersetzungen in Reception of the Scottish Enlightenment in Germany. Six Significant Translations, 1755–1782, oder – zusammen mit Manfred Kühn – in The Reception of British Aesthetics in Germany. Seven Significant Translations, 1745–1776.

210

4.2.

Übersetzungen als Mittel der Popularphilosophie

Im Unterschied zu französischen Werken, die in gelehrten Kreisen auch im Original gelesen wurden, waren Übersetzungen zum wichtigsten Medium der Vermittlung englischsprachiger Literatur in Deutschland geworden. Das vitale Interesse der deutschen Gelehrten, besonders an der schottischen Aufklärungsliteratur, spiegelt sich in den kurzen Fristen zwischen dem Erscheinen der englischen Originale und der jeweiligen deutschen Fassung.47 Nur in seltenen Fällen wurden jedoch professionelle Übersetzer tätig. Meist waren die interessierten Wissenschaftler durch ihre eigene Lektüre auf ein Werk aufmerksam geworden, wollten es einem breiteren Leserkreis erschließen und besorgten die Übersetzung selbst. Somit ist es nicht ungewöhnlich, dass einige der berühmten schottischen Aufklärer von durchaus namhaften deutschen Gesinnungsgenossen in die eigene Sprache übertragen wurden, wie etwa Francis Hutcheson, der einen seiner Übersetzer in Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) fand.48 Wenn ein professioneller Übersetzer zum Einsatz kam, der meist ungenannt blieb, so wurde zumindest die Vorrede von einem reputierten Gelehrten verfasst, der die Gründe für die Notwendigkeit einer Übersetzung gerade dieses Werkes darlegte. Die Gelehrten, die als Übersetzter tätig waren, machten meist in mehr als nur einem Fall von dieser Fähigkeit Gebrauch. Ausgewählte Ergebnisse etwa von Christian Garves reger und lukrativer Übersetzungs- und Kommentatorentätigkeit waren, nachdem er sich von seiner universitären Tätigkeit in Leipzig in seine Heimatstadt Breslau zurückgezogen hatte, Adam Fergusons Grundsätze der Moralphilosophie (1772),49 Edmund Burkes Ueber den Ursprung unserer Bergriffe vom Erhabenen und Schönen (1773),50 Alexander Gerards Versuch über das Genie (1776) und Adam Smiths Arbeit Ueber 47

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Oft wurden die Werke noch im gleichen oder folgenden Jahr ihres Erscheinens übersetzt. Vgl. dazu die unverzichtbare Bibliographie von Waszek, Bibliography of the Scottish Enlightenment in Germany, S. 283–303. Vgl. Francis Hutcheson, Sittenlehre der Vernunft. Aus dem Englischen übersetzt von Gotthold Ephraim Lessing (1756), hg. u. eingel. v. H. F. Klemme. (Reprint) Bristol 2000. Garve hatte das Werk mit einem 133 Seiten langen Kommentar versehen, in dem er dessen Vorzüge, aber auch Mängel hervorhob und seine eigenen moralphilosophischen Überlegungen darlegte. Garve hob vor allem den persönlichen Stil und damit den praktischen Nutzen des Buches hervor: „Es giebt Bücher, die bloß verrathen, was der Verfasser gelernt hat; die meisten Kompendia sind von dieser Art. Es giebt andere, die zugleich anzeigen, was er sey, wie er selbst denke, wie er empfinde, und wie er handeln möge. Die erste Art von Büchern kann unterrichten; aber nur die letztere kann den Geist der Leser bilden oder verbessern; und zu dieser scheint mir diese Moral zu gehören.“ Vgl. Ders., Anmerkungen des Uebersetzers, in: Ferguson, Grundsätze, S. 287–420, hier S. 287. Zu Garves Übersetzungstätigkeit vgl. Oz-Salzberger, Translating the Enlightenment, S. 192. Ein Werk, das in dieser Übersetzung maßgebenden Einfluss auf Lessing, Herder und Kant ausübte. Kant hatte überhaupt eine hohe Meinung von Garve und war beruhigt als er erfuhr, dass nicht Garve, sondern Feder sich hinter den kritischen Anmerkungen zur Kritik der reinen Vernunft verbarg. Vgl. Albert Stern, Ueber die Beziehungen Chr. Garve’s zu Kant. Nebst mehreren bisher ungedruckten Briefen Kant’s, Feder’s und Garve’s. Leipzig 1884, S. 12ff.

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den Nationalreichthum (1794–1796). Im Falle von Henry Homes Grundsätzen der Kritik (1772) nahm Garve, gemeinsam mit seinem Leipziger Freund und dem späteren Philosophieprofessor am Joachimsthaler Gymnasium in Berlin, Johann Jakob Engel (1741–1802), die Überarbeitung einer bereits vorhandenen Übersetzung vor.51 Die hohe Popularität von Lord Kames’ Werk lag in der Neuartigkeit der Präsentation des Stoffes:52 einer Verbindung von Ethik und Ästhetik, die aus der Natur des Menschen hergeleitet wurde und in der Präsentation nachvollziehbarer Erfahrungsgrundsätze ihren Niederschlag fand. Die erste Übersetzung war in den Augen der Kommentatoren geglückt, nur sollten durch Garves und Engels Annotationen die Vorzüge des Werkes stärker pointiert und eigene Positionen zum Ausdruck gebracht werden. Bei Adam Smiths Wealth of the Nations entschloss sich Garve hingegen selbst zu einer Neuübersetzung,53 für deren dritten Band er sich allerdings Unterstützung suchte: Unter den Arbeiten, die ich jetzt noch habe machen können steht das Uebersetzen oben an. Deswegen ist auch die Uebersetzung des Smith schneller als irgend eine andere meiner versprochenen Arbeiten avancirt.54

Garve legte mit seinen Übersetzungen ein Bekenntnis zu den Maximen der angelsächsischen Philosophie ab, die ihm, wie anderen Mitgliedern des Leipziger Freundeskreises und darüber hinaus, vorbildhaft dazu dienen sollten, eine ‚Philosophie

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Die neuerliche Bearbeitung der Übersetzung Johann Nikolaus Meinhards, die schon ein Jahr nach dem Erscheinen des Originals 1763 auf dem Markt war, zeigt das breite Interesse an dieser anthropologisch begründeten Ästhetik. Vgl. Alexander Kosenina / Matthias Wehrhahn, Johann Jakob Engel (1741–1802). Leben und Werk des Berliner Aufklärers. Berlin 1991, S. 16. Vgl. dazu auch Robert van Dusen, Christian Garve and English Belles-Lettres. Bern 1970, S. 39ff. Norbert Bachleitner hat den großen Erfolg dieses Buches unter deutschen Gelehrten im Einzelnen nachgezeichnet. Vgl. Ders., Die Rezeption von Henry Homes Elements of Criticism in Deutschland, 1763–1793, in: Arcadia 20 (1985), S. 113–133, hier S. 115ff. „Ich lernte es zuerst in dieser kennen, und auch in dieser zog es mich durch die Menge neuer Aufschlüsse, die es mir, nicht nur über den eigentlichen Gegenstand seiner Untersuchungen, sondern über alle damit verwandten Materien über die Philosophie des bürgerlichen und des gesellschaftlichen Lebens gab, so stark an sich, als es in dem ganzen Laufe meiner Studien nur wenige Bücher gethan haben. Denn in der That hat es in Deutschland das Glück nicht gemacht, welches sein Werth ihm versprechen konnte, und welches es in allen Theilen Europens, wo es im Original, oder in guten Übersetzungen hingedrungen ist, gefunden hat.“ Vgl. Christian Garve, Vorrede, in: Adam Smith, Untersuchung über die Natur und die Ursachen des Nationalreichthums, aus dem Englischen der vierten Ausgabe neu übersetzt, zweyte, mit Stewarts Nachricht von dem Leben und den Schriften des Autors vermehrte Ausgabe. Bd. 1. Breslau / Leipzig 1799, S. IXf. Weiter schreibt Garve über den ihn unterstützenden August Dörrien: „Sie wissen, daß ich mir Dörrigen zu dieser Arbeit associirt habe. Der in dieser Messe erscheinende dritte Band ist von ihm, und ich habe sehr Ursache zufrieden zu sein. Ich glaube nicht, daß sie einen Unterschied bemerken werde, wenn es nicht einer zum Vortheil der Dörrigenschen Uebersetzung ist.“ Vgl. Garve an Engel 1795, in: Johann Jakob Engel, Briefwechsel aus den Jahren 1765–1802, hg. und kommentiert von A. Košenina. Würzburg 1992, S. 187.

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für die Welt‘ zu entwickeln.55 In seiner kurzen Lehrtätigkeit an der Universität in Leipzig zeigte Garve sich als Schüler Lockes, dessen psychologisch fundierte Erkenntnistheorie und dessen Plädoyer für den Empirismus die Grundlage seiner Vorlesungen bildeten. Für Garves gesamte publizistische Tätigkeit – einschließlich der Übersetzungen und Kommentare – gilt, dass er nicht das Ziel verfolgte, ein eigenes geistiges Gebäude zu entwerfen. Abgeschlossene Denksysteme waren ihm stets suspekt und seine Bewunderung galt den Denkern, die Fehlern in Systemen nachspürten, beziehungsweise den notwendig konstruktiven Charakter schulphilosophischer Ansätze offen legten. In diesem Sinne lag sein größtes Bestreben darin, einen ‚deutschen Hume‘ abzugeben, da Garve an seinem Vorbild die Grundlegung der Philosophie aus eigener Erfahrung und historischen Zusammenhängen bewunderte.56 Gerade die Subjektivität der Erkenntnis musste das Fundament einer empirisch erneuerten Ethik bilden, die unabhängig von religiösen Geboten oder anderen metaphysischen Grundlegungen hergeleitet werden konnte. Im Gegensatz zur Gesinnungsethik Kants hielt Garve an der empirischen Bestimmung der Ursachen menschlicher Antriebe und den Folgen ihres Handelns fest, wie sie die schottische Aufklärung entwickelt hatte.57 Sein vorrangiges Interesse galt deshalb den verschiedenen ‚Wissenschaften vom Handeln‘, wie Moralphilosophie, Politik und Ökonomie. Hume, Ferguson und Smith hatten für die Bearbeitung dieser Wissenschaften Pate gestanden.58 Die empirischen Grundlagen dieser Forschungsfelder sollten in ihrer historischen Dimension liegen und mussten deshalb einer ‚historischen Methode‘ folgen. Garve definierte diese Methode in klarer Anlehnung an Fergusons Grundsätze: Es ist klar, daß diese [historische] Methode, eigentlich abzielt, zu demjenigen, was man in der Vernunftlehre eine genetische Erklärung nennt, zu gelangen, einer Erklärungsart, welche uns eine Sache dadurch kennen lehrt, daß wir erfahren, wie sie entstanden, aus welchen Theilen sie

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Garve war 1766 zum Studium nach Leipzig gekommen und wurde dort der späte Protegé des Dichters Christian Fürchtegott Gellert (1715–1769). Garve und sein Freund Engel pflegten Kontakte zu dem Verleger Friedrich Nicolai (1733–1811), dem Philologie- und Theologieprofessor Johann August Ernesti (1707–1781), dem Dichter Christian Felix Weiße, dem deutschen Sprachforscher Johann Christoph Adelung und dem Medizin- und Philosophieprofessor Ernst Platner. Engel publizierte seit 1775 regelmäßig unter dem Titel Der Philosoph für die Welt kleinere Essays verschiedener Autoren. In dieser Reihe wurde auch Kants Abhandlung Von den verschiedenen Racen der Menschen abgedruckt; eine Textsorte, die in Engels Konzept passte: „Metaphysisches freylich wäre mir, um der Bestimmung meines Büchleins willen, nicht so lieb, als Physisches.“ Engel an Kant 1779, in: Engel, Briefwechsel, S. 61f. „Ich gestehe daher, daß unter allen philosophischen Schriften keine sind, welchen ich meine eigenen Versuche ähnlich zu sehen mehr wünschte als die seinigen [Humes].“ Vgl. Christian Garve, Einige Beobachtungen über die Kunst zu denken, in: Ders., Versuche über die verschiedenen Gegenstände aus der Moral, der Literatur und dem gesellschaftlichen Leben. Bd. 2. Breslau 1796, S. 245–430, hier S. 427. Eine ausführliche Herleitung der ‚Wissenschaft des Handelns‘ bei Garve bietet die Studie von Bachmann-Medick, Die ästhetische Ordnung des Handelns, S. 28ff. Vgl. Batscha, Despotismus, S. 24f.

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zusammengesetzt, oder durch welche Reihe von Veränderungen sie in den Zustand ihrer Reife und Vollendung gekommen ist.59

Garve war sich durchaus über die Unzulänglichkeiten dieser Methode bewusst. Dennoch hielt er den Weg der Erkenntnis über Ursprung und Fortgang einer Sache für den einzigen, der zu ihrem Wesen führe und davon ausgehend eine praktische Analyse derselben ermögliche. Die historische Dimension von Moral und Politik stelle den Wissenschaftler vor ein Problem, da das Wissen um ihre Genese – im Unterschied zu Kunst, Handwerk oder bewusst herbeigeführten Experimenten – nur lückenhaft sei: Indeß reicht in der Philosophie, besonders in Moral und Politik, unsre Kenntniß der Geschichte der Sache und ihres Ursprungs nie so weit. Die Stufen der Entwicklung, die wir anzugeben wissen, hängen gemeininglich nur von Ferne zusammen: und zwischen ihnen fehlen immer noch viele Operationen der Natur, deren uns mangelnde Kenntniß in der Kette der Ursachen und Wirkungen beträchtliche Lücken läßt. – Besonders sehen wir die organisirten und lebenden Wesen, zwar von Zeit zu Zeit verändert, und können diese Veränderungen aufzählen: Und mit der Aufzählung dieser Veränderungen füllen wir eben die Naturgeschichte derselben aus.60

Garve teilte die Überzeugung der schottischen Gelehrten: Auch wenn die Erkenntnisgewissheit der ‚historischen Methode‘ geringer zu veranschlagen sei als die der ‚analytischen‘, so sei sie doch der einzig gangbare Weg zu einer induktiven Grundlegung der praktischen Philosophie. Ihre Rolle als Beispielfundus der Moral hatte die Historie insofern verloren, da sie als Gesamtprozess ‚Geschichte‘ nicht beliebig zum Vergleich heranzuziehende Anekdoten, sondern Aufschlüsse über den Ursprung und die Gesetze des Fortschreitens der Menschheit barg. Aus diesen klaren Bezugnahmen wird deutlich, dass Garves Übersetzungstätigkeit keine „rein zufällige oder mechanische“ war, sondern dem Übersetzer selbst eine neue Geisteswelt eröffnet wurde.61 Doch auch Garve wurde seine Anhänglichkeit an die Schotten zum Verhängnis, da seine Entscheidung, ein Promotor anderer Autoren sein zu wollen, als mangelnde Originalität und Konzeptionslosigkeit ausgelegt wurde. Diese ‚Schwäche‘, befand ein Biograph des 19. Jahrhunderts, habe allerdings nicht nur bei Garve, sondern bereits bei den von ihm propagierten britischen Philosophen gelegen. Diese hätten durchaus ihre Verdienste als Impulsgeber für ein neues Denken gehabt, aber „die Anregungen der Engländer weiß er [Garve] nicht zum Ausgangspunkte eigener Betrachtung und durchgreifender Kritik zu

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Garve, Einige Beobachtungen über die Kunst zu denken, S. 352f. Vgl. dazu Ferguson, Principles, S. 118. Garve, Einige Beobachtungen über die Kunst zu denken, S. 353f. „So war Garve’s Thätigkeit als Uebersetzer auch hier sehr förderlich: Lessing, Herder, Kant wußten die Ahnungen und Anregungen der Engländer mit künstlerischem Sinne und philosophischer Tiefe zu abschließender Klarheit zu bringen.“ Vgl. Daniel Jacoby, Art. ‚Christian Garve‘, in: ADB. Bd. 8. Leipzig 1878, S. 385–392, hier S. 390f.

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machen; diese große Aufgabe musste er Kant überlassen“.62 Der Biograph hatte Grave in seinem Artikel bereits mit der Berufsbezeichnung ‚Popularphilosoph‘ eingeführt, was durch die Parallelisierung des verdienstvollen Rezipienten britischer Philosophie mit mangelnder Kritik derselben untermauert wurde. Dass er dadurch zum Opfer des im Spiegel der Zeitläufte obsiegenden Idealismus werden musste, war die unumgängliche Konsequenz.63 Verfolgt man die Verbindung zwischen Popularphilosophie und der schottischen Aufklärung, so ist bemerkenswert, wie viele Vertreter dieser Gruppe als Übersetzer tätig waren beziehungsweise Vorreden und Kommentare zu schottischen Werken verfasst haben. Ein Markstein stellt in diesem Zusammenhang zweifellos die Veröffentlichung der ersten deutschen Übersetzung von Humes Enquiry durch Johann Georg Sulzer (1720–1779) dar.64 Sulzer ließ die Schrift 1755 sicherlich nicht ohne Bedacht im zweiten Band einer Kompilation verschiedener Schriften von David Hume ohne Angabe der Autorschaft erscheinen. Auch der Übersetzer ist nicht kenntlich gemacht, wobei es unwahrscheinlich ist, dass Sulzer die Schriften selber übersetzt hat, da der Herausgeber in seiner Vorrede schreibt: „Die Uebersetzung ist mir von guter Hand zugekommen, und ich habe eine sehr genaue und scharfe Prüfung derselben nach der Urschrift vorgenommen“.65 Dass es sich beim Herausgeber um Sulzer handelte, war schon den Zeitgenossen bekannt, während es eher befremdlich erscheinen musste, wieso sich ein überzeugter Wolffianer mit Hume auseinander setzte.66 Sulzers Interesse an Hume war indessen kein systematisch-analytisches als vielmehr ein darstellerisch-methodisches. Eine Verwandtschaft zwischen Wolff und Hume bestand in der Infragestellung der Erkenntnisgewissheit, deren radikale Zuspitzung Sulzer an Hume bewunderte:

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Der Biograph der ADB, Daniel Jacoby (1844–1918), war promovierter Philologe und beschäftigte sich vor allem mit den Werken Schillers und Goethes. Vgl. ebd., S. 392. „[...] [E]benso leugnete er zwar, ehrlich wie er war, nie das Genie Kant’s, aber er empfand vor der Umwälzung, die in allen Wissenschaften durch die kritische Philosophie hervorgerufen wurde, im Grunde doch stets ein unbehagliches Gefühl.“ Vgl. ebd., S. 392. „It is no exaggeration to say that the publication of his edition of Hume’s Enquiry marked the watershed of German philosophy in the Age of Enlightenment.“ Vgl. Heiner Klemme, Introduction, in: David Hume, Philosophische Versuche über die Menschliche Erkenntniß. Als dessen vermischter Schriften Zweyter Theil, Hamburg Leipzig 1755. (Reprint) Bristol 2000, S. V– XII, hier S. VI. Der in der Schweiz geborene Sulzer erhielt 1747 eine Professur für Mathematik am Joachimsthaler Gymnasium in Berlin. Um ihn von seiner Entscheidung abzuhalten, als Privatgelehrter in die Schweiz zurückzukehren, machte ihn Friedrich II. zum Leiter der neugegründeten Ritterakademie in Berlin und 1775 zum Direktor der philosophischen Klasse der Akademie der Wissenschaften. Vgl. Vierhaus / Bödeker (Hg.): Biographische Enzyklopädie, S. 290f. [Sulzer] Anonym, Vorrede des Herausgebers, in: Hume, Philosophische Versuche, [unpag. B 3]. Gawlick / Kreimendahl, Hume in der deutschen Aufklärung, S. 20.

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Es wäre also kein geringer Vortheil für die Philosophie, wenn jedem Weltweisen in seine Untersuchungen ein Zweifler an die Seite gesetzt würde, der ihn immer beym Aermel zöge, so oft er die Gewißheit einer Sache behauptet, gegen welche noch wichtige Zweifel übrig sind.67

Hume galt Sulzer als Mahner an die Grenzen der philosophischen Einsicht und an ihre Selbstbescheidung. Falls die Wahrheit nicht erreichbar ist, sollten die Philosophen „mit Zuverläßigkeit die Grundsätze lernen, nach welchen sie ihre Handlungen mit Zuversicht einrichten könnten“.68 Neben dieser Funktion könne Humes Werk dazu dienen, die ‚müßige Ruhe‘ der deutschen Philosophen aufzurütteln. Ein Vorhaben, das – nicht zuletzt im Bild des erweckten Kant aus einem ‚dogmatischen Schlummer‘ – eingelöst wurde. Sulzer schenkte dabei dem ungewöhnlichen Stil des Schotten besondere Aufmerksamkeit. Trotz der Verdienste Wolffs um die Philosophie, sei dessen Darstellung eher eine Hürde als eine Brücke für den Leser gewesen: Er leitet euch an der Hand und zwinget euch alle Schritte zu thun, die er gethan hat, er führet euch nicht durch den geradesten und angenehmsten, sondern bloß durch den sichersten Pfad, damit ihr euch desto weniger verirren sollt. Dieses macht, daß seine Schriften nur von wenigen Menschen in ihrem Zusammenhang gelesen werden.69

Entgegen dem Anspruch auf Billigkeit und Praxisbezug der Philosophie, konnte der Vorsatz der Verständlichkeit durch Wolff nicht eingelöst werden: „Die Philosophie ist eine Wissenschaft für jeden Menschen, und muß auf eine Art vorgetragen werden, die jedem Leser deutlich und angenehm ist“.70 Und es war nicht allein die Darstellung, die Hume in Sulzers Augen zum besten Muster machte, „nach welchem man sich richten konnte“,71 sondern es war auch die Weise, auf welche er Erkenntnis von den Dingen erlangte. Sulzer stellte anheim, dass der Weg zur Wahrheit über Begriffe, klare analytische Schlüsse und die Einsicht in das Wesen der Dinge zu erlangen sei. Dieser Weg sei jedoch langwierig und gebe in manchen Fällen Aporemata auf. Anders sei aber Humes Verfahren, da dieses aufgrund der ‚Gewißheit der gesunden Vernunft‘ weniger Umstände bereite: Anstatt genauer Erklärungen und Entwicklungen aller Begriffe begnüget sie sich mit einer anschauenden Erkenntniß verschiedener besonderer Fälle, und in ihren Schlüssen sind die Mittelbegriffe nicht so weitläufig, als in der andern Art ausgedrückt, weil ihrer viele durch eine schnelle Einsicht hinlänglich dem Verstande einleuchten.72

Auf dem Wege sorgfältigerer Beobachtung und Erfahrung komme man folglich zu dem gleichen, vielleicht etwas unsichereren Ergebnis, wie durch den förmlichen Beweis. Diese Einschränkung könne um den Preis, „die Philosophie dem größern 67 68 69 70 71 72

Sulzer, Vorrede, [unpag. a 3]. Ebd., [unpag.]. Ebd., [unpag. a 5]. Ebd., [unpag.]. Ebd. Ebd.

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Theile der Menschen angenehm, einleuchtend und nützlich“ zu machen, hingenommen werden. Den Erfolg empirischer Erkenntnis aus Vernunftgründen müsse man aufgrund der achtenswerten Resultate solcherart verfahrender Wissenschaften zugestehen: Er bemerket, daß der Naturkündiger die Begebenheiten der Natur vernünftig beurtheilet und ihren Zusammenhang einsieht, daß der Geschichtskundiger eine gute Einsicht von der Einrichtung, dem Wachsthume oder Abnahme der Staaten, und von den Ursachen dieser Begebenheiten hat, daß der Redner sich geschickt und angenehm ausdrückt, und daß der Philosoph über die moralische Angelegenheiten richtig denkt, und daher in seinem Thun ein gesetztes und wohl überlegtes Wesen bekömmt.73

Sulzer wollte durch seine Empfehlung der Darstellungskunst und Methode von Hume keine Frontenbildung zwischen ‚wahrem‘ und ‚richtigem‘ Philosophieren schaffen, sondern er wählte einen diplomatischen Mittelweg, indem er reine Logik und Metaphysik den „erfahrnen Philosophen“ überlassen wollte und zumindest der praktischen Philosophie den aus der Naturkunde erprobten Erkenntnisvorgang empfahl. Dass es Sulzer dabei ausschließlich um Humes angenehmen Stil gegangen wäre, ist sicherlich zu kurz gegriffen.74 Sein Plädoyer für die Verständlichkeit und damit die Vermittelbarkeit an eine breitere Leserschicht war verbunden mit einer Parteinahme für eine empirisch fundierte Philosophie, die anzuwerben offenbar noch den Schild der Anonymität erforderte. Auf dieses Panier waren jedoch eigentlich die Grundsätze einer ‚Popularphilosophie‘ avant la lettre geschrieben: Der Rückzug von der Wahrheit um den Preis der Gewissheit erfahrungsgebundener Erkenntnis, die Nützlichkeit dieser Erkenntnis für eine außerhalb der Gelehrtenwelt bestehende Öffentlichkeit und die Gleichsetzung dieser Öffentlichkeit mit einer ethisch-politischen Wertegemeinschaft. Diese über ihre Werte aufzuklären sollte schließlich die Aufgabe verstehbar vermittelter Wissenschaften sein. Besonderes Interesse bestand deshalb unter den Popularphilosophen an Moralphilosophie, Ökonomie, Historie, Naturkunde und Wissenschaftslehre. Dass die auffällige Häufung von Übersetzungen aus dem Englischen durch Popularphilosophen zumindest zu Beginn der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch als ein Vehikel zur Vermittlung zensurgefährdeter Positionen in der etablierten Universitätswelt genutzt wurde, ist dabei ein nicht zu unterschätzender Aspekt. Der Umstand, dass sich für 73 74

Ebd., [unpag. b]. Die kritische Sicht auf Sulzers Beitrag zur Aufklärungsphilosophie verdankt sich vor allem den negativen Urteilen zu seinem Hauptwerk, der Allgemeinen Theorie der schönen Künste (1771– 1774), durch Merck und Goethe. Vgl. Wolfgang Proß, „Meine einzige Absicht ist, etwas mehr Licht über die Physik der Seele zu verbreiten“. Johann Georg Sulzer (1720–1779), in: H. Thomke / M. Bircher / W. Proß (Hg.): Helvetien und Deutschland. Kulturelle Beziehungen zwischen der Schweiz und Deutschland in der Zeit von 1770–1830. Amsterdam / Atlanta 1994, S. 133–148, hier S. 133. Für die Überlieferung zu Sulzer zeichnete der Anglophile Christian Friedrich Blankenburg verantwortlich. Er versah Sulzers Allgemeine Theorie mit Literarischen Zusätzen (1786–1787) und verfasste eine Biographie Sulzers mit einer Würdigung seiner Schriften.

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die Popularphilosophie an bestimmten Orten, wie Berlin, Leipzig und Göttingen, geistige Zentren ausmachen lassen und innerhalb dieser eine gewisse Gruppenzugehörigkeit festgestellt werden kann,75 verdeutlicht ein bestimmtes Selbstverständnis, das außerhalb dieser Gruppen zunächst nicht geteilt wurde. Die beharrenden Kräfte, die der Auflehnung gegen die Schulphilosophie – gerade in ihrer Wolffischen Ausprägung – entgegenstanden, besetzten an den Universitäten überwiegend die Lehrstühle für Philosophie.76 Die Übersetzungen, Vorreden und Kommentierungen können daher auch als Medium einer reformerischen Geistesströmung gekennzeichnet werden. In der Generation nach Sulzer ging es nicht nur darum, mit Übersetzungen von Humes Schriften die eigenen Positionen zu verdeutlichen, sondern auch die Inanspruchnahme des schottischen Philosophen für die jeweiligen Lager in der Spätaufklärung kenntlich zu machen.77 Der einstige Lieblingsschüler von Kant, Christian Jakob Kraus (1753–1807), trat 1800 mit einer Neuübersetzung von David Hume’s politischen Versuchen an die Öffentlichkeit.78 Kraus wies in seiner Vorrede Hume als einen der „originalsten Denker, die je geschrieben haben“ aus und bedauerte weiter, „daß nicht schon längst für eine neue Uebersetzung jener sämmtlichen vermischten Schriften, oder wenigstens der darin enthaltenen moralischen und politischen Aufsätze gesorgt worden ist“.79 Kraus hatte seit 1770 bei Kant in Königsberg Philosophie studiert, eine Studienreise über Berlin und Göttingen unternommen und schließlich 1780 in Halle die Magisterwürde erworben. 1781 kehrte Kraus als Professor der praktischen Philosophie und Kameralistik nach Königsberg zurück.80 In den folgenden Jahren trat Kraus in verschiedenen Rezensionen als Verteidiger der Kantischen Philosophie auf und dennoch machte ihm die Diskrepanz, Kant gegenüber die Loyalität wahren zu wollen und gleichzeitig eine tiefe Abneigung gegen ‚alles Metaphysische‘ zu empfinden, mehr und mehr zu schaffen.81 In dem Maße wie Kraus seit 1788 sukzessive von Kant ab75 76 77 78

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Vgl. Bachmann-Medick, Die ästhetische Ordnung des Handelns, S. 11f. Wundt bezeichnet die Mehrheit der Lehrstühle für Philosophie an den Universitäten des Reiches als ‚Hochburgen der Orthodoxie‘. Vgl. Ders., Die deutsche Schulphilosophie, S. 287ff. Vgl. die detaillierte Bibliographie bei Gawlick / Kreimendahl, Hume in der deutschen Aufklärung, S. 199ff. David Hume’s politische Versuche. Von neuem aus dem Englischen übersetzt. Mit einer Zugabe des Uebersetzers. Königsberg / Leipzig 1800. Hinter dem benannten ‚Uebersetzer‘ verbargen sich Christian Jakob Kraus und sein Freund Hans Jakob von Auerswald (1757– 1833). Vgl. Waszek, Bibliography, S. 296. Christian Jakob Kraus, Vorrede, in: Hume, Politische Versuche, S. IVff. In Göttingen hörte Kraus bei Heyne, Schlözer und Feder. Kraus verband eine enge Freundschaft zu Johann Georg Hamann (1730–1788), dessen früher Tod ihn sehr berührte und auch zur Entfremdung von Kant beitrug. Vgl. Art. ‚Christian Jakob Kraus‘, in: ADB. Bd. 17. Leipzig 1883, S. 66–68. Manfred Kühn zeigt, dass Kant die Loyalität seiner Schüler nicht nur im Stillen erwartete, sondern durchaus Druck auf sie ausübte, publizistische Abwehrkämpfe für ihn zu führen, um unabgelenkt von den philosophischen Scharmützeln seinem Werk nachgehen zu können. Kraus sollte die Besprechung des dritten Teils von Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der

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rückte,82 wandte er sich den schottischen Theoretikern zu. In seinen Vorlesungen zur Wissenschaftslehre folgte er nun weitgehend den Ausführungen Sulzers und Eschenburgs.83 Die Übersetzung von Humes politischen Essays kann sowohl als thematischer wie auch methodischer Endpunkt dieses inneren Richtungskampfes gelten. Anders liegt der Fall bei den Übersetzungen von Humes Schrift Ueber die menschliche Natur (1790–1791) durch Ludwig Heinrich Jakob oder auch bei Wilhelm Ludwig Tennemanns Neuübersetzung von Humes Untersuchung über den menschlichen Verstand (1793). Jakob ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass Hume ihn besonders als Stichwortgeber Kants interessierte: Der Übersetzer hält dieses Werk vornehmlich deshalb für merkwürdig, weil in demselben nicht nur der vollendetste Skepticismus enthalten ist, sondern weil es auch als die entfernteste Ursache der gegenwärtigen Begegnungen in der philosophischen Welt angesehen werden kann, indem die alle Vernunft zerstörenden Zweifel des brittischen Weltweisen die kritische Philosophie veranlasst haben, wie aus den Schriften des berühmten Stifters derselben bekannt ist. Wie verschieden die letztere von jenem Skepticismus sey, davon werden auch die angehängten kritischen Versuche einen entschiedenen Beweis geben können.84

Die Intention hinter der Übersetzung galt mithin weniger der Humeschen Philosophie als der Darstellung des stichhaltigsten und nichtsdestotrotz bezwungenen Anwurfs von Skeptizismus. Auch Tennemann interessierte sich für Humes Schrift aus der Perspektive der kritischen Wende, „weil sie die nächste Veranlassungen zu der so bewunderungswürdigen Revolution in der Philosophie sind“.85 Er hatte sich nach einer anfänglich kritischen Auseinandersetzung mit Kants Philosophie zu

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Menschheit (1787) übernehmen, die er nicht drucken ließ und während deren unentschiedener Abfassung er sich endgültig von Kant abwendete. Vgl. Kühn, Kant, S. 380ff. „Ueberhaupt wendet sich Kraus allmälig von Kant ab, indem er denselben nur bezüglich der Auffassung des Raumes und der Zeit treu blieb, im übrigen aber in der theoretischen Philosophie einem gewöhnlichen Skeptizismus zu huldigen begann; ja sogar von der Tischgesellschaft Kant’s zog er sich zum Bedauern desselben zurück.“ Vgl. Art. ‚Christian Jakob Kraus‘, in: ADB, S. 67. Kant schien diesen Rückzug tatsächlich zu bedauern und beide äußerten sich nie öffentlich dazu. Vgl. Kühn, Kant, S. 385. Christian Jakob Kraus, Encyklopädische Ansichten einiger Zweige der Gelehrsamkeit, Bd. 2, in: Vermischte Schriften über staatswirthschaftliche, philosophische und andere wissenschaftliche Gegenstände, hg. v. H. v. Auerswald. Bd. 4. Königsberg 1809. Das Vorlesungsmanuskript von 1789 wurde posthum aus dem Nachlass herausgegeben. Abgedruckt, in: Blanke / Fleischer (Hg.): Theoretiker, Bd. 2, S. 379–396. Ludwig Heinrich Jakob, Vorrede, in: David Hume, Ueber die menschliche Natur aus dem Englischen nebst kritischen Versuchen zur Beurtheilung dieses Werks. Bd. 1. Halle 1790– 1791, [unpag.]. Jakob hatte sich mit seinem Grundriß der Erfahrungsseelenlehre (1791) Bekanntheit erworben, in dem er eine Abgrenzung von der empirischen Physiologie, wie sie Ernst Platner vertrat, vornahm. Vgl. dazu Matthias John / Temilo van Zantwijk, Zur Methodologie der Erfahrungsseelenlehre, in: Eckardt u.a. (Hg.): Anthropologie und empirische Psychologie, S. 189–223, hier S. 196ff. Wilhelm Gottlieb Tennemann, Vorrede, in: David Humes Untersuchungen über den menschlichen Verstand. Neu übersetzt von W. G. Tennemann nebst einer Abhandlung über den philosophischen Sceptizismus von Herrn Professor Reinhold in Jena. Jena 1793, S. IV.

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einem überzeugten Anhänger derselben entwickelt, wobei er dem Humeschen Skeptizismus den Status einer unabhängigen philosophischen Position zubilligte. Eine Großzügigkeit, die auf die erforderliche Distanznahme des späteren Philosophiehistorikers blicken lässt.86 Mit dieser philosophiehistorischen Verortung zeichnete sich seit den 1790er Jahren das langsame Ende einer Fundamentaldebatte über die Aufgaben der Philosophie ab, aus der Kant überlegen hervorgegangen war.

4.3.

Adaptionen der ‚Natural History of Mankind‘

Während die philosophisch-erkenntnistheoretische Debatte damit einen klaren Ausgang gefunden hatte, erwies sich die Auseinandersetzung mit der praktischen Einlösung des Philosophems in den ‚Histories of Mankind‘ als nachhaltiger.87 Die Umsetzung des neuen wissenschaftlichen Ansatzes in der Erforschung des Menschen wurde zum beliebtesten Thema in der deutschen Spätaufklärung und fand ihren Niederschlag in den vielfältigen Geschichten der Menschheit. So lautete 1780 die Diagnose des Kieler Philosophen und begeisterten Anhängers der Schriften von Lord Kames, Christian Cay Lorenz Hirschfeld (1742–1792), dass man „[z]u einer Zeit [lebe], wo die Geschichte der Menschheit ein Lieblingsstudium unter uns zu werden scheint“.88 In zahlreichen Fällen versuchten sich die Übersetzer selbst an dem von ihnen propagierten Genre. Der Literaturhistoriker Carl Friedrich Flögel tat sich schon früh mit einer Geschichte des menschlichen Verstandes (1765) hervor, die sich aus seiner Übersetzungstätigkeit89 und einer damit einhergehenden engen Anlehnung an die schottische Philosophie ergeben hatte.90 Als verbündete Menschheitshistori86

87

88

89 90

„Unter den Kantianern stellt Tennemann den Mann des Mittelweges dar.“ Vgl. Lucien Braun, Geschichte der Philosophiegeschichte. Darmstadt 1990, S. 254. Tennemann lehrte seit 1792 Philosophie an der Universität Jena und wurde 1804 als ordentlicher Professor für Philosophie nach Marburg berufen. Bekannt wurde er durch seine Geschichte der Philosophie (11 Bde., 1798–1829) und seinen Grundriß der Geschichte der Philosophie (1812). Vgl. Art. ‚Wilhelm Gottlieb Tennemann‘, in: ADB. Bd. 37. Leipzig 1894, S. 566f. Johan van der Zande führt das verstärkte Interesse an Anthropologie, Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte auf den Vorrang des ‚praktischen Zugangs‘ zur Philosophie zurück. Vgl. Ders., Popular Philosophy, S. 39. Mit dieser Diagnose motivierte Hirschfeld seine Edition berühmter englischer Reiseberichte. Vgl. Ders., Bibliothek der Geschichte der Menschheit, Bd. 1, [unpag. a 5]. Darüber hinaus erklärte er die ‚Geschichte der Menschheit‘ zum wichtigsten Teil der Philosophie. Carl Friedrich Flögel (1729–1788) hatte Alexander Gerards Versuch über den Geschmack (1766) übersetzt. Vor dem Hintergrund dieser Traditionsbildung wurde er als „der profilierteste Vertreter einer aufklärerischen empirischen Anthropologie“ bezeichnet. Vgl. Hans Erich Bödeker, Art. ‚Karl Friedrich Flögel’, in: Vierhaus / Bödeker (Hg.): Biographische Enzyklopädie, S. 89. Flögel studierte in Halle Theologie bei Baumgarten, Philosophie bei Wolff und Ästhetik bei Georg Friedrich Meier. Nach langer Beschäftigung am Gymnasium Magdalenum in Breslau wurde er 1774 zum Philosophieprofessor an die Ritterakademie nach Liegnitz berufen.

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ker galten ihm, in der zweiten Auflage von 1773, der schweizer Philosoph Isaak Iselin (1728–1782)91 und Adam Ferguson, während er sich von allen spekulativen Ansätzen zum Thema abgrenzte: Wenn ich den Weg der Speculation hätte erwählen wollen, so würde ich diese neuen Auflagen ganz ansehnlich haben vermehren können; allein ich wolte die Methode eines Naturkundigers beibehalten, oder ihn von andern glaubwürdigen Zeugen beobachten lassen, und auf dieser Grundlage den Versuch einer Naturgeschichte des menschlichen Verstandes bauen. Ich glaube diese Art des Verfahrens ist wegen ihrer Glaubwürdigkeit der Aufmerksamkeit würdig, und meines Erachtens die einzige, wie man hier verfahren muß.92

Die bisher waltende Unzulänglichkeit in der Analyse der humanen Verstandestätigkeit rühre von der rein theoretischen Zugangsweise her, die sowohl der Philosophie als vor allem auch der Geschichte, „wo es auf Begebenheiten ankomt“, Gewalt antue: Ihre unglücklichen Versuche kommen mir wie die vergeblichen Unternehmungen derjenigen für, welche in der Naturlehre alle Begebenheiten und Erscheinungen aus einem einzigen Gesetze bestimmen und ihre Theorie über alles herrschen lassen. Man solte die Theorie aus den Begebenheiten und nicht umgekehrt die Begebenheiten aus der Speculation herleiten.93

Flögel nutzte diese Erwägungen, um seine aus Reiseberichten und historischen Quellen gesättigte Studie über Umfang und Unterschied der Verstandesleistungen der Menschen vorzulegen. Ein möglicher anderer Weg schien ihm eine chronologische Ordnung der ‚Produkte‘ des humanen Geistes und seiner Hinterlassenschaften in den verschiedenen ‚Weltgegenden‘ zu sein. Dieser Weg erfordere allerdings „eine Gesellschaft gelehrter Männer“, die „aus den Archiven des menschlichen Verstandes“ einen solchen Plan ins Werk setzen müsste. Eine empirisch vorgehende Geschichte des humanen Verstandes sollte, ebenso wie die Naturgeschichte, auf Sammlungen vielfältigen Materials zurückgreifen können. Flögel versuchte diesem Anspruch nachzukommen, indem er ein breites Spektrum der ‚Gestaltungen‘ des menschlichen Geistes abdeckte. Solch eine Theorie der „natürlichen“, „sittlichen“ und „vermischten Ursachen“ humaner Ausprägungen ermöglichte ihm überdies den umfassenden Charakter seines Totalentwurfs, in dem er als „vermischte Ursachen“ „die Vorsehung, Religion und Aberglauben, den Zufall, und mancherlei unmerkliche Umstände“ mit einbezog.94 91 92 93 94

Iselin war schon 1764 mit den ersten deutschsprachigen Philosophischen Muthmaßungen über die Geschichte der Menschheit hervorgetreten. Carl Friedrich Flögel, Geschichte des menschlichen Verstandes. Breßlau ²1773, [unpag.]. Ebd., S. 7. „Zu den natürlichen Ursachen zähle ich das Naturell, oder die dem Menschen angeborenen Fähigkeiten der Seele, die besondre Beschaffenheit des Körpers und seine Organisation, das verschiedene Alter des Menschen, den Himmelsstrich, und die verschiedenen Bedürfnisse im natürlichen Zustande. Zu den Sittlichen Ursachen gehören der Staat, die Sprache, Erziehung, Gesellschaft, Beispiele, die Bedürfnisse, welche aus der Gesellschaft entstehen, und alle damit verbundnen Tugenden und Laster.“ Vgl. Flögel, Geschichte des menschlichen Verstandes, S. 10. Gegen diese Deutung polemisierte Herder unter anderem mit seiner Schrift Auch eine

221

In der jeweiligen Wahl und Schwerpunktsetzung der zu übersetzenden ‚Natural History of Mankind‘ spiegelte sich zumeist auch das spezifische Erkenntnisinteresse hinsichtlich eigener Arbeiten des übersetzenden und kommentierenden Autors. Der in Braunschweig lehrende Naturforscher Eberhard August Willhelm von Zimmermann konnte durch seine Übersetzung von William Smellies Philosophie der Naturgeschichte (1791) seine eigenen Untersuchungen zur Geographischen Geschichte des Menschen, und der allgemein verbreiteten vierfüßigen Thiere (1778–1780) untermauert finden beziehungsweise Impulse zu weiteren Arbeiten in diesem naturgeschichtlich-biologischen Forschungsfeld suchen.95 Für Zimmermann bestand kein Zweifel daran, dass es in der Philosophie der Naturgeschichte Aufgaben gebe, „von denen wir die Auflösung erst in Jahrtausenden erwarten dürfen“.96 Trotz der Fortschritte in der Naturgeschichte seit Linné, insbesondere mit Buffon und Bonnet, sei erst Smellie der umfassendste, pragmatisch orientierte und praktisch anwendbare Versuch zu diesem Gegenstand geglückt.97 Zimmermann bemerkte dazu, dass tatsächlich erst in jüngster Zeit, ausgehend von den schottischen Autoren, bemerkenswerte Fortschritte in der Naturgeschichte gemacht worden seien, die nun auch die deutschen Versuche zur Naturgeschichte des Menschen maßgeblich beeinflusst und eine Flut des lange nur gering bearbeiteten Themas nach sich gezogen hätten.98

95

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98

Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774). Vgl. Edoardo Tortarolo, Flögel, Ridolfi und Herder, in: I. M. Battafarano (Hg.): Deutsche Aufklärung und Italien. Bern u.a. 1992, S. 293–310, hier S. 298. Obwohl Wilhelm von Zimmermann (1743–1815) heute nahezu vergessen ist, galt er seinen Zeitgenossen als überaus beachtenswerter Universalgelehrter. Seit 1766 war er Professor am Collegium Carolinum in Braunschweig, wo er Vorlesungen über reine Mathematik, Naturlehre, Experimentalphysik, Naturgeschichte und physikalische Geographie hielt. Zu Studienzwecken unternahm er mit herzoglicher Unterstützung zwischen 1769–1771 eine große wissenschaftliche Reise durch Livland, Russland, Schweden und Dänemark, 1775 und 1778 bereiste er zweimal den Harz, um unter anderem die Höhe des Brockens zu bestimmen, und von 1789– 1791 reiste er nach England, Frankreich und Italien. Bezüglich Akademie- und Universitätsfragen wurde er zum Berater von Kaiser Leopold II. und schließlich auch in den erblichen Adelsstand erhoben. Vgl. Hans Poser, Einleitung, in: Briefwechsel zwischen Carl Friedrich Gauß und Eberhard August Wilhelm von Zimmermann. Göttingen 1987, S. 9–18, hier S. 11ff. Eberhard August Wilhelm Zimmermann, Vorrede des Uebersetzers, in: William Smellie, Philosophie der Naturgeschichte. Bd. 1. Berlin 1791, S. XV–XXX, hier S. XVII. Vgl. ebd. S. XXVIII: „Was keiner dieser seltnen Männer wagte, das thut jetzt Hr. Smellie. [...] Indeß ist einmal der Gedanke des Unternehmens gut, und das Werk enthält eine Menge brauchbarer Dinge. Freilich fehlt sehr viel von dem, was bei uns bekannt ist; es ist daher noch mehr zu verwundern, wie ein Mann, der nicht einmal Deutsch und wohl noch weniger andere nordische Sprachen zu verstehen scheint, ein solches Werk unternehmen konnte.“ Zimmermann sprach damit das Problem der Verwandtschaft des Menschen mit dem OrangUtan an und somit auch die grundsätzliche Frage nach der Entstehung der Arten. Vgl. Eberhard August Wilhelm Zimmermann:, Vorrede, in: Geographische Geschichte des Menschen, und der allgemein verbreiteten vierfüßigen Thiere, nebst einer hierher gehörigen Zoologischen Weltcharte. 2 Bde. Leipzig 1778–1780, [unpag.]. Vgl. dazu neuerdings Petra Feuerstein-Herz, Eberhard August Wilhelm von Zimmermann (1743–1815) und die Tiergeographie, Diss. TU Braunschweig 2004.

222

Ein stärker historiographisches Interesse an den Schotten verfolgte indessen Zimmermanns Braunschweiger Kollege Julius August Remer, der seit 1770 am Collegium Carolinum Allgemeine Geschichte lehrte.99 Dieser hatte die zweite Auflage der ausgesprochen erfolgreichen Geschichte der Regierung Kaiser Carls V. von William Robertson 1778 mit Erläuterungen versehen.100 Das seinerseits verfasste Handbuch der Geschichte (1783) enthielt, ganz Sinne der menschheitsgeschichtlichen Präliminarien Robertsons, im ersten Teil eine „Geschichte von der Erschaffung der Welt bis auf die große Völkerwanderung“, die sich vorsichtig an der Stufentheorie orientierte.101 Diesem Handbuch folgte eine selbstständige ‚Weltgeschichte‘, die Remer nicht zu klassischen Studienzwecken konzipiert hatte, sondern als neuartigen Gesamtentwurf verstanden wissen wollte.102 Auch der Übersetzer von Adam Fergusons Geschichte des Fortgangs und Untergangs der Römischen Republik (1784), Christian Daniel Beck,103 hatte 1787 einen solchen Totalentwurf entwickelt, der sich aber durchaus an Studierende richtete und durch den grundsätzliche Einsichten in die Natur der Geschichte und Historie vermittelt werden sollten.104 Beck verwies in diesem Zusammenhang 99

Seit 1779 las Julius August Remer (1738?–1803) über Universal- und Staatengeschichte am Collegium Carolinum. 1787 wurde er als ordentlicher Professor der Statistik und Geschichte an die Universität Helmstedt berufen. In den Jahren 1786–1794 gab er die Tabellarische Uebersicht der wichtigsten statistischen Veränderungen in den vornehmsten europäischen Staaten heraus. Vgl. Vierhaus / Bödeker (Hg.): Biographische Enzyklopädie, S. 251. Seine Professionalität als Historiker wurde in Helmstedt mit einer Bezahlung entlohnt, die über dem Gehälterdurchschnitt lag. Vgl. Horst Walter Blanke / Dirk Fleischer, Einleitung, in: Dies., Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie, Bd. 1, S. 19–132, hier S. 45. 100 Vgl. Wilhelm Robertson, Geschichte der Regierung Kaiser Carls des V. Nebst einem Abrisse des Wachsthums und Fortgangs des gesellschaftlichen Lebens in Europa, bis auf den Anfang des sechszehnten Jahrhunderts. Aus dem Englischen übersetzt von Matthias Theodor Christoph Mittelstedt, Braunschweigisch Wolfenbüttelschen Consistorialrath und Hofprediger, von neuem durchgesehen und mit Anmerkungen begleitet, von Julius August Remer. 2 Bde. Braunschweig ²1778. 101 Julius August Remer, Handbuch der allgemeinen Geschichte. Erster Theil welcher die Geschichte von der Erschaffung der Welt bis auf die große Völkerwanderung in einem Auszuge enthält; Zweyter Theil welcher die mitlere Geschichte von der großen Völkerwanderung bis auf die Reformation enthält. Braunschweig 1783. 102 Julius August Remer, Vorrede, in: Darstellung der historischen Welt durch alle Jahrhunderte. Berlin / Stettin ²1801, [unpag.]. Der Kantianer Heinrich Ludwig Pölitz (1772–1838) hatte für diese Schrift nur Spott übrig, da sie ebenso wie Gatterers Schriften nach dem „Linnéismus [verfahre], welcher die Welt- und Völkergeschichte rubrikenartig und gleichsam anatomisch behandelte“. Vgl. Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Vermischte Schriften aus den Kreisen der Geschichte, Staatskunst, und der Literatur überhaupt. Bd. 1. Leipzig 1831, S. 58. 103 Christian Daniel Beck (1757–1832) studierte in Leipzig Theologie und Geschichte, wo er 1779 mit einer Arbeit über die Bibliothek von Alexandria habilitiert wurde. 1782 wurde er Professor für Griechisch und Latein, 1819 Professor für Geschichte in Leipzig. Der Schwerpunkt seiner umfangreichen Studien galt der Geistes- und Literaturgeschichte im weiten Sinne. Neben Ferguson hatte Beck noch Oliver Goldsmiths Geschichte der Griechen (1792–1793) und James Gregorys Geschichte der christlichen Kirche (1797) ins Deutsche übertragen. Vgl. Art. ‚Christian Daniel Beck‘, in: ADB. Bd. 2. Leipzig 1875, S. 210–212. 104 Christian Daniel Beck, Anleitung zur genauern Kenntniß der allgemeinen Welt- und VölkerGeschichte vorzüglich für Studirende. 4 Bde. Leipzig ²1813.

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darauf, das um die umfassende Bedeutung von ‚Geschichte‘ einzugrenzen, „endlich ein wissenschaftlicher Begriff der Geschichte gebildet worden“ sei, so daß sie, objektiv betrachtet, eine zusammenhängende und auf Gründen ruhende Kenntniß wahrer und merkwürdiger Thatsachen jeder Zeit und jeden Ortes (eigentlich Geschichtskenntniß), subjektiv aber eine begründete und belehrende Darstellung oder Erzählung merkwürdiger und zuverlässiger Begebenheiten in ihrer mannigfaltigen Verbindung und Wechselwirkung (eigentlich Geschichtserzählung) ist.

Durch diese Unterscheidung gelang es Beck, den Anspruch an ‚Geschichte‘ als objektive empirische Datenbasis festzuschreiben und andererseits das Bewusstsein für die Subjektivität historischer Erkenntnis zu schärfen sowie die Einsicht in ihre Konstruktivität zu wahren. Beck perpetuierte damit die Auffassung von Geschichte als Synonym für Empirie. Der ehemalige Zweck von Historie – als Lehrmeisterin des Lebens – wurde dabei jedoch insofern entgrenzt, als die aus der Naturgeschichte übernommene Ursache-Wirkungs-Kette genetischer Provenienz auch für die Humangeschichte in Anspruch genommen wurde und die Geschichte somit als ein kontinuierliches Fortschreiten im Sinne einer ‚Vervollkommnung‘ erzählt werden konnte.105 Die Geschichte als empirisches Grundkonstrukt seines philosophischen Weltbildes hatte auch der Berliner Gelehrte, Theologe und Übersetzer Daniel Jenisch im Sinn,106 als er zur Jahrhundertwende seinen Universalhistorischen Ueberblick der Entwicklung des Menschengeschlechts, als eines sich fortbildenden Ganzen (1801) vorlegte. Jenischs Faible für die englische Literatur verdankte sich dem freien Vortrag der Schriftsteller, „von denen man philosophieren, das heißt denken lernt, und deren Vortrag, selbst unabhängig von den abgehandelten Materien, für den Leser unterrichtend und bildend ist“. In dieser Hinsicht unterscheide sich die Lektüre englischer Schriften heilsam von der immer noch in Deutschland vorherrschenden Schulphilosophie: Denn ich habe immer gefunden, daß ich mehr lernte aus einem selbst rhapsodistisch[en] Werk voll origineller und selbstgedachter Paradoxen, als aus einem System bekanter und andern nachgesagter Lebensweisheiten, welcher leider ! der Familienfehler unserer teutschen philosophischen Schriftsteller von ieher gewesen.107

105

Als semantischen Einsatz des ‚Fortschreitens‘ „für die Hereinnahme des Endziels in die zeitliche Erstreckung der Zukunft“ interpretiert diesen Zusammenhang Koselleck, Art. ‚Fortschritt‘, S. 380. 106 Daniel Jenisch (1762–1804?), der bei Kant in Königsberg Philosophie studiert hatte, wurde 1788 Prediger an der Nicolaikirche zu Berlin. Neben seiner stupenden Schreibfreudigkeit legte Jenisch noch Übersetzungen zu James Harris’ Handbuch der philosophischen Kritik der Litteratur (1789) und zu George Campbells Philosophie der Rhetorik (1791) vor. Vgl. Meusel, Das Gelehrte Deutschland. Bd. 3. Hildesheim 1965, S. 526–529. 107 Daniel Jenisch, Vorrede, in: George Campbell, Die Philosophie der Rhetorik, aus dem Englischen. Mit Anmerkungen begleitet, und auf die deutsche Sprache angewandt von Dr. Daniel Jenisch. Berlin 1791, [unpag.].

224

Das Motto des freien, pragmatisch orientierten Philosophierens, dem die schottischen Gelehrten eine neue Sprache verliehen hatten, wurde auch für Jenisch zu einer nachahmenswerten Losung. Diese Auswahl an Übersetzungen, den dahinterstehenden Intentionen und eigenen Adaptionen zeigt das breite Spektrum, mit dem die schottische Aufklärung in Deutschland Wirksamkeit entfaltete. Ausgehend von erkenntnistheoretischen Überlegungen hatte die ‚Science of Man‘ Markierungen für eine empirisch verfahrende Moralphilosophie, Ästhetik, Politik und Ökonomie ausgelegt. Wurden diese Überlegungen in die Naturgeschichte der Menschheit transferiert, fanden sie dort als Anthropologien, aber auch in vielfältigen Sitten-, Kultur-, Staaten- und nicht zuletzt Menschheitsgeschichten ihre Umsetzung. Das Konzept der schottischen Aufklärung hatte im deutschsprachigen Europa breiten Anklang gefunden und erfuhr eine vielgestaltige Nachahmung und Fortschreibung. Dieser Vorgang wurde jedoch nicht nur begrüßt, sondern rief Kritiker auf den Plan, die ihre Sorge darüber äußerten, dass sich die so entstandene Mode zu Lasten der Qualität auswirke und durch den Drang zur Imitation die eigene Kreativität und Traditionsbildung unterdrückt werde. Johann Gottfried Herder konstatierte 1772 in einer Besprechung zu der gerade erschienenen Übersetzung von John Millars Bemerkungen über den Unterschied der Stände in der bürgerlichen Gesellschaft: Der Geist der Britannischen Philosophie scheint über Hadrians Mauer hinüber zu sein, und gegenwärtig in den schottischen Gebürgen sich ein Häufchen der seinigen gesammelt zu haben. Ferguson, Robertson, Gerard, Home, Beattie, und hier Millar, sind Leute, die den meistens matten und einzigen Search sehr überstimmen, und durch das Feld, das sich Alle gleichsam zusammenstimmend erwählet haben, wird ihre Philosophie noch schätzbarer – meistens nämlich Philosophie der Gestalten und Veränderungen des menschlichen Geschlechts nach Maßgabe der Geschichte und Erfahrungen – ein großes, großes Feld!108

Mit dem Lob für den Impuls der schottischen Autoren verband sich bei Herder die Sorge, ob nicht überhaupt die Naturgeschichte des menschlichen Geschlechts jetzt ein Modestudium werde, das hinter den Montesquieus, Rousseaus, Helvetius, Voltaires u.s.f. nach ziemlich einförmigen Regeln, und sehr einförmigen Vorurtheilen gehandhabet werde?109

Selbst den Nestor der deutschsprachigen Menschheitsgeschichtsschreibung, Isaak Iselin, sparte Herder nicht von dem Verdacht aus, zu dem eigentlichen Problem nicht vorgedrungen zu sein und trotz der Verdienste um die Pionierarbeit die eigentliche Hürde nicht überwunden zu haben. Diese sah Herder im Auffinden einer erforderlichen Ordnung der Geschichte des menschlichen Geschlechts in seinen 108

Johann Gottfried Herder, Bemerkungen über den Unterschied der Stände in der bürgerlichen Gesellschaft von Joh. Millar, Esq., in: Frankfurter gelehrte Anzeigen 77 (1772), S. 609–614, in: Herder, Werke, Bd. 4, S. 849. 109 Ebd., S. 850.

225

„vielerlei Gestaltungen, Sitten, Bildungen, Himmelsstrichen! in einem ewigen Strom kleiner Zu- und Abflüsse von Veränderungen“.110 Und obwohl sich Millars Arbeit als ein ‚guter nützlicher Versuch‘ ausweise, so unterbliebe dennoch „eine Analyse der würkenden Kräfte selbst“, durch die es möglich sei, unterschiedliche Auswirkungen unter gleichen Bedingungen und ähnliche Paradoxa der Geschichte an verschiedenen Zeiten und Orten zu erklären. Herder bemängelte dabei vor allem die vermeintlich außenstehende Position, die Millar einzunehmen suggerierte. Durch diese könne er zwar erklären, wieso die „Weiber in barbarischen Zeiten wenig geachtet“ waren, nicht aber, wieso auch das Gegenteil der Fall sein konnte.111 Das gleiche Problem trete auf, wenn er die Abschaffung der Sklaverei als historische Notwendigkeit preise und damit die Vorteile der Sklaverei zu bestimmten historischen Zeiten aus dem Blick verliere. In diesem Gedanken bestand bei Herder eine klare Affinität zu Ferguson, seiner Verteidigung der antiken Sklavenhaltergesellschaft im Essay und dessen eher historistischen Sicht auf die jeweiligen Gesellschaften überhaupt. Der pragmatisch-politische Zug in den schottischen Naturgeschichten, der das besondere Interesse der Popularphilosophen auf sich gezogen hatte, ließ Herder von seinem grundsätzlichen Einverständnis mit dem Modell in der je spezifischen Ausführung abrücken.112 Millars Menschheitsgeschichte war in Herders Augen durch eine von außen herangetragene Gesinnung und nicht von einer inneren Ordnung bestimmt. Das Übel beginne allerdings erst dann wirklich, wenn Autoren geringeren Formats als Iselin oder Millar sich berufen fühlten, ebenfalls einen Beitrag zur Geschichte der Menschheit zu verfassen, der in ähnlich ungeklärter Weise verfahre. Herder nannte seinen ersten eigenen Beitrag zur Debatte von 1774 deshalb nicht ohne Ironie und polemischen Unterton Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Beytrag zu den vielen Beyträgen des Jahrhunderts. Die stete Berufung auf Vorbilder und der Versuch der Angleichung an fremde Vorgaben wurden auch unter dem Aspekt der Vernachlässigung einer eigenen Traditionsbildung kritisch betrachtet. Der Theologe und spätere Philosophieprofessor Gottlob David Hartmann (1752–1775)113 schrieb deshalb nicht ohne Ärger:

110 111

Ebd., S. 851. „Und so werden wir noch lange immer nur eine einseitige Geschichte des menschlichen Geschlechts haben. Endlich muß der Rezens. seine unphilosophische Schwachheit bekennen, daß ihn alle solche Geschichten menschlicher Kräfte und Ordnungen, und Schicksale ohne Theilnehmung, ärgern.“ Vgl. ebd., S. 852. 112 In diesem Sinne schreibt Herder an Heyne: „Fergusons Moralphilosophie ist ein schönes Compendium (mit Erlaubniß aller Ihrer Herren Collegen! Ein Schottländisches ist doch besser als ein Deutsches), aber Meister Garve ist nie nach meinen Sinnen gewesen, und wirds kaum werden, so wenig ich nach seinem Sinne sein mag. Miller [Millar] hat weniger als ich hoffte. Beattie kann auch noch nicht recht [...].“ Herder an Heyne, Juni 1772, in: Ders, Briefe, S. 184. 113 Hartmann studierte in Tübingen Theologie, Philosophie und Literaturgeschichte. 1774 wurde er auf Vermittlung Sulzers an das akademische Gymnasium zu Mitau als Professor der Philosophie berufen. Vgl. Blanke / Fleischer (Hg.): Theoretiker, Bd. 2, S. 782.

226

Man ist in Teutschland schon lange gewohnt, immer nur Parallelen zu ziehen, und sich mit der Idee von teutschen HUMEN, und ROBERTSONEN, LIVIUS und TACITUS zu belustigen. Die Parallelensucht ist für die Aufnahme der Wissenschaften überhaupt sehr gefährlich, und erweckt wenigstens nur Nachahmer und keine eigene für sich denkende Schriftsteller.114

Hartmanns Mahnung bezog sich vor allem auf die Geschichtsschreibung, deren deutsche Vertreter sich angewöhnt hatten, bewundernd neidvoll auf die französischen und englischen Werke zur Geschichte zu blicken, während sie selbst große historische Erzählungen in der eigenen Sprache vermissen ließ. Ebenso wie in der Philosophie schienen die Hindernisse einerseits in der Gelehrtensprache und andererseits in der lehrbuchhaften Ausrichtung der traditionellen Historie zu liegen. Der Mangel an deutschen Beiträgen zur Aufklärungshistorie wurde auf die Einfältigkeit der bislang vorherrschenden kompilatorischen Annalistik zurückgeführt, die sich auf das Sammeln und Darstellen von Daten und Ereignissen beschränkt habe. Die Berufung auf Autoren wie Hume, Robertson und Gibbon galt deren philosophisch reflektierten Fragestellungen ebenso wie ihren sprachlich anspruchsvollen, quellengesättigten Ausführungen.115 In diesem Sinne schreibt Johann Christoph Gatterer 1772: [...] [D]ie Britten bekamen seitdem ihren Hume, hingegen wir teutsche – ja wir Teutsche – wir haben ihn noch zu erwarten: wenn wir ihn anders in unserm historisch-windigen, romanischen, dramatischen, voltairischen Zeitalter erwarten dürfen.116

Es waren folglich weder nur die historischen Werke der schottischen Aufklärer noch allein ihre philosophischen Entwürfe, die dem deutschen Rezipientenkreis – aus Vertretern der philosophischen Fächer bestehend – als Vorbilder dienten. Wie beschrieben, war bis auf Robertson keiner der schottischen Gelehrten ‚Historiker‘ im professionalisierten Sinne. Stattdessen hatten die meisten der schottischen Denker Lehrstühle für Philosophie inne beziehungsweise verstanden sich vorrangig als Philosophen. Nichtsdestotrotz ergab sich aus ihrem methodischen Credo einer empirischen Erneuerung der Moralphilosophie ein besonderes Interesse an der Geschichte. Dass die historische Perspektive im Verlauf der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – über die ursprünglich moralphilosophischen Ausgangsfragen hinaus – an Gewicht gewonnen hatte, machte den besonderen Reiz der ‚Naturgeschichten der Menschheit‘ auf dem Kontinent aus. Eben diese Mischung einer historischen Philosophie beziehungsweise einer philosophischen Historiographie bot die Grundlage für die Fortschreibung der schottischen Ansätze in Deutschland, 114

Gottlob David Hartmann, Über das Ideal der Geschichte (1774), in: Blanke / Fleischer (Hg.): Theoretiker, Bd. 2, S. 688–697, hier S. 697. 115 Auffällig oft ist es diese Trias britischer Historiker – Hume, Robertson, Gibbon – die als besonders nachahmenswert gilt. Vgl. Georg Friedrich Brandes, Über die Unparteilichkeit des Geschichtsschreibers (1788), in: Blanke / Fleischer (Hg.): Theoretiker, Bd. 2, S, 478–491, hier S. 479. 116 Johann Christoph Gatterer, Verhältnis der Geschichtskunde in Grosbrittannien zu der übrigen Grosbrittannischen Litteratur, in: Historisches Journal 1 (1772), S. 159–170, hier S. 170.

227

wo sich in der Krise der vermeintlichen Unselbstständigkeit eine neue Form der Selbstvergewisserung in den Wissenschaften formierte.

4.4.

Standortbestimmung und Selbstvergewisserung

4.4.1. Systematische Fragen der Enzyklopädik Mit der Kritik an der Abhängigkeit von importierten inhaltlichen Leitlinien und dem Bewusstsein für die erforderliche Grundlegung eines neuen Stils in der Gelehrsamkeit entstanden Werke zur Wissenschaftskunde als Ausdruck der Standortbestimmung innerhalb einer Umbruchsituation des traditionellen Fächerkanons und seiner Hierarchie.117 In den meisten Fällen handelte es sich dabei um ausgearbeitete Vorlesungsmanuskripte, die Form und Inhalt der verschiedenen Wissenschaften in der so genannten ‚Enzyklopädik‘ als Teil einer Philosophievorlesung näher bestimmten. Stilbildend für die deutschen Enzyklopädien wirkte Johann Georg Sulzers Kurzer Begriff aller Wissenschaften und anderer Theile der Gelehrsamkeit (1745).118 Sulzers Vorstellung der Philosophie verdeutlicht einerseits den neuen Rang dieser Wissenschaft und andererseits die Verschiebung ihres Aufgabenbereichs: Die Weltweisheit oder Philosophie [...] beschäftigt sich mit Erforschung derjenigen Wahrheiten, welche sich auf die allgemeine Einrichtung und Regierung der Welt, und auf alle die sittlichen Angelegenheiten der Menschen beziehen.119

Die sowohl formal als inhaltlich veränderten Forschungsinteressen erforderten auch eine Neudefinition der Wissensbereiche. Dem Umstand, dass der Mensch nun ins Zentrum der gelehrten Bemühungen gerückt wurde, musste durch eine Aufwertung aller ihn betreffenden Wissenschaften Rechnung getragen werden.120 Dabei war das Interesse am Menschen kein neues, jedoch wertete die Frage nach der neuen methodischen Grundlegung eines veränderten Blickwinkels auf ihn die Fächer auf, die bislang nur in den unteren Rängen der Wissenschaftshierarchie 117

Als Vorlauf zu diesem Prozess der historischen Differenzierung kann die umstrittene Tradition der ‚Historia literaria‘ des augehenden 17. und frühen 18. Jahrhundert gelten. Vgl. Helmut Zedelmaier, ‚Historia literaria‘. Über den epistemologischen Ort des gelehrten Wissens in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 22 (1998), S. 11–21. 118 In diesem Sinne schreibt der Göttinger Philosophiehistoriker Johann Gottlieb Buhle (1763– 1821) über Sulzers Kurzen Begriff: „Für den gelehrten Unterricht ist es freylich durch spätere und bessere verdrängt worden; zu der Zeit aber, da es erschien, war es einzig und half einem wesentlichen Bedürfnisse ab.“ Vgl. Ders., Lehrbuch der Geschichte der Philosophie und einer kritischen Literatur derselben. Bd. 8. Göttingen 1804, S. 391. 119 Johann Georg Sulzer, Kurzer Begriff aller Wissenschaften und anderer Theile der Gelehrsamkeit: worin jeder nach seinem Inhalt, Nutzen und Vollkommenheit kürzlich beschrieben wird. Frankfurt a.M. / Leipzig 61786, S. 140. 120 Vgl. Braun, Geschichte der Philosophiegeschichte, S. 167.

228

existiert hatten. Diese niedrigen Ränge hatten sich aus einer Skala des erkenntnistheoretischen Wertes ergeben, auf der die erfahrungsgebundenen Wissenschaften bis weit ins 17. Jahrhundert als gering veranschlagt wurden und den entsprechenden Fächern deshalb eine ausschließlich propädeutische Funktion zugewiesen worden war.121 Vor dem erkenntnistheoretischen Hintergrund der Aufwertung der Empirie ergab sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts die Forderung, den naturphilosophisch-physikalischen, botanisch-biologischen sowie historischen Fragen mehr Platz einzuräumen und den ursprünglich hilfswissenschaftlichen Charakter ihrer Fächer aufzuwerten. Eine eigenständige disziplinäre Zuweisung im universitären Rahmen war dabei gleichbedeutend mit der Anerkennung eines eigenständigen Erkenntnisgehalts. Mit dem fortschreitenden Vertrauen in die induktive Methode sollte diese auf den Menschen selbst übertragen und er in allen seinen Gestaltungsformen – folglich a posteriori erfassbaren Zeugnissen – neu ausmessen werden: Körper, Sprache, Geschlecht, geistige Produkte, materielle Hinterlassenschaften. Die Dimension, in der alle diese Gestaltungen eine vergleichs- und beschreibungsfähige Struktur erhielten, war die der Geschichte. Die Historie wurde damit zu einer wesentlichen Disziplin, indem sie die Metastruktur jedes einzelnen Aspekts der neuen Analyseform bildete. In der Geschichte bündelten sich diese Strukturen zu einer gemeinsamen Ordnung, in welcher der Prozesscharakter einer Kette von UrsacheWirkungs-Zusammenhängen beschrieben werden konnte. Neben ‚vorher‘ und ‚nachher‘ half dieser genetisch beschriebene Prozess vor allem dabei, moralische Kategorien eines ‚besser‘ und ‚schlechter‘ festzumachen. Dieser Wandel in Betrachtungsweisen und Erkenntnisobjekten verdeutlicht, weshalb die Wissenschaftsgeschichte zu einem heftig umstrittenen Austragungsort für Richtungskämpfe innerhalb der Spätaufklärung heranwuchs und wieso gerade der Bedeutungszuwachs in den historischen Wissenschaften und ihre Verschiedenheit von den philosophischen Disziplinen die besondere Aufmerksamkeit der Enzyklopädisten auf sich zogen. Zudem war es in den Enzyklopädien üblich, neben Definitionen der einzelnen Fächer aufgrund ihrer spezifischen Gegenstände und Methoden, einschlägige Literatur hinzuzufügen, die bisweilen auch kommentiert wurde. Daher bieten die enzyklopädischen Bemühungen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine unmittelbare, von der Rezeptionsgeschichte unabhängige, Sichtweise auf die jeweils als maßgebend betrachteten Werke in der sich neu formierenden Fächerlandschaft. Eine auffallende Kanonisierung zitierter Titel durch verschiedene Wissenschaftskundige lässt diese lexikalischen Werke zu einem interessanten Gradmesser der zeitgenössischen Ein- und Wertschätzung der neuen Disziplinen und der sie bearbeitenden Autoren werden.122 121 122

Vgl. Bödeker, Von der ‚Magd der Theologie‘ zur ‚Leitwissenschaft‘, S. 32. Neben Sulzer wurden für vorliegende Studie, Christian Daniel Becks Anleitung zur genauern Kenntniß der allgemeinen Welt- und Völkergeschichte (1787), Christian Jakob Kraus’ En-

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Eine klare Aussage zum Zuwachs der Bedeutung von Geschichte machte Michael Hißmann in seiner frühen Enzyklopädie,123 indem er seine Ausführungen zum Verhältnis von Philosophie und Historie mit einem Ausruf beginnen ließ: „Cherchons le Fait. Voyons ce qui en resulte. Voilà notre Philosophie! – Die ganze brauchbare Philosophie ist räsonnierende Geschichte“.124 Hißmann war in der durch seinen jähen Tod nur zwei Jahre währenden Tätigkeit als Professor der Philosophie in Göttingen als Adept des englisch-französischen Sensualismus hervorgetreten und hatte sich durch diverse Übersetzungen aus dem Französischen einen Namen gemacht.125 In dem von ihm gegründeten Magazin für die Philosophie und ihre Geschichte (1778–1783) schuf er ein Forum zur Auseinandersetzung mit französischen und englischen Ansätzen einer empirisch verfahrenden Psychologie, wie sie etwa durch Priestley oder Maupertuis vertreten wurde. Hißmann nutzte als Grundlage seiner Zeitschrift Auszüge aus Akademieschriften und Antworten auf akademische Preisaufgaben.126 Als der Erfurter Philosophieprofessor Johann Hermann Pfingsten (1751–1798?) das Magazin nach Hißmanns Tod zur Fortsetzung mit einer Vorrede versah, hielt er es für nötig, die Verdienste seines Vorgängers mit dem Satz zu annotieren: „Die Wissenschaften haben ein zu gemeinschaftliches Band an der Philosophie, als daß man es auflösen sollte.“127 Es war nicht Hißmanns Bestreben, das Band der Philosophie zu lösen und dennoch veranschlagte er die Abhängigkeit der Philosophie von der Geschichte als substantiell: Die wahre Geschichte ist die Grundveste der Philosophie. Der Philosoph macht aus keinen andern Datis die Beschaffenheit der Geschichte aus, als in so fern er sie beobachtet, aus verschiedenen Gesichtspunkten angesehen, unter verschiedenen Umständen und in verschiedenen La-

cyklopädische Ansichten der historischen Gelehrsamkeit (1789) und Johann Christian Lossius’ Neues philosophisches allgemeines Real-Lexikon (1803) bearbeitet. 123 Neben der ‚Enzyklopädik‘ hielt Hißmann Vorlesungen zur ‚Philosophischen Anthropologie‘ und zur ‚Geschichte der Menschhheit‘. Vgl. Schleier, Geschichte der deutschen Kulturgeschichtsschreibung, S. 76. 124 Michael Hißmann, Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur in allen Theilen der Philosophie. Göttingen / Lemgo 1778, S. 91. 125 Hißmann hatte unter anderem Condillacs Ueber den Ursprung der menschlichen Erkenntnis (1780) übersetzt und die ersten 15 Bände von Delisle de Sales’ Histoire nouvelle de tous les peuples du monde (seit 1779) kommentiert und mit einer Art kritischem Apparat versehen. Vgl. Michael Hißmann (Hg.): Neue Welt- und Menschengeschichte, aus dem Französischen. Mit Anmerkungen und Zusätzen versehen von Michael Hißmann. Münster / Leipzig 1781. Vgl. dazu Zedelmaier, Der Anfang, S. 237ff. 126 Michael Hißmann, Vorbericht, in: Magazin für die Philosophie und ihre Geschichte. Aus den Jahrbüchern der Akademien angelegt 1 (1778), [unpag.]. In der Hauptsache handelte es sich um die Mémoires de l’académie des sciences et des belles lettres de Berlin. 127 Johann Hermann Pfingsten, Vorrede, in: Magazin für die Philosophie und ihre Geschichte 7 (1789), [unpag.]. Zur Problematik der Definition von ‚Philosophie‘ unter den Göttinger Philosophieprofessoren Feder, Hißmann und Meiners vgl. auch Schneiders, Der Philosophiebegriff, S. 86f.

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gen angetroffen hat. Wenn ihn Beobachtungen und Erfahrungen nur bis auf einen bestimmten Punkt leiten: so ist ihm eben da ein Ziel gesetzt.128

Ähnlich wie Sulzer in der Vorrede zu Humes Enquiry gab er zwei Wege an, die die Philosophie methodisch begehen konnte. Doch im Unterschied zu Sulzer war in seinen Augen nur der beobachtungsgeleitete Weg gangbar, auch wenn dadurch der Anspruch auf die Erkenntnis der Wahrheit der Dinge eingeschränkt werde. Die Erkenntnis der Sachverhalte, über deren Zusammenhang die Erfahrung noch nicht ausreichte, sei blos wahrscheinlich. Sie hat aber, besonders wenn die Sache unser praktisches Leben betrift, völlig so viel Gewicht als die Gewissheit. Denn hohe und höchste Wahrscheinlichkeit ist für das handelnde Leben Gewissheit. Sie ist unentbehrliches Gewicht am Rad der Menschheit, ohne welches es stille steht, dieses große Rad.129

Neben der Beobachtung bestehe noch der Erkenntnisweg der Hypothesenbildung, die allerdings aus Analogien zu anderen Beobachtungen hervorgehen müsse. Hißmann empfahl dem Philosophen zu diesem Unterfangen die Geschichtsschreibung, sofern sie von einem „philosophischen Kopf“ erarbeitet worden sei. Nur dieser sei dazu in der Lage, „die Ketten der Begebenheiten [zu] übersehen, und die geheimen Triebfedern“ zu erfassen, welche die Akteure der Zeitläufte bestimmen.130 In dieser Hinsicht sei ein „philosophischer Gebrauch der Weltbegebenheiten“ durchaus denkbar. Hißmanns Vorbild für den Einsatz der Geschichte des Menschengeschlechts als Grundlage der Psychologie bildete die ‚Naturgeschichte‘, ohne deren Kenntnis „sich auch die Hauptlehren der Philosophie gar nicht ausmachen [lassen], z.B. die Sätze von der ununterbrochenen Kette der Wesen, von der Realität unserer allgemeinen Begriffe, von Genus und Spezies u.s.f.“131 Als besonderes Forschungsfeld zwischen Naturgeschichte und philosophischer Weltgeschichte führte er die „Geschichte der Menschheit“ an. Das Problem bestehe allerdings in einer präzisen Definition dieser jungen Wissenschaft, die sich bislang noch zwischen den „physischen“ und „sittlichen“ Zuständen der Menschen bewege.132 Eine sinnvolle Engführung der ‚Geschichte der Menschheit‘ bestand in Hißmanns Augen darin,

128 129 130 131 132

Hißmann, Anleitung, S. 92. Ebd., S. 93. Ebd., S. 94f. Ebd, S. 99. „Noch sind die Gränzen dieser Wissenschaft nicht genau abgesteckt, und es scheint, als wenn sich unter den zusammengetragenen Baumaterialien einige fänden, die nicht einmal zum ganzen Gebäude passen werden, wenn dieses dereinst ausgeführt werden wird. So viel sieht man leicht ein, daß darinnen ein charakteristisches Unterscheidungsmerkmal der Geschichte der Menschheit und der allgemeinen Weltgeschichte liegen muß, daß die letztere keine kleinen, unbedeutenden, wilden Horden, sondern blos die weltumkehrenden merkwürdigen Nationen aufnehmen kann; jene hingegen den Menschen, in allen möglichen physischen und sittlichen Zuständen.“ Vgl. ebd., S. 101.

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die Geschichte des Ursprungs und des Fortgangs aller Erfindungen und Einrichtungen der ganzen über den ganzen Erdboden verbreiteten Menschheit zu beschreiben; der Einrichtungen nemlich, durch welche die Bildung des menschlichen Geschlechts vom niedrigsten Grad bis zur höchsten Stufe bewirkt worden ist, auf welcher man es antrift.133

Dieser Vorschlag entsprach dem Modell, welches die schottischen Autoren entwickelt hatten und dem Hißmann dadurch Tribut zollte, dass er neben Isaak Iselin auf Kames’ Sketches on the History of Man verwies.134 Auch Johann Joachim Eschenburg, bekannt als Vertreter eines angelsächsischen Literaturideals und offizieller ‚Literarhistoriker‘, definierte aus dem Verhältnis von Philosophie und Geschichte den neuen Rang der historischen Wissenschaften in seinem Lehrbuch der Wissenschaftskunde (1792).135 Auch wenn die Philosophie sich mit der allgemeinen Betrachtung der Dinge, mit der Erforschung ihrer Ursache und ihres Zusammenhangs beschäftige, so ließe sich doch „alles, was ist, wird und geschieht“ aus einem historischen Gesichtspunkt betrachten: „Und so kann sich diese Behandlungsart auf jede Gattung menschlicher Kenntnisse erstrecken“.136 Aufgrund der Unüberschaubarkeit des Feldes unterteilte Eschenburg die Geschichte in „politische-bürgerliche“, „kirchliche-religionsgeschichtliche“ und „wissenschaftliche-literarische“ Bereiche. Des Weiteren unterschied er sie nach ihren „Gegenständen“, ihrem „Umfang“ und schließlich ihrer „Behandlungsart“. Soweit die Geschichte sich mit „allgemeinen Bemerkungen und Betrachtungen“ auseinander setzte, werde dieses Unterfangen unter „Philosophie der Geschichte“ gefasst.137 Als eine neue Abteilung der Geschichte führte Eschenburg ebenfalls die „Geschichte der Menschheit“ ein: Von der Naturgeschichte wird unter den physikalischen Wissenschaften das nöthige angeführt werden; und wir schränken uns hier daher nur auf diejenige Art von Geschichte hier ein, welche die Begebenheiten und Veränderungen des menschlichen Geschlechts erzählt. Die allge133 134

Ebd. Hißmanns Literaturangaben zu ‚Geschichte der Philosophie‘ und ‚Philosophie der Geschichte‘ wurden von vielen weiteren Enzyklopädisten aufgenommen und um Neuerscheinungen erweitert. Dass Hißmann Kames’ polygenetischen Ansatz nicht unkritisch gegenüber stand, geht aus einer anderen Schrift hervor. Vgl. Michael Hißmann, Untersuchungen über den Stand der Natur. Berlin 1780. Dort zeigte er sich besonders als Anhänger von Fergusons Soziabilitätsthese und vertrat darüber hinaus die These von der Verwandtschaft der Affen und Menschen; allerdings in der Hinsicht, dass es sich bei Affen um degenerierte Menschen handele. Vgl. ebd., S. 83. 135 Eschenburgs Wissenschaftskunde war ein viel zitiertes Lehrbuch und erlebte in kürzester Zeit sieben Auflagen. Der erste Entwurf einer Theorie und Litteratur der schönen Wissenschaften zur Grundlegung bey Vorlesungen datiert von 1783. Im Folgenden beziehe ich mich auf Johann Joachim Eschenburg, Lehrbuch der Wissenschaftskunde. Ein Grundriß enzyklopädischer Vorlesungen, Berlin / Stettin 1792. Christoph Meiners legte seinem Grundriß der Theorie und Geschichte der schönen Wissenschafften (1787) hauptsächlich Eschenburgs Wissenschaftskunde zugrunde, kritisierte jedoch dessen formalen, an Vertretern der Wissenschaften orientierten Stil. Vgl. Christoph Meiners, Grundriß der Theorie und Geschichte der schönen Wissenschafften. Lemgo 1787, [unpag. *3]. 136 Eschenburg, Lehrbuch, S. 39f. 137 Ebd., S. 40.

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meinste Gattung derselben ist die Geschichte der Menschheit, oder des Menschen überhaupt, welche das menschliche Geschlecht, ohne Hinsicht auf dessen mannichfache einzelne Schicksale, als ein Ganzes betrachtet, und dessen allmählige Fortschritte und Veränderungen erzählt.138

Als die maßgebenden Schriften zu dieser Abteilung der Geschichte wurden Iselins Geschichte der Menschheit, Kames’ Sketches of the History of Man, Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit und Kants Ueber die verschiedenen Racen der Menschen genannt. Für die Ausarbeitung der allgemeinen Menschheitsgeschichte hinsichtlich ihrer geistigen und moralischen Ausbildung, welche „die Stufenfolge der Veränderungen des menschlichen Geschlechts in dieser Rücksicht historisch durchgeht“, gab Eschenburg den Versuch einer Geschichte der Kultur des menschlichen Geschlechts von Adelung, die Geschichte des menschlichen Verstandes von Flögel und den Essay on the History of Civil Society von Ferguson an.139 Im Unterschied zur Welt- und Universalhistorie sowie der spezifizierten Unterabteilungen der Geschichte wird im Genre der Menschheitsgeschichte deutlich, dass es im Hinblick auf „Umfang“ und „Behandlungsart“ nur schwer aus dem eigentlichen Zuständigkeitsbereich der Philosophie gelöst werden konnte. Auch fallen Personalüberschneidungen in den Beiträgen zu „historischen“ und „philosophischen“ Wissenschaften auf. Eschenburg definierte den „Charakter der Philosophie“ folgendermaßen: Den eigentlichen Charakter der Philosophie und philosophischer Wahrheiten kennen zu lernen, müssen wir zunächst auf die verschiedenen Arten der menschlichen Erkenntniß Rücksicht nehmen. Diese beschäfftigt sich entweder bloß mit der Wirklichkeit, mit dem Seyn und Werden der Dinge; und ist alsdann historische Erkenntniß. Oder sie betrachtet die Größen und Verhältnisse derselben; und sie heisst alsdann mathematisch. Oder sie untersucht die Gründe ihres Seyns, ihre Entstehungsart und innere Beschaffenheit, besonders auch ihre Möglichkeit, und die Art ihrer Existenz; und in diesem letztern Falle ist ihre Erkenntnis philosophisch, indem sie die Ursache prüft, warum und wodurch die Dinge möglich waren, und folglich wirklich werden konnten.140

Durch die Frage nach der „Entstehungsart der Erkenntnis“ war die historische Dimension auch für die Philosophie relevant geworden. Ein Umstand, der die ‚Science of Man‘ zuallererst auf den Plan gerufen hatte, um genau dieser Frage nachzugehen. Besondere Relevanz zeigte die historische Dimension der Philosophie in denjenigen Wissenschaften, die der Frage nach der Bedingung von Erkenntnis „empirisch“, „historisch“ oder „rational“ nachgingen; also in den Fächern der Physiologie, Anthropologie und Psychologie.141 Dass daneben auch die praktische Philosophie zunehmend die „Erforschung der historischen Entstehungsarten“ von Moral, Sitten, Politik etc. verfolgte, das heißt die Frage nach der ethischen 138 139 140 141

Ebd., S. 44. Ebd., S. 44f. Ebd., S. 92f. Ebd., S. 102ff.

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Bestimmung beziehungsweise der ‚humanitas‘, war ein weiterer Aspekt, der die Zuständigkeitsbereiche von historischen und philosophischen Wissenschaften diffundieren ließ. Für die ‚Geschichte der Menschheit‘ war dieser gegenseitige Begründungszusammenhang von besonderer Bedeutung, da sie entweder als eine historisch untermauerte Philosophie vom Menschen oder als eine philosophisch verbrämte Geschichte des Menschengeschlechts aufgefasst werden konnte; entweder als eine historische Anthropologie oder als eine anthropologische Historie.142 Christian Jakob Kraus versuchte sich in seiner Vorlesung zur Enzyklopädik dem Dilemma zu stellen, indem er klar zwischen den Aufgabenbereichen der ‚Geschichte der Menschheit‘ und der „Geschichte des Menschengeschlechts“ unterschied. Während die „Geschichte des Menschengeschlechts“ die empirisch-historische Dimension in der Beschreibung der Daten abzudecken hatte, sollte das Interesse der ‚Geschichte der Menschheit‘ auf die Theorie ihrer Gesetze beschränkt sein. Kraus berief sich dabei auf die Definition von Dugald Stewart: Wenn man die allgemeinen Resultate der Vergleichung historischer Notizen zusammenfasst, um gleichsam eine Theorie der Gesetze, welche in der Geschichte des Menschengeschlechts sich entdecken zu lassen scheinen, zu bilden, und leitende Ideen und Argumente zur Beurtheilung für die Spezialgeschichte aufzufassen; so entsteht Geschichte der Menschheit. STEWART nennt diese Geschichte theoretische oder muthmaßliche Geschichte, nämlich die Untersuchung der Art, wie nach der bekannten Beschaffenheit der Kräfte, die Sache habe zu Stande kommen können. HUME nennt sie natürliche Geschichte.143

Für Kraus war damit die Menschheitsgeschichte die philosophisch-hypothetische Grundlegung der Geschichte des Menschengeschlechts, deren empirische Daten wiederum der Verifizierung solcherart ausgeloteter Gesetzmäßigkeiten dienten. Der Kreis schließt sich in doppelter Hinsicht, wenn man diesen Ausführungen des Begründungszusammenhangs aus induktiver Historie und deduktiv-philosophischer Anthropologie Kraus’ Definition der Methode hinzufügt: Wenn man die Grundsätze der Beurtheilung und Benutzung des Historischen untersucht, ergiebt sich eine doppelte Theorie: 1) historische Kritik, welche Hermeneutik, und 2) historische Kunst, welche Heuristik, voraussetzt; dann folgt 3) Übersicht der Formen ihrer Behandlungsart.144

Kraus hatte damit der Verfahrensweise des gegenseitigen Begründungszusammenhangs aus Allgemeinem und Besonderem, von Rationalismus und Empirismus, den Namen gegeben, den die Ausführungen Fergusons nur nahegelegt hatten: die hermeneutische Methode.

142

Die Idee, dieser Spur der „ambivalenten Synthese“ nachzugehen, verdanke ich Thomas Prüfer, der diesen gegenseitigen Begründungszusammenhang aus Historizität und Humanität für den modernen Geschichtsbegriff dargelegt hat. Vgl. Ders., Die Bildung der Geschichte, S. 182. 143 Kraus, Encyklopädische Ansichten, S. 380. 144 Ebd.

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4.4.2. Bestimmungen der ‚Geschichte der Menschheit‘ Während sich die Enzyklopädien im Allgemeinen mit Definitionen, Methoden und Vertretern aller Wissenschaften beschäftigten, zeigte die zunehmende Spezialisierung innerhalb der Enzyklopädik auf die ‚philosophischen Wissenschaften‘ bereits, dass sich die erst jüngst aufgewertete ‚vierte Fakultät‘ in einem Ringen um ihr Selbstverständnis befand. Die erst kurz zuvor vollzogene Etablierung der Philosophie als ‚Fachwissenschaft‘ erforderte eine nähere Bestimmung ihrer Aufgaben und Methoden ebenso wie eine Abgrenzung von den Propädeutika, was insbesondere die Historie betraf.145 Die Einsicht in die Historizität von Wahrnehmung und Wahrgenommenem, der Anspruch auf Empirie sowie der Primat der praktischen Philosophie hatten der historischen Betrachtung eine Bedeutung eingeräumt, die weit über ihre traditionelle hilfswissenschaftliche Rolle innerhalb des Fächerkanons hinausging. Historie diente nicht mehr als Namensgeberin der Empirie, sondern nun wurde der Begriff der ‚Wissenschaft‘ häufig mit einer induktiven Herleitungsform und einem sich daraus ergebenden praktischen Nutzen synonymisiert, während die ,Geschichte‘ selbst langsam eine Position unter den eigenständigen Disziplinen beanspruchte.146 Und obwohl sich die ‚populäre‘ Auffassung von den Aufgaben der Philosophie, die der Geschichte in jeder Hinsicht eine große Bedeutung beimaß, im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts einige Breitenwirkung verschafft hatte,147 blieb sie weder unwidersprochen, noch genügte sie in ihrer Dogmatik des Undogmatischen harten analytischen Definitionsansprüchen. Dies betraf in besonderem Maße die sowohl inhaltliche als auch methodische Zwitterkonstruktion der ‚Geschichte der Menschheit‘, was den Leipziger Philosophieprofessor Friedrich August Carus veranlasste, allein diesem Genre eine enzyklopädische Annäherung zu widmen. Seine posthum veröffentlichten Ideen zur Geschichte der Menschheit (1809) waren aus seinen Vorlesungen zur Philosophie hervorgegangen.148 Carus hatte, dem Wunsch seines Vaters gemäß, in Leipzig

145 146

Vgl. Bödeker, Von der ‚Magd der Theologie‘ zur ‚Leitwissenschaft‘, S. 33. Christoph Meiners wollte aufgrund vorstehender Überlegungen etwa seine ‚Ethik‘ als ‚LebensWissenschaft‘ verstanden wissen: „Ich habe in der Geschichte der Ethik mit vielen und triftigen Gründen dargethan, daß man zu der Lehrart der Alten und der grösten Englischen Moralisten zurückkehren, und die unter uns Deutschen herrschend gewordene Methode aufgeben müsse, nach welcher die ganze Ethik in eine unaufhörlich gebietende, oder verbietende Pflichtenlehre verwandelt worden ist.“ Vgl. Ders., Grundriß der Ethik oder Lebens-Wissenschaft. Hannover 1801, S. VII. 147 Werner Schneiders hat wiederholt darauf verwiesen, dass je nach Definition – „Bemühen um gefällige Form oder Volksaufklärung, Verzicht auf komplizierte Deduktionen oder strenge Methode usw.“ – die Philosophie der gesamten Spätaufklärung als ‚Popularphilosophie‘ charakterisiert werden kann. Vgl. Ders, Zwischen Welt und Weisheit, S. 16. 148 Eine erste Fassung dieser Überlegungen war noch zu seinen Lebzeiten erschienen: Friedrich August Carus, Ueber die Idee und bisherige Behandlung einer Geschichte der Menschheit, in: Neue Leipziger Literaturzeitung (1804), Stk. 1., 2., 4., 5., 26.

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Theologie und Philosophie studiert und dort 1791 seinen Magister abgelegt.149 Er setzte seine Studien an der renommierten Georgia Augusta in Göttingen fort, wo er insbesondere unter Christian Gottlob Heynes Einfluss den historischen und altphilologischen Zugang zu seinen Fächern vertiefte.150 Nach Leipzig zurückgekehrt erwarb Carus in kürzester Zeit diverse akademische Grade, übernahm die Initiative bei der Gründung verschiedener Gesellschaften und qualifizierte sich in vielerlei Hinsicht als akademischer Hoffnungsträger, da er mit seinem enzyklopädischen Interesse die disparaten Ansätze der ‚Wissenschaft vom Menschen‘ in ein wissenschaftshistorisches System intergrieren zu vermögen schien. Obwohl die knappen zwei Jahre seines Ordinariats für Philosophie und Geschichte der Philosophie vor Carus frühem Tod von einer stupenden wissenschaftlichen Produktivität geprägt waren, erschienen zu seinen Lebzeiten nur zwei Qualifikationsschriften und wenige Aufsätze. Seine theoretischen und enzyklopädischen Bemühungen um die Geschichte der Psychologie, Geschichte der Philosophie, Moralphilosophie und Religionsphilosophie, sowie nicht zuletzt die Ideen zu Geschichte der Menschheit erschienen posthum, was sowohl ihren teilweise fragmentarischen Charakter als auch ihre mangelnde Rezeption erklärt. Nichtsdestotrotz markieren Carus’ Wissenschaftsgeschichten in der Hinsicht eine Zäsur, als durch sie erste methodologische Grundlegungen und historische Herleitungen neuer Disziplinen in eigens dafür konzipierten Werken vorgenommen werden. Der systematischen und historischen Herleitung einer ‚Geschichte der Menschheit‘ galten Carus einleitende Überlegungen, die in der Frage nach dem ‚Verhältnis der Geschichte und Philosophie‘ in diesem speziellen Genre kulminierten.151 Carus

149

Über Friedrich August Carus kurzes Leben ist nur wenig bekannt. 1770 in Bautzen geboren, starb er nur 36jährig 1807 in Leipzig. Nach seiner Rückkehr aus Göttingen 1793 legte er einen zusätzlichen Magister der Rechte, 1794 eine Promotion in der Theologie und 1795 ein Baccarlaureat in Theologie ab. 1796 wird er ‚Frühprediger‘ an der Universitätskirche und 1805 zum Professor der Philosophie in Leipzig ordiniert, wo er bis zu seinem Tod 1807 vor allem Wissenschaftskunde lehrte. Zu Carus’ Lehrtätigkeit vgl. Paul Ziche, Anthropologie und Psychologie als Wissenschaften, in: Eckardt u.a. (Hg.): Anthropologie und empirische Psychologie, S. 73–109, hier S. 103f. Carus widmete seine Arbeiten insonderheit der wissenschaftstheoretischen Abgrenzung von Philosophie, Geschichte und Psychologie. Er gilt als der „erste Theoretiker der Philosophiegeschichte, der systematisch nach der Vergangenheit seiner Disziplin fragt“. Vgl. Braun, Geschichte der Philosophiegeschichte, S. 269f. 150 Heyne blieb Carus, auch nachdem er wieder nach Leipzig zurückgekehrt war, väterlich freundschaftlich verbunden. Er setzte sich persönlich für Carus’ akademisches Fortkommen ein und zeigte sich sehr enttäuscht, als jener einen Ruf für Theologie an die Georgia Augusta ablehnte. Vgl. Johannes Joachim, Aus den Briefen Christian Gottlob Heynes an Friedrich August Carus, in: G. Leyh (Hg.), Aufsaetze Fritz Milkau gewidmet. Leipzig 1921, S. 187–208. 151 Der gleichen Problemstellung hatte sich Carus auch in seinen Vorlesungen über die ‚Geschichte der Philosophie‘ gewidmet: „Endlich findet der historische Künstler nur als Philosoph den höchsten Zwek oder die reine Idee, und die Einheit seines Strebens. Dagegen nimmt der Philosoph von der Erfahrung erst die äussere Möglichkeit zu philosophiren, den Stof, die Vielseitigkeit und die Begränzung.“ Vgl. Friedrich August Carus, Ideen zur Geschichte der Philosophie, in: Ders., Nachgelassene Werke, hg. v. F. Hand. Bd. 4. Leipzig 1809, S. 6.

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führte die ‚Geschichte der Menschheit‘ als Metastruktur der empirischen Spezialgeschichten ein: Wenn die empirische Geschichte in der endlosen Erfahrung umherschweift, so fesselt sie die Geschichte der Menschheit erst an einen nothwendigen Gang; womit keineswegs behauptet wird, dass die einzelnen Facta ersonnen, oder nach Schlüssen gemodelt werden sollen; vielmehr gibt die Geschichte der Menschheit ihren Factis erst präcisere Bestimmung und vor Allem ihren Pragmatismus, denn sie hält die einzelne Thätigkeit des Menschen zusammen mit dem höchsten Endzwek des Menschen.152

In dieser Strukturanalyse fügten sich Elemente zusammen, deren ehedem unzulässige Vermischung den Vorläufern von Carus definitorische Schwierigkeiten bereitet oder zumindest eine gewisse Parteinahme erfordert hatte: nämlich die Menschheitsgeschichte entweder auf die Seite einer historisch verankerten Philosophie oder auf die Seite einer philosophisch angeleiteten Historie zu schlagen. Carus entzog sich diesem Problem, indem er eine Synthese schaffte. Methodisch sollte weder der Empirie noch der rationalen Hypothese der Vorrang gegeben werden, sondern der Tribut an die Philosophie war die ‚Bestimmung‘ der Menschheit zu ermitteln, während ‚Pragmatismus‘ dazu diente, den empirischen Sachverhalt im Handeln der Menschen an den philosophischen Tatbestand zu knüpfen. Die Philosophie stellte damit nicht die außerhalb der empirischen Fakten liegende Rationalität, sondern die Rationalität der Geschichte war in dieser selbst zu finden. Carus setzte am Beginn des neuen Jahrhunderts in Kürze und mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit einen Schlusspunkt hinter eine lange geführte Diskussion. Seine eigene Synthese lehnt sich an den Kantischen Wortgebrauch an und dennoch war es die Zusammenschau eines weit verzweigten Diskurses, der zu den elementaren Debatten der Aufklärung gehörte – die Frage nach der Bestimmung des Menschen.153 Mit Kant hatte sich allerdings die Variante, dass die Bestimmung des Menschen sich nicht im Individuum, sondern erst in der Gattung realisieren lasse,

152 153

Carus, Ideen zur Geschichte der Menschheit, S. 5. Giuseppe D’Alessandro ist dieser Debatte, von der Initiation durch Johann Joachim Spaldings (1714–1804) Bestimmung des Menschen (1748) bis in die Winkel der Spätaufklärung, mit großem Ertrag nachgegangen. Vgl. Ders., Die Wiederkehr eines Leitworts. Die ‚Bestimmung des Menschen‘ als theologische, anthropologische und geschichtsphilosophische Frage der deutschen Spätaufklärung, in: N. Hinske (Hg.): Die Bestimmung des Menschen. Hamburg 1999, S. 20–47, hier S. 45. Für Spalding und Moses Mendelssohn (1729–1786) lag die Einlösung der ‚Bestimmung des Menschen‘ im Individuum. Ganz in diesem älteren Sinne definierte der Erfurter Philosophieprofessor Johann Christian Lossius in seinem ,Wissenschaftslexikon‘: „Die Bestimmung des Menschen überhaupt ist also nichts anders, als der vernünftige Gebrauch, welcher von seinen Kräften und Talenten gebraucht werden soll, oder schlecht hin der Zweck seines Daseyns. [...] Sittliche Veredelung ist Erhöhung der Menschenkraft, den ihm größtmöglichen Grad von Sittlichkeit zu erreichen; und Sittlichkeit, in der engsten Bedeutung, ist die Uebereinstimmung der freien Handlungen mit den moralischen Gesetzen.“ Lossius bezieht sich hier auf Garve, Spalding, Hutcheson, Feder und Platner. Vgl. Ders., Art. ‚Bestimmung des Menschen‘, in: Ders., Neues philosophisches allgemeines Real-Lexikon oder Wörterbuch der gesammten philosophischen Wissenschaften. Bd. 1. Erfurt 1803, S. 577–582, hier S. 578.

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Geltung und andauernde Wirksamkeit verschafft.154 Der Unterschied zur schottischen ‚History of Mankind‘, die ebenfalls die Perfektibilität als Motor des Gattungsfortschritts aus der uniformen Natur des Individuum angenommen hatte, bestand darin, dass die Bestimmung zugleich ihr Ziel und Zweck war: die Menschheit beziehungsweise die Humanität.155 Carus definiert in diesem Sinne: Entwiklung der Menschennatur zum Menschthum, Erhebung der Menschengeschlechter zur Menschengattung, der Menschen zu dem Menschen, Veredelung der blos sinnlichen Menschlichkeit zur vernünftigen durch Freiheit – dies ist des Menschen Bestimmung. Der einzelne Mensch gehört zur Menschheit, er soll Menschlichkeit ausüben und dahin streben, sich das Menschthum zu erwerben.156

Die Ineinssetzung von Objekt und Subjekt der Geschichte gebar in diesem Moment das, was als ‚Geschichtsphilosophie‘ in die Geschichte der Philosophie eingehen sollte. Für Carus war diese Terminologie offenkundig bereits definitionsfähig geworden, so dass er – ausgestattet mit dem Selbstbewusstsein, ein schwerwiegendes Problem gelöst zu haben – auf die Entstehung einer ‚Idee‘ zurückblicken konnte, die er nun als ‚Geschichte der Geschichte der Menschheit‘ beschrieb. Eine Regel, die er dabei ausgemacht hatte, besagte, dass die ‚Geschichte der Menschheit‘ nur dann Fortschritte gemacht habe, wenn die „Menschenkunde, also namentlich die Psychologie“ mit Ernst betrieben worden sei. Das habe zur Folge gehabt, dass nach einigen verheißungsvollen Versuchen in der Antike die Idee sehr lange brach gelegen habe, bis die „grossen Menschenkenner unter den Britten“ ihr zu neuem Leben verholfen hätten.157 Die philosophischen Debatten um ‚historischen Skeptizismus‘, ‚Pyrrhonismus‘, ‚historische Kunst und Methode‘ sowie die ‚Philosophie der Geschichte‘ hatten befördernd auf die Idee gewirkt, doch erst die Entdeckung Amerikas hätte ihr zum Durchbruch verholfen: In seinen wilden Stämmen lernten die Reisebeschreiber aus sichern Beobachtungen einen primitiven Zustand der Menschen ahnden, und französische Schriftsteller, wie Laffiteau und

154

„Am Menschen (als dem einzigen vernünftigen Geschöpf auf Erden) sollten sich diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind, nur in der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig entwickeln.“ Vgl. Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Ders., Werke, Bd. 6, A 389. 155 Jörn Garber hebt den Begriff des Zwecks hervor, durch dessen Einführung es methodisch gelingt, „daß aus dem Systemganzen ein teleologisches Ganzes wird. Teil [Mensch] und Ganzes [Menschheit] treten in ein Wechselverhältnis. Beide sind zugleich Mittel und Zweck.“ Vgl. Ders., Selbstreferenz und Objektivität, S. 143. 156 Carus, Ideen zur Geschichte der Menschheit, S. 50. 157 „Was seit den grossen Menschenkennern unter den Britten, seit Locke und Shaftesbury auch die Geschichte, und die Geschichte durch Britten gewann, bedarf keiner weitläufigen Ausführung.“ Vgl. ebd., S. 8.

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Rousseau, Montesquieu und Goguet wussten für jene neue Quelle der ersten lückenhaften Perioden der Culturgeschichte auf mehr als eine Weise zu interessieren.158

Diese äußere Erweiterung sei nötig gewesen, um die Menschheit auf die Frage ihres Zusammenhangs und „zu dem Bewusstseyn innrer Veränderungen und ihrer Entwiklung“ zu stoßen, wobei erst in jüngerer Zeit nennenswerte Versuche zu ihrer Beantwortung zu verzeichnen gewesen seien.159 Die französische Verarbeitung der neuen Daten in einer philosophischen Historie habe den Anstoß für die eigentliche ‚Geschichte der Menschheit‘ gegeben. Diese habe mit Isaak Iselins Werk Philosophische Muthmassungen über die Geschichte der Menschheit (1764) ihren ersten deutlichen Ausdruck gefunden, der wohl in Ausrichtung und Titel auf die englische Tradition einer „Moral in Beispielen, welche history of man hieß“ zurückzuführen sei.160 Als neuerdings maßgebende Exponenten dieser Gruppe benannte Carus den Berliner Prediger Daniel Jenisch,161 des Weiteren die Schotten John Millar, Henry Home, James Dunbar, William Falconer, Adam Ferguson sowie schließlich den Dichter Christoph Martin Wieland (1733–1813) und die Philosophen Johann Nicolaus Tetens (1736–1807) und Johann Christian Lossius. Als eine Fortsetzung dieser ersten Periode ermittelte Carus ein Gruppe von deutschen Schriftstellern, deren Verdienst darin zu sehen sei, die menschliche Entwicklung an die ‚ethnographische Geschichte‘ angeschlossen zu haben. Zu diesen zählte er Johann Christoph Adelung, Johann Gottfried Herder, den Theologen Peter Villaume (1746–1806), Christoph Meiners, den Schriftsteller Christian Ulrich Detlev von Eggers (1758–1813) und den österreichischen Pädagogen Franz Michael Vierthaler (1758–1827). Ihre Vollendung habe die ‚Geschichte der Menschheit‘ allerdings erst zu dem Zeitpunkt erfahren, als sie mit einem „anthropologischen Geist“ beseelt worden sei. Erst eine solcherart bereicherte Geschichte vermochte es, vom Besonderen zum Allgemeinen fortzuschreiten, zwischen Individuum und Gattungsverlauf zu vermitteln und damit die Geschichte an einen notwendigen Gang zu binden, „den der

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Interessanterweise gibt Carus Goguets De l’origine des loix, des arts et des sciences (1757) den Vorzug vor Montesquieus De l’esprit des loix (1755): „Für die Geschichte der Menschheit eine wichtige Quelle, in der reifes Urtheil mit Belesenheit vereint. Goguet liefert mehr Thatsachen als Montesquieu.“ Vgl. ebd., S. 16f. 159 Ebd., S. 17. 160 Carus benennt als einziges direktes Vorgängerwerk Jens Krafts Sitten der Wilden. Zur Aufklärung des Ursprungs und Aufnahme der Menschheit. Aus dem Dänischen übersetzt (1766). Vgl. ebd. S. 17, Michael Hißmann rechnete Krafts Schrift indessen nicht zur ‚Geschichte der Menschheit‘ (§ 46), sondern zur älteren Naturzustandstheorie (§ 48). Vgl. Hißmann, Anleitung, S. 106. 161 „Jetzt erschien das Werk, welches das Erste und Einzige seiner Art blieb, und in welchem sich der begründete Charakter einer Geschichte der Menschheit am reinsten und vielseitigsten aussprach: Universalhistorischer Ueberblick der Entwicklung des Menschengeschlechts als eines sich fortbildenden Ganzen. Eine Philosophie der Kulturgeschichte von D. Jenisch, 2 Bde., Berlin, 1801, 8.“ Vgl. Carus, Ideen zur Geschichte der Menschheit, S. 35f.

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Mensch bis zu seiner Bestimmung durchgehen müsse“.162 Als Vertreter dieser Periode benannte Carus den Schulmann Karl Franz von Irwing (1728–1801), den Gründer des Illuminatenordens Johann Adam Weishaupt (1748–1830), den Pfarrer und Schriftsteller Johann Gottlieb Steeb (1742–1799), Condorcet,163 Immanuel Kant sowie den Staatswissenschaftler und Historiker Karl Heinrich Ludwig Pölitz (1772–1838) und den Publizisten Karl Ludwig Woltmann (1770–1817). Kants Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) wurde von Carus als eigentlicher Anfang dieser Periode markiert, deren Intention in keiner Weise darin gelegen habe „die empirische Geschichte“ verdrängen zu wollen, wie es einige der epigonalen Schriften im Anschluss an Kant suggerierten.164 Carus macht mit der Fortsetzung der Erscheinungsliste bis in seine direkte Gegenwart deutlich, dass diese vierte Periode einer „mit anthropologischem Geist beseelten Geschichte der Menschheit“ durch Schiller, Jenisch und andere etliche Höhepunkte zu verzeichnen habe, deren Leistung in der gegenseitigen Befruchtung aus anthropologisch-philosophischer Teleologie und historischer Faktengewinnung bestünde. Dennoch sah er sich bereits in der Not, diese besondere Form der Menschheitsgeschichte gegen eine kommende Generation zu verteidigen, die diese als „falsche und ideenlose Versuche“ diffamierte.165 Carus akribische – hier nur ausschnitthaft wiedergegebene – Sammlung verdeutlicht die Ausmaße, die das Feld der ‚Geschichte der Menschheit‘ als Austragungsort für grundlegende Debatten der Aufklärungsphilosophie angenommen hatte. Für Carus war die ‚Schlacht‘ indessen entschieden, da die ‚Geschichte der Menschheit‘ in seinen Augen zu ihrer idealen Form gefunden hatte, was ihn in die Lage versetzte, in der Rückschau vermeintliche Mängel vorangegangener Versuche näher zu bezeichnen. Aus dieser Perspektive blieben auch die Pioniere in der Menschenkunde, die vormals vielgepriesenen schottischen Menschheitshistoriker, von der Kritik nicht ausgespart. Die wahllose Zusammenstellung der Quellen und „unerweisliche Hypothesen“ bestimmten Kames’ Sketches on the History of Man, wäh-

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Diese Bestimmung bestünde darin „vom Sinnlichen und Gegenwärtigen zum Intellectuellen und Zukünftigen“ aufzusteigen. Vgl. ebd., S. 29. 163 Mit Marie-Jean-Antoine-Nicolas Caritat de Condorcets (1743–1794) Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain (1795) wurde posthum ein Werk publiziert, welches eine Phase des ungebrochenen Fortschrittsoptimismus einläutete, die später als kennzeichnend für die gesamte Aufklärungsepoche ausgemacht wurde: „Dies ist die Absicht des Werkes, [...] darzutun, daß die Natur der Vervollkommnung der menschlichen Fähigkeiten keine Grenze gesetzt hat; daß die Fähigkeit des Menschen zur Vervollkommnung tatsächlich unabsehbar ist. [...] Ohne Zweifel können diese Fortschritte schneller oder langsamer erfolgen; doch niemals werden es Rückschritte sein.“ Vgl. Condorcet, Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes. Frankfurt/M. 1976, S. 31. 164 Diese Adressen richteten sich an Pölitz’ Geschichte der Cultur der Menschheit nach dem Princip der kritischen Philosophie (1795) und Woltmanns Grundriß der ältern Menschengeschichte (1797). Vgl. Carus, Ideen zur Geschichte der Menschheit, S. 30f. 165 Carus verteidigt den Gegenstand seiner Metareflexionsschrift gegen die Angriffe in den Schellings Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1803). Vgl. ebd., S. 32–45.

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rend Dunbars Essays on the History of Mankind, wie der Titel schon verriet, disparate Versuche ohne räsonnierenden Zusammenhang blieben, die über schiere „Declamation“ nicht hinausgelangten.166 Und selbst Herders erstem Beitrag zum Thema, seiner Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, fehle die tiefere Einsicht in die ‚Geschichte der Menschheit‘, da er den Fehler perpetuiere, die Philosophie außerhalb der Geschichte anzusiedeln. Zudem zwinge Herders lockere Handhabung des Analogieschlusses Zusammenhänge herbei, die mit empirischen Daten nicht in Einklang zu bringen seien.167 Gänzlich an den Anforderungen moderner Wissenschaftlichkeit vorbei ziele allerdings der Grundriß der Geschichte der Menschheit (1785) des Göttinger Vielschreibers Christoph Meiners. Die Vielfalt der Materialien, die dem Werk zugrunde lagen, ließen den Zweifel zu, „dass er seine Quellen nicht immer mit der nöthigen Prüfung ihrer Glaubwürdigkeit prüft und scheidet“. Auch der wahllose Vergleich von Völkern, die zu verschiedenen Zeiten unter unterschiedlichen Bedingungen gelebt haben, sei doch zumindest problematisch, ebenso wie beliebige Analogiebildungen und die willkürliche Herstellung von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen.168 In dieser Hinsicht genügte Meiners „Begriff der Geschichte der Menschheit“ nicht den Ansprüchen dieser neuen Wissenschaft, da er mit ‚Geschichte‘ nicht „den Gang derselben“ berücksichtige und unter ‚Menschheit‘ die Aufzählung der Völker, aber nicht ihr Wesen beziehungsweise ihre Bestimmung verstand: „Ueberhaupt lieferte Meiners mehr die so genannte Natur-Geschichte des Menschen, d.i. die äussere Naturbeschreibung, als Geschichte der Menschheit“.169 In Carus’ kritischen Anmerkungen wird deutlich, dass die Naturgeschichte der Menschheit mit der Jahrhundertwende den Gestaltungsspielraum ihrer Anfangsjahre eingebüßt und sich eine klare Vorstellung hinsichtlich des ‚Umfangs‘ und der ‚Behandlungsart‘ eingebürgert hatte. Die Pionierrolle der schottischen Gelehrten im Einsatz unorthodoxer Quellen und Methoden in der Menschheitsgeschichte wurde anerkannt und dennoch unter den Auspizien der ‚Wissenschaftlichkeit‘ einer kritischen Beleuchtung unterzogen. Die Benutzung von Reiseberichten als Quellen zur Vorgeschichte der Menschheit wurde, ebenso wie der Vergleich ungleichzeitig lebender Völkerschaften, zunehmend in Frage gestellt. Gleiches galt für den methodischen Vorgang des Analogieschlusses, der quasi als ‚Zauberstab‘ (Novalis) der Geschichte willkürliche Zusammenhänge zu generieren schien.170 Die anthropologische Betrachtungsweise, welche die schottischen Gelehrten sowohl 166 167

Ebd., S. 19f. „Seine Schlüsse aus Analogieen erzwangen freilich Aehnlichkeiten, so von der biedern Schöpfung auf den künftigen unsterblichen Zustand des Menschen; freilich dichtete er oft über die Erfahrung hinaus.“ Vgl. ebd., S. 24. 168 Ebd., S. 26. 169 Ebd., S. 27. 170 Zur Funktion und Kritik am Kunstgriff der Analogienbildung in der Aufklärung vgl. Jörn Garber, Statt einer Einleitung: „Sphinx“ Forster, in: Ders. (Hg.): Wahrnehmung – Konstruktion – Text, S. 1–19, hier S. 19. Vgl. auch Ders., Selbstreferenz und Objektivität, S. 143.

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aufgrund ihrer Ausgangsthesen von der Uniformität und der Perfektibilität, als auch hinsichtlich ihres moralphilosophischen Erkenntnisinteresses in den Vordergrund gestellt hatten, rückte zunehmend in den Hintergrund. Denselben Kritikpunkten wurde auch die erste Generation der deutschsprachigen Menschheitshistoriker unterworfen. Carus’ Werk kann selbst noch als eine klare Parteinahme innerhalb des Richtungskampfes im Forschungsfeld der Menschheitsgeschichte gelten. Er bezog seine Position aus einer engen Verflechtung von Philosophie und Geschichte, während die Naturhistoriker der Menschheit weiterhin um eine beobachtende, am Individuum orientierte Zugangsweise bemüht waren. Den Vertretern einer sich zunehmend als ‚Wissenschaft‘ verstehenden Historie lag es wiederum daran, sowohl anthropologische Anteile wie auch damit verbundene philosophische Spekulationen aus ihrer historiographischen Programmatik zu entfernen. Das Forschungsfeld begann sich auszudifferenzieren und in den verschiedenen Zweigen wurde mit unterschiedlichen methodischen und inhaltlichen Vorgaben operiert – der Abgrenzungsgestus war Teil dieser Entwicklung. Ein systematischer Überblick über die vorherrschenden Modelle der Geschichte der Menschheit in der deutschsprachigen Aufklärung soll diesen Spezialisierungsvorgang illustrieren.

4.5.

Disziplinenbildung in der Wissenschaft vom Menschen

4.5.1. Anthropologie und Naturgeschichte des Menschen Enge Verflechtungen mit der schottischen ‚Science of Man‘ bestanden innerhalb ihrer deutschsprachigen Variante, der ‚Naturgeschichte des Menschen‘, deren Bezeichnung oft gleichbedeutend mit der jungen Gattung ‚Anthropologie‘ verwendet wurde.171 Schon in der Definition dieser neuen Wissenschaft bezog sich der Erfurter Philosophieprofessor Johann Christian Lossius auf Fergusons Grundsätze der Moralphilosophie, ohne dass jener den Terminus selbst benutzt hatte. Die schottische ‚Natural History of Man‘ hatte im deutschsprachigen Raum in vielen Fällen paradigmatischen Charakter für das Verständnis von ‚Anthropologie‘:172 Man versteht unter dieser Lehre überhaupt die natürliche Geschichte oder Naturgeschichte des Menschen. Sie trägt die Fakta vor, welche sich sowohl auf das ganze menschliche Geschlecht, als auch auf den einzelnen Menschen, in Hinsicht seines Erkenntniß- und in Hinsicht seines

171

Vgl. etwa die Vorrede bei Christian Friedrich Ludwig (1751–1823), seit 1789 Professor der Pathologie und Naturgeschichte in Leipzig: „Mein Handbuch ist für Ärzte, Weltweise und Rechtsgelehrte bestimmt, und ich begreife unter Naturgeschichte der Menschenspecies die ganze Anthropologie im weitesten Sinne des Worts [...].“ Ders., Grundriß der Naturgeschichte der Menschenspecis, für akademische Vorlesungen entworfen. Leipzig 1796, S. V. 172 Vgl. Zammito, The Birth of Anthropology, S. 237.

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Willensvermögens beziehen. Daher zerfällt sie in die Naturgeschichte des Verstandes und Herzens. Ihr Zweck ist Kenntnis des Menschen.173

Innerhalb dieses angedeuteten Leib-Seele-Dualismus unterschied Lossius wiederum zwischen der „physiologischen“ und der „pragmatischen“ Menschenkenntnis: Die physiologische Menschenkenntniß geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus den Menschen macht, die pragmatische auf das, was Er, als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht, oder machen kann und soll. – Die Geschichte der Menschheit umfasset alles, was die von einzelnen Menschen, und die von ganzen Völkern in dieser Absicht wesentliches enthalten.174

Während Isaak Iselin mit seiner Schrift für den allgemeineren Begriff der ‚Geschichte der Menschheit‘ stehe, vertrete Ernst Platner den engeren – auf Körper und Seele beschränkten – Begriff der ‚Anthropologie‘. Einigkeit bestehe indessen im gemeinsamen Grundkonzept, nämlich den Menschen, wie jedes andere Wesen, in seine natürlichen Bedingungen eingebettet zu betrachten und dabei, den neueren naturphilosophischen Erkenntnissen gemäß, empirisch zu verfahren.175 Und ‚empirisch‘ bedeutete, dass man, um „das Wachsthum der Sitten und der Cultur zu erforschen“, die „Geschichte zum Grunde legen“ muss.176 Lossius versäumte jedoch 173

Lossius, Art. ‚Anthropologie‘, in: Real-Lexikon, S. 304f., hier S. 304. Der ‚Anthropologiediskurs‘ ist in den letzten Jahren zu einem der maßgebenden Deutungsrahmen der deutschen Aufklärungsforschung geworden. Insbesondere der Germanistik ist dieser Impuls zur Einbeziehung des Körpers in die ‚geistzentrierte‘ Ideen-, Wissenschafts- und Literaturgeschichte zu verdanken. Dass daraus ein anhaltender Forschungstrend geworden ist, belegt die Mannigfaltigkeit von Publikationen und Forschungsprojekten der letzten Dekaden. Vgl. den aus einem germanistischen Symposion 1992 in Wolfenbüttel hervorgegangenen Sammelband von Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart / Weimar 1994. „Was für die Geistesgeschichte ‚Geist‘ war, ist daher für die Körpergeschichte ‚Diskurs‘ geworden.“ Vgl. Wolfgang Riedel, Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft, in: IASL, Sonderheft 6 (1994), S. 93–157, hier S. 98. Zum aktuellen status quo vgl. Jutta Heinz, Literarische oder historische Anthropologie, in: W. Schmitz / C. Zelle (Hg.): Innovation und Transfer. Naturwissenschaften, Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Dresden 2004, S. 195–207. Trotz der Etikettierung ‚Historische Anthropologie‘ für neuere geschichtswissenschaftliche Strömungen ist die Historiographiegeschichte zögerlich mit ihrem ‚humanwissenschaftlichen‘ Erbe umgegangen. Die Funktion von ‚Anthropologie‘ bei der Ausbildung einer sich als Wissenschaft verstehenden Historie analysiert und bewertet Horst Dreitzel, Die Entwicklung der Historie zur Wissenschaft, S. 281f. Zum Verhältnis von Historie und Anthropologie als Grundlage des modernen Geschichtsbegriffs vgl. Prüfer, Die Bildung der Geschichte, S. 182. 174 Lossius, Art. ‚Anthropologie‘, in: Real-Lexikon, S. 304. Diese Definition war eine Paraphrase von Kants posthum veröffentlichter Vorlesung Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), ohne dass sich Lossius direkt auf Kant bezog. 175 Lossius, Art. ‚Anthropologie‘, in: Real-Lexikon, S. 305. Lossius selbst hatte sein Lehrbuch Unterricht der Gesunden Vernunft teilweise wörtlich an Fergusons Grundsätze der Moralphilosophie angelehnt und mit einer ‚Geschichte der Menschheit‘ begonnen, die teils das gesamte Geschlecht, teils das Individuum in den Blick nahm. Vgl. Ders., Unterricht der Gesunden Vernunft. Zum Gebrauch seiner Zuhörer hg. v. Johann Christian Lossius. 2 Bde. Gotha 1777. 176 Ebd., Bd. 2, S. 51.

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nicht, auf die methodische Schwierigkeit dieser induktiven Grundlegung der Menschheitsgeschichte hinzuweisen: „Wo die Geschichte schweigt, da lassen sich keine Fakta mit Gewissheit sammeln, dann wird die ganze Sache problematisch und man muß alsdann suchen mit Wahrscheinlichkeit sich zu behelfen“.177 Diesen methodisch schwierigen Weg, der stärker auf Mutmaßungen denn auf Datenmaterial beruhe, hätten Montesquieu, Flögel und Iselin eingeschlagen. In der Tat hatte Issak Iselin mit seinen Philosophischen Muthmassungen über die Geschichte der Menschheit 1764 einen ersten umfassenden Versuch zu einer Naturgeschichte des Menschen vorgelegt, der aus einer Initiative zu einem erweiterten Gelehrtendiskurs in dieser Frage hervorging.178 Die Berner ‚Patriotische Gesellschaft‘ wollte in ihrem Gründungsjahr 1762 die Aufmerksamkeit einer größeren akademischen Öffentlichkeit erlangen und trat mit vier Preisfragen hervor, die in führenden europäischen Zeitschriften publiziert wurden.179 Die Idee zu diesem intellektuellen Wettbewerb ging auf einen Briefwechsel zwischen dem Berner Juristen Daniel Fellenberg (1736–1801) und Lord Kames zurück. Fellenberg hatte darin zunächst speziell seiner Bewunderung für dessen Historical Law Tracts sowie seiner allgemeinen Hochachtung der geistigen Blüte Schottlands Ausdruck verliehen und Kames eine Mitgliedschaft in der Gesellschaft angetragen.180 Der solcherart geehrte schottische Rechtsgelehrte hatte in der nun folgenden inhaltlichen Verständigung darauf gedrungen, der These, nach der die Natur des Menschen einen größeren Einfluss auf die Konstitution von Gesellschaften habe, als die äußeren Ursachen – wie insbesondere Montesquieu betont hatte –, genauer nachzugehen. Nachdem man sich innerhalb der ‚Patriotischen Gesellschaft‘ auf Preisfragen zu diesem Themenkomplex geeinigt hatte, wurden unter anderem Verbin177 178

Ebd., S. 52. Iselins Schrift ist zu Recht, nicht nur im deutschen Sprachraum, als Pionierwerk des Genres hervorgehoben worden. Vier Jahre vor Iselins Arbeit waren Jens Krafts Kurze Geschichte der vornehmlichen Einrichtungen, Sitten und Meinungen der wilden Völker (1760) auf Dänisch und Charles de Brosses’ Du culte des dieux fétiches (1760) erschienen, die ähnliche Konzepte verfolgten. Vgl. Ulrich Im Hof, Isaak Iselin und die Spätaufklärung. Bern / München 1967, S. 88. 179 Simone Zurbuchen hat die Berner ‚Patriotische Gesellschaft‘ im Selbstverständnis einer ‚société cosmopolite‘ als Hort eines ‚philanthropischen Humanismus‘ ausgemacht, während die Zürcher ‚Helvetische Gesellschaft‘ eher für einen ‚radikal-politischen Patriotismus‘ stand. Diese Zuordnung finde in den Geschichtsauffassungen der jeweiligen Protagonisten – Iselin und Bodmer – ihren Niederschlag. Vgl. Dies., Patriotismus, S. 76ff. 180 „Vos Historical Law-Tracts nous paraissent être le modèle, que tous ceux qui veulent écrire sur la législation historique doivent suivre. Cet ouvrage honora vôtre nation, il nous inspira un véritable respect pour son auteur, et il nous engage a vous prier, My Lord, de vouloir étre membre de la Société.“ Fellenberg an Kames, 3. April 1762. Und weiter: „Edimbourg est aujourdhui le sejour de la science et du bon gout, C'est dans cette ville que paraissent depuis quelque temps les meilleurs ouvrages Anglais. Nous voudrions connaître plus particulièrement les hommes célèbres qui s’y trouvent.“ Fellenberg an Kames, 19. Dezember 1762, zitiert nach: Ian Simpson Ross, Quaffling the „Mixture of Wormwood & Aloes”: A Consideration of Lord Kames Historical Law-Tracts, in: Texas Studies in Literature and Language 8 (1967), S. 499–518, hier S. 514f.

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dungen zu Rousseau, Helvétius, Hume, Diderot, Michaelis, Sulzer, Kames, Smith, Zimmermann und Mendelssohn aufgenommen. Besonders zwei Fragen fanden allgemeines Interesse und die Philosophen Zimmermann, Sulzer, Michaelis, Mendelssohn, Hume und Kames sendeten Beiträge dazu ein. Diese Fragen lauteten: „1.) Durch welche Mittel können die verdorbenen Sitten eines Volkes wieder hergestellt werden, 2.) Welches Volk ist jemals das glücklichste gewesen?“181 Der Baseler Ratsschreiber Iselin wurde durch diese Fragestellung animiert, seinen schon seit den 1750er Jahren gehegten Plan zu einer ‚Geschichte der Menschheit‘ ins Werk zu setzen. Seine maßgeblichen Impulse hatte Iselin aus der angelsächsischen Moralphilosophie – von Bacon, Locke, Shaftesbury und Fordyce – erhalten; die jüngsten Anregungen zu einer historiographischen Umsetzung der Moralphilosophie in Form einer Naturgeschichte des Menschen entstammten Humes History of England und Kames’ Historical Law Tracts.182 Der Einfluss des Humeschen Geschichtskonzepts bestand in seiner narrativen Verkettung der Antriebe des Menschen und ihrer Umsetzung auf der historischen Handlungsebene nach Maßgabe von Ursache und Wirkung. Ein Zusammenhang, der von den Zeitgenossen als ‚pragmatische Geschichtsschreibung‘ charakterisiert wurde. Folglich als der Versuch, die historischen Ereignisse auf die dahinterliegende Motivstruktur der Handelnden zurückzuführen, um dieses Gefüge in geordneter Weise als Kausalitätszusammenhang darstellen zu können.183 Im Hinblick auf eine inhaltliche Abgrenzung stellte für Iselins Naturgeschichte, wie für etliche Unternehmungen seiner Art, die Auseinandersetzung mit Rousseaus ‚Zweitem Diskurs‘ und dem dort entwickelten Naturzustandstheorem eine besondere Herausforderung dar. Einiger Vorbehalte zum Trotz wurde Iselins Menschheitsgeschichte positiv aufgenommen und 1767 erschien eine überarbeitete, selbstbewusstere Neuauflage,184 die nun nicht mehr anonym publiziert war, auf die ‚Muthmaßungen‘ im

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Nachdem man sich trotz der vielen qualitativ wertvollen Einsendungen nicht für die Vergabe einer Auszeichnung an eine der eingegangenen Schriften entscheiden konnte, wurden die Fragen verändert und neu gestellt. Die allgemeinste lautete nun: „Wie können die Wahrheiten der Philosophie zum Besten des Volkes allgemeiner und nützlicher werden?“ Den detailliertesten biographischen Zugang zu Iselin bietet noch immer Ulrich Im Hof, Isaak Iselin. Sein Leben und die Entwicklung seines Denkens bis zur Abfassung der „Geschichte der Menschheit“. Bd. 1. Basel 1947, hier S. 252ff. 182 „Es galt quasi, das, was Hume, den Iselin für den größten Geschichtsschreiber hielt, an England im Detail versucht hatte, in großen Zügen auf die Universalgeschichte zu übertragen.“ Vgl. ebd., S. 85. 183 Vgl. Kühne-Bertram, Aspekte der Geschichte und der Bedeutung des Begriffs „Pragmatisch“, S. 169. Zum Einfluss von Hume vgl. auch Zammito, The Birth of Anthropology, S. 297. 184 Iselins ‚Geschichte der Menschheit‘ wurde von den verschiedensten Vertretern des Genres von Anbeginn an als unverzichtbare Initiation wahrgenommen. Schon der Herausgeber von Thomas Abbts (1738–1766) menschheitsgeschichtlichem Versuch, Johann Peter Miller (1725– 1789), hebt das Verdienst und nichtsdestotrotz die Reformbedürftigkeit des Iselinschen Ansatzes hervor. Vgl. Johann Peter Miller, Vorrede, in: Thomas Abbt, Fragment der ältesten Begebenheiten des menschlichen Geschlechts. Halle 1767, S. 3–48, hier S. 8f. Sein Freund Abbt

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Titel verzichtete und als bloße Geschichte der Menschheit firmierte.185 Iselins Erkenntnisinteresse lag, entsprechend der Preisaufgabe, im gesellschaftspolitischen Nutzen einer Annäherung an ein naturgemäßes Menschenbild, das offenbar stark von den gängigen naturrechtlichen Konstruktionen abwich. Die Grundlegung eines solchermaßen erneuerten Menschenbildes sei in der Geschichte der Völker zu suchen, da eine Betrachtung des isolierten Einzelmenschen zu diesem Unterfangen zu kurz greife.186 Die Untersuchung des Individuums eigne sich zur Beförderung der Moral im Einzelnen, nicht jedoch im Allgemeinen: Aus den Schicksalen vieler Völker zusammengenommen, lassen sich die allgemeinen Gründe der Vorzüge beobachten, welche der gesittete Stand und die bürgerliche Verfassung dem menschlichen Geschlechte gewähret, und der Nachtheile, welche sie demselben zugezogen haben.187

Iselins Kunstgriff bestand darin, die Parameter der auf das Individuum ausgerichteten Moralphilosophie auf die Gesellschaft zu übertragen; ihre Regeln waren aus der Historie ebenso zu entschlüsseln wie die Grundsätze der menschlichen Entwicklung aus der individuellen Biographie.188 Gemäß dieser Überlegung wandte Iselin individualpsychologische Erkenntnisse auf die Entwicklung der Menschheit an: Als ein Kind genießt der Mensch schwache, aber unschuldige und ihm sehr kostbare Vergnügen. Ohne Hochachtung, ohne Bewunderung zu verdienen, ist sein Zustand angenehm und erwünschlich. Mit dem Anwachsen seiner Fähigkeiten werden seine Gefühle und seine Begierden lebhafter; und so gerät der Jüngling desto leichter in die Unordnung, wie grösser die Gaben sind, mit welchen ihn die Natur begünstigt hat. Die Einbildung erhitzet seine Sinnlichkeit und setzet ihn in die Gefahr der äussersten Ausschweifung. Glücklich ist der Mann, wenn noch die Vernunft ihn an dem Rande des Verderbens antrift, und seinen Gang durch ihre wohlthätige Fackel beleuchtet. Dieses Glück, welches einzelnen Menschen bisweilen gewähret wird, sollte es ganzen Völkerschaften nicht endlich auch einmal zu Theile werden?189

habe sich besonders an der „Geschichtskunde, der philosophischen Moral, den besten Schriften der Engländer“ orientiert. Vgl. ebd., S. 6. 185 Isaak Iselin, Über die Geschichte der Menschheit, neue und verbesserte Auflage. 2 Bde. Zürich 1770. Eine umfassende Würdigung der ‚Eigenbedeutung‘ von Iselins Schrift in Abgrenzung zu Ansätzen, die ihre Abhängigkeit von Voltaire hervorheben, hat neuerdings Helmut Zedelmaier vorgelegt. Vgl. Ders., Der Anfang, S. 251ff. 186 „Aber wie verwickelt ist nicht diese Erkenntnis? Welch ein Unterschied ergiebt sich nicht zwischen dem Menschen des Philosophen, und zwischen dem Menschen des Geschichtsschreibers? Wie einfach ist nicht der erstere in den meisten psychologischen Lehrgebäuden! Unter wie unendlich verschiedenen Gestalten zeiget sich nicht der andre dem aufmerksamen Beobachter! Welch eine reiche Quelle von Betrachtungen eröfnet sich nicht hier.“ Vgl. Iselin, Geschichte der Menschheit, S. 6f. 187 Ebd., S. 11. 188 Auf die Parallelität des Menschheitskonzepts von Iselin mit dem gleichzeitig entstehenden Genre des Bildungsromans, wie Wielands Geschichte des Agathon (1766), wurde bereits zeitgenössisch von Herder hingewiesen. Dass eine Bezugnahme Wielands, wie auch später vice versa Iselins, nicht intendiert war, zeigt Zedelmaier, Der Anfang, S. 255. 189 Iselin, Geschichte der Menschheit, S. 14f.

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Wurden folglich die Antriebe der menschlichen Natur auf den Gattungsprozess übertragen, verhalfen sie – vergleichbar mit dem moralischen Erfolg und Scheitern in der individuellen Biographie – zu Einsichten in den übergeordneten Zusammenhang des Verfalls und Gedeihens der Völker. Die Parallelität zum schottischen Modell der ‚Natural History of Mankind‘ erweist sich in vielerlei Hinsichten. Beiden Varianten lag die Auseinandersetzung mit der französischen ‚histoire naturelle‘ zugrunde. In Anlehnung an das entwicklungsgeschichtliche Konzept Buffons wurde der Mensch bei Iselin als integraler Bestandteil der Geschichte der Natur interpretiert.190 Vor dem Hintergrund dieses biologischen Entwicklungsdenkens konnte das Naturzustandstheorem Rousseaus, in seiner Ineinssetzung von idealischem Ursprungsort und Ziel, als Paradox entlarvt und damit vorsichtig infrage gestellt werden.191 Fest hielt Iselin indessen, ebenso wie die schottischen Menschheitshistoriker, an Rousseaus Idee der Perfektibilität, die auch er mit der These von der uniformen Menschennatur verband und in eine gattungsgeschichtliche Perspektive rückte. Iselins Konzept ist in diesem Dreischritt mit Fergusons Essay of Civil Society und insbesondere mit Millars Origin of the Distinction of Ranks vergleichbar. Die geschichtstheoretische Perspektive entsprang bei Iselin einer erweiterten anthropologischen Dimension: die physiologisch-anthropologische Kondition des Menschen wurde mit seiner moralischen Bestimmung verbunden und in den Gattungsfortschritt projiziert.192 Ausgehend von anthropologischen Thesen folgte Iselin seinem moralphilosophischen Erkenntnisinteresse, wobei ihm die Geschichte in der Tradition der ‚Historia Magistra Vitae‘ als Datenspeicher diente. Von einer geschichtsphilosophischen Konstruktion im engeren Sinne zu sprechen, erscheint insofern problematisch, als Iselin weder eine ‚Notwendigkeit‘ innerhalb des historischen Verlaufs feststellte, noch den Fortschritt innerhalb des Gattungsverlaufs einer vom Individuum abgekoppelten Logik unterwarf.193 Stärker noch als in den späten schottischen Menschheitsgeschichten, die der Geschichte zunehmend eine Eigengesetzlichkeit zubilligten, verfuhr Iselin nach dem Vorbild einer ‚Moral in Beispielen‘.194 Dass er die Prozesshaftigkeit historischer Abläufe anstelle ihrer Kontingenz hervorhob, war das Resultat der Naturalisierung des Menschen im Konzept der ‚Naturgeschichte‘

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Ebd., S. 161. Ebd., S. 191. Lossius zählte Iselin deshalb zu den ‚conjectural‘ verfahrenden Historikern. Vgl. Lossius, Unterricht der Gesunden Vernunft, Bd. 2, S. 52. 193 In diesem Sinne überfrachtet Zedelmaier Iselins Projekt, indem er es zu sehr aus den Augen einer idealistischen Zuspitzung Kantischer Provenienz interpretiert. Vgl. Ders., Der Anfang, S. 257. Auch Andreas Urs Sommer spricht von Iselins Geschichtsphilosophie, versteht allerdings darunter in einem weiteren Sinne ‚Philosophie der Geschichte‘ als einer kontingenzüberwindenden Sinnstiftungsleistung. Vgl. Ders., Geschichte als Trost. Isaak Iselins Geschichtsphilosophie. Basel 2002, S. 29f. 194 In dieser Tradition sieht auch Carus das Werk, dessen „Menschenwohl athmende Gesinnung und dessen Popularität“ er hervorhebt. Vgl. Ders., Ideen zur Geschichte der Menschheit, S. 17f.

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und gleichzeitig der Anthropologisierung der Geschichte durch die Verschmelzung der Thesen von der ‚Uniformität‘ und der ‚Perfektibilität‘.195 Durch Iselins moralphilosophisches Erkenntnisinteresse auf der Grundlage einer Verbindung der Natur des Menschen mit einem größeren sittlichen Zusammenhang kann seine sinnstiftende Gestaltung innerhalb der Menschheitsgeschichte vielmehr als Ausdruck einer ‚pragmatischen Geschichtsauffassung‘ interpretiert werden. Der ‚Pragmatismus‘ speiste sich dabei einerseits aus Iselins pädagogischer Intention, andererseits aus dem Bemühen um eine individualpsychologische Ursachenforschung historischer Ereignisse. Trotz des wachsenden Interesses am Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zwischen anthropologischen Motivlagen und historischen Ereignissen in der ‚pragmatischen Geschichtsschreibung‘ der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts196 blieb bei Iselin der Primat der Motivforschung bestehen. Dabei diente die Historie zunächst nur als Experimentierfeld. Gerade diesen Vorrang der Moralphilosophie und ihrer Illustration durch Geschichten sah Iselin in vorbildhafter Weise in Fergusons Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft verwirklicht, dessen deutsche Übersetzung er 1770 – als Nestor der Menschheitshistorie – für die Allgemeine Deutsche Bibliothek rezensierte und dezidiert als „Sittenlehre“ verstanden wissen wollte: [...] [S]o sehen wir doch sein Werk für eines der schätzbarsten an, welches in unsern Zeiten geschrieben worden ist. Wir sehen es sogar als eine Pflicht an, dasselbe vorzüglich allen denjenigen zu empfehlen, welche junge Staatsleute in den Geschichten [sic!] und in den Staatswissenschaften zu unterrichten haben. [...] Sie können da die Grundsätze von der erhabensten Sittenlehre des Staatsmannes schöpfen; und sie können da glückliche Saamen hernehmen, welche in edle und für die Tugend gebohrne Seelen ausgestreuet, dereinst zu der Glückseligkeit der Völker die herrlichsten Früchte bringen müssen.197

Einen direkten, nicht nur literarisch vermittelten Zugang zur angelsächsischen Wissenschaftslandschaft hatte der berühmte Weltreisende und angesehene Naturforscher Georg Forster.198 Als Begleiter seines Vaters Johann Reinhold Forster 195

Eschenburg charakterisiert dieses Genre, zu dessen vornehmsten Vertreter er Iselin zählt, folgendermaßen: „Diese Geschichte des Menschen steht mit der Naturhistorie und Anthropologie in genauer Verbindung.“ Vgl. Ders., Wissenschaftskunde, S. 44. 196 Kühne-Bertram konstatiert für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, dass ‚pragmatische Geschichtsschreibung‘ „vornehmlich darin [bestehe], historische Ergebnisse durch psychologische Erforschung der Motive, Absichten und Ziele der geschichtlich wirksam handelnden Menschen aufzuklären und sie dann in geordneter und in verknüpfter Weise so darzustellen, daß sie dem Leser lehrreich und für sein eigenes Handeln nutzbringend sind“. Vgl. Dies., Aspekte der Geschichte und der Bedeutungen des Begriffs „Pragmatisch“, S. 169. 197 [Isaak Iselin], Fergusons Versuch über die Geschichte. Sittenlehre aus der Universität zu Edenburg, aus dem Engl. übersetzt, Leypzig bey J. F. Junius 1768, in: Allgemeine Deutsche Bibliothek 1 (1770), S. 154–168, hier S. 167. Mängel sah Iselin allerdings in Fergusons Stil, der von den französischen Arbeiten, etwa denen Marmontels oder Thomas’, fraglos überragt werde. Vgl. ebd., S. 168. Vgl. dazu Oz-Salzberger, Translating the Enlightenment, S. 182ff. 198 Das Werk Georg Forsters, das aufgrund seiner ungebrochenen Begeisterung für die Französische Revolution lange Zeit verfemt blieb, erfreut sich in der Forschung, ebenso wie seine Lebensgeschichte, größter Beliebtheit. Unter der Vielzahl von Publikationen sei die neue Biogra-

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(1729–1798) hatte er zwölf Jahre seiner Jugend in England verbracht, war als ‚Wunderkind der Sprachen‘ 1767 vor der ‚Society of Antiquaries‘ in London aufgetreten und verbarg sich hinter den meisten Übersetzungstätigkeiten seines Vaters in England.199 Im Gegensatz zur Mehrheit seiner anglophilen Zeitgenossen besaß Georg Forster eine sehr genaue Kenntnis der angelsächsischen Gelehrtengesellschaft, ihrer Regeln, ihrer Ein- und Ausschlussprinzipien und – durch sein breites Interessenspektrum von Naturgeschichte bis Altphilologie – ihrer vielfältigen Produktionen.200 Johann Reinholds und Georgs reger Umgang mit akademischen Kreisen und besonders die Lehrtätigkeit des Vaters an der Dissenters Academy in Warrington (1767–1769) lassen darauf schließen, dass der jüngere Forster auch durch sein eigenes Studium an der Akademie mit den philosophischen Debatten auf den Inseln vertraut war.201 Diese biographische Voraussetzung, die mit mangelnder Ehrfurcht und einem gesunden Urteilsvermögen – im Sinne einer durchaus kritischen Haltung gegenüber dem vielgepriesenen ‚Britannien‘ – einherging, machten Forster seit 1788 zum idealen Literaturberichterstatter für Johann Wilhelm von Archenholtz’ Annalen der Brittischen Geschichte.202 Dass es bei den neueren Strömungen in der Philosophie besonders die Schotten waren, deren Werke Georg Forster als hervorhebenswert erachtete, erläuterte er in den ‚Litteraturberichten‘ folgendermaßen: „Schottland ist gleichwohl in tiefsinni-

phie des Forster-Spezialisten Ludwig Uhlig hervorgehoben, die besonders die Bezüge Forsters zu dem angelsächsischen Wissenschaftskontext zu rekonstruieren versucht. Vgl. Uhlig, Georg Forster, S. 86ff. 199 Gemeint sind hier etwa die Reisebeschreibungen einiger Linné-Schüler (Kalm, Hasselquist, Osbeck, Löfling), die Georg Forster in Johann Reinholds Namen ins Englische übertrug. Vgl. Uhlig, Forster, S. 34f. 200 Aufgrund dieses Befundes ist es bemerkenswert, dass Forster nur selten vor seinem angelsächsischen Bildungshintergrund interpretiert worden ist. Eine Ausnahme macht Horst Dippel, Georg Forster und England: Weltläufigkeit und Tradition im Denken des Forschers und Revolutionärs, in: Georg-Forster-Studien 1(1997), S. 101–124. 201 Die Dissenters Academies wurden als Folge der Restauration von Kirche und Staat 1660 gegründet. Da Nicht-Anglikaner vom Studium in Oxford und Cambridge ausgeschlossen waren, boten die Dissenters Academies eine kostengünstigere, weniger reglementierte und damit gesellschaftlich durchlässigere Alternative zum traditionellen englischen Universitätssystem. Vgl. John Gascoigne, Die Universitäten Oxford und Cambridge, in: Holzhey (Hg.): Grundriss der Geschichte der Philosophie, S. 5–20, S. 14ff. Johann Reinhold Forster war als Tutor für Französisch und Naturgeschichte der Nachfolger von Joseph Priestley und der Vorgänger von Jean Paul Marat. Vgl. Uhlig, Forster, S. 29. 202 Georg Forster, Geschichte der Englischen Litteratur (1788/1789/1790), in: Ders., Werke. Bd. 7. Berlin 1963, S. 57–227. Der seltene Rückgriff auf Forsters Literaturberichte in der Forschung mag mit ihrer holzschnittartigen Darstellung zusammenhängen und dem Umstand geschuldet sein, dass Forster vor allem im ersten Teil unzufrieden damit war, ohne nochmalige Einsicht in ältere Werke beziehungsweise nur aus zweiter Hand über Neuerscheinungen berichten zu müssen, da ihm die nötigen Bücher nicht zur Verfügung standen. Vgl. Forster an Heyne, 28. November 1789: „Überhaupt wird es künftig nicht wohl möglich seyn über die Produkte der englischen Künstler, ohne Anschauen zu urtheilen. Zum ersten Mal konnte man dem Publikum wohl einen blauen Dunst vormachen, und auch aus alten Erinnerungen sprechen.“ Vgl. Ders., Werke. Bd. 15. Berlin 1981, S. 378.

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gen Untersuchungen jetzt geschäftiger als England“, was darauf zurückzuführen sei, dass man in England der Meinung ist, dass seit Locke „auf dem Felde der theoretischen Philosophie keine neue Erndte mehr zu gewinnen sey“.203 Prägend war für Forster die Konfrontation der älteren Schulphilosophie, die als „Sophisterey“ geschmäht wurde, mit neueren philosophischen Positionen, die skeptischen und empirischen Einsichten verpflichtet waren und denen wiederum ‚Atheismus‘ sowie unreflektierter ‚Positivismus‘ vorgeworfen wurde. In Forsters Augen existierte insbesondere in England eine fehlgeleitete Nationalisierung dieser Entgegensetzung, in der die ältere Scholastik mit der deutschen Philosophie und die neueren Strömungen mit den Verdiensten der Engländer gleichgesetzt wurden.204 Beide Zuschreibungen befand Forster als unzutreffend, wie er auch selbst nie in die eine oder andere zugespitzte Richtung neigte, was in seiner lebenslangen ausgewogenen Sympathie für die vermeintlich antagonistischen Positionen Linnés und Buffons in der Behandlung der Naturgeschichte seinen Ausdruck fand. Jeder der beiden Entwürfe hatte für ihn seine klare Berechtigung. Besonderes Interesse hegte er vielmehr an Vorschlägen zur Synthese der deduktiven und induktiven Ansätze, wie sie etwa Adam Ferguson in seinem Lehrbuch Grundsätze der Moralphilosophie bot.205 Forsters biographisch eingelöste, vorrangig empirisch verfahrende wissenschaftliche Tätigkeit als sammelnder Naturhistoriker ließ ihn nicht blind für die Probleme wissenschaftlicher Heuristik, Urteilsbildung und der Festsetzung von Naturgesetzen werden. Sein Vortrag Ein Blick in das Ganze der Natur, den er 1781 – im Jahr als er Fergusons Übersetzer Garve kennen lernte – an der Universität von Kassel hielt, muss vor dem Hintergrund dieser erkenntnistheoretischen Problemstellung gelesen werden. Darin beschreibt er die Methode des Naturforschers als eine Pendelbewegung von den empirischen Einzelerscheinungen zu den Einsichten in den Gesamtzusammenhang der Natur, um daraus Gesetzmäßigkeiten ableiten zu können.206 Keine der beiden Erkenntnisformen sei ohne die andere zu erlangen, wobei 203 204

Forster, Geschichte der Englischen Litteratur, vom Jahr 1789, S. 83–110, hier S. 90. „Selbst das Desultorische der Philosophie jener Insulaner ist innig mit ihrem National-Character verbunden, dahingegen der methodische Geist unserer Forscher ihnen unter dem verhassten Namen der Sophisterey schon Widerwillen einflößt.“ Vgl. ebd., S. 90. 205 Als eben einen solchen Versuch sah Forster auch Kants kritische Philosophie an, deren Verbreitung er sich auch im englischen Raum wünschte. Vgl. ebd., S. 91. Zur Annäherung der erkenntnistheoretischen Positionen von Forster und Kant vgl. Garber, Statt einer Einleitung, S. 9. Als Mittler dieser scheinbar unversöhnlichen Positionen wird Ferguson, trotz des Hinweises auf methodische Probleme, in einer Rezension hervorgehoben. Vgl. [Anonym], Adam Fergusons Grundsätze der Moralphilosophie, in: Allgemeine Deutsche Bibliothek 17 (1772), S. 319–342, hier S. 322. 206 „Nur wahres Genie dringt in das finstre Chaos der Gelehrsamkeit, und schafft es zur organischen Gestalt um: es verdauet gleichsam das Ganze, und bereitet aus seiner heterogenen Mischung, gesunden, gleichartigen Lebenssaft. Mit kühnen aber sichern Schritten nahet es sich der Wahrheit, als seinem Ruhepunkte, [...] mit eigenthümlichem Scharfsinn verkettet es Erfahrungen, und ergreift die entferntesten Resultate eines geprüften Satzes, [...] ja es fühlt schon die neue Wahrheit am Ende einer Reihe von Schlüssen [...].“ Vgl. Forster, Ein Blick in das Ganze der Natur, in: Ders., Werke, Bd. 8, Berlin 1974, S. 77–97, hier S. 77f.

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die Erfahrung immer am Anfang stehen müsse. Die hypothetischen Gesetze der Natur lieferten die theoretische Grundlage für die Entschlüsselung der empirischen Naturumwelt und sorgen damit wiederum für eine präzisere Bestimmung des Zusammenhangs – der wirkenden Kraft – zwischen den Erscheinungen der Natur. Dieser Zusammenhang unterlag also keiner formalen Ordnung, sondern sollte als ein sich gegenseitig bedingendes Kräftefeld verstanden werden. Das heißt, die zur Erklärung des Kräftefeldes veranschlagten Naturgesetzlichkeiten wurden von Forster nicht als notwendige Kausalitäten, sondern als wandlungsfähige Beschreibungsmodi eines empirisch nur indirekt zu erfassenden Raum-Zeit-Kontinuums begriffen. Solche erkenntnistheoretischen Überlegungen waren die Grundlage für Forsters Beitrag zur ‚Naturgeschichte des Menschen‘, an dem er seit seiner Weltreise arbeitete. Neben vielen Hinweisen im Gesamtwerk fand diese Beschäftigung in der kleinen Schrift Leitfaden zu einer künftigen Geschichte der Menschheit (1789) systematische Niederlegung. Dieser kurze Beitrag, ursprünglich in Heinrich Christian Boies (1744–1806) Neues Deutsches Museum publiziert, wurde zu Recht als eine inhaltliche und methodische Positionierung innerhalb des spätaufklärerischen Genres der ‚Geschichte der Menschheit‘ interpretiert.207 Auch Forster orientierte seine Gattungsgeschichte ein Vierteljahrhundert nach Iselin an einem Schema der Individualentwicklung des Menschen. Er relativierte jedoch die Übertragung der individuellen Entwicklung auf die Menschheitsgeschichte, wie sie Iselin noch vorgenommen hatte, indem er ihren traditionell metaphorischen Charakter hervorhob und den Analogieschluss als methodische Grundlage dieses Verfahrens zumindest problematisierte.208 Dennoch stand auch ihm nicht an, ein „Sistem der so genannten Geschichte der Menschheit“ zu entwerfen.209 Im Gegensatz zu Iselins psychologischen Analogien zur Gattungsgeschichte griff Forster dabei auf eine rein 207

Georg Forster, Leitfaden zu einer künftigen Geschichte der Menschheit, in: Ders., Werke. Bd. 8. Berlin 1974, S. 185–193. Es ist das Verdienst von Tanja van Hoorn, diese bislang wenig beachtete, kleine Schrift Forsters einer eingehenden Analyse zu unterziehen und im Kontext der Anthropologiedebatten der Spätaufklärung zu verorten. Vgl. van Hoorn, Dem Leibe abgelesen, S. 177ff. 208 Eine vergleichbare Relativierung des Individualschemas für die Menschheitsgeschichte findet sich bei Ferguson: „But it must be obvious, that the case of nations, and that of individuals, are very different. The human frame has a general course; it has, in every individual, a frail contexture, and a limited duration; it is worn by exercise, and exhausted by repetition of its functions: But in a society, whose constituent members are renewed in every generation, where the race seems to enjoy perpetuated youth, and accumulating advantages, we cannot, by nay parity of reason, expect to find imbecilities connected with mere age and length of days.” Vgl. Ferguson, Essay, S. 199. 209 „Das Bindungsglied war jener so bekante, als gemißbrauchte Vergleich der verschiedenen Lebensepochen des einzelnen Menschen mit den Stufen der Kultur bei ganzen Familien und Völkern. Ich weiß wie viel ich wage, indem ich diese Ähnlichkeit des Allgemeinen mit dem Besonderen wieder hervorsuche. Wie leicht sind Ähnlichkeiten nicht überall gefunden?“ Vgl. Forster, Leitfaden, S. 186. Zu Forsters Bemühungen um die Relativierung des Verhältnisses von Geschichtstheorie und Anthropologie vgl. Garber, Selbstreferenz und Objektivität, S. 173.

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physiologische Grundlegung derselben zurück. Seinen solcherart begründeten Entwurf der Menschheitsgeschichte betitelte er nicht ohne Hintergedanken als ‚Leitfaden‘. Für den interessierten Zeitgenossen war der Bezug zu Kants Formulierung von einem „Leitfaden zu einer solchen Geschichte“ in weltbürgerlicher Absicht transparent.210 Forster schien jedoch Kants Ankündigung kein Vertrauen zu schenken, dass er keinesfalls „mit dieser Idee einer Weltgeschichte, die gewissermaßen einen Leitfaden a priori hat, die Bearbeitung der eigentlich bloß empirisch abgefaßten Historie verdrängen“ wolle.211 Somit stand er auch im Streit zwischen Kant und seinem ehemaligen Meisterschüler Herder auf der Seite des letzteren und teilte mit diesem die Sorge, dass Kants metaphysische Grundlegung der Menschheitsgeschichte deren empirischen Gehalt aufhebe.212 Nicht nur die physiologischen Grundlagen derselben, nein, selbst das psychologische Fundament der Erforschung der Menschennatur würde in der ‚neueren Philosophie‘ aus den Augen verloren.213 Schon in der Auseinandersetzung um den Ursprung der Menschheit hatte sich Forster mit seiner Schrift Noch etwas über die Menschenraßen (1786) gegen Kants Bestimmung des Begriffs der Menschenrace (1785) gewendet.214 Die Debatte, welche um die Frage von Monogenese oder Polygenese der Menschheit kreiste, gibt bereits Aufschluss über die verschiedenen Wissenschaftstraditionen, denen sich die Kontrahenten verpflichtet fühlten und deren Prägung im Leitfaden Forsters ihren klaren Ausdruck findet. Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass der entscheidende Unterschied im Erfahrungsbegriff beider Autoren begründet liegt, doch greift es zu kurz, Forster dem älteren statischen Naturgeschichtskonzept Linnéscher Provenienz zuzuordnen und Kant dagegen in der Tradition der modernen Naturphilosophie zu verorten.215 Kant hatte selbt für diese Traditionsbil210

„Es ist hier keine Auskunft für den Philosophen, als daß, da er bei Menschen und ihrem Spiele im großen gar keine vernünftige eigene Absicht voraussetzen kann, er versuche, ob er nicht eine Naturabsicht in diesem widersinnigen Gange menschlicher Dinge entdecken könne; aus welcher, von Geschöpfen, die ohne eigenen Plan verfahren, dennoch eine Geschichte nach einem bestimmten Plane der Natur möglich sei. – Wir wollen sehen, ob es uns gelingen werde, einen Leitfaden zu einer solchen Geschichte zu finden [...].“ Vgl. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte, A 387, 388. 211 Ebd., A 410. 212 Zur Stellung Forsters in der Konfliktlinie zwischen Kant und Herder vgl. den Beitrag von Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Der Streit um die Einheit des Menschengeschlechts. Gedanken zu Forster, Herder und Kant, in: C.-V. Klenke (Hg.): Georg Forster in interdisziplinärer Perspektive. Berlin 1994, S. 115–132, hier S. 118ff. 213 „[D]enn die neuere Philosophie hat wichtigere Sorgen, als diese, dem Wohnort der Seele nachzuspüren. Sie steht am Rande jenes kritischen Abgrunds [...], so läuft sie wirklich Gefahr, im großen idealischen Nichts sich selbst zu verlieren, [...].“ Vgl. Forster, Leitfaden zu einer Geschichte, S. 185f. 214 Die ‚Kant-Forster-Kontroverse‘ zur Frage der Entstehung der Menschenrassen hat in jüngerer Zeit einen intensiven Forschungsnachhall gefunden. Da Forster als Vertreter der Polygenese vom Verlauf der Wissenschaftsgeschichte widerlegt scheint, ist sein eigener Beitrag nur selten einer eingehenderen Untersuchung unterzogen worden. Dies unternimmt neuerdings van Hoorn, Dem Leibe abgelesen, S. 108ff. 215 Diese Entgegensetzung formuliert Schmied-Kowarzik, Der Streit um die Einheit, S. 124.

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dung gesorgt, die ihn im Gefolge Keplers und Newtons als Anhänger eines kausalen Gesetzesbegriffs der Natur auswies, der außerhalb der Erfahrung lag.216 Forsters Erfahrungsbegriff war andererseits nicht nur einer abstrahierend ordnenden Vorstellung der älteren ‚historia naturalis‘ geschuldet, sondern verpflichtete sich gleichzeitig einem neuen biologischen Entwicklungsmodell, wie es vor allem durch Buffon geprägt worden war.217 Dieses neu entstandene Entwicklungsdenken ging in seiner Entgegensetzung zum mechanistischen Weltbild auch auf die kausale Gesetzeserkenntnis der modernen Naturphilosophie zurück. Seine besondere Leistung bestand in der beobachtungsgeleiteten Raum-, Zeit- und Gegenstandsbindung des Gesetzesdenkens und damit in einer Dynamisierung der Erscheinungen in der Natur.218 Forster war trotz seiner geistigen Herkunft aus der Linnéschen Systematik ein zunehmend überzeugter Anhänger des Buffonschen Entwicklungsmodells der Naturgeschichte, was spätestens mit seinen eigenen Übersetzungsanteilen an der Histoire naturelle219 offenbar wurde und was er auch später wiederholt verlautbarte.220 Dabei lag für ihn die eigentliche theoretische Herausforderung in der Übertragung des Entwicklungsmodells, das ursprünglich bei Pflanzen und Tieren angewandt wurde, auf den Menschen. Die Lösung dieses Problems gemahnt auch in Forsters Fall an das schottische Muster. Nachdem Forster die physiologischen Bedingungen des Menschen in seiner individuellen Entwicklung betrachtet hatte, erwiesen sich für ihn dessen Hauptbestimmungen in den Prinzipien der ‚Selbsterhaltung‘ und der ‚Fortpflanzung‘.221 Durch ein prinzipielles ‚Gleichgewicht‘ dieser Triebe und eine durch ‚Perfektibiltät‘ angetriebene, ‚gleichförmige Entwicklung‘ bezog Forster die strukturelle Gleichförmigkeit nicht nur auf das Individuum, sondern auf die ganze Gattung:

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„[U]nd wir wollen es dann der Natur überlassen, den Mann hervorzubringen, der im Stande ist, sie darnach [die Geschichte nach dem Plane der Natur] abzufassen. So brachte sie einen Kepler hervor, der die exzentrischen Bahnen der Planeten auf eine unerwartete Weise bestimmten Gesetzen unterwarf; und einen Newton, der diese Gesetze aus einer allgemeinen Naturursache erklärte.“ Vgl. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte, A 378, 388. 217 Vgl. Jörn Garber, Die ‚Bestimmung des Menschen‘ in der ethnologischen Kulturtheorie der deutschen und französischen Aufklärung, in: Aufklärung 14 (2002), S. 161–204, hier S. 190ff. 218 Zu Buffons Gegenposition zum bloßen Empirismus und zum mathematischen Mechanismus vgl. Reill, Anti-Mechanism, S. 197ff. 219 Forster hatte Buffon 1777 auf einer Reise nach Paris kennen gelernt und übernahm den sechsten Band der von Friedrich Heinrich Wilhelm Martini (1729–1778) begonnenen Übersetzung von Buffons Allgemeiner Naturgeschichte (1771ff.), die er mit einem kritischen Anmerkungsapparat ausstattete. Vgl. Uhlig, Georg Forster, S. 126f. 220 „Er [Buffon] ist ein Genie der ersten Grösse. Er hat zuerst die Ideen in die Naturgeschichte hereingebracht, und in diesem Fache der Wissenschaften, die menschlichen Begriffe beflügelt, welche im Detail, im Nahmensregister und in der Zählung der Haare, Federn, Floßfedern, und der Staubfäden unedel und niedrig herumwühlten.“ Nichtsdestotrotz billigte Forster auch der Linnéschen Methode ihre Verdienste zu. Vgl. Dr. Forster an Prof. Lichtenberg. Ueber Buffons Epochen der Natur. London den 20ten Okt. 1779, in: Göttingisches Magazin der Wissenschaften und Litteratur 1 (1780), S. 140–157, hier S. 153f. 221 Forster, Leitfaden zu einer Geschichte, S. 189.

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Diese allgemein bekanten Erfahrungen scheinen sich mir auch in der großen Masse des Menschengeschlechts zu bestätigen, und ganze Völker scheinen jene verschiedenen Stufen der Bildung hinanzusteigen, die dem einzelnen Menschen vorgezeichnet sind.222

Die Selbsterhaltungsweise, die so genannte Subsistenz, bestimmt scheinbar auch eine Stufenfolge in der Entwicklung des Menschengeschlechts. Nach dieser Herleitung, die teilweise wörtlich an Ferguson angelehnt ist, erstaunt es nicht, dass Forster die Stufen als die der Jagd-, Viehzucht-, Ackerbau- und schließlich der ‚Eigentumsgesellschaft‘ charakterisiert.223 Auch die gewisse moralische Überlegenheit des ‚Nationalgeistes‘, die Forster den antiken Gesellschaften im Stadium der Barbarei gegenüber der eigenen Stufe der Eigentumsgesellschaft einräumt, erinnert an Fergusons Ausführungen zum gleichen Thema.224 Forsters Beitrag zu einer aus anthropologischen Grundsätzen abgeleiteten Geschichtstheorie schottischer Prägung besteht in ihrer physiologischen Grundlegung: er sprach von den „vier Stufen der muskularischen, spermatischen, heroischen und sensitiven Kultur“.225 Was Forster am Stufenmodell schottischer Provenienz hervorhob,226 war dessen hypothetischer, vorläufiger Charakter, was auch in seinem systematischen Einsatz des Verbs „scheinen“ seinen Ausdruck findet. Die physiologische Begründung des Modells und seine Schwerpunktsetzung in der anthropologischen Dimension zeigen, dass er es weder als Beitrag zur Historiographie im engeren Sinne noch als geschichtsphilosophischen Versuch verstanden wissen wollte: „Die historische Wahrheit existiert also nicht für die große Masse des Menschenge-

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Ebd., S. 190. Ebd., S. 191. „Die beherzten Räuberbanden in Griechenland und Latium schufen sich eine Verfassung, wo Tapferkeit, Vaterlandsliebe und Freiheitssinn, Edelmut, Ehrgeiz und Herrschsucht, schon lange bevor noch ein Strahl von wissenschaftlicher Aufklärung ihnen leuchtete, die Triebfeder großer Handlung waren.“ Vgl. Forster, Leitfaden zu einer Geschichte, S. 192. Auch Ferguson zählte die Nationen mit einem stark ausgebildeten ‚public spirit‘ zu den überlebensfähigsten: „[B]ut nations consist of men; and a nation consisting of degenerate and cowardly men, is weak; a nation consisting of vigorous, public-spirited, and resolute men, is strong. [...] Virtue is a necessary constituent of national strength.“ Vgl. Ferguson, Essay, S. 213. 225 Forster, Leitfaden zu einer Geschichte, S. 192. 226 Eine enge Verbindung von Forsters Denken zur schottischen ‚Conjectural History‘ sieht auch László Kontler, William Robertson and his German Audience on European and non-European Civilisations, in: The Scottish Historical Review LXXX (2001), S. 63–89, hier S. 85f. Georg Forster hatte 1791 eine Vorrede zu seiner Übersetzung von William Robertsons Schrift über Indien verfasst, die er der gelehrten Öffentlichkeit als lesenswert unterbreitete, dabei allerdings um Nachsicht für die intoleranten Ausführungen Robertsons über die „Indischen Religionsbegriffe“ bat: „Doch was der Theologe sündigte, wird man dem Geschichtsschreiber verzeihen.“ Vgl. Georg Forster, Vorrede, in: Wilhelm Robertson, Historische Untersuchung über die Kenntnisse der Alten von Indien, und die Fortschritte des Handels in diesem Lande vor der Entdeckung des Weges dahin um das Vorgebirge der guten Hoffnung. Nebst einem Anhange, welcher Bemerkungen über die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Gesetze und gerichtlichen Verfahrungsarten, die Künste, Wissenschaften und gottesdienstlichen Einrichtungen der Indier enthält, aus dem Englischen von Georg Forster. Berlin 1792, S. XI.

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schlechts, sondern die Wahrscheinlichkeit tritt an ihre Stelle [...]“.227 Forsters Menschheitskonzept diente somit vielmehr als Operationsmodell der Naturgeschichte des Menschen, wie von der schottischen ‚Science of Man‘ angedacht. In diesem Sinne erscheint es für Forsters Ansatz – wie auch im schottischen Fall – angemessener, von einer anthropologisch argumentierenden Geschichtstheorie denn von einer Geschichtsphilosophie zu sprechen. Eine physiologisch argumentierende Anthropologie im engeren Sinne vertrat der Leipziger Mediziner und Philosoph Ernst Platner.228 Mit seiner Anthropologie für Aerzte und Weltweise (1772) gelangte der Begriff der Anthropologie erstmals aus seinem älteren lateinischen Gebrauch der Schulphilosophie in die allgemeine deutsche Wissenschaftssprache.229 Platner motivierte den Einsatz dieses Begriffs, der traditionell die Lehre von Seele und Körper des Menschen umschloss,230 damit, dass sich weder der Arzt auf den Körper noch der Moralist auf die Seele des Menschen beschränken dürfe.231 Obwohl der Terminus aus dem medizinischen Gebrauch stammte, sah ihn Platner als geeignet an, um darunter die Betrachtung der physiologischen und moralischen Konstitution des Menschen zu vereinen. Aus dieser für ihn notwendigen Zusammenschau ergab sich die methodische Beschränkung auf Erfahrungstatsachen, die sowohl die Untersuchung des Körpers als auch der Seele zu leiten habe.232 Diese Auffassung Platners speiste sich aus der Überlegung, dass die Philosophie ohne die Medizin einer empirischen Grundlage entbehre, während umgekehrt die Medizin ohne Philosophie auf reine Mechanik zurückgeworfen sei. In diesem Sinne definierte Platner Philosophie als „Wissenschaft

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Vgl. Georg Forster, Über historische Glaubwürdigkeit, in: Ders., Werke. Bd. 7. Berlin 1963, S. 29–44, hier S. 39. 228 Platner hatte sein Studium der Medizin in Leipzig 1765 mit einem Bakkalaureat abgeschlossen, 1766 einen Magister in Philosophie erworben und wurde 1767 mit einer Studie über den Einfluss des Körpers auf das Gedächtnis promoviert. 1770 wurde er an seinem Studienort außerordentlicher Professor für Medizin, 1780 ordentlicher Professor für Physiologie, 1801 ordentlicher Professor für Philosophie, 1783 und 1789 war er Rektor der Universität. Vgl. Alexander Košenina, Ernst Platners Anthropologie und Philosophie. Der philosophische Arzt und seine Wirkung auf Johann Karl Wezel und Jean Paul. Würzburg 1989, S. 11f. 229 Vgl. Linden, Untersuchungen zum Anthropologiebegriff, S. 42. 230 Im ‚Zedler‘ wird die Vorsicht in der Anwendung des Anthropologiebegriffs mit dessen Ungenauigkeit begründet: „Ob nun schon die Lehre eigentlich zur Physic gehöret, wie denn auch sogar in etlichen Systematibus der Welt-Weißheit ein besonderer Theil der Philosophie unter diesem Nahmen anzutreffen, so haben doch die Medici, weil sie von denen Physicis meistentheils nicht vollkommen tractiret wird, sondern nur die Anfangs-Gründe darinn gezeiget werden, ihnen aber daran gelegen ist, solche Abhandlungen vor sich nehmen müssen. Anbey ist auch noch dieses zu mercken, daß, wenn man das Wort Anthropologie überhaupt nehmen will, auch die Lehre von der moralischen Beschaffenheit des Menschen zugleich mitabzuhandeln, ja auch die Vernunfft-Lehre dahin zu ziehen wäre; weil aber hieraus ein ungeheurer Cörper erwachsen würde, so hat man die moralische Betrachtung des Menschen in die Ethic und die Untersuchung des menschlichen Verstandes in die Logic lociret.“ Vgl. Zedler, Art. ‚Anthropologia‘. Bd. 2. Halle / Leipzig 1732, Spalte 522. 231 Vgl. Ernst Platner, Anthropologie für Aerzte und Weltweise. Bd. 1. Leipzig 1772, S. IV. 232 Ebd., S. XIII.

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des Menschen und anderer Körper und Geister, welche zu seiner Natur ein Verhältnis und auf seine Glückseligkeit eine Beziehung haben“.233 Platners synonymer Gebrauch von ‚Anthropologie‘ und ‚Wissenschaft des Menschen‘ ebnete den Weg für die spätere Verwendung dieses Begriffs für eine empirisch erneuerte Menschenkunde. Durch die Verbindung der „Zergliederung der menschlichen Seele“ mit den „Archivarien der menschlichen Natur“ hatte Platner die Sammlungen empirischer Daten über den Menschen und ihrer theoriegeleiteten Interpretation zu einer eigenen Wissenschaft erhoben.234 Platners Buch, das er 1790 in einer überarbeiteten Fassung neu erscheinen ließ, war viel gelesen und galt den deutschen Enzyklopädisten schon kurz nach seinem Erscheinen als Standardwerk. Der Mediziner Platner wurde aufgrund seiner physiologischen Grundlegung der Moralphilosophie neben den berühmten französischen und britischen Denkern gerade in der Popularphilosophie als Reformer der traditionellen Bestimmung der Philosophie angesehen.235 Sein aphoristisch plaudernder Schreibstil vervollständigte den Eindruck einer am britischen Beispiel orientierten, populären Menschenkunde.236 Auch der ‚Revolutionär der Philosophie‘, Immanuel Kant, lehrte seit dem Wintersemester 1772/73 – parallel zur Erscheinung des Platnerschen Werks – ‚Anthropologie‘ in einem ‚collegium privatum‘ an der Universität Königsberg. Doch Kant hielt es bei seinem Unterfangen für Zeitvergeudung, der Frage nachzugehen, auf welche Weise die Organe des Körpers mit den Gedanken in Verbindung stehen.237 Für ihn bestand das Problem in der Klärung des Verhältnisses von Sinn233 234

Ebd., S. III. Der Jenaer Philosophieprofessor Johann August Heinrich Ulrich (1746–1813) hielt Vorlesungen zur ‚Anthropologie‘ auf der Grundlage von Platners Werk. Vgl. Ders., Erster Umriß einer Anleitung zu den philosophischen Wissenschaften. Zum Gebrauch der Vorlesungen. Bd. 1. Jena 1772, Vorrede, [unpag.]. 235 In diesem Sinne schreibt der dänische Legationsrat Christian Ulrich Detlev von Eggers (1758– 1813): „Keine andere Wissenschaft hat sich in den letzten vierzig Jahren so verändert, wie die Philosophie in allen ihren Theilen und Anwendungen. Am Anfang des Zeitraums regierte noch in Deutschland größtentheils die Wolffische Schule. Sie wich bald einer liberaleren Art. Wir haben endlich gelernt, uns mehr an die Sache zu halten, als an die Form. Unsere neueren Philosophen beschäftigen sich mehr als ihre Vorgänger mit der Beobachtung des menschlichen Geistes. Reimarus, Garve, Feder, Tetens, Platner gehen den deutschen hierin voran. Bonnet und Condillac haben sich bei den Franzosen ausgezeichnet; Hume und Smith bei den Engländern.“ Ders., Skizze und Fragmente einer Geschichte der Menschheit in Rüksicht auf Aufklärung und Volksfreiheit. Bd. 1. Kopenhagen ²1803–1804, S. 443f. 236 Zur Bedeutung Platners vgl. Wundt, Die Schulphilosophie, S. 311f. 237 In Abgrenzung zu Platners Programm schrieb Kant 1773 an einen seiner Schüler, den Mediziner Marcus Herz (1747–1803), über sein eigenes Anthropologiekonzept: „Die Absicht die ich habe ist durch dieselbe die Quellen aller Wissenschaften: die der Sitten, der Geschicklichkeit, des Umgangs, der Methode Menschen zu bilden u. zu regiren, mithin alles Praktische zu eröfnen. Da suche ich alsdenn mehr Phänomena und ihre Gesetze als die ersten Gründe der Möglichkeit der Modification der menschlichen Natur überhaupt. Daher die subtile und in meinen Augen auf ewig vergebliche Untersuchung über die Art wie die Organe des Körpers mit den Gedanken in Verbindung stehen ganz wegfällt.“ Kant zitiert nach Reinhard Brandt, Ausgewählte Probleme der Kantischen Anthropologie, in: Schings (Hg.): Der ganze Mensch, S. 14– 32, hier S. 20f.

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lichkeit und Verstandestätigkeit, denn dieses gehörte nicht zur Anthropologie, sondern zur Metaphysik, „welche mit der Möglichkeit der Erkenntnis a priori zu tun hat“.238 Demnach stand für Kant auch nicht die physiologische Menschenkenntnis im Vordergrund, also „die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht“, sondern die pragmatische, folglich das, was der Mensch „als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll“. Ihren ‚Pragmatismus‘ erhalte die Anthropologie nicht aus der detaillierten „Erkenntnis der Sachen in der Welt“, sondern nur, „wenn sie die Erkenntnis des Menschen als Weltbürgers enthält“.239 Als Kants maßgebende anthropologische Schrift wurde bis zur Jahrhundertwende meist seine Bestimmung des Begriffs der Menschenrace herangezogen, da seine Vorlesungen zur Anthropologie erst 1798 posthum erschienen. Jedoch verhielt sich Kants Auffassung von Anthropologie diametral zu dem, was Platner in seiner ‚Wissenschaft vom Menschen‘ projektiert hatte. Nämlich eine Distanznahme von der Metaphysik durch die physiologische Behandlung der Seele und die psychologische Durchdringung von Erkenntnis auf dem Wege der Empirie. Darüber hinaus sollte bei Platner die Abwendung von einem teleologischen Weltbild religiöser Prägung zugunsten einer anthropologischen Bestimmung des Menschen innerhalb seiner Naturumwelt vollzogen werden. Platners skeptische Haltung gegenüber der Kantischen Philosophie, die er aus Sorgen um seine Reputation verhehlen wollte und die nichtsdestoweniger den Besuchern seiner Vorlesungen unverborgen blieb, wirkte auch in seinem Fall rufschädigend. Zwischen die Fronten der ‚Popularphilosophen‘ und ‚Kantianer‘ geraten, rettete er sich auf die Position, nicht etwa Kant selbst, sondern nur seine Epigonen in einem kritischen Licht zu sehen.240 Eine Strategie, die im übrigen manchem Autor als Ausweg erschien, um in der scharfen Auseinandersetzung zwischen den philosophischen Lagern der Verfemung zu entgehen. Bei den Vertretern der Popularphilosophie teilte man hingegen Platners Auffassung, dass der umfassende Anspruch an philosophische Erkenntnisse und ihre empirisch-physiologische Grundlegung sich nur im Verzicht auf Metaphysik und damit in einer erschöpfenden ‚Wissenschaft vom Menschen‘ bündeln lasse. Der ‚Revisor‘ der Aufgaben der Philosophie, Platners Göttinger Kollege Christoph Meiners,241 propagierte von Seiten der Fachphilosophie das Projekt einer „Wissen-

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Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Ders., Werke, Bd. 6, BA 29. Ebd., BA III, IV, V, VI, VII, VIII, IX. Platners Vorbehalt gegen die ‚Kantianer‘ begründete sich darin, dass diese „gern einen philosophischen Wunderdoctor aus ihm machen, der den ganzen menschlichen Geist heilen, d.h. vor allen Irrthümern sicher zu stellen im Stande sey“. Platner zitiert nach Košenina, Ernst Platners Anthropologie, S. 21. Besondere Brisanz erhielt Platners kritische Position durch die missglückten Vermittlungsversuche seines ehemaligen Schülers und jetzigen Vorzeigekantianers Karl Leonhard Reinhold (1757–1823). Vgl. ebd., S. 18ff. 241 Platner bezog sich auf die von Meiners verfasste, anonym erschienene Schrift Revision der Philosophie (1772).

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schaft vom Menschen“.242 Um eine gewisse Ordnung in die beteiligten Wissenschaften zu bringen und die „Ökonomie der menschlichen Natur“ unter neuen methodischen Vorgaben wiederherzustellen, schlug Meiners eine Begrenzung des Faches Philosophie auf die ‚Psychologie‘ und die ‚Praktische Philosophie‘ vor.243 Die theoretische Philosophie sollte auf die ‚Psychologie‘ als empirisch bestimmbare Lehre von Voraussetzungen des menschlichen Geistes beschränkt bleiben. Einen ähnlichen Ansatz verfolgte der Kieler Philosophieprofessor Johann Nikolaus Tetens, der jedoch nicht in Meiners kämpferischer Manier empirische Grundsätze zu verabsolutieren gedachte, um sich gegen die Kantische Metaphysik zu wappnen.244 Schon früh hatte Tetens, angeregt durch Sulzer, begonnen, sich mit den „Grundtrieben der Menschen“ zu beschäftigen.245 In seinem Hauptwerk, Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung (1777), war Tetens darum bemüht, deduktiv und induktiv ermittelte Erkenntnisse über den Menschen zu versöhnen, wodurch er unter anderem auch Einfluss auf Kant ausübte.246 Seine Impulse zur erfahrungsgeleiteten Erkenntnis hatte Tetens von Locke und Hume erhalten, wobei es bedeutsam ist, dass Tetens zu den wenigen deutschen Gelehrten gehörte, die englische Schriften im Original lesen konnten.247 Durch diese Fähigkeit zählte Tetens zu einem der frühesten Rezipienten von Humes

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Meiners, Kurzer Abriß der Psychologie, S. 6. „Die Philosophie theilt sich in theoretische und praktische, je nachdem sie den Menschen als ein Geschöpf betrachtet, das solche Empfindungen, solche Organe, solche Kräfte, Fähigkeiten und Kenntnisse hat: oder nachdem sie den guten und schlimmen Gebrauch bestimt, den er von allen diesen Eigenschaften zu seinem und anderer Nutzen oder Schaden machen kann.“ Vgl. Meiners, Abriß der Psychologie, S. 6. 244 Meiners hatte seinen Grundriß der Ethik bewusst als ‚Streitschrift‘ angelegt: „Ich hege allerdings von meiner Streitschrift die gute Meinung, daß sie manche unbefangene Gemüther vor den Blendwerken der Kantischen Moral bewahren, und manche noch nicht ganz, oder nicht lange eingenommenen Personen davon zurückbringen werde. [...] Das helle Licht der Erfahrung, und der gesunden Vernunft wird die trüglichen Nebel, oder, wenn man lieber will, den trüglichen Schein reiner Ideen-Welten noch oft zerstreuen; und dennoch werden sich diese Nebel, dieser Schein immer von neuem erheben.“ Vgl. Ders., Grundriß der Ethik, S. XIVf. 245 Eine „weitläufigere Schrift“ mit dem Titel über die „Grundantriebe der Menschen“ blieb in der Planung stecken. Kleinere Schriften zu diesem Thema erschienen schon in den 1760er Jahren. Vgl. Wilhelm Uebele, Johann Nikolaus Tetens nach seiner Gesamtentwicklung betrachtet, mit besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses zu Kant. Unter Benutzung unbekannt gebliebener Quellen. Berlin 1911, S. 12. Vgl. Johann Nikolaus Tetens, Ueber den Uhrsprung der Ehrbegierde, in: Gelehrte Beiträge zu den Mecklenburg-Schwerinschen Nachrichten 43.–47. Stk. (1766), S. 689–696, 729–732, 737–744, 753–756; Ders., Von der Verschiedenheit der Menschen [Von der Verschiedenheit der Menschen] nach ihren Haupt-Neigungen, in: Mecklenburgische Nachrichten, Fragen und Anzeigen 36.–39. Stk. (1762), S. 305–308, 318f., 325–327, 337–339. 246 Tetens hatte in Kopenhagen und Rostock studiert und wurde dort 1760 promoviert. 1776 wurde er Professor der Philosophie in Kiel, wo er auch mathematische Vorlesungen hielt. 1789 übersiedelte er nach Kopenhagen und trat in den dänischen Staatsdienst ein. Dort hatte er schließlich eine hohe Position an der Königlichen Bank inne. Vgl. Uebele, Tetens, S. 5–25. 247 Tetens galt den Zeitgenossen als der „deutsche Locke“. Vgl. ebd., S. 180.

258

‚Treatise‘ in Deutschland.248 Während Tetens an Humes empirischem Imperativ in der ‚Science of Man‘ festhielt, den er für „eine richtige Vorschrift“ hielt,249 hegte er gegenüber dem – in Humes Verständnis – rein konstruktiven Vorgang in der Assoziation von Ideen und in der Herstellung von Kausalitäten zunehmend Bedenken. Spätestens in seinen Philosophischen Versuchen vertrat Tetens die Ansicht, dass die Verbindung der Ideen aus einer „nothwendigen Wirkungsart des Verstandes“ entspringen müsse.250 Vor diesem Hintergrund entwickelte er seine Methode zur Analyse der Menschheit, die noch lange eine Fundgrube sei, „aus der sich jeder Forscher eine gute Ausbeute versprechen kann, und ich möchte hinzusetzen, auch dann sogar, wenn er nur die schon oft bearbeiteten Gänge von neuem vornimmt“.251 Tetens bezeichnete im Gefolge von Locke seine Methode als „beobachtend“, und grenzte sich – ähnlich wie Kant – von der „anthropologischen“ oder „analytischen Methode“ ab, unter der er die Betrachtung der physiologischen Vorgänge zwischen Gehirn und Seele verstand. Während das Gehirn eine „Maschine“ sei, deren Vorgänge sich durch ein beobachtend zerlegendes Verfahren langsam empirisch ermitteln ließen, sei die Seele seine „bewegende Kraft“. Die Entschlüsselung der Seelenveränderungen erfolge auf dem Wege der Metaphysik und liege außerhalb der Grenzen der Beobachtung.252 Die metaphysischen Bestimmungen der Seele seien allerdings – sondere man das Gewisse von dem Wahrscheinlichen ab – sehr allgemein und unbestimmt, während die bislang ermittelten sicheren Erkenntnisse über den menschlichen Verstand auf reinen Hypothesen beruhten.253 Auf dieser Grundlage entwickelte Tetens eine Rechtfertigung seines theoriegeleiteten Empirismus: Gleichwohl ist der Hang der Forscher, mit Vermuthungen da durchzubrechen, wo mit Erfahrung und Vernunft allein nichts auszurichten ist, so nützlich als natürlich, und in der Psychologie sowohl als in andern Wissenschaften. Der Hypothesendichter trägt das seinige zur Fortbringung der Erkenntniß bey, wie der Beobachter, und der lustige Systemmacher hat ein Verdienst, wie der, welcher Vernunft auf Erfahrung bauet; nur jeder in seinem Maße.254

Tetens versuchte bei der Aufzählung der statthaften Erkenntnisformen, die epistemologisch geschmähte Hypothesenbildung einfach unterzumischen und en passant als Hybridform zwischen Rationalität und Empirismus zu adeln:

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Vgl. Christian Hauser, Selbstbewußtsein und personale Identität. Positionen und Aporien ihrer vorkantischen Geschichte. Locke, Leibniz, Hume und Tetens. Stuttgart 1994, S. 129. 249 Vgl. Nikolaus Tetens, Ueber die allgemeine speculativische Philosophie. Bützow / Wismar 1775, S. 38. 250 Vgl. Nikolaus Tetens, Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung. Bd. 1. Leipzig 1777, S. 309. 251 Ebd., Vorrede, [unpag.]. 252 Ebd., S. IVf. 253 Ebd., S. VI. 254 Ebd., S. XV.

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Ueberdieß ist es in andern Hinsichten nützlich, zuweilen gar nothwendig, die festen Kenntnisse mit leichten Vermuthungen zu versetzen, wie das Gold mit unedlen Metallen, wenn man es zum allgemeinen Gebrauch verarbeitet.255

Die bislang geringen Kenntnisse in der Erforschung des Menschen und der Menschheit erforderten diese unorthodoxe Vorgehensweise, auf deren Wege überhaupt die ersten Ergebnisse in diesem Feld befördert worden seien. Tetens strebte damit eine Vermittlung zwischen ‚räsonnierender Vernunft‘ und ‚gemeinem Menschenverstande‘ an. Im Medium des Analogieschlusses sei eine Möglichkeit gegeben, über Ähnlichkeiten empirisch ermittelter Daten zu Hypothesen allgemeinerer Natur zu gelangen. Das Schließen nach Analogien setze voraus, dass die Natur nach einförmigen Regeln verlaufe. Die Diversität innerhalb der solcherart gesetzten Uniformität der Natur erschließe sich wiederum in Größen, Graden und Stufen.256 Indem Tetens an die Parallelität seiner Methode des Menschenstudiums mit der modernen Naturphilosophie gemahnte und in den Einzelschritten der Hypothesen- und Analogiebildung die Rückkoppelung an die Mathematik suchte, ging es ihm darum, den vermeintlichen Gegensatz aus Empirismus und Rationalismus aufzuheben.257 Sein Lösungsvorschlag lag nicht im synthetischen Urteil a priori, sondern in einem gegenseitigen Begründungszusammenhang aus Hypothesenbildung und empirischen Daten, wie ihn die schottischen Philosophen vorgeschlagen hatten: Ich wiederhole die Erklärung, daß es mein fester Vorsatz gewesen sey, auf nichts zu fußen, als was entweder unmittelbare Beobachtung selbst ist, oder evidente und durch die Uebereinstimmung der Beobachtungen bestätigte Vernunft.258

Vor dem Hintergrund dieser erkenntnistheoretischen Überlegungen wollte Tetens zwischen der ‚Naturgeschichte des Menschen‘ und der ‚Geschichte der Menschheit‘ streng unterschieden wissen. Erstere sei dazu berufen, die verschiedenartigen Ausprägungen des Menschen und zunächst diejenigen, die sich an seinem Körper zeigen und die in die Sinne fallen aufzusuchen, zu vergleichen, und aus ihnen die Eigenheiten ganzer Haufen, Völker, Geschlechter herauszunehmen, und durch diese als Unterscheidungsmerkmale die Menschen in Gattungen, Arten und Classen abzutheilen, so weit nämlich als hier eine Gattungsverschiedenheit stattfindet.259

Die ‚Geschichte der Menschheit‘ habe dagegen „zur Absicht, uns die Veränderungen in dem äußern Zustande darzustellen, welche das ganze Geschlecht erlitten hat, und wodurch es in seinen mannichfaltigen Arten das geworden ist, was es itzo 255 256 257 258 259

Ebd. Ebd., S. XXIV. Vgl. Hauser, Selbstbewußtsein, S. 131. Tetens, Philosophische Versuche, Bd. 1, S. XXX. Ebd., Bd. 2, S. 369.

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ist“.260 Als fragwürdige Entwicklung der jüngsten Zeit bewertete Tetens den Vorgang, dass bey dem häufigen Gebrauche des Wortes Geschichte der Menschheit, das seit einigen Jahren ein Lieblingswort geworden ist, sowol die erst gedachte natürliche Geschichte des Menschen, als die Geschichte der Menschheit in der letztern Bedeutung

fahrlässig verwoben worden sei.261 Beispielhaft für diese problematische Vermischung galt Tetens Iselins Schrift, die doch mehr „Philosophie der Geschichte, als Geschichte selbst“ sei, während Kames’ Arbeiten zu beiden Teilen trotz ihrer Verdienste fragmentarisch und unzureichend blieben. Tetens vertrat daher die Anschauung, dass es grundsätzlich erstrebenswert sei, das „eigentlich Historische, die reinen Beobachtungen, und die Erzählung der Begebenheiten mehr von den Räsonnements abgesondert“ zu behandeln.262 Er kam zu dem Ergebnis: „Unsere Schlüsse sind noch nicht Geschichte“, was er vor allem auf die mangelnde Quellenbasis zurückführte, die erst durch eine systematische Erhebung der Varianten aller menschlichen Erscheinungsformen – auf der Basis von Reiseberichten – gewährleistet werden könne.263 Das bis dahin einzig methodisch einwandfreie Verfahren bestehe darin, die aus der „Seelennatur“ des Menschen gewonnen Erkenntnisse am erreichbaren Datenmaterial zu bemessen: „[W]as ist doch wohl der innere Mensch in allen diesen verschiedenen Modifikationen? Wie weit geht die Verschiedenheit? Dringt solche bis auf die Natur und ihre Grundkräfte?“264 Aus der Perspektive einer in dieser Weise selbstbeschiedenen ‚Wissenschaft vom Menschen‘ stand Tetens den Erziehungsprojekten der „Menschenfreunde“ mindestens vorbehaltlich gegenüber. Erst ein genaues Studium des Menschen wäre die Basis dazu, „Kenntnisse, Sitten, Vernunft und Tugend über das Geschlecht zu verbreiten“, und darüber hinaus äußerte Tetens den Verdacht, dass hinter der vollmundigen Beförderung der Humanität „die Einbildungskraft nur zu oft etwas Eitles, das bloß Schein ist“, hinzusetzt. Moralische Implikationen schrieb er dem Fragehorizont der ‚Anthropologie‘ zu und schloss sie grundsätzlich aus der ‚Geschichte der Menschheit‘ aus. Damit bestätigte Tetens die ältere theologische Zuschreibung der ‚Anthropologie‘ als Ort der Auseinandersetzung mit der moralischen Zustandsbestimmung des Menschen, während er im Sinne von Hume die materiale und methodische Unterscheidung zwischen ‚Naturgeschichte der menschlichen Natur‘ und ‚Geschichte des Menschen‘ gewährleistet wissen wollte. Die Natur des Menschen 260 261 262 263

Ebd., S. 370. Ebd. Ebd. „Eine Sammlung von der letztern [Reiseberichten] allein wäre darum zu wünschen, weil jetzo viele und große Werke durchzusehen sind, um die Quelle zu haben, wozu man doch nothwendig zurück muß, wenn man die Menschheit in ihren Gestalten mit eigenen, nicht durch fremde Augen sehen will.“ Vgl. ebd., S. 371. 264 Ebd.

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konnte auf dem Wege einer deduktiv-synthetisch verfahrenden Wissenschaft philosophisch erschlossen werden, während die „äußern Umstände“, die historischen Zusammenhänge selbst, immer nur als empirischer Raum für Rückschlüsse auf das Innere des Menschen relevant seien und als eigener Erkenntnisgegenstand kontingent blieben.265 Aufgrund dieses Vorbehalts zweifelte Tetens daran „ob es eine fortschreitende Vervollkommnung des ganzen Geschlechts gebe“. Nicht ohne ironischen Unterton stellte er fest: Die erheiternden Aussichten in die Zukunft, womit Hr. Iselin seine Geschichte der Menschheit beschließt, und die schönen Erwartungen, die der Verfasser des Jahres 2240 gemacht hat, davon jene auf eine immer größere Vervollkommnung der Menschheit, diese auf eine Veredelung derselben in einigen besondern Ländern, ausgehen, stechen ungemein gegen die düstern Ahndungen vieler andern ab, die vielleicht noch jetzo nicht den kleinsten Theil der Stimmgebenden ausmachen [...].266

Da Tetens, ebenso wie Hume, nicht von dem Argument Gebrauch machte, die Uniformität und Perfektibilität des Menschen mit dem Gattungsprozess zu analogisieren, waren seine Fortschrittshoffnungen eingeschränkt und er proklamierte keine fortschreitende ‚Humanisierung‘, sondern beschied sich auf ein politisches Projekt. Dieses bestand in einer allgemeinen Verbesserung der Schulausbildung an allen Orten des Globus, da für ihn die Uniformität des menschlichen Wesens an den Gleichheitsgrundsatz gebunden war, der für Tetens besagte, dass es „große Seelen unter den Wilden und an der Küste von Afrika, und kleine niedrige Geister in den aufgeklärtesten Ländern“ gebe.267 Tetens unternahm damit einen Versuch zur Trennung der ‚Wissenschaft vom Menschen‘ von der Geschichtsschreibung ebenso wie von moralphilosophischen Fragestellungen. Jedoch genau die Vermittlung dieser drei Komplexe in einer Gleichung wurde als ‚Philosophische Geschichte der Menschheit‘ schon bei den späten schottischen Philosophen und vielen seiner deutschsprachigen Zeitgenossen zu einem ‚Lieblingsstudium‘, in dem sich jeweils eine Unbekannte aus den gegebenen Größen – Natur, Geschichte oder Moral – ermitteln lassen konnte.

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„Die äußern Umstände können, für sich betrachtet, durchaus keinen Werth haben. Nur allein ihre Relation auf das Innere, und insofern sie Mittel sind dieses vollkommner zu machen oder zu verschlimmern, wenn noch auf die Glückseligkeit nicht gesehn wird, macht ihren Werth oder Unwerth aus. Aber wenn aus der Geschichte und Erfahrung ihr Werth zu würdigen ist, so muß man die Beywirkung der natürlichen Anlage bey Seite setzen, den Einfluß von dieser, so viel möglich ist, absondern, und dann fragen, wie viel mehr oder weniger dieser oder jener äußere Zustand die Entwickelung der Natur befördern oder hindern könne?“ Vgl. ebd., S. 693. 266 Ebd., S. 767f. 267 Ebd., 693.

262

4.5.2. Kulturgeschichte und philosophische Geschichte der Menschheit Einen direkten Versuch zur Anwendung einer theoriegeleiteten Empirie in Form einer großen Synthese der bislang erfolgten Versuche zur Menschheitsgeschichte unternahm der Berliner Ministeriale Karl Franz von Irwing (1728–1801). Irwing war 1760 in die Fußstapfen seines jüngst geadelten Vaters getreten und bekleidete neben seinem Amt als königlicher Oberkonsistorialrat hohe Ämter im Beratungsgremium des Joachimsthaler Gymnasiums und der Domkirche. Daneben war er ‚Pronotarius des Ober- und Kurmärkischen Konsistoriums‘ und seit 1787 Oberschulrat in Berlin. Die Ämterfülle ging auf seine Zugehörigkeit zum Oberkonsistorium zurück, das bis zu seiner Auflösung 1808 zum geistlichen Department des Justizministeriums in Preußen gehörte. Diesem wiederum unterstand das höhere Schulwesen, wodurch man Irwing als einen einflussreichen, weltlichen Bildungspolitiker seiner Zeit bezeichnen kann.268 Irwing hatte mit seinen Erfahrungen und Untersuchungen über den Menschen (1772–1785) einen über nahezu eine Dekade anwachsenden Beitrag zur Debatte seiner Zeit geliefert.269 Er verstand seine Arbeit als Antwort auf die Forderung des Jahrhunderts, „den Menschen zu studiren“ und ihn in einem „ausgedehntren Plan“ zu begreifen: „Und gegenwärtig, da man noch weiter darinn gekommen, kann fast unsre ganze Philosophie in die Wissenschaft vom Menschen hineingezogen werden“.270 Irwing vertrat für diese ‚Wissenschaft‘ einen vom philosophischen Gebrauch verschiedenen Begriff von ‚Wahrheit‘. Im Gegensatz zur Einsicht in notwendige Wahrheiten erfolge Erkenntniszuwachs in der ‚Wissenschaft vom Menschen‘ im Zuge einer Revision von bis dahin akzeptierten ‚Wahrheiten‘, einem „Ueberbordwerfen“ liebgewonnener Einsichten: Die Furcht für diese Art der Einwürfe hat bisweilen die schlimme Wirkung, daß der Schriftsteller, der ihnen überall auszuweichen sucht, dadurch in eine Aengstlichkeit geräth, die dem Geiste ärgere Fesseln anlegt, als alle Büchercensuren.271

Irwing kündigte mit diesem Plädoyer für die Relativität von Wahrheit seinen eigenen Vorstoß zur Interpretation der Menschheitsgeschichte an, den er in vielerlei Hinsicht sowohl mit der herrschenden Wissenschaftsauffassung als auch mit der Zensur in Konflikt sah. Auf seinem Weg durch die Wissenschaft vom Menschen durchmaß er die gängigen Konzepte seiner Zeit: Er begann mit einem physiologi268

Das Oberkonsistorium bestand aus drei weltlichen und sechs kirchlichen Vertretern. Neben Irwing fungierten dort in der weltlichen Abteilung Anton Friedrich Büsching (1724–1793), der sich durch seine Neue Erdbeschreibung (11 Bde., 1754–1792) als politischer Geograph hervorgetan hatte, sowie der Berliner Aufklärer und Mitherausgeber der Berlinischen Monatsschrift Friedrich Gedike (1754–1803). Vgl. Johan van der Zande, Art. ‚Karl Franz von Irwing‘, in: Vierhaus / Bödeker (Hg.): Biographische Enzyklopädie, S. 150. 269 Nach dem ersten Erscheinen 1772 vermehrte Irwing das Werk mit jeder neuen Auflage um einen Band (1777, 1779), so dass es 1785 vierbändig erschien. Vgl. Karl Franz von Irwing, Untersuchungen und Erfahrungen über den Menschen. 4 Bde. Berlin ²1777–1785. 270 Ebd., Vorrede, [unpag.]. 271 Ebd.

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schen Zugang über den Körper, um in einem zweiten Schritt den durch die Sinne vermittelten „Eindrücken im Gehirn“ nachzuspüren. Des Weiteren beschäftigte ihn die Frage, wie aus den Eindrücken „Ideen“ entstehen, und dass aus der unterschiedlichen inneren Organisation des Menschen bereits die ersten verschiedenen „Fähigkeiten“ resultieren. In einem weiteren Teil kam Irwing auf das Empfindungsvermögen, die Seele und schließlich das Verhältnis von Mensch und Tier zu sprechen, welches große Teile des zweiten Bandes beschäftigte. Gerade in dem schwierigen Unternehmen, die Differenz zwischen Tier und Mensch empirischphysiologisch zu benennen, griff Irwing auf das Mittel der Annäherung an eine vorläufige Wahrheit durch Hypothesenbildung zurück, um sich einem „vorzüglichen Grad der Wahrscheinlichkeit“ anzunähern.272 So bekundete er in der Frage, [o]b die Hypothese von der immerwährenden Fortschreitung aller Geschöpfe zu höheren Stufen der Vollkommenheit, die Meynung begünstige, daß der vorerwähnte Unterschied seinen Grund bloß in der verschiedenen Organisation der Körper habe,

vorsichtig Sympathien mit einem Entwicklungsmodell der Arten, in dem die Differenz von Tier und Mensch stark relativiert wurde. Da sich die Vervollkommnung der körperlichen Organisation im Verlauf aller Gattungen abzeichne, könne man davon ausgehen, daß die Thierseelen, nach Zerstörung ihres gegenwärtigen Körpers, wiederum mit einem anderen verknüpft würden, der besser organisirt sey als der gegenwärtige, so sind sie zugleich zu Geschöpfen von vollkommnern Seelenfähigkeiten erhoben, und dann ist es von selbst klar, dass sie durch abermalige Hauptveränderungen immer weiter zu höheren Geistergattungen steigen können.273

Im dritten Band legte Irwing eine Erkenntnistheorie vor, die sich zunächst der physiologischen ‚Erkenntniskräfte‘ versicherte, dann die psychologischen Bedingungen der ‚Seele‘ prüfte, um schließlich den eigentlichen Vorgang der Erkenntnisgewinnung im Einzelnen nachzuvollziehen. Diesen fasste Irwing als einen Austausch zwischen Verstandes- und Seelentätigkeit auf, der als „Verstehen“ zwischen Begriffen, Begriffsbildung und schließlich dem Bezeichneten einen Zusammenhang herzustellen in der Lage sei.274 Um diesen schwierigen Hergang näher zu illustrieren, unternahm Irwing einen „Versuch über die Kultur der Menschheit überhaupt“, der ihm als Schauplatz „von der allgemeinen Veranlassung zu Begriffen, oder von den Triebwerken, wodurch die Menschen zum richtigen Gebrauch ihrer Geisteskräfte gebracht werden“, dienen sollte.275 Damit wurde, mit einer deutlich veränderten Schwerpunktsetzung zu seinen Vorgängern, der Begriff der 272

„Es muß daher die eine wie die andre dieser Meynungen, noch durch Gründe anderer Art unterstützt werden, wenn sie auf einen vorzüglichen Grad der Wahrscheinlichkeit Anspruch machen soll.“ Vgl. ebd., Bd. 2, S. 14. 273 Ebd., S. 32f. 274 „§ 182. Was heißt verstehen überhaupt?“, Ebd., Bd. 3, S. 74. 275 Ebd., S. 88.

264

‚Kultur‘ zentral gesetzt. Im Begriff der ‚Kultur‘ meinte Irwing zwischen den inneren Antrieben des Menschen und den äußeren historischen Begebenheiten durch eine Analyse des sie verbindenden Zeichensystems vermitteln zu können. Die Geschichte der Menschheit wurde als Entstehungsgeschichte dieses Systems erzählt, wobei Irwing bemängelte: Die allgemeine Theorie der Kultur des Menschen überhaupt, soviel Interessantes und Wichtiges sie auch verspricht, ist, als ein besonderes Hauptstück menschlicher Erkenntniß, bisher noch nicht genügsam, weder historisch noch philosophisch, bearbeitet worden, da sie doch längst verdient hätte, in den Schooß unserer Philosophie mit aufgenommen zu werden.276

Irwing begriff seine Arbeit als eine Pionierstudie zu einer „Theorie der Kultur“, die er von den „philosophische[n] Roman[en]“ und den älteren Naturgeschichten unterschieden wissen wollte.277 Im Konzept der ‚Naturgeschichte des Menschen‘ wurden die Begriffe ‚Mensch‘ und ‚Natur‘ aufeinander bezogen, wodurch, im Mittel der Historisierung der Natur und der Naturalisierung des Menschen, eine anthropologisch bestimmte Gattungsgeschichte entstand. Im Begriff der Kultur vermittelte sich die Schnittstelle desjenigen Anteils der Natur, den der Mensch nach seinen Bedürfnissen, wie etwa durch die Sprache, umgestaltet hatte.278 Durch die sich im ausgehenden 18. Jahrhundert durchsetzende ‚Arbeitsteilung‘ in der Menschheitsgeschichte nach Maßgabe der anthropologischen und der zivilisatorischen Bestimmungen des Menschen entwickelte sich neben der Natur- die Kulturgeschichte als eigenständiger und zunehmend vorherrschender Spezialbereich.279 Johann Christoph Adelungs Versuch einer Geschichte der Kultur des menschlichen Geschlechts (1782) kann dabei als Markstein dieses ‚Paradigmenwechsels‘ angesehen werden. Doch bei Irwing standen noch die anthropologischen Voraussetzung im Zentrum seines Modells der Kulturgeschichte, da man nur auf diesem Wege der Mittel gewahr werden könne, „deren sich die Natur zur Entwicklung der Triebfedern im Menschen bedient“. Die ‚Naturabsicht‘ fand damit in den wachsenden Antrieben der Menschen ihr Instrumentarium, um damit die Kultur sicherer und zuverlässiger fortführen zu können.280 Die Zukunft als offener Gestaltungsraum ergab sich aus

276 277 278

Ebd., S. 91. Ebd., S. 92. Zur Entgegensetzung von ‚Natur‘ und ‚Zivilisation‘ bei Buffon vgl. Wolf Lepenies, Historisierung der Natur und Entmoralisierung der Wissenschaften seit dem achtzehnten Jahrhundert, in: H. Markl (Hg.): Natur und Geschichte. München / Wien 1983, S. 263–288, hier S. 267. Zum Verhältnis der Begriffe ‚Zivilisation‘ und ‚Kultur‘ im Englischen und Deutschen vgl. J. Knobloch (Hg.): Europäische Schlüsselwörter. Bd. 3: Kultur und Zivilisation. München 1967, S. 135ff. und S. 288ff. 279 Vgl. Garber, Von der Menschheitsgeschichte zur Kulturgeschichte, S. 411f. 280 Mit ‚Naturabsicht‘ bezeichnete Kant die von Gott bestimmte ‚Geschichte der Natur‘, die in den Naturanlagen des Individuums ihre Ausprägung findet. Kant argumentierte analog zum Diskurs seiner Zeitgenossen, wenn er den zunehmenden ‚Gebrauch der Vernunft‘ nicht als Teil der In-

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einer Akkumulation der ‚Erkenntniskraft‘ des Menschen. Während der ‚rohe‘ Mensch gleichgültig gegen die Zukunft sei, weil er seine Bedürfnisse nach der Wiederholung des Gleichen ausrichte, stünde sie dem ‚verfeinerten‘ Menschen offen, da er sie in seine Handlungsmaximen vermittels der ‚Einbildungskraft‘ mit einbeziehen könne. Die „allgemeine Theorie der Kultur des Menschen überhaupt“, die Irwing im dritten Teil seines Werkes entwarf,281 war in ihrer Bestimmung verschiedener Perioden maßgeblich an der stadialen Theorie schottischer Prägung orientiert. Da Irwing William Robertsons Geschichte Amerikas als Bezugspunkt gewählt hatte, galt sein Interesse weniger den Selbsterhaltungsweisen, sondern der Frage „durch welche Folgen von natürlichen und moralischen Mitteln und Triebwerken die Völker und Länder ihre gegenwärtige Aufklärung, Sitten, Künste, Wissenschaften, Staatsverfassung und Wohlstand erhalten haben“.282 Mit seinem am Erkenntnisfortschritt ausgerichteten anthropologischen ‚Triebfedernmodell‘ hatte auch Irwing eine Analogie zwischen der Entwicklung des Individuums mit der Gattung hergestellt, die er jedoch keinesfalls überanstrengt wissen wollte.283 Denn die Kultur sei nicht nur der Ausdruck der menschlichen Antriebe, sondern verfolge ihren eigenen Zweck, der in ihrer Zielbestimmung liege: Die Kultur hat [...] einen zwiefachen Endzweck, die Erweiterung und Berichtigung der Erkenntniß, und den Wohlstand der Menschen, oder, die Vollkommenheit unserer Kräfte, und Annehmlichkeiten unseres Zustandes. Beydes ist einer unendlichen Stufenfolge fähig, und kann in alle Ewigkeit erweitert und vermehrt werden.284

Die theoretischen Voraussetzungen und weitreichenden materialen Konsequenzen einer solchen „philosophischen Geschichte der Menschheit“ verhandelte Irwing in seinem anonym erschienenen Versuch über den Ursprung der Erkenntniß und der

dividualentwicklung, sondern als Projekt der Gattung interpretierte. Vgl. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte, A 387, 388, 389. 281 Irwing, Erfahrungen und Untersuchungen, Bd. 3, S. 91. Ernst Stöckmann spricht im Hinblick auf die Verschränkung von ‚Empfindungskonzeption‘ und ‚Kulturtheorie‘ von einem vergleichlosen ‚Theoriestück‘, das er an die schottische ‚Kulturtheorie‘ angelehnt wähnt, ohne auf die Beziehungen näher einzugehen. Vgl. Ders., Phänomenologie der Empfindungen – Kultivierung des Gefühlsvermögens. Aspekte der anthropologischen Empfindungstheorie der deutschen Spätaufklärung am Beispiel von Platner und Irwing, in: Schmitz / Zelle (Hg.): Innovation und Transfer, S. 75–96, hier S. 92. 282 Irwing, Erfahrungen und Untersuchungen, Bd. 3, S. 306f. 283 „Wenn also in der philosophischen Geschichte der Menschheit die Entwicklung der Vollkommenheiten derselben mit dem Wachsthum und den Lebensbegebenheiten einzelner Menschen verglichen, und die Vergleichung zu weit getrieben wird, so daß dabey nicht genug auf die Folgen und Wirkungen jener Verschiedenheiten geachtet wird, so fließen daraus mancherley Irrthümer, die wirklich dem Fortgange der Kultur schädlich werden können.“ Vgl. ebd., S. 318. 284 Ebd., S. 318f.

266

Wahrheit in den Wissenschaften (1781).285 Darin führte er aus, dass die Geschichte zweierlei Arten der Betrachtung zulasse: Einerseits könne man sie auf wirkliche Fakta gründen, solche aussuchen, prüfen, beweisen, und die Schicksale nebst den Perioden der menschlichen Erkenntniß, Sitten und Neigungen betrachten, und so die wirkliche Geschichte derselben erzählen,

oder man könne sie in die Natur des Menschen gründen, und daraus zuerst die ursprünglichen Beschaffenheiten desselben herleiten, und dann die nothwendigen Wirkungen und Folgen betrachten, welche in Rücksicht seiner Erkenntniß und Sitten, durch die in dem Laufe der Natur eingewebte allmälige Veränderung seiner Zustände unumgänglich habe hervorgebracht werden müssen. [...] Die erste ist im eigentlichen Verstande, die wirkliche Geschichte der Menschheit, die andere aber ist die natürliche oder philosophische Geschichte derselben. Die letzte, dazu gegenwärtige Betrachtungen, als ein Beytrag angesehen werden können, macht im Grunde einen nicht unbeträchtlichen Theil der Philosophie selbst aus.286

Irwing rückte folglich den inneren und äußeren Erkenntnisfortschritt – wesenhaft in den Wissenschaften und anderen Gestaltungsformen des menschlichen Verstandes – in den Vordergrund. Seine Ausgangsthese war, dass die Wissenschaften, denen sinnlich erfassbare Gegenstände zugrunde liegen, sich früher ausbilden als ‚transzendente Wissenschaften‘.287 Irwing näherte sich auf diesem Wege vorsichtig seiner Hauptthese, welche seinen Entschluss zur anonymen Publikation veranlasst haben mochte und die besagte, dass, wenn man von den neuerdings aufgedeckten vielen Irrtümern in der Wissenschaftsgeschichte ausgehe, man ebenso annehmen müsse, dass diese in den ‚übersinnlichen‘ Wissenschaften noch viel gravierender seien als in den lange bestehenden Erfahrungswissenschaften.288 Aufgrund des langen Weges der Wissenschaften zu den neuen Erkenntnissen über die Natur, zog Irwing den biblischen Bericht mit seiner Auskunft in Zweifel, dass die wahren Begriffe von den Dingen auf dem Wege der Offenbarung in die „erste Welt“ mit Adam als Stammvater gekommen sei. Diese Erkenntnisse erforderten eine so lange Zeit des Beobachtens, Nachdenkens und der Abstraktion vom Sinnlichen, dass der von der Bibel anberaumte Zeitraum zu kurz für solche Einsichten sei.289 Mit dieser 285

Vgl. Anonym [Karl Franz von Irwing], Versuch über den Ursprung der Erkenntniß der Wahrheit und der Wissenschaften. Ein Beytrag zur philosophischen Geschichte der Menschheit, Berlin 1781. 286 Ebd., S. 5f. 287 Ebd., S. 63f. 288 Ebd., S. 68. 289 „Gewiß, man mag nach der gewöhnlichen Zeitrechnung, das Alter der Erde vor der Noahischen Ueberschwemmung auf 1656 Jahre bestimmen, oder mit der Septuaginta annehmen, dass dieser Zeitraum 2242 oder 2256 Jahre gedauert habe, so wird doch auch diese größte Periode, bey gehörigem Nachdenken darüber noch viel zu kurz scheinen, um dem menschlichen Geschlechte die erforderliche Zeit zu lassen, sich von allen jenen, so himmelweit von der sinnlichen Erkenntniß abliegenden astronomischen Wahrheiten hinreichend und mit völliger Gewißheit zu überzeugen.“ Vgl. ebd., S. 72f.

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wissenschaftsgeschichtlichen Finte hatte Irwing nicht nur auf die ältere ‚Urvolkhypthese‘ zurückverwiesen,290 sondern die biblische Überlieferung hinsichtlich ihrer Aussagekraft zur Menschheitsgeschichte gänzlich infrage gestellt: Und in der That geben auch die von den Naturforschern über die Naturgeschichte der Erde gemachten Bemerkungen einem von vorgefassten Meynungen noch uneingenommenem Verstande Anlaß genug, es gar nicht unwahrscheinlich zu finden, daß das wahre Alter unseres Erdköpers sich weit über alle bekannten Zeitrechnungen hinaus erstrecke, und derselbe von einem ganz unermesslichen Alterthum seyn müsse.291

Aus diesen Überlegungen schloss Irwing, der trotz des angenommenen Alters auch von einer steten menschlichen Besiedlung der Erde ausging, dass Adam und Eva mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht die Eltern der Menschheit sein konnten. Es war die Regelhaftigkeit des natürlichen Geschehens – „das System und die Ökonomie der Welt“ – die diese Mutmaßung mehr als wahrscheinlich werden ließ. Erkennt man diese erfahrungsgestützte Hypothese an, so ließ sich die „philosophische Geschichte der Menschheit mit der wirklichen Geschichte der Welt“ zu einem plausiblen Ganzen fügen.292 Anstelle des biblischen Berichts sei von einer Jahrhunderte andauernden Entwicklung der Menschheit auszugehen, deren Stufen vom jeweiligen Erkenntnisfortschritt bestimmt gewesen seien. In „jedwedem Zustande“ sei die Menschheit jedoch von einem Rückfall in „Unwissenheit und Aberglauben“ nicht gefeit gewesen.293 Angesichts dieser ständigen Bedrohung lag die Lösung für den Bildungspolitiker nahe: Wenn man den Zustand, darin sich überhaupt das menschliche Geschlecht auf dieser Erde befindet, recht bedenkt, so muß man bald überzeugt seyn, daß es allemal eine nothwendige allgemeine Beschaffenheit bleiben muß, daß in keinem etwas beträchtlichen Staate, geschweige im ganzen Menschengeschlechte, die Aufklärung des Verstandes, oder überhaupt der Kultur, durchgehends einerley seyn könne.294

Irwings Vorgehen war mithin ein praktisch hermeneutisches, indem er zweierlei, scheinbar unversöhnliche, erkenntnistheoretische Positionen – in einem von ihm so titulierten „Verstehensvorgang“ – wieder verbunden sehen wollte. Eine naturphilosophische Betrachtung der Welt erschütterte die biblische Überlieferung und machte die Schöpfungsgeschichte zu einer Ursprungsfabel unter anderen. Nichtsdestotrotz gründete sich die ‚wahre Aufklärung‘ der Menschen auf transzendente Wissenschaften. Die Aufgabe der philosophischen Geschichte der Menschheit sollte darin bestehen, zwischen der physischen Konstitution des Menschen und seiner transzendenten Bestimmung zu vermitteln.

290 291 292 293 294

Irwing gilt als letzter Protagonist dieser Tradition. Vgl. Petri, Die Urvolkhypothese, S. 178ff. [Irwing], Versuch über den Ursprung, S. 79. Ebd., S. 89f. Ebd., S. 100ff. Ebd., S. 107.

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Das Konzept der Verbindung von historischer Empirie und philosophischer Bestimmung, das von dem Berliner Schulrat aufgrund seines bibelkritischen Gehalts umständlich vorsichtig vorgetragen worden war, fand in den wortreichen Ausführungen seines Berliner Kollegen am Joachimsthaler Gymnasium, Daniel Jenisch, eine klarere Durchführung. Der Prediger hatte schon für einiges Aufsehen in der Gesellschaft der Aufklärer gesorgt, bevor sein Universalhistorischer Ueberblick der Entwickelungen der Menschheit (1801) entstand. Jenisch, der bei Kant in Königsberg studiert hatte und dort zu dessen engstem Schülerkreis zählte, hatte sich unter seinen Zeitgenossen nicht nur Freunde gemacht und widersetzte sich auch mit seinen Schriften allen philosophischen Richtungszuweisungen, wodurch er in vorliegendem Kontext von besonderem Interesse ist.295 Anders nämlich als die meisten Autoren einer Menschheitsgeschichte stellte sich Jenisch in keine bestimmte Tradition, sondern verdeutlichte gleich in der Vorrede seine Sonderstellung, in der er unabhängig „von Kants Anthropologie, noch was Iselin und Herder in ihren Einleitungen zu der Geschichte der Menschheit gesagt“,296 seinen Weg erst selber bahnen müsste.297 Dieser Sonderweg der Menschheitsgeschichtsschreibung war für Jenisch nur dann zu finden, wenn man den Verführungen der Prinzipiensuche in der Entwicklung des Menschen widerstand, ohne allerdings das Ziel der Vervollkommnung des Menschengeschlechts aus den Augen zu verlieren.298 Die schwierige Abgrenzung zu einer teleologischen Geschichtsauffassung erfolgte dabei in der Betonung der nicht zwangsläufigen, sondern nur möglichen Vervollkommnung des Menschen beziehungsweise der Menschheit. Das methodische Korrektiv zu einer deduktiv verfahrenden Menschheitsanalyse beruhte darauf, die verschiedenen Anlagen und Kraftäußerungen der menschlichen Natur sowie die ausgezeichnetsten unter den bisher verlebten Perioden der Entwicklungsgeschichte unseres Geschlechts, nach der Idee fortschreitender Vervollkommnung zu betrachten; die natürlichen Epo-

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Herder machte keinen Hehl aus seinem Urteil über Jenisch: „Ich habe diesen Prediger vor einigen Jahren in meinem Hause kennen lernen müssen, und er ward den kleinsten der Gesellschaft lächerlich, der größte und unbedachtsamste Schwätzer, den ich während meines leidigen Lebens kennen gelernt habe, dem Sprechen und Schreiben eine gesunde Diarrhöe ist.“ Herder an Klopstock, 5. Dezember 1799, in: Ders., Briefe. Bd. 8. Weimar 1984, S. 106. 296 Vgl. Daniel Jenisch, Universalhistorischer Ueberblick der Entwickelung des Menschengeschlechts als eines sich fortbildenden Ganzen. Eine Philosophie der Culturgeschichte. Bd. 1. Berlin 1801, S. IV. Die Grundlage für dieses geschichtstheoretische Hauptwerk bildete ein nahezu gleichlautender zweiteiliger Beitrag in der von Gentz herausgegebenen Neuen teutschen Monatsschrift. Vgl. Ders., Universalhistorische Uebersicht der Entwickelung des menschlichen Geschlechts in philosophischer und kosmopolitischer Rücksicht, in: Neue teutsche Monatsschrift (1795), Februar, S. 138–153; May, S. 44–58. 297 Entgegen dieser Selbststilisierung zeigt Jenisch im Verlauf des Textes seine Bezüge innerhalb des Diskurses auf. Erwähnung finden Adam Ferguson, Henry Home, John Millar „unter den Britten“, sowie Adelung, Meiners, Iselin und Herder „unter den Deutschen“. Vgl. Jenisch, Universalhistorischer Ueberblick, Bd. 1, S. 24ff. 298 Ebd., S. 4.

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chen dieser Vervollkommnung festzustellen, deren Charakter zu entwickeln, ihre Vor- und Rückschritte zu bezeichnen und deren Ursachen darzulegen.299

Die Orientierung an Kants Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht ist offenkundig,300 während die Abgrenzung sich eher gegen eine von Zeitgenossen missverstandene Anwendung der Kantischen Teleologie als materialistische Geschichtsauffassung wendet.301 Der maßgebliche Unterschied zu Kant besteht bei Jenisch folglich nicht in der idealistischen Konzeption der Menschheitsgeschichte, sondern vielmehr in der methodischen Umsetzung. Denn für ihn war eine Menschheitsgeschichte nur durch die „Verbindung philosophischer Schlussreihen des Denkers mit erprobten Thatsachen des Geschichtsforschers“302 möglich. Die besagte ‚Erprobung‘ lag dabei nicht ausschließlich in der Konsultation von Büchern; vielmehr war es ihm vorzüglich angelegen gewesen, aus lebendiger Anschauung, Erfahrung und Beobachtung zu schreiben, und [seinen] Blick, abgekehrt von den todten Buchstaben philosophischer Commentare über die menschliche Natur, auf die handelnde Natur selbst zu heften.303

Die Umsetzung dieses empirischen Credos führte Jenisch weniger zu einem Rekurs auf historische Fakten als zu einem intensiven Studium der menschlichen Natur. Dieses konnte am lebendigen Beispiel durchgeführt werden, was laut Jenisch dadurch erleichtert [ward], daß das gütige Schicksal mir, zum alltäglichen Umgange, einen reinen Natur-Menschen, einen kleinen Wilden, zugeführt, der [...] von den Ur-Elementen des in ihm entwickelnden Menschen-Charakters an, der Gegenstand meiner geheftetsten Aufmerksamkeit ist; von dem ich unverhohlen gestehe, mehr gelernt zu haben, als aus vielen unserer anthropologischen und psychologischen Compendien.304

Bei diesem „kleinen Wilden“ handelte es sich um einen jungen Malayen, der ein Bruder der Frau des Leutnants von Hogendorp war, in dessen Dienst Jenisch als

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Ebd., S. 18. In dieser Hinsicht trifft eine frühe Subsumierung Jenischs unter die von Kant beeinflussten Menschheitsgeschichten zu. Vgl. Ernst Schaumkell, Geschichte der deutschen Kulturgeschichtsschreibung. Von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zu Romantik im Zusammenhang mit der allgemeinen geistigen Entwicklung. Leipzig 1905, S. 237. 301 Diese Auffassung hat Jenisch vor Augen, wenn er folgenden Passus zitiert: „[...] daß das menschliche Geschlecht ununterbrochen und gleichsam in gerader Linie zur Vervollkommnung gewandelt: und daß alle größere und kleinere Phänomene seiner Geschichte unmittelbar als bestimmende Ursachen oder als bestimmte Wirkungen einem solchen von der Hand der Vorsehung selbst (wie sie wähnen) gezeichneten Entwicklungsplan eingefügt und angeschlossen werden könnten“. Vgl. Jenisch, Universalhistorischer Ueberblick, Bd. 1, S. 19. 302 Ebd., S. 21. 303 Ebd., S. IIIf. In diesem Sinne ist es auch missverständlich, Jenisch als einen „SchreibtischAnthropologen“ zu bezeichnen. Vgl. Schleier, Geschichte der deutschen Kulturgeschichtsschreibung, S. 116. 304 Jenisch, Universalhistorischer Ueberblick, Bd. 1, S. VI.

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Hofmeister stand.305 Das Studium am konkret erfahrbaren Beispiel war getragen von der Auffassung, dass die Geschichte der Gattung die Geschichte des Einzelwesens sei, und umgekehrt, die Geschichte des Einzelwesens die Geschichte der Gattung bestimmen könnte.306 Jenischs Geschichte des Menschengeschlechts orientierte sich vorwiegend an der Stufentheorie, wie sie von den Schotten entwickelt worden war. Das von Jenisch konzipierte Stufenmodell basierte, wie im schottischen Prototyp, auf anthropologischen Theorien und Axiomen, wie etwa dem „Selbsterhaltungs- und Erweiterungstrieb“307 oder der These von der Perfektibilität des Menschen.308 Jenisch führte noch weitere menschliche Triebe ein,309 deren Widerstreit den eigentlichen Motor innerhalb des Entwicklungsmodells ausmachte; ein Prinzip des „Antagonismus der Triebe“, das Jenisch explizit von Kant entliehen hatte.310 Doch während die schottischen Vorläufer die Selbsterhaltungsweisen als Parameter der Menschheitsentwicklung gewählt hatten, gehorchte Jenischs Einteilung anthropologischmoralischen Koordinaten, deren Ordnungssystem sich aus dem jeweilig herrschenden Verhältnis von Vernunft und Sinnlichkeit ergab. Die Vernunft war das Werkzeug, das den Menschen über das Stadium der reinen Sinnlichkeit in der „Epoche der Thiermenschheit“ zur „Vermenschlichung“ erhob, im weiteren zur „Epoche der Verfeinerung“ der Sitten führte, die allerdings jederzeit durch „übertriebene Sinnen- und Kunst-Genüsse“ in eine „Epoche der Überfeinerung“ umzuschlagen drohe, deren Ablösung wiederum von der „Epoche der Versittlichung“, das heißt der unbedingten „Herrschaft der praktischen oder der moralisch-gesetzgebenden Vernunft“ als Idealvorstellung am Ziel der Entwicklung stehen sollte.311 In diesem Sinne war Jenischs Stufentheorie keine materiale Geschichtstheorie, wie sie die schottische Aufklärung entwickelt hatte, als vielmehr ein Zustandsmodell der Vernunft, das es ermöglichte, zwischen Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart eine Verbindung herzustellen, ohne daraus ein blankes „Prognostikon“312 für die Zukunft ableiten zu wollen:

305

Vgl. Gerhard Sauder, Popularphilosophie und Kant-Exegese: Daniel Jenisch, in: C. Jamme / G. Kurz (Hg.): Idealismus und Aufklärung. Kontinuität und Kritik der Aufklärung in Philosophie und Poesie um 1800. Stuttgart 1988, S. 162–178, hier S. 168. 306 Jenisch, Universalhistorischer Ueberblick, Bd. 1, S. 6. 307 Ebd., S. 64ff. 308 Ebd., S. 4. 309 Die Rede ist von „Formtrieb, Kunsttrieb, Wißtrieb, Geselligkeitstrieb“. Vgl. ebd., S. 88ff. 310 Ebd., S. IV. 311 Ebd., S. 364ff. Eine Verortung von Jenischs Modell im Rahmen anderer weltgeschichtlicher Entwürfe in der Spätaufklärung unternimmt Michael Harbsmeier, World Histories before Domestication. Writing Universal Histories, Histories of Mankind and World Histories in the Late Eighteenth Century Germany, in: Culture and History 5 (1989), S. 93–132. 312 In diesem Sinne etwa Hofrath von Eckartshausen, Blicke in die Zukunft, oder Prognostikon des neunzehnten Jahrhunderts nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit berechnet, vermög welcher man künftige Ereignisse vorher sagen kann. Leipzig 1798.

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Die Vergangenheit ist ihr [der Vernunft] – Lehrer; die Zukunft – Sporn und Warnung; die Gegenwart reichet ihr unaufhörlich Stoff zur Berichtigung oder Erweiterung ihrer Einsichten, so wie zur Uebung und Ausbildung aller ihr untergeordneten Kräften.313

Die Zukunft war damit ein normativ ausgekleideter Möglichkeitsraum, dessen Erfassung sich wissenschaftlichen Mitteln entzog.314 Die Darstellung der verschiedenen Epochen fiel in ihrer Quellenfundierung spärlich aus und beschränkte sich zumeist auf Beispiele aus der allgemeinen Naturgeschichte sowie Bemerkungen über das allgemein Menschliche.315 Von den zeitgenössischen Diskussionen um Quellenkritik, Umfang der Geschichte und methodischen Zugang blieb Jenischs Gattungsgeschichte unberührt. Sein eigentliches Anliegen war es, die ‚Epoche der Überfeinerung‘ als die sensible Phase zu zeichnen, die das Potential zu Rückfall oder Fortschritt der Menschheit barg. Wie die anderen Epochen die Anlagen zum Ausbau der physischen, technischen, intellektuellen und ästhetischen Fähigkeiten begleiteten, so wurde die ‚Epoche der Überfeinerung‘ von ihm als „läuternder Uebergang“316 betrachtet. Jenischs Modell des Menschengeschlechts war somit keine Versicherung des erreichten Niveaus, sondern vielmehr ein Appell an seine Zeitgenossen, sich der Fragilität dieses Zustandes, der bei weitem noch nicht dem Ideal entsprach, bewusst zu werden.317 Gegenstand und Adressat seiner Theorie war das Individuum, weshalb sein vorrangiges Interesse der Vermittlung von Anthropologie durch eine philosophische Gattungsgeschichte galt. Vor diesem Hintergrund verfasste Jenisch 1802 seine Theorie der Lebensbeschreibung,318 in der er – konkreter als im Universalhistorischen Ueberblick – erkenntnistheoretische und methodische Fragen behandelte. Die theoretische Grundlegung dieser Schrift bestand in der Klärung des Verhältnisses der Biogra313 314

Jenisch, Universalhistorischer Ueberblick, Bd. 1, S. 6. „Und so werden Gattung und Einzelwesen des Menschen-Geschlechts, vielleicht erst nach einer unabsehlichen Reihe von Jahren und Epochen, vielleicht auch nie, auf die höchste Stufe der ihnen erreichbaren Vollkommenheit gelangen, und zu ihrer ganzen Ausbildung reifen.“ Vgl. ebd., S. 7. 315 Jenisch verwendete keinen wissenschaftlichen Apparat, er zitierte keinerlei Quellen oder Reiseberichte. Für die Frühzeit des Menschen griff er auf Analogien zum Tierreich zurück: „Er ist ein Thier mit einer Keule, einem Pfeil; wird doch der Orang-Outang gewöhnlich mit einer Keule in der Hand angetroffen!“; vgl. ebd., S. 396; während für weitere Entwicklungsstufen Berichte über„wilde Menschen“ dienen konnten; vgl. ebd., Bd. 2, S. 5. 316 Ebd., Bd. 1, S. 370. 317 Diesem Ziel galten auch Jenischs gleichzeitig erschienene Schriften Geist und Charakter des achzehnten Jahrhunderts (Berlin 1800–1801) und Obelisk an der Gränzscheide des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts. Eine Lapidarschrift (Berlin 1801): „Die hehre Muse der Geschichte [...] zieht in dem Jahrbuch der Welt unter des Menschengeschlechts wundervolles Thatenverzeichnis Einen grossen Merkstrich. Sie greift nach einer neuen Rolle [...] zweifelhaft, ob sie künftig grössere Tugenden? oder ob menschliche Laster? schreiben wird.“ Vgl. Jenisch, Obelisk, S. 72f. 318 Daniel Jenisch, Theorie der Lebensbeschreibung. Nebst einer Lebens-Beschreibung Karls des Großen: einer (!) Preisschrift. Berlin 1802.

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phie zur allgemeinen Geschichte beziehungsweise des Individuums zur Gattung. Den Grundsatz dieses Verhältnisses meinte Jenisch dabei in der gegenseitigen Begründung und Beleuchtung der beiden, also im Verhältnis des Teiles zum Ganzen und vice versa, ausmachen zu können.319 Theoretisch war das Ideal einer Biographie erst eingelöst, wenn man von der „schlicht-historischen“320 Vorgehensweise zu einer „pragmatischen Biographie“ fortgeschritten sei. Deren oberste Maxime war wiederum erst dann erreicht, wenn es gelang, die „psychologische Entwicklungsgeschichte des von ih[r] dargestellten Individuums“ aufzuzeigen. Zur konkreten Umsetzung dieses Ideals verzeichnete Jenisch methodische Vorgaben, die auch seit einiger Zeit in der Erforschung historischer Prozesse thematisiert wurden, von deren Einsatz er in menschheitsgeschichtlichen Zusammenhängen jedoch abgesehen hatte: die Erforschung des „Seyns und Werdens“ des Individuums als Geschichte der Einflüsse durch Talente, Kunst, Wissenschaft, Gesinnungen, Zeitgeist sowie die Erörterung der „Thatsachen und Charakterzüge ihres Individuums“ nach Ursache und Wirkung.321 Der Grund, wieso Jenisch in der Erforschung des Individuums mehr Vertrauen in den Einsatz von Kausalzusammenhängen und entwicklungsgeschichtlichen Betrachtungen hatte, war die Fundierung dieser Kenntnisse im Selbst des Erkennenden: Vermittelst unserer vernünftigen Natur eigenthümlichen Abstractionsgabe können wir unser denkendes, empfindendes und handelndes Ich, von uns selbst absondern, vor uns hinstellen, und zum Gegenstande unserer Betrachtung machen: gleich einem Spiegel, der über das von ihm zurückgestrahlte Bild, welches unsre innere Anschauung reflectirt, aus dem Spiegel des Gemüths hervor, und stellen es außer uns hin. Wir hemmen den Strom unserer gegenwärtigen Ideen und Empfindungen, und schicken uns selbst zurück in die Vergangenheit.322

Dieses selbstreferentielle Bezugssystem des homo sum, humani nihil a me alienum puto323 als populäre Umsetzung der transzendentalen Philosophie, gelang nur durch das „Selbstbeobachten, Selbstbeschauen“.324 Die Übertragung der Selbsterkenntnis auf andere Individuen gründete auf der Möglichkeit „unser Ich [...] in jede denk-

319 320 321 322 323

Ebd., S. A 2. Ebd., S. 10ff. Ebd., S. 32. Ebd., S. 38f. Auch Jenisch hatte das Motto des Terenz seiner ‚Geschichte der allgemeinen Aufklärung‘ vorangestellt. Vgl. Ders., Geist und Charakter, Bd. 3, S. 294. 324 In diesem Zusammenhang verweist Jenisch auf die Selbst-Beobachtungen Karl Philipp Moritz’ (1756–1793), die in der Autobiographie ‚Anton Reiser‘ ihren Ausdruck gefunden hätten. Vgl. Jenisch, Theorie der Lebensbeschreibung, S. 42. Nach dem Tod von Moritz führte Jenisch dessen Vorlesung fort und übernahm einige seiner Ämter wie die Professur für Altertümer an der Berliner Akademie der bildenden Künste, die Professur des Geschäftsstils bei der Bauakademie und die Professur für deutsche Literatur am Französischen Gymnasium in Berlin. Vgl. Gerhard Sauder, Nachwort, in: Daniel Jenisch, Ausgewählte Texte. St. Ingbert 1996, S. 103–115, hier S. 106.

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bare Geistes- und Gemüthsform zu gießen und zu modeln“.325 Die Durchführbarkeit dieser Operation im „Zeit-Raum-Verhältnis“326 basierte wiederum auf dem „anthropologischen Axiom“, also der These, dass die menschliche Natur immer „in allen menschlichen Individuen Eine und Dieselbe“327 bliebe. Auf der Basis der anthropologischen Voraussetzung der Uniformität gelangte Jenisch zur Klärung des Verhältnisses der inneren Anlagen und der äußeren Einflüsse in der Entwicklung des Menschen, woraus er ein Modell zur Ausbildung menschlicher Charaktere ableitete. Dabei gebe es nach Jenisch Charaktere, die unberührt vom „Einfluss der Außendinge“328 bereits Angelegtes zur schönsten Entfaltung bringen könnten, während labilere Charaktere einem starken Einfluss durch die Außenwelt ausgesetzt seien und nur in der Gattung das Ziel der eigentlichen Destination zu erreichen in der Lage wären. Aus diesen Ausführungen wird deutlich, dass sich die ‚Bestimmung des Menschen‘329 für Jenisch aus seiner eigenen Natur erschloss und nicht außerhalb dieser Anlagen, im Rahmen der Erforschung historischer Prozesse und ihrer Ziele, gefunden werden konnte.330 Diese Überlegungen boten für Jenisch Anlass, das Verhältnis des Biographen zum Geschichtsschreiber, aber auch zum Philosophen näher zu bestimmen. Der Lebensbeschreiber sollte, „wie sein großer Bruder der Geschichtsforscher“, die „nothwendige Rücksicht auf die Zeit- und Raum-Verhältnisse“ nicht aus den Augen verlieren, „denn die Culturstoffe ihres Jahrhunderts und ihrer Stamm-Nazion reicht vorzüglich die Data zu der Schätzung des Grades ihrer Selbstbildung oder der Bildung durch die Umstände“.331 Die Biographie konnte also genauso wenig wie die allgemeine Geschichte auf die Unterfütterung mit empirischen Daten verzichten. Dennoch unterlag die komplexe Vorgehensweise des Menschenstudiums einer gewissen Systematik. Am Beginn stand die Frage nach der „Natur des Menschen und ihrer vielseitigen Äußerungen [...] (ein Thema welches zwischen Vernunft und Erfahrung in der Mitte liegt)“,332 deren Erfor325

Jenisch, Theorie der Lebensbeschreibung, S. 46. Es erscheint entsprechend problematisch, Jenisch als einen Vertreter der reinen Autobiographie anzusehen, wie etwa Michael Maurer, Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1680–1815). Göttingen 1996, S. 107f. 326 Jenisch, Theorie der Lebensbeschreibung, S. 92. 327 Ebd., S. 49. 328 Ebd., S. 57ff. 329 Eine Verortung von Jenisch als „Kantianer“ in dieser Debatte unternimmt Giuseppe D’Alessandro, Die Wiederkehr eines Leitworts. ,Die Bestimmung des Menschen‘ als theologische, anthropologische und geschichtsphilosophische Frage der deutschen Spätaufklärung, in: Norbert Hinske (Hg.): Die Bestimmung des Menschen. Hamburg 1999 (Aufklärung 11/1), S. 20–47, hier S. 42. 330 „Überall ist der Mensch um so viel mehr ein Selbst, eine lebendige selbstthätige Kraft, [...] je mehr er die Umstände nach sich zu schaffen weiß, als sich blos den Umständen anschmiegt: und den äußern Dingen mehr das Gepräge seiner Kraft aufdrückt, als selbst ihr Gepräge trägt“; Jenisch, Theorie der Lebensbeschreibung, S. 92. 331 Ebd., S. 90ff. 332 Ebd., S. 134.

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schung zunächst Sache der „praktischen Philosophen“ sei; „Ihnen schließen sich an die Geschichtsforscher, als Beobachter der Menschen und ihrer Entwickelung auf allen Schauplätzen und in allen Jahrhunderten ihrer Existenz“.333 Die Methode des praktischen Philosophen334 wiederum lag darin, in dem Allgemeinen das Besondere, wie in dem Besonderen das Allgemeine wahrzunehmen; das Innere des Menschen aus dem Äußeren, wie das Äußere aus dem Inneren zu erkennen; aus dem Menschen die Menschheit, aus dem unaufhörlichen Wechselspiel der zahllosen Phänomene in den Handlungen und Gesinnungen der ersten ursprünglichen Anlagen und ewig bestehenden Züge der andern, aufzufinden.335

Jenisch war deutlich, dass eine methodisch gesicherte ‚Menschenkunde‘ nicht mehr auf eine empirische Grundlegung verzichten konnte. Dennoch war es die Aufgabe des praktischen Philosophen, die Fragestellung zu entwickeln und das Material nach einer Methode zu ordnen; ein Wechselspiel aus philosophischen Voraussetzungen und empirischen Daten, das er ‚pragmatisch‘ nannte. Die dazu erforderlichen Fakten sollten aus anthropologischen und psychologischen Studien bezogen werden, die in einem zweiten Schritt im historischen Raum abzugleichen und zu verifizieren waren.336 In diesem Sinne blieb die Geschichte ihrer traditionell propädeutischen Funktion für die Philosophie verhaftet und war kein gleichberechtigtes Konzept neben dem der Anthropologie. Gleichzeitig konnte das eine ohne das andere Konzept nicht existieren, denn die praktische Philosophie basierte auf den ‚gemischten Methoden‘ der Vernunft- und Erfahrungswissenschaften. Trotz der Anlehnung an das schottische Modell hatte sich Jenisch mit seinem Universalhistorischen Ueberblick weit vom ursprünglichen Anliegen der ‚Natural History of Mankind‘ entfernt. Letztlich waren es doch vor allem anthropologische Konstanten, welche den schottischen Gelehrten als hypothetische Annahmen gedient hatten, die von Jenisch auf den Gattungsverlauf übertragen wurden. Die empirische Untermauerung blieb zumeist ein Lippenbekenntnis – die Historie wurde letztlich oftmals in ihrer propädeutischen Rolle als ‚Magistra Vitae‘ belassen. Das Zusammenspiel aus Theorie und Empirie, das die Schotten als Weg zur Wahrscheinlichkeit in der Erforschung der Menschheitsgeschichte entwickelt hatten, wurde zumindest temporär zurückerobert von der reinen Vernunft.

333 334 335 336

Den Historikern folgten sodann „die Philologen, als Sprachforscher, Geschmackskenner“. Vgl. ebd., S. 134. Jenisch nennt hier als Vorbilder Garve und Sulzer. Vgl. ebd., S. 145. Ebd., S. 145. Historische Erfahrung konnte also nur „die zufälligen Begebenheiten der menschlichen Dinge oder den Zustand ihrer gegenwärtigen Verhältnisse betreffen“. Die zuständigen Disziplinen seien: „Geschichte, Geographie, Statistik“. Vgl. Jenisch, Geist und Charakter, Bd. 3, S. 465.

275

4.6.

Modelle des Menschenstudiums in der deutschsprachigen Aufklärung

Vorliegende Auswahl der deutschsprachigen Beiträge zum spätaufklärerischen Diskurs um Mensch und Menschheit zeigt, dass sich im Feld der ‚Wissenschaft vom Menschen‘ seit den 1770er Jahren langsam eigenständige Disziplinen mit jeweils unterschiedlichen inhaltlichen und methodischen Schwerpunktsetzungen etablierten. Diese als abgrenzbare Modelle zu systematisieren, ist nicht unproblematisch, da schon die aufgezeigten Beispiele von Anthropologie, Naturgeschichte, Kulturgeschichte und philosophischer Menschheitsgeschichte die fließenden Grenzen der verschiedenen Formen des Menschenstudiums offenkundig werden lassen. Allein diese Komplexität erklärt das Desiderat einer solch systematischen Unterteilung in der Forschung. Zudem muss eine Systematik die Schwerpunkte ‚Geschichtsphilosophie‘ und ‚Geschichtswissenschaft‘ respektive ‚Universalgeschichte‘ und ‚Weltgeschichte‘ berücksichtigen, um den Themenbereich der ‚Wissenschaft vom Menschen‘ in seiner weit verzweigten Ausdehnung erfassen zu können.337 Der Versuch einer groben Systematisierung soll im Folgenden unternommen werden. Von einem übergreifenden Diskurs der aufklärerischen Gelehrsamkeit kann man insbesondere bei dem Modell der ‚Naturgeschichte des Menschen‘ sprechen. Diese Debatte hatte ihren Ausgang in den thesenstarken französischen Arbeiten – besonders denen Rousseaus und Buffons – genommen und bot einen geeigneten Austragungsort für den Anschluss an beziehungsweise die Abgrenzung von der Naturrechtstheorie. Die deutschen Vertreter der Gattung, wie etwa Georg Forster, zeigten in ihren Naturgeschichten Parallelen zur schottischen Lösung des Stufenmodells auf, insofern auch sie anthropologische Merkmale auf den Gattungsprozess übertrugen und damit induktiv ermittelte Parameter für eine Entwicklung der Menschheit ausgemacht zu haben glaubten. Dass diese Parameter im Unterschied zu den schottischen ‚natural histories‘ nicht nur im Grundtrieb der Selbsterhaltung, sondern, so bei Irwing und Jenisch, auch in einer wachsenden Verstandestätigkeit zu finden waren, markiert den veränderten, in Kategorien von Superiorität und Inferiorität argumentierenden, Anspruch der Zukunftsdeutung in der philosophischen Geschichte der Menschheit. Die erkenntnistheoretische Grundlage der Naturgeschichte des Menschen war indessen der Vorrang der Erfahrung, wie ihn das jüngere Wissenschaftsideal – so auch für die Erforschung der eigenen Spezies – gebot. Es galt folglich, die philosophischen Annahmen über den Menschen, die vor allem seine moralische Konstitution betrafen, an empirischen Fakten zu überprüfen. Die Verbindung von morali337

Ein erster Entwurf zu einem systematischen Überblick wurde 2002 auf einer Tagung in Trieste zum Thema ‚The Problem of Human Diversity in the European Cultural Experience of the Eighteenth Century‘ vorgestellt. Vgl. Annette Meyer, The Experience of Diversity and the Search for Unity. Concepts of Mankind in the Late Enlightenment, in: Studi Settecenteschi. Edizioni di Philosophia e Scienza 21 (2001), S. 245–264, hier S. 258ff.

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scher Disposition und ihren physiologischen Bedingungen war mit dem Einzug der beobachtenden Methode seit dem beginnenden 18. Jahrhundert ein andauerndes Projekt in Philosophie, Theologie und Medizin, das mit Platners Anthropologie auf den Begriff gebracht worden war.338 Ähnlich wie in Hartleys, von Locke inspirierten, Observations on Man lag das Hauptaugenmerk dieser Studien auf dem Individuum nach Maßgabe von Körper, Geist, Seele, Moral und Entwicklung. Der Primat der physiologischen Grundlegung und die Konzentration auf das Individuum veranlassten die ‚Anthropologen‘ auch zu Abgrenzungen gegenüber der ‚Geschichte der Menschheit‘, deren metaphysisch-philosophische Verankerung auf der einen Seite, beziehungsweise ihre historische Fundierung auf der anderen, dem Anliegen der empirisch erneuerten ‚Erfahrungsseelenkunde‘ – als die sich die Anthropologie verstand – widersprach.339 Jedoch weicht Kants Auffassung von ‚Anthropologie‘ in seinen Vorlesungen markant vom Gebrauch seiner Zeitgenossen ab und ist weniger zur Illustration des Diskurses geeignet340 als zur Kennzeichnung der Grundlage einer sich herausbildenden Anthropologie nach transzendentalen Prinzipien in seiner Nachfolge.341 Ähnlich wie im Konzept der ‚Anthropologie‘ war mit dem Modell der ‚historia naturalis‘ ein traditioneller Lehrbegriff gegeben, der allerdings im Verlauf des 18. Jahrhunderts einem fundamentalen Bedeutungswandel unterzogen worden ist. Von seinem älteren, systematisierenden Gebrauch abweichend wurde das Schema der Naturgeschichte unter dem Eindruck des biologischen Entwicklungsdenkens zunehmend dazu dienlich, die Entfaltung einer Spezies – damit auch die des Menschen – aufzuzeigen. Da diese ‚historische‘ Vorgehensweise nunmehr nicht mehr als gleichbedeutend mit einer empirischen Methode gebraucht wurde, musste das 338

Auf der Suche nach der ‚anthropologischen Wende‘ hat die Forschung neuerdings die Zäsur vom Erscheinen der Platnerschen Schrift (1772) auf die Frühaufklärung vordatiert und am Beispiel Hallescher Mediziner illustriert. Vgl. Carsten Zelle, ‚Vernünftige Ärzte‘. Hallesche Psychomediziner und Ästhetiker in der anthropologischen Wende der Frühaufklärung, in: Schmitz / Zelle (Hg.): Innovation und Transfer, S. 47–62, hier S. 49f. 339 „Mein Handbuch ist für Ärzte, Weltweise und Rechtsgelehrte bestimmt, und ich begreife unter Naturgeschichte der Menschenspecies die ganze Anthropologie im weitesten Sinne des Worts, die doch im engern Sinne auch nur als ein Theil derselben betrachtet werden kann, und unterscheide sie nothwendig von der allgemeinen Weltgeschichte oder der so genannten Universalhistorie und der Geschichte der Menschheit, deren Umfang und Grenzen andere bereits bestimmt haben.“ Vgl. Ludwig, Grundriß der Naturgeschichte, S. V. 340 Ganz im Sinne von Platner gebraucht etwa der schweizerische Gelehrte Johann Samuel Ith (1747–1813) den Begriff der ‚Anthropologie‘. Vgl. Ders., Versuch einer Anthropologie oder Philosophie des Menschen nach seinen körperlichen Anlagen. 2 Bde. Bern 1794–1795, S, XIII. Iths Schüler Philipp Albert Stapfer (1766–1840) veröffentlichte, beeinflusst durch Kant, eine philosophisch fundierte Anthropologie. Vgl. Ders., Die fruchtbarste Entwicklungsmethode der Anlagen des Menschen zufolge eines kritisch philosophischen Entwurfs der Culturgeschichte unseres Geschlechts. Bern 1792. 341 Hier wäre etwa Carl Christian Erhard Schmids (1761–1812) Empirische Psychologie (1791) und Ludwig Heinrich Jacobs (1759–1827) Grundriß der Erfahrungsseelenlehre (1791) zu nennen. Vgl. dazu Matthias John / Temilo van Zantwijk, Zur Methodologie der Erfahrungsseelenlehre, S. 200.

277

Naturgeschichtsmodell folglich auch von einer ausschließlich beobachtungsgeleiteten ‚Anthropologie‘ unterschieden werden: Jedoch wollte ich mein Buch keine Anthropologie nennen, da nach meinem Plane der historische Theil, obschon mit mehrern andern Untersuchungen verwebt, die Basis ausmacht, und der Naturbeschreibung nothwendig auch Erwähnung geschehen musste.342

Dabei blieb in der Naturgeschichte der Vorrang der anthropologischen Betrachtung aber insofern bestehen, als der Zweck der Analyse die nähere Bestimmung des Wesens des Menschen beabsichtigte. Nichtsdestotrotz lässt sich eine Verschiebung des Erkenntnisziels, wie im Fall der schottischen ‚Natural History‘, feststellen, da die historischen Daten mit der Zeit weniger zur Unterfütterung der Anthropologie dienten, sondern die anthropologischen Fakten vielmehr zur propädeutischen Untermauerung der Historie. Die Nutzung des Stufenschemas vom zyklischen Lebensaltermodell bis hin zu einer nach oben offenen Humanisierungsskala ist Ausdruck dieser Entwicklung. Die Anthropologie und die Naturgeschichte des Menschen wiesen hinsichtlich ihres methodischen Primats des Empirischen folglich durchaus Parallelen auf und unterschieden sich vielmehr in der Frage, worin das Datenmaterial bestehen sollte, das sich einerseits mit den ‚inneren‘ Merkmalen und andererseits mit den ‚äußeren‘ Manifestationen der menschlichen Natur befasste. Ein puristischer Anthropologe wie Platner beschränkte sich weitgehend auf physiologisch-psychologische Daten, während ein Naturhistoriker wie Forster diese auf die Gattung übertrug und mit den äußeren Erscheinungen der Menschheit wie Sitten, Recht, Religion, Hautfarbe und Geschlecht abglich. Dementsprechend wollte Tetens die ‚Naturgeschichte des Menschen‘ als Untersuchung der „Ausprägungen, die sich am Körper zeigen“, von der „Geschichte der Menschheit“, die sich „den Veränderungen in dem äußern Zustande“ zeige, unterschieden wissen.343 Die methodische Problematik der Wissenschaft vom Menschen bestand also grundlegend in der Vermittlung der inneren Natur des Menschen mit ihrem äußeren Ausdruck. Da die Seele-Körper-Dichotomie aufgrund der Einlösung des empirischen Imperativs vermittels historischer und ethnologischer Daten um eine dritte, zeitlich-räumliche Dimension erweitert wurde, galt es diese methodisch zu bewältigen. Alle Beiträge zum Menschenstudium können als Lösungsmodelle zu diesem Problem interpretiert werden. Mit der ‚Science of Man‘ im Sinne Humes war ein kritisches Bewusstsein für den methodischen Einsatz von Kausalitäten gegeben, der es zunächst ermöglichte, zwischen den Antrieben des Menschen und den daraus resultierenden Handlungen zu vermitteln. In dieser Verbindung lag die Möglichkeit, in einem weiteren Schritt die moralische Disposition und die historische Dimension menschlichen Handelns zu korrelieren. Eine solche kausal erklärende, 342 343

Ludwig, Grundriß der Naturgeschichte, S. V. Tetens, Philosophische Versuche, Bd. 2, S. 369f.

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auf Motive zurückführende Methode, deren Anliegen darin bestand, über Analogien und Vergleiche Zusammenhänge im Zeit-Raum-Zusammenhang zu entwickeln, wurde in der deutschsprachigen Anthropologie, Moralphilosophie, Philosophie und Historie des 18. Jahrhunderts als ‚pragmatisch‘ vorgehend bezeichnet.344 Doch auch diese Begrifflichkeit war mit durchaus unterschiedlichen Konnotationen versehen, an denen sich das Spektrum der Gewichtung von inneren, psychologischmoralischen und äußeren, körperlichen Aspekten des Menschen sowie schließlich externen, historischen Manifestationen des menschlichen Handelns aufzeigen lässt. Auch in diesem Zusammenhang stellt Kant mit der Definition von der „pragmatischen Hinsicht“ in seiner Anthropologie wiederum einen Sonderfall dar, da er es nicht als ihre Aufgabe ansah, den gegenseitigen Einfluss von Körper und Seele zu untersuchen, sondern zu ergründen, „was er [der Mensch], als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht, oder machen kann und soll“.345 Das heißt, besagte pragmatische Hinsicht sollte ein „Orientierungswissen für das praktische Handeln“346 bieten beziehungsweise darüber hinaus eine anwendungsorientierte, populäre Vermittlung des komplexen Verhältnisses von Morallehre und Geschichtsbild in der Kantischen Philosophie ermöglichen. Demzufolge war der Fortschritt der Menschheit zur Humanität nicht durch das Individuum, sondern nur in der Entwicklung der Gattung zu erreichen. Der Mensch wird in Kants teleologischem Fortschrittsmodell kraft der selbstbestimmten, vernunftgesteuerten Einsicht in seine Humanität zum Mittel und Zweck der Einlösung dieser Maxime im Gattungsprozess.347 Kants posthum veröffentlichte Anthropologie-Vorlesungen erscheinen weniger inkompatibel zu seinen Ausführungen zur Erkenntnistheorie,348 wenn man sie als Versuch zur Popularisierung seiner Ethik349 und Geschichtsphilosophie liest,

344

Vgl. Kühne-Bertram, Aspekte der Geschichte und der Bedeutungen des Begriffs „pragmatisch“, S. 161. 345 Kant, Anthropologie, BA III, IV, V, VI. 346 Vgl. Reinhard Brandt / Werner Stark, Einleitung, in: Kant’s gesammelte Schriften, Kant’s Vorlesungen, Bd. 25/2, hg. v. d. Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Berlin 1997, S. XV. 347 Thomas Prüfer hat darauf hingewiesen, dass Kant mit dieser ‚Handlungsgeschichte‘ unmittelbar an die pragmatische Tradition anknüpfte, diese jedoch im Sinne eines transzendentalen Idealismus umdeutete. Vgl. Ders., Die Bildung der Geschichte, S. 200f. 348 Die vermeintliche Unversöhnlichkeit von Kants erkenntnistheoretischen Maximen und seiner Vorlesung zur Anthropologie hat oftmals zu Irritationen bezüglich der Interpretation des Gesamtwerks geführt: „[S]o kann der Leser der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht nur verwirrt sein über ein Werk, das eher auf dieser populären Philosophie beruht, die Kant so oft kritisiert hat [...].“ Vgl. Jean Ferrari, Von einer unauffindbaren Wissenschaft vom Menschen, in: Paragrana 11 (2002), S. 51–61, hier S. 52. 349 „Wahrhaftigkeit im Inneren des Geständnisses vor sich selbst und zugleich im Betragen gegen jeden anderen, sich zur obersten Maxime gemacht, ist der einzige Beweis des Bewusstseins eines Menschen, dass er einen Charakter hat; und, da diesen zu haben das Minimum ist, was man von einem vernünftigen Menschen fordern kann, zugleich aber auch das Maximum des inneren Werts (der Menschenwürde): so muß, ein Mann von Grundsätzen zu sein (einen bestimmten Charakter zu haben), der gemeinsten Menschennatur möglich und dadurch dem größten Talent,

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die er selbst als „pragmatische Anlage der Zivilisierung durch Kultur“ in seiner Anthropologie aufgreift: Zuvörderst muß man anmerken: daß bei allen übrigen sich selbst überlassenen Tieren jedes Individuum seine ganze Bestimmung erreicht, bei den Menschen aber allenfalls nur die Gattung: so, daß sich das menschliche Geschlecht nur durch Fortschreiten, in einer Reihe unabsehlich vieler Generationen, zu seiner Bestimmung empor arbeiten kann; wo das Ziel doch immer im Prospekt bleibt, gleichwohl aber die Tendenz zu diesem Endzwecke zwar wohl öfters gehemmt, aber nie ganz rückläufig werden kann.350

Mit dieser teleologischen Geschichtsphilosophie hatte Kant ein in sich schlüssiges Entwicklungskonzept entworfen, das in einer besonderen Form der ‚pragmatischen‘ Geschichtsschreibung eingelöst wurde, durch die es gelingen sollte, den inneren Zweck des Geschichtlichen aus einer fortlaufenden Humanisierung des Menschen zu analysieren. Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass das geschichtsphilosophische Modell Herders bei aller inhaltlichen Unterschiedenheit in seiner Verschränkung von anthropologischen Einsichten und determiniertem Gattungsprozess durch die „Bestimmung des Menschen zur Humanität“ ebenso einer transzendentalen Lösung gehorchte wie das Kantische.351 Während Herders Konzept den individuellen Gestaltungen der menschlichen Natur mehr Gewicht zumaß und den Humanisierungsprozess als Aufeinanderfolge der Kulturen verstand,352 fixierte Kant den Fortschrittsprozess an das Ziel der freiheitlichen Gesellschaft, deren Maximen wiederum auf die Handelnden innerhalb der Gattungsgeschichte zurückwirken sollten.353 Beiden geschichtsphilosophischen Modellen war gemeinsam, dass der Mensch nicht das Objekt der Gesetze des historischen Prozesses war, sondern dass er diesen handelnd bestimmen konnte. Die Aufgabe der philosophischen Geschichte der Menschheit bestand letztendlich darin, die ‚vernünftigen‘ Einsichten in die historische Maxime der Menschlichkeit an das Handeln der Menschen zurückzubinden.354

der Würde nach, überlegen sein.“ Vgl. Kant, Anthropologie, B 269, 270, A 271, 272, B 271, A 273. 350 Ebd., B 317. 351 „[B]etrachten wir die Menschheit, wie wir sie kennen, nach den Gesetzen, die in ihr liegen: so kennen wir nichts höheres, als Humaniät im Menschen: denn selbst wenn wir uns Engel oder Götter denken, denken wir sie uns nur als idealische, höhere Menschen. Zu diesem offenbaren Zweck [...] ist unsre Natur organisieret. [...] Ihr zu gut sind auf der weiten Erde alle Lebensarten der Menschen eingerichtet, alle Gattungen der Gesellschaft eingeführt worden.“ Herder, Ideen zur Philosophie, S. 580f. 352 Vgl. ebd., S. 599. 353 Ich verdanke Thomas Prüfers Arbeiten wichtige Einsichten zu diesem komplexen Gegenstand, der hier nur am Rande verhandelt werden kann. Gerade im Vergleich mit den anderen Modellen der ‚Naturgeschichte‘ oder der entstehenden ‚Geschichtswissenschaft‘ rücken die Positionen Kants und Herders näher zusammen, als es Spezialstudien zu beiden Philosophen zunächst vermuten lassen. Vgl. Ders., Der Fortschritt der Menschheitsgeschichte am Ende des 18. Jahrhunderts, in: Storia della Storiografia 39 (2001), S. 109–118, hier S. 113. 354 Ebd., S. 114.

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Bei den Epigonen der systematisch in sich geschlossenen ‚Geschichtsphilosophie‘, besonders denen der Kantischen Variante, hatte der Vorrang der theoretischen Grundlegung der Menschheitsgeschichte zur Folge, dass das empirische Credo der ‚Wissenschaft vom Menschen‘ nur noch von zweitrangigem Interesse war.355 Dennoch taten sich Denker wie Jenisch oder auch Historiker wie Karl Heinrich Ludwig Pölitz (1772–1838) und Karl Ludwig von Woltmann (1770–1817) mit praktischen Umsetzungen der transzendentalen Geschichtsphilosophie hervor.356 Der ‚Pragmatismus‘ dieser Schriften bestand in der Vermittlung von theoretischem Wissen und praktischem Handeln. Doch gerade der daraus resultierende didaktische Impetus hinter der ‚pragmatischen Geschichtsschreibung‘ trug schon bald zu deren negativer Beurteilung bei.357 Diese Kritik übersah jedoch den weitreichenden theoretischen Anspruch im pragmatischen Ansatz, durch den der Hiatus aus Motiv und Handlung – heute würde man von Intentionalismus und Funktionalismus sprechen – überwunden werden sollte und der somit maßgeblich zur Entstehung einer neuen Form der Geschichtsdarstellung beitrug.358 Besonders die sich als Wissenschaft verstehende junge Geschichtsschreibung trug dieser Aufgabe Rechnung, indem sie durch eine ‚pragmatische‘ Methode ihren systematisch abgesicherten – wissenschaftlich eigenständigen – Status gewährleistet wissen wollte. Die Göttinger Historiker Johann Christoph Gatterer (1727–1799) und August Ludwig Schlözer (1735–1809) grenzten sich durch die Vorgabe, Zusammenhänge zu entwickeln anstatt Begebenheiten nur in der Zeit- und Länderab355

Carus sprach davon, dass „[n]ur ein vorschneller Missbrauch“ der Kantischen Geschichtsphilosophie dem Verdacht Vorschub geleistet habe, dass Kant „die empirische Geschichte“ verdrängen wollte. Vgl. Ders., Ideen zur Geschichte der Menschheit, S. 31. 356 Pölitz war zunächst einer der glühendsten Anhänger der Kantischen Geschichtsphilosophie; eine Position von der er in seinem späteren Leben zurückwich. Vgl. Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Grundlinien zur pragmatischen Weltgeschichte, als ein Versuch, sie auf ein Princip zurückzuführen, Leipzig 1795. Die Arbeiten von Karl Ludwig von Woltmann, so Ueber pragmatische Behandlung der Geschichte (1803), waren durch ein stärkeres Bemühen um empirische Grundlagen der Geschichtsphilosophie gekennzeichnet. Vgl. Ders., Ueber pragmatische Behandlung, in: Sämmtliche Werke. Bd. 7. Leipzig 1824, S. 65–98. 357 Bereits Hegel beurteilte die ‚pragmatische Geschichtsschreibung‘ nachteilig: „Eine zweite Art der reflektierenden Betrachtung der Geschichte ist alsdann die pragmatische. [...] Es ist hier besonders der moralischen Reflexionen Erwähnung zu tun und der durch die Geschichte zu gewinnenden moralischen Belehrung, auf welche hin dieselbe oft bearbeitet wurde. Wenn auch zu sagen ist, daß Beispiele des Guten das Gemüt, besonders der Jugend, erheben und beim moralischen Unterricht der Kinder, um ihnen das Vortreffliche eindringlich zu machen, als konkrete Vorstellungen allgemeiner Wahrheiten anzuwenden wären, so sind doch die Schicksale der Völker, die Umwälzungen der Staaten, deren Interessen, Zustände und Verwicklungen ein anderes Feld als das moralische.“ Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Bd. 1: Die Vernunft in der Geschichte. Hamburg 6. Aufl. 1994, S. 18. 358 Hans-Jürgen Pandel hebt hervor, dass der Begriff des ‚Pragmatismus‘ besonders dem Historismus zur Diffamierung der Aufklärungshistorie diente. Vgl. Ders., Pragmatisches Erzählen bei Kant. Zur Rehabilitierung einer historisch-mißverstandenen Kategorie, in: H. W. Blanke / J. Rüsen (Hg.): Von der Aufklärung zum Historismus. Zum Strukturwandel des historischen Denkens. Paderborn u.a. 1982, S. 133–151, hier S. 133.

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folge aneinanderzureihen, von Chronologie und Annalistik ab.359 Gatterers Theorie folgte dem Ziel der maximalen Annäherung an den Systemzusammenhang der Geschichte: „Der höchste Grad des Pragmatischen in der Geschichte wäre die Vorstellung des allgemeinen Zusammenhangs der Dinge in der Welt (Nexus rerum universalis).“ Diesem Ideal konnte der Geschichtsschreiber nur entsprechen, wenn er sich auf hervorhebenswerte Begebenheiten konzentrierte und deren anthropologische „Triebfedern“ und historische „Wirkungen“ untersuchte.360 Beispielhaft für die Herstellung menschlicher Handlungszusammenhänge galten den deutschen Historikern, ebenso wie ihren schottischen Kollegen, die Werke antiker Geschichtsschreiber wie etwa von Thukydides, Polybios und Tacitus.361 Eine sich von der Tradition der ‚Historia Magistra Vitae‘ abgrenzende, neue ‚Universalgeschichte‘ war mit ihrer ‚pragmatischen Methode‘ Teil der Debatte um die Verschränkung von Anthropologie und Geschichtsschreibung und wählte ihren Schwerpunkt – anders als die philosophische Geschichte der Menschheit – nicht in der moralischen als vielmehr in der empirisch-historischen Dimension der Weltgeschichte.362 Die Differenz der verschiedenen Positionen des ‚Pragmatischen‘ – als Vermittlungsinstanz zwischen theoretischem Befund und praktischer Handlungsanweisung363 – lag in der Betrachtung der Geschichte. Diese war für die Anthropologen kontingent, für die Geschichtsphilosophen ein diesseitiger Bezugsrahmen der Moral und für die Historiker ein zunehmend eigengesetzliches Forschungsfeld, welches ohne Rekurs auf die Antriebe der Akteure nicht seinen Systemcharakter offenbaren konnte.

359

Gatterer entwickelte sein Konzept der ‚pragmatischen Historie‘ in produktiver Abgrenzung von John Gray und William Guthries Universal History. Vgl. Ders. Vom historischen Plan, und der darauf sich gründenden Zusammenfügung der Erzählung (1767), in: Blanke / Fleischer (Hg.): Theoretiker, Bd. 2, S. 621–661, S. 646f. 360 Ebd., S. 659. 361 Ebd., S. 658. 362 Schlözer beschreibt diese empirisch fassbare Dimension der Geschichte als ‚Realzusammenhang‘: „Der Realzusammenhang ist die natürliche, unmittelbare, und sichtbare Verbindung solcher Begebenheiten, die einerlei Gegenstand betreffen, und als Ursachen und Wirkungen in einander gegründet sind.“ Vgl. Ders., Vorstellung seiner Universal-Historie (1772), in: Blanke / Fleischer (Hg.): Theoretiker, Bd. 2, S. 663–688, hier S. 679. 363 Im Sinne dieser Synthese definierte Christian Daniel Beck, „pragmatische oder philosophischhistorische Werke, welche nicht nur die Begebenheiten in der Zeitfolge erzählen sondern ihren Zusammenhang lehrreich entwickeln. [...] Da die Kenntniß einzelner Thatsachen und Ereignisse, ohne ihre Verbindung unter einander, nicht belehrend genug für den Freund der Geschichte wird, so muß vorzüglich auf den mannigfaltigen Zusammenhang derselben Rücksicht genommen; die Ursachen, Veranlassungen, Folgen und Wirkungen einzelner Begebenheiten aufgesucht; die Charaktere der einzelnen handelnden Personen und Völker erforscht; der Geist der Zeitalter, der Völker und der großen Begebenheiten wahrhaft aufgefaßt und beurtheilt, die Resultate derselben richtig gezogen und unpartheyisch gewürdigt, ohne vorgefaßte Meinungen der Gang der Völker und Menschen, und der Lauf der Schicksale, wie er wirklich war, nicht wie er nach gewissen angenommenen Grundsätzen oder menschlichen Erwartungen seyn sollte, beobachtet, geprüft, dargestellt verglichen und und mannigfaltig angewendet werden. Hierin besteht der Pragmatismus und die Philosophie der Geschichte.“ Vgl. Ders., Anleitung, S. 14f.

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Für die entstehende Fachhistorie hatten diese Überlegungen zur Konsequenz, dass die quellenlose Frühzeit aus dem Rahmen der ‚Geschichte‘ ausgeschlossen werden musste, da sie sich den Mitteln eines wissenschaftlich-empirisch verfahrenden Historikers entzog.364 Im Zuge dieser Methodisierung der Historiographie wurde auch von der zunehmend als methodisch fragwürdig geltenden Praxis abgesehen, fehlende Quellen zur Ur- und Frühgeschichte durch Reiseberichte zu substituieren. Die Betonung der Eigenbedeutung einzelner Kulturen ließ die grundlegend axiomatische Bedeutung der Uniformitätsthese für die Menschheitsgeschichte schwinden und sogar zu einer Kritik am „anthropologischen Geist“ der älteren Geschichte der Menschheit werden.365 Weniger die Einheit als die Diversität der Epochen und Kulturkreise rückte in den Focus der sich nun als eigenständige Wissenschaft verstehenden Historie.366 Des Weiteren sah die sich neu formierende Kulturgeschichte ihre Aufgabe weniger in einer Zusammenschau der Menschheit auf dem Wege des Vergleichs und durch Analogiebildungen zwischen unterschiedlichen Ausprägungen einheitlicher Anlagen.367 Vielmehr galt das Interesse der spezialisierten Kulturhistoriker der Dechiffrierung voneinander verschiedener Codes und damit einer Aufteilung der Menschheit innerhalb von Kultur- und Epochengrenzen nach Maßgabe des jeweiligen sprachlich-historischen Zeichensystems. Die Universal- und Kulturhistoriker zogen sich durch diese methodischen und inhaltlichen Vorgaben und Bestimmungen vom ganzheitlichen Anspruch der menschheitsgeschichtlichen Entwürfe zurück und beschränkten sich auf zeitlichräumliche Bereiche, für die ein unmittelbarer oder mittelbarer empirischer Beweis vorlag und die durch die Mittel einer wissenschaftlichen, historisch-kritischen Methode erreichbar waren.368

364

„Doch dies sind Begebenheiten, die sich vor dem Anfang der Geschichte ereignet haben müßen, und die der Naturforscher bloß erräth. Diesem also überläßt die Geschichtskunde die Erzählung derselben, und borget ihm höchstens alte Sagen als Nebenbeweise dazu.“ Vgl Schlözer, Vorstellung seiner Universal-Historie, S. 668. 365 Diese Periode in der ‚Geschichte der Geschichte der Menschheit‘ „war bezeichnet durch einen anthropologischen Geist und dadurch angedeutet, dass durch das unmittelbare und innigere Bewusstseyn der Einen und ungetheiltern Menschennatur auch die Geschichte der Menschheit Einheit gewinnen und ein ganzes homogener Stoffe werden konnte“. Vgl. Carus, Ideen zur Geschichte der Menschheit, S. 28. 366 Auch unter dem Paradigma der ‚Kulturgeschichte‘ vollzog sich dieser Wandel nur schrittweise. Zur Verortung von Adelungs Versuch einer Geschichte der Cultur im Diskurs der ‚Wissenschaft vom Menschen‘ vgl. Johan von der Zande, Zur Geschichtswissenschaft der Aufklärung. Johann Christoph Adelungs Kulturgeschichte der Menschheit (1782), in: R. Melville u.a. (Hg.): Deutschland und Europa in der Neuzeit. Stuttgart 1988, S. 359–375, hier S. 362f. 367 Christian Daniel Beck spricht von der „Culturgeschichte, die weniger umfassend ist als die Menschengeschichte“ und nennt als Beispiele Adelung und Pölitz. Vgl. Ders., Anleitung, S. 46. 368 Eine ähnliche Entwicklung lässt sich für die Konstituierung der ‚Universalgeschichte‘ als Universitätsfach in Schottland nachzeichnen. Der erste Inhaber eines Lehrstuhls für Universalgeschichte, Alexander Fraser Tytler, schrieb 1782: „[S]peculations regarding the antidiluvian world [...] fall not within the province of History.“ Ders., Plan and Outline of a Course of Uni-

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Das methodische Experimentierfeld um Mensch und Menschheit war vor der Jahrhundertwende unter den entstehenden Spezialdisziplinen aufgeteilt worden. Die jeweiligen Fachwissenschaften von der Biologie über die medizinische Anthropologie, Psychologie, Geographie, Ethnologie, bis hin zu den Philologien, der Geschichtswissenschaft und Philosophie behaupteten seitdem zunehmend ihre Eigenständigkeit. Der umfassende Anspruch, den etwa Meiners an die ‚Wissenschaft vom Menschen‘ herangetragen hatte, empirisches Feld und Metareflexionsebene zugleich zu sein, ließ sie zur fragilen Konstruktion eines sich gegenseitig bedingenden theoretischen Über- und experimentellen Unterbaus werden. Die Aufteilung des Menschen in die Forschungsgegenstände Seele, Körper, Geist und der Menschheit in Gattung, Spezies, Rassen, Kulturen, Epochen sowie die jeweiligen methodischen Prioritäten in induktiver und deduktiver Vorgehensweise ließen einzelne Fächer mit gesonderten Methodenvorgaben entstehen. Der Synthetisierungsvorgang aus anthropologischen und historischen Elementen, die sich zu unterschiedlichen Anteilen in der ‚Geschichte der Menschheit‘ verbunden hatten,369 war an sein vorläufiges Ende gelangt. Die ‚Anthropologie‘ nahm ihre eigene Entwicklung – im Spannungsfeld von Physiologie und Naturphilosophie –, wie sie hier in den komplementären Positionen von Platner und Kant nur angedeutet werden konnte.370 Die ‚Geschichte‘ wiederum kündigte die Koalition mit der Anthropologie durch eigene Souveränitätsansprüche auf und ließ ihre traditionell propädeutische Funktion hinter sich.371 Ebenso wie im Umgang mit der Anthropologie bestanden indessen auch hier unterschiedliche Auffassungen über das Verhältnis von Empirie und Rationalität. Mit den Vertretern einer primär philosophischen Behandlung der Geschichte in der entstehenden ‚Geschichtsphilosophie‘ und den Befürwortern einer vorrangig empirischen Verankerung historischer Untersuchungen in der sich etablierenden ‚Geschichtswissenschaft‘ sind die zwei entgegengesetzten Pole einer abweichenden Entwicklung markiert. Die in vorliegender Arbeit erstmals in Zusammenschau textualisierten Entwürfe einer ‚philosophischen Naturgeschichte der Menschheit‘ fielen aufgrund der versal History, Edinburgh 1782, S. 17. Vgl. Alexander Tytler’s Lectures on Universal History, 1800–1801, pres. by John Grant, Esq., MS. Dc. 6. 115, (EUL), [unpag.]. Vgl. Prüfer, Die Bildung der Geschichte, S. 182. Vgl. dazu Paul Ziche, Anthropologie zwischen Physiologie und Naturphilosophie. Wissenschaftssystematische Aspekte der Fachgebiete Anthropologie und Psychologie um 1800, in: O. Breidbach / P. Ziche (Hg.): Naturwissenschaften um 1800. Wissenschaftskultur in Jena-Weimar. Weimar 2001, S. 96–106. 371 „Nicht als Sozialwissenschaft gewann die Historie ihre Autonomie – als solche wäre sie ein Anhängsel der Staatswissenschaften geblieben –, sondern als historische Anthropologie. Ihre systematische Referenzdisziplin war, in den Termini der im 18. Jahrhundert gültigen Wissenschaftssystematik gesprochen, nicht die Politica, sondern die philosophische und pragmatische Anthropologie, wie sie sich bei Herder und Kant, bei den so genannten Popularphilosophen der späten Aufklärung wie Feder, Tetens, Garve, Plattner (!), Meiners, nicht zuletzt bei Wilhelm von Humboldt herausbildete.“ Vgl. Dreitzel, Die Entwicklung der Historie zur Wissenschaft, S. 280. 369 370

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Hybridisierung ihrer Methoden und der Verschränkung ihrer Forschungsinteressen durch das Raster späterer selektiver, nur auf die Entstehung der Fachwissenschaften ausgerichteten Betrachtung. Auf dem Weg zur Etablierung der Fachdisziplinen ‚Geschichtsphilosophie‘ und ‚Geschichtswissenschaft‘, die wesentlich mit einer Auseinandersetzung um die Rolle der ‚Leitwissenschaft‘ einherging, hegte keines der beiden Fächer Interesse daran, an die Phase des gegenseitigen Begründungszusammenhangs erinnert zu werden. Stattdessen wurde solcher einstimmig als Irrweg der ‚Popularphilosophie‘ abgetan. Der hier unternommene Versuch der Entmarginalisierung der ‚historischen Anthropologie‘ des 18. Jahrhunderts zeigt jedoch, dass die methodische und inhaltliche Synthese aus Anthropologie und Geschichte durch die Ausprägung eines theoriegeleiteten Empirismus beziehungsweise einer hermeneutischen Methode tragfähige Modelle jenseits der philosophie-historische Hauptstraßen des 19. Jahrhunderts ausgebildet hatte. Darüber hinaus eröffnet sich ein zeitgenössischer Diskussionsraum, der aus heutiger Perspektive anschlussfähiger denn je für aktuelle Methodendebatten erscheint.372

372

In ähnlicher Form vertritt diese These John H. Zammito: „[W]ith a presentist awareness that some of these impulses have become resources for quite contemporary endeavors in hermeneutics.” Vgl. Ders., The Birth of Anthropology, S. 12.

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5. Schlussbetrachtung

Nähert man sich der ‚Naturgeschichte der Menschheit‘ als einem spezifischen Projekt der Spätaufklärung ist es notwendig, dieses in einem erweiterten Focus der Wissenschaftsgeschichte zu betrachten, da es sich dabei nicht um einen Beitrag zur Historiographiegeschichte im engeren Sinne handelte. Im Vergleich der wissenschaftsgeschichtlichen Kontexte der schottischen ‚Natural History of Mankind‘ und der deutschen ‚Menschheitsgeschichte‘ zeigt sich, dass beide Phänomene aus einer Krise beziehungsweise in einer Phase der Neukonstituierung der jeweiligen Wissenschaftslandschaft entstanden. Beide Modelle gingen aus der empirischen Grundlegung der jungen ‚Wissenschaft vom Menschen‘ hervor und verliehen gleichzeitig der forschungspraktischen Darstellung ihrer gesammelten Daten Gestalt. Die doppelte Funktion der ‚Naturgeschichte‘ für die ‚Wissenschaft vom Menschen‘ als induktive Basis und pragmatische Darstellungsform zugleich bestimmt die besondere Rolle der ‚Naturgeschichte der Menschheit‘ sowohl für den angelsächsischen als auch für den deutschen Wissenschaftskontext in der Spätaufklärung. Aus der Passagesituation beider Wissenschaftssphären erklärt sich der Übergangscharakter, der beide Ausprägungen dieser Gattung kennzeichnet: Sie sind weder nur der Tradition der ‚historia naturalis‘ zuzuordnen, noch aus einer rein historiographie- oder philosophiegeschichtlichen Perspektive zu erfassen. Da sich die Verschiebung innerhalb der Wissensbereiche im 18. Jahrhundert sowohl auf der Ebene der Gegenstände als auch auf der Ebene der Methoden vollzog, äußerte sich die Hybridität des Genres in der Verbindung alter und neuer Fragestellungen und Methoden. Die Zwischenposition der ‚Naturgeschichte der Menschheit‘ bestand in ihrer vorsichtigen Annäherung an den Gegenstand ‚Mensch‘ aus veränderter Perspektive und in einer Kombination traditionell getrennter Erkenntnisformen. Dieses erkenntnistheoretische Experiment schien in dem Moment obsolet, als sich ein neues Wissenschaftssystem zu etablieren begann, in dem die ‚Wissenschaft vom Menschen‘ in verschiedene Disziplinen segmentiert wurde. Die in vorliegendem Kontext unternommene systematische Analyse der ‚Naturgeschichte der Menschheit‘ als Ausdrucksform der ‚Wissenschaft vom Menschen‘ in der Spätaufklärung muss daher nicht nur vor den Grenzen der späteren Disziplinen ansetzen, sondern auch vor der getrennten Entwicklung der Natur- und Geisteswissenschaften, die mit Nachhaltigkeit im 19. Jahrhundert erfolgte und den angelsächsischen und deutschsprachigen Wissenschaftskontext auf sehr unterschiedliche Art und Weise prägte.

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Das Bedürfnis zur Neuformierung der Wissenschaftssysteme sowohl in Großbritannien als auch im deutschsprachigen Raum entstand bereits im ausgehenden 17. Jahrhundert aus einer Kritik an älteren Wissensformen. Übereinstimmend kritisiert wurden der Dogmatismus und die Unbeweglichkeit der traditionellen Scholastik, die dem massiven Zuwachs an Erkenntnissen seit dem Beginn der Frühen Neuzeit nicht mehr gewachsen zu sein schien. Durch die herkömmlichen Wissenssysteme konnten die neu erkundeten Phänomene weder erklärt werden, noch war es möglich, die hinzugewonnenen Erkenntnisse harmonisch zu integrieren. In dem Maße, in dem das Wissen über bislang unbekannte Erscheinungen der Natur – physikalische Kräfte, Himmelskörper, Erdteile, Pflanzen- und Tierarten sowie nicht zuletzt über verschiedene Menschenrassen – wuchs, schwand die Erklärungskraft der traditionellen Deutungsmodelle. Das solchermaßen entstandene Ungleichgewicht zwischen einer wachsenden Menge empirischer Daten und zunehmend als unzureichend empfundener Deutungsschemata hatte eine Umstrukturierung der Erkenntnisweisen in den Wissenschaften zur Folge. Nicht die formal begründete Einsicht in das Wesen der Dinge – auf dem Wege von Logik und Metaphysik – ebnete den Weg zu ihrem Verständnis, sondern zunächst die bloße Beobachtung, Sammlung und Beschreibung der Erscheinungen. Vor diesem Hintergrund vollzog sich eine freiwillige Restriktion im Anspruch der Wissenschaftler. Der durch ihre mangelnde Erklärungskraft geschürte Vorbehalt gegenüber metaphysischen Systemen ließ die Alltagserfahrung als wissenschaftliche Erkenntnisform in den Vordergrund treten. Im Lehrgebäude der Wissenschaften bedeutete dies, dass das in der Hierarchie der Erkenntnisweisen traditionell niedrig veranschlagte Faktenwissen der ‚cognitio historica‘ durch die verstärkte Würdigung der Empirie sukzessive einen eigenständigen wissenschaftlichen Status erlangte. Darüber hinaus hatte die Aufwertung der Erfahrung eine Öffnung der traditionell hermetischen Gelehrtenwelt zur Folge, die nun nicht mehr auf einen engen Kreis von Theologen, Rechtsgelehrten und Medizinern beschränkt bleiben sollte. ‚Laien‘ und ‚Dilettanten‘ konnten auf der Basis eigener Beobachtungen Beiträge zu den vormals ständisch verfassten und elitär geführten Gelehrtendebatten liefern. Mit der Verankerung des Wissens in der Erfahrung erging an die Wissenschaften auch der Anspruch auf Verständlichkeit, Nützlichkeit und Anwendungsorientierung. Der Vorwurf an die traditionelle Gelehrsamkeit, ein quasi selbstreferentielles System zu sein, welches in einer eigenen Sprache und Logik autonom existierte, wurde mit dem Anspruch verbunden, einem breiteren Kreis von Menschen die Neuerungen in der Welt zu erklären und sie für den Umgang mit denselben vorzubereiten. Diesen Anforderungen entspricht die lexikalische Definition des modernen Wissenschaftsbegriffs im 18. Jahrhundert, wo ‚Wissenschaft‘ – anders als die klassische ‚scientia‘ – nicht nur den Weg der Erkenntnis beschrieb (wie man Wissen von etwas erlangt), sondern gleichzeitig ein breiteres Spektrum an Disziplinen aufzeigte, die den neuen Anwendungsfragen im Einzelnen begegnen sollten. Die Verdrängung des Lateinischen als Gelehrtensprache ist für diesen Vorgang der formalen und 288

materialen Differenzierung des Wissenschaftsbegriffs ein einschneidendes Datum. Für die frühneuzeitliche Gesellschaft hatten diese allmählichen Veränderungen gravierende Folgen. Da die Defizite der traditionellen Wissenschaften zunächst mit der Institution der Universität verbunden wurden, galt ihrer Monopolstellung in der Wissensvermittlung sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland scharfe Kritik. Anstelle der Universitäten waren es vor allem Akademien und gelehrte Gesellschaften, die seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert und allgegenwärtig seit der Mitte des 18. Jahrhunderts Foren für eine Gelehrsamkeit neuen Typs schufen. Die Praxisorientierung der Fragen, die in einer wachsenden Anzahl von Zeitschriften und Preisschriften verhandelt wurden, verdeutlicht den Nützlichkeitsanspruch an die Wissenschaften, die vor allem an der Gestaltbarkeit ihrer Ergebnisse gemessen wurden. Die entsprechenden Ambitionen reichten von Verbesserungen im Bereich der Landwirtschaft über die Bildung bis hin zur gesellschaftlichen Moral, die jenseits ihrer theologischen Fundierung eine ‚wissenschaftliche‘ Begründung finden sollte. Die scheinbare Zurückhaltung in politischen und religiösen Fragen sowohl in schottischen als auch in deutschen Gesellschaften soll allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass unter dem Vorzeichen der praxisnahen Erneuerung der ‚Wissenschaften‘ entscheidende gesellschaftspolitische Themen diskutiert wurden: die Frage nach der besten Verfassung, nach der Entstehung der Ungleichheit der Stände und der Menschenrassen oder auch die politisch virulente Frage danach, was eigentlich unter ‚Aufklärung‘ zu verstehen sei. Die solcherart umschriebene Vermittlung von anwendungsorientiertem Wissen (‚Knowledge‘ beziehungsweise ‚Bildung‘) einerseits und gesellschaftlicher Partizipation andererseits blieb auch für die Universitäten nicht folgenlos. In diesem Punkt ist auf eine Parallelentwicklung in Schottland und bestimmten deutschen Ländern hinzuweisen, die dadurch gekennzeichnet war, dass – anders als etwa in England – der erkenntnistheoretische Umbruch und der bildungspolitische Impetus in eine Reform der Universitäten umgesetzt wurden. Für Schottland sind im Zusammenhang mit der ‚Science of Man‘ besonders die Universitäten von Edinburgh und Aberdeen hervorzuheben, während in Deutschland Halle und Göttingen eine Vorreiterrolle einnahmen und später Jena und Leipzig eine besondere Bedeutung für die Umsetzung der ‚Wissenschaft vom Menschen‘ zukam. Allen Reformbestrebungen gemeinsam war eine Angleichung der Institutionen an die inhaltlich veränderten methodischen Vorgaben sowie der gesellschaftliche Auftrag einer umfassenden Erziehung, die weniger auf eine Funktionselite für den Staat als auf eine Allgemeinbildung zielte, auf der wiederum das neue bürgerliche Selbstverständnis basierte. Für den Umbau innerhalb des Lehrgebäudes bedeutete diese Aufgabenstellung eine Aufwertung der empirischen Grundlagenwissenschaften, die traditionell unter ‚historia naturalis‘ und ‚historia civilis‘ gefasst wurden. Aus dieser expliziten Würdigung ergab sich mehr Raum für naturphilosophisch-physikalische, botanisch-biologische sowie historische Forschungen, was in der Einrichtung von Spezialbibliotheken, Laboratorien, Naturaliensammlungen und botanischen Gärten 289

eine praktische Umsetzung fand. Ein bedeutsamer Unterschied im schottischen und deutschen Reformprozess war allerdings, dass die Eingliederung der neuen Fächer unterschiedlich vorgenommen wurde. An der Universität Edinburgh wurden beispielsweise die neuen Lehrstühle, die im weitesten Sinne Fragen der Universalgeschichte behandelten, der juristischen und medizinischen Fakultät untergliedert, während der Botanik ein eigenständiger disziplinärer Status zugebilligt wurde. An den deutschen Universitäten fand der Umbau innerhalb der ‚vierten‘ beziehungsweise nun als ‚philosophisch‘ ausgewiesenen Fakultät statt. Dies hatte zur Folge, dass im deutschen System die Rangstreitigkeiten unter den neu etablierten Fächern mit der Leitwissenschaft Philosophie ausgetragen werden mussten. In der Spätaufklärung betraf diese Auseinandersetzung in der Hauptsache die – traditionell mit ‚Empirie‘ synonymisierte – ‚Historie‘, die mit der rasch anwachsenden Anzahl von Lehrstühlen für Geschichte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sukzessive einen selbstständigen disziplinären Status aufweisen konnte.1 Während sich also das schottische Universitätsmodell, die ‚Lebenswissenschaften‘ ausgenommen, als integrationsfähiger erwies und die Historie weiter vor allem als Propädeutik der traditionellen Wissenschaften diente, erfuhr der deutsche Fächerkanon eine stärkere Diversifizierung mit der Ausbildung neuer eigenständiger Wissenschaftstraditionen. Dieser institutionelle Befund korrespondiert mit den lexikalischen Definitionen von ‚Science‘ und ‚Wissenschaft‘. Im angelsächsischen Raum war der Begriff neben der grundsätzlichen Bestimmung der Erkenntnisweise zunehmend auf deren empirischen Anteil ausgerichtet; im deutschsprachigen Raum diente das Konzept der ‚Wissenschaften‘ hingegen in wachsendem Maße als offener Beschreibungsrahmen für eine, allen Fächern offen stehende, disziplinäre Eigenständigkeit. Diese war wiederum an bestimmte Methodenvorgaben gebunden, folgte jedoch keiner einheitlichen Definition. Beiden Konzepten von ‚Wissenschaft‘ war zunächst die Abkehr vom traditionellen Verständnis von ‚scientia‘ gemeinsam, deren Ziel es gewesen war, aufgrund kategorisch-deduktiver Ableitungen ein System absoluter Wahrheiten zu errichten. Die wachsende Skepsis gegenüber diesen abstrakten Setzungen führte in den nationalsprachlich verfassten Konzepten von ‚Science‘ und ‚Wissenschaft‘ zu einer Selbstbescheidung auf ein hypothetisch-deduktives System konditioneller Sätze und damit zu einer systematischen Annäherung an die Wahrheit auf dem Wege der Wahrscheinlichkeit. Neben diesem fundamentalen erkenntnistheoretischen Wandel hatte der Wissenszuwachs auch eine Veränderung der Gegenstände wissenschaftlichen Interesses bewirkt. Newtons Durchbruch, mittels eines aus der Beobachtung abgeleiteten Gesetzes die Regeln der natürlichen Welt entschlüsselt zu haben, ließ den Ehrgeiz, ein solches Gesetz auch für die 1

Vgl. Beilage I: Verzeichnis der Lehrstühle für Geschichte und ihre Inhaber an den deutschsprachigen Universitäten im 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Blanke / Fleischer, Einleitung, S. 103–123.

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moralische Welt ausfindig zu machen, zu einer wissenschaftlichen Herausforderung werden. Auf diese Weise rückte der ‚Mensch‘ unter einem veränderten Blickwinkel in den Mittelpunkt der Forschung: nicht als Krönung der Schöpfung, sondern als Phänomen der belebten Natur. Humes Konzept der ‚Science of Man‘ war gänzlich diesem Vorhaben geschuldet: „An Attempt to introduce the experimental Method of reasoning into Moral Subjects“.2 Durch die Naturalisierung des Menschen, die Untersuchung seiner natürlichen Antriebe, sollten die Grundsätze seiner sittlichen Bestimmung dechiffriert werden. Die Antriebe menschlichen Handelns waren auf dem Wege der Beobachtung zu ermitteln. Da jedoch das Experiment im Falle des Menschen nicht durchführbar war, mussten die notwendigen Daten aus Reisebeschreibungen gleichzeitig existierender Völkerschaften oder aus historischen Berichten gewonnen werden. Während sich Hume als ‚Newton of the Mind‘ vor allem mit der erkenntnistheoretischen Entfaltung der ‚Science of Man‘ beschäftigt hatte, war es an seinen schottischen Mitstreitern, die theoretisch-methodische Ausgestaltung des Projektes vorzunehmen. Dabei handelte es sich einerseits um den theoretischen Begründungszusammenhang dieser Naturphilosophie vom Menschen und andererseits um Fragen der empirisch-narrativen Umsetzung in der ‚Natural History of Man‘. Die notwendige gleichförmige Naturbasis zum Menschenstudium erforderte allgemeingültige anthropologische Grundannahmen, durch die es zuallererst ermöglicht wurde, die mannigfaltigen Beobachtungen an räumlich und zeitlich entlegenen Studienobjekten in ein übergreifendes System zu integrieren. Diese anthropologische Grundlegung war seit der Jahrhundertmitte Gegenstand einer breit geführten philosophischen Debatte, die ihre maßgeblichen Anregungen von Beiträgen der französischen ‚Histoire naturelle‘, etwa von Buffon, erhalten hatte. Weitgehendes Einvernehmen bestand unter den Naturhistorikern über die Annahme von der ‚Uniformität‘ der menschlichen Natur, durch welche die Bedingung der Möglichkeit einer Wissenschaft vom Menschen gelegt wurde. Sie hatte jedoch nicht nur axiomatischen Charakter für die Theoriebildung, sondern diente auch als methodisches Korrektiv zur Feststellung des substantiell Gleichen in akzidentiell verschiedenen Erscheinungen. Ein weiterer unabdingbarer Theoriebaustein war die These von der ‚Perfektibilität‘ des Menschen, wie sie vor allem in der Auseinandersetzung mit Rousseaus ‚Zweitem Diskurs‘ entwickelt wurde. Während jedoch Rousseaus Modell die ständige Gefahr der gegenläufigen Entwicklung zur Vervollkommnung barg, war es der spezifisch schottische Beitrag zur ‚Naturgeschichte der Menschheit‘, die vermeintlich antagonistischen Konzepte der ‚Uniformität‘ und ‚Perfektibilität‘ in eins zu setzen. Die Bedeutung dieser Übertragung bestand darin, zwei ursprünglich auf das Individuum Mensch geprägte Kategorien in der Weise untereinander zu vermitteln, dass ihnen Geltung für die Entwicklung des gesamten Menschengeschlechts zukam. Durch den gleichblei-

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So im programmatischen Untertitel des Treatise of Human Nature.

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benden Antrieb des Menschen zur Vervollkommnung, so die Annahme, entstehe eine Gleichförmigkeit der Schritte dieser Entwicklung im Gattungsprozess. In diesem Schritt der Übertragung einer anthropologischen Prämisse auf den Gattungsprozess selbst erfolgte eine deutliche Entgrenzung des Programms der ‚Science of Man‘, wie es Hume angelegt hatte. Die ‚Antriebe menschlichen Handelns‘ (modes of subsistence) wurden auf die Gattungsgeschichte übertragen, wodurch eine frühe Geschichtstheorie entstand. Dieses Modell der Geschichte diente den ‚Natural Histories of Mankind‘ als vorläufiges Gerüst, wobei es bedeutsam ist festzuhalten, dass durch den Einsatz der empirischen Daten die Theorie falsifiziert beziehungsweise verifiziert werden konnte. Folglich war es kein a priori festgelegtes philosophisches Prinzip, das der Betrachtung der Geschichte zugrundegelegt wurde. Es war vielmehr eine Gattungsgeschichte, deren unterschiedliche Entwicklungsgrade auf der Basis anthropologischer Daten erhoben wurden, die wiederum dazu dienten, das Entwicklungsmuster stetig zu modifizieren. Im Unterschied zu älteren Modellen wurden die Völker nicht synchronistisch nach Klimaten, Sitten oder Religionen eingeteilt, sondern es bestand eine einheitliche ‚Geschichte der Menschheit‘, die sich auf einer übergreifenden diachronen Skala mit Fortschritten und Rückständen verzeichnen ließ. Das maßgebliche methodische Problem für die schottischen Gelehrten bei der Grundlegung ihrer Menschheitsstudien bestand folglich darin, zwischen den empirischen Daten und den erkenntnisleitenden Hypothesen zu vermitteln, was durch eine an Humes Erkenntnistheorie angelehnte Methodik gelöst werden sollte. Besonders Adam Ferguson tat sich in seinen Vorlesungsmanuskripten mit der Klärung methodischer Fragen hervor. Seine Bemühungen galten vor allem der Frage nach dem Verhältnis von ‚allgemeinen Regeln‘ und ‚Einzelbeobachtungen‘, wobei er die Antwort in einem gegenseitigen Begründungszusammenhang suchte. Die hypothetisch angenommenen allgemeinen Regeln hätten aus vorherigen Einzelbeobachtungen hervorzugehen, die wiederum die solcherart entwickelten Hypothesen als richtig oder falsch zu erweisen hätten. Das Primat lag mithin in der Empirie, die dennoch an prinzipielle Überlegungen rückgebunden und dem Wahrscheinlichkeitskriterium unterworfen wurde. An dieser Stelle wurde die strikte Trennung von induktiver und deduktiver Methode zugunsten eines proto-hermeneutischen Modells aufgelöst. Innerhalb dieses Modells kamen ebenfalls aus Mathematik und Naturphilosophie entlehnte Instrumente wie der Vergleich, der Analogieschluss sowie die Verknüpfung nach Ursache und Wirkung zum Einsatz. Durch dieses Instrumentarium war es möglich, die differenten Einzelbeobachtungen an den systematischen Ansatz zurückzubinden. Die kausale Verknüpfung galt den ‚Natural Historians‘ als wirksames Mittel, den Zusammenhang der Motive des menschlichen Handelns und den daraus resultierenden Ereignissen zu erkennen. In der Weiterentwicklung der ‚History of Mankind‘ kam der Ursache-Wirkungs-Zusammenhang in gesteigertem Maße auch für die Verknüpfung der äußeren historischen Bedingungen zum Ein292

satz. Ein Zusammenhang, den Humes Erkenntnistheorie noch strikt ausgeschlossen hatte. Das Bekenntnis zur rein induktiven Methode wurde indes gewahrt, indem Reiseberichte von den ‚rude nations‘ fehlende Quellen zur Vorgeschichte ersetzten. Diese Berichte wurden auf dem Wege des Vergleichs mit historischen Zeiten parallelisiert und mittels des Analogieschlusses in einen menschheitsgeschichtlichen Zusammenhang gebracht. Hinsichtlich der Quellen und des Umfangs der ‚Natural History of Mankind‘ ist von zentraler Bedeutung, dass die Bibel nicht mehr in den Kanon der relevanten Überlieferungen miteinbezogen wurde. Der Schöpfungsbericht wurde unter andere mythenhafte Ursprungsgeschichten gereiht und ebenso wie das Naturzustandstheorem aufgrund seiner fehlenden empirischen Basis als Anfang der Menschheitsgeschichte, infragegestellt. Weniger kritisch war der Umgang mit den Schriften antiker Autoren, wobei auch dieser in Fragen der Naturgeschichte von einem grundsätzlichen Überlegenheitsgefühl der ‚Modernen‘ getragen war. Dieser Superioritätsanspruch war, ebenso wie gegenüber dem biblischen Bericht und Naturrechtskonstruktionen, von der Sicherheit durch neuerlich erlangte Kenntnisse über ‚wilde Völker‘ und ihre Lebensformen getragen. Diese zentralen neuen Erkenntnisse über die Diversität der Erscheinungen des Menschlichen gingen auf Reisberichte zurück, die überhaupt erst den Erklärungsbedarf aufgeworfen hatten und nun die Fundierung der Naturgeschichte bildeten. Nichtsdestotrotz war man sich der Problematik ihres Quellenwerts bewusst, weswegen – geschult am neuen Wissenschaftsideal – nicht ihre Wahrheit, sondern ihre Richtigkeit überprüft wurde. Durch die Berufung auf Augenschein und dessen Revisionsfähigkeit im induktiven Verfahren war durch die Reiseberichte am ehesten das Ideal des Experiments in den Naturwissenschaften gewährleistet. Die erkenntnistheoretische Auseinandersetzung mit der Problematik von ‚Fremderfahrung‘ beförderte einen zunehmend kritischen Umgang mit Reiseberichten und damit die Grundlage für eine systematische Quellenkritik in der Naturhistorie. Die praktische Umsetzung der ‚Science of Man‘ in der ‚Natural History of Mankind‘ ließ den narrativen Aspekt dieser eigentlich der Naturphilosophie entwachsenen Gattung hervortreten. Es lässt sich eine langsame Verschiebung von einer Erkenntnistheorie hin zu einer historisch untermauerten Moralphilosophie bis zu einer genetisch verfahrenden Geschichtstheorie innerhalb der schottischen Aufklärung feststellen. Während die erste Phase der ‚Science of Man‘ vom Bestreben der Naturalisierung des Menschen geprägt war, entstand aus der Übertragung der anthropologischen Konstanten auf die Menschheit in der zweiten Generation eine Historisierung der menschlichen Natur in Gattungsschritten, die in einer Entwicklungstheorie ihre Niederlegung fand. Hinter allen ‚Natural Histories‘ standen jedoch Fragen der praktischen Philosophie. Das gemeinsame Bestreben der schottischen Gelehrten bestand darin, die Gesetze des menschlichen Wesens zu ergründen, um Einfluss auf sein Handeln nehmen zu können und seine Lebensformen zu verbessern. Da die schottischen Naturhistoriker auf der Basis von Induktions- und Analogieschlüssen ein abstraktes Ursache-Wirkungs-Modell zwischen den Moti293

ven und den Handlungen des Menschen in einer historischen Dimension herzustellen in der Lage waren, reichte ihr Ansatz über die Tradition der ‚Historia Magistra Vitae‘ signifikant hinaus. Vor dem Hintergrund dieses komplexen Verfahrens aus naturphilosophischem Gesetzesdenken und seiner historisch-anthropologischen Grundlegung muss die zurückhaltende Deutung der historischen Dimension in der schottischen ‚Natural History‘ als bloßes ‚storehouse of examples‘ in Teilen der Forschungsliteratur grundlegend infrage gestellt werden. Allerdings bleibt auch der Befund, nach dem mit der schottischen ‚Naturgeschichte der Menschheit‘ eine Geschichtsphilosophie in nuce vorliege, ähnlich einseitig und berücksichtigt weder den betont vorläufigen Charakter der Theoriebildung noch das empirische Schwergewicht auf der anthropologischen Dimension praktischer Philosophie. Macht man sich die Ambivalenz der ‚Natural History of Mankind‘ – in ihrer systematisch-anthropologischen Motivforschung im historischen Feld einerseits sowie in ihrer Handlungsorientierung andererseits – als Interpretationsrahmen zu Eigen, erscheint es sinnvoll, von einer ‚pragmatischen Historie‘ zu sprechen. Das schottische Modell war nicht nur dazu geeignet, Zivilisationsunterschiede zu erklären, sondern bot darüber hinaus die Grundlage dazu – durch eine historisch-anthropologische Dekonstruktion der Motivlagen von Sitten, Religionen, Gesetzen und Regierungsformen – die Geschichte als offenen Gestaltungsraum zu begreifen. Ein handlungsorientierter Ansatz, eine naturphilosophische Ausrichtung und nicht zuletzt eine empirische Grundlegung waren die bemerkenswerten Elemente der schottischen ‚Science of Man‘, welche die Aufmerksamkeit der deutschen Aufklärer im Bestreben um eigene Versuche zu einer ‚Wissenschaft vom Menschen‘ auf sich zogen. Während in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts englische Literatur im deutschsprachigen Raum noch kaum wahrgenommen wurde, setzte seit der Jahrhundertmitte die ‚Anglophilie‘ als Modetrend unter den Gebildeten ein, der sich nicht nur in der politischen Begeisterung für ‚das Land der Freiheit‘, sondern auch in einer rasch anwachsenden Lektüre englischsprachiger Autoren manifestierte. In Hinblick auf die Rezeption der philosophischen Werke hatte dies eine besondere Bewandtnis, da Gelehrten wie Bacon, Newton und Locke eine emblematische Bedeutung für die Reformierung des Wissenschaftssystems zukam. Ihre Namen standen für mehr als nur bestimmte philosophische Richtungen. Mit ihnen verband sich vielmehr die Initiation der modernen Philosophie. Sie galten als richtungsweisend für die Abkehr vom ‚Höhenschwindel‘ der Logik und Metaphysik des reinen ‚Schulwissens‘ sowie für die Reform der Philosophie durch ihre ‚Erdanbindung‘ im beobachtenden Verfahren. Das besondere Verdienst, den zerstörerischen Skeptizismus zu einer akademischen Erkenntniskritik gezähmt und die Wissenschaften zur freiwilligen Besinnung auf die erfahrungsgebundene Erkenntnis gebracht zu haben, wurde dabei in besonderem Maße den schottischen Denkern eingeräumt. Darüber hinaus waren es stilistische Mittel, mit denen schottische Philosophen ihren positiven Ruf als Wissenschaftsvermittler untermauerten. Der 294

Eindruck wurde von den Lesern dem Umstand zugeschrieben, dass die Gelehrten aus Schottland nicht nur um allgemeine Verständlichkeit bemüht waren, sondern durchaus literarische Ambitionen geltend machten, was in einem Traktat der deutschen Schulphilosophie – selbst Wolffischer Provenienz – schon unter formalen Aspekten kaum denkbar gewesen wäre. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts erwies sich dieser Ansatz im deutschsprachigen Raum jedoch als zunehmend anschlussfähig, da sich durch den veränderten Anspruch an die Wissenschaften und ihre universitäre Vermittlung die Möglichkeit zu einer offneren, populäreren Art des Philosophierens eröffnet hatte. Eine jüngere Generation der später so betitelten ‚Popularphilosophen‘ praktizierte einen programmatischen Eklektizismus aus französisch- und englischsprachiger Literatur, pflegte einen gut lesbaren Stil ebenso wie ein Bekenntnis zur Empirie und verschrieb sich einer grundsätzlichen Ausrichtung an Fragen der praktischen Philosophie. In diesen Punkten stand die Popularphilosophie in enger Verbindung zum schottischen Beispiel. Dieses lose Regelwerk philosophischer Überzeugungen war es allerdings auch, welches die Vertreter dieser Gruppe qua definitionem seit den 1780er Jahren in einen unheilvollen Gegensatz zu den Anhängern der kritischen Philosophie Kants brachte. Diese scharfe zeitgenössische Fraktionierung der Gelehrtenwelt der deutschen Spätaufklärung hat nicht unmaßgeblich zur geringen Beachtung der Popularphilosophie und zur Geringschätzung ihrer ‚uneigenständigen‘ Orientierung an ausländischen Vorbildern beigetragen. Dass einige dieser Vorurteile damit auch auf die schottischen Impulsgeber selbst und ihren vermeintlich unkritischen Einsatz empirischer Grundlagen übertragen wurden, kann der Unnachgiebigkeit in der Debatte zwischen den zunehmend verhärteten Fronten von Empirismus und Rationalismus zugeschrieben werden. Die umgekehrte Fragerichtung vorliegender Analyse zeigt indessen, dass im Lichte des schottischen Impulses Beiträge zur deutschsprachigen ‚Wissenschaft vom Menschen‘ als ein eigener Diskurszusammenhang erkannt werden können, deren methodische Erwägungen in der Auseinandersetzung mit der eigenen Spezies diese vorgebliche Sollbruchstelle zwischen Rationalismus und Empirismus im spätaufklärerischen Denken zu überbrücken suchten. Die diskursübergreifende Verbindung bestand in einer skeptischen Grundposition, die den betrachteten Gruppen in Schottland und im deutschsprachigen Raum gemeinsam war und die für die Suche nach adäquaten wissenschaftlichen Methoden nicht folgenlos blieb. Der Primat der Empirie und ein grundsätzlicher Zweifel an einer metaphysischen Grundlegung der Philosophie einte eine durchaus heterogene Fraktion deutscher Philosophen, die durch diese Überzeugungen in einen offenen Gegensatz zur Theologie traten und damit in die Gefahr der Zensur gerieten. Die Übersetzungs- und Kommentierungstätigkeit deutscher Gelehrter wurde vor diesem Hintergrund dazu genutzt, skeptische und religionskritische Inhalte zu befördern und eigenen Positionen mittelbar Ausdruck zu verleihen. Anonyme Editionen von Schriften, etwa von Humes Enquiry durch Johann Georg Sulzer, 295

können als Ausdruck einer solchen Vorgehensweise gewertet werden. Als Motivation für die Übersetzung der schottischen Philosophen wurden sich wiederholende Topoi von den Herausgebern angeführt: die freiwillige Selbstbeschränkung der Wissenschaften auf eine Annäherung an die Wahrheit auf dem Wege der Wahrscheinlichkeit, das bewusste Abrücken von metaphysischen Fragen zugunsten eines Vorrangs der praktischen Philosophie, die Einlösung des Bekenntnisses zur Empirie durch eine anthropologische und historische Grundlegung dieser handlungsorientierten Wissenschaften. In verschiedenen popularphilosophischen Beiträgen zur praktischen Philosophie findet sich das methodische Ferment der ‚Science of Man‘ wie etwa in Christoph Meiners’ Konzept der ‚Wissenschaft vom Menschen‘ oder in Christian Garves ‚Wissenschaft vom Handeln‘. Garve nutzte die Kommentierung seiner Übersetzungen dazu, seine methodischen Grundsätze einer erneuerten Ethik zu unterbreiten, die weder in einer religiösen noch in einer anderen metaphysischen Grundlegung bestehen sollten. Durch die Einsicht in die Subjektivität der Erkenntnis entwickelte er eine empirisch abgesicherte Moralphilosophie. Da es für die Frage nach dem richtigen Handeln keine Erkenntnis a priori geben konnte, musste man sich auf eine historische Verankerung der praktischen Philosophie verlassen. Folglich führte die Frage nach der empirischen Verankerung der ‚Wissenschaft vom Menschen‘ die Philosophen, wie ihre schottischen Gewährsleute, in das Feld anthropologischer und historischer Studien. Die Zugänglichkeit und die Vermittlung von indirekter ‚Erfahrung‘ weckten das breite Interesse deutscher Philosophen an Reiseberichten ebenso wie an ausgearbeiteten Naturgeschichten, die gleichermaßen den Weg zu selbstständigen Menschenstudien ebneten. Dadurch äußerte sich der Bezug auf die schottischen Beiträge zur Menschheitsgeschichte nicht nur in Übersetzungen, Kommentierungen und Rezensionen, sondern in zahlreichen Fällen durch direkte methodische Adaptionen. Dabei ist auffällig, dass viele der als Übersetzer tätigen Gelehrten selbst Beiträge zur Geschichte der Menschheit verfasst haben. Der Vorrang eines induktiven Verfahrens wurde dabei zur Maxime, nach der „die Theorie aus den Begebenheiten und nicht umgekehrt die Begebenheiten aus der „Speculation“ hergeleitet werden sollte, wie Carl Friedrich Flögel es formulierte.3 Ebenso wie in der schottischen ‚Natural History‘ bestand das methodische Problem dieser, ursprünglich als bloßer Datenspeicher angelegten, wissenschaftlichen Darstellungsform im verhältnismäßigen Ausgleich von induktiver Grundlegung und Hypothesenbildung. Die Auffassungen darüber, wie die Prioritäten zwischen beiden Methoden zu gewichten seien oder ob es überhaupt möglich sei, alle Teile der ‚Wissenschaft vom Menschen‘ auf der Basis von Empirie zu reflektieren, ließ sie zu einem besonders heiklen Gegenstand der Wissenschaftskunde der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts werden. Der von den Zeitgenossen immer wieder konstatierte Wildwuchs unter den ‚Geschichten 3

Flögel, Geschichte des menschlichen Verstandes, S. 7.

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der Menschheit‘ seit den 1770er Jahren führte dazu, dass man in den verschiedenen Wissenschaftslehren beabsichtigte, zunächst die Zuständigkeitsbereiche innerhalb des Genres aufzuteilen und in einem zweiten Schritt die Methodenvorgaben festzuschreiben. Vor dem Hintergrund der vielfältigen Formen des Menschheitsstudiums – als Anthropologie, Natur-, Menschheits-, Universal-, Weltgeschichte oder philosophische Geschichte der Menschheit – erschien es notwendig, diese nach verschiedenen Kategorien zu ordnen. In der Wissenschaftskunde herrschte relative Einigkeit darüber, dass die verschiedenen Formen entweder der ‚Philosophie‘, der ‚Geschichte‘ oder der sich neu etablierenden ‚Anthropologie‘ unterzuordnen waren. Die jeweilige Zuordnungspraxis offenbarte dann allerdings vielmehr, welche Bedeutung der jeweiligen Disziplin in der Hierarchie der Wissenschaften vom Verfasser zugemessen wurde. Die Debatte um den wissenschaftstheoretischen Ort der ‚Anthropologie‘ umkreiste beispielsweise die Frage, ob man geneigt war, die Geist-Körper-Dichotomie des Menschen einer empirischen Operation anheim zu stellen, wie Platner, oder ob diese dichotomische Aufteilung auch zwei voneinander getrennten Wissens- und Methodenbereiche zuzuordnen war, wie im Falle der Kantischen Lösung. Eine ebensolche Zuschreibungsproblematik ergab sich für die ‚Menschheitsgeschichte‘, in der die Ansprüche der Fächer ‚Philosophie‘ und ‚Geschichte‘ in Konflikt gerieten. Beiden Feldern konnte die Gattung zugeschrieben werden, sofern man sie entweder als historisch untermauerte Philosophie der Menschheit oder als theoriegeleitete Historie betrachtete. Ein Wissenschaftstheoretiker, Michael Hißmann, wagte sich in dieser Auseinadersetzung weit auf das Terrain der ‚reinen Vernunft‘, denn nach seiner Auffassung war alle Philosophie über den Menschen letztlich auf ihre geschichtliche Dimension angewiesen. Erkenntnis selbst sowie alle menschlichen Kulturformen wie Moral, Sitten und Politik könnten nur auf dem Wege des empirisch-historischen Verfahrens erforscht werden. Diese Erkenntnisform berge zwar ein hohes Maß an Kontingenz – nichtsdestotrotz offenbare aber nur der höchste Grad des Wahrscheinlichen tatsächlich eine Gewissheit für das praktische Leben. Christian Jakob Kraus fügte dem hinzu, dass die Erforschung der menschlichen Gestaltungen im engeren Sinne dem ‚Historischen‘ obliege und diesem käme auch eine eigene Methode zu, nämlich die ‚Hermeneutik‘. Der theoretische Überbau der Fakten im Bezug des Allgemeinen auf das Besondere und vice versa ließe die Philosophie zumindest im metaphysischen Sinne verzichtbar werden. Eine hiervon gänzlich unterschiedene Auffassung vertrat der Philosophiehistoriker Friedrich August Carus, was ihn zu einem umfangreichen Kursbuch durch die verschiedenen Wege der ‚Geschichte der Menschheit‘ veranlasste. Seine eigene Position bestand in einer Synthese, die allerdings fraglos der Philosophie den Vorzug gab, da die Funktion derselben nicht in einer theoretischen Überbauung des Historischen bestehe, sondern die Geschichte selbst ihr Mittel und Zeck zugleich sei und damit Philosophie – Geschichtsphilosophie. Carus hatte damit eine prominente Partei ergriffen, nämlich die Immanuel Kants. Nichtsdestotrotz erkannte er die Verdienste um die ‚Ge297

schichte der Menschheit‘ der zurückliegenden vierzig Jahre an, bevor sie mit Kant als ‚Newton der Geschichte‘ an ihr vorläufiges Ziel gekommen war.4 Mit diesen verschiedenen enzyklopädischen Bemühungen um die Kategorisierung der ‚Geschichte der Menschheit‘ zeichnet sich die Aufteilung des Feldes unter der entstehenden Disziplinen der ‚Geschichtsphilosophie‘ und der ‚Geschichtswissenschaft‘ ab, welche vor allem, mit jeweils eingeschränkter Sicht und mit ganz unterschiedlichen Absichten, die künftige Retrospektive auf die Universalgeschichtsschreibung der Spätaufklärung dominierten. Vorliegende Arbeit zeigt indessen, dass sich zwischen diesen neu gezogenen Fachgrenzen ein dritter Weg etabliert hatte, der in vieler Hinsicht mit dem schottischen Modell korrespondierte. Betrachtet man so heterogene Texte von Autoren wie Isaak Iselin, Georg Forster, Nikolaus Tetens, Karl Franz von Irwing und Daniel Jenisch, so lassen sich dennoch übereinstimmende Elemente auffinden, die es erlauben, von einer übergreifenden Wissenschaftsgattung zu sprechen, die man als ‚historische Anthropologie‘ bezeichnen kann. Die erkenntnistheoretische Grundlage dieser Forschungen bestand in einem unbedingten Bekenntnis zur Empirie, das aus der Naturphilosophie übernommen wurde. Regelmäßigkeiten in der belebten Natur konnten nur aufgrund eines Archivs von Daten entwickelt werden, deren beständige Erweiterung die Theoriebildung zu falsifizieren und verifizieren half. Diese theoriegeleitete empirische Forschung sah den Hauptbestand ihrer Daten in anthropologischen Forschungen und historischen Berichten, wobei Ersteren durch ihre Revidierbarkeit der Vorzug zu geben war. Ähnlich wie im schottischen Beispiel lag das maßgebliche Forschungsinteresse in einer möglichst umfassenden Kenntnis der Antriebsstruktur des Menschen und im Zentrum der Betrachtung stand damit das Individuum. Der theoretische Zugriff auf den Gattungsprozess selbst erfolgte in sehr unterschiedlichem Maße, blieb aber grundlegend von den anthropologischen Parametern bestimmt. Ebenso wie im schottischen Modell wurden die anthropologischen Merkmale auf die Menschheitsgeschichte übertragen, so dass diese erzählt werden konnte wie eine Biographie des Menschengeschlechts. Mit der Biographik wurde auf das traditionelle Lebensaltermodell verwiesen, das allerdings aufgrund der Perfektibilitätsthese seinen zirkulären Charakter einbüßte. Der Einsatz der Historie changierte in diesem Konzept zwischen der traditionellen Rolle der Lehrmeisterin des Lebens und einer wissenschaftlich-empirischen Funktion. Unabhängig vom Umgang mit den historischen Quellen bestand die Innovation des Ansatzes vielmehr in den Methoden, die zur Vermittlung zwischen empiri4

Diese Referenz bezieht sich auf Kants Erwartung eines ‚Newtons der Geschichte‘: „Wir wollen sehen, ob es uns gelingen werde, einen Leitfaden zu einer solchen Geschichte zu finden; und wollen es dann der Natur überlassen, den Mann hervorzubringen, der im Stande ist, sie darnach abzufassen. So brachte sie einen Kepler hervor, der die exzentrischen Bahnen der Planeten auf eine unerwartete Weise bestimmten Gesetzen unterwarf; und einen Newton, der diese Gesetze aus einer allgemeinen Naturursache erklärte.“ Vgl. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte, A 387, 388.

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scher Grundlegung und Theoriebildung zum Einsatz kamen. Das Zentrum der Forschung war die ‚Natur des Menschen‘, nach Daniel Jenisch „ein Thema welches zwischen Vernunft und Erfahrung in der Mitte liegt“.5 Die wissenschaftliche Herausforderung, die menschliche Natur einerseits aus ihrer inneren anthropologischen Konstitution und andererseits aus ihren äußeren historischen Bedingungen zu erfassen, wurde dadurch angenommen, dass die beobachteten Zusammenhänge in der Folge von Ursache und Wirkung abgebildet wurden. Ob solche Kausalzusammenhänge zwischen Antrieb und Handlung, Motiv und Maxime, Handlung und Ereignis oder gar zwischen den historischen Begebenheiten selbst ausgemacht wurden, oblag der unterschiedlichen theoretischen Ausgestaltung durch verschiedene Denker. Das methodische Verfahren jedoch, nach dem diese Zusammenhänge erwirkt wurden, kann übergreifend als ‚pragmatische Historie‘ definiert werden. Aufgrund der Vermittlung von Kausalzusammenhängen, die auf dem Wege des Vergleichs und durch analogisches Schließen in eine Raum-Zeit-Dimension ausgedehnt werden konnten, reichte die pragmatische Historie weit über die Funktion eines traditionellen Datenarsenals hinaus. Geschult an der Naturphilosophie wurde das Methodenideal umgesetzt, indem das induktive und deduktive Verfahren in einen gegenseitigen Begründungszusammenhang rückten. Somit bestand die Methode des Naturhistorikers der Menschheit in einem Wechselspiel von Erweiterung der Datensammlung und Angleichung der Theorie. Die allgemeinen Aussagen über die Menschheit unterlagen den anthropologischen und historischen Einsichten über den Menschen, die dem Forscher nur über sein schieres Menschsein in Raum und Zeit zugänglich waren. Das beliebte Motto von Terenz – homo sum, humani nihil a me alienum puto – verleiht diesem reflektierten methodischen Einsatz der Verwobenheit von Subjekt und Objekt in der ‚Wissenschaft vom Menschen‘ in wenigen Worten Ausdruck. Ein an den Maximen der Wahrscheinlichkeit orientiertes Wissenschaftsideal, das sich in einem frühen hermeneutischen Verfahren Zugang zur Welt verschaffte und dafür eine pragmatische, bewusst konstruktive Darstellungsform gewählt hatte, beschrieb einen Weg der ‚Wissenschaft vom Menschen‘ in der Spätaufklärung. Diese grundlegenden Richtlinien vereinten die Beiträge der schottischen ‚Natural History of Mankind‘ mit denen der deutschen ‚Menschheitsgeschichte‘. In diesem übergreifenden Diskurs kamen Verfahren zum Einsatz, deren eindeutige Ausbildung als ‚Hermeneutik‘, ‚Probabibilismus‘ oder ‚Pragmatismus‘ zumeist erst im 19. Jahrhundert identifiziert worden sind. Darüber hinaus wurden Elemente kombiniert, die durch ihre weitere Entwicklung eine eindeutige Zuordnung zu den Natur- beziehungsweise Geisteswissenschaften unterlaufen. Eine Spurensuche im 19. Jahrhundert zeigt vielmehr, dass eine systematische Analyse der ‚Wissenschaft vom Menschen‘ im 18. Jahrhundert veränderte Perspektiven auf die Verwobenheit der vermeintlich getrennten Wissenschaftsentwicklung im angel5

Jenisch, Theorie der Lebensbeschreibung, S. 134.

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sächsischen und deutschsprachigen Raum zulässt. Verwiesen sei nur auf die berühmten theoretischen Grundlegungen von Hermeneutik und ‚pragmatischer‘ Geschichtsschreibung bei Johann Gustav Droysen (1808–1886) sowie auf das Konzept einer ‚Real Science of Man‘ des Begründers des Pragmatismus William James (1842–1910). Die Untersuchung erkenntnistheoretischer Grundlagen in der Wissenschaftsgeschichte erlaubt, neben den großen Paradigmenwechseln, auch die Feststellung von Kontinuitäten und Gemeinsamkeiten, jenseits der Hauptlinien von nationalen Großnarrativen der Wissenschaften. Vor dem Hintergrund der Kritik an den ausgehöhlten Pfaden der klassischen Disziplinen etabliert sich seit einigen Jahren das Forschungsfeld der ‚historischen Anthropologie‘. Diese speist sich erneut aus den Impulsen verschiedener Wissenschaftssphären und -zweige und dient damit wieder als loses Rahmenwerk neuerer Ansätze der ‚Kulturwissenschaften‘, die man auch als ‚Wissenschaften vom Menschen‘ bezeichnen könnte. Die historische Anthropologie vereint in sich so unterschiedliche Konzepte wie Mikrogeschichte, Globaltheorie, Mentalitätengeschichte, Genderstudies oder Körpergeschichte. Die Herausforderung, die sie mit dieser Spannbreite angenommen hat, ist die theoretische Bewältigung der Globalisierung und gleichzeitig der Anspruch, einer subjektgebundenen Geschichte der Individualitäten gerecht zu werden. Der kleinste gemeinsame Nenner einer methodischen Annäherung an das Thema Mensch und Menschheit besteht in Anleihen aus hermeneutischen und pragmatischen Ansätzen. Dennoch geben sowohl die mangelnde methodische Bestimmung als auch die fehlende Spezifizierung des Gegenstandes immer wieder Anlass, den wissenschaftlichen Status der historischen Anthropologie zu relativieren. Viele der aktuellen methodischen Fragen weisen indes deutliche Parallelen zu den Debatten um die Naturgeschichte der Menschheit in der Spätaufklärung auf. Nicht zuletzt dieser Bezug macht eine Auseinandersetzung mit der ‚Wissenschaft vom Menschen‘ im 18. Jahrhundert zu einer lohnenden Unternehmung.

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6. Quellen- und Literaturverzeichnis

6.1. Manuskripte EUL: Edinburgh University Library NLS: National Library of Scotland Accession Book of the University Library of Edinburgh, 1762–1792, MS. Da. 1. 46. (EUL), [unpag.]. James Dunbar, Lectures in naturally Philosophy transcribed in the year 1777 by Wm. Mackenzie of Ross-Shire, at King’s College Aberdeen, MS. Dc. 7. 124 (EUL), [unpag.]. Adam Ferguson, Of History and its appropriate Stile, in: Unpublished Essays, MS. Dc. 1. 42 **, No. 3, (EUL), [unpag.]. – Of the freedom of wit and Humour and their Value as a Test of Rectitude. Truth, in: Unpublished Essays, MS. Dc. 1. 42 **, No. 16, (EUL), [unpag.]. – Of the Science of which the Subject is Mind, in: Unpublished Essays, MS. Dc. 1. 42 **, No. 22, (EUL), [unpag.]. – Wisdom, in: Unpublished Essays, MS. Dc. 1. 42 **, No. 10, (EUL) [unpag.]. James Gregory, Power, MS. La. III. 789 (EUL). John Logan to Gilbert Stuart 8. 3. 1783, in: MS. La II 419, 6 (EUL), [unpag.]. William Robertson to Edmonstone 4. 1. 1762, in: MSS. 1005, ff. 5 (NLS), [unpag.]. [Gilbert Stuart], Anonymous, Character of a Certain POPULAR HISTORIAN, now Ministerial Agent, for Reconciling our Complaisant Clergy to the Church of Rome. Fro (!) the Writings of a Celebrated Philosopher now deceased, o. O. o. J., MS. 3118, f. 199 (NLS), [unpag.]. Alexander Fraser Tytler, Lectures on Universal History, 1800–1801, pres. by John Grant, Esq., MS. Dc. 6. 115, (EUL), [unpag.].

6.2. Gedruckte Quellen Adams, John: Curious Thoughts in the History of Man; chiefly abridged and selected from the celebrated works from Lord Kaimes, Lord Monboddo, Dr Dunbar, and the immortal Montesquieu: Replete with useful and entertainment instruction, on a variety of important and popular subjects; viz. Population, Commerce, Language, Government, Manners, Patriotism, Property, Agriculture, Love, Peace and War, Matrimony, Taxes, Polygamy, Music, Marriage, Gaming, Ceremonies, Luxury, &c. Designed to promote a spirit of enquiry in the British Youth of Both Sexes. And to make the Philosophy as well as the History of the human species, familiar to ordinary capacities. London 1789. Addison, Joseph / Richard Steele: The Spectator. London 1711/1712ff. Anonymous: Preface, in: Essays and Observations, Physical and Literary. Read before a Society in Edinburgh and published by them. Bd. 1. Edinburgh 1754. Anonymous (‚Philo‘): Of the Mode of Writing History. In ancient and modern times, in: The Bee, or a literary weekly Intelligencer 7 (1792), S. 121–127. Anonymus: Adam Fergusons Grundsätze der Moralphilosophie, übersetzt und mit einigen Anmerkungen versehen, von Christian Garve. Leipzig, in der Dyckischen Buchhandlung, in: Allgemeine Deutsche Bibliothek 17 (1772), S. 319–342. – Gespräche über die natürliche Religion von David Hume, in: Brittisches Museum für die Deutschen 6 (1780), S. 41–72.

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– Über einige englische Dichter und ihre Werke, aus Johnson’s Prefaces biographical and critical to the works of the english poets London 1781, in: Göttingisches Magazin der Wissenschaften und Litteratur 3 (1782), S. 62–100. Bacon, Francis: Sylva Sylvarum: Or A Naturall Historie. In Ten Centuries, written by the right honourable Francis Lo. Verulam Viscount St. Alban, published after the authors death, by William Rawley Doctor in Divinity, one of his Majesties Chaplaines. Hereunto is now added an Alphabeticall Table of the principall things contained in the whole Worke, the fifth edition. London 1639. – Neues Organon. Lateinisch – Deutsch, hg. v. Wolfgang Krohn. Teilband 1. Darmstadt 1990. Baumgarten, Siegmund Jacob: Vorrede, in: Algemeine Geschichte der Länder und Völker von Amerika. Halle 1752. Beck, Christian Daniel: Anleitung zur genauern Kenntniß der allgemeinen Welt- und VölkerGeschichte vorzüglich für Studirende. 4 Bde. Leipzig ²1813. Benthem, Heinrich Ludolff: Engeländischer Kirch- und Schulen-Staat. Lüneburg 1694. Bibel. Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Bundes. Deutsche Ausgabe mit den Erläuterungen der Jerusalemer Bibel, hg. v. Diego Arenhoevel, Alfons Deissler, Anton Vögtle. Freiburg / Basel / Wien ²1968. Birch, Thomas: The History of the Royal Society of London For Improving of Natural Knowledge from its first Rise in which The most considerable of those Papers communicated to the Society, which have hitherto not been published, are inserted in their proper order, as a supplement to the Philosophical Transactions. 2 Bde. London 1756. Bolingbroke, Henry Saint John: Letters on the Study and Use of History. 2 Bde. London 1752. Brandes, Georg Friedrich: Ueber die Unparteilichkeit des Geschichtsschreibers (1788), in: H.-W. Blanke / D. Fleischer (Hg.): Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie. Bd. 2. StuttgartBad Canstatt 1990, S. 478–491. Buckle, Henry Thomas: Introduction to the History of Civilization in England (1857–61), Neuauflage, hg. u. eingeleitet v. John M. Robertson. London / New York o. J. Büsch, Johann Georg: Encyclopädie der historischen, philosophischen und mathematischen Wissenschaften, grosstentheils nach dem Grundrisse des sel. Reimarus ausgearbeitet. Hamburg 1775. [Buffon] George Louis LeClerc Comte de Buffon: Histoire naturelle, in: Œuvres complètes. Nouvelles Édition. 11 Bde. Paris 1804. – Les époques de la nature. Édition critique avec le manuscrit par Jacques Roger. Paris 1962. Buhle, Johann Gottlieb: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie und einer kritischen Literatur derselben. 8 Bde. Lemgo 1796–1804. Burnett, James / Lord Monboddo: Preface, containing several particulars omitted in the original Account, in: An Account of a savage Girl caught in the Woods of Champagne. Edinburgh 1768. – Of the Origin and Progress of Language. 6 Bde. Edinburgh 1773–1792. Campbell, George: Die Philosophie der Rhetorik, aus dem Englischen. Mit Anmerkungen begleitet, und auf die deutsche Sprache angewandt von Dr. Daniel Jenisch. Berlin 1791. Carus, Friedrich August: Ideen zur Geschichte der Philosophie, in: Ders., Nachgelassene Werke, hg. v. Ferdinand Hand. Bd. 4. Leipzig 1809. – Ideen zur Geschichte der Menschheit, in: Ders., Nachgelassene Werke, hg. v. Ferdinand Hand. Bd. 6. Leipzig 1809. Casmann, Otto: Psychologia anthropologica; sive animae humanae doctrinae. Hannover 1594. Chambers, Ephraim: Cyclopaedia: Or, An Universal Dictionary of Arts and Sciences; Containing An Explanation of the Terms, and an Account of the Things Signified thereby, in the Several Arts, Both Liberal and Mechanical; and the Several Sciences Human and Divine: The Figures, Kinds, Properties, Productions, Preparations, and Uses of Things, Natural and Artificial: The Rise, Progress, and State of Things Ecclesiastical, Civil, Military and Commercial: With the Several Systems, Sects, Opinions, &c. among Philosophers, Divines, Mathematicians, Physicians, Antiquaries, Critics, &c. The whole intended as a Course of ancient and modern Learning. Extracted from the best Authors, Dictionaries, Journals, Memoirs, Transactions, Ephemerides, &c. in several Languages. 2 Bde. [1727]. London 5. Aufl. 1741–1743.

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Charlevoix, Pierre François Xavier de: Histoire et Description Générale de la Nouvelle France avec Le Journal Historique d’un Voyage fait par ordre du Roi dans l’Amérique Septentrionnale. 3 Bde. Paris 1744. Condorcet, Marie-Jean-Antoine-Nicolas Marquis de: Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes, hg. v. Wilhelm Alff. Frankfurt/M. 1976. Crusius, Christian August: Weg zur Gewißheit und Zuverlässigkeit der menschlichen Erkenntnis. Leipzig 1747. Darjes, Johann Georg: Dissertatio Metaphysica sistens de Mundo Eiusque Conceptu Meditationem. Jena 1741. – Weg zur Wahrheit, auf Verlangen übersetzt und mit Anmerkungen und Beyträgen begleitet. Frankfurt/O. 1776. Diderot, Denis / D’Alembert, Jean le Rond: Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une société de gens de lettres. 17 Bde. Paris / Neufchastel 1751– 1765. Doig, David: Two Letters on the Savage State, Addressed to the late Lord Kames, London 1792, with a new Introduction by Paul B. Wood. (Reprint) Bristol 1995. Dunbar, James: De Primordiis Civitatum oratio. In qua agitur de Bello Civili inter M. Britanniam et Colonias nunc flagranti. London 1779. – Essays on the History of Mankind in Rude and Cultivated Ages. London / Edinburgh ²1781. With a new Introduction by Christopher J. Berry. (Reprint) Bristol 1995. Eckartshausen, Carl von: Blicke in die Zukunft, oder Prognostikon des neunzehnten Jahrhunderts nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit berechnet, vermög welcher man künftige Ereignisse vorher sagen kann. Leipzig 1798. Eggers, Christian Ulrich Detlev von: Skizze und Fragmente einer Geschichte der Menschheit in Rüksicht auf Aufklärung und Volksfreiheit. 3 Bde. Kopenhagen ²1803–1804. Encyclopaedia Britannica; Or A Dictionnary of Arts and Sciences, compiled upon a new plan. In Which The different Sciences and Arts are digested into distinct Treatises and Systems; and The various Technical Terms, &c. are explained as they occur in the order of the Alphabet. Illustrated with one hundred and sixty Copperplates. By a Society of Gentlemen in Scotland. 3 Bde. Edinburgh 1768–1771. Engel, Johann Jakob: Briefwechsel aus den Jahren 1765–1802, hg. und kommentiert von Alexander Košenina. Würzburg 1992. [Erskine, David Steuart / Lord Buchan]: Albanicus, On [Dugald] Stuart’s Elements [of the Philosophy of the Human Mind, Edinburgh, 3 Bde. 1792–1827], in: The Bee, or a literary weekly Intelligencer. Consisting of Original Pieces, and Selections from Performances of Merit, Foreign and Domestic, A Work calculated to disseminate useful Knowledge among all ranks of people at small expense 10 (1792), S. 140–146. Eschenburg, Johann Joachim: Ueber das gesellschaftliche Leben in Europa, in seinem Uebergange aus dem rohen in den verfeinerten Zustand; oder, Untersuchungen, die Geschichte des Rechts, der Regierung und Sitten betreffend; von Dr. Gilbert Stuart, in: Brittisches Museum 3 (1778), S. 42–62. – Lehrbuch der Wissenschaftskunde. Ein Grundriß enzyklopädischer Vorlesungen. Berlin / Stettin 1792. Fabricius, Johann Andreas: Abriß einer allgemeinen Historie der Gelehrsamkeit. 2 Bde. Leipzig 1752. Feder, Johann Georg Heinrich: Lehrbuch der praktischen Philosophie. Göttingen / Gotha 31773 (11770). – Logik und Metaphysik. Göttingen 5. vermehrte Aufl. 1778 (Göttingen 11769), S. 155ff. – Untersuchungen über den menschlichen Willen. 4 Bde. Lemgo 1779–1793. – Ueber Raum und Caussalität. Zur Prüfung der Kantischen Philosophie. Göttingen 1787. – Vorrede, in: Philosophische Bibliothek 1 (1788), S. III–VII. – Abhandlung. Versuch einer möglichst kurzen Darstellung des kantischen Systems, in: Philosophische Bibliothek 3 (1790), S. 1–13. – David Hume über die menschliche Natur aus dem Englischen, nebst kritischen Versuchen zur Beurtheilung dieses Werkes, von Ludwig Heinrich Jacob, Prof., der Philosophie in Halle, Halle 1790, in: Philosophische Bibliothek 4 (1791), S. 155–169.

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– Leben, Natur und Grundsätze. Zur Belehrung und Ermunterung seiner lieben Nachkommen, auch Anderer die Nutzbares daraus aufzunehmen bereit sind. Leipzig / Hannover / Darmstadt 1825. Ferguson, Adam: Essay on the History of Civil Society [1767], hg. v. Fania Oz-Salzberger. Cambridge 1995. – Grundsätze der Moralphilosophie. Uebersetzt und mit Anmerkungen versehen von Christian Garve. Leipzig 1772. – Institutes of Moral Philosophy. For the use of the Students in the College of Edinburgh. Edinburgh / London 21773 (11769). – Principles of Moral and Political Science; Being Chiefly a Retrospect of Lectures delievered in the College of Edinburgh. 2 Bde. Edinburgh 1792, (Reprint) eingel. v. Jean Hecht. Hildesheim / New York 1975. – Geschichte des Fortgangs und Untergangs der Römischen Republik, aus dem Englischen frey übersetzt und mit Anmerkungen und Zusätzen begleitet von Christian Daniel Beck. Leipzig 1784. – The History of the Progress and Termination of the Roman Republic. 6 Bde. Basil 1791. – The Correspendence, hg. v. Vincenzo Merolle. 2 Bde. London 1995. Flögel, Carl Friedrich: Geschichte des menschlichen Verstandes. Breßlau 21773. Fordyce, David: The Elements of Moral Philosophy, with a new Introduction by John V. Price. 3 Bde. (Reprint) Bristol 1990. Forster, Georg: Geschichte der Englischen Litteratur (1788/1789/1790), in: GFW. Bd. 7, bearb. von Gerhard Steiner. Berlin 1963, S. 57–227. – Ein Blick in das Ganze der Natur, in: GFW. Bd. 8, bearb. v. Siegfried Scheibe. Berlin 1974, S. 77–97. – Leitfaden zu einer künftigen Geschichte der Menschheit, in: GFW, Bd. 8: Kleine Schriften zu Philosophie und Zeitgeschichte, bearb. v. Siegfried Scheibe. Berlin 1974, S. 185–193. – Briefe, in: Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher und Briefe, hg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin [GFW]. Bd. 14, Briefe 184 – Juni 1787, bearb. v. Brigitte Leuschner. Berlin 1978. – Briefe, in: GFW. Bd. 15, Briefe 1787–1789, bearb. v. Horst Fiedler. Berlin 1981. – Cook, der Entdecker, in: GFW, Bd. 5: Kleine Schriften zur Völker- und Länderkunde, bearb. v. Horst Fiedler. Berlin 1985, S. 191–302. – Ueber Buffons Epochen der Natur. London den 20ten Okt. 1779, in: Göttingisches Magazin der Wissenschaften und Litteratur 1 (1780), S. 140–157. – Über historische Glaubwürdigkeit, in: GFW, Bd. 7: Kleine Schriften zu Kunst und Literatur; Sakantola, bearb. v. Gerhard Steiner. Berlin 1963, S. 29–44. Garve, Christian: Anmerkungen des Uebersetzers, in: Adam Fergusons Grundsätze der Moralphilosophie. Leipzig 1772, S. 287–420. – / Johann Georg Heinrich Feder: Rezension der Kritik der reinen Vernunft, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 3, Zugabe 1 (1782), S. 40–48. – Einige Beobachtungen über die Kunst zu denken, in: Ders., Versuche über die verschiedenen Gegenstände aus der Moral, der Literatur und dem gesellschaftlichen Leben. Bd. 2. Breslau 1796, S. 245–430. Gatterer, Johann Christoph: Vom historischen Plan, und der darauf sich gründenden Zusammenfügung der Erzählung (1767), in: Horst Walter Blanke / Dirk Fleischer (Hg.): Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie. Bd. 2. Stuttgart 1990, S. 621–661. – Verhältnis der Geschichtskunde in Grosbrittannien zu der übrigen Grosbrittannischen Litteratur, in: Historisches Journal 1 (1772), S. 159–170. – Zufällige Gedanken über die teutsche Geschichte, in: Allgemeine historische Bibliothek 2(1767), S. 23f. Gibbon, Edward: Memoir F. The latest and most perfect. Written in 1792–93, brought down in 1753, in: The Works of Edward Gibbon, The Autobiographies. Printed Verbatim From Hitherto Unpublished MSS., hg. v. John Murray. New York 1907, S. 1–90. Gregory, John: A Comparative View of the State of Faculties of Man with those of the Animal World. London 1765.

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Harris, John: Lexicon Technicum: Or, An Universal English Dictionary of Arts and Sciences: Explaining not only the Terms of Art, but the Arts themselves. London 1704–1710. Hartley, David: Observations on Man, His Frame, His Duty, and his Expectations: Containing Observations on the Frame of the Human Body and Mind, and on Their Mutual Connexions and Influences. 2 Bde. London 1749. (Reprint) Hildesheim 1967. Hartmann, Gottlob David: Ueber das Ideal der Geschichte (1774), in: H.-W. Blanke / D. Fleischer (Hg.): Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie. Bd. 2. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, S. 688–697. Haymann, Christoph: Kurzgefasste Geschichte der vornehmsten Gesellschaften von den ältesten Zeiten bis auf die gegenwärtige. Leipzig 1741–1743. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Bd. 1: die Vernunft in der Geschichte, hg. v. Johannes Hoffmeister. Hamburg 61994. Herder, Johann Gottfried: Vorrede, in: Des Lord Monboddo Werk von dem Ursprunge und Fortgange der Sprache, in: Herder, Sämmtliche Werke. Bd. 15, hg. v. Bernhard Suphan. (Reprint) Hildesheim 1967, S. 179–188. – Briefe. Gesamtausgabe 1763–1803. Unter der Leitung von Karl-Heinz Jahn, hg. v. GoetheSchiller-Archiv. Weimar 1984. – Über die Wirkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und in neuen Zeiten, in: Herder, Werke. Bd. 4, hg. v. Jürgen Brummack / Martin Bollacher. Frankfurt/M. 1994, S. 149– 214. – Bemerkungen über den Unterschied der Stände in der bürgerlichen Gesellschaft von Joh. Millar, Esq., in: Frankfurter gelehrte Anzeigen 77 (1772), S. 609–614, in: Herder, Werke, Bd. 4, hg. v. Jürgen Brummack / Martin Bollacher. Frankfurt/M. 1994, S. 849–853, hier S. 849. – Fragment 106, in: Sämmtliche Werke, hg. v. B. Suphan, Bd. 18, Berlin 1883, S. 131. – Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in Ders., Werke, hg. v. Wolfgang Proß. Bd. 3/1. München / Wien 2002. Heyne, Christian Gottlob: [Vorbemerkung], in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 86 (1810), S. 849–855. Hirschfeld, Christian Cay Lorenz (Hg.): Bibliothek der Geschichte der Menschheit. 4 Bde. Leipzig 1780–1782. – Vorbericht, in: Ders. (Hg.): Bibliothek der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Leipzig 1780 [unpag.]. Hißmann, Michael: Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur in allen Theilen der Philosophie. Göttingen / Lemgo 1778. – Vorbericht, in: Magazin für die Philosophie und ihre Geschichte. Aus den Jahrbüchern der Akademien angelegt 1 (1778), [unpag.]. – (Hg.): Neue Welt- und Menschengeschichte, aus dem Französischen. Mit Anmerkungen und Zusätzen versehen von Michael Hißmann. Münster / Leipzig 1781. – Untersuchungen über den Stand der Natur. Berlin 1780. Histoire Générale Des Voyages ou Nouvelle Collection de Toutes les Relations de Voyages par Mer et par Terre, Qui ont été publiées jusqu’ à présent dans les différentes Langues de toutes les Nations connues: Contenant Ce Qu’Il Y A De Plus Remerquable, De Plus Utile Et De Mieux Averé Dans Les Pays Ou Les Voyageurs Ont Penetre’: Avec Les Mœurs Des Habitants; La Religion, Les Usages, Arts, Sciences, Commerce, Manufactures, &c Pour Former Un Systême Complet d’Histoire & de Géographie moderne, qui représente l’état actuel de toutes les Nations. Paris 1749ff. Home, Henry / Lord Kames: Essays on the Principles of Morality and Natural Religion. 2 Bde. London 1758. (Reprint) Hildesheim / New York 1976. – Historical Law-Tracts. 2 Bde. Edinburgh / London 1758. – Sketches on the History of Man. 4 Bde. Edinburgh / London ²1778, (Reprint) Hildesheim 1968. (Anglistica & Americana; Bd. 8). Hume, David: Philosophische Versuche über die Menschliche Erkenntniß. Als dessen vermischter Schriften Zweyter Theil. Nach der zweyten vermehrten Ausgabe aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen des Herausgebers begleitet. Hamburg / Leipzig 1755. (Reprint) Bristol 2000.

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– Ueber die menschliche Natur aus dem Englischen nebst kritischen Versuchen zur Beurtheilung dieses Werks. 2 Bde. Halle 1790–1791. – Untersuchungen über den menschlichen Verstand. Neu übersetzt von W. G. Tennemann nebst einer Abhandlung über den philosophischen Sceptizismus von Herrn Professor Reinhold in Jena. Jena 1793. – Politische Versuche. Von neuem aus dem Englischen übersetzt. Mit einer Zugabe des Uebersetzers. Königsberg / Leipzig 1800. – Enquiries Concerning Human Understanding and Concerning the Principles of Morals, hg. v. P. H. Nidditch. Oxford 161997. – The History of England from the Invasion of Julius Caesar to the Revolution in 1688. 8 Bde. A New Edition with the Authors last Corrections and Improvements. London 1807. – Of the Study of History, in: Hume, Essays, Moral, Political, and Literary, hg. v. Thomas Hill Green / Thomas Hodge Grose. Bd. 2. London 1875, S. 388–391. – The Natural History of Religion, in: Hume, Essays, Moral, Political, and Literary, hg. v. Thomas Hill Green / Thomas Hodge Grose. Bd. 2. London 1875, S. 307–363. – Of the Rise and Progress of the Arts and Sciences, in: Ders., The Philosophical Works, hg. v. Thomas Hill Green / Thomas Hodge Grose. Bd. 3. London 1882, S. 174–197. – My Own Life, in: Hume, Essays, Moral, Political, and Literary, hg. v. Thomas Hill Green / Thomas Hodge Grose. Bd. 2. London 1875, S. 1–8. – Of National Characters, in: Essays, Moral, Political, and Literary, hg. v. Thomas Hill Green / Thomas Hodge Grose. Bd. 1. London 1875, S. 244–258. – The Letters of David Hume, hg. v. John Young Thomson Greig. 2 Bde. Oxford 1932. – New Letters of David Hume, hg. v. Raymond Klibansky / Ernest Campbell Mossner. Oxford 1954. – A Treatise of Human Nature, hg. v. Lewis Amhurst Selby-Bigge. Oxford ²1978. Hutcheson, Francis; Sittenlehre der Vernunft. Aus dem Englischen übersetzt von Gotthold Ephraim Lessing, 1756, hg. u. eingel. v. Heiner F. Klemme. (Reprint) Bristol 2000. – Untersuchungen unserer Begriffe von Schönheit und Tugend in zwo Abhandlungen. Frankfurt a.M. / Leipzig 1762. [Aus dem Englischen übersetzt von Johann Heinrich Merck], hg. u. eingel. v. Heiner F. Klemme. (Reprint) Bristol 2001. Hutton, James: Abstract of a Dissertation. Read in the Royal Society of Edinburgh upon the Seventh of March and Fourth of April 1785. Concerning the System of the Earth its Duration and Stability. (Reprint) Edinburgh 1997. – An Investigation of the Principles of Knowledge and of the Progress of Reason, from Sense to Science and Philosophy. 3 Bde. Edinburgh / London 1794. With a new Introduction by Jean Jones and Peter Jones. (Reprint) Edinburgh 1999. Irving, David: Lives of Scottish Writers. Edinburgh 1839. Irwing, Karl Franz von: Erfahrungen und Untersuchungen über den Menschen. 4 Bde. Berlin 21777–1785. – Versuch über den Ursprung der Erkenntniß der Wahrheit und der Wissenschaften. Ein Beytrag zur philosophischen Geschichte der Menschheit. Berlin 1781. [Iselin, Issak]: Fergusons Versuch über die Geschichte. Sittenlehre aus der Universität zu Edenburg, aus dem Engl. übersetzt, Leypzig bey J. F. Junius 1768, in: Allgemeine Deutsche Bibliothek 1 (1770), S. 154–168. – Über die Geschichte der Menschheit, neue und verbesserte Auflage. 2 Bde. Zürich 1770. Ith, Johann Samuel: Versuch einer Anthropologie oder Philosophie des Menschen nach seinen körperlichen Anlagen. 2 Bde. Bern 1794–1795. Jakob, Ludwig Heinrich: Vorrede, in: David Hume, Ueber die menschliche Natur aus dem Englischen nebst kritischen Versuchen zur Beurtheilung dieses Werks. Bd. 1. Halle 1790–1791, [unpag.]. Jacoby, Daniel: Art. Christian Garve, in: ADB. Bd. 8. Leipzig 1878, S. 385–392. Jenisch, Daniel: Vorrede, in: George Campbell, Die Philosophie der Rhetorik, aus dem Englischen. Mit Anmerkungen begleitet, und auf die deutsche Sprache angewandt von Dr. Daniel Jenisch. Berlin 1791, [unpag.].

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7. Personenregister

Abbt, Thomas 245f. Adams, John 19, 132 Addison, Joseph 64 Adelung, Johann Christoph 88, 213, 239, 265, 269, 283 D’Alembert, Jean le Rond 4, 90, 119 Afer, Publius Terentius (siehe Terenz) Anderson, James 19 Archenholtz, Johann Wilhelm von 202, 249 Aristoteles 3, 144, 175 Bacon, Francis 25, 28f., 31, 33, 44, 53, 78, 95, 105–108, 126, 144f., 195, 245, 294 Banks, Joseph 54 Baumgarten, Siegmund Jacob 185 Beattie, James 79, 120, 205, 226 Beck, Christian Daniel 21, 223f., 229, 282 Bentham, Jeremy 105 Bentley, Richard 1 Berkeley, George 60, 208 Beutler, Johann Heinrich Christoph 67 Birch, Thomas 54 Blair, Hugh 61, 77, 170 Blankenburg, Christian Friedrich von 88, 217 Blumenbach, Johann Friedrich 122 Bodmer, Johann Jakob 65 Boerhaave, Herman 44 Boie, Heinrich Christian 251 Bolingbroke, Lord 156ff. Bonnet, Charles 222 Bossuet, Jacques Bénigne 156 Boyle, Robert 44, 95, 115 Brosses, Charles de 84, 244 Buchan, Lord 130ff., 154 Buckle, Henry Thomas 135 Budde, Johann Franz 38, 41 Buffon, Comte de 20, 48, 115–122, 147, 151, 222, 246, 250, 253, 265, 276 Buhle, Johann Gottlieb 228 Büsching, Anton Friedrich 263

Burke, Edmund 79, 211 Burnet, Thomas 158 Burnett, James (siehe Monboddo, Lord) Bussy-Rabutin, Roger de 91 Butler, Joseph 31, 95 Caesar, Julius 152, 175ff. Caritat, Marie-Jean-Antoine-Nicolas, Marquis de Condorcet (siehe Condorcet) Campbell, George 112, 224 Carmichael, Gershom 75 Carstares, William 74f. Carus, Friedrich August 9, 21, 88, 235– 242, 247, 281, 297 Casmann, Otto 106 Chambers, Ephraim 4, 25ff., 47, 107, 115, 119 Charlevoix, Pierre François Xavier de 186 Chillingworth, William 72 Condillac, Ètienne Bonnot de 84, 162, 230 Condorcet 201, 240 Cook, James 180, 188 Cooper, Antony Ashley (siehe Shaftesbury, Lord) Crébillon, Claude Prosper Jolyot de 91 Crusius, Christian August 42, 88 Cullen, William 61, 77 Dalrymple, David (Lord Hailes) 117 Darjes, Johann Georg 86f. Darwin, Erasmus 190 Daubenton, Louis Jean-Marie 115, 119 Delisle des Sasles, Jean-Baptiste Claude Izouard 84, 230 Descartes, René 29, 38, 41, 44, 137 Démeunier, Jean-Nicolas 84 Diaconus, Paulus 177 Diderot, Denis 4, 90, 119, 245 Dörrien, August 212 Doig, David 161f., 168 Droysen, Johann Gustav 300

Dunbar, James 19, 112f., 128, 130, 132, 137, 146f., 160, 191ff., 239, 241 Eckartshausen, Carl von 271 Eggers, Christian Ulrich Detlev von 239, 256 Eichhorn, Johann Gottfried 83 Eller, Johann Theodor 59 Engel, Johann Jakob 88, 207, 212 Ernesti, Johann August 213 Erskine, David Steuart (siehe Buchan, Lord) Eschenburg, Johann Joachim 202f., 219, 232f. Euklid 26 Euler, Leonhard 55 Fabricius, Johann Andreas 42, 72 Falconer, William 239 Feder, Johann Georg Heinrich 31, 84, 86, 205–211, 218, 237, 284 Fellenberg, Daniel 244 Ferguson, Adam 10, 12f., 19f., 61, 77ff., 90, 95, 105, 110–113, 120, 124, 126f., 129–139, 141ff., 146, 148, 150ff., 154, 161, 164f., 168–171, 173f., 176, 185, 187, 194–197, 211, 213, 221, 223, 226, 239, 242, 247f., 250f., 269, 292 Fichte, Johann Gottlieb 86 Flögel, Carl Friedrich 21, 220f., 244, 296 Fordyce, David 19, 119f., 245 Forster, Georg 2ff., 21, 180, 188, 202f., 248–255, 276, 298 Forster, Johann Reinhold 188, 248f. Francke, August Hermann 87 Franklin, Benjamin 67 Friedrich I. 54 Friedrich II. 55, 65, 81, 86 Friedrich Wilhelm I. 81 Galen 71 Galilei, Galileo 33, 44 Garve, Christian 88, 133, 136, 208, 211– 215, 226, 237, 250, 284, 296 Gatterer, Johann Christoph 85, 223, 227, 281f. Gedike, Friedrich 263 Gellert, Christian Fürchtegott 88, 213

332

Gentz, Friedrich 269 George II. 82 Gerard, Alexander 112, 120, 191, 211, 220 Gibbon, Edward 10, 72f., 196, 227 Gleig, George 168 Goethe, Johann Wolfgang von 217 Goguet, Antoine Yves 239 Gottsched, Johann Christoph 87 Gray, John 282 Gregory, James 150 Gregory, John 19, 112, 191f. Grotius, Hugo 44, 95 Gundling, Nicolaus Hieronymus 41, 51, 72 Guthrie, William Douglas 282 Haller, Albrecht von 120 Hamann, Johann Georg 218 Harris, James 224 Harris, John 25 Hartley, David 54, 95, 130, 190–193, 196, 277 Hartmann, Gottlob David 226f. Haymann, Christoph 53 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 281 Helvétius, Claude Adrien 245 Herder, Johann Gottfried 2, 9, 16, 56, 164, 170, 183, 203f., 211, 214, 225f., 233, 239, 241, 246, 252, 269, 280, 284 Herodot 173 Herz, Marcus 256 Heyne, Christian Gottlob 204f., 218, 236 Hirschfeld, Christian Cay Lorenz 1f., 220 Hißmann, Michael 84, 230f., 297 Hobbes, Thomas 72, 79, 95, 108, 125, 175 Hollmann, Samuel Christian 84 Home, Henry (siehe Kames, Lord) Homer 169ff. Hooker, Richard 72 Humboldt, Wilhelm von 284 Hume, David 4, 10, 12, 19, 31f., 61f., 77f., 84, 90f., 93–105, 108–111, 114, 126, 128, 130, 134ff., 138ff., 144f., 147–150, 153f., 157ff., 162, 164, 168– 172, 183, 189ff., 193f., 196–199, 202, 205–208, 213, 215–220, 227, 234, 245, 258f., 261f., 278, 291f., 295

Hutcheson, Francis 31, 44, 60, 75, 78, 90, 94f., 127, 211, 237 Hutton, James 19, 61, 141, 145, 158f. Huygens, Christiaan 44 Irving, David 162 Irwing, Karl Franz von 21, 31, 240, 263– 268, 276, 298 Iselin, Isaak 21, 64f., 221, 225f., 232f., 239, 243–248, 251, 261f., 269, 298 Ith, Johann Samuel 277 Jacob, Ludwig Heinrich 277 Jakob, Ludwig Heinrich von 206, 219 James, William 300 Jenisch, Daniel 21, 224f., 239, 269–276, 298f. Johnson, Samuel 36 Jornandes 177 Kames, Lord 1f., 19, 60f., 77ff., 111f., 127, 129f., 134, 137, 141, 148, 152, 159–164, 170, 176, 182, 191, 193, 197ff., 202, 212, 220, 232f., 239f., 244f., 261, 269 Kant, Immanuel 6, 10f., 16, 72, 80, 92, 97, 100, 207–211, 213–215, 218ff., 224, 233, 237, 240, 250, 252, 256–259, 265, 269ff., 277, 279f., 284, 297f. Kepler, Johannes 33, 253, 298 Kerr, Robert 117f. Kopernikus, Nikolaus 33 Kraft, Jens 239, 244 Kraus, Christian Jakob 218, 229, 234, 297 Krug, Wilhelm Traugott 21 La Fontaine, Jean de 91 La Peyrère, Isaac de 160 Lafitau, Joseph-François 184ff., 238 LeClerc, George Louis (siehe Buffon, Comte de) Leeuwenhoek, Antoni van 122 Leibniz, Gottfried Wilhelm von 31, 33, 43f., 54f., 87, 121, 210 Leopold II. 222 Leslie, John 79 Lessing, Gotthold Ephraim 202, 211, 214 Lichtenberg, Georg Christoph 203

Linné, Carl von 117–120, 222, 250 Livius 174 Locke, John 26, 28–32, 41, 44, 60, 72, 77, 84, 127f., 156, 191, 206, 213, 245, 250, 258f., 277, 294 Logan, John 19, 139f., 149, 154, 247 Lossius, Johann Christian 87, 230, 237, 239, 242ff. Ludovici, Carl Günther 38, 90 Ludwig XVI. 129 Ludwig, Christian Friedrich 242, 278 Luther, Martin 38 Maclaurin, Colin 61 Macpherson, James 170 Mallet, David 158 Mandeville, Bernard 31, 95, 115, 127 Marat, Jean Paul 249 Martini, Friedrich Heinrich Wilhelm 253 Maupertuis, Pierre-Louis Moreau de 55, 121, 230 Maximilian III. Joseph 55 Meier, Georg Friedrich 220 Meiners, Christoph 31, 80, 83ff., 205f., 235, 239, 241, 257f., 269, 296 Meinhard, Johann Nikolaus 212 Mendelssohn, Moses 57, 237, 245 Merck, Johann Heinrich 202, 217 Michaelis, Johann David 58, 83, 245 Mill, John Stuart 94, 196 Millar, John 19, 78, 90, 112, 126, 128– 132, 134, 146, 148, 154, 161, 165, 167, 184f., 187f., 199, 202, 225f., 239, 247, 269 Miller, Johann Peter 245 Milton, John 170 Monboddo, Lord 19, 60f., 120, 162ff., 191, 193 Monro, Alexander primus 59 Montesquieu 20, 105, 126f., 134, 146f., 156, 171, 181, 188, 198, 202, 239, 244 Moritz, Karl Philipp 273 Müller, Karl Wilhelm 202 Münchhausen, Adolf Freiherr von 82f., 85, 207 Needham, John Turberville 121

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Newton, Isaac 25, 32–35, 44, 46, 48, 54, 60f., 78, 94f., 105, 108, 111, 115, 121, 126ff., 137, 156, 191, 253, 294, 298 Nicolai, Friedrich 213 Niebuhr, Barthold Gottfried 196 Ossian 9, 169f. Pascal, Blaise 44 Pauw, Cornelius de 162 Pfingsten, Johann Hermann 230 Platner, Ernst 21, 88, 213, 237, 255ff., 277, 284 Pölitz, Karl Heinrich Ludwig 223, 240, 281 Poleyen, Heinrich Engelhard 31 Polybios 152, 174, 282 Pope, Alexander 35f., 156 Prévost, Antoine-François 163, 186 Priestley, Joseph 190, 202, 230, 249 Pufendorf, Samuel von 38, 44, 75, 87, 95, 127 Ramsay, Allan 61 Rawley, William 29 Reid, Thomas 76f., 79, 94f., 97, 112, 120, 135f., 191, 206 Reinhold, Karl Leonhard 86 Remer, Julius August 21, 223 Reynolds, Joshua 79 Robertson, William 10, 14, 19, 76ff., 90, 139, 145, 166, 169f., 176–180, 185f., 198, 202, 223, 227, 254, 266 Rosenkranz, Karl 88 Rousseau, Jean Jacques 20, 57, 65, 114ff., 122–125, 127f., 162, 180, 183, 239, 245, 247, 276, 291 Russell, William 19, 130, 166f., 175, 202 Saint John, Henry (siehe Bolingbroke, Lord) Schelling, Friedrich 240 Schiller, Johann Christoph Friedrich von 16, 133, 165, 201 Schlözer, August Ludwig 85, 134, 218, 281f. Schlüter, J. G. Carl 82 Schmeitzel, Martin 47

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Schmid, Carl Christian Erhard 277 Secondat, Charles Louis de, Baron de Montesquieu (siehe Montesquieu) Shaftesbury, Lord 31, 44, 77, 94f., 115, 182f., 245 Sloane, Hans 54 Smellie, William 4, 19f., 90, 114, 116– 119, 168, 222 Smith, Adam 13, 19, 61, 77ff., 90, 105, 114ff., 120, 126f., 129f., 134, 139, 149, 152f., 157, 162, 173ff., 179f., 193, 199, 201, 205, 211ff., 245 Smollett, Tobias 77 Sokrates 95 Spalding, Johann Joachim 237 Spittler, Ludwig Timotheus 84 Sprat, Thomas 53 Stahl, Georg Ernst 122 Stapfer, Philipp Albert 277 Steeb, Johann Gottlieb 240 Steele, Richard 64 Steuart, Robert 95 Stewart, Dugald 14, 19, 78f., 103, 126, 134ff., 140, 188, 234 Strabon 175 Strahan, Andrew 139 Stuart, Gilbert 19, 178, 181, 202 Suckow, Laurenz Johann Daniel 87 Sulzer, Johann Georg 215–219, 228f., 231, 245, 258, 295 Swift, Jonathan 171, 173, 181f. Tacitus 152, 174, 176f., 282 Tennemann, Wilhelm Ludwig 219f. Terenz 1f., 4, 180, 273, 299 Tetens, Johann Nicolaus 21, 31, 239, 258– 262, 284, 298 Thales 95 Thomasius, Christian 38, 41, 44, 80f., 87 Thukydides 152, 173, 282 Topham, Edward 76f. Tours, Gregor von 177 Trembley, Abraham 121 Turgot, Anne Robert Jacques 180 Turnbull, George A. 94 Tytler, Alexander Fraser (Lord Woodhouselee) 19, 134f., 283

Ulrich, Johann August Heinrich 256 Veitch, John 135 Vierthaler, Franz Michael 239 Villaume, Peter 239 Voltaire 55, 79, 110, 116, 156, 182, 202 Walch, Johann Georg 36ff., 41 Walker, John 117 Warburton, William 165 Watt, James 77 Wedderburn, Alexander 114 Weishaupt, Johann Adam 240 Weiße, Christian Felix 88, 213

Wendeborn, Gebhard Friedrich August 204 Wezel, Johann Karl 88 Whiston, William 35, 158 Wieland, Christoph Martin 239, 246 William von Oranien 74 Wolff, Caspar Friedrich 121f. Wolff, Christian 38–44, 55, 80f., 87f., 108, 215f. Woltmann, Karl Ludwig von 240, 281 Zedler, Johann Heinrich 4, 38–41 Zimmermann, Eberhard August Wilhelm von 21, 118, 222, 245

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