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German Pages 139 Year 1980
Von der ständischen Gesellschaft zur bürgerlichen Gleichheit
Beihefte zu "Der Staat" Zeitschrift für Staatslehre, Öffentliches Recht und Verfassungsgeschichte
Heft 4
Von der ständischen Gesellschaft zur bürgerlichen Gleichheit
Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar am 2./3. Aprill979
DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN
Redaktion : Prof. Dr. Helmut Quaritsch, Speyer
Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlln 41 Gedruckt 1980 bei Buchdruckerei A. Sayffaerth - E. L . Krohn, Berlln 61 Prlnted in Germany
© 1980 Dunelter
ISBN S 428 04579
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Inhaltsverzeichnis Gerd Kleinheyer:
Aspekte der Gleichheit in den Aufklärungskodifikationen und den Konstitutionen des Vormärz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Manfred Botzenhart:
Wandlungen der ständischen Gesellschaft im Deutschland der preußischen und der rheinbündischen Reformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ulrich Scheuner:
Begriff und rechtliche Tragweite der Grundrechte im Übergang von der Aufklärung zum 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
111
Verzeichnis der Redner
132
Satzung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . .
133
Verzeichnis der Mitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Aspekte der Gleichheit in den Aufklärungs· kodifikationen und den Konstitutionen des Vormärz Von Gerd Kleinheyer, Bann Einer Annäherung an eimge Aspekte der Gleichheit in den Aufklärungskodifikationen und den Konstitutionen des Vormärz dienen die folgenden beiden Teilbetrachtungen. Es geht dabei nicht um einen Vergleich zwischen zwei Quellengruppen unterschiedlicher Rechtsqualität. Es geht auch nicht um den Nachweis einer Beziehung zwischen der Verfassung des absolutistisch regierten aufgeklärten Staatswesens des ausgehenden 18. Jahrhunderts und dem Frühkonstitutionalismus. Es sollen nur in den Rechtsquellen selbst auf Gleichheit bezogene Rechtssätze aufgesucht und deren Aussage, Stellenwert und Funktion ermittelt werden, einerseits in einer auf ständischer Rechtsungleichheit beruhenden Rechtsordnung, andererseits in Verfassungssystemen, die den Kamprarniß im Widerstreit ständischer und egalitärer Prinzipien suchen, beide aber bemüht um Distanz zum Gleichheitspostulat der französischen Revolution. Bei allem geht es nur um die Erschließung der Rechtsquellenaussage und damit um einen eher vorbereitenden Beitrag zu dieser Tagung, die der Entwicklung "Von der ständischen Gesellschaft zur bürgerlichen Gleichheit" nachspüren will. A. Gleichheit in den Aufklärungskodifikationen Die Kodifikationen der Aufklärungszeit, unter ihnen insbesondere das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794, haben mit dem Gleichheitsgedanken, jedenfalls auf den ersten Blick, wenig zu tun. Alle diese Kodifikationen gehen ja von der Existenz der ständischen Gesellschaft aus und bestätigen sie. Das Allgemeine Landrecht entfaltet sogar das gesamte ständische Sozialmodell in feiner Ziselierung bis in die letzten privatrechtliehen Verästelungen hinein; in Gesetzesform gegossen erfahren die ständischen Rechtsunterschiede ein letztes Mal staatliche Anerkennung und Legitimation. Es muß allerdings auffallen, daß - fast spiegelbildlich zum Auseinanderklaffen von bürgerlicher und politischer Gleichheit im frühen
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19. Jahrhundert - der gesellschaftsstrukturierenden Rolle der Stände in der Kodifikation nicht auch eine entsprechende politische Mitwirkung bei ihrem Zustandekommen entsprach. Die Kabinettsorder Friedrichs d. Gr. vom 14. April 1780\ die das Programm der Kodifikation des Allgemeinen Gesetzbuches entwickelte, nahm überhaupt nicht Bezug auf eine Mitwirkung der Stände; sie betonte vielmehr, daß der preußische Staat "doch seinen unstreitigen Gesetzgeber" 2 habe. Freilich ordnete Friedrich Wilhelm II. am 27. August 1786 die Zuziehung der Stände im Rahmen der Gesetzgebung wieder an3 ; diese Mitwirkung ging über ein Anhörungsrecht aber nicht hinaus, konnte dies wohl auch nicht, weil eine Ständevertretung auf Gesamtstaatsebene fehlte; daß die Kodifikation nicht als "Allgemeines Gesetzbuch", welche Bezeichnung sie als souveränen Akt des Königs hätte erscheinen lassen, sondern als "Allgemeines Landrecht" in Kraft trat, war eine Konzession an die Stände, knüpfte diese Bezeichnung doch an eine Tradition an, die die Mitwirkung der Stände bei der Gesetzgebung umschloß; eine politischkonstitutive Rolle haben die Stände bei der weiteren Kodifikation nicht mehr übernommen; insbesondere wurden sie an der Entscheidung über die endgültige Inkraftsetzung des Allgemeinen Landrechts nicht mehr beteiligt4 • Auch für die übrigen Territorien, in denen es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu größeren Kodifikationen gekommen ist, ergibt sich ein ähnliches Bild; als politisch Mitwirkende haben die Stände dem absolutistischen Landesherren das Feld räumen müssen. Im Verhältnis der Stände untereinander und gegenüber dem Herrscher war damit auch ein Zustand der Gleichberechtigung, oder besser: der politischen Gleich-Nicht-Berechtigung gegeben. Die umfassende Kodifikation des gesamten innerstaatlichen Rechts, wie sie in Preußen in Angriff genommen wurde, setzte eine grundsätzliche Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Gesetzgeber und dem Staatsbürger voraus. Ausgehend von der naturrechtliehen These, daß die Menschen auch im Staat ihre natürliche Freiheit beibehalten hätten, soweit nicht, entsprechend ihrer Ermächtigung, der staatliche Gesetzgeber positive Normen aufgestellt habe, erscheint das Gesetz als an den Bürger unmittelbar gerichtete Handlungsnorm und das Allgemeine Landrecht als der Inbegriff aller Normen über Rechte 1 Novum Corpus Constitutionum Prussico-Brandenburgensium praecipue Marchicarum oder Neue Sammlung König!. Preuß. und Churfürstl. Brandenburgischer, sonderlich in der Chur- und Marck-Brandenburg publicirten und ergangenen Ordnungen, Edicten, Mandaten, Rescripten etc. - N. C. C. -. 6. Bd., Sp. 1935 ff., Nr. 13. 2 Sp. 1939. 3 Kabinetts-Order v . 27. Aug. 1786 u . Rescript an das Kammergericht v. 28. Aug. 1786, N. C. C. Bd. VIII, Sp. 143- 148. 4 Hans Hattenhauer, in: Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten v. 1794. Textausgabe, 1970, EinführungS. 29 f.
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und Pflichten der Staatsbürger, und zwar untereinander und gegenüber dem Staat. Die Stände haben in dieser Beziehung zwischen dem Staat und dem Bürger keinen Platz mehr; sie ist daher ein Element der Gleichheit unter den Staatsbürgern. Diesen Gesichtspunkt betont Svarez in der häufig zitierten Äußerung: "Die Gesetze des Staates verbinden alle Mitglieder desselben ohne Unterschied des Standes, Ranges und Geschlechts. Dem Gehorsam gegen die Gesetze kann also kein Einwohner desselben, er sei von noch so hohem Range, sich entziehen. In dieser Rücksicht sind alle Untertanen in den Augen des Souveräns völlig gleich, und der Fürst, der unmittelbar an seinem Throne steht, ist seinen Gesetzen ebenso unterworfen als der niedrigste Landbewohner oder Tagelöhner5 ." Den hier angesprochenen Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz formuliert § 22 Einl. ALR: "Die Gesetze des Staates verbinden alle Mitglieder desselben, ohne Unterschied des Standes, Ranges und Geschlechts." Im Westgalizischen Gesetzbuch8, Kap.l § 13, wird mit etwas anderen Worten derselbe Grundsatz ausgesprochen: "Jeder Staatsbürger ohne Unterschied des Ranges, des Standes oder Geschlechtes ist verpflichtet, die allgemeine Wohlfahrt des Staates durch genaue Befolgung der Gesetze möglichst befördern zu helfen." Dieser Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz steht mit der unterschiedlichen Behandlung der verschiedenen Stände im Staat durch den Gesetzgeber nicht im Widerspruch; denn er verpflichtet nicht den Gesetzgeber zur Gleichbehandlung, sondern drückt nur die gleiche Qualität der Bindung aller Staatsbürger an das Gesetz aus. Auffallend ist aber das Pathos, mit dem etwa bei Svarez dieser Grundsatz vorgetragen wird; die Durchbrechung der ständischen Ordnung wenigstens durch das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz hat hier einen durchaus positiven Klang. Die Einbindung der Ständeordnung in die Gesamtrechtsordnung, wie sie das ALR zu kodifizieren sucht, und die Entwicklung dieser Ständeordnung aus dem Recht der kleineren Kreise, des einzelnen, der Eheleute, der Familien, nimmt dieser Ständeordnung ihre verfassungsrechtliche Qualität7 • Ständische Unterschiede erscheinen als vom Gesetzgeber abgeleitet, damit aber auch seiner Disposition unterworfen. Ständische Vorrechte sind nicht mehr politische Berechtigungen, sondern sie 5 Carl Gottlieb Svarez, Vorträge über Recht und Staat, hrsg. v. Hermann Conrad u. Gerd Kleinheyer, 1960, S. 246. e Franzens des Zweyten ... Gesetze und Verfassungen im Justitzfache J. G. S. - im fünften und sechsten Jahr seiner Regierung, Prag 1798,
s. 258 ff.
7 So gibt Svarez (Fn. 5), S. 475, der absoluten Monarchie mit der Begründung den Vorzug: "Sie sichert am meisten die bürgerliche Freiheit der Untertanen, weil zwischen dem Regenten und dem Volke keine Mittelmacht da ist, die durch die Teilnahme an der Regierung Gelegenheit hätte, die niederen Volksklassen zu drücken ..."
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unterscheiden sich nicht von anderen "wohlerworbenen" Rechten. Wie bei diesen, so ist auch bei den ständischen Vorrechten eine Entziehung oder Einschränkung nur aus überwiegenden Gründen des Gemeinwohls und nur gegen Entschädigung zulässig; aber sie ist eben zulässig, und an der Entscheidung, ob sie für das Gemeinwohl erforderlich ist, sind die Stände nicht beteiligt. So bestehen die ständischen Vorrechte zwar noch, sie sind aber nicht politisch abgesichert; sie sind Vorrechte auf Abruf. Die Herleitung ständischer Rechtsungleichheiten aus staatlicher Verleihung wird von Svarez besonders unterstrichen8 : "Jeder Unterschied der Rechte, welcher bloß durch die Geburt entsteht, gründet sich nicht in dem Rechte der Natur, sondern in positiven Gesetzen des Staates"; und "Die Rechte, welche jedem Mitgliede eines Standes bloß um deswillen, weil er ein Mitglied ist, zukommen, machen einen wichtigen und weitläufigen Teil der bürgerlichen Gesetzgebung aus. Sie haben das miteinander gemein: daß sie nur auf positiven Staatsgesetzen beruhen, da das Recht der Natur keinen Unterschied der Stände kennt ..." . Die verfassungsrechtliche Möglichkeit für den absoluten Gesetzgeber, Ungleichheiten zu beseitigen und dem Gleichheitsgrundsatz zu folgen, ist nun freilich noch nicht gleichbedeutend mit einem entsprechenden Recht der Staatsbürger. Angesichts der ihm zukommenden Gestaltungsfreiheit kommt eine Bindung des absoluten Gesetzgebers nur dort in Betracht, wo die positive Gesetzgebung Schranken in vorstaatlichen, unveräußerlichen und daher unantastbaren Rechten der Bürger findet. Ob und inwieweit sich in der preußischen Kodifikation der Gedanke einer Bindung staatlicher Gewalt an Rechte der Menschen und Bürger niedergeschlagen habe, ist umstritten9 • Praktisch war solche Bindung schon durch die fehlende Kontrolle des Gesetzgebers, aber auch durch die mangelnde Konkretheit derartiger vorstaatlicher Rechtspositionen ausgeschlossen. Der Idee nach aber bedeutete immer8 In der ersten Abteilung der Kronprinzenvorträge, Vorläufige Bearbeitung (in den "Vorträgen", Fn. 5, nicht mit abgedruckt), im Abschn . .,Allgemeine Grundsätze des Bürgerlichen Rechts, B. Über die Rechte und Pflichten der Bürger des Staats unter sich" (Zentralarchiv der DDR, Abt. Merseburg, Rep. 92: Nachlaß Svarez Nr. 1); vgl. jedoch die ähnliche Formulierung in den "Vorträgen" (Fn. 5), S. 261, 262, 263. 9 Bejaht wird dies von Hermann Conrad, Die geistigen Grundlagen des allgemeinen Landrechts v. 1794, 1958, S. 32 f., u. Reinhart Koselleck, Staat und Gesellschaft in Preußen 1815 - 1848, in: Staat und Gesellschaft im Deutschen Vormärz 1815- 1848, hrsg. v. Werner Conze, 1962, S. 80. Dagegen verneinend Gerhard Oestreich, Die Entwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, in: Die Grundrechte. Handbuch der Theorie und Praxis der Grundrechte, hrsg. v. Franz L. Neumann u. a., Bd. 1/1, 1966, S. 45; Günter Birtsch, Zum konstitutionellen Charakter des preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794, in: Festschr. f. Theodor Schieder, hrsg. v. Kurt Kluxen u. Wolfgang Mommsen, Wien 1968, S. 103 ff.
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hin schon die Verwendung des Begriffes "natürliche Freiheit" und "Rechte der Bürger" eine gesetzliche Anerkennung dieser Kategorien. Zwar erscheint im ALR die natürliche Freiheit zunächst, wie das der naturrechtliehen Tradition entsprach, als Beschreibung des Naturzustandes; aber die Freiheit wird der staatlichen Gesetzgebung doch als Orientierungspunkt entgegengehalten. Die Wahrung der Freiheit wird sogar als Staatszweck erachtet und damit auch als den Gesetzgeber bindend, wenngleich dessen Beurteilungsspielraum nie eingeschränkt wird. Daß die Kodifikation insgesamt der Sicherung der Freiheit dienen sollte, wird auch von Svarez angesprochen, wenn er sie den Zeitgesetzen entgegenhält, die die Freiheitsrechte kränkten10• Nirgends aber verdichtet sich solche prinzipielle gesetzgeberische Bindung zu einem konkreten Rechtsanspruch des einzelnen Bürgers. Mit einer Ausnahme allerdings: Der Aufopferungsanspruch der §§ 74, 75 Einleitung ALR wird hier, sozusagen, vor die Klammer gezogen und damit zu einer allen Staatsbürgern in gleicher Weise zukommenden Rechtsposition von allerdings unterschiedlichem wirtschaftlichem Wert. Eine solche Einzelvorschrift bestätigt freilich nur, daß es einen Verfassungsgrundsatz gleicher Berechtigung aller Bürger gegenüber dem Staat oder auch nur gleicher Behandlung aller Bürger durch den Staat nicht gab. Man würde allerdings mit der Beschränkung auf diese Feststellung kaum zu einem zuverlässigen Urteil darüber gelangen, welche Einstellung gegenüber den durch die Ständeschranken begründeten, aber auch sonst bestehenden Ungleichheiten die Aufklärungsgesetze beherrscht. Das ALR selbst wie Äußerungen seines Verfassers zeigen eine gewisse Zurückhaltung gegenüber einer Ausuferung von Vorzugsrechten und ständischen Schranken. Hinzuweisen ist hier zunächst allgemein auf die Tatsache der Kodifizierung der ständischen Rechtsordnung. Sie erst führte zu einer zuverlässigen und allgemein gültigen Grenzbestimmung unter den einzelnen Ständen. Die Kodifikation sollte die Gewähr dafür bieten, "daß nicht ein Stand, eine Klasse der Nation die Rechte der anderen schmälere, daß der ärmere und niedrigere von seinem reicheren und mächtigeren Mitbürger nicht unterdrückt werde" 11 • Sodann zeigt sich diese Zurückhaltung in den Bestimmungen über die Auslegung von Privilegien, insbesondere in§ 54 der Einleitung, demzufolge "Privilegien und verliehene Freiheiten in zweifelhaften Fällen so erklärt werden müssen, wie sie am wenigsten zum Nachteile des Dritten gereichen". Oder §57, der "Alle dergleichen besondere Gesetze und Verordnungen" so erklärt sehen will, "wie sie mit den Vorto Vorträge, (Fn. 5), S. 635 f. 11
Vorträge, (Fn. 5), S. 89.
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schriften des gemeinen Rechts und dem Hauptendzwecke des Staates am nächsten übereinstimmen". Im folgenden finden sich noch eine Reihe von Vorschriften, die sicherstellen wollen, daß kein Privileg über seinen eigentlichen Inhalt hinaus erstreckt werden kann. Dieser Zurückhaltung entspricht die fast noch ablehnendere Stellungnahme von Svarez zur Frage der Monopolprivilegien12 • Er bezeichnet sie als einen unmittelbaren Eingriff in das natürliche Recht eines jeden Menschen, seine Fähigkeiten und Kräfte zur Beförderung seines Wohls ohne Beleidigung anderer frei anwenden zu dürfen. Zur Verteidigung könne auch das sog. Staatsinteresse nicht angeführt werden; denn dieses könne, wenn es mehr als ein leerer Schall sein solle, mit der Wohlfahrt des einzelnen nie im Widerspruch stehen, da es eine ewige Wahrheit sei und bleibe, daß der Staat die natürliche Freiheit seiner Bürger nur soweit einschränken dürfe, als es notwendig sei, damit die Sicherheit und Freiheit aller dabei bestehen könne. Auch hinsichtlich der Standesschranken verficht das ALR jedenfalls keine extreme Linie. Nach § 30 li 1 können "Mannspersonen von Adel mit Weibspersonen aus dem Bauern- oder geringeren Bürgerstand keine Ehe zur rechten Hand schließen". Die Eheschließung ist also erlaubt zwischen Adligen und Angehörigen des höheren Bürgerstandes, zu dem nach § 31 alle nicht subalternen "öffentlichen Beamten, Gelehrten, Künstler, Kaufleute, Unternehmer erheblicher Fabriken und diejenigen, welche gleiche Achtung mit diesen in der bürgerlichen Gesellschaft genießen", gerechnet werden. Zu erwähnen wäre in diesem Zusammenhang auch eine merkwürdige, hundert Jahre ältere Vorschrift aus einer Konstitution von 1694 über die Eheschließung, die die Verweigerung des elterlichen Ehekonsenses als nicht ausreichend begründet verwirft, wenn sie nur auf Armut oder ungleichen Stand des Ehepartners gestützt wirdu. Es erscheint in Anbetracht der Regelung des ALR als unwahrscheinlich, daß diese Vorschrift auch die Standesungleichheit zwischen Adel und den niederen Ständen als für die Verweigerung des Ehekonsenses nicht ausreichend ansieht; selbst wenn sie aber nur auf andere Standesunterschiede abstellt, bleibt sie beachtlich. Verfehlt wäre auch eine zu statische Sicht der ständisch geprägten Rechtsordnung des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Sie würde dem Gedanken der Aufklärung, dem die großen Korliftkationen verpflichtet sind, nicht Rechnung tragen. Nach § 3 li 13 ALR kommt es "dem Oberhaupte im Staate zu, für Anstalten zu sorgen, wodurch den EinVorträge, S. 46, 500 f. Corpus Constitutionem Marchicarum- C. C. M. -, I. T., II. Abt., No. LVIII, Sp. 117- 122, hier Sp. 118; sodann auch das Projekt des Landrechts v. 1749, § 21, Tit. II, Lib. II, P. I. 12
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wohnern Mittel und Gelegenheit verschafft werden, ihre Fähigkeiten und Kräfte auszubilden und dieselben zur Beförderung ihres Wohlstandes anzuwenden". Hier ist nicht nur das Bildungswesen als Staatsaufgabe ausgewiesen, sondern dieser Pflicht wird auch ein besonderer Stellenwert verliehen; denn vor ihr werden als vorzügliche Pflicht des Oberhauptes im Staate nur "die Erhaltung der äußeren und inneren Ruhe und Sicherheit" und "der Schutz eines jeden bei dem Seinigen gegen Gewalt und Störungen" genannt. Die aufklärerische Grundüberzeugung, daß es zu den unveräußerlichen Rechten des Menschen gehöre, nach seiner Selbstvervollkommnung zu streben, findet sich umgesetzt in eine staatliche Bildungspflicht - noch nicht also in einen staatsbürgerlichen Bildungsanspruch. Die naturrechtliche Herleitung dieser Pflicht unterstreicht freilich auch deren egalitäre Tendenz; nicht anders haben die preußischen Aufklärer die schließliehe Konsequenz der Aufklärung gesehen. Die Mündigkeit des Volkes, seine Fähigkeit, mit der Freiheit verantwortlich umzugehen, hat etwa Ernst Ferdinand Klein in seiner bekannten Schrift über Freiheit und Eigentum14 als Voraussetzung politischer Mitwirkungsrechte der Bürger gesehen15 • Kehren wir zurück zum Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz. Gewöhnt, diesem Grundsatz angesichts der Aufrechterhaltung ständischer Rechtsunterschiede auch im aufgeklärten Absolutismus allenfalls eine formale Funktion zuzumessen, beachten wir wohl im allgemeinen zu wenig, daß er in Rechtsbereichen, in denen der Staat unmittelbar dem Bürger gegenübertrat und in denen sich ein unmittelbares staatliches Interesse geltend machte, durchaus praktische Bedeutung entfalten konnte. Das Verhältnis zwischen dem Staat und seinen Bürgern läßt sich vielleicht nirgends besser ablesen als am Komplex des Straf- und Strafverfahrensrechtes. Standesvorrechte müssen hier um so eher zurückweichen, je unmittelbarer sie dem staatlichen Strafverfolgungsinteresse im Wege stehen. Dies gilt zunächst für die eigentlichen Staatsverbrechen, setzt sich dann aber stetig fort in den Bereich der Privatverbrechen hinein, die eben immer weniger bloße Privatverbrechen bleiben. Diese differenzierende Behandlung nach dem Grade des staatlichen Strafverfolgungsinteresses läßt sich sehr früh schon an der Anwendung der Folter ablesen, die schon nach der Wormser Reformation im Falle eines crimen laesae majestatis nicht vor Alten, Kindern und Standespersonen Halt machte16 • Im 18. Jahrhundert ist diese Frage 14 Ernst Ferdinand Klein, Freyheit und Eigentum, abgehandelt in 8 Gesprächen über die Beschlüsse der französischen Nationalversammlung, Berlin u. Stettin 1790, S. 167 f. 15 Svarez sieht in dem "hohen Grade von Aufklärung und Gemeingeist" einen Ausgleich für die Mängel der englischen Verfassung, Vorträge, S. 475. 16 Der Statt Wormbs Reformation, 1498/99, Buch VI, Teil 2, Tit. V.
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wegen des Verschwindens der Folter ohne Belang. Der Abbau ständischer Vorrechte läßt sich nun aber beobachten an der Entwicklung der beiden Verfahrensformen des Inquisitions- und des Akkusationsprozesses. Entsprach das Parteiverfahren des Akkusationsprozesses vor allem dem privaten Strafverfolgungsinteresse des Verletzten, so war der auf dem Grundsatz der amtlichen Verbrechensverfolgung und Wahrheitsermittlung beruhende Inquisitionsprozeß die dem wachsenden staatlichen Strafverfolgungsinteresse entsprechende Prozeßform, die sich entsprechend dem Aufbau der territorialen Zentralgewalten denn auch zunehmend gegenüber dem Akkusationsprozeß durchsetzte17• War der Inquisitionsprozeß die von den Landesherren begünstigte Prozeßform, so beharrten die Landstände weithin auf der Beibehaltung des Akkusationsprozesses und ließen sich diese in Landesfreiheitserklärungen und sonstigen Herrschaftsverträgen nicht selten verbriefen. Noch im 18. Jahrhundert machen sich diese dualistischen Gegensätze in den Peinlichen Gerichtsordnungen bemerkbar. So mußte auch die Constitutio Criminalis Theresiana von 1768 auf ständische Privilegien zugunsten des Akkusationsverfahrens Rücksicht nehmen18• In der Josephinischen Criminalordnung von 1788 sind sie dann jedoch verschwunden; das Inquisitionsverfahren hat sich restlos durchgesetzt. Auch in Preußen verschwindet das Akkusationsverfahren im Verlaufe des 18. Jahrhunderts. Der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz ist auf dem Gebiete des Strafverfahrensrechtes also innerhalb einer ständisch geprägten Rechtsordnung verwirklicht worden - mit dem Ergebnis der Rechtsgleichheit. Im Bereich des materiellen Strafrechts findet sich, soweit ich feststellen kann, im ALR nur ein einziger Hinweis auf ständische Unterschiede, nämlich bei den Strafzumessungsvorschriften, wo nach § 85 li 20 "Geldstrafen gegen unbemittelte Personen der niedern Volksklasse nicht erkannt, und, wo sie gesetzlich bestimmt sind, in eine verhältnismäßige Strafarbeit oder Gefängnisstrafe verwandelt werden" sollen. Allerdings dürften sich auch in dieser Vorschrift nicht so sehr ständische Rechtsunterschiede als vielmehr die notwendige Berücksichtigung nun einmal gegebener materieller Tatsachen niederschlagen; nicht die Zugehörigkeit zu der niederen Volksklasse, sondern das Unbemitteltsein ist hier der entscheidende Gesichtspunkt. Deutlicher spricht einmal Svarez die Bedeutung der Standesunterschiede für die Frage der 17 Dazu Gerd Kleinheyer, Zur Rechtsgestalt von Akkusationsprozeß und peinlicher Frage im frühen 17. Jahrhundert, 1971, S. 21- 25; Eberhard Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. 1965, s. 198- 203. 18 I. Teil, Art. 24, § 1: "Der Anklagungsproceß wird entweder 1mo. auf Verordnung einer hierzu berechtigten Gerichtsstelle; oder 2do. gegen gewisse Personen vermög ihrer Landesfreyheit, somit allemal von Amtswegen angestellet."
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Strafzumessung an, und zwar im Zusammenhang mit der Kritik an einer spektakulären Strafverhängung durch Joseph II. im berühmten Fall des Oberstleutnants Szekely, der 97 000 Gulden aus einer ihm unterstehenden Kasse unterschlagen hatte. Joseph II. ließ ihn an den Pranger stellen, eine Maßnahme, die damals wohl viel Aufsehen erregte. Svarez kritisiert daran, daß der so Bestrafte die Strafe sehr viel stärker habe empfinden müssen als ein Mensch aus dem Pöbel, der nach einem Diebstahl am Pranger der öffentlichen Beschimpfung ausgestellt werde. Und "wenn ein Bauer oder Tagelöhner, der wegen seiner begangenen Verbrechen zu Festungsstrafe verurteilt wurde, daselbst an der Karre arbeiten muß, so ist seine Strafe nicht härter als die Strafe des Edelmanns, der nur Festungsarrest leidet und in der gänzlichen Beraubung seiner Freiheit die Folgen seiner unerlaubten Handlung weit schwerer fühlt als jener, dem Erziehung und Gewohnheit die schweren Handarbeiten schon vorher geläufig gemacht haben" 19 • An dieser Auseinandersetzung sind zwei Dinge bemerkenswert: zum einen will Svarez den Standesunterschied bei der Strafbemessung offenbar berücksichtigen; aber, obwohl er dieses Beispiel zur Begründung seiner Auffassung verwendet, daß bei der Bestimmung der Art der Strafe allemal darauf Rücksicht genommen werden müsse, zu welcher Klasse oder zu welchem Stande im Staat der Verbrecher gehöre, ist für ihn letztlich nicht die bloße Tatsache der Standeszugehörigkeit, sondern die daraus für die Person des Verbrechers folgende Strafempfindlichkeit entscheidend. Er begründet also den Unterschied mit der Natur der Sache und dem Wesen der Strafe selbst, nicht mit formalen Rechtsunterschieden. Ungleiches wird hier ungleich behandelt. Joseph II. hingegen hatte den Oberstleutnant offenbar demonstrativ und unter Mißachtung seines Standes, wohl sogar, um die Bedeutungslosigkeit der Standeszugehörigkeit zu unterstreichen, der entehrenden Strafe unterworfen und damit den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz unterstrichen. Beide Positionen sind Positionen der Gleichheit; entscheidend ist nur die Wahl der Bezugsebene, von der her man Gleichheit bestimmt. Als weiterer Bereich unmittelbarer Konfrontation des Staates mit seinen Bürgern sei schließlich noch das Steuerrecht erwähnt. Wiederum fällt auf, daß das ALR den Grundsatz der allgemeinen Steuerpflicht voranstellt20, dann den Steuerbefreiungen viel Raum widmet und dabei deren Grenzen herauszuarbeiten sucht21 • Im Zentrum der Ausführungen Svarez' über das Besteuerungsrecht in den Kronprinzenvorträgen22 u Vorträge, (Fn. 5), S. 380. § 2 II 14. 21 §§ 3 - 10 II 14. 22 Vorträge, (Fn. 5), S. 118 ff., 250 ff. 20
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steht das Problem der Gleichheit. Ungleichheiten der Steuerlast werden historisch aus dem Steuerbewilligungsrecht der Stände erklärt und als eine "Unvollkommenheit unserer Staatsverfassung" bezeichnet. Svarez erwägt zwar, ob nicht die Verschiedenheit der Stände und Gewerbe unterschiedliche Quoten in der Besteuerung rechtfertigen können, doch geht es auch hier wieder nicht um den rein rechtlichen Unterschied, sondern um die mit der Standesverschiedenheit zusammenhängende unterschiedliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen. Allerdings rechtfertigt Svarez dann die Steuerexemtionen des Adels damit, daß die abhängigen Bauern quasi die Steuerlast als Gegenleistung für die Überlassung von Land übernommen hätten23 , und er wendet sich auch grundsätzlich gegen die Entziehung der Privilegien außer im Falle der Kollision mit vitalen Staatsinteressen24. Wir haben uns daran gewöhnt, die Rechtsordnung des aufgeklärtabsolutistischen Staates, insbesondere Preußens, unter dem Gesichtspunkt der ständischen Ungleichheit zu betrachten. Die Frage nach der Anerkennung des Gleichheitsgrundsatzes reicht aber über diesen Bereich hinaus - auch nach der Beseitigung der Standesschranken ist das Gleichheitsproblem ja keineswegs verschwunden, sondern hat sich außer in der wirtschaftlichen Ungleichheit im Problem der sozialen Diskriminierung fortgesetzt. Die Gesetzgebung des späten 18. Jahrhunderts hat sich dieses Problems an mehreren Punkten angenommen, an denen die moderne Gesetzgebung wieder anknüpft. Ich darf etwa auf folgende Punkte hinweisen: 1. Die Reform des Unehelichenrechts wird zu einem Zentralthema der aufgeklärten Reformgesetzgebung; auf Grund der Eheschließungsfiktion versucht das ALR, wenigstens den Verlobten-Kindern die Rechtsstellung ehelicher Kinder einzuräumen25 •
2. Besonders deutlich wird das korrigierende Eingreifen im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Kindestötung. Das preußische "Edikt wider den Mord neugeborener unehelicher Kinder" vom 8. Februar 176528 gehört nicht wegen der vielfältigen dort vorgesehenen Überwachungsmaßnahmen gegenüber der schwangeren Frau, die eine heimliche Geburt ausschließen und die Tötung des Kindes erschweren sollten, zu den erstaunlichsten Gesetzen dieser Zeit, sondern wegen der gesetzlichen Anordnung, daß unverheiratete Schwangere nicht sozial Vorträge, S. 122 f. Vorträge, S. 123 f. 25 §§ 1047- 1052 li 1, §§ 592, 593 I1 2 ALR. 26 N. C. C., Bd. III, Nr. 13, Sp. 583 - 594; abgedruckt auch bei Wilhelm Wächtershäuser, Das Verbrechen des Kindesmordes im Zeitalter der Aufklärung, 1973, S. 161- 167. 23
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deklassiert werden und keine Einbuße an ihrer Ehre erleiden sollten - erstaunlich freilich nicht nur wegen des sozialreformerischen Impetus, sondern vor allen Dingen auch wegen des Optimismus, daß man durch Gesetze derartige soziale Probleme lösen könne. 3. Zu nennen sind schließlich die Reformen des Eherechts und des Eltern-Kindverhältnisses, die zwar nicht der Beseitigung sozialer Diskriminierung, wohl aber der Einschränkung nichtstaatlicher Gewaltverhältnisse dienten. Zu erinnern ist dabei zunächst an a) die Josephinische Ehegesetzgebung mit der Einführung einer bürgerlichen, kirchlichen Normen nicht mehr unterworfenen Ehe (zu nennen als Teilaspekt der Josephinischen Staatskirchen-Gesetzgebung mit dem Toleranzpatent) 27 ; b) das "Recht auf Eheschließung", wie es sich im J osephinischen Ehepatent vom 16. Januar 1783, §2, findet und auf das elterliche Konsensrecht zielt; c) die Zurückführung der elterlichen Gewalt auf die Übernahme der Sorgepflicht im Traugelöbnis gegenüber dem Staat28 ; d) schließlich an den Grundsatz des § 117 WGGB, daß das Recht der elterlichen Gewalt, "so wie die Kinder zu mehrerem Gebrauch der Vernunft gelangen, auch mehr beschränkt" werde, also ein gleitender Übergang mit typisch vernunftrechtlicher Begründung.
B. Gleichheit in den Vormärzkonstitutionen I. Die Gleichheit in den Untertanenrechten
Fast alle Konstitutionen des Vormärz29 enthalten einen Katalog von Rechten der Untertanen oder Staatsbürger. In mehrfacher Hinsicht klingt die "Gleichheit" in diesen Rechtekatalogen an.
1. Sie wird in einer ersten Gruppe garantiert im Verhältnis zu den anderen Staatsbürgern. Beispiele dafür sind etwa die "Gleichheit vor dem Gesetz" 30 und die Diskriminierungsverbote bei Einstellung in den 27 Ehepatent v. 16. Januar 1783 Josephs II. Gesetze und Verfassungen im Justitzfache (J. G. S.) v. 1780-84, Nr. 117, S. 192-203 -;Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch (AGB) v. 1. Nov. 1786- J. G. S. 1. Forts., S. 72- 129. 28 Westgalizisches Gesetzbuch- WGGB- v . 1797 (Fn. 6), § 116. 29 Abdruck der Konstitutionen und Entwürfe bei Kar! Heinrich Ludwig Pölitz, Die europäischen Verfassungen seit dem Jahre 1789 bis auf die neueste Zeit, Bd. 1, 1. u. 2. Abt., 2. Aufl. Leipzig 1832; die Verfassungen von Bayern 1818, Baden 1818, Württemberg 1819, Kurhessen 1831 und Sachsen 1831 auch bei Ernst Rudolf Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte 1, 1961, s. 141 - 247.
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Staatsdienst31 oder gegenüber den Angehörigen der drei christlichen Konfessionen32 - wobei die verfassungsrechtliche Gleichstellung der Nichtchristen, insbesondere der Juden, sich - außer wohl in Braunschweig33 - nirgends findet, allenfalls einmal die Annäherung an die Lage der Christen als Programmpunkt aufgenommen wird34 . 2. Insoweit gehören diese Erklärungen dann bereits in eine zweite Gruppe, die die Herstellung gleicher Rechte zum Inhalt haben; hierzu zählen insbesondere die zahlreichen auf Bauernbefreiung35 und die Herstellung eines gleichmäßigen Lasten- und Abgabensystems36 abzielenden Erklärungen. 3. Schließlich ergibt sich Gleichheit aus der unterschiedslosen Zubilligung sonstiger Untertanenrechte, etwa des Auswanderungsrechts37, der Ausbildungs- und Berufsfreiheit38, des sporadisch gewährten Petitions- oder Beschwerderechts38, der Religions- und Gewissensso Bayern 1818 (Präambel); Ghztm. Hessen 1820, Art. 18; Sachsen-Coburg 1821, § 10; Kurhessen 1831, § 26; Hohenzollern-Sigmaringen, E. 1832, § 12; ähnlich Baden 1818, § 7; Württemberg 1819, § 21; Sachsen 1831, § 26; Hannover E. 1831, Kap. III, § 2; Sachsen-Altenburg 1831, § 44; ferner Braunschweig, LandschaftsO 1832, § 200 (Gleichheit vor dem Richter). 3t Bayern, Präambel u. Tit. IV § 5; Württemberg § 22; Ghztm. Hessen Art. 19; Sachsen-Coburg § 11; Sachsen-Meiningen 1829, Art. 15; Sachsen § 34; Sachsen-Altenburg § 61; Kurhessen § 22; Braunschweig 1832, § 34. 32 Bayern, Tit. IV, § 9; Baden§§ 9, 19; Württemberg § 27 I; Ghztm. Hessen Art. 20, 21; Sachsen-Coburg §§ 12, 13; Sachsen-Meiningen 1829, Art. 12; Sachsen § 33; Sachsen-Altenburg § 129 (bei Anerkennung der evangelischprotestantischen als Landeskirche, § 128); Kurhessen § 29; Hannover Kap. III § 3; Hohenzollern-Sigmaringen E. 1832, § 13. 33 Braunschweig 1832, § 29 (zweifelhaft, da auf die .,im Staat jetzt gestatteten kirchlichen Gesellschaften" beschränkt). 34 Bayern Tit. IV, § 9 III; Württemberg § 27 II; Sachsen-Meiningen 1829, Art. 12 S. 2; Sachsen § 33 S. 2; Kurhessen § 29; Hannover E. 1831, Kap. III, § 3 III ; Hohenzollern-Sigmaringen, E. 1832, § 13 II. 35 Nassau 1814, Vorspruch (Bestätigung); Bayern Tit. IV, §§ 6, 7; Baden § 11; Württemberg § 25; Ghztm. Hessen Art. 25, 26; Sachsen-Coburg § 17; Sachsen-Altenburg §53; Kurhessen §§ 25, 33, 34; Braunschweig 1832, § 37; Hohenzollern-Sigmaringen, E. 1832, § 15. 36 Nassau 1814, Vorspruch (Bestätigung); Bayern Tit. IV, § 13; Baden § 8; Württemberg § 21; Ghztm. Hessen Art. 30; Sachsen-Meiningen 1829, Art. 10; Sachsen §§ 39, 40; Sachsen-Altenburg §§ 74, 75; Kurhessen § 26; Hannover E. 1831, Kap. III, § 2; Braunschweig 1832, § 39; Hohenzollern-Sigmaringen, E. 1832, § 10. 37 Bayern Tit. IV,§ 14; Baden § 12; Württemberg §§ 24, 32; Ghztm. Hessen Art. 24; Sachsen-Coburg § 16; Sachsen-Meiningen 1829, Art. 9 II; Sachsen § 29; Sachsen-Altenburg §§ 69, 70; Kurhessen § 41; Hannover E. 1831, Kap. III, § 14; Hohenzollern-Sigmaringen, E. 1832, § 17; Braunschweig 1832, § 35. 38 Württemberg § 29; Ghztm. Hessen Art. 36; Sachsen-Coburg § 24; Sachsen 1831, § 28; Sachsen-Altenburg §§ 62 ff.; Kurhessen § 27; Braunschweig 1832, § 34; Hohenzollern-Sigmaringen, E. 1832, § 29. 38 Württemberg § 36; Sachsen-Altenburg §§ 65, 66; Kurhessen § 35; Sachsen § 36; Hannover E. 1831, Kap. III, § 12; Braunschweig 1832, § 38.
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freiheit 40 , der Meinungsfreiheit41 , der persönlichen Freiheit42 und der Eigentumsgarantie43• 4. Auch die Pflichtenkataloge - allgemeine Wehrpflicht44, Pflicht zur Leistung von Abgaben45 - sehen gleiche Bindung der Untertanen vor. In keiner Konstitution wird jedoch Gleichheit als allgemein gültiger Grundsatz anerkannt. "Gleichheit" wird immer nur konkret, begrenzt, auf einen bestimmten Tatbestand bezogen angesprochen - Ausdruck der Ablehnung eines vorkonstitutionellen Gleichheitsprinzips, entsprechend der Abkehr von den Menschenrechten'8 • Am ehesten erinnert an die naturrechtliche Begriffswelt noch im Vorspruch der Nassauer Verfassung von 1814 die "Sicherung" der "bürgerlichen Freiheit" und die "Aufrechterhaltung" der "politischen Gleichheit", und zwar einerseits wegen der allgemeinen Verwendung der Begriffe Freiheit und Gleichheit, zum anderen wegen des "bürgerlich", das in den späteren Konstitutionen durchweg von "staatsbürgerlich" abgelöst wird, und schließlich wegen der Verben "sichern" und "aufrechterhalten", die beide jedenfalls offenlassen, ob diese Rechte als staatlich gewährt oder als vorstaatlich begründet erscheinen. In den späteren Konstitutionen wird, nachdem Art.18 BA von "zusichern" gesprochen hatte, diese Vokabel übernommen'7, oder die Rechte erscheinen als durch die Verfassung "gewährt"'8. Wo aber mit den Worten "haben" 49, "nicht beschränken", 40 Bayern, Präambel u. Tit. IV, § 5; Württemberg §§ 24, 27; Ghztm. Hessen Art. 22; Sachsen-Coburg § 14; Sachsen § 32; Sachsen-Altenburg § 129; Kurhessen § 30; Hannover E. 1831, Kap. 111, § 3; Hohenzollern-Sigmaringen, E. 1832, § 13. 41 Bayern, Präambel; Württemberg § 24; Kurhessen § 39. 42 Bayern Tit. IV, § 8; Baden § 13; Württemberg § 24; Ghztm. Hessen Art. 23; Sachsen-Coburg § 15; Sachsen § 27; Sachsen-Altenburg §§51 ff.; Kurhessen § 31; Hannover E. 1831, Kap. 111, § 6; Braunschweig 1832, § 32; Hohenzollern-Sigmaringen, E. 1832, § 14. 43 Bayern, Tit. IV, § 8; Baden § 13; Württemberg § 24; Ghztm. Hessen Art. 23; Sachsen-Coburg § 15; Sachsen § 27; Sachsen-Altenburg §§ 53, 54 ff.; Kurhessen § 31; Hannover E. 1831, Kap. 111, § 6; Braunschweig 1832, § 32; Hohenzollern-Sigmaringen, E. 1832, § 14. 44 Bayern, Präambel u. Tit. IV, §§ 5, 12; Baden § 10; Württemberg § 23; Ghztm. Hessen Art. 28, 29; Sachsen-Coburg §§ 19, 20; Sachsen-Meiningen Art. 10; Sachsen § 30; Sachsen-Altenburg §§ 77, 80; Kurhessen § 40; Hannover E. 1831, Kap. III, § 2; Braunschweig 1832, § 40; Hohenzollern-Sigmaringen, E. 1832, § 19. 45 Wie oben Fn. 36. 46 Auch in der Badischen Verfassung bezieht sich die grundsätzlich ausgesprochene Gleichheit der Badener nur auf die staatsbürgerlichen Rechte - § 7 -, ist also nicht vorstaatlich begründet. 4 7 Ghztm. Hessen Art. 22. 48 Bayern, Tit. IV, § 8; Sachsen § 29; Sachsen-Coburg-Saalfeld, Dekret v. 16. 3. 1816 (Pölitz 1/2, S. 795); Braunschweig 1832, §§ 29, 32. 49 Entw. d. Verfassung f. Württemberg v. 1815; Sachsen-Altenburg § 44.
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"aufrechterhalten" 50• "bewahren" 5\ "sichern" 52 eine Existenz dieser Rechte vor der Verfassungsgebung angedeutet wird, bezieht sich dies auf die "Rechte" und "Freiheiten" 53 des dualistischen Ständestaats. Nur einmal noch- neben der Nassauer Konstitution- wird die Gleichheit als Prinzip angesprochen, nämlich in Sachsen-Meiningen 1829, wo "alle Untertanen" für "schuldig" erklärt werden, nach dem "Gesetz der Gleichheit" und nach dem Verhältnis ihrer Vermögen und ihrer Kräfte zu dem Zweck des Staates beizutragen, nämlich durch Steuern und durch Kriegsdienste54 • Ob Rest einer naturrechtlich verstandenen Gleichheit, ob Zeugnis der langen Tradition des Gleichheitspostulats gerade auf dem Gebiete des Abgabenrechts - die Frage darf hier unentschieden bleiben, da die Apostrophierung eines "Gesetzes der Gleichheit" durchaus singulär geblieben ist. II. Die Landstände
Im scharfen Gegensatz zur Gleichheit der Untertanenrechte stellen sich die politischen Mitwirkungsrechte der Landstände dar; bei der Zusammensetzung der Ständeversammlungen waltete das Prinzip einer ausgewogenen Ungleichheit - allerdings in einer beträchtlichen Bandbreite unterschiedlicher Fortwirkung altständischer Grundsätze und differenzierter Gewichtung der Stände, bei der sich etwa folgende Abstufung in Richtung auf mehr Gleichheit feststellen läßt: 1. Eine grundsätzlich unterschiedliche Gewichtung der Stimmen der Standesherren und, teilweise, der Mediatisierten - neben den vom Regenten ernannten Mitgliedern - ergab sich je nach Einführung des in Mittel- und Norddeutschland überwiegenden Ein- oder des in Süddeutschland herrschenden Zweikammersystems55• Die Parität zwischen der Ersten und Zweiten Kammer sicherte hier diesen bevorrechtigten Gruppen einen maßgeblichen Einfluß, und sie hatte auch diese Funktion. Bei Auflagengesetzen war die Trennung so
Hannover 1833, Kap. I, § 3.
Kurhessen, Präambel. Kurhessen, Präambel. 53 Kurhessen, Präambel; Württemberg, Rede des Königs v. 15. 3. 1815 (Pölitz I, 1, S. 366). 51
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Art. 10.
Einkammersystem: Sachsen-Weimar-Eisenach, Sachsen-Coburg, Sach-
sen-Hildburghausen, Sachsen-Meiningen, Sachsen-Altenburg, MecklenburgSchwerin, Mecklenburg-Strelitz, Schwarzburg-Rudolstadt, SchwarzburgSondersh ausen, Hohenzollern-Sigmaringen, Liechtenstein, Reuß, Lippe-Detmold 1819 (nicht in Kraft getreten), Waldeck, Kurhessen, Braunschweig 1832. Zweikammersystem: Bayern, Baden, Württemberg, Ghztm. Hessen, Braunschweig 1820, Nassau, Sachsen, Hannover.
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beider Kammern allerdings gemildert; entweder wurden hier die Stimmen beider Kammern zusammengezählt, die Trennung also im Ergebnis aufgehoben56 , oder es wurde der Zweiten Kammer ein Vorzugsrecht dadurch eingeräumt, daß ihr das Gesetz zunächst zur Beratung vorzulegen war und sie die Vorlage dann an die Erste Kammer weiterzugeben hatte57 - also wohl nur im Falle der eigenen positiven Entscheidung und in der Form, die es nach dieser Entscheidung gefunden hatte; diese Variante wurde dann in den meisten Verfassungen dahin ergänzt, daß nach einer Ablehnung des von der Zweiten Kammer genehmigten Gesetzes durch die Erste Kammer der Gesamtschluß nach der Gesamtmehrheit der Stimmen in beiden Kammern gefunden wurde 58• Noch weitergehend konnten in Braunschweig die Stände nach der Landschaftsordnung von 182059 auch in anderen Angelegenheiten die Verbindung beider Sektionen - so hießen hier die Kammern - verlangen und haben davon wohl auch oft Gebrauch gemacht60 • 2. Die Vorzugsrechte der Zweiten Kammer bei der Steuergesetzgebung lassen erkennen, daß sich hier die altständische Verfassung mit ihrem Schwerpunkt im Steuerbewilligungsrecht fortsetzte, selbst dort, wo die Zusammensetzung der Zweiten Kammer nicht der der alten Ständeversammlung entsprach. Abgesehen von wenigen Ausnahmen, die auch hier geborene oder ernannte Mitglieder vorsahen81 , setzte sich die Zweite Kammer regelmäßig aus gewählten Deputierten, meist dreier Stände, zusammen. Insgesamt stärker ausgeprägt war das Wahlprinzip in den Einkammersystemen. Hier gab es nur ausnahmsweise geborene Mitglieder der Landstände, dann aber auch in deutlicher Minderzahl gegenüber den Deputierten82 • Im allgemeinen setzten sich hier die Stände doch ausschließlich aus Deputierten zusammen, wobei diese entweder gleichmäßig83 oder nach einem bestimmten Schlüssel64 auf die verschiedenen Stände verteilt waren. Nassau § 2. Bayern, Tit. VI,§ 18; Württemberg §§ 178, 181; Baden§ 60; Ghztm. Hessen Art. 67 li. 58 Württemberg § 181 Ziff. 3; Baden§ 61; Ghztm. Hessen Art. 67 III. 59 3. Tit., § 67. 80 Vgl. die "Entwicklung der hauptsächlichsten Motiven des Entwurfes der revidirten Landschaftsordnung" , den Ständen vorgelegt am 30. Sept. 1831, 1. Tit., 1. Abschn. Pölitz- Fn. 29 -, Bd. 1/2, S. 952. 81 So Württemberg § 133, für die sechs protestantischen Generalsuperintendenten, den Landesbischof und den amtsältesten Dekan katholischer Konfession sowie den Kanzler der Universität Tübingen. 82 So in Hohenzollern-Sigmaringen zugunsten der beiden fürstlichen Standesherren,§ 42; Liechtenstein § 3; Waldeck § 11; Kurhessen § 63. 63 Sachsen-Meiningen 1829, Art. 50; Sachsen-Altenburg § 167; Schwarzburg-Rudolstadt Art. 2; Schwarzburg-Sondershausen § 2; Lippe-Detmold § 3. 58 57
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3. In der Fortsetzung der auf die einzelnen Stände entfallenden Zahl der Deputierten verschränken sich altständische mit neuen Elementen. a) Die deutlichste Abkehr vom altständischen System vollzieht sich in der Aufhebung der Ständekurien - jeder Stand kann zwar seine Interessen entsprechend seinem Stimmgewicht zur Geltung bringen, kein Stand aber soll sich - negativ - durchsetzen können. Ein Bruch liegt auch darin, daß die Stimmen der einzelnen Stände nicht notwendig gebündelt sind, sondern sich Mehrheiten über die Standesgrenzen hinweg bilden können. b) Altständisch bleibt hingegen die Zuordnung der Deputierten zu einem bestimmten Stand - er muß dem Stand angehören, dem er auf dem Landtag zugerechnet wird, und kann nur von den Angehörigen dieses Standes gewählt werden. Eine bemerkenswerte Ausnahme findet sich in der Braunschweiger Landschaftsordnung von 1832: Ein Drittel der Abgeordneten ist gemeinschaftlich von den drei Standesklassen zu wählen65 • In dieser Zuordnung finden sich freilich Unterschiede - die deutlichste Beziehung zum alten System besteht da, wo durch Zubilligung einer gleichen Anzahl von Deputierten je Stand versucht wird, das alte Verhältnis der Gleichheit unter den Ständen fortleben zu lassen88• Einen Schritt weiter tun jene Konstitutionen, die den einzelnen Ständen unterschiedliche Deputiertenzahlen zuweisen87 , wobei sogar versucht wird, zwar nicht beim Adel und der Geistlichkeit, wohl aber bei den übrigen Ständen die Deputiertenzahl auf den jeweiligen Bevölkerungsanteil abzustimmen88• c) Nicht immer wurde es für eine Vertretung aller berücksichtigungswerten Interessen als ausreichend empfunden, wenn sich der Landtag aus den herkömmlichen Ständen zusammensetzte, evtl. mit Hinzutritt der Bauern. So wurden in Sachsen den 20 Abgeordneten der Rittergutsbesitzer und den je 25 Abgeordneten der Städte und des Bauernstandes fünf Vertreter des Handels- und Fabrikwesens hinzugesellt69. Bemerkenswert ist dabei zunächst, daß offenbar die städtischen Abgeordneten nicht ausreichend erschienen - nach Zahl und Qualität 84 Sachsen-Weimar-Eisenach § 6; Sachsen-Hildburghausen § 7; SachsenCoburg § 35; Braunschweig 1832, § 60. 85 § 60: von 48 Abgeordneten waren das 16 Abgeordnete. 88 s. Fn. 63; in etwa auch Kurhessen § 63. 87 s. Fn. 64. 68 Hohenzollern-Sigmaringen, E. 1832, § 42; vgl. ferner die Zusammensetzung der 2. Kammer in Bayern, Tit. VI, §§ 8, 9; in Baden Verteilung der 63 Deputierten nach der Steuerlast auf Städte und Ämter. 69 § 68.
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- die Interessen der Wirtschaftszweige Handel und Fabrikwesen zu vertreten. Auch die ständische Terminologie paßte hier offenbar nicht mehr - es war die Rede von "Vertretern" statt von "Abgeordneten" wie bei den drei Ständen. Und schließlich gab es auch Schwierigkeiten hinsichtlich des Bestellungsmodus dieser Vertreter - das Wahlgesetz sah dafür kein Verfahren vor. In Braunschweig suchte man 1820 das Problem einer garantierten Vertretung der in den Städten zu repräsentierenden Interessen dadurch zu lösen, daß man die auf die Stadt Braunschweig entfallende Quote von Abgeordneten verteilte auf den Stadtdirektor kraft Amtes, zwei Deputierte aus den "Großhändlern, Banquiers und Fabrikherren" und die restlichen drei Deputierten aus der "übrigen Kaufmannschaft, den kleineren Fabrikanten, Rentirern, Künstlern, Handwerkern und andern bürgerliche Nahrung treibende Personen" 70 • d) Die Verankerung der landständischen Verfassung im Grundeigentum, wie sie etwa die Lippe-Detmoldische Verfassung feierlich bekräftigte71 , wie sie sich aber durchweg auch sonst findet, nimmt zwar einen altständischen Gedanken auf; es wird damit aber nicht die Bindung der Landstandschaft an bestimmte Güter, wie sie für die Rittergüter fortbesteht 12, allgemein übernommen, sondern Grundbesitz begründet nur - neben anderen Voraussetzungen - die persönliche Landtagsfähigkeit, das passive Wahlrecht, daneben auch das aktive. So wird nun die Landtagsfähigkeit des Bauernstandes begründet73 • Andererseits setzt die Zugehörigkeit zur Ritterschaft aus demselben Grunde - Zurückführung allein auf den Grundbesitz - bisweilen nur den Besitz eines Rittergutes, nicht aber adlige Herkunft voraus74 • Deutlicher knüpfen die Verfassungen bei der Behandlung des Bürgerstandes wenigstens an die altständische Begriffswelt an. Es fällt auf, daß nur in den vier frühen Verfassungen von Waldeck 1816, SachsenWeimar-Eisenach 1816, Sachsen-Hildburghausen 1818 und Lippe-Detmold 1819 und in den späteren von Sachsen-Meinirrgen 1829 und Schwarzburg-Sondershausen von 1830 der Bürgerstand ausdrücklich als solcher erwähnt ist. Einige andere sprechen von den "Bürgern der 70
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§ 76.
Erneuerte Landschaftsordnung v. 25. April1820, § 11.
§ 2: "Diese Volksvertretung ruhet auf Grundeigenthum ...".
Sogar in der Form von Virilstimmen: Braunschweig 1820, § 3, u. 1832,
73 Schwarzburg-Rudolstadt Art. 2; Schwarzburg-Sondershausen § 2, Ziff. 3; Waldeck § 13; Bayern, Tit. VI, § 7; Sachsen-Hildburghausen, §§ 6, 13; Sachsen § 76; Sachsen-Altenburg §§ 163, 191, 196; Liechtenstein, § 4 S. 2; Braunschweig 1832, § 78. 74 Sachsen-Coburg § 39; Sachsen-Hildburghausen § 11; Sachsen-Meiningen § 67; Sachsen § 25; Sachsen-Altenburg § 184. Vgl. hingegen Württemberg § 133: "Mitglieder des ritterschaftliehen Adels"; ähnlich Baden§ 27 und Kurhessen§ 63.
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Städte" 75 , "Klasse der Stadtbewohner" 78 , "Einwohner von Städten" 77 • Regelmäßig aber wird schlicht von "Abgeordneten der Städte" 78 gesprochen, selbst in solchen Konstitutionen, die gleich anschließend den Bauernstand anführen79 • Ob eine Abneigung bestand, den Terminus "Bürgerstand" zu gebrauchen, oder - was ich eher annehmen möchte -ob aus Tradition von der Standschaft der Städte ausgegangen wird, muß ich offenlassen. Als Beispiel für eine Landstandschaft, die nicht dem Bürgerstand als solchem, sondern den Städten zugesprochen wurde, und zwar so, daß die landtagsberechtigten Städte einzeln in der Konstitution aufgeführt wurden, sei etwa das Großherzogtum Hessen-Darmstadt erwähnt. Hier entsandten die Städte Darmstadt und Mainz je zwei Deputierte, die Städte Gießen, Offenbach, Friedberg, Alsfeld, Worms und Bingen je einen Deputierten, insgesamt, wie die Konstitution sich ausdrückt, zehn Deputierte "derjenigen Städte, welchen, um die Interessen des Handels oder gute achtbare Erinnerungen zu ehren, ein besonderes Wahlrecht zusteht" 80 • Die "achtbaren Erinnerungen" bezogen sich auf die reichsständische Vergangenheit. Es liegt auf der Hand, daß eine derartige Verteilung der Deputiertensitze der Relation der Bevölkerungszahlen in diesen Städten nicht entsprach. In einigen Staaten versuchte man allerdings, bei der Wahlbezirkseinteilung auf die Bevölkerungszahl Rücksicht zu nehmen81 , ohne diese zu einem absoluten Maßstab zu machen. Eine Ausnahme bildet wohl nur die bayerische Verfassung von 1818, die schon davon absieht, die Gesamtzahl der Deputiertensitze festzulegen, sondern nur die allgemeine Aussage macht, daß auf je 7 000 Einwohner ein Deputierter entfallen soll; an der so ermittelten Deputiertenzahl werden dann etwa die Städte zu 25 °/o beteiligt, ohne daß die Verfassung schon die städtischen Wahlbezirke festlegt. Sie läßt so eine recht genaue Abstimmung der städtischen Deputiertensitze auf das Verhältnis der Bevölkerungszahlen in den Städten zu. Sachsen-Hildburghausen § 7. Sachsen-Meiningen, Wahlgesetz v. 23. August 1829, Art. 5; SachsenAltenburg § 163; Bayern, Tit. VI, § 9: "Klasse der Städte und Märkte"; Sachsen-Meiningen Art. 50: "Klasse der Städte". 77 Schwarzburg-Rudolstadt Art. 2. 78 Sachsen-Coburg § 35; Schwarzburg-Sondershausen § 2; Bayern, Tit. VI, § 7; Baden § 33; Württemberg § 133; Braunschweig 1820, § 2; Ghztm. Hessen Art. 53; Sachsen § 68; Sachsen-Altenburg § 167; Kurhessen § 63; Hannover, E. 1832, § 22; Braunschweig 1832, § 60. 79 Sachsen-Altenburg § 167. 80 Art. 53. 81 Beispiele: Sachsen-Meiningen Art. 65; Sachsen-Weimar-Eisenach §§ 11, 12; Sachsen, Wahlgesetz v. 24. Sept. 1831, §§ 44, 45; Baden § 33 und Wahlordnung v. 23. Dez. 1818, §§ 34, 35. 75
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4. Eine deutliche Veränderung gegenüber altständischen Prinzipien zeigt sich im Modus der Bestellung zum Standesvertreter. a) Das Prinzip der Bestellung durch Wahl setzt sich bis in die Adelsvertretung hinein durch. Im allgemeinen wird die Wahl ad hoc, also für die Landtage in einem bestimmten Zeitraum, etwa drei oder sechs Jahre, vorgenommen, doch findet sich einerseits noch die Wahl auf Lebenszeit82, andererseits die Ausübung des Repräsentationsrechtes kraft Amtes, also als Ausfluß einer körperschaftlichen Organstellung83 . Schließlich begegnet als Mittellösung auch die Wahl aus dem Kreise städtischer Magistratspersonen neben der Wahl aus der übrigen Bürgerschaft84. Das Fortwirken altständischer Rechtsformen ist hier unverkennbar. b) Das aktive Wahlrecht kam nur Haus- oder Grundeigentümern zu, von denen meist auch noch der Nachweis eines namhaften Einkommens oder der Zahlung direkter Steuern verlangt wurde. Diese Schranke wurde allerdings für das aktive wesentlich niedriger angesetzt als für das passive Wahlrecht, und zuweilen zeigte sich sogar das Bestreben, den Kreis der aktiv Wahlberechtigten möglichst weit zu ziehen; so etwa in Sachsen-Weimar-Eisenach, wo auch "Kleinhäusler von der Befugnis", sich an der Wahl der Wahlmänner zu beteiligen, "keineswegs ausgenommen" sein sollten85. Von einer das gesamte Staatsgebiet überspannenden, wenigstens ständebezogenen Gleichheit der Wahlrechtsvoraussetzungen kann allerdings keineswegs überall die Rede sein - eine Reihe von Verfassungen setzt in den einzelnen Wahlkreisen die Steuerschranke unterschiedlich hoch an: so findet sich in Sachsen-Altenburg eine Skala von 31,12- 13 Talern in den Städten, von 6h- 25 Talern in den Ämtern86 -. Grund für solche differenzierenden Regelungen dürfte die regional unterschiedliche Wirtschaftskraft sein, die sich nicht in den Wahlrechtsvoraussetzungen auswirken sollte. Die formal unterschiedlichen Voraussetzungen dienen hier also der Korrektur eines Ungleichgewichts. c) Einen bemerkenswerten Schritt zur Lösung von den vermögens-, einkommens- und steuerbezogenen Voraussetzungen des passiven Wahlrechts unternimmt man in Kurhessen 1831. Hier konnte die Hälfte der städtischen und der bäuerlichen Abgeordneten unter der alleinigen Voraussetzung allgemeiner Wählbarkeit - also ausreichendes Alter, 82 Waldeck § 10 (für die Repräsentation des Bauernstandes und der Stadt Arolsen). 83 WÜrttemberg § 133 (für die Geistlichen und den .Kanzler der Universität Tübingen); Braunschweig 1820, § 11; Liechtenstein § 4; Waldeck § 12. 84 Braunschweig 1820, § 11; Sachsen-Coburg, § 35, Ziff. 2, 3. ss Grundgesetz 1816, § 19. 86 § 196.
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Geschäftsfähigkeit, keine Vorstrafen - gewählt werden87• Es ging da allerdings nur um die Erweiterung des Kreises der Wählbaren; eine Entsprechung in geringeren Anforderungen an die aktiv Wahlberechtigten oder die Wahlmänner findet sich nicht. d) Städtische und bäuerliche Deputierte wurden mittelbar gewählt. Dieses allgemein geltende Prinzip hatte zunächst praktische Gründe: da eine Kandidatenaufstellung nicht vorgesehen war - wer hätte sie mangels politischer Parteien auch vornehmen sollen? -, mußten sich zur Wahl des Deputierten die Wahlmänner versammeln, um - erforderlichenfalls in mehreren Wahlgängen - zu einer Mehrheitsbildung zu gelangen. Das setzte voraus, daß die Zahl der Wahlmänner klein blieb. Die württembergische Verfassung setzte das Verhältnis der aktiv wahlberechtigten Bürger zu den Wahlmännern auf 7: 1 fest 88 ; da die wahlberechtigten Bürger nur etwa ein Fünftel der Einwohner einer Stadt ausmachten, ergab sich so ein Verhältnis von ca. 35 Einwohnern zu einem Wahlmann. Andernorts wurde das Verhältnis anders bestimmt89, doch dabei offenbar darauf geachtet, die zur Wahl eines Wahlmannes bestimmten Vorwahlabteilungen so klein zu halten, daß sie in einer Vorwahlversammlung zusammenkommen konnten, um dort den Wahlmann zu bestellen. Die so entsprechend der Zahl der Vorwahlberechtigten bestimmten Wahlmänner hatten dann den Deputierten zu wählen. Da die Deputiertenzahl sich nicht nach der Vorwähler- und Wahlmännerzahl bestimmte, sondern verfassungsmäßig festgesetzt war im Verhältnis zu den Zahlen der übrigen Stände, ergab sich so in den einzelnen Wahlkreisen ein unterschiedliches Zahlenverhältnis zwischen Deputiertenmandat und Wählern. Dies war die schon angedeutete Situation in den Staaten, in denen die einzelnen Städte Landstandschaft besaßen. Ein spiegelbildliches Modell ist seltener anzutreffen: dort setzte die Verfassung das Verhältnis zwischen dem Deputiertenmandat und der Zahl der Wahlmänner fest; die Wahlmänner wurden dann auf die Vorwähler repartiert90 • Das ergab innerhalb des Wahlkreises gleiche, von Wahlkreis zu Wahlkreis aber unterschiedlich große Vorwählerabteilungen. 87 88
Verfassung 1831, § 66. § 138.
Sachsen-Weimar-Eisenach § 18: ein Wahlmann je 50 Häuser; Baden, Wahlordnung v. 23. Dez. 1818, §§58 ff.: ein Wahlmann je 500 Einwohner, in den bevorrechtigten Städten aber je 300 Einwohner; Sachsen-Meiningen § 69: Feste Zahlen für die einzelnen Städte, in Landgemeinden ab 25 Häusern ein Wahlmann, ab 75 Häusern zwei und je weitere 50 Häuser ein weiterer; Sachsen-Altenburg, Wahlgesetz v. 29. April 1831, § 29: die Bewohner von je 15 Häusern bilden eine Wahlabteilung. 90 Schwarzburg-Rudolstadt Art. 5; Ghztm. Hessen Art. 57; Kurhessen, Wahlgesetz v. 16. Febr. 1831, § 12: in den Städten, die selbst einen oder mehrere Abgeordnete zu entsenden hatten, je Abgeordneter 16 Wahlmänner, in den übrigen Städten jedoch je 500 Seelen ein Wahlmann. 89
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Schließlich gab es - in Kurhessen - auch noch ein vermittelndes Modell für die Wahl der Landgemeindeabgeordneten, die in einem dreifachen Wahlgang ermittelt wurden. Im ersten Wahlgang bestimmten je 500 Vorwahlberechtigte die sog. Gemeindebevollmächtigten, diese im zweiten Wahlgang unter Hinzutritt der distriktansässigen Gutsbesitzer eine feste Anzahl von Wahlmännern und diese wiederum im dritten Wahlgang die verfassungsmäßige Zahl der Deputierten°1• Im ersten und dritten Wahlgang wurde so das gleiche Stimmengewicht gewährleistet. Recht unterschiedliche Qualifikationen finden sich für die Wahlmänner, auch über die allgemeinen Voraussetzungen des Wahlrechts hinaus. So wurden in Württemberg zwei Drittel der Wahlmänner ohne Wahl, nämlich unmittelbar auf Grund ihrer Zugehörigkeit zu den Höchstbesteuerten, bestimmt; allein das letzte Drittel wurde von den Vorwählern gewählt02 • In Kurhessen konnten die städtischen Wahlmänner nur aus einem durch Höchstbesteuerung qualifizierten Kreis gewählt werden93 • Die Wahlsysteme aller Vormärzverfassungen zeigen, trotz des einen oder anderen Ansatzes zu mehr Gleichheit in der politischen Berechtigung der Staatsbürger, daß diese Konstitutionen nicht auf die politische Gleichheit der Bürger hin konzipiert sind, sondern daß es ihnen um die Gleichheit, das Gleichgewicht oder wenigstens ein ausgewogenes Verhältnis unter den Ständen oder, wie sie häufig genannt werden, den Klassen der Bevölkerung zu tun ist. Sämtliche staatsbürgerlichen Interessen sollen sich geltend machen können, aber nicht unbedingt entsprechend der Zahl der Interessenten. Dies ist eine Ordnung der politischen Ungleichheit, einer Ungleichheit allerdings, die nicht mehr unabänderlich erscheint; denn nur in Resten noch ist sie geburtsständisch bestimmt, im wesentlichen aber durch Grundbesitz, Vermögen und Einkommen. Somit verschließt sie dem einzelnen nicht mehr grundsätzlich den Zugang zu politischer Berechtigung. 111. Die Volksrepräsentation
Der ungleichen Verteilung politischer Rechte, wie sie sich als Konsequenz des ständisch strukturierten Vertretungssystems ergibt, stellen die Konstitutionen durchweg die Lösung des einzelnen Abgeordneten aus der Bindung an seine Wähler und damit an seinen Stand gegenüber. Dies geschieht in unterschiedlicher Intensität. Die Formeln reichen von der Mahnung, das Wohl des ganzen Landes bei Abstimmungen zu 91 92 93
Wahlgesetz v. 16. Febr. 1831, §§ 39 ff. 139, 140. Wahlgesetz 1831, § 14.
§
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beachten9C, über den Ausschluß des, modern gesprochen, "imperativen Mandats" 95 bis hin zur Betonung des Prinzips der Volksrepräsentation98. Zu diesem bekennen sich die meisten Konstitutionen unmittelbar. Dabei werden zwar unterschiedliche Begriffe verwandt, die aber sämtlich die Gleichheit unter den Repräsentierten zum Inhalt haben. Begriffe wie "Gesamtheit der Untertanen" 97, "Gesamtheit der Staatsbürger und Untertanen" 98, "Gesamtheit der Landeseinwohner" 99 gehen dabei stärker auf den einzelnen als Element zurück und betonen so den staatlichen Ursprung der Gemeinsamkeit. Eher auf eine vorgegebene, nicht vom Staat abgeleitete Einheit verweisen Bezeichnungen der Landstände als "Repräsentanten des ganzen Landes" 100, "Repräsentanten des Volkes" 101 oder gar als "Volksvertreter" 102 • Es finden sich aber auch die einzelnen und die Gesamtheit kombinierende Formeln wie "Vertreter der sämtlichen Untertanen und des ganzen Landes" 103 und schließlich auch die Staatseinheit betonende Bezeichnungen wie "Repräsentanten des ganzen Königreichs" 104 , "Vertretung des Fürstentums" 105. Der Repräsentationsgrundsatz hatte in den Verfassungen der Vormärzzeit sicher die Funktion, durch die Fiktion politischer Gleichberechtigung aller Staatsbürger diese gerade auszuschließen. Er ermöglichte über das Verbot des "imperativen Mandats" wohl auch, die Abgeordneten nicht nur dem Einfluß ihrer Wähler zu entziehen, sondern 94 Sachsen-Weimar-Eisenach § 67; Waldeck § 26; Bayern, Tit. VII, § 25; Württemberg § 155; Ghztm. Hessen Art. 88; Lippe-Detmold § 2; SachsenCoburg § 37; Sachsen-Altenburg §§ 162, 199; Liechtenstein § 13; Hannover, E. 1831, § 30; Braunschweig §§ 94, 96; Hohenzollern-Sigmaringen, E. 1832,
§ 69.
95 Sachsen-Weimar-Eisenach § 67; Baden § 48; Württemberg § 155 li; Sachsen-Hildburghausen § 16; Ghztm. Hessen Art. 61; Sachsen-Coburg § 37; Sachsen § 81 I 2; Kurhessen § 73; Hannover, E. 1831, § 30; HohenzollernSigmaringen, E. 1832, § 69. 96 Schwarzburg-Rudolstadt Art. 1; Lippe-Detmold § 2. Besonders eindringlich auch Kap. III, 1 des Entwurfs einer kurhessischen Verfassungsurkunde v. Febr. 1816: "Besondere Repräsentationen der Prälaten, der Ritterschaft, der Städte und Bauern hören, zur Vermeidung alles Anlasses zum Zwiespalt der Stände, für die Zukunft auf. Sämtliche Landesdeputierte zusammen machen die Stände aus, und jeder Landesdeputierte repräsentiert die Unterthanen ohne Unterschied des Standes." 97 Schwarzburg-Sondershausen § 1. 98 Sachsen § 78; Sachsen-Altenburg § 162. 99 Braunschweig §57. 100 Sachsen-Coburg § 37; Württemberg § 155. 101 Schwarzburg-Rudolstadt Art. 1. 102 Sachsen-Weimar-Eisenach §§ 6, 79; Sachsen-Meiningen 1824, § 15; Sachsen-Meiningen 1829, Art. 49. 103 Sachsen-Hildburghausen 1818, §§ 1, 6. 1o4 Hannover, E. 1831, § 30. 105 Hohenzollern-Sigmaringen, E. 1832, § 41; Lippe-Detmold § 4.
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sie von Seiten der Regierung vielleicht noch stärkeren Einflüssen auszusetzen. Aber er hatte doch nicht nur diese Funktion, sondern eine darüber hinausweisende, wenn auch vielleicht nicht unmittelbar politisch wirksame Bedeutung, und zwar nach zwei Richtungen: a) Wo die Abgeordneten zu Vertretern der Gesamtheit der Staatsbürger erklärt werden, wird damit regelmäßig auch die Feststellung verbunden, daß sie nicht Vertreter ihres Standes seien. Das bedeutet, daß die Stände im herkömmlichen Sinne in den Landständen der Vormärzzeit nicht mehr vertreten sind, daß sie damit aber auch verfassungsrechtlich, auf den Gesamtstaat bezogen, nicht mehr handlungsfähig sind. b) Wenn die Verfassungen sich auf der anderen Seite - mit wenigen Ausnahmen - nicht damit begnügen, die Bindung der Abgeordneten an ihren Stand auszuschließen- was dem Repräsentationsgrundsatz an sich Genüge getan hätte-, sondern das "Volk" 106 oder die "Gesamtheit der Staatsbürger" 107 als den eigentlich Vertretenen bezeichnen, so führen sie damit nicht nur das "Volk" als Rechtsbegriff in das deutsche Verfassungsrecht ein, sondern sie erklärenes-oder die "Gesamtheit der Staatsbürger" -damit zum Verfassungsrechtssubjekt. Dabei hat diese Anerkennung dort, wo sie sich auf die "Gesamtheit der Staatsbürger" bezieht, konstitutive, wo sie das Volk als vorgegeben voraussetzt, eher deklaratorische Bedeutung. Dieses Verfassungsrechtssubjekt wird allerdings - zivilrechtlich gesprochen - als nicht mündig angesehen und daher an der eigenen Wahrnehmung seiner Rechte weitgehend gehindert und an der Bestellung seiner Vertreter nur beschränkt beteiligt. Aber diese Vertreter beziehen ihre Sachlegitimation aus den Rechten der Staatsbürgergesamtheit, des Volkes, an denen eben alle Glieder dieser Gesamtheit gleichen Anteil haben108. Es sind dies einerseits die politischen Mitwirkungsrechte. Zum anderen bezieht sich die Funktion der Stände aber auch auf die allgemeinen staatsbürgerlichen Rechte. Sie wird in den Konstitutionen vielfach angesprochen, so, wenn den Ständen die Aufgabe zufallen soll, die Einhaltung der Verfassung zu überwachen, Freiheit und Eigentum zu schützen, die Unabhängigkeit der Justiz und die Wahrung der Justiz106 Sachsen-Weimar-Eisenach §§ 6, 79; Sachsen-Meiningen 1824, § 15; Sachsen-Meiningen 1829, Art. 49: "Volk in seiner Gesammtheit"; Schwarzburg-Rudolstadt Art. 1. 101 Vgl. Fußnoten 97 bis 99. 108 Vgl. K. H. Hofmann, in: Rotteck-Welcker, Staats-Lexikon, Bd. 12, 2. Auf!. 1848, Art. "Volk, Volksthum": Volkswille ist "Wille der Gesammtheit". Zum Zusammenhang zwischen dem Abbau von Standesschranken und der Entwicklung des modernen Staatsvolksbegriffs, s. E. K. Francis, Art. "Volk", in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, 6. Auf!., Bd. 8, 1963, Sp. 281 - 290, bes. 285.
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grundrechte zu kontrollieren, schließlich auch im Recht, Petitionen der Staatsbürger anzunehmen und sich zu eigen zu machen. Die Staatsbürgerrechte werden damit politisch abgesichert, wenn auch wegen der politischen Ungleichheit der Staatsbürger nur unvollkommen. Die Gleichheit dieser Rechte aber begründet die Einheit unter den Bürgern. Das drücken die Konstitutionen etwa auch dadurch aus, daß sie die Bürger unter einer Stammesbezeichnung zusammenfassen, sie als "Bayern", "Württemberger", "Badener" oder "Hessen" ansprechen. Verbreitet findet sich dann, wenn auch nicht in den Konstitutionen selbst, für die Staatsbürgerrechte die Bezeichnung "Volksrechte" 109 • Sie ist schließlich auch in die "Grundrechte des deutschen Volkes" von 1848 eingegangen. IV. Zusammenfassung 1. Die "Gleichheit" in der Gesetzgebung des ausgehenden 18. Jahrhunderts ist in erster Linie die "Gleichheit vor dem Gesetz" . 2. Die Aufklärungskodifikationen verkörpern diesen Grundsatz. Die Einbeziehung der Stände ersetzt deren politische Rechte durch vom Staat abgeleitete und daher unter dem Vorbehalt der Staatsräson stehende Rechte. 3. Gleichheit vor dem Gesetz begründet zwar keine "Gleichberechtigung", verpflichtet den Staat auch nicht zur Gleichbehandlung. Sie eröffnet aber doch die Möglichkeit einer "Gleichheit von oben" und bedeutet darüber hinaus, daß der Staat in seiner Gesetzgebung zunächst von der Gleichheit der Bürger auszugehen und Ungleichheiten nur dort zu respektieren hat, wo sie sich entweder auf einen besonderen Rechtstitel stützen oder sich aus ihrer Nützlichkeit für das aufklärerisch verstandene Gemeinwohl rechtfertigen. 4. Dieses Verhältnis von Regel und Ausnahme schlägt sich nieder in der sorgfältigen Grenzbestimmung gegenüber Standesvorrechten und sonstigen Privilegien und in Vorbehalten gegen die Ausdehnung oder Neubegründung von Privilegien. 5. Eine Einebnung der Standesschranken zeigt sich besonders zwischen dem Adel und dem gehobenen Bürgertum. 6. Im Prozeß der "Aufklärung" mittels eines vom Staat getragenen Bildungswesens deutet sich die Überwindung der Ständeordnung und die Begründung politischer Rechte jedenfalls als Fernziel an. 7. Gleichheit vor dem Gesetz wirkt sich besonders in Bereichen der unmittelbaren Berührung staatlicher Interessen aus, so etwa im Straf- und Strafverfahrensrecht. 109 Vgl. dazu meinen Art. "Grundrechte" in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 11, 1975, insbes. S. 1075 ff.
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8. Auch darüber hinaus eröffnen sich jenseits der ständischen Rechtsunterschiede weite Bereiche einer von oben geschaffenen Gleichheit in der Toleranzgesetzgebung, der Einführung der Zivilehe, der Reform des Unehelichen- und des Kindschaftsrechts, die insgesamt die "Gleichheit vor dem Gesetz" auch als Staatsmaxime für den Inhalt gesetzlicher Regeln erkennbar werden lassen. 9. Die Vormärzkonstitutionen begnügen sich nicht mehr mit der Formulierung von Regentenpflichten, sondern sie stellen dem Staat der Regierung - den Staatsbürger als Träger von Rechten gegenüber. Diese Rechte sind zwar für alle Staatsbürger gleich, sie sind aber nicht Ausfluß eines allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes, sondern konkret auf Einzelsituationen bezogen. 10. Die Zubilligung politischer Rechte an die Staatsbürger schlägt sich außer im Petitionsrecht nieder in den Landständen. In der rechtlichen Ausgestaltung der landständischen Vertretung verschränken sich altständische Prinzipien mit Grundsätzen einer ausgewogenen Interessenrepräsentation. Dies schließt eine politische Gleichberechtigung der Staatsbürger aus. 11. Kraft des Repräsentationsprinzips vertreten die Abgeordneten der Stände das Volk oder die Gesamtheit der Staatsbürger. Diese werden damit als Verfassungsrechtssubjekt anerkannt. 12. Mit der Verweisung auf das "Volk" oder die Gesamtheit der Staatsbürger wird in den Repräsentationsartikeln auf eine Gesamtheit von Personen verwiesen, die mit gleichen staatsbürgerlichen Rechten ausgestattet sind. So ergibt sich eine Beziehung zwischen der Gleichheit dieser Rechte und der Homogenität des Volkes, die eine spätere Erweiterung und Verallgemeinerung der staatsbürgerlichen zu Volksrechten vorbereitet.
Aussprache Grawert: Meine Bemerkungen betreffen in erster Linie das Thema "Gleichheit" insgesamt, das Sie, Herr Kleinheyer, durch die Kodifikationen und die frühen Konstitutionen hindurch verfolgt haben. Sie haben bezeichnenderweise Gleichheit zunächst im Sinn von Bindung aller an das Gesetz erörtert, also als Untertanengleichheit: die Gleichheit der subiecti unter dem imperator. Diese Gleichheit meint allerdings etwas anderes als das, was man heute mit dem Begriff bezeichnet. Anders als heute ist jene Gleichheit aus der Sicht der übergeordneten Instanz definiert. Ich würde für diesen Vorgang den Begriff Vereinheitlichung vorziehen. Vereinheitlichung beruht in der Tat auf Merkmalen, die Sie der Steuergewalt, der Strafgewalt usw. entnommen haben. Sie hebt auf den Gehorsam gegenüber dem Landesherrn ab, konstituiert insoweit aber keinen materiell gehaltvollen Rechtsstatus. Wenn es zutrifft, daß seinerzeit Gleichheit nicht Gleichberechtigung im heutigen Sinne meint, dann würde das im ersten Teil des Vortrages Dargelegte späteren Gleichheitsforderungen nicht entsprechen. Was die Gleichheitssätze der frühkonstitutionellen Verfassungen anbetrifft, so haben Sie die politische Gleichheit in den Vordergrund gerückt. Ihre Übersicht hat insoweit aber wohl ergeben, daß vorherrschend Ungleichheiten, Statusunterschiede waren. Der gleichberechtigte Staatsbürger war in dieser Hinsicht noch nicht von Verfassungs wegen konstituiert, sondern konnte allenfalls als Ideal empfunden werden. Das ergibt insgesamt ein vom heutigen Gleichheitsverständnis abweichendes Bild: vor den Konstitutionen die vereinheitlichte Untertänigkeit, in den Konstitutionen ein Hintaohalten der Gleichberechtigung - im Hintergrund die Vielfalt rechtlicher und sozialer Stände. Eine Anmerkung noch dazu: Die politischen Ungleichheiten des Zensus auf Landesebene, die vorgetragen worden sind, haben ihre Entsprechungen auf der Kommunalebene. Auch dort geht es - etwa in den preußischen Rheinlanden - um die Fragen, wer mitwirken können soll, wie die Mitwirkung ständeteilend zu differenzieren, wie der Vorrang des Grundbesitzes zu sichern oder abzuschwächen ist und in diesem Zusammenhang insbesondere um den bürgerspezifischen Maßstab der Gewerbesteuer. Also auch dort Ungleichheiten - Gleichheit nur so weit, wie drängenden Forderungen nachgegeben werden muß.
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Kleinheyer: Ich muß Ihnen natürlich völlig darin zustimmen, daß wesentlich die Ungleichheit die politischen Rechte der frühen Konstitutionen prägt. Nur ist diese Ungleichheit zwar ein Prinzip, das sich bei näherem Hinsehen ergibt. Es ist aber nicht ein Prinzip, das man auch reklamehart verkündet, sondern es wird dies verbrämt, und deswegen habe ich dieses kurhessische Beispiel gebracht, mit Gleichheit auf verschiedenen Ebenen, die aber natürlich im entscheidenden Punkt dann doch einer Ungleichheit weicht, um die Gleichheit gerade auszuschließen. Diese Verfassungen sind sicherlich ein Mittel des Ausschlusses der politischen Gleichheit in den Volksvertretungen. Oder vielleicht kann man sagen: es geht nicht um Gleichheit der Einzelnen, sondern es sind andere Faktoren, unter denen man Gleichheit herstellen möchte. Etwa wirtschaftliche Faktoren; die Beteiligten am Wirtschaftsleben, am Wirtschaftsprozeß, die nicht als Personen gesehen werden, sondern als Gruppe, als Klasse oder wie man es nennen will, unter ihnen soll Gleichheit oder jedenfalls eine gewisse Ausgewogenheit herbeigeführt werden. Insofern kann man schon von einer politischen Gleichheit, aber eben nicht in unserem Sinne sprechen. Was nun die Gleichheit der Bindung angeht, so ist diese selbstverständlich eben Gleichheit vor dem Gesetz. Ich nenne dies Gleichheit von oben, aber man darf nicht verkennen, daß diese von oben hergestellte Gleichheit eine Vereinheitlichung bewirkt. Diese geht ja sehr früh los: wenn man einmal die Vereinheitlichungsbestrebungen im Prozeßrecht und über die Territorien hinweg betrachtet, so ist die ganze Gesetzgebung des 18. Jhs. schon eine Vereinheitlichungsgesetzgebung, und wenn man sie in ihrem Ergebnis wertet, dann schafft sie eben doch schon in einem weiten Bereich eine Gleichheit, auf der sich dann die bürgerliche und politische Gleichheit des 19. Jhs. entwickeln kann. Viele Probleme der Ungleichheit sind bereits weggeräumt durch diese Gleichheit von oben. Insofern gibt es eben doch eine Beziehung von dieser- wie ich Ihnen durchaus zugeben muß- ganz anders gearteten Gleichheit her. Baumgart: Sie hatten, Herr Kleinheyer, auch das Stichwort ErziehungsprozeR genannt. Man sollte also in Rechnung stellen, daß es um einen von der Aufklärung eingeleiteten Prozeß geht, der historisch einen längeren Entwicklungszusammenhang umfaßt. Dieser ist nicht rein aus der Gegenwartsperspektive zu betrachten, sondern es handelt sich um einen über 50 Jahre und noch länger dauernden Vorgang, der auf bestimmten Voraussetzungen beruht. Von dort her stellt sich die Frage, was auslösend sei. Herr Kleinheyer hat dazu, glaube ich bereits einige Argumente beigebracht. Vielleicht sollten wir dann in der Diskussion fortfahren. Dietrich: Ich bin mit der Argumentation, wie sie bis jetzt vorgebracht worden ist, noch nicht so ganz glücklich, muß allerdings 3 Der Staat, Beiheft 4
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offen gestehen, daß ich zunächst einmal ins Unreine sprechen muß. Wenn man von Gesetzesinterpretation bzw. Interpretation von Verfassungstexten ausgeht oder die Suarezschen Interpretationen zugrunde legt, dann ist das alles schlüssig. Wenn man aber hinter die Dinge zu schauen versucht, würde m. E. doch manches ein klein wenig anders aussehen können. Ich denke z. B. jetzt daran, um ein erstes Beispiel zu nehmen, daß in den politischen Testamenten etwa Friedrichs des Großen, ganz besonders in dem von 1768, noch der Begriff Gleichheit einen sehr viel konkreteren Inhalt hat als Herr Grawert zugeben möchte. Ich denke da an den berühmten Passus in diesem Testament über die Steuergesetzgebung, in der Friedrich der Große die Steuerleistung unabhängig macht von der beruflichen oder ständischen Zugehörigkeit des einzelnen Untertanen, sondern sie absolut nur auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit abgestimmt wissen will, wenn er etwa sagt, daß ein Mann, der einen Taler verdient, unmöglich so viel Steuern zahlen kann wie einer der hundert Taler verdient; derjenige der hundert Taler verdient, muß nach seinen Kräften zu den Staatslasten beitragen, während derjenige, der einen Taler verdient, freizustellen ist von steuerlichen Verpflichtungen. Das wäre also ein Begriff der Gleichheit, der dem des 19. Jh.s in dieser Beziehung wohl doch noch etwas näher steht, als das, was Sie, Herr Grawert, meinten. Ein anderes Beispiel aus dem Vortrag von Herrn Kleinheyer: Sie haben immer wieder betont, daß die einzelnen konstitutionellen Verfassungen des frühen 19. Jh.s dieses Problem ganz verschieden angehen und ganz verschieden lösen. Da muß man sich, glaube ich, die Frage stellen, ob das nicht zum guten Teil zusammenhängt mit dem politischen Kräfteverhältnis in den einzelnen Staaten und von daher diese Frage zu beantworten versuchen. Es ist etwas anderes, ob in Hessen, oder ob in Württemberg eine Verfassung erlassen wird, die die Mitwirkungsrechte der einzelnen Staatsbürger regelt. Der Begriff der Gleichheit, soweit er in diesen Verfassungen überhaupt vorkommt, oder in Sachsen-Weimar, der wäre hier eben wahrscheinlich auch in erster Linie zu interpretieren als Gleichheit vor dem Gesetz. Wieweit dann daraus konkrete Regelungen im einzelnen getroffen werden, ist eine andere Frage. Und dann noch in diesem Zusammenhang eine dritte Bemerkung: Sie haben an einer Stelle einmal auf die Sonderbehandlung des Fabrikanten- und Handelsstandes hingewiesen. Ich möchte auch noch auf ein Beispiel hinweisen, das Sie merkwürdigerweise nicht mit in Betracht gezogen haben, nämlich die Sächsische Verfassung von 1831, die ja sehr stark gerade in dieser Richtung exemplarisch ist. Das erklärt sich zum guten Teil sozial- und wirtschaftsgeschichtlich daraus, daß Gewerbefreiheit in Sachsen bis 1840 nicht existiert, sondern daß die alte städtische Zunftverfassung in Sachsen bis dahin aufrechterhalten bleibt und der Gewerbe- und Handelsstand innerhalb der
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Städte und innerhalb des Landes natürlich um seine Gleichberechtigung kämpfen muß. Wenn in Sachsen zum Gewerbe- und Handelsstand besondere Mandate vorgesehen werden, so ist das daraus zu erklären, daß die alte Stadtverfassung Gewerbe- und Handelsstand außerhalb der Zünfte eben einfach nicht kennt. Kleinheyer: Zu dem letzten will ich nur sagen, daß ich mich ganz bewußt an einigen Punkten sehr zurückgehalten habe. So haben Sie ja nun die Erklärung für diese fünf Vertreter von Handel und Gewerbe in Sachsen geliefert, und dazu wollte ich Sie eigentlich auch provozieren. Ganz interessant ist die Entwicklung dieser sächsischen Regelung. Diese fünf sind ja nachträglich hineingekommen, der Entwurf sah sie noch nicht vor. Der Entwurf sah vielmehr ein Verhältnis von 15 Vertretern der Rittergutsbesitzer zu 25 Vertretern der Städte und 25 Vertretern der Landbevölkerung vor. Nun kamen 5 Vertreter von Handel und Fabriken dazu, und dies bedeutete natürlich wieder eine Verschiebung des Gleichgewichtes. Also wurden die 15 Rittergutsbesitzer auf 20 angehoben im gleichen Maße. Hier sieht man also, wo die Symmetrie geschaffen werden mußte. Im übrigen ist es ganz klar: überall wo solche Einzelheiten auftauchen, stecken politische Kräfte dahinter und politische Auseinandersetzungen. - Herr Grawert hat mich eben draußen gefragt, ob man diese Konstitutionen des Vormärz denn überhaupt ernst zu nehmen habe. Nun, was ihre Wirkungen angeht, so kann man über jede Rechtsnorm streiten, wieweit man sie ernst zu nehmen hat, aber jedenfalls sind die Auseinandersetzungen und das Entstehen dieser Verfassungstexte doch immer ein Indiz dafür, daß man sie ernst genommen hat, sehr ernst sogar. Man kann dieses Hin und Her oft über viele Jahre hin recht deutlich verfolgen, also muß es sich schon um etwas nicht Belangloses gehandelt haben. Sodann zu der Frage der Gleichheit und zu Ihrem Beispiel mit der gleichmäßigen Verteilung der Steuerlast entsprechend der Wirtschaftskraft. Dazu ist zu sagen, daß man bei dieser Steuerlastverteilung doch wohl überwiegend das Modell einer Vorwegsicherung des persönlichen Lebensunterhaltes und dann einer proportionalen Besteuerung des darüber hinausgehenden Einkommens gesehen hat. Den Grundsatz einer Progression habe ich also bisher noch nicht angetroffen. Dietrich: Es ist gerade typisch, daß im Gegensatz zu den meisten anderen frühkonstitutionellen Verfassungen die sächsische ja keine oktroyierte, sondern eine vereinbarte ist. Und daraus erklärt sich auch sehr viel. Kleinheyer: Nur ist "oktroyiert" oder "vereinbart" oft ein Wortspiel, und der Ausgleich politischer Kräfte hat sich auch bei den oktroyierten meist vorher vollzogen.
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Grube: In der frühkonstitutionellen Verfassung des Königreichs Württemberg (1819) gibt es in bezug auf die "Gleichheit" eine auffallende Verschiedenheit der Regelungen beim aktiven und beim passiven Wahlrecht der Volksabgeordneten zur Zweiten Kammer. Das aktive Wahlrecht ist in zweifacher Weise ungleich, einmal weil es ein Klassen-, ein Zensuswahlrecht ist, zum andern durch die verschiedene Gewichtung, wie Sie sie ähnlich von Hessen-Darmstadt erwähnten. Besonders kraß zeigt sich das bei den sieben "guten Städten", die neben den 63 Oberämtern jeweils einen eigenen Abgeordneten zu wählen haben. "Gute Stadt" ist natürlich die Landeshauptstadt Stuttgart, aber die Kleinstadt Ellwangen ist es als ehemals fürstpröpstliche Residenz auch. Stuttgart hat 1819 neunmal so viel Einwohner wie Ellwangen, der Ellwanger Wahlberechtigte ist also neunmal so wirkungskräftig wie der von Stuttgart. Diese ungleiche Gewichtung hat sich bis zum Anfang des 20. Jhs. noch gewaltig verstärkt, da hat Stuttgart vierzigmal so viel Einwohner wie Ellwangen. Erst durch die Verfassungsreform von 1906 hat Stuttgart, um das etwas auszugleichen, 6 Abgeordnete bekommen.
Ganz anders sieht es aber 1819 beim passiven Wahlrecht aus. Da gibt es überhaupt keine Einschränkungen. Ohne Rücksicht auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, ohne Rücksicht auf Einkommen, auf Vermögen, auf Beruf kann jeder Angehörige der drei christlichen Konfessionen in die Abgeordnetenkammer gewählt werden. Im Landtag sitzen Bauernschultheißen und Handwerksmeister neben Professoren, Rechtsanwälten und Fabrikanten. Man hat den Eindruck, daß die württembergische Konstitution von 1819 der außerordentlichen Ungleichheit im aktiven Wahlrecht eine Art Gegengewicht zu schaffen gesucht hat durch die völlige Gleichheit im passiven Wahlrecht. Meine Frage ist, ob ähnliche Regelungen sich auch anderswo im Frühkonstitutionalismus finden. Kleinheyer: Ich wüßte kein Beispiel dafür, daß man das passive Wahlrecht nicht an noch höhere, an weitergehende Voraussetzungen geknüpft hätte als das aktive Wahlrecht. Ich habe eine Ausnahme genannt - außer der von Ihnen, die Sie dankenswerterweise hier nachtragen -; das ist die kurhessische Ausnahme, wo man einen Teil der zu Wählenden unabhängig von ihren Einhommensverhältnissen wählen konnte, nämlich die Hälfte jeweils der Vertreter des Bürger- und Bauernstandes. Aber sonst habe ich überall eine höhere Schranke beim passiven Wahlrecht angetroffen als beim aktiven Wahlrecht, so daß ich die Tendenz stärker dahin gehen sehe, über eine recht geringe Beschränkung des aktiven Wahlrechtes einen verhältnismäßig großen Kreis von aktiv Wahlberechtigten (über ein Fünftel ist man freilich wohl nie
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gekommen) einem kleinen Kreis von passiven Wahlberechtigten gegenüber zu stellen. Willoweit: Wir sollten uns noch einmal über den Gleichheitsbegriff Gedanken machen. Die soziale Ungleichheit in der altständischen Ordnung ist gewiß nicht zu übersehen. Aber ist es überhaupt denkbar, daß eine - wie auch immer geartete - staatliche Ordnung ohne den Gleichheitsgedanken auskommt? Ist er nicht notwendigerweise jeder öffentlichen Ordnung und jedem organisierten sozialen Zusammenleben immanent? Wir kennen ja aus dem Mittelalter das bekannte Wort, über den Armen und den Reichen sei in gleicher Weise zu richten. Das klingt wie ein Präludium des Gleichheitssatzes und es fragt sich, ob der Gleichheitsgedanke in dieser oder ähnlich elementarer Form nicht immer präsent ist. Was man dann tatsächlich gleich behandelt und was als eine naturhafte, vorgegebene soziale Vielgestaltigkeit in Kauf genommen wird, hängt immer von den jeweiligen historischen Bedingungen ab. Wir akzeptieren ja in der Gegenwart auch sehr viel an sozialer Differenzierung und Ungleichheit. Der Gleichheitssatz scheint uns dabei nicht tangiert. Frühere Jahrhunderte und Menschen in vollkommen anderer Umwelt dürften andere Ordnungselemente, wie etwa die ständische Differenzierung, akzeptiert haben, ohne darin eine Verletzung des Gleichheitsprinzips zu sehen. Baumgart: Wenn wir unsere Aussprache nun fortsetzen, so geht es zunächst um die Beantwortung einer noch ausstehenden Frage, nämlich einer der wichtigen Fragen von Herrn Willoweit, inwieweit der Gleichheitsbegriff hier näher zu definieren ist. Herr Kleinheyer wird das jetzt als erstes tun. Ich habe im übrigen schon eine sehr umfangreiche Rednerliste, so daß ich nicht in Sorge bin, daß wir unsere Diskussion noch steigern können.
Kleinheyer: Daß ich das jetzt tun würde, das ist eine Prophezeihung von Ihnen, die sich nicht bewahrheiten wird. Denn ich glaube, daß dies fast nicht möglich ist, weil man Gleichheit so für sich nicht definieren kann. Sie haben wohl ganz recht, wenn Sie verweisen auf allgemeine Gerechtigkeitsvorstellungen, die in einem solchen Begriff immer mitschwingen, und die Frage ist nur eben, was denn gerecht sei und wie die Gleichheit eigentlich aussehen sollte, um die Harmonie herzustellen. Man kann das so allgemein nicht beantworten. Ich muß hier sozusagen die Waffen strecken, meine allerdings, daß, wenn ein solcher Begriff auftaucht, er doch immer in einem Kontext steht und in Beziehung gesetzt wird zu einem Zustand, den man offenbar konfrontieren möchte mit diesem Begriff. Und dann gewinnt dieser Begriff wohl doch eine gewisse Kontur. Wird er in solcher Beziehung angewandt,
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dann wird er aus dieser Beziehung heraus interpretierbar. So ist etwa der Begriff der Gleichheit vor dem Gesetz ja fast so inhaltsleer wie nur irgend ein Begriff. Seine Verwendung kann man sicherlich nur verstehen aus dem Bedürfnis heraus, mit dieser faszinierenden Formel der Gleichheit sich identifizieren zu können. Man verwendet damit einen Begriff, der unschädlich ist, der aber für sich auch noch nichts besagt. Deswegen war es mein Anliegen zu fragen, in welcher Richtung sich denn nun eine Entwicklung abzeichnet. Und wenn dies Ganze unter dem Prädikat "Gleichheit vor dem Gesetz" zusammengefaßt wird, dann läßt sich die Richtung des Gleichheitsbegriffes eben daraus vielleicht ermitteln. Ich meine, daß sich einige Tendenzen eben feststellen lassen, so in Richtung auf mehr Aufklärung, die Freisetzung gleicher Entfaltungsmöglichkeiten oder die Gleichheit der Abgabenbelastung, dann in Konfrontierung zur Ungleichheit der Stände, die eben als nicht im Zustand der Gleichheit befindlich gesehen werden. Es ist für mich einfach ein Indiz, daß, wenn man den Gleichheitsbegriff verwendet, man damit einen Zustand korrigieren möchte. Aber in welcher Richtung das geschieht, muß man sich genau ansehen. Man kann sich also nicht damit begnügen zu sagen, daß Gleichheit angeordnet wird; denn auch da, wo dieser Begriff nachher als allgemeiner Begriff in der Verfassung auftaucht, muß man ja näher prüfen, wie er nun ausgestaltet wird und wie er zum Tragen kommt. Eine allgemeine Definition also gebe ich Ihnen nicht.
Schott: Kann man der Frage von Herrn Willoweit nicht dadurch etwas näher kommen, indem man versucht festzustellen, wann dieser Gleichheitsbegriff eine äußere Gestalt annimmt. Der Gleichheitsgedanke selbst ist ja doch in der europäischen Tradition vom Christentum her längst vertraut, wie alleine die kontinuierliche Geschichte des Zitats von Galaterbrief 3,28 zeigt. Gegenüber den noch vorwiegend religiös begründeten "Gleichheits"-Forderungen der aufständischen Bauern, will aber noch Luther in der "Ermahnung zum Frieden" (1525) Freiheit und Gleichheit transzendental verstanden haben, weshalb er das politische Programm der Bauern als nur "fleischlich verstanden" abtut. Es bleibt also die Frage, ob sich in der Zeitspanne zwischen beginnendem 16. Jh. und dem Ende des 18. Jhs. Stationen fixieren lassen, bei denen Freiheit und Gleichheit aus ihrem transzendentalen Ideengehalt heraustreten und als äußerlich-politisches Phänomen faßbar werden. Läßt sich etwa eine solche Entwicklung gerade im Laufe der Kodifikationsgeschichte, die sich ja über eine längere Zeit hinweg erstreckt, erkennen? Frotscher: Herr Willoweit und Herr Schott sind dem Begriff der Gleichheit nachgegangen. Daran möchte ich anschließen und fragen,
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ob wir nicht auch das monarchische Prinzip hier in die Betrachtung mit einbeziehen müssen. Führt das monarchische Prinzip nicht dazu, zugespitzt formuliert, daß unter seiner Geltung von voller politischer Gleichheit in Deutschland gar nicht die Rede sein kann, daß es deshalb nur darum geht, Aspekte partieller Gleichheit bei Fortbestehen prinzipieller Ungleichheit aufzudecken? Denn solange wenige (der Landesherr und sein "Führungsstab") die gesamte Staatsgewalt in ihren Händen vereinigen, ist politische Gleichheit nicht verwirklicht. Die Sozialpyramide des Ständestaates mag teilweise eingeebnet werden, die Pyramidenspitze aber bleibt unangetastet. Ich würde also meinen, daß die Verwirklichung des Gleichheitsgedankens, wie er uns heute als Grundrecht und Grundprinzip unserer Verfassung geläufig ist, die Abschaffung des monarchischen Prinzips und die Einführung der demokratischen Staatsform verlangt. Aus dieser Sicht ergeben sich dann auch deutliche Unterschiede zwischen der Entwicklung in Deutschland und derjenigen in anderen Staaten. So lassen sich die Aspekte der Gleichheit, die Sie, Herr Kleinheyer, herausgearbeitet haben, sicherlich nicht unmittelbar mit der Forderung nach Gleichheit vereinbaren, wie sie in der Französischen Revolution oder in der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung hervorgetreten ist. Dilcher: Ich möchte hier ein paar Gedanken äußern, zu denen die Diskussion inzwischen vorgedrungen ist. Ich meine, ein sehr starkes Element der Gleichheit als eines historisch wirkenden, dynamischen Prinzips ist in der Tatsache zu finden, daß im frühen Konstitutionalismus der Staatsbürger zum ersten Mal als solcher einen Rechtsstatus erhält: Mit gewissen Rechten als Landeseinwohner (Indigenat) und als Grundrechtsträger, auch wenn diese Grundrechte nicht voll gerichtlich zu verwirklichen sind und unter Gesetzesvorbehalt stehen. Er ist Adressat und Träger, Mitträger der Verfassung geworden. Das ist ein ganz grundsätzlicher Unterschied gegenüber der altständischen Gesellschaft. Er zeigt sich nicht nur im Grundrechtsteil, sondern auch in der Umformung der Wahlkorporationen, die man ja sehr treffend als neuständische (H. Brandt) bezeichnet hat, und die eine im Werden begriffene staatsbürgerliche Gesellschaft repräsentieren soll. Ich meine, das monarchische Prinzip sei auf dieser Stufe wohl vereinbar mit dieser Form der sich entfaltenden Gleichheit des Untertanen, der langsam über den Landeseinwohner zum Staatsbürger wird. Denn der Fürst hatte ja an diesen Verfassungen ein Interesse, indem er, gerade über das Immediatverhältnis zum Untertan, diesem einen Hebel bot, um die patrimonialen Verhältnisse der adligen Gerichtsbarkeit, in denen die meisten Untertanen noch befangen waren, aufzubrechen. Es ist ja typisch für die innere Wirksamkeit des Gleichheitsgrundsatzes in dieser Zeit, daß diese patrimonialen Verhältnisse entschädigungslos aufgehe-
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ben wurden, im Gegensatz zu den Eigentumsverhältnissen am Land. Der Fürst ist zwar ausgenommen aus der Gleichheit, er ist aber doch ganz deutlich in die Verfassung eingebunden. Seine Einbeziehung in die Verfassung wird von der liberalen Staatstheorie zu deuten versucht als Organstellung, also das, was Friedrich der Große meinte ("erster Diener des Staates"), und wovon auch das ALR ausgeht: Der Staat als juristische Person. Auf diese Weise ist auch eine Einbeziehung des Fürsten nicht als Person, sondern als Institution in die Verfassungen möglich. Aus diesem Grunde wird die Verfassungsgebung des frühen Konstitutionalismus, worauf ja auch schon Herr Kleinheyer in einer ersten Antwort hingewiesen hat, so ernst genommen, gerade auch von der fürstlichen Seite. Von ihr wird ja auf die Begrifflichkeit der Verfassung- etwa dem Vermeiden des Begriffs Staatsbürger und Suche nach anderen Begriffen, etwa Landeseinwohner - eine so große Sorgfalt verwendet; das gleiche gilt von dem Versuch von seiten des Deutschen Bundes, eine extensive, auf Volkssouveränität hin zielende Ausdeutung der süddeutschen Verfassungen abzublocken in der Einführung des monarchischen Prinzips in Art. 57 WSchlA. Kleinheyer: Bezogen auf die Beteiligung an der Ausübung der Hoheitsrechte schlechthin kann man sicherlich von der Geltung des monarchischen Prinzips, nicht von einer politischen Gleichheit aller sprechen. Aber bezogen auf die Funktionen gerade des Volkes oder der Staatsbürger kann man von einer politischen Gleichheit sprechen, von einer denkbaren politischen Gleichheit unter dieser Gruppe, die allerdings nicht erreicht wird. Insofern bin ich nicht im Gegensatz zu Ihnen - ich habe diesen Begriff der politischen Gleichheit natürlich verwendet bezogen auf diese Gruppe der Staatsbürger.
Zu dem Beitrag von Herrn Dilcher darf ich vielleicht darauf hinweisen, daß der Fürst aus der Verfassung jedenfalls dann, wenn es um das Verhältnis zu den Landständen geht, sehr oft eliminiert wird und daß diese Konstitutionen eigentlich meistens vom Verhältnis der Landstände zur Regierung sprechen. Es ist also nicht die Person des Fürsten, sondern die Funktion der Staatsregierung, der diese Landstände mit ihrer Beteiligung an der Gesetzgebung gegenübergestellt werden und in ihrer Funktion einer Kontrolle dieser Regierung. Das ist an sich ein Zeichen dafür, daß die Sicht eine organschaftliehe ist und nicht von der Person des Monarchen ausgeht. Nun zu der Frage der Aufdeckung des Ursprungs des Gleichheitsbegriffes, woher er sich entwickelt hat und wo man anknüpft. Dieser Frage müßte man in der Tat anhand der Materialien nachgehen. Ich kann im Moment nicht sagen, ob sich in den Gesetzesmaterialien zu den Aufklä-
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rungskodifikationen etwa eine Anknüpfung an die Gleichheitsvorstellungen findet, wie sie in den Bauernkriegen geäußert worden sind. Ich würde dieses für unwahrscheinlich halten, sondern eher davon ausgehen, daß man sich an den großen Naturrechtssystemen orientiert hat, wo man Gleichheitsvorstellungen auf Schritt und Tritt findet. Aber das ist nur eine Vermutung. Weis: Es liegt mir völlig fern, die beiden vorzüglichen Referate von Herrn Kleinheyer kritisieren zu wollen, ich möchte nur aus der Sicht der Historikers noch einige Ergänzungen vorbringen. Herr Kleinheyer hat sich in seinem ersten Vortrag mit Preußen befaßt, in seinem zweiten Vortrag mit dem Frühkonstitutionalismus, also gerade mit den nichtpreußischen und nichtösterreichischen deutschen Staaten. Bis 1847 haben ja bekanntlich fast alle mittleren und kleinen deutschen Staaten eine Verfassung erhalten. Ich würde, wie Herr Kleinheyer gegenüber der von Herrn Grawert aufgeworfenen Frage, durchaus die Bedeutung der frühen Konstitutionen unterstreichen wollen. Diese Konstitutionen hatten- im Gegensatz zu Preußen und Österreich -ein sehr lebendiges Verfassungsleben und auch sehr intensive Verfassungsdiskussionen, Verfassungskämpfe bis zur 48er Revolution und darüber hinaus zur Folge. Sie waren auch tragfähig genug, die Grundlage für Ergänzungen ohne grundlegende Verfassungsänderungen zu bilden für die Reformgesetzgebung der Revolution und die späteren Reformen bis in die 60er Jahre, ja sogar, wenn man an die Wahlrechtsreform denkt, bis zum ersten Weltkrieg. Man müßte jedoch, und hier schließe ich mich Herrn Dietrich an, bei einer umfassenden Darstellung die historische Ausgangsposition der verschiedenen deutschen Staaten in Rechnung stellen; zum Beispiel Württemberg mit seiner traditionell starken Stellung der Stände oder Bayern, wo die Stände auf eine Landschaftsverordnung reduziert waren, aber immerhin noch eine gewisse politische Mitwirkung bis 1799 hatten, oder schließlich Altbaden, das überhaupt keine Stände mehr besaß. Man müßte ferner das verschiedenartige Zustandekommen der frühen Konstitutionen seit 1814 berücksichtigen. Auch die beiden Verfassungswellen nach 1814 und nach 1830 wären zu berücksichtigen, die erste nach der französischen Charte von 1814, die zweite unter dem Einfluß der französischen Julirevolution von 1830 und der belgiseben Revolution. Erst nach 1830 wurde es unter diesen neuen Anstößen möglich, daß z. B. in zwei deutschen Staaten, Kurhessen und Braunschweig, Einkammerverfassungen zustande kamen. Ich bin nicht sicher, ob man so stark, wie es Herr Kleinheyer getan hat, und wie es viele andere Historiker und Rechtshistoriker tun, unterscheiden sollte zwischen der naturrechtliehen Gleichheitslehre der Aufklärung und der französischen Revolution und andererseits der Gleichheit, so wie sie uns in diesen frühkonstitutionellen Verfassungen entgegentritt. Natür-
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lieh ist jetzt nicht mehr die Wiederholung der Erklärung der Menschenund Bürgerrechte zu erwarten. Das hatten in dieser Form auch nicht mehr die späteren Verfassungen der Französischen Revolution getan. Aber es gibt doch viele Parallelen zwischen den französischen Verfassungen von 1791 und 1795 einerseits und der französischen Charte von 1814, die zum Vorbild für die meisten deutschen Verfassungen wurde sowie den deutschen Verfassungen der Zeit vor 1847 andererseits. Ich möchte auch daran erinnern, daß es nicht nur um die Gleichheit vor dem Gesetz ging. Diese Verfassungen verankerten auch den Grundsatz der Gleichheit vor der Steuer. Immer prinzipiell, es gab natürlich dann immer wieder Versuche zu Einschränkungen. Sie verankerten den Grundsatz der Gleichheit vor dem Militärdienst, den wenigstens theoretischen Zugang aller zu öffentlichen Ämtern bei entsprechender Qualifikation. Ein Grundsatz, der immerhin etwa in den süddeutschen Staaten sehr ernst genommen wurde und nur in bezugauf die Ministerstellen und auf die Generalität stark durchlöchert worden ist. Oder den Grundsatz der Gleichheit, der Angehörigen der christlichen Konfessionen. Das sind immerhin wichtige Gleichheitsgrundsätze, die in diesen Verfassungen verankert waren. Die Verfassungen sind zum größeren Teil bekanntlich als Oktroi zustande gekommen, aber die Fürsten verpflichteten sich unwiderruflich, die Rechte, die sie mit diesen Verfassungen verliehen, zu achten. Ich möchte auch, und hier schließe ich mich an die Betrachtungen von Herrn Dilcher an, darauf hinweisen, daß die Väter dieser Verfassungen den Gleichheitsgrundsatz sehr ernst nahmen. Ich habe z. B. einmal die Protokolle der bayerischen Verfassungskommissionen von 1814 bis 1818 durchgearbeitet. Hier spielte eine zentrale Rolle die Frage, ob die Grundholden das aktive und passive Wahlrecht bekommen sollten. Die Regierung Montgelas wollte den Grundholden, also den Grunduntertanen der Grundherrn das aktive und passive Wahlrecht vorenthalten. Das hätte bedeutet, daß damals noch etwa 70 Prozent der bayerischen Bauern nicht für das aktive und passive Wahlrecht in Frage gekommen wären. Nach dem Sturz von Montgelas setzte es eine liberale Gruppe in der Verfassungskommission um Lerchenfeld und den Kronprinzen durch, daß die Grundholden das aktive und passive Wahlrecht erhielten. Es wurde später durch das Erfordernis der direkten Steuerleistung teilweise wieder eingeschränkt. Aber der Grundsatz stand im Raum und die Argumente, die dabei vorgebracht wurden, zeigen meiner Ansicht nach ganz eindeutig, daß man nicht das Rad der Geschichte zurückdrehen wollte und konnte und daß man den Gleichheitsgrundsatz als einen der wichtigsten Verfassungsgrundsätze anerkannte. Daß es noch ein Zensus-Wahlrecht gab, das haben alle Verfassungen der damaligen Zeit gemeinsam, das gab es ja auch in allen Verfassungen der französischen Revolution mit Ausnahme der nie in Kraft getretenen Verfassung von 1793.
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Kleinheyer: Vielleicht sollte ich einem Mißverständnis vorbeugen. Ich habe für die Vormärzverfassungen nicht etwa eine Beschränkung auf die Gleichheit vor dem Gesetz hier dargelegt, sondern dies ist nur ein Grundsatz, der in diesen Rechtekatalogen immer wieder erscheint. Neben der Gleichheit vor dem Gesetz gibt es eben eine Vielzahl konkreter Rechte, und in dieser Konkretheit der Rechte liegt natürlich auch ihre Bedeutung; denn je konkreter eine solche Beziehung ausgedrückt wird, desto eher vermag sie sich zu realisieren, kann man sich darauf stützen. So ist es viel leichter, sich etwa auf das Recht, seinen Studienort frei wählen zu dürfen, ein Recht, das ja heute abhanden gekommen ist, zu berufen, als wenn man sich nur auf eine allgemeine Gleichheitsformel hätte stützen können. Wie weit diese Rechte dann insgesamt verwirklicht worden sind, ist eine Frage, die sicherlich sehr gE=nau betrachtet werden müßte. Ich bin Ihnen nur dankbar für die Ergänzung gerade zu Bayern. Ich habe auch den Eindruck, daß man in Bayern, gerade was das Wahlsystem angeht, das spätere Dreiklassenwahlrecht, wie es etwa dann in der Preußischen Verfassung erscheint, doch viel eher vorweggenommen hat, nämlich durch den Grundsatz, daß auf je 7000 Familien ein Abgeordnetensitz entfiel. Das ist eine ganz andere Quotierung, als wenn man die Sitze festlegt und sie dann verteilt. Das spätere Dreiklassenwahlrecht beteiligt ja alle, nur eben im Unterschied ihrer Steuerleistungen, an der Wahl. Das Wahlrecht der meisten frühen Konstitutionen beteiligt eben viele nicht an der Wahl. In Bayern scheint dies doch etwas anders gewesen zu sein - ein fortschrittliches Land, wie ich immer gerne wieder sage. Was sodann die Bedeutung des Gleichheitsgrundsatzes der französischen Revolution angeht, so will ich nicht bestreiten, daß in den Verhandlungen, in den Auseinandersetzungen um das Zustandekommen solcher Konstitutionen dieser Grundsatz natürlich als Position vertreten wird; aber ich meine, daß eben die Texte der Konstitutionen doch recht deutlich zeigen, daß man einen solchen allgemeinen Grundsatz eben nicht hineinschreiben mochte, sondern daß man ihn genau bezogen auf bestimmte Beziehungen dort einbauen wollte. Darin scheint mir doch eine Distanzierung zu liegen, die, so würde ich vermuten, von seiten vor allen Dingen des Landesherrn verlangt wird, als Bedingung für das Zustandekommen einer solchen Verfassung. Später, das vielleicht zur Ergänzung, greift man in der 48er Diskussion um die Grundrechte dann wieder auf die allgemeinen Rechte und die allgemeinen Prinzipien zurück. Brandt: Herr Kleinheyer, ich wollte zum zweiten Teil Ihrer Ausführungen einige Bemerkungen machen. Sie haben ja in besonderer Weise, und sehr bewußt wohl auch, auf die den Gleichheitsgrundsatz blockierenden Momente hingewiesen. Sie haben diesen Umstand einmal allgemein herausgestellt und Sie haben ihn zum zweiten an der Wahl-
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rechtsfrage exemplifiziert. Hier wiederum haben Sie insbesondere die sozialständischen Quotenverteilungen betont und beschrieben. Dazu zunächst eine Bemerkung allgemeiner Art. Ihr Referat beschränkt sich im wesentlichen auf die rechtlichen Festlegungen und bedarf daher vielleicht doch- und da möchte ich an das anknüpfen, was Herr Weis gesagt hat - der Ergänzung durch eine Beschreibung der politischen Wirkungen. Wir wissen ja leider sehr wenig über die Grundrechte als Moment der Politik in dieser Zeit. Wir wissen einiges über die Entstehung der Grundrechte, d . h . über die Art und Weise, wie die Verfassungen entstanden sind, aber wir wissen doch sehr wenig darüber, was Verwaltungen und Parlamente der Zeit mit den Grundrechten anstellten, insbesondere ob und ggf. wie der Gleichheitsgrundsatz instrumental benutzt wurde. Ganz allgemein läßt sich sagen, daß die Gleichheit sicher ein Angelpunkt der politischen Diskussionen in den Ständekammern gewesen ist. Das läßt sich an Hand der Protokolle unschwer belegen. Die Debatten sind voll von Petitionen, Anträgen und Interpellationen, den Gleichheitsgrundsatz, wie ihn die Verfassungen hier und da formuliert hatten, einzulösen. Die Forderungen decken dabei die ganze Breite des politischen und gesellschaftlichen Lebens ab: Gleichheit in der Entschädigung für abgelöste Fronden, Gleichheit in der Abgabengesetzgebung, Gleichheit im Wahlrecht, Gleichstellung der Juden im politischen und gesellschaftlichen Leben, Gleichstellung im Jagdrecht usw. Für einige Kammern läßt sich sagen, daß der Gleichheitsgrundsatz das große Thema der parlamentarischen Debatten war. Wenn man auch sagen muß, daß diese Diskussionen eine direkte Wirkung nur in wenigen Fällen hatten, so darf doch nicht vergessen werden, daß sie den Grundstoff für die späteren Verhandlungen in der Faulskirehe abgaben und langfristig auch die Reformgesetze der 1860er Jahre beeinflußten. Das ist das eine. Dann zum Wahlrecht. In der Tat tritt das Rückständige des Wahlrechts augenscheinlich hervor, wenn wir es mit heutigen Maßstäben beurteilen. Andererseits darf man aber doch auch nicht übersehen, daß in einer Reihe deutscher Staaten der Zeit allein schon die Tatsache, daß jemand Steuern zahlte, für das Wahlrecht qualifizierte. Sie weisen, Herr Kleinheyer, auf das Beispiel WeimarEisenach hin - der Grundsatz galt auch für andere Staaten. Daß die Austeilung des Wahlrechts an den steuerzahlenden agrarischen und gewerblichen Kleinbesitzer wiederum beträchtliche Wirkungen hatte, scheint mir unzweifelhaft zu sein. Daß von ihr eine nivellierende Formveränderung der politischen Kultur ausging, ist eine These, die die Wissenschaft noch etwas intensiver beschäftigen sollte. Schließlich tritt gelegentlich ein Moment faktischer Egalisierung des Wahlrechts hinzu, das darin bestand, daß der Personenkreis, der qua Gesetz wählen durfte, geringer war, als der, der t atsächlich wählte. Für Württemberg etwa gibt es Beispiele, daß Arbeiter, also Nichtsteuerzahler und unselb-
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ständig Beschäftigte, über Jahre hinweg an den Wahlen unbehindert teilnahmen. Dies nicht zuletzt allerdings infolge der Überforderung der örtlichen Wahlbehörden. Persaldo würde ich sagen, daß man neben dem Rückständigen auch das "Moderne" im Wahlrecht der Zeit nicht übersehen sollte, wobei es zu bedenken gilt, daß dieses "Moderne" vielfach erst durch den aufkommenden Industrialismus beseitigt wurde.
Kleinheyer: Herr Brandt, ich knüpfe zunächst bei dem Letzten an. So wie Sie dies hier ausgeführt haben, habe ich offenbar mit meinem Referat den Eindruck erweckt, als wollte ich die Rückständigkeit der Vormärzzeit betonen. Darum ging es mir nicht, sondern um die Darlegung der Verschränkung dieser altständischen und neueren Rechtsvorstellungen in dem Wahlrecht und in anderen Bestimmungen. Rückständig - den Begriff habe ich wohl auch gar nicht verwendet. Ich würde so auch nicht werten; denn natürlich ist das ein Fortschritt, und ich wundere mich nicht über Ihre Mitteilung, daß man dieses Wahlrecht auch als einen Fortschritt empfunden hat, der vielleicht noch nicht weit genug ging, den man noch vorantreiben konnte, der aber jedenfalls einer war, und ich habe auch darauf hingewiesen, daß ich eben gerade dieses Prinzip des Wahlrechts für einen entscheidenden Bruch gegenüber dem altständischen Denken ansehe. Ich würde mich also in der Wertung Ihnen anschließen wollen. Was die Ausübung des Wahlrechts angeht, bin ich Ihnen nur dankbar für Ihre Ergänzung. Ich konnte von meiner Seite nur den Eindruck wiedergeben, daß dieses Wahlrecht doch ungemein eindrucksvoll gewesen sein muß für den einzelnen. Da wurden etwa diese 35 Leute, die eine Wahlabteilung bildeten, förmlich eingeladen, sie kamen zusammen und wählten in ihrer kleinen Versammlung ihren Wahlmann. Das ist ein viel persönlicheres System als das, wie wir es heute praktizieren, wo wir ins Wahllokal gehen, Zettel in die Urne werfen und wieder hinausgehen. Ich kann mir vorstellen, daß jemand, der so eingeladen wird zu einer solchen Versammlung, dort eben auch sehr viel pflichtbewußter hingeht als einer, der nur allgemein sein Wahlrecht wahrnehmen will. Deswegen wundert es mich auch nicht, wenn man da eine sehr hohe Wahlbeteiligung konstatieren kann. Ich kann mir vorstellen, daß solch ein Wahlvorgang eben auch eine eminente demokratische Bedeutung hat. Es wird sehr hübsch in der sächsischen Verfassung geschildert, wie das zu machen ist, wie man hier einzuladen hat und wie der Vorgang weiter abzuwickeln ist. Deswegen habe ich ja auch erwähnt, daß dieses Prinzip der mittelbaren Wahl durch die Erzielung einer Überschaubareren kleinen Zahl dem Ablauf dieses Verfahrens doch wohl gedient hat. Es bleibt Ihr Hinweis auf den Stellenwert der Gleichheit in den Debatten dieser ständischen Parlamente. Auch er überzeugt mich durchaus. Sie haben ja richtig darauf hingewiesen, daß man selbst da, wo in den Verfassungen kein entspre-
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ehender Satz sich fand, diese Gleichheit als Forderung aufstellte, und natürlich waren die Stände ja nicht beschränkt darauf, sich nur im Rahmen der dort aufgeführten Rechte zu halten in ihren Meinungsäußerungen, sondern sie konnten darüber hinausgreifen, und darin zeigt sich sicherlich auch die Bedeutung des Umstandes, daß hier nun Körperschaften gebildet waren, in denen sich solche Wünsche überhaupt politisch artikulieren konnten. Und insofern ist es überhaupt ganz logisch, daß diese Parlamente durchaus als Vorbereitung der späteren, etwa der Paulskirche, gesehen werden können. Aber es bleibt aus meiner Sicht eben doch das Faktum, daß die Verfassungen selber ein so allgemeines Gleichheitsprinzip eben gerade nicht aussprachen. Darauf wollte ich hinweisen. Und es ist schön, wenn dieser Kontrast zwischen der politischen Praxis und dem, was in der Verfassung steht, eben durch Ihren Diskussionsbeitrag, Herr Brandt, deutlich geworden ist. Wahl: Ich möchte an die Ausführungen von Herrn Brandt anschließen und aus der Sicht eines Juristen auf die konkreten Gleichheitsprobleme in der ersten Hälfte des 19. Jhs. eingehen. Ich möchte dabei davor warnen, zu rasch einen weiten theoretischen Bogen vom Vernunftrecht zum Gedanken der allgemeinen Gleichheit zu schlagen. In der ersten Hälfte des 19. Jhs. geht es zunächst um konkrete Gleichheitsprobleme, nämlich um den Abbau der noch reichlich vorhandenen ständisch-feudalen Überhänge. Damit stellt sich nochmals die generelle Frage, was in dieser Situation Grundrechte und speziell der Gleichheitssatz bedeuten konnten. Für das heutige Verständnis sind die Grundrechte ein Thema des allgemeinen Staat-Bürger-Verhältnisses; sie setzen voraus, daß der Bürger unmittelbar der Staatsgewalt konfrontiert ist. Diese Situation ist aber in der damaligen Zeit noch längst nicht vorhanden. Es gibt noch die Fülle der lokalen Obrigkeiten, der lokalen Polizei, der lokalen Gerichtsbarkeiten; mehr als die Hälfte der Einwohner sind noch von einem lokalen Herrn abhängig und stehen deshalb gar nicht unmittelbar dem Staat gegenüber. Auf diese Situation sind die konkreten Gleichheitsforderungen bezogen; sie nehmen das Sozialprogramm auf, das in der französischen Revolution aufgestellt worden ist und das gerade den Abbau der lokalen Obrigkeiten und gutsherrliehen Rechte enthält. Herr Kleinheyer, Sie haben gesagt, daß diese Rechte und diese Verfassungen des frühen Konstitutionalismus in deutlicher Distanz zum allgemeinen Gleichheitspostulat der französischen Revolution stehen. Das ist sicherlich richtig. Sie befanden sich aber zugleich in einer Defensivposition gegenüber den dort artikulierten Ideen und sie mußten in irgendeiner Weise dieser Herausforderung gerecht werden. Und ich meine, sie wurden ihr gerade dadurch gerecht, daß sie ein Programm für die Gesetzgebung dieser Zeit aufgestellt haben in Richtung auf den Abbau dieser vorhandenen Vor-
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rechte. Wenn hier von einem konkreten Sozialprogramm für den Gesetzgeber die Rede ist, dann ist damit nicht eine rechtliche Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte gemäß dem heutigen Verständnis gemeint. Aber in den Grundrechtskatalogen und in den Partien der Verfassungen, die sich mit konkreten Gleichheitspostulaten beschäftigen, leuchtet das Sozialprogramm des Abbaus der ständisch-feudalen Rechte als inhaltliche Direktive und als politischer Zielpunkt einer Entwicklung in Richtung auf eine staatsbürgerliche Gesellschaft und auf die Herstellung von Rechtsgleichheit auf. In diesem Sinne ist die These zu verstehen, daß insoweit in den Rechtekatalogen und im Gleichheitspostulat ein ganz konkretes Programm für die Gesetzgebung und für den Abbau dieser Rechte vorhanden war. Daß die Gleichheitsforderungen sehr stark den politischen Angelpunkt der Kammerdebatten bildeten, hat Herr Brandt soeben dargelegt; auch darin spiegelt sich die Herausforderung, die von Frankreich ausgegangen ist. Ich möchte noch einen zweiten Gedanken anschließen. Was der Zeit damals bevorstand, waren immense Rechtsänderungsprozesse. Wollte man auf nicht-revolutionärem Wege eine große Zahl von Rechten abschaffen, so war eine große Gesetzgebungsarbeit notwendig. In dieser Situation konnten Grundrechte überhaupt nicht das bedeuten, was wir heute als klassisch-liberale Vorstellung des 19. Jhs. ausgeben, nämlich eine Ausgrenzung, ein Schutz vor dem Gesetzgeber, sondern sie können überhaupt nur wirklich werden, wenn sie als Direktive und Richtungsweisung für die künftige Gesetzgebung verstanden wurden. Herr Kleinheyer hat auch ausdrücklich auf die Möglichkeit, Gleichheit von oben her, durch die Gesetzgebung herzustellen, hingewiesen. In diesem Zusammenhang wird dann aber die Diskrepanz zwischen politischer und bürgerlicher Gleichheit von Bedeutung. In den frühkonstitutionellen Verfassungen ist ja nicht nur das auf Rechtsgleichheit ausgehende Sozialprogramm enthalten, sondern zugleich sind die politischen Ungleichheiten im Wahlrecht und in der Zusammensetzung der Kammern vorgeformt. Für die notwendigen Rechtsänderungsprozesse ergibt dies die Situation, daß in den ersten Kammern gerade diejenigen sitzen, gegen deren Vorrechte es geht und die also dort eine Blockierungsposition haben. Insoweit sind die Zusammensetzungen der Kammern und die politischen Ungleichheiten von ganz emminenter Bedeutung, weil sie die Grundlage dafür geben, daß in den ersten Kammern das erwähnte Sozialprogramm bis 1848 stark blockiert werden konnte. Ein deutliches Beispiel dafür bietet der Versuch des neuen bayerischen Königs im Jahr 1828, nach seinem Regierungsantritt ein liberales Programm durchzuführen; der beabsichtigte Abbau von adligen Vorrechten scheiterte sofort am heftigen Widerstand der ersten Kammer. Die frühkonstitutionellen Verfassungen enthalten demnach zwei einander
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entgegengesetzte Elemente: die Grundrechte, die ein Sozialprogramm der Rechtsgleichheit formulierten, und die Regeln über die politische Zusammensetzung der Kammern, aufgrund deren die notwendigen Rechtsänderungsprozesse blockiert werden konnten. Immerhin, und da will ich Herrn Brandt zustimmen, bildet die Grundlage der Verfassung die allgemeine Gleichheit und die allgemeinen Rechte der Badener und der Württemberger; damit ist zugleich die Tendenz für die Zukunft angedeutet. Daneben sind besondere Rechte und Vorzüge formuliert, sie stehen aber zugleich unter einer Direktive, die auf den Abbau von konkreten Ungleichheiten gerichtet ist.
Kleinheyer: Ich kann Ihnen, Herr Wahl, hier eigentlich nur zustimmen. Ich habe darauf hingewiesen, daß dieses Zweikammersystem ein restauratives, beharrendes System ist wegen des Einflusses der Ersten Kammer, der nur in der Steuergesetzgebung grundsätzlich überwindbar war. Vergleicht man diese Rechtekataloge mit unseren heutigen, aus denen erst in mühsamer Interpretation die Forderung nach Veränderung herausgelesen wird, so bietet sich das erstaunliche Bild, daß dort diese dynamische Sicht der Grundrechte zu finden ist, etwa beim Recht der Bürger, daß die Ablösung der Grundlasten oder die Gemeinheitsteilungen durchgeführt werden. Insofern ist das ein ganz besonders "fortschrittliches" Element dieser Kataloge. Das Bewußtsein, daß Grundrechte erst der Verwirklichung bedürfen, wie es erst in neuerer Zeit wieder belebt worden ist, klingt doch recht deutlich an in diesem Sozialprogramm, wie Sie es nennen. Zum Schutz vor dem Gesetzgeber noch eine kleine Bemerkung. Diesen Schutz, wie wir ihn uns heute vorstellen, kann man in diesen Rechten deswegen nicht suchen, weil sie nicht etwa auch den Landständen entgegengehalten werden, sondern sich gegen die Regierung richten, eben gegen die andere Seite, und die Landstände vertreten diese Rechte. Heute ist durch die Grundrechte auch die Volksvertretung gebunden. Damals stehen diese Rechte auf der Seite des Volkes gegenüber der Regierung, dem Staat, der aber natürlich im monarchischen Prinzip durch den Monarchen dargestellt wird. Insofern kann man diese Regelung auch nicht mit heutigen Wirkungen von Grundrechten vergleichen.
Frotscher: Nur ein kurzer Einwand. In den vorangegangenen Ausführungen ist der Gleichheitssatz nach meiner Auffassung doch in allzu enger Anlehnung an die Freiheitsrechte interpretiert worden. Der Gleichheitssatz ist auch heute in erster Linie als eine (allerdings verbindliche) Aufforderung an den Gesetzgeber zu verstehen. Insoweit ist der Wandel im Verständnis des Gleichheitssatzes keineswegs so erheb-
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lieh, wie das eben anklang. Nur die Freiheitsrechte haben diesen rein defensiven Charakter als Abwehrrechte angenommen, dessen Ausschließlichkeit erst in neuester Zeit wieder in Frage gestellt wird. Kleinheyer: Dazu ist nur zu sagen, daß es einen solchen Gleichheitssatz, der sich als Aufforderung an den Gesetzgeber allgemein richtet, in diesen Verfassungen nicht gibt, sondern daß es eben nur konkrete Gleichheitssätze gibt, die keine Aufforderung an den Gesetzgeber darstellen, etwa gleiche Rechte für alle hinsichtlich der Wahl des Ausbildungsortes usw. Wohl finden wir einzelne Sätze, die auf Herstellung der Gleichheit im Bereich des Grundeigentums abstellen, aber einen allgemeinen Gleichheitssatz, der etwa den Gesetzgeber binden würde, Gleichheit überall herzustellen, wo sie sich nur denken läßt, diesen Gleichheitssatz darf man sicherlich nicht in den Vormärzkonstitutionen erwarten. Stürmer: Ich möchte zwei Bemerkungen machen: eine zu dem, was Herr Grawert gesagt hat. Die frühen Konstitutionen sind gewichtig, aber nur z. T. aus den Gründen, die hier genannt worden sind, dazu zählen insbesondere jene Gründe, die Herr Weis nannte. Die Konstitutionen des frühen 19. Jhs. fangen nämlich einen seit der französischen Revolution formulierten Legitimitätszweifel auf, was immer daraus folgt - aber das tun sie zunächst einmal. Und zum andern sind sie wichtig, speziell in Süddeutschland, wo die Staaten damals ja sehr jung und sehr heterogen sind. Sie integrieren diese Länder und sind für die Bürokratie gewissermaßen ein oberster Sinnbezug. Wenn Mangelas in Bayern hier Kompromisse schließt, dann schließt er sie gewissermaßen in seiner eigenen Brust, nämlich Montgelas der Konservative erhält das, was Montgelas der Mann der bürokratischen Revolution von oben eigentlich zerstören möchte. Dieser Kompromiß zerfällt im Laufe des 19. Jhs.
Die zweite Bemerkung betrifft mehr die Methode. Die Schwierigkeit unserer Diskussion und des Begriffs überhaupt liegt darin, daß wir einen Begriff isolieren wollen, der so politisiert ist und so sehr in den Legitimationszusammenhang des Staates gehört, daß er sich überhaupt nur in seinen Bezügen und in wechselnden, meist sehr scharfen Frontstellungen erschließt. Diese Frontstellungen sind selbstverständlich im 18. Jh. anders als nach der französischen Revolution und in der industriellen Massengesellschaft mit Sozialstaaten wiederum anders als im 19. Jh. Für die Zeit, über die Herr Kleinheyer gesprochen hat, ist das besonders deutlich. Ich meine aber, daß man hier ein Stück vor das Allgemeine Landrecht zurückgehen muß, bis zu den Kronprinzen-Vorträgen von Suarez, die ja viel klarer sind in der ideellen Zielsetzung. 4 Der Staat, Beiheft 4
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Hier ist das Prinzip der Glückseligkeit, der "Trieb zur Glückseligkeit" Grundprinzip. Und der Trieb zur Glückseligkeit ist aus dem Blickwinkel der Späteren deshalb so faszinierend, weil sich hier die Dialektik von Gleichheit und Freiheit noch nicht entfaltet hat. Beide wohnen noch gewissermaßen ungeschieden freundlich beieinander. Seit 1848 ist es dann nicht mehr erlaubt, so zu denken. Das zweite knüpft im Grunde an das an, was ich über die frühen Verfassungen im Vormärz sagte: Der frühmoderne Staat, ganz unübersehbar aber der Nationalstaat bedarf der Fundierung auf den Gleichheitsgrundsatz, wie überhaupt nach innen auf die bürgerlichen Grundrechte. "La nation une et indivisible" heißt nicht nur, daß die Nation territorial unteilbar sei, sondern auch nicht teilbar nach Ständen. Gleichheit ist seitdem nur im Gesamtgefüge dieser bürgerlichen Rechte denkbar, und das Gleichheitsproblem nicht ablösbar vom Legitimationsproblem des Staates. Ich glaube, daß man diese Begriffsfelder zusammen denken muß, und es liegt der Gedanke nahe, daß man auch die große Epochengliederung von hier aus neu durchdenken muß. Kleinheyer: Was die letzte Frage angeht, so möchte ich sie als eine Frage stehen lassen. - Sie sprachen über das Problem der Gleichheit als Legitimationsgrundlage. Ich möchte vielleicht noch eine Beziehung herstellen zur Begriffswelt der frühen Konstitutionen. Hier zeigt die Verweisung auf "Volk", "Gesamtheit" usw. ja recht deutlich, wo man Nachdruck schaffen wollte und sich absichern mußte. Ich frage mich allerdings, ob zwischen diesem Grundsatz der Legitimation und dem, Sie haben ihn ja auch erwähnt - der Legitimität ein Konflikt sich insofern auftut, als man gerade in der Zusammensetzung der Kammern diese zwei Erfordernisse verbinden mußte. Man mußte ja die alten Standesherren abfinden, man hatte im Grunde keine Basis, sie auszuscheiden, man mußte sie erhalten und sie mußten dort politischen Einfluß behalten; und auf der anderen Seite mußte man das Volk etablieren. Das ist ein Grunddilemma, das sich aus der Entwicklung erklärt und das man nicht beiseite schieben konnte, nicht nur, weil der Wiener Kongreß das nun einmal so vorgesehen hatte, sondern weil es eben vielleicht auch nicht einsichtig gewesen wäre; ich weiß nicht, wie weit etwa eine völlige Beseitigung dieser standesherrlichen Vorrechte einer verbreiteten Forderung entsprochen hätte. Ich könnte mir vorstellen, daß man diese Rechte nicht einfach beseitigen konnte und versuchen mußte, sie zu verschmelzen mit der Gleichheit der Staatsbürger. Diestelkamp: Ich möchte zwei Exempla etwas kommentieren, Herr Kleinheyer. Das eine ist das Privilegienrecht des Allgemeinen Landrechts. Für uns bedeutet Privileg fast automatisch ein Sonderrecht und damit ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz. Jemand bekommt
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mehr als alle anderen haben. Das war nicht die ursprüngliche Auffassung vom Privileg, sondern Privileg war die Rechtsform, in der der Herrscher Regierungsakte vollziehen und damit rechtlich handeln konnte. Die Vorstellung, darin liege ein Verstoß gegen einen Gleichbehandlungsgrundsatz, kommt erst in der modernen Zeit auf. Daher ist es in der Tat ein interessantes Exempel, wie sich das Allgemeine Landrecht zum Privilegienrecht stellt. Dazu haben Sie zwei Aspekte vorgebracht als Hinweis darauf, daß hier der Gleichheitsgrundsatz mitgedacht worden sei. Der eine Aspekt war, das Privileg solle nicht zum Nachteil Dritter ausgenutzt werden. Nun gibt es eine alte Privilegienlehre, in der diese beiden Gesichtspunkte auch schon enthalten waren, ohne daß dies als Indiz für das Mitdenken des Gleichheitssatzes gewertet worden ist und gewertet werden kann. Mit diesem Hinweis ist keineswegs schon gesagt, daß ihr Aspekt nicht trotzdem richtig ist, denn diese alten Topoi können ja einen neuen Gehalt bekommen haben. Meinen Sie, daß das der Fall ist? - Meine zweite Frage bezieht sich auf Ihre Bemerkung, in die Staatszwecklehre würde in der Wichtigkeit fast direkt hinter der äußeren Sicherung des Staates die Bildung aufgenommen, worin fast eine Zielprojektion auf politische Emanzipation liegt. Da würde ich gewisse Zweifel anmelden, denn an Bildung für alle wurde damals sicherlich nicht gedacht; im Gegenteil, wir wissen aus dem 19. Jh. noch, daß bewußt selektiert wurde und gesagt wurde, die einfacheren Volksschichten brauchten nicht so viel zu lernen. Wenn Sie rechnen und schreiben könnten, sei das ausreichend. Daher muß man fragen, welche Form von Bildung und für wen, wird hier in den Staatszweck aufgenommen. Das war doch, glaube ich, dann eine ganz bestimmte Form von Bildung.
Kleinheyer: Was das letzte angeht, so ist das vielleicht in der Aufklärungszeit doch etwas anders zu sehen als in dem Beispiel, das Sie aus dem 19. Jh. bringen. Es ist in der Tat eine der immer wiederkehrenden Forderungen, die wir bei den Aufklärern finden, daß dem einzelnen die Möglichkeit im Staat gegeben werden müsse, seine Fähigkeiten und Kräfte zu entfalten und zur Förderung seines Wohlstandes anzuwenden. Die Erwähnung dieses Grundsatzes im Rahmen der Staatszweckbestimmung würde ich keineswegs beschränken auf einen Stand, jedenfalls ergibt sich das aus der Formulierung sicherlich nicht. Stürmer: Ich glaube, man muß hier das Argument hervorheben, daß die Ermöglichung von Glückseligkeit und die Bildung zur "sittlichen Persönlichkeit" zwei Seiten der moralischen Begründung des Staates zu dieser Zeit darstellen. Anders läßt sich weder in der Publizistik noch verfassungsmäßig ein Staat damals rechtfertigen. Im 19. Jh., als
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um 1820/30 die ersten technischen Hochschulen entstehen, geht es um Erziehung, es geht um Ausbildung technischer Eliten. Deshalb ist sie auch eine schwarze Legende, die restriktive Bildungspolitik des Vormärz. Gerade für Preußen sind Liberalität und Expansion des Bildungswesens erwiesen. Man hat von oben viel getan, um begabte junge Leute aus allen Ständen zu fördern. Zur Bildungsidee des späten 18. Jhs. treten damals zwei weitere Hauptmotive. Im 19. Jh. kann Preußen nur als Industriemacht Großmacht sein. Die Industrie aber kann überwiegend nicht Analphabeten oder Halbliterate gebrauchen, sondern sie braucht Leute, die etwas mehr können als den Katechismus hersagen, wie das noch die Handwerksordnungen des 18. Jhs. forderten. Und Preußen brauchte auch eine Armee, um speziell nach 1848 Machtpolitik zu treiben; spätestens seit den Heeresreformen 1860/64 brauchte man selbstverständlich auch gebildete Unteroffiziere, gebildet nach dem Prinzip des "suum cuique", ausreichend für einen qualifizierten Arbeitsplatz.
Diestelkamp: Worauf es mir ankam, war in erster Linie die Verknüpfung dieser Aufnahme des Bildungsideals in den Staatszweck mit der politischen Emanzipation. Das weist doch dann ins 19. Jh. und da, meine ich, werden unvereinbare Dinge miteinander verbunden. Darauf wollte ich hinweisen. Und nun Herr Stürmer, zur "schwarzen Legende". Daß ein Unteroffizier keinen Doktor haben muß, ist, glaube ich, kein Argument gegen die Tatsache, daß sehr präzise selektiert wurde. Selbstverständlich sollte eine technische Elite herangezogen werden, weshalb man das sehr förderte. Im übrigen wollte man im 19. Jh. aber alles andere als Gleichheit der Bildung. Ich glaube, das sind Vorstellungen, die überhaupt erst in unseren Tagen denkbar geworden sind. Nur das wollte ich sagen. Dies ist in allen Ländern so, ist also keineswegs ein Spezifikum von Deutschland. Kleinheyer: Dem Gesetz würde ich diese Aussage sicherlich auch nicht entnehmen, daß die Ausbildung zur politischen Gleichheit führen soll; dort darf man eine solche Aussage auch nicht erwarten. Aber ich stütze mich erstens auf m einen dauernden Gewährsmann Svarez, der mir nun j a auch noch b esonders dringend empfohlen worden ist (ich habe mich immer schon geniert, ihn dauernd zu zitieren). Und weiter auf die doch sehr interessanten Gespräche über Freiheit und Eigentum von Ernst Ferdinand Klein, wo dieser Aspekt am Schluß des Gespräches ganz deutlich herausgestellt wird und eben gerade in Zusammenhang gebracht wir d mit dem Erwerb politischer Rechte der dann vollmündigen Bürger. Insofern gibt es da einen Bezug, der hier im ALR natürlich reduziert ist, weil da nicht ein Recht auf Bildung ausgeflaggt wird,
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sondern eine entsprechende Pflicht des Staates, und damit gewinnt das Ganze schon wieder ein etwas anderes Gesicht. Was die Privilegien anbelangt, so kann es sein, daß Sie mich da sozusagen ertappt haben. Allerdings möchte ich darauf hinweisen, daß von diesem Regel-Ausnahme-Verhältnis nicht nur bei den Privilegien die Rede ist, sondern etwa auch bei den Steuerexemtionen, wo ja nochmals dieser Grundsatz der allgemeinen Belastung den Ausnahmen und den Befreiungen einzelner gegenübergestellt wird. Das würde ich an sich in diesen Zusammenhang hineinnehmen und meinen, daß diese Privilegien sehr ausführlich dargestellt und im ALR mit technischen Kniffs, etwa Verweisungen in andere Teile des Gesetzes, deswegen so ausführlich geregelt werden, weil man sich zwar zum bisherigen Verständnis der Privilegien nicht in Widerspruch setzen will, aber doch noch einmal sehr deutlich die Grenzen aufzeigen möchte.
Naujoks: Die Frage, zu der ich mich melden wollte, woher die Gleichheitsvorstellungen kommen, ist von Herrn Stürmer, Herrn Dilcher u. a. beantwortet worden. Ergänzend möchte ich anregen, daß dieses Problem auch anhand der Schriften von Benjamin Constant oder Rottecks Lehrbuch des Vernunftrechts noch präzisiert werden sollte. Nicht völlig klar wurde mir, welche Gleichheitsvorstellungen bei Suarez und im preußischen Allgemeinen Landrecht bestimmend waren. Kleinheyer: Dazu möchte ich wiederum von den Vorstellungen von Svarez ausgehen. Es sind die Vorstellungen der eingebürgerten naturrechtlichen Lehre über die Entstehung des Staates und die Fortwirkung der vorstaatlichen Positionen im Staat, von denen ich Abweichungen nicht festzustellen vermag. Es ist die Vorstellung, daß die Menschen vorstaatlich frei sind, daß sie diese Freiheit allesamt an sich in den Staat mitnehmen, daß ihre Freiheit vor staatlicher Rechtssetzung zurückzuweichen hat, also nur da existieren kann, wo der Staat nicht ist. Und aus diesem allgemeinen Verständnis der Freiheit ergibt sich für Svarez eine Gleichheit in dieser Freiheit. Bezogen auf ganz bestimmte Veränderungen von Zuständen im Staat, ist dieser Gleichheitsbegriff natürlich als solcher nicht tragfähig. Und deswegen kann man Aussagen darüber, welche Ungleichheiten unter den Staatseinwohnern etwa hingenommen werden müssen oder beseitigt, eingedämmt, eingegrenzt werden sollen, an sich eben nur als den Punkt nehmen, von dem her man versuchen muß, diese Gleichheitsvorstellungen zu verstehen. So wird etwa beim Bildungsanspruch, dem Recht auf Entwicklung der Verstandeskräfte, sehr deutlich ein allen zustehender Anspruch darauf, daß sie in diesem Bereich vom Staat nicht behindert werden, sondern daß sie dort gefördert werden sollten.
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Naujoks: Aus dem, was eben gesagt wurde, bleibt für mich der Eindruck, daß bei Suarez vor allem das Ethos des aufgeklärten Absolutismus vorliegt, der ein neues Verhältnis zum Untertanen sucht und ihn gewissermaßen als Mensch anspricht, ohne daß die Herrschaftsstruktur des Absolutismus tangiert wird. Kleinheyer: Bei meiner Erläuterung des Begriffes der Gleichheit vor dem Gesetz habe ich wohl in etwa dargelegt, daß man es hier in der Tat zunächst einmal mit der Vorstellung einer letztlich auf den absoluten Herrscher bezogenen Gleichheit zu tun hat. Dieser hat Gleichheit unter den Staatsbürgern dort zu gewährleisten, wo sie nach dem Staatszweck, den er zu beurteilen hat, erforderlich wird. Über eine ganz bestimmte Pflichtbindung, die immer konkreter dargelegt wird, wird dieser absolute Monarch aber eben nicht mehr ganz so frei gehalten in seiner Entscheidung. Und die Versuche, den Staatszweck zu bestimmen, ihn gesetzlich zu formulieren und damit eben den Herrscher auf die Wahrung dieses Staatszweckes festzulegen, gehören in diesen Zusammenhang.
Ich darf Ihnen allen, die sich an der Diskussion beteiligt haben, sehr herzlich dafür danken.
Wandlungen der ständischen Gesellschaft im Deutschland der preu13ischen und der rheinbündischen Reformen Von Manfred Botzenhart, Münster Die Epoche der französischen Revolution und der napoleonischen Herrschaft umschließt auch für Deutschland entscheidende Schritte innerhalb der langfristigen Entwicklung von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft. An ihrem Beginn steht noch eine Sozialordnung, in der sich die Stellung des einzelnen innerhalb eines Geflechtes von Rechten und Pflichten, Freiheiten und Schranken zunächst durch seine Geburt bestimmt. An ihrem Ausgang steht die Perspektive auf eine Ordnung, in der bei prinzipiell gleichen Rechten und Chancen Ausbildung und Besitz den Platz in der sozialen Schichtung des Volkes definieren. Dieser Wandlungsprozeß begann in Deutschland nicht erst auf Grund der Ausstrahlungen der Revolution, und er sollte sich auch noch weit über den hier zu besprechenden Zeitraum hinaus fortsetzen, zumal die gegenläufigen Tendenzen von Restauration und Reaktion ebenfalls nicht erst nach der europäischen Neuordnung ihre Wirkung entfalteten. So soll hier nicht die Transformation der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft beschrieben, sondern vielmehr gefragt werden, welche längerfristig angelegten Entwicklungen beschleunigt wurden, welche neuen Elemente zur Geltung kamen, wie stark demgemäß der Schub an Modernisierung für den gesellschaftlichen Wandel in den Jahren 1789- 1815 in Deutschland gewesen ist. Dieser Wandel war zum einen nur ein Teil von gesamteuropäischen wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Veränderungen, die in der von England ausgehenden industriellen Revolution, in der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung und der französischen Revolution, im Programm schließlich der Aufklärung zum Ausdruck gekommen waren; auf ihn wirkte zum andern aber auch das intentionale Handeln, der Wille zur Reform, zu bewußter Gestaltung der politischen und sozialen Wirklichkeit, und dieser Wille stieß überall auf die Beharrungskraft der gewachsenen Strukturen. So wurde die Durchführung der Reform nicht nur behindert, sondern zum Teil in ihren Ergebnissen, gemessen an den ursprünglichen Zielen, geradezu verfälscht. In dieser Spannung aber ist die hier in groben Umrissen zu behandelnde Epoche ein immer wieder faszinierendes Beispiel für die Möglichkeiten, Schwie-
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rigkeiten und Grenzen geplanter politischer und gesellschaftlicher Veränderung durch Reform. Diese Reform wurde freilich unter der Einwirkung einer Reihe äußerer Faktoren vollzogen, welche sie zum Teil erst ermöglichten, zum Teil aber auch erschwerten. Dieser im Folgenden stets vorausgesetzte Bedingungsrahmen sei einleitend stichwortartig in Erinnerung gerufen: Die politische Landkarte Deutschlands wurde damals durch Säkularisierungen und Mediatisierungen, durch das Entstehen moderner Staatlichkeit im "Dritten Deutschland", durch die Konsolidierung der rheinbündischen Mittelstaaten und durch die napoleonischen Staatsschöpfungen tiefgreifend verändert, ja fast dauernd im Fluß gehalten. Daraus resultierte ein Zwang zu ständiger staatlicher Neuorganisation, der eigentlich erst auf dem Boden der frühkonstitutionellen deutschen Verfassungen nach 1815 zu einem gewissen Abschluß kam. Die dauernden Kriege kosteten zahlreiche Menschenleben, vernichteten Wirtschaftsgüter, nahmen die Staatsfinanzen bis hin zum Staatsbankrott in Anspruch und führten zu einer steigenden Belastung der Bevölkerung durch Steuern, Zwangsanleihen u. dgl., sowie zu einer entsprechenden Beschränkung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Die Kontributionszahlungen und die direkten und indirekten Besatzungskosten bedeuteten einen ständigen Entzug von Edelmetall und Kapital. Der Wirtschaftskrieg gegen England hatte vor allem für die Agrarwirtschaft im nördlichen und östlichen Deutschland verhängnisvolle Auswirkungen, und schließlich ging vom revolutionären und dem napoleonischen Frankreich eine ständige Bedrohung aus, die jeden verantwortlichen Politiker im damaligen Deutschland dazu zwang, dem Bemühen um staatliche Selbstbehauptung in der täglichen Politik den obersten Stellenwert einzuräumen. Von diesen Prioritäten her wurde nicht nur der Handlungsspielraum begrenzt, sondern immer wieder auch die Akzentsetzung in der Innenpolitik beeinflußt. Da in Deutschland um 1800 rund 80 Prozent der Bevölkerung auf dem platten Lande lebten und rund 65 Prozent in bäuerlichen Berufen tätig waren1 , die Existenz des größten Teils der Bevölkerung somit direkt oder indirekt von der Landwirtschaft bestimmt wurde, soll hier bei der Frage nach dem gesellschaftlichen Wandel von den Agrarverhältnissen ausgegangen werden. Sie sind im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts durch eine außerordentlich gute Preiskonjunktur für Agrarerzeugnisse geprägt, die zu erheblichen Preissteigerungen für land1 Friedrich Wilhelm Henning, Die Wirtschaftsstruktur mitteleuropäischer Gebiete an der Wende zum 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung des gewerblichen Bereiches, in: Wolfram Fischer (Hrsg.), Beiträge zu Wirtschaftswachstum und Wirtschaftsstruktur im 16. und 19. Jahrhundert, 1971, S. 101 - 167, bes. S. 115. Vgl. auch Karl Bosl/Eberhard Weis, Die Gesellschaft in Deutschland I: Von der fränkischen Zeit bis 1848, 1976, S. 224.
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wirtschaftlichen Besitz und schließlich zu ausgedehnten Grundstücksspekulationen führte, welche den Preisindex für Güter in Schlesien von einem Indexwert von 100 für die Jahre 1740- 1760 über 121 für die Jahre 1770 - 1780 auf 325 für die Jahre 1801 - 1805 steigen ließ (für Brandenburg noch extremer über 183 auf 4942). Das Steigen der Güterpreise war zwar zum Teil durch die erhöhten Erträge gerechtfertigt, die einer intensiveren Bewirtschaftung und einer verbesserten Agrikultur zu verdanken waren, zu einem erheblichen Teil aber war es doch rein spekulativ begründet, und entsprechend hoch war die Verschuldung: sie lag im Durchschnitt für Preußen bei 58 Prozent3 • Ein zeitgenössischer Publizist kennzeichnet die damalige Situation treffend mit den Worten: "Im Grunde waren die Gutsbesitzer den Tollhäuslern gleich, für welche es keine andere Realität gibt, als die Chimäre, die sie in das Tollhaus gebracht hat. Was sie ihr Eigentum nannten, gehörte ihren Gläubigern4." Einen ersten Rückschlag für die Spekulationswelle gab es in Schlesien schon um 1800, für das übrige Preußen deutete sich ähnliches um 1805 an, zur Katastrophe aber wurde der aufgezwungene Krieg gegen England, als der Getreideexport, ein wesentlicher Motor der Agrarkonjunktur, ausfiel. Hatten sich die Getreidepreise in den verhältnismäßig ruhigen Friedensjahren von 1800-1805 zwischen 130 und 180 Mark für 1000 Kilo Roggen bewegt, zwischen 1806 und 1809 infolge von Krieg und schlechter Ernte zwischen 193 und 211 Mark, so sanken sie im Jahre 1811 auf den allerdings extremen Tiefstand von 48 Mark5 • Die im Ganzen sehr gute Agrarkonjunktur begünstigte die schleichende Aufweichung der gebundenen Sozialverfassung auf dem Lande. Indem sich der adelige Großgrundbesitz zumindest teilweise an der Güterspekulation beteiligte und die Kommerzialisierung der Landwirtschaft vorantrieb, wurde die soziale Basis und die ideelle Rechtfertigung der gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisse untergraben. Gleichzeitig kam es aber auch schon zu einem starken Einstrom bürgerlicher Elemente in die Landwirtschaft. Es lohnte sich, in Gütern zu investieren; wurde die Erlaubnis zum Erwerb adeliger Güter nicht erteilt, so fanden sich Strohmänner; bürgerliche Kapitalanleger stellten Hypotheken zur Verfügung, und vor allem gab es eine steigende Zahl bürgerlicher Pächter sowohl von Adels- wie von Domänenland. Es läßt sich zeigen, daß es vornehmlich (wenn auch nicht ausschließlich) diese bürgerlichen Landwirte waren, welche die von der zeitgenössischen 2 Wilhelm Abel, Geschichte der deutschen Landwirtschaft vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, 2. Aufl. 1967, S. 331. Vgl. zum Folgenden auch Wilhelm Abel, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur, 2. Aufl. 1966, S. 182 ff. 3 Hanna Schissler, Preußische Agrargesellschaft im Wandel, 1978, S. 85. 4 Friedrich Buchholz, zitiert nach Schissler, Agrargesellschaft (Fn. 3), S. 83. 5 Schissler, Agrargesellschaft (Fn. 3), S. 60.
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Wissenschaft entwickelten Grundsätze einer rationalen und gewinnorientierten Landwirtschaft zu verwirklichen suchten6 • Die besonders gut erforschten Verhältnisse im ostelbischen, durch gute Binnenwasserstraßen an die Exportmärkte angeschlossenen Preußen dürfen natürlich nicht ohne weiteres auf das übrige Deutschland übertragen werden. Zeugnisse etwa aus Niedersachsen oder aus Süddeutschland sprechen aber ebenfalls dafür, daß der adelige und der bäuerliche Großbetrieb auch hier von der gesamteuropäischen Preiskonjunktur für Agrarerzeugnisse im ausgehenden 18. Jahrhundert profitierte. Die Lage der kleineren guts- und grundherrliehen Bauern aber hat sich zunehmend verschlechtert7 • Bei einem Vergleich der münsterischen Eigentumsordnung von 1770 mit dem preußischen Allgemeinen Landrecht zeigt sich zwar, daß die rechtliche Situation der Landbevölkerung im Bereich der Grundherrschaft nicht unbedingt besser war als unter der Gutsherrschaft (besonders was die unterbäuerliche Schicht der Kleineigentümer, des Gesindes und der Landarbeiter betrifft), das Eigeninteresse der weniger auf Dienste als auf einen Teil des Ertrags angewiesenen Obereigentümer sprach jedoch in den Gebieten der Grundherrschaft für eine Förderung der Wirtschaftskraft der Höfe, während es im Bereich der Gutsherrschaft zu einer stärkeren Anspannung der bäuerlichen Dienstpflichten kam8• Innerhalb der genossenschaftlichen Dorfgemeinden wuchsen die Spannungen zwischen den Großbauern und den Angehörigen der dörflichen Unterschichten9. Nicht erst unter dem Einfluß der französischen Revolution kam es besonders in Schlesien und dann auch in Sachsen zu ausgedehnten Agrarunruhen. Der beträchtliche Anstieg der Lebensmittelpreise hatte im ausgehenden 18. Jahrhundert ein Sinken der Reallöhne und des Lebensstandards der breiten Bevölkerung zur Folge10• Die preu6 Hans-Heinrich Müller, Märkische Landwirtschaft vor den Agrarreformen von 1807, Potsdam 1967, S. 108 ff. und S. 131 ff. Vgl. auch Rein hart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, 2. Aufl. 1975, S. 82 ff. und Schissler, Agrargesellschaft (Fn. 3), S. 87. 7 Abel, Landwirtschaft (Fn. 2) S. 333 ff., vgl. auch Abel, Agrarkrisen (Fn. 2) S. 200 ff., Schissler, Agrargesellschaft (Fn. 3), S. 90 ff., Johannes Ziekursch, Hundert Jahre schlesischer Agrargeschichte. Vom Hubertusburger Frieden bis zum Abschluß der Bauernbefreiung, 1915, S. 153 ff. und Fried erike Hausmann, Die Agrarpolitik der Regierung Montgelas, Bern 1975, S. 58 ff. und
s. 72 ff.
8 s. dazu außer der in Fn. 7 genannten Literatur noch Arnulf Jürgens, Bäuerliche Rechtsverhältnisse des ausgehenden 18. Jahrhunderts in Westfalen und im östlichen Preußen, in: Westfälische Zeitschrift 126/127, 1976/77,
s. 91- 139.
e Hausmann, Agrarpolitik (Fn. 7), S. 33 ff. Abel, Agrarkrisen (Fn. 2), S. 226 ff., vgl. auch Diedrich Saalfeld, Handvverkereinkommen in Deutschland vom ausgehenden 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Wilhelm Abel u. a., Handwerksgeschichte in neuerer Sicht, 1970, S. 65- 115, bes. S. 108. 10
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Bische Regierung mußte sich daher schon im Jahre 1801 dazu entschließen, an etwa 20 Prozent der Berliner Bevölkerung Brot zu staatlich verbilligten Preisen auszugeben, und zwar auch an Handwerker, Angestellte und Subalternbeamte11 • Überall in Deutschland machte sich der Druck der stark steigenden Bevölkerungszahlen noch im 18. Jahrhundert für sämtliche Bevölkerungsschichten bemerkbar: Es hatte sich eine große landlose, zum Teil völlig verarmte Adelsschicht gebildet; die Berufsaussichten und die Aufstiegschancen der bürgerlichen Intelligenz verschlechterten sich; es begann ein Prozeß der Pauperisierung der Unterschichten, der in einer von Zeitgenossen bedrohlich empfundenen Zunahme von Armen, Bettlern, Dieben und Vagabunden zum Ausdruck kam12• Die Kluft zwischen Armen und Reichen vertiefte sich so, daß der Nationalökonom Bucher im Jahre 1805 schreiben konnte: "Das Mißverhältnis der Glücksgüter wird in unseren Tagen täglich größer, und die ärmere Klasse fühlt es desto tiefer, je mehr ihr die Bereicherung der Gutsbesitzer und Pächter in die Augen springt ... Welche fürchterlichen Explosionen endlich aus solchen Mißverhältnissen entstehen, lehrt nicht nur die ältere, sondern auch die allerneueste Zei tgeschichte13 ." Die deutsche und speziell die preußische Agrargesellschaft befand sich also im ausgehenden 18. Jahrhundert in einer schweren Krise, und durch diese Krise wurde der Staat zu einer Reformpolitik herausgefordert, die durch aufklärerisch-humanitäre Antriebe, ökonomische Interessen und politische Motive gleichermaßen bestimmt war. Die Aufhebung der Erbuntertänigkeit und der Reste der Leibeigenschaft durch Verleihung der persönlichen Freiheit begann 1777 bei den Bauern auf den preußischen Domänen, Österreich folgte mit der generellen Aufhebung der Leibeigenschaft 1781, Baden 1783, und im Verlauf der rheinbündischen Reformen zogen dann die meisten deutschen Staaten nach14 • Das preußische Oktoberedikt ist hier nicht nur deshalb wichtig, weil es nun auch den Privatbauern die persönliche Freiheit brachte, sondern weil es auch die Freiheit des Grundstücksverkehrs und der Berufswahl verkündete und insofern einen epochemachenden Schritt für den Abbau eben der ständischen Gesellschaft bedeutet, die das Allgemeine Landrecht noch einmal zu konservieren versucht hatte15 • u Abel, Agrarkrisen (Fn. 2), S. 228. 12 Koselleck, Preußen (Fn. 6), S. 80 f. und S . 130 ff.; s. auch Henri Brunschwig, Gesellschaft und Romantik in Preußen im 18. Jahrhundert, 1975, s. 187 ff. 13 Zitiert nach Abel, Agrarkrisen (Fn. 2), S . 188. 14 s. dazu die Übersicht bei Friedrich Lütge, Geschichte der deutschen Agrarverfassung vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, 2. Aufl. 1967, s. 222 ff. 15 Kurt von Raumer, Deutschland um 1800. Krise und Neugestaltung, o. J., S. 358. Vgl. auch Koselleck, Preußen (Fn. 6), S. 52 ff.
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Sehr viel konfliktsträchtiger als die Verleihung der persönlichen Freiheit, für die Sozialverfassung des Landes aber ungleich wichtiger war die Regelung der Eigentumsverhältnisse. Die Form, die dafür in Preußen gewählt wurde, war bereits das Ergebnis einer nicht unproblematischen Verbürgerlichung der Rechtsauffassung16 • Die gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisse beruhten in ihrer Entstehung ja nicht auf einer Art privatrechtlichem Pachtverhältnis, sondern sie bildeten den Kern einer herrschaftlichen, auf den wechselseitigen Pflichten und Rechten einer feudalistischen Gesellschaft aufgebauten Arbeitsverfassung, deren Herrenrecht jetzt in bürgerliches Besitzrecht umgedeutet wurde, wie denn überhaupt die Eigentumsgarantie des Allgemeinen Landrechts auch die Privilegien und Rechte der altständischen Ordnung mit umfaßte17 • Daß das adelige Obereigentum am Bauernland im Grunde etwas anderes war als uneingeschränktes bürgerliches Privateigentum, wurde bei der Ausarbeitung des Regulierungsediktes von 1811 im preußischen Staatskanzleramt durchaus gesehen, und man hatte daher zunächst auch vorgehabt, den Privatbauern ebenso wie vorher den Domänenbauern das Eigentum an den von ihnen bestellten Höfen sofort und vollständig zu übertragen und erst anschließend eine genaue gegenseitige Aufrechnung von Rechten und Pflichten durchzuführen16• Daß bei der schließlich gewählten Form einer generellen Landabtretung im Umfang von einem Drittel oder sogar der Hälfte des Landes je nach dem bisherigen Besitzrecht der Grundadel mehr erhielt, als ihm von Rechts wegen zustand, hat Hardenbergs Mitarbeiter Schamweber vor der preußischen Notabelnversammlung von 1811 mit aller Entschiedenheit ausgesprochen19 • Die preußische Regierung hat sich aber trotzdem zu dieser Form der Eigentumsübertragung entschlossen, weil sie auf diese Weise schneller den Widerstand der Großgrundbesitzer gegen eine Agrarpolitik zu überwinden hoffte, von deren Gelingen auch die Hebung des Realkredits, der Steuerkraft und der allgemeinen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Landes überhaupt abhing. 16 Gunther Ipsen, Die preußische Bauernbefreiung als Landesausbau, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 2, 1954, S. 29 - 54, bes. S. 31 f. Vgl. auch unten Fn. 19. 17 Koselleck, Preußen (Fn. 6), S. 32. 18 s. dazu den Entwurf bei Georg Friedrich Knapp, Die Bauernbefreiung und der Ursprung der Landarbeiter in den älteren Teilen Preußens, 2. Aufl. 1927, Bd. 2, S. 243 ff. 19 Wilhelm Steffens, Hardenberg und die ständische Opposition 1810/1811, 1907, S. 129. Zu den Rechtsauffassungen Schamwebers in dieser Frage s. auch Schissler, Agrargesellschaft (Fn. 3), S. 142 und Barbara Vogel, Die "allgemeine Gewerbefreiheit" als bürokratische Modernisierungsstrategie in Preußen, in: Dirk Stegmann/Bernd-Jürgen Wendt/Peter-Christian Witt (Hrsg.), Industrielle Gesellschaft und politisches System, FS Fritz Fischer, 1978, S. 59- 78, bes. S. 75 f.
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Zu dieser Agrarpolitik gehörte aber auch die Ablösung der Dienstpflichten bei den Bauern, die durch das Regulierungsedikt nicht erfaßt worden waren, weil sie bereits früher bessere Eigentumsrechte erworben hatten oder weil sie wegen zu geringen Besitzes oder aus anderen Gründen von der Regulierung ausgenommen worden waren. An die Stelle dieser Dienstpflichten mußte eine auf freiem Vertrag beruhende Arbeitsverfassung gesetzt werden, für die bereits mit der Gesindeordnung vom November 181020 eine wesentliche Voraussetzung geschaffen wurde. Ein weiterer Schritt war die Aufhebung des Flurzwangs sowie die Separation der gemeinwirtschaftlich genutzten Grundstücke und deren Überführung in Privateigentum. Der Bauernschutz fiel. Hardenberg und seine Mitarbeiter, allen voran der bedeutendste Agrarwissenschaftler im damaligen Deutschland Albrecht Thaer, planten aber auch, mit dem Landeskulturedikt vom September 1811 21 den landwirtschaftlichen Strukturwandel überhaupt zu fördern. Durch die unbegrenzte Teilbarkeit des Grundbesitzes sollte die Wanderung des Bodens von den schlechten zu den guten Wirten begünstigt werden22 ; es sollten Höfe mit optimaler Betriebsgröße entstehen (ein in der zeitgenössischen Literatur viel erörtertes Problem23 ), und mit der uneingeschränkten Freiheit der Parzeliierung sollten auch die bisher Landlosen die Chance zum Erwerb von Grundeigentum und zum allmählichen Aufstieg in den Kreis der bäuerlichen Mittelschicht erhalten24 Konkrete Förderungsmaßnahmen in Gestalt etwa von staatlicher Kredithilfe waren allerdings nicht geplant (konnten wohl auch bei der damaligen finanziellen Situation des preußischen Staates nicht geplant werden). Vorgesehen waren jedoch Strukturmaßnahmen wie der Ausbau der Verkehrswege, und schließlich dachte man an die Errichtung eines von oben her koordinierten Netzes von landwirtschaftlichen Assoziationen zum Austausch von Erfahrungen und Kenntnissen und zur Vermittlung der neuesten Erkenntnisse der Agrarwissenschaft, von Zuchtvieh, Saatgut und modernem Ackergerät25 • Dem bewußt ins Auge gefaßten Ziel einer Vermehrung der Nahrungsstellen auf dem Lande diente auch die endgültige Aufhebung der ständischen Grenzen 20
120.
Gesetzsammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1810, S. 101-
Gesetzsammlung (Fn. 20) 1811, S. 300-311. Vgl. dazu Scharnwebers Ausführungen vor der Immediat-ÖkonomieKommission am 28. Febr. 1811 bei Knapp, Bauernbefreiung (Fn. 18), Bd. 2, S. 248 ff., bes. S. 251. Überaus aufschlußreich über Schamwebers Zielvorstellungen in der Agrarpolitik ist auch sein Gutachten über die Herrschaft Flatow bei Günther Franz, Quellen zur Geschichte des deutschen Bauernstandes in der Neuzeit, 1963, S. 386 ff. (14. Juni 1819). 23 Schissler, Agrargesellschaft (Fn. 3), S. 137 ff. 24 s. dazu etwa § 1 des Landeskulturediktes (Fn. 21). 25 Landeskulturedikt (Fn. 21) § 39. 21
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zwischen Stadt und Land im Zuge der Einführung der Gewerbefreiheit26. Daß die insofern über eine "Bauernbefreiung" im engeren Sinn weit hinausweisende preußische Agrarpolitik in der damaligen Zeit nicht singulär war, kann hier nur am Rande erwähnt werden. In Bayern z. B. war man schon vorher nicht zuletzt aus fiskalischem Interesse zu einer auf Parzeliierung des Großgrundbesitzes und Aufteilung der Gemeinheiten ausgerichteten Agrarpolitik übergegangen (mit einer in Preußen völlig fehlenden bewußten sozialpolitischen Komponente zugunsten der ländlichen Unterschichten), hatte jedoch schon um 1808 herum erkennen müssen, daß diese Politik zu einer Zersplitterung gerade des mittleren Besitzes und somit nicht zu der erhofften Stärkung des selbständigen Bauerntums führte 27. Die preußische Regierung hatte damit gerechnet, daß ihre Agrarpolitik zu einer erheblichen Zunahme der ländlichen Bevölkerung führen würde (was noch ganz im Sinne der "Peuplierungspolitik" des 18. Jahrhunderts) durchaus als Erfolg verstanden wurde 28, und daß die preußischen Provinzen tatsächlich noch in einem starken Maße entwicklungsfähig waren, sollte sich im Ablauf der nächsten zwei Generationen zeigen: die ländliche Bevölkerung der preußischen Ostprovinzen hat sich bis 1865 verdoppelt, durch Landesausbau wurde auch die Ackerfläche verdoppelt, der Anteil des Ödlandes sank in ganz Preußen von 40,3 auf 7,1 Prozent, und die Erträge pro Hektar stiegen erheblich29 • Diese Reserven reichten allerdings nicht, um vor dem Einsetzen der großen Industrialisierungswelle nach der Jahrhundertmitte ein allmähliches Absinken immer größerer Bevölkerungskreise an den Rand des Existenzminimums zu verhindern. "Mindestens 50- 60 Prozent der Bevölkerung" lebten im Vormärz "knapp, ja dürftig und in Krisenzeiten elend und gefährdet" 30 • Bevölkerungswachstum und Agrarreformen führten allerdings zu einer beträchtlichen Verschiebung der Bevölkerungsstruktur auf dem Lande. Hatten sich um die Jahrhundertwende 26 Vogel, Gewerbefreiheit (Fn. 19), S. 76. 27 Hausmann, Agrarpolitik (Fn. 7), S. 134 und S. 138 ff.
28 Vgl. dazu Schamwebers Rede vor der Ökonomie-Kommission (Fn. 22), S. 255. In dem ebd. nachgewiesenen Gutachten vom 14. Juni 1819 hielt Schamweber eine Verdreifachung der Bevölkerungszahl durch Siedlung für möglich. 29 Ipsen, Landesausbau (Fn. 16), S. 43 und S. 47. Die Steigerung der HektarErträge war allerdings weniger stark, als sie Thaer als Folge der Agrarreform erwartet hatte. Sie betrug bis zur Jahrhundertmitte bei Weizen und Roggen 19 Prozent, bei Gerste 38, bei Hafer 60 Prozent. s. dazu Günther Franz, in: Hermann Aubin/Wolfgang Zorn (Hrsg.): Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 2, 1976, S. 309. 30 Werner Conze, Vom "Pöbel" zum "Proletariat". Sozialgeschichtliche Voraussetzungen für den Sozialismus in Deutschland, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Moderne deutsche Sozialgeschichte, 2. Aufl. 1968, S. 122.
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die drei Gruppen der Vollbauern mit 50-240 Morgen Land, die Halbbauern mit eigenem Haus und geringem Ackeranteil und die landlosen Tagelöhner und Arbeiter noch in etwa die Waage gehalten, so war das Verhältnis bereits eine Generation nach der Bauernbefreiung 1 : 2,6: 3,4, während der Großgrundbesitz konsolidiert wurde31 • Er gewann per Saldo zwar nur ungefähr 3 Prozent des bisherigen Bauernlandes32, konnte seine Kapitalkraft aber durch beträchtliche Ablösungszahlungen steigern und sich außerdem bei der Umstellung auf eine gewinnorientierte Landwirtschaft auf die ritterschaftliehen Kreditinstitute stützen. Die Aufhebung der Fesseln der ländlichen Sozial- und Wirtschaftsverfassung, der Appell an die Eigeninitiative und das ökonomische Interesse des frei und selbständig wirtschaftenden Landwirtes hatte also nicht den auch im Sinn der zeitgenössischen Diskussion erwünschten Effekt der Stärkung eines selbständigen Bauerntums. Ob das bei einer anderen, nicht durch eine anhaltende Depression gekennzeichneten Agrarkonjunktur nach 1815 anders gewesen wäre, sei dahingestellt - gefehlt hat es zumindest an einer nicht bloß im liberalen Sinn auf die Entfaltung der Eigeninitiative und die Mechanismen des Marktes vertrauenden Strukturpolitik. Es fehlte aber auch an einer umfassenden und durchgreifenden Verbesserung des Schulwesens auf dem Lande, obwohl in der Umgebung Hardenbergs durch Schamweber schon 1814 die Einsicht formuliert wurde, daß mangelnde Schulbildung ein Haupthindernis für soziale Mobilität, für die Entwicklung von "Rationalität des Lebens" und überhaupt von physischer und moralischer Kraft der Gesellschaft sei33• Eine umfassende Modernisierung der Sozialstruktur auf dem Lande hätte in Preußen aber auch eine Reform der Kreisverwaltung und der Gemeindeordnung verlangt: die Aufhebung der Patrimonialgerichtsbarkeit, der gutsherrliehen Polizeigewalt und der Patronatsrechte, sowie die Eingliederung der Gutsbezirke in die Kommunalverbände. Hardenberg hat dann auch an dieser entscheidenden Nahtstelle von Staatsverwaltung und ständischer Agrargesellschaft des älteren Preußen angesetzt und versucht, die Macht der Landräte und der adeligen Kreisstände aus den Angeln zu heben, indem er mit dem Gendarmerie-Edikt vom Juli 181234 einen staatlich ernannten Kreisdirektor französischKoselleck, Preußen (Fn. 6), S. 503 f. Diedrich Saalfeld, Zur Frage des bäuerlichen Landverlustes im Zusammenhang mit den preußischen Agrarreformen, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 11, 1963, S. 163- 171, bes. S. 170. 33 Vogel, Gewerbefreiheit (Fn. 19), S. 74. 34 Gesetzsammlung (Fn. 20) 1812, 5.141- 160. Vgl. darüber Koselleck, Preußen (Fn. 6), S. 195 ff. st
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napoleonischen Zuschnitts und eine paritätisch aus Gutsbesitzern, kleinstädtischem Bürgertum und Bauern gebildete "Kreisverwaltung" an ihre Stelle setzte. Daß der preußische Adel bereits nach wenigen Monaten die Suspendierung dieses Ediktes durchsetzen konnte, war eine der entscheidenden Niederlagen der Administration im Kampf mit den beharrenden Kräften der altständischen preußischen Gesellschaftsordnung. Der Sieg der Verwaltungsreform auf der oberen und mittleren Ebene der Staatsorganisation, den Kaselleck mit allen seinen Folgen so eindrucksvoll analysiert hat, fand auf der Ebene der Kreise und Gemeinden in Preußen im Unterschied zu den Rheinbundstaaten nicht statt: auch dies eine der Spannungen und Verwerfungen, mit denen Preußen in die Epoche der bürgerlichen Gesellschaft hineinging. In den Rheinbundstaaten wurde der Übergang zur freien Eigentümergesellschaft auf dem Lande durchweg schonender vollzogen, als im Bereich der ostelbischen Gutsherrschaft. Dem bürgerlichen Rechtscharakter des Code Napoleon entsprechend, der ja über die radikaldemokratische Phase der französischen Revolution mit der Rückkehr zur unbedingten Eigentumsgarantie wieder auf die liberalen Anfänge von 1789 zurückgriff, wurden auch hier nur die letzten Reste einer kaum noch bestehenden Leibeigenschaft und die im einzelnen nur sehr schwer abgrenzbaren sogenannten Feudalrechte aufgehoben, während das grundherrliche Obereigentum und die von ihm abgeleiteten Dienste und Abgaben gegen Entschädigung abgelöst werden mußten35 • Für die konkrete Situation der Bauern im rechtsrheinischen Deutschland änderte sich daher in der napoleonischen Zeit "vorerst gar nichts" 36, und die endgültige Ablösung der Grundlasten blieb hier ein langwieriger, in den einzelnen Staaten mit unterschiedlichen Etappen ablaufender Prozeß, der ebenso wie in Preußen und Österreich erst während der Revolution von 1848/49 eine endgültige gesetzliche Regelung fand. Eine generelle Landabtretung wurde hier aber durchweg nicht durchgeführt, teilweise leistete der Staat auch Kredithilfe, oder er übernahm sogar einen Teil der Ablösungslasten37 • Die Säkularisation von Kirchengut ermöglichte dem Adel und den Bauern vielfach die Arrondierung ihres Besitzes, darüber hinaus auch bei starken regionalen Unterschieden die Anlage von bürgerlichem Kapital in Grundeigentum38• 35 Vgl. dazu die eingehende Erörterung der ganzen Problematik bei Elisabeth Fehrenbach, Traditionale Gesellschaft und revolutionäres Recht. Die Einführung des Code Napoleon in den Rheinbundstaaten. 2. Auf!. 1978, S. 36 ff. 36 Fehrenbach, Revolutionäres Recht (Fn. 35), S. 37. 37 Lütge, Agrarverfassung (Fn. 14), S. 249 ff. 38 Rudolf Morsey, Wirtschaftliche und soziale Auswirkungen der Säkularisation in Deutschland, in: Rudolf Vierhaus/Manfred Botzenhart (Hrsg.): Dauer und Wandel der Geschichte, FG Kurt von Raumer, 1966, S. 361- 383, bes. S. 363 ff.
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Wenn durch die Reformgesetzgebung vor allem in Preußen die ständischen Schranken für die Berufswahl aufgehoben und die uneingeschränkte Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung proklamiert wurde, so blieb dies nach den Forschungen Fischers und Hennings für die Situation in Handwerk und Gewerbe "eigentümlich belanglos" 3v. Manufaktur- und Fabrikwesen standen ohnehin außerhalb der Zunftordnung, und die strenge Beschränkung des Handwerks auf die Städte war bereits vorher so weit durchbrachen, daß sich das Land mit den gewerblichen Grund- und Massenerzeugnissen "zu einem beachtlichen Teile selbst versorgte" 40• Lediglich bei den "Spezialitätenhandwerken" hatten die Städte ihre Stellung als gewerbliche Vororte uneingeschränkt bewahrt, während man im übrigen nur noch für das ostelbische Deutschland mit Ausnahme Sachsens und Schlesiens von einer entschiedenen Vorherrschaft des städtischen Handwerks sprechen kann. Da die Zünfte auch nach der Verkündung der Gewerbefreiheit als private Korporationen fortbestanden, Gesellen- und Meisterprüfungen durchführten und ihre traditionellen sozialen Aufgaben wahrnahmen, ging ein indirekter Korporationszwang auch weiterhin von ihnen aus. So kam es zwar im Zeichen der Gewerbefreiheit in einigen Gebieten kurzfristig zu einer Zunahme der Alleinmeister und Z'll einem Rückgang der Zahl der Gehilfen in den einzelnen Betrieben, d. h. zu einer Verringerung der durchschnittlichen Betriebsgröße, und in einigen übersetzten Berufen ging die Handwerkerzahl auch insgesamt zurück, während zumindest für Preußen eine beträchtliche Zunahme des Kleinhandels nachweisbar ist. Ein merklicher Schub an Industrialisierung und großbürgerlicher Kapitalbildung ist lediglich für das linksrheinische, an den großen französischen Wirtschaftsraum angegliederte Deutschland bezeugt'\ im übrigen aber bliebtrotz aller Anstrengungen des Staates zur Förderung der Industrialisierung nicht nur in Preußen der Kleinbetrieb für die Situation des Gewerbes in Deutschland auch nach 1815 bestimmend. In diesem Bereich wäre also von einer relativen Stagnation der Entwicklung zu sprechen, obwohl von der Gesetzgebung her die Voraussetzungen für eine dynamischere Wirtschaftsentwicklung gegeben waren42• 39 Wolfram Fischer, Das deutsche Handwerk in den Frühphasen der Industrialisierung, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 120, 1964, S. 693. Vgl. auch Friedrich Wilhelm Henning, Die Einführung der Gewerbefreiheit und ihre Auswirkungen auf das Handwerk in Deutschland, in: Abel, Handwerksgeschichte (Fn. 10), S. 142- 172. 4 ° Karl Heinrich Kaujhold, Umfang und Gliederung des deutschen Handwerks um 1800, in: Abel, Handwerksgeschichte (Fn. 10), S. 57 (danach auch das Folgende). 41 Vgl. v. Raumer, Deutschland um 1800 (Fn. 15), S. 240 f. und Max Braubach, in: Franz Petri/Georg Droege (Hrsg.): Rheinische Geschichte, Bd. 2, 1976, s. 337 ff. 42 Friedrich Lütge, Deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 3. Aufl. 1966, S. 425 spricht sogar davon, daß während und nach der napoleonischen
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Neuere wirtschaftsgeschichtliche Forschungen haben wahrscheinlich gemacht, daß die Ursachen für diese Stagnation und damit für die gegenüber England und Frankreich verspätet einsetzende Industrialisierung nicht wie vorher meist angenommen im Kapitalmangel zu sehen sind, sondern in mangelnder Nachfrage infolge der vom Agrarsektor ausgehenden Depressionstendenzen: das vorhandene Kapital wurde eher in der Form von Staatsanleihen gespart, als in risikoreichen und wenig Gewinn versprechenden Industrie-Unternehmen investiert'3 • Für die Neubestimmung des Ortes bürgerlicher Schichten im Rahmen einer sich verändernden Gesellschaft spielt demgemäß der Bereich der gewerblichen Wirtschaft im damaligen Deutschland nur eine untergeordnete Rolle. Wichtiger erscheint demgegenüber der Ausbau des Staatsdienstes, die Fixierung der Beamtenrechte, die Ausweitung der Funktionen der staatlichen Administration und der damit verbundene Machtzuwachs für die Träger dieser Verwaltung, die allerdings auch aus dem Adel kamen und sich gerade im Staatsdienst mit dem höheren Bürgertum zu einer weder als Stand noch als Klasse zu definierenden staatsbestimmenden Elite verbanden, die durch ein sozial egalisierendes Prüfungswesen, bestimmte Ausbildungsordnungen, das Konkurrenzprinzip und das Leistungsdenken geprägt war. Nachdem in Preußen zwischen 1693 und 1755 schrittweise Prüfungen für alle Stufen der Rechtspflege eingerichtet worden waren, zog der höhere Verwaltungsdienst 1770 mit der Einsetzung des Oberexaminationskollegiums nach". 1810 folgte dann die Staatsprüfung für Gymnasiallehrer; zwei Jahre zuvor hatte bereits das Leistungsprinzip mit dem Fähnrichs- und dem Leutnantsexamen Einzug ins Heerwesen gehalten. Die Unabsetzbarkeit der Beamten hatte praktisch schon das Allgemeine Landrecht gewährleistet, indem es jede vorzeitige Dienstentlassung von einem förmlichen Disziplinarverfahren abhängig machte45 • Der Ausbau des modernen Verwaltungsstaates unter stärkerer oder begrenzterer Übernahme des französischen Vorbilds darf geradezu als das eigentlich prägende Signum der schon durch die Gebietsveränderungen des Zeit die Manufaktur gegenüber dem Handwerk "wieder in den Hintergrund getreten war". Vgl. dort auch S. 459. 43 Knut Borchardt, Zur Frage des Kapitalmangels in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 173, 1961, S. 401 ff. Vgl. auch Harald Winkel, Kapitalquellen und Kapitalverwendung am Vorabend des industriellen Aufschwungs in Deutschland, in: Schmollers Jahrbuch für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 90/1, 1970,
s. 275 ff.
s. dazu jetzt Wilhelm Bleek, Von der Kameralausbildung zum Juristenprivileg, 1972, S. 73 ff. 45 Zweiter Teil, 10. Titel, § 94- 103. Vgl. dazu auch die sehr anregenden, aber kritisch überspitzten Thesen von Eckart Kehr, Zur Genesis der preußischen Bürokratie und des Rechtsstaates. Ein Beitrag zum Diktaturproblem, in: Wehler, Sozialgeschichte (Fn. 30), S. 37- 54. 44
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Reichsdeputationshauptschlusses ausgelösten Reformen im rheinbündischen Deutschland gelten46 • Das bayerische Staatsdienergesetz vom 1. Januar 1805 gilt als epochemachend für die Ausbildung des deutschen Beamtenrechtes, sowohl was die Reglementierung von Ausbildung, Prüfungen und Aufstiegschancen angeht, als auch in bezug auf die Sicherung der Lebensstellung und die Gewährleistung eines auskömmlichen Gehaltes, das den Beamten von zur Korruption verführenden Nebeneinnahmen unabhängig macht47 • Diese rechtliche und soziale Verfestigung des Beamtenstatus begünstigte die Entwicklung eines starken korporativen Selbstbewußtseins, die Selbstinterpretation der Beamtenschaft als "allgemeiner Stand" über den Klassen der bürgerlichen Gesellschaft und ihren partikularen Interessen, die Ausprägung überhaupt der Auffassung, daß eine gute Verwaltung wichtiger sei als eine gute Verfassung. Die obrigkeitsstaatliehe Komponente innerhalb der deutschen Gesellschaft wurde so gestärkt, es kam gleichzeitig aber auch zu einer Art Präkonstitutionalisierung der absoluten Monarchie durch eine nach rechtsstaatliehen Prinzipien arbeitende und sich auch der Öffentlichkeit gegenüber verantwortlich fühlende Verwaltung48 • Die sich in dieser Weise unmittelbar unter der Staatsspitze etablierende Beamtenschaft unterlag freilich in einem beträchtlichen Ausmaß der Gefahr einer sozialen Selbstabkapselung, die in Preußen durch gewisse nicht vorhergesehene und schon gar nicht beabsichtigte Folgen der Bildungsreform verschärft wurde. Die Bildungskonzeption der preußischen Reformzeit49 war bekanntlich angelegt auf eine allgemeine Menschenbildung im Rahmen einer einheitlichen "Nationalerziehung", d. h. ein gleiches Bildungsangebot für alle Staatsbürger auf der Basis einer Einheitsschule, die jeder nach seinen Fähigkeiten, Interessen und finanziellen Möglichkeiten bis zu 48 Eine umfassende und abgewogene Darstellung der Innenpolitik der Rheinbundstaaten findet sich bei v. Raumer, Deutschland um 1800 (Fn. 15), S. 265 ff. Zur Verwaltungsreform s. jetzt außerdem Franz-Ludwig Knemeyer, Regierungs- und Verwaltungsreformen in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts, 1970. 47 s. dazu Eberhard Weis, in: Max Spindler (Hrsg.): Handbuch der bayerischen Geschichte, Band IV/1, 1974, S. 57. Vgl. auch die ältere Würdigung bei Albert Latz, Geschichte des Deutschen Beamtentums, 2. Aufl. 1914, S. 515. 48 Mit dieser Formulierung sollen leichte Vorbehalte gegen die Tendenz Kasellecks angemeldet werden, die preußische Verwaltung nach 1815 zu einer Art Ersatzparlament zu stilisieren, andererseits aber doch unterstrichen werden, daß Preußen nach 1815 nicht mehr als absolute Monarchie bezeichnet werden kann. 49 Vgl. zum Folgenden jetzt die neueste Gesamtdarstellung der preußischen Bildungsreform von Clemens Menze, Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts, 1975, sowie Karl-Ernst Jeismann, Das preußische Gymnasium in Staat und Gesellschaft. Die Entstehung des Gymnasiums als Schule des Staates und der Gebildeten 1787-1817, 1974.
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einer beliebigen Stufe durchlaufen kann, um hier zunächst seine geistigen Kräfte bis zu einem Höchstmaß an Selbsttätigkeit zu entwickeln und sich hinterher auf speziellen Ausbildungsstätten für seinen eigentlichen Beruf vorzubereiten. Voraussetzung für eine alle Bevölkerungsschichten auch tatsächlich erfassende Nationalerziehung aber war eine gründliche Reform des heillos darniederliegenden Volksschulwesens und der Volksschullehrerausbildung. In der Sektion für Kultus und Unterricht wurde dieses Problem durchaus gesehen und seine Lösung in Angriff genommen. Die Erfolge der Bemühungen um die Elementarschule aber mußten zunächst notwendig begrenzt bleiben, und später geriet gerade die Volksschule bald wieder in den Sog der restriktiven Bildungspolitik der Restaurationszeit. Die Reform des Gymnasiums jedoch ging voran. Sie führte wegen der erhöhten Ansprüche an Schulträger, Lehrerschaft und Schüler zu einem Rückgang der Zahl der höheren Schulen und damit zu einer Verringerung des Bildungsangebotes sowohl in der Breite wie in der Differenzierung50, während die gemeinhin mit dem Verdikt des vordergründigen Utilitarismus belegten Schulpläne von Humboldts Vorgänger Massow immerhin ein breit gefächertes, sozial ausgewogenes und den Bedürfnissen des bürgerlichen und bäuerlichen Mittelstandes in stärkerem Maße entsprechendes Bildungsangebot enthalten hatten - wie es denn überhaupt das erklärte Ziel der Massowschen Schulpolitik war, die Schulen der "vielen Millionen" eher als die der "einigen Tausend" zu fördern 51 • Das Humboldtsche Gymnasium hingegen wurde allmählich zum preußischen Gymnasium umgeformt, zur sozial herausgehobenen, mehr und mehr als Vorbereitungsinstitut für die Universität verstandenen Bildungseinrichtung der staatsbezogenen Berufe und damit zum wesentlichen Faktor für die Selbstergänzung der Beamtenschaft52• Die bei den Elementarschulen vernachlässigte, für die höheren Schulen durch die Einführung neuer Prüfungen aber vorangetriebene Reform der Lehrerausbildung führte infolge ihres fragmentarischen Charakters zum Aufbau neuer Sozialund Bildungsschranken innerhalb des Unterrichtswesens und schließlich in der Gesellschaft selbst53 • 50
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Jeismann, Gymnasium (Fn. 49), S. 380. Jeismann, Gymnasium (Fn. 49), S. 171 ff.; das Zitat aus Massows unge-
druckten "Bemerkungen .. . betr. die Schulreform in den preußischen Staaten" s. ebd. S. 178. 52 Jeismann, Gymnasium (Fn. 49), S. 353 und S. 397. Der Besuch des humanistischen Gymnasiums wurde 1817 bereits zur Bedingung für die Aufnahme in den höheren Verwaltungsdienst, als in einer Instruktion für die Geschäftsführung der preußischen Regierungen von den angehenden Referendaren im Unterschied zu der vorherigen mehr praktisch-kameralistischen Vorbildung nicht nur "gründliche Kenntnisse des Rechts", sondern auch "gute Schulkenntnisse in alten und neuern Sprachen, in Geschichte und Mathematik" verlangt wurden. Bleek, Kameralausbildung (Fn. 44), S. 104. 53 Jeismann, Gymnasium (Fn. 49), S. 320 f.
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Daß die im Ganzen gescheiterte preußische Bildungsreform auf eine Überwindung der ständischen Gesellschaftsschranken hin angelegt war, wird vielleicht nirgendwo so deutlich ausgesprochen wie in der Kritik Beckedorfjs54 am Süvernschen Schulgesetzentwurf von 1819, in dem noch einmal versucht wurde, die Substanz der Bildungsreform gegen die vordringenden Kräfte der Reaktion zu sichern. Beckedorff stellt darin fest, daß die Idee der Nationalerziehung letztlich auf der falschen Ansicht "von einer durch die bürgerliche Gesellschaft ... herzustellenden allgemeinen Gleichheit aller Menschen" beruhe55• Die natürliche Ungleichheit der Menschen verlange jedoch eine spezielle Vorbildung jedes einzelnen für einen bestimmten Beruf, nicht "ein Tüchtigmachen aller und jeder zu allem Möglichen, ... ein Abrichten für alle Fälle ... Für Republiken mit demokratischer Verfassung mag dergleichen vielleicht passen, allein mit monarchischen Institutionen verträgt es sich gewiß nicht" 58• Das vielleicht wichtigste bürgerliche Privileg in der ständischen Gesellschaftsordnung war die weitgehende Befreiung vom Militärdienst dort, wo es überhaupt eine Form von umfassender Dienstpflicht gab, d. h. vor allem im Bereich des preußischen Kantonreglements. Das 1792 noch einmal spezifizierte Kantonreglement von 1733 war ein wesentliches Grundgesetz der altpreußischen Monarchie 57 • Es stellte die Verbindung von Militärsystem und Sozialordnung her; es gab den Kompaniechefs eine fast unbegrenzte Gewalt über die Bevölkerung ihrer Rekrutierungsbezirke; die in ihm begründeten Einschränkungen der persönlichen Freiheit kumulierten sich für den dienstpflichtigen Bauernsohn mit den Auswirkungen der Erbuntertänigkeit und der gutsherrliehen Befugnisse in Rechtsprechung und Verwaltung, während die städtische Bevölkerung mit Ausnahme der nicht angesessenen Unterschichten von der Dienstpflicht befreit war. Dieses Privileg nun wurde durch das in der französischen Revolution entstandene Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht in Frage gestellt, auf das auch die preußischen Heeresreformer aus prinzipiellen staatspolitischen Erwägungen nicht glaubten verzichten zu dürfen. Daß als Voraussetzung für die Heranziehung des Bürgertums zum Kriegsdienst das bisherige System des mechanischen Drills, der menschenunwürdigen Behandlung und der barbarischen Disziplinarstrafen beseitigt werden müsse, war unbestrit54 Georg Philipp Ludolf v. Beckedorff (1778- 1858), Schriftsteller, Prinzenerzieher in Kurhessen und Anhalt-Bernburg, ab 1821 Vortragender Rat im preußischen Kultusministerium. 55 Lothar Schweim (Hrsg.), Schulreform in Preußen 1809 - 1819. Entwürfe und Gutachten, 1966, S. 225. 58 Schweim, Schulreform (Fn. 55), S. 226 und S. 229. 57 Vgl. dazu Otto Büsch, Militärsystem und Sozialleben im alten Preußen 1713- 1807, 1962.
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ten. Die preußische Heeresreform war allerdings, und dies wird bisher etwas zu wenig beachtet, von vornherein nur auf eine allgemeine, nicht auch eine gleiche Wehrpflicht zugeschnitten58 • In der ursprünglichen Konzeption war geplant, für die bislang eximierten bürgerlichen Schichten und den Adel völlig selbständige Truppenformationen einzurichten, in die nur diejenigen eintreten durften, die sich selbst ausrüsten konnten. Man berechnete die Kosten für die Infanterie für das erste Jahr auf rund 185 Taler, für die Kavallerie auf 208 Taler (ohne Pferd): das entsprach etwa dem Jahresverdienst eines qualifizierten Subalternbeamten oder dem doppelten Jahresverdienst eines durchgehend beschäftigten Maurers. Auch gegen diese Form der allgemeinen, aber ungleichen Wehrpflicht erhob sich jedoch ein Sturm des Protestes im Bürgertum bis in die höchste Ebene der Ministerialbürokratie, und man schlug als Alternative das nun allerdings extrem besitzbürgerliche und auch im Rheinbund durchweg eingeführte napoleonische Konskriptionssystem vor, bei dem man sich durch Bezahlung eines Stellvertreters vom Militärdienst loskaufen konnte50 • Angesichts der Preußen auferlegten Rüstungsbeschränkungen bekam diese Diskussion zunächst allerdings keine praktische Bedeutung, und das Kantonreglement blieb bis zum Erlaß des preußischen Wehrgesetzes vom September 1814 bestehen. Nachdem schon bei der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im Februar 1813 den bislang Eximierten der Dienst in eigenen Freiwilligenverbänden gestattet worden war, wurde dieses Besitz- und Bildungsprivileg einer bürgerlichen Mittelklasse in Gestalt des "EinjährigFreiwilligen" dann auch in die endgültige Heeresorganisation übernommen. Ein wesentliches Moment für die Überwindung der altständischen Gesellschaftsordnung durch Reform im Heerwesen war des weiteren der Abbau der in Preußen besonders ausgeprägten adeligen Exklusivität des Offizierskorps. So wurde jetzt dem Adel trotz vereinzelter Proteste gegen diesen Eingriff in sein "Eigentum" das faktisch bestehende Offiziersprivileg genommen, auch den adeligen Offiziersanwärtern ein dreimonatiger Dienst als Gemeiner auferlegt, Examina für den Eingang zur Offizierslaufbahn eingeführt und versucht, allein das Leistungsprinzip zum Kriterium für die Beförderung zu machen60 • Eine Schranke 58 s. dazu den "Vorläufigen Entwurf der Verfassung der Reserve-Armee" vom August 1807 und den Immediatbericht der Militär-Reorganisationskommission vom 15. März 1808 bei Rudolf Vaupel (Hrsg.), Die Reorganisation des Preußischen Staates unter Stein und Hardenberg. Zweiter Teil: Das preußische Heer vom Tilsiter Frieden bis zur Befreiung 1807- 1814, Bd. 1, 1938, S. 82 ff. und S. 320 ff. 59 Vgl. die Denkschriften der Minister Altenstein und Dohna bei Max Lehmann, Preußen und die allgemeine Wehrpflicht im Jahre 1810, in: Historische Zeitschrift 69, 1892, S. 437 ff. und S. 440, außerdem Niebuhrs Brief an Altenstein vom 5. November 1808 bei Dietrich Gerhard/William Norvin (Hrsg.), Die Briefe Barthold Georg Niebuhrs, Bd. 1, 1926, S. 494 ff.
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für die soziale Öffnung des Offizierskorps war allerdings das mit dem Prüfungswesen verbundene System der Kooptation des Offiziersnachwuchses. Indem den Offizieren der Regimenter die Möglichkeit gegeben wurde, aus den geprüften Fähnrichen den geeignetsten zur Ernennung für eine freie Stelle vorzuschlagen, entwickelten sich bald ungeschriebene Gesetze über die Zugehörigkeit zu einer neuen, offiziersfähigen Schicht aus Adel und Bürgertum. Was man in dieser Hinsicht von den Bürgersöhnen erwartete, hat ein prinzipieller Gegner der Reform schon im August 1807 in folgenden Kriterien zusammengefaßt: "Eigene Bildung, Erziehung und Unterstützung aus eigenem oder elterlichem Vermögen" sowie Herkunft aus "solchen anständigen und gebildeten bürgerlichen Familien . .. daß durch ihre Familienverbindung keine Kollisionen für ihren künftigen Stand zu besorgen blieben" 61 • Daß die Kadettenanstalten aufrecht erhalten wurden, obwohl Humboldt sie hatte abschaffen wollen, belegt noch einmal die gesellschaftspolitisch dann doch begrenzte Auswirkung der Heeresreform. Für die soziale Zusammensetzung des Offizierskorps ergab sich als Folge, daß der Anteil des Adels von etwa 90 Prozent im Jahre 1786 bis 1819 auf 54 Prozent zurückging, danach jedoch wieder anstieg. 1861 bestanden die höheren Dienstränge wieder zu etwa 80 Prozent aus Adeligen, die Subalternoffiziere im Heer zu 67 Prozent, bei Garde und Kavallerie zu 95 Prozent aus Adeligen62 • Die meisten Veränderungen in der Stellung des Adels sind im Vorhergehenden bereits indirekt mit angesprochen worden. Der Adel verlor im damaligen Deutschland fast alle seine politischen und rechtlichen Privilegien. Die Reichsritterschaft ging unter, und sie wurde auch im Zuge der Restauration nicht wieder hergestellt. Eine Ausnahme bildeten lediglich die in den Rang von Standesherren erhobenen ehemals reichsfürstlichen Häuser. Die soziale Stellung des deutschen Adels und ihre Basis im Grundeigentum blieb jedoch unangetastet, ja sie wurde sogar noch konsolidiert. Anders als in den Rheinbundstaaten gelang es dem Adel in Preußen sogar, seine Grundsteuerfreiheit in dem auch vor 1806 bestehenden Ausmaß (und das heißt nicht in allen Provinzen gleichmäßig) zu behaupten, obwohl Hardenberg in seinen ersten Plänen für die Sanierung der durch Kriegskosten und Kontributionszahlungen zerrütteten preußischen Staatsfinanzen eine gleichmäßige Verteilung des bisherigen Grundsteueraufkommens auf alle Landbesitzer vorgesehen 80 s. das "Reglement über die Besetzung der Stellen der Portepeefähnriche ..." vom 6. August 1808, in: Sammlung der für die Königlichen Preußischen Staaten erschienenen Gesetze und Verordnungen von 1806 bis zum 27sten Oktober 1810, Berlin 1822, S. 275 ff. 81 Vaupel, Heeresreform (Fn. 58), S. 48 (Graf Lottum). 62 Bosl/Weis, Gesellschaft (Fn. 1), S. 243 f.
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hatte, eine steuerliche Entlastung also der Bauern und eine höhere Belastung des Adels63 • An die Durchsetzung dieser Pläne aber ist er nie ernsthaft herangegangen, und auch die von Stein immer wieder geforderte Einführung einer allgemeinen, mäßig progressiv gestaffelten Einkommensteuer erfolgte nur als außerordentliche Maßnahme zur Finanzierung der erneuten Kriegskosten im Jahre 1812. Für den Ausgleich des ordentlichen Haushaltes wählte Hardenberg lieber den bequemen Weg einer Erhöhung der indirekten Steuern auf die "ersten Lebensbedürfnisse": Brot, Fleisch, Branntwein und Bier. Dies führte zu einer Verdoppelung der Brotpreise und zu erheblichen inneren Unruhen, und Hardenberg sah sich dadurch veranlaßt, auf die sozial gleichfalls nicht gerechtere, für alle Personen gleiche Kopfsteuer auszuweichen. Nach heutigen Maßstäben sozialer Gerechtigkeit war die Steuerpolitik der Rheinbundstaaten ausgewogener- speziell für Hardenberg aber hat man immer wieder eine auffällige Schonung von Grund- und Kapitalbesitz und eine unverhältnismäßig starke Belastung der breiten Bevölkerung in seiner Steuerpolitik notiert. Nicht zuletzt deshalb steht er für Hans Haussherr am Eingang eines besitzbürgerliehen Zeitalters84• Auch in den Verfassungsprojekten der Zeit wurde dem Adel als Stand nur noch sehr begrenzt eine gesonderte Vertretung eingeräumt; an seine Stelle trat vielmehr die Klasse der Grundeigentümer. Der rheinbündische, rein akklamatorische Scheinkonstitutionalismus des Königreichs Westphalen65 beruhte auf einer Volksvertretung von 70 Grundeigentümern, 15 Kaufleuten und 15 Gelehrten und Notabeln. Sie wurden durch Departementskollegien gewählt, deren Mitglieder zu zwei Dritteln aus dem Kreis der Höchstbesteuerten ernannt worden waren. Auch nach der nie in Kraft getretenen bayerischen Verfassung von 180868 bestanden die vom Landesherrn ernannten Wahlkollegien und die von ihnen zu benennenden Deputierten ausschließlich aus höchstbesteuerten Grundbesitzern ohne jede weitere berufsständische oder anderweite Untergliederung. Nach den relativ am weitesten ausdiskutierten Verfassungsplänen des Ministeriums Stein hätte die preußische Nationalrepräsentation aus drei Bänken bestanden: einem 83 Zu den Finanz- und Steuerplänen Hardenbergs s. Hans Haussherr, Hardenberg. Eine politische Biographie. III. Teil: Die Stunde Hardenbergs, 2. Aufl. 1965, S. 86 ff. und S. 249 ff., sowie Ernst Klein, Von der Reform zur Restauration. Finanzpolitik und Reformgesetzgebung des preußischen Staatskanzlers Karl August von Hardenberg, 1965. 84 Haussherr, Hardenberg (Fn. 63), S. 263. 85 Die Verfassung des Königreichs Westphalen wird hier benutzt nach dem Abdruck bei Peter Adolf Winkopp (Hrsg.), Der Rheinische Bund, Bd. 12, 1807, S. 472 ff. s. dort bes. Art. 29 bis 44. 66 Druck und Interpretation bei Peter Wegelin, Die Bayerische Konstitution von 1808, in: Schweizer Beiträge zur Allgemeinen Geschichte 16, 1958, S. 142- 206. Vgl. auch Weis (Fn. 47) S. 53 f. und v. Raumer (Fn. 15), S. 312 f.
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Staatskollegium mit 48 vom König ernannten Mitgliedern, einem 36köpfigen Kollegium der Würden und Stände aus hoher Geistlichkeit und standesherrlichem Hochadel, und einem gewählten Nationalkollegium mit je 20 Vertretern von Handel, Gewerbe, städtischem Grundbesitz, ländlichem Großgrundbesitz, bäuerlichem Besitz und Bildungsbürgertume7. Um das Eindringen von (modern gesprochen) Berufspolitikern,- in der Ausdrucksweise Steins "Advokaten, Pamphletisten und Schreiern" 88 - in die Versammlung zu verhindern, wollte Stein jeden Berufsstand dazu verpflichten, Abgeordnete aus den eigenen Reihen zu wählen. Wie breit die soziale Basis dieser Repräsentation sein sollte, wird aus den wenigen Zeugnissen über die beim Sturz Steins noch längst nicht zum Abschluß gekommenen Beratungen nicht deutlich; wahrscheinlich aber hätte Stein doch alle selbständigen, angesessenen Bürger und die spannfähigen Bauern mit in den Kreis der Wahlberechtigten einbezogen. Nach den Zensusqualifikationen der Städteordnung (150 bzw. 200 Taler reines Einkommen89) wären das mindestens 70 Prozent der Bürgergemeinde gewesen, die allerdings nicht alle Einwohner umfaßte. Wenn Stein die Mitwirkungsrechte in Selbstverwaltung und politischer Repräsentation durchweg der "Klasse der Eigentümer" vorbehalten wollte70, so muß man sich auf jeden Fall davor hüten, darunter nur den großen Besitz in Stadt und Land zu verstehen. Die Städteordnung ist das einzige, wirklich in echte Funktion getretene Modell einer Repräsentativverfassung mit Gewaltenteilung im damaligen Deutschland. Sie mußte einer widerstrebenden Bürgerschaft zum Teil geradezu aufgenötigt werden, und aufschlußreich ist auch die Reaktion eines ihrer Väter, des Königsherger Polizeidirektors Frey, auf den Ausgang der ersten Wahlen. Als in die erste Stadtverordnetenversammlung 40 Kaufleute, 50 Handwerker und 12 Angehörige anderer Berufe gewählt worden waren, schlug er vor, einen höheren Zensus für das passive Wahlrecht und außerdem das indirekte Wahlverfahren einzuführen. So sollte das Übergewicht der ungebildeten Volksklassen in der Stadtverordnetenversammlung verhindert werden: "Macht ist auf Reichtum und Einsicht basiert, und je mehr diese Eigenschaften in den Gewalthabern sich vereinigen, desto kräftiger wird die Regierung sein71 ." 67 s. dazu vor allem Rehdigers zweiten "Entwurf einer Repräsentation" bei Georg Heinrich Pertz, Das Leben des Feldmarschalls Grafen Neithardt v. Gneisenau, Bd. 1, Berlin 1864, S. 406 ff., sowie die Stellungnahme Steins dazu bei Walther Hubatsch (Hrsg.), Freiherr vom Stein, Briefe und amtliche Schriften, Bd. II/2, 1960, S. 920 ff. Über die Verfassungskonzeptionen Steins im Ganzen s. Gerhard Ritter, Stein. Eine politische Biographie. Neugestaltete (3.) Aufl. 1958, S. 275 ff.
es Stein, Briefe (Fn. 67), S. 922. 69 Städteordnung § 74 d, s. den Druck in Stein, Briefe (Fn. 67), S. 957. 70 So u. a. schon in der Nassauer Denkschrift, s. Stein, Briefe (Fn. 67)
Bd. II/1, 1959, S. 395.
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Hardenberg setzte die ernannte preußische Notabelnversammlung von 1811 aus 30 fast ausnahmslos adeligen Großgrundbesitzern, 12 Regierungsbeamten, 14 städtischen Vertretern und 8 Repräsentanten der bürgerlichen Pächter und bäuerlichen Grundeigentümern zusammen7 z. Die gewählte interimistische Nationalrepräsentation von 1812 bestand aus 18 Rittergutsbesitzern, 14 städtischen und 9 bäuerlichen Abgeordneten, wobei jeder Vollbauer wahlberechtigt gewesen war. Der adelige Großgrundbesitz hatte also jeweils eine sehr starke Stellung, wenn auch kein zahlenmäßiges Übergewicht, aber er vermochte die Repräsentationsversuche Hardenbergs doch zu einer erheblichen Verwässerung der Steuerpläne und der Agrarpolitik Hardenbergs auszunutzen73 • Hardenbergs Vorgänger Dohna hatte ihn davor gewarnt, daß jeder Versuch zu einer Beteiligung ständischer Gremien an der Ausarbeitung und der Durchführung der Reformpolitik nur zu Schwierigkeiten und Hindernissen führen könnte74 • Der Verlauf der beiden Versammlungen schien diese Skepsis nur allzu sehr zu bestätigen. Oder lag der unbefriedigende Verlauf der beiden Versammlungen vornehmlich daran, daß ihnen im Regierungssystem Hardenbergs nur die Aufgabe der Vermittlung des Regierungswillens von oben nach unten zugedacht war, daß ihnen aber wirkliche politische Mitverantwortung nicht übertragen wurde? Alle Repräsentationsmodelle der preußischen und der rheinbündischen Reformen standen vor der Schwierigkeit, daß sie auf eine breite bürgerliche Eigentümergesellschaft hin konzipiert waren, daß diese Gesellschaft aber erst rudimentär vorhanden war und ihre Repräsentanten vornehmlich im Adel und in der Beamtenschaft hatte75 • 71 Theodor Winkler, Johann Gottfried Frey und die Entstehung der preußischen Selbstverwaltung, Neuausgabe 1957, S. 149. 72 Zu den Kontroversen um die Beurteilung der Verfassungspläne Hardenbergs s. Klein, Von der Reform zur Restauration (Fn. 63), S. 166 ff. Daß es Hardenberg nicht um ein "Staatsgrundgesetz liberaler Prägung" ging, "das die bürgerlichen Freiheiten garantierte und eine parlamentarische Vertretung schuf, welcher die Regierung in irgendeiner Form verantwortlich war", ist Klein (S. 167) sicherlich zuzugestehen; aber ist das wirklich der einzig richtige Maßstab? Hardenbergs Verfassungsvorstellungen sind vielmehr zwischen einem solchen parlamentarisch-liberalen Modell und dem reinen Scheinkonstitutionalismus napoleonisch-rheinbündischer Prägung anzusiedeln. Insoweit aber dürfte es Hardenberg mit seinen immer wieder aufgegriffenen Verfassungsprojekten doch ernster gewesen sein, als Klein anzunehmen geneigt ist. 73 Steffens, Hardenberg und die ständische Opposition (Fn. 19), S. 102 ff. und S. 156 ff. 74 Altred Stern, Abhandlungen und Aktenstücke zur Geschichte der preußischen Reformzeit 1807 - 1815, Leipzig 1885, S. 162 f. (22. August 1810). 75 Fehrenbach, Revolutionäres Recht (Fn. 35), S. 68. Vgl. jetzt auch den erst nach Niederschrift dieses Vortrags erschienenen Aufsatz Fehrenbachs: Verfassungs- und sozialpolitische Reformen und Reformprojekte in Deutschland unter dem Einfluß des napoleonischen Frankreich, in: Historische Zeitschrift 228, 1979, S. 288- 316, bes. S. 299 ff.
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Nachdem sich der Adel seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts durch eine Flut öffentlicher Kritik in einem solchen Maße in die Defensive gedrängt gesehen hatte, daß selbst überzeugte Verteidiger des Adels ihn nur noch durch eine tiefgreifende Reform nach englischem Vorbild glaubten retten und rechtfertigen zu können, kam es noch vor dem eigentlichen Beginn der Restauration zu einer Renaissance des Adels, die auch Napoleon aus Motiven der Herrschaftsstabilisierung heraus begünstigte, die in der bayerischen Adelsgesetzgebung von 1808 bereits einen deutlichen Ausdruck fand und die im Kampf der ständischen Opposition gegen Hardenberg auch schon politisches Gewicht bekam. Trotz dieser dann auch von politischer Romantik und organischer Staatslehre geförderten Regeneration des Adels war aber nicht zu verkennen, daß sich seine Stellung nur dann behaupten ließ, wenn sich seine Angehörigen im öffentlichen Leben und im wirtschaftlichen Konkurrenzkampf den Bedingungen des heraufziehenden bürgerlichen Zeitalters unterwarfen. Von allerdings sehr guten Startbedingungen her hat der deutsche Adel dies in den folgenden Jahrzehnten mit beträchtlichem Erfolg getan. Adelsfeindschaft hat, wenn nicht alles täuscht, für den Ausbruch der Revolution von 1848 in Deutschland eine sehr viel geringere Rolle gespielt als Bürokratiekritik. Im Deutschland der preußischen und rheinbündischen Reformen begann die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts Gestalt anzunehmen. Die bereits vorher brüchig gewordenen rechtlichen Schranken der ständischen Gesellschaft wurden niedergelegt, ihre sozialen Grundlagen aber blieben weitgehend unverändert. Wo sich Wandlungen abzeichneten, und das war vor allem im Bereich der Agrarbevölkerung, verliefen sie nicht zugunsten der unteren Bevölkerungsschichten. Es hat in der Reformzeit nicht an Gespür für dieses Problem gefehlt, doch gerade hier klaffte ein besonders breiter Raum zwischen Zielvorstellungen und Realität. Die Konzeptionen der Reformpolitiker waren im übrigen durchweg nicht auf eine egalitäre, sondern auf eine gestufte und gegliederte Gesellschaft hin orientiert, in der die Rangordnung durch Bildung, Besitz und Leistung bestimmt ist. Abgesehen vom Beamtenturn mußte sich die bürgerliche Eigentümergesellschaft aber erst noch entwickeln; dies war ein wesentliches Hindernis auch für die Verfassungsprojekte der Reform. Daß die spätere bürgerliche Gesellschaft aufgrund der Stagnation der Verfassungsentwicklung bei den deutschen Vormächten und im Deutschen Bund keine adäquate Form der politischen Repräsentation hatte; war neben der sozialen Krise. des ausgehenden Vormärz die Hauptursache für die Revolution von 1848 in Deutschland.
Aussprache Dietrich: Ich habe ein grundsätzliches Bedenken anzumelden, und zwar dagegen, daß Herr Botzenhardt, und insofern ist es ganz günstig, wenn wir mit den Agrarverhältnissen anfangen, die deutsche Gesellschaft des ausgehenden 18. Jhs. als noch zu 70 Prozent agrarisch bestimmt hingestellt hat. Ich glaube, da müßte man doch sehr viel stärker differenzieren. Ich habe mich seit einiger Zeit beschäftigt mit Problemen der deutschen Stadtgeschichte und bin dabei zu dem mich selbst ein wenig überraschenden Ergebnis gekommen, daß man von einer intakten Agrarstruktur im 18. Jh. schon lange nicht mehr sprechen kann, daß seit dem 16. Jh. zumindest in großen Teilen Deutschlands die ländliche Gesellschaft weitgehend aufgelöst ist und daß wir von einem Prozeß einer fortschreitenden Verstädterung des flachen Landes sprechen müssen. Ich denke dabei nicht nur an mein berühmtes Musterbeispiel des Erzgebirges, wo diese Sache zweifellos am weitesten fortgeschritten ist, durch den Bergbau des ausgehenden Mittelalters bedingt, sondern auch an Thüringen, an die Ober-Lausitz, an Schlesien mit ausgesprochen starker ländlicher Leinengewerbewirtschaft, ich denke an Böhmen und Mähren, an die Oberpfalz, aber auch an Teile des Rheinlandes und man wird es sogar von Lippe sagen müssen, daß dort z. T. solche Verhältnisse schon eingetreten sind, wobei ich allerdings nicht ganz sicher bin. Aber so einige Anzeichen glaube ich da auch entdeckt zu haben. Ich möchte mich dabei allerdings gegen das Mißverständnis wehren, daß der Begriff Verstädterung, wie mir einmal in einer Diskussion vorgehalten wurde, gleichzusetzen sei mit Urbanisierung. Das ist natürlich nicht der Fall. Urbanisierung in dem modernen Sinne tritt nicht ein. Aber was eintritt, ist ein Durchbrechen der bisherigen Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen durch die Aussiedlung von städtischen Gewerben auf das Land ohne Rücksicht auf die zünftlerischen Beschränkungen und ohne Rücksicht darauf, daß auf dem Land an sich, auch nach der Auffassung des grundbesitzenden Adels etwa, nur solche ländlichen Gewerbe zulässig seien, die ihrer unmittelbaren Bedarfsdeckung dienen. Das ist einfach nicht mehr der Fall, sondern es handelt sich um Gewerbe, die auf Versorgung größerer oder kleinerer lokaler Märkte, ja um Gewerbe, die z. T. sogar schon export-orientiert eingestellt sind und eben von einer unterbäuerlichen Landbevölkerung oder sozusagen einer Art "nebenbäuerlichen" Landbevölkerung wahrgenommen werden, die mit der alten grundansässigen Bauernbevölkerung und ihren zuarbei-
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tenden Landgewerben gar nichts mehr zu tun haben, sondern z. T. auch direkt aus den Städten stammen und auf dem Lande ansässig werden. Das scheint mir also in sehr vielen Gegenden Deutschlands der Fall zu sein. Wenn Sie sich die Gesetzgebung jener Zeit ansehen, die zahlreichen Edikte, die die Landesherren vom 16. bis 18. Jh. erlassen haben, um auf Wunsch des grundbesitzenden Adels diese Entwicklung zu steuern, dann scheint mir das der Beweis dafür zu sein, daß in manchen Gegenden eben diese Entwicklung sehr weit fortgeschritten war. Das möchte ich zunächst einmal als einleitendes, etwas grundsätzliches Bedenken hier angemeldet haben. Weis: Ich glaube, es ist dankenswert, daß Herr Dietrich auf diese Veränderungen auf dem Lande hingewiesen hat. Es besteht kein Zweifel, daß nicht nur das Landhandwerk zunahm, sondern auch die industriellen Produktionsstätten auf dem Lande. Andererseits möchte ich, und hier glaube ich doch Herrn Botzenhardts Ausführungen verteidigen zu müssen, darauf hinweisen, daß die ländlichen Manufakturbetriebe zahlenmäßig, also in bezug auf die Menschen, die sie beschäftigten und das Verlagshandwerk nicht sehr stark ins Gewicht fielen und daß es andererseits auch noch Ackerbürger in den Städten gab. Herr Botzenhardt hat unterschieden zwischen denen, die a) auf dem Lande lebten und denen, die b) von der Landwirtschaft lebten. Dietrich: Ich denke dabei weniger an die Manufakturgründungen auf dem Lande, obwohl sie beispielsweise in Sachsen durchaus von Bedeutung gewesen sind, als daran, daß ländliche Handwerksbetriebe, die nicht für die ländlich unmittelbare Bedarfsdeckung arbeiten, sondern für städtische Märkte und sogar für Exporte außerhalb des Landes, jedenfalls in Mitteldeutschland seit dem 16. Jh. zahlreich sind. Weis: Sie haben gerade die Landschaften genannt, in denen das Gewerbe traditionell schon sehr stark entwickelt war, wie Sachsen, die Lausitz, das Gebiet um Berg usw. Aber wenn man versucht, Gesamtzahlen aufzustellen, Prozentzahlen, was natürlich immer sehr schwierig ist für ganz Deutschland, muß man natürlich auch die großen rein agrarischen, oder fast rein agrarischen Gebiete mit berücksichtigen. Ich möchte hier noch einen Punkt anschneiden, wo Herr Botzenhardt sich summarisch ausgedrückt hat, wenn er von einer Stagnation der Landwirtschaft zu Beginn des 19. Jhs. und einer geringen Produktivitätsentwicklung sprach. Bald machten sich der bedeutende Aufschwung der Agrarwissenschaft - Albrecht Thaer, in Bayern etwa sein Schüler Schönleutner - die Einführung der Fruchtwechselwirtschaft in dieser Zeit in ganz Deutschland und auch der Stallfütterung und ähnlicher Methoden bemerkbar, die es überhaupt erst ermöglichten, daß die Pro-
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duktivität der Landwirtschaft in der ersten Hälfte des 19. Jhs. so stark stieg, daß es in den zwanziger Jahren Überproduktionskrisen gab und daß die Landwirtschaft eine um 40 bis 50 Prozent gewachsene Bevölkerung ernähren konnte. Botzenhardt: Ich darf vielleicht gleich ein Mißverständnis ausräumen. Mit dem Begriff "Stagnation" habe ich ausdrücklich auf die gewerbliche Wirtschaft Bezug genommen und dabei von relativer Stagnation im Unterschied zu der im Ganzen dynamisch sich entwickelnden Landwirtschaft gesprochen, deren hohen Produktivitätszuwachs ich gleichfalls erwähnt hatte. Baumgart: Zunächst eine Bemerkung zur Verstädterung: Ich möchte in dieser Frage im Sinne von Herrn Botzenhardt argumentieren, Herr Dietrich. Denn Herr Botzenhardt bezieht sich in seinen Ausführungen wesentlich nur auf Brandenburg-Preußen und dort gibt es eine klare Trennung von Stadt und Land. Die monarchische Regierung ist bestrebt, diese Unterscheidung aufrechtzuerhalten. In der Steuerstruktur des Landes wird deutlich unterschieden zwischen Kontribution und Akzise, die behördenmäßig in den Aufgabenbereich des Landrates und des Steuerrats fallen. Brandenburg-Preußen wäre also ein wenig geeignetes Beispiel für das, was Sie meinen. Ich würde Ihnen zustimmen, daß es mitteldeutsche Landschaften gab, die stärker "verstädtert" waren und auch die seit 1742 eingegliederte preußische Provinz Schlesien in ihren Gebirgsrandzonen gehörte dazu, aber das Gesamtbild von der dominierenden Agrargesellschaft im alten Reich wird dadurch nicht wesentlich verändert. Diesen Gesichtspunkt wollte wohl auch Herr Weis betonen.
Der andere Aspekt, den ich hier zur Sprache bringen wollte, Herr Botzenhardt, ist die Verwendung des Begriffs "Bauernbefreiung" sowie seine unterschiedliche Bedeutung für die Rheinbundstaaten und für Brandenburg-Preußen. Sie sprachen ja in einem größeren Zusammenhang von einem Modernisierungsprozeß im agrarischen Bereich. Sie unterschieden dabei einerseits die rheinbündischen Staaten und andererseits Brandenburg-Preußen. Sie differenzierten zwischen den Gebieten der Gutsherrschaft und der Grundherrschaft. Dabei führten Sie nun den Begriff "Bauernbefreiung" ein. Ich frage mich, inwieweit ist dieser Begriff "Bauernbefreiung" denn hier am Platze? Kann man nicht im Zusammenhang von Modernisierung und Agrarreformen auf diesen Begriff verzichten, zumal jedenfalls die Folgen unterschiedlich bewertet werden. Ich fand Ihren Hinweis sehr aufschlußreich, daß schließlich nur 3 Prozent bäuerlichen Landes tatsächlich in Großgrundbesitz übergeführt worden sind. Dies rückt die Proportionen zurecht und zeigt, daß die Behauptungen, es habe eine große Umschichtung zugunsten des
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Großgrundbesitzes stattgefunden, nicht zutrifft. Andererseits aber haben Sie davon gesprochen, daß schon vor den Reformen und vor der Industrialisierungswelle eine Pauperisierung einsetzte, deren Zusammenhang mit den Reformen sicherlich gegeben war. Der freie Erwerb des Grundeigentums hat eben nicht nur positive Folgen gehabt, sondern ist sicher zweischneidig gewesen. Und diese Ambivalenz sollte, meine ich, auch in der Terminologie zum Ausdruck kommen. Deswegen ist es wohl nicht empfehlenswert, von "Bauernbefreiung" mit dieser affirmativen Begriffsverwendung zu sprechen. Man könnte die komplexen Zusammenhänge neutraler formulieren. Aber dazu könnten Sie vielleicht Stellung nehmen. Eine andere Frage wäre die, in dem Zusammenhang von "Leibeigenschaft" zu sprechen. Sollten wir nicht auch diesen Begriff sorgfältig differenzieren? Es gibt ja das alte Institut der Leibeigenschaft, das schon Gegenstand der Auseinandersetzungen im Bauernkrieg von 1524/25 war. Die "Zwölf Artikel" fordern mit besonderem Nachdruck die Aufhebung der Leibeigenschaft. Aber diese Leibeigenschaft meinen Sie doch offenbar nicht, obwohl diese Leibeigenschaft in verdinglichter Form, d. h. in Form von Abgaben in weiten Teilen des grundherrliehen Deutschland bis an den Beginn des 19. Jhs. fortexistierte. Und diese Form von Leibeigenschaft wird aufgehoben in den rheinbündischen Gebieten. Wenn man hingegen von Aufhebung der Leibeigenschaft in Ostelbien, in den Gebieten Brandenburg-Preußens spricht, dann ist jedenfalls im Rechtssinn etwas anderes gemeint: Schollengebundenheit oder Schollenpflichtigkeit, es sei denn, Sie wollten hier den von der marxistischen Historie verwendeten Begriff der sog. "zweiten Leibeigenschaft" verwenden. Vielleich könnten Sie auch dazu Stellung nehmen. Gerade wenn man diese Unterschiede im Blick hat, wird vielleicht deutlich, daß die preußischen Agrarreformen doch sehr viel tiefgreifender waren, als häufig angenommen wird. In diesem Punkte möchte ich mich etwas von denjenigen Kollegen distanzieren, die gerade neuerdings dazu neigen, die rheinbündischen Reformen zu stark zu betonen und sie womöglich über die preußischen Reformen zu stellen. Denn was im agrarischen Bereich durch die rheinbündischen Reformen erreicht wird, ist doch im Ergebnis ziemlich wenig, nämlich der Abbau von Resten der älteren Leibeigenschaft, d. h. im wesentlichen der Abbau eines Restsystems von Abgaben, auf die jene reduziert worden war. Vielleicht kann Herr Weis sich dazu äußern. Hingegen findet unter dem Oktoberedikt tatsächlich eine persönliche Befreiung der bäuerlichen und unterbäuerlichen Bevölkerung statt, eine Ablösung aus festen rechtlichen Bindungen. Darin, meine ich, liegt gerade die besondere Bedeutung dieser preußischen Reformen. Es war sicherlich viel schwerer, eine Agrarreform unter den ländlichen Bedin-
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gungen der brandenburg-preußischen Monarchie durchzuführen als etwa im Königreich Württemberg, für das wir jetzt die große Untersuchung Wolfgang von Hippels besitzen. Stürmer: Wir haben hier einen Streit um etwas, das wir alle nicht bestimmen können, wenn man sagt, es sind 65 oder 70 Prozent. Tatsächlich wechselt das natürlich von Jahrfünft zu Jahrfünft und Jahrzehnt zu Jahrzehnt, es wechselt insbesondere nach den Preisrhythmen des ländlichen Lebens. Ganz gewiß ist der Lebensrhythmus der Bevölkerung ganz überwiegend, bis sicherlich über die 70 Prozent, die von Ihnen genannt worden sind hinaus, agrarisch bestimmt; es handelt sich um eine Bevölkerung, die 50, 60, 70 Prozent ihres Einkommens für agrarische Produkte ausgibt. Wenn die im Preis steigen oder wenn sie fallen, dann verändert das sogleich die gesamte Lebenshaltung dieser Menschen. Dazu kommt, wie Herr Baumgart sagt, daß, solange es die Akzise gibt, in wesentlichen Teilen Deutschlands die Trennung sehr klar bleibt. Sie ist dort nicht klar, wo es eine funktionierende Montanindustrie gibt oder eine Industrie, die in erheblichem Maß auf Energiequellen wie Wasserkraft angewiesen ist. Man muß daneben die Textilgewerbe sehen, die schon in der Diskussion vor 1800 im wesentlichen als gehobene ländliche Armenpflege angesehen wurden. Wo es eine kraftvolle Textilindustrie gab, wie in Augsburg, war sie konzentriert und Teil der Stadtwirtschaft.
Naujoks: Es gibt immerhin einen interessanten Sonderfall. Ich denke hierbei an die nachbarliche Rivalität von Fürstentum und Reichsstadt, wenn vom Herzogtum Württemberg in Kleinstädten und Dörfern besonders zur Versorgung der armen Gebiete auf der Schwäbischen Alb das Textilgewerbe gefördert wird, um das reichsstädtische Handwerk zu treffen und den Handel mit Textilien mehr und mehr nach Württemberg zu ziehen. Von Stuttgart aus versuchte man also, in diesen Fällen, ein eigenes Gewerbe gegen die bisherige wirtschaftliche Übermacht der Reichsstädte zu entwickeln. Stürmer: Das zweite, das Herr Botzenhardt erwähnte, ist sehr wichtig, die Tatsache nämlich, daß Pauperismus der Industrialisierung vorausläuft. Die Massenarmut ist vermutlich das Zentralphänomen, das überhaupt erst die Durchsetzung der neuen Idee vom Markt ermöglicht. Wir haben es seit der Zeit des Siebenjährigen Krieges mit einer fast nicht mehr unterbrochenen langen Krise zu tun, einer überlangen Krise "alten Typs". Grundlage ist das Bevölkerungswachstum; es schließt sich der Anstieg der Nahrungsmittelpreise an, aus dem Anstieg der Nahrungsmittelpreise folgt eine Umverteilung der Nachfrage. Bald gibt es für die überwiegende Masse der Bevölkerung praktisch nichts anderes
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mehr als Nahrungsmittel zu kaufen, nur das Allernotwendigste; auf alles andere wird verzichtet; das gilt insbesondere für die große Krise von 1770 bis 1772, aber es gilt mehr oder weniger auch für die gesamte nachfolgende Epoche. Aus dieser Umverteilung der Nachfrage entsteht eine gewaltige Absatzkrise der meisten städtischen Gewerbe. Diese Krise aber arbeitet dem Gleichheitsprinzip vor. Denn die Zünfte sind nur solange stark, als die Meister produzieren, als es eine halbwegs gesunde Gewerbestruktur gibt. Sobald der Durchschnitts-Meister ein "Alleinmeister" wird, sind die Zünfte nicht mehr stark. Damit zerfällt eine Säule der ständischen Ungleichheit in den Städten. Hauptursache ist die Agrarkrise, gesehen von den Verbrauchern her. Von den Erzeugern her gesehen, die nicht dazukaufen müssen, ist dies natürlich eine fette Konjunktur. Auf ihrer Seite steht aber die Gesetzgebung, was dann für die Umstrukturierung der Gesellschaft in Preußen entscheidend wird. Als Epocheneinschnitt ist dabei das Jahr 1776 sehr wichtig. Bis dahin hat man nämlich den Systemzusammenhang der Sache nicht begriffen. Ab 1776 ist das Ganze in seinem Systemzusammenhang erfaßbar geworden, administrativ durch Turgot, in der ökonomischen Theorie mit Adam Smith. Beide Aspekte werden rasch rezipiert: durch Zeitschriften, Reisen und viele Pamphlete. Seitdem kann man jene große Lösung denken, die von der Krise erstens ermöglicht und zweitens erfordert wird. Die Verwirklichung dauert zwar noch eine Weile. Zuvor aber muß beides zusammentreffen, die Idee des Neuen und die Zerstörung der alten sozialen Körper. Die Frage entsteht dann, wieweit es sich um eine klug geplante Schöpfung handele, wie Kaselleck es dargestellt hat, Gesellschaft als Kunstwerk der Bürokratie, oder einen im wesentlichen sich selbst steuernden Prozeß. Baumgart: Zur Rezeption der Smithschen Ideen in Deutschland und vor allem in Brandenburg-Preußen möchte ich eine direkte Bemerkung machen: Es gilt zu bedenken, daß das Erscheinungsjahr 1776 nicht einfach auch als Datum der Rezeption zu gelten hat. Vielmehr setzt die Auseinandersetzung um die Lehren von Adam Smith erst um die Wende zum 19. Jh. voll ein. Allerdings kann nach einem kürzlich in Trier gehaltenen Vortrag von Herrn Klippel über die wirtschaftlichen Freiheitsrechte in Deutschland während des 18. Jhs. angenommen werden, daß die Diskussion um die Forderung nach Handels- und Gewerbefreiheit nicht unbedingt von der Rezeption der Smithschen Lehre abhängt. Vielmehr gab es eine von physiokratischen Ideen geprägte naturrechtliche Literatur, die in den Katalog der Freiheitsrechte auch wirtschaftliche Forderungen aufnimmt. Jedoch geschieht dies nicht in Brandenburg-Preußen, wo doch der Staat der Hauptunternehmer und der eigentliche Motor des Wirtschaftsprozesses ist. Ich habe also Bedenken gegen eine allzu frühe Datierung des Wirtschaftsliberalismus. 6 Der Staat, Beiheft 4
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Baumgart: Herr Weis, wenn ich dazu noch ein Wort sagen darf: Die Ablösung des Obereigentums ist ein Problem, das überall gleichermaßen zu lösen war. Sie bezeichnet nicht die spezifische Differenz zwischen den Rheinbundstaaten und Brandenburg-Preußen. Weis: Es tut mir leid, daß ich jetzt nochmals auf die Frage der Agrarstruktur vor der Bauernbefreiung zurückgreifen muß, nachdem Herr Stürmer schon den Punkt der Gewerbeentwicklung, der Gewerbestruktur usw. angeschnitten hat. Herr Baumgart, mit dessen Ausführungen ich sonst voll übereinstimme, sagte, in den Rheinbundstaaten sei das Wesentliche der Bauernbefreiung die Beseitigung der Leibeigenschaft gewesen. Man muß aber sehen, daß die Bauernbefreiung noch mehr umfaßte, nämlich vor allem die Ablösung des Obereigentums, ein Prozeß, der in den Rheinbundstaaten sich etwas länger hinzog als in Preußen und, wie etwa die Arbeit von Wolfgang von Hippe! für Württemberg gezeigt hat, erst in den 30er und 40er Jahren voll durchgeführt wurde. Aber trotzdem, es ist ein sehr bedeutsamer Vorgang gewesen. Auch in Preußen bestand die Bauernbefreiung nicht nur in der Abschaffung der Gutsherrschaft, sondern auch dort waren 40 bis 50 Prozent der Bauern, selbst in den ostelbischen Provinzen grundherrliche Bauern. Und auch hier mußte dann seit dem Gesetz von 1821 dieser zweite Prozeß, die Ablösung des Obereigentums für die grundherrliehen Bauern durchgeführt werden. Ich wollte nur ein Mißverständnis klarstellen, das nicht selten in der Literatur festzustellen ist, daß nämlich die Bauernbefreiung in Ostdeutschland fast allein Abschaffung der Gutsherrschaft und Erbuntertänigkeit und in den Rheinbundstaaten Abschaffung der Leibeigenschaft bedeutet hätte. Birke: Ich möchte auf den Beitrag von Herrn Stürmer zurückkommen, auf die im Kontext der Modernisierungsdebatte grundlegende Frage, inwieweit die administrativen Reformen intendiert oder gar antizipatorisch waren. Wenn ich den Modellfall der Modernisierung, das englische Beispiel, heranziehe, so sehe ich, daß dort die allmähliche Auflösung einer vorwiegend ständisch-herrschaftlich strukturierten Gesellschaft, beschleunigt durch die beginnende Industrialisierung, keineswegs bewußt herbeigeführt und schon gar nicht von der Administration vorbereitet war. Die Frage stellt sich also, warum im deutschen Bereich, und hier vor allem in Preußen, die Administration in dieser Weise tätig wurde und auf sich anbahnende Krisen reagierte, wie sie sich vor allem aufgrund der Bevölkerungsexplosion in den lokalen und regionalen Gegebenheiten deutlich abzeichneten. Ist es nicht so, daß diese Ansätze einer staatlich und administrativ gelenkten Modernisierung insofern reaktiv waren, als sie im Sinne staatlicher Machterhaltung erforderlich
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wurden; denn die lokalen Möglichkeiten auf Veränderungen zu reagieren waren eher begrenzt. Man wird also unterscheiden müssen zwischen den Absichten der staatlichen Reformen und jenen neuen gesellschaftlichen Entwicklungen, die durch sie tatsächlich in Gang gesetzt wurden. Janssen: Nur eine kurze Bemerkung! Man wird bei den Agrarreformen am Beginn des 19. Jhs. berücksichtigen müssen, daß hier nicht ausschließlich im Interesse der Bauern, sondern gleichermaßen dem der Grundherren gehandelt wurde. Das Mißverhältnis zwischen Agrarverfassung und agrarischer Wirtschaftsstruktur war spätestens im 18. Jh. so spürbar geworden, daß - zumindest im Rheinland - auch große Teile der Grundherren darauf drängten, das verkrustete grundherrschaftliche System zu beseitigen. Die Agrarverfassung wies bereits derartige Verformungen auf, daß sie, unabhängig von allen modernen politischen und ökonomischen Theorien, praktisch nicht mehr aufrechtzuerhalten war.
Die Entwicklung der ländlich-gewerblichen Wirtschaft (Textilgewerbe) am Niederrhein während des 17. und 18. Jhs. setzte im übrigen bereits voraus, daß die formal bestehende Agrarverfassungsstruktur, eben die Grundherrschaft, eine tote Hülse, eine bloße Form war, die je länger je mehr nach Ablösung durch eine neue lebenskräftige Ordnung verlangte. Wahl: Herr Botzenhardt, ich möchte am Ende dieser Überlegungen zur ländlichen Sozialverfassung auf eine Ihrer Eingangsbemerkungen zurückkommen, in denen Sie ein übergreifendes Thema angeschnitten haben, nämlich die Frage der Spannung zwischen einer geplanten Veränderung und den Brüchen in der Verwirklichung. Von Interesse scheint mir dabei zu sein, welche Gegenbewegung von denen ausgelöst werden kann, um deren Rechte es bei der Reform geht. Angesprochen ist dabei die Dialektik von Reformbestrebungen und den davon ausgelösten Gegenbewegungen. Sie haben mehrfach die Punkte erwähnt, an denen die Renaissance des Adels und die ständische Gegenbewegung gegen Hardenberg immer wieder Brüche in der Entwicklung verursacht haben und die Reformbewegung auch haben auflaufen lassen. Hierzu möchte ich eine konkrete Frage stellen: Welche Rolle spielt hier der Umstand, daß diese Reformbewegung und der Umbau der Sozialverfassung in einem Rechtszustand vor sich gehen, in dem schon das vorhergehende Recht Eigentumsgarantien gewährleistet hat, und zwar - das ist der Unterschied zumindest zur Praxis in Frankreich- Eigentumsreche garantiert hat, ehe die große Reformbewegung vonstatten gegangen ist? Welche alten ständisch-feudalen Rechte schlüpfen in den modernen Eigentumsbegriff hinein? Welche Eigentumspositionen kann der Adel auf der Grundlage des ALR oder des code civil behaupten?
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Mir sind einige Beispiele aus den Gegenden bekannt, in denen der code civil galt, in denen der Adel sich 1810 bei der Ablösungsgesetzgebung auf die eigentumsschützenden Bestimmungen des code civil berufen hat. Bei der Frage der persönlichen Freiheit und der Leibeigenschaft oder entsprechender Bindungen der persönlichen Freiheit hatte man relativ einfach die entschädigungslose Beseitigung begründen können; bei allen anderen am Boden anhaftenden Rechten tauchte ja immer wieder das Problem auf, was wird auch unter modernen Gesichtspunkten als Eigentum geschützt und was nicht? Deshalb die Frage, ob die Dialektik von Reform und Gegenreform in einem stärkeren Maße auch mitbestimmt worden ist durch die Berufung des Adels auf rechtlich geschützte Eigen tumsposi tionen. Borck: Ich freue mich, hier - wenn auch ursprünglich unbeabsichtigt - nun unmittelbar an die Ausführungen von Herrn Wahl anknüpfen zu können. Ich möchte dabei besonders auf einen Punkt eingehen, nämlich die konkrete Verwirklichung von Reformvorstellungen, wobei übrigens gleichzeitig das Problem der Konkretisierung von Zahlenangaben zu erörtern ist. Mit ihm möchte ich beginnen.
Ich habe eigentlich ein bißchen genauere statistische Daten bei Ihnen vermißt, Herr Botzenhardt, in Ihren Ausführungen über die Wandlungen der ständischen Gesellschaft. Diese Wandlungen der ständischen Gesellschaft äußern sich nicht nur in abstrakten Reformvorschlägen, in Bestimmungen von Gesetzesvorhaben und Gesetzen - wie etwa den Regulierungsedikten - , sondern sie äußern sich letztlich auch in Zahlen, nämlich in den Zusammensetzungen der Bevölkerungsgruppen, in den meßbaren Veränderungen dieser Bevölkerungsgruppen, z. B. in anderer Zusammensetzung der Korporationen oder in einem ebenfalls dur ch Zahlen - nämlich andere Anteile in Repräsentationskörperschaften - zu erfassenden veränderten Gewicht dieser Korporationen in dem politischen Umfeld, in dem sie stehen. Das ist aber nur das eine. Das zweite Problem ist die erwähnte Frage konkreter Verwirklichung von Reformvorhaben, und da möchte ich ein konkretes Beispiel vortragen, das die m. E. hier doch etwas überschätzte Wirksamkeit der rheinbündischen Reformen in anderem Lichte erscheinen läßt. Wenn ich mich recht erinnere, war es Herr Baumgart, der vorhin gesagt hat, es sei so gewesen, daß bei diesen rheinbündischen Reformen im wesentlichen die Reste der alten Leibeigenschaftsverhältnisse, insbesondere die aus diesen herrührenden Abgaben beseitigt worden seien. Das ist aber nun nachweislich zumindest nicht überall und beispielsweise im Großherzogtum Berg gerade nicht der Fall. Als dort im Jahre 1810 die n eue Verfassung eingeführt wurde, herrschte allerdings die Vorstellung, deshalb also die Frage nach den konkreten Ergebnissen, es
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seien jetzt die alten aus den früheren Rechtsbeziehungen herrührenden Abgaben aufgehoben, und die Bauern härten einfach auf, diese Abgaben zu zahlen. Die Folge war eine Prozeßlawine, die bereits im Jahre 1810 ins Rollen kam. Diese Prozeßlawine rollte bis zum Ende der Existenz des Großherzogtums, und zwar mit einem durchaus negativen Ergebnis für die beklagten Parteien, die Bauern- womit wir übrigens bei der Frage des Eigentumsschutzes sind, die Herr Wahl ansprach. In diesen vor dem Großherzoglich-Bergischen Hofgericht Coesfeld geführten Prozessen - die Akten befinden sich als Bestand Rep. 913 im Niedersächsischen Staatsarchiv in Osnabrück - stellte sich die Justiz auf den Standpunkt, es seien zwar die persönlichen Unfreiheiten beseitigt worden, bei diesen Abgaben aber handele es sich nicht um persönliche, sondern um dingliche Lasten, die auf dem Boden ruhten, sie aber seien durch die Eigentumsgarantie der Verfassung geschützt. Praktisches Ergebnis der Prozesse: eine konkrete Auswirkung der Verfassungsbestimmungen über die Aufhebung der Leibeigenschaft ist im Großherzogtum Berg überhaupt nicht festzustellen.
Weis: Herr Borck beanstandete das Fehlen konkreterer Zahlen. Herr Botzenhardt hat aber Zahlen gebracht, soweit sie unbestritten sind. Ich möchte sagen, alles Weitere ist bestritten. Wir stehen heute erst am Anfang der Forschung in dieser Hinsicht. In den letzten zehn Jahren sind eine Reihe von Untersuchungen meist auf ziemlich enger regionaler Basis erschienen über die Sozialstruktur und deren Veränderungen in diesem Zeitraum. Landkreise, Städte, meist kleine Städte, sind hier und da untersucht worden. Aber globale Zahlen sind noch kaum zu nennen. Das zweite ist, Herr Borck erwähnte eben die Prozesse um Leibeigenschaft in Gebieten wie z. B. Berg, in denen das französische Recht unmittelbar eingeführt worden war. Hier war es aber so, daß Abgaben, die auf Leibeigenschaft zurückzuführen waren, entschädigungslos wegfielen, während die Abgaben, die auf grundherrschaftliche Verhältnisse zurückzuführen waren, als Eigentumsrechte behandelt wurden und abgelöst werden mußten. Es ist nun im Großherzogtum Berg und im Königreich Westfalen die Tendenz zu beobachten, daß plötzlich jedermann leibeigen gewesen sein wollte, damit er seine grundherrliehen Abgaben nicht ablösen mußte und hierauf ist wohl zurückzuführen, daß es jetzt so viele Prozesse gab. Dietrich: Ganz kurz im Anschluß an das, was Herr Weis eben sagte. Die Untersuchungen, von denen Herr Weis eben sprach, gibt es ja eben auch für etwas größere Räume. Ich habe vorhin den Namen Forberger genannt. Ich möchte nochmals auf Karl-Heinz Blaschke hinweisen, auf seine Untersuchungen zur Bevölkerungsgeschichte, die gerade eben für diese Dinge sehr aufschlußreich sind. Ganz allgemein lassen Sie mich
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noch einen Satz sagen: Wogegen ich mich vorhin gewehrt habe und auch jetzt noch und immer wieder wehren werde, ist zweierlei, einmal die weitgehende Verabsolutierung ostelbischer Agrarverhältnisse als Musterbeispiel für ganz Deutschland. Und zum andern die mir heute viel zu sehr vorherrschenden Bestrebungen zur Verallgemeinerung, wie sie z. B. auch vorhin bei Herrn Stürmer zum Ausdruck kamen. Ich möchte immer wieder differenzieren, nicht gerade von Ort zu Ort, aber mindestens von Land zu Land. Botzenhardt: Ich möchte unmittelbar anschließen an das, was Herr Dietrich zuletzt sagte. Die Differenzierung von Land zu Land und von Ort zu Ort ist natürlich sehr wichtig und für die Forschung unerläßlich; in der Tat kommt man nur so voran. Bei einem Referat wie diesem muß man aber auch einmal wagen, eine Art Gesamtbilanz zu ziehen. Wenn wir hier versuchen wollten, in alle Einzelheiten zu differenzieren, dann müßten wir allerdings zunächst die generellen methodischen Probleme der Gewerbestatistik diskutieren, mit Henning, Kaufhold und anderen etwa die Zahlen Krugs aus dem Jahre 1805 kritisch überprüfen usw. Wir kämen dann zu einem vom Thema dieser Tagung wegführenden Spezialistengespräch, zu dem ich selbst mich nicht hinreichend kompetent fühlen würde. Ich hatte im übrigen deutlich gesagt, daß die Trennung zwischen Stadt und Land um 1800 bereits weitgehend durchbrachen war, und daß die Einführung der Gewerbefreiheit in dieser Hinsicht nur noch bestehende Verhältnisse legalisierte. Wenn ich außerdem davon ausging, daß etwa 80 Prozent der Menschen auf dem Lande wohnten und 65 Prozent von der Landwirtschaft lebten, so wäre der Diskussionsbeitrag von Herrn Dietrich ein Hinweis zur Antwort auf die Frage, wovon die anderen 35 Prozent ihren Lebensunterhalt bestritten.
Zu dem von Herrn Weis angesprochenen Problem der Stagnation in der Wirtschaft hatte ich schon kurz Stellung genommen. Wenn man die Folgen der Agrarreformen im rheinbündischen Deutschland betrachtet, muß man im übrigen auch die Auflösung der genossenschaftlichen Dorfverbände beachten. Die Agrarstruktur ist auch da ganz erheblich verändert worden, wo es nicht um die Aufhebung der "Leibeigenschaft" oder die Ablösung der grundherrliehen Lasten ging. Im Bezug auf die Begriffsbildung ist Herrn Baumgart unbedingt zuzustimmen. Der Gesamtkomplex des agrarischen Strukturwandels ist mit dem Ausdruck "Bauernbefreiung" nicht hinreichend umschrieben, und ich habe daher m. W. auch nur einmal von Bauernbefreiung im engeren Sinne gesprochen. Von Leibeigenschaft würde ich für das ostelbische Preußen nicht reden, sondern von Schollenpflichtigkeit oder Erbuntertänigkeit. In der rheinbündischen Gesetzgebung wurde allerdings von Aufhebung der Leibeigenschaft gesprochen, obwohl sie nur noch in geringfügigen Resten bestand.
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Zu dem Verhältnis von Planung und tatsächlichem Wandel, das von Herrn Stürmer und Herrn Birke angeschnitten worden ist, wäre generell zu sagen, daß die Reformpolitiker mit ihren Plänen immer wieder aufgelaufen sind auf ständische, soziale oder sonstige strukturelle Widerstände, und daß sie auch an Unzulänglichkeiten wie z. B. fehlenden Geldmitteln gescheitert sind. Wenn man keine Lehrer hat und keine Schulräume, können auch die besten Schulpläne nicht sofort in die Tat umgesetzt werden, und ähnliches gilt für die Heranziehung von wissenschaftlichen Sachverständigen wie Thaer für die Bearbeitung der Gesetze zur Agrarreform. Die Verwaltung hat vermutlich immer wieder sehr viel stärker pragmatisch auf die Probleme des Tages reagieren müssen, als ihr im Interesse ihres langfristigen Veränderungskonzeptes lieb war, und gerade bei den Agrarreformen waren die Auswirkungen ja auch ganz anders, als man es sich vorgestellt hatte. Insofern hätte ich auch gewisse Vorbehalte gegen die Thesen Kasellecks von einer durch die Verwaltung geplanten Gesellschaft. Daß man bei den preußischen Agrarreformen, vor allem bei der Eigentumsverleihung, die vorher bereits auf den Domänen gemachten Erfahrungen zu wenig nutzbar gemacht hat, wird m. E. in der neueren Literatur zu Recht hervorgehoben. Zur Rolle der Zünfte in der Krise des Ancien Regime weiß ich konkret nichts zu sagen. Ich würde aber doch die These bezweifeln, daß Zünfte nur in Zeiten der Prosperität starken Einfluß haben können. Daß sich die Verwaltung gegenüber den gesellschaftlichen Veränderungen gelegentlich wie der Zauberlehrling vorkam, der die von ihm entfesselten Kräfte nicht mehr zu bannen vermochte, mag für die Jahre des ausgehenden Vormärz nach 1840 zutreffen. Für die Jahre 1815 -1830 ist aber wohl doch davon auszugehen, daß die Verwaltung daran interessiert war, die Modernisierung aktiv gestaltend voranzutreiben und daß sie keineswegs nur reaktiv auf Veränderungen im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Feld antwortete - ganz besonders im Bereich der Gewerbepolitik. Ein nicht zu unterschätzendes Hemmnis für die Durchsetzung der Reformen war im übrigen auch der fehlende administrative Unterbau. Für das von Herrn Wahl angesprochene Problem der Eigentumsgarantie und ihre Aktivierung durch die Gegner der Reform gibt es Beispiele genug. So hat etwa Hardenberg in seiner Rigaer Denkschrift sogar selbst die Auffassung vertreten, daß die Belegung bisher abgabenfreier Grundstücke mit Steuern eine Schmälerung ihres Wertes und damit einen Eingriff in das Eigentum bedeute, und so lief dann auch der Kampf des preußischen Adels um die Aufrechterhaltung seiner Steuerprivilegien weithin unter der Fahne des Eigentumsschutzes. Auf die Konsequenzen, die sich aus dem Eigentumsbegriff für die Ablösungsgesetze ergaben, hatte ich in meinem Referat bereits hingewiesen. Bei
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der Einführung der Gewerbefreiheit gab es in dieser Hinsicht Schwierigkeiten mit den Realgerechtigkeiten und den auf Grundstücken oder Häusern eingetragenen Zwangsrechten für bestimmte Gewerbe, die mit den Grundstücken gehandelt wurden und einen Teil ihres Wertes ausmachten. Aufgrund der Proteste der Berechtigten hat man das dann durch nachträgliche Ausführungsbestimmungen in der Weise zu lösen versucht, daß man eine Art Ablösungsfonds schuf, der durch Beiträge aller Gewerbetreibenden im Ort gespeist wurde. Zu den Zahlen der Statistik, Herr Borck, hat Herr Weis schon das Nötige zur Kennzeichnung der Situation gesagt, vor der wir stehen. Es ist sehr schwer, zuverlässig vergleichbare Zahlen zu bekommen, aber was man erreichen kann, zeigt z. B. das neuesteBuch von Kaufhold über die Struktur des preußischen Handwerks um 1800. Für die Wende des 18. zum 19. Jh. steht man auch noch vor der besonderen Schwierigkeit, daß sich dauernd die Gesetze, die Steuern, die territoriale Zugehörigkeit, die politischen Verhältnisse überhaupt durch Krieg verändern, was die Vergleichbarkeit der Zahlen und ihre Interpretation sehr erschwert. Hier ist von der vergleichenden Lokal- und Landesgeschichte sicherlich noch eine umfangreiche Kärrnerarbeit zu tun.
Borck: Vielleicht darf ich dazu ergänzend bemerken, was ich lediglich als Hinweis verstanden wissen möchte, daß man auch hier eigentlich konkrete Zahlen vorlegen müßte, um dieses Thema richtig zu belegen; denn die erwähnten Schwierigkeiten bei der Beschaffung statistischer Daten sind nicht grundsätzlicher, sondern praktischer Art. Es gibt ja seit dem Ende des 18. Jhs. eine ganze Reihe dieser statistischen Daten. So sind Ende der 70er Jahre des 18. Jhs. in den norddeutschen Territorien zahlreiche statistische Erhebungen der Bevölkerungszahlen, der Berufsgliederungen durchgeführt worden. Alle diese Erhebungen wurden dann in der Zeit nach 1800 wegen des Herrschaftswechsels - der sich hierfür sehr günstig auswirkt - wiederholt. Die neue westphälische Regierung hat derartige Erhebungen angestellt, das Großherzogtum Berg hat sie angestellt. In der preußischen Zeit und überhaupt in der Zeit nach 1815 hat man das auch getan. Da ist das Führen der Statistiken sogar offizielle staatliche Aufgabe, wie die Aktenpläne der staatlichen Unterinstanzen erkennen lassen, die eine eigene Rubrik ,.Statistik" aufweisen. Es ist mithin tatsächlich so, daß man diese Untersuchungen an sich ohne große systematische Schwierigkeiten sehr wohl durchführen könnte. Freilich ist auch die Art des Materials so, daß man wegen des gewaltigen und- bei oft zweifelhafter Vergleichbarkeit der Daten - nicht immer lohnenden Arbeitsaufwandes für die Aufbereitung des statistischen Grundmaterials diesen Problemen in der praktischen Forschung ungern näher tritt.
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Stürmer: Immer wieder wird gesagt, wir müßten nur mehr quantitative Daten haben. Ich meine, daß solche Daten sehr wünschbar sind. Doch wirft das die Frage auf, was ihr Erkenntniswert sei. Vorab aber gibt es methodische Schwierigkeiten, die schwer lösbar sind. Ein Beispiel: Was ein Tischlermeister ist, ist in Berlin und in Nürnberg und auf dem Lande ganz anders zu beantworten. Die Realität ist tief zerklüftet, aber auch die Begriffe, die sie beschreiben, lassen sich oft nur schwer auf einen Nenner bringen. Quantitative Unterschiede sind oft auch qualitative. Das zweite Problem ist der Arbeitsaufwand. Wo derlei Untersuchungen angestellt worden sind, von Maurice Garden für Lyon im frühen 19. Jh. beispielsweise, da hat es Jahre gekostet. Voraussetzung sind ein Arbeitsstab, eine hochentwickelte Methode und vorzügliche Archive. Das Ganze ist überdies nur sinnvoll, wenn man mit dieser Methode eine ganze Reihe anderer Städte um dieselbe Zeit parallel studiert. Die Ergebnisse sind oftmals nicht überraschend, sondern zeigen nur genauer, was man so oder ähnlich zuvor auch schon zu wissen meinte. Nur, viel wichtiger ist es für die Historiker vorerst, sinnvolle Interpretationsrahmen zu entwickeln. Wir sind speziell in Deutschland mit den Konzeptionen ja noch gar nicht sehr weit gekommen. So steckt zum Beispiel die Konjunkturforschung für das ausgehende 18. Jh. noch in den Anfängen. Die Umverteilung der Nachfrage, die Einkommensveränderungen sind wenig erforscht. Was dazu in den Archiven steckt, ist noch kaum genutzt. Das bedeutet aber, daß wir bei dem wirtschaftlichen Interpretationsrahmen noch mit globaler Schätzung arbeiten. Wir befinden uns vorerst noch in einem hermeneutischen Zirkel: Wir müssen zum einen eine Vorstellung vom Gesamtsystem entwickeln eine volkswirtschaftliche Gesamtrechnung hat in der Zeit nicht einmal in Andeutungen existiert - und dann innerhalb dieses Rahmens begrenzte Fragen stellen. Hat man erst einmal vergleichende Fragen, so können diese den Bezugsrahmen verfeinern. Das Ganze ist ein weitläufiger Forschungsprozeß, der seine Zeit braucht. Vorerst stellen wir mit der Hoffnung, quantitative Antworten auf Fragen zu finden, die wir noch kaum qualitativ zu stellen wissen, eine überhöhte Forderung an uns selbst. Die Forschung muß schrittweise vorgehen, und jene Antworten, die wir gar als Verfassungshistoriker brauchen, können erst ziemlich am Ende stehen. Baumgart: Herr Stürmer, die Frage nach der Agrarstatistik führt, meine ich, nicht bloß zu statistischen Ergebnissen. Versucht man, die Folgen der preußischen Agrarreform quantitativ auszurechnen, so erhält man qualitative Antworten. Diese fallen ganz unterschiedlich aus, wenn Sie feststellen, daß ein größerer oder ein geringerer Prozentsatz des Landes in die Hände der Großgrundbesitzer gefallen ist, daß eine größere oder kleinere Zahl bäuerlicher Stellen verschwunden ist, daß
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also eine sehr große oder eine geringere Besitzumschichtung auf dem Lande vorgenommen worden ist. Wenn Sie das für den Gesamtbereich der Monarchie errechnen können, dann erhalten Sie mehr als eine quantitative Aussage, dann ist das eine qualitative Aussage über die agrarisch sozialen Grundlagen dieser Monarchie. Und insofern möchte ich behaupten, daß Statistiken doch in einem qualitativen Sinne relevant sein können, und zwar über die von Ihnen im einzelnen berührte Gewerbestatistik hinaus. Darum geht es eigentlich nur.
Stürmer: Sie sprechen von einem relativ geschlossenen Territorium mit einer für die damalige Zeit optimalen statistischen Erfassung für das 19. Jh., wohingegen wir für das 18. Jh. weder viele Territorien dieser Art haben, noch Homogenität zwischen den kleinen Bereichen besteht. Im Gegenteil, es sind sehr große Unterschiede zu beobachten in der Begrifflichkeit, in den Methoden der sozialen Statistik und im politischen Zugriff. Natürlich sind Einzeluntersuchunge n wertvoll. Man soll aber auch nicht Forderungen stellen, die im Blick auf Statistik und Sozialverhältnisse des 18. Jhs. unrealistisch sind. Dazu fehlen wirklich bisher die klar formulierten Fragen, von den Antworten gar nicht zu reden. Botzenhardt: Daß das Interesse der Grundherren an der Änderung der Agrarverfassung sehr groß gewesen ist, betont Herr Janssen mit vollem Recht. Das zeigt sich auch im ostelbischen Preußen, wo die Umstrukturierung der Agrarverfassung ja bereits vor den Reformen von einigen Angehörigen des Grundadels ganz bewußt vorangetrieben worden ist. Das war hier wie dort das Gleiche. Scheuner: Zur Entlastung meines Vortragsam Nachmittag einige Bemerkungen: Die Umwandlung der Gesellschaft des 18. Jhs. zu einer neuen bürgerlichen Ordnung vollzieht sich sichtbar im Agrarbereich; davon härten wir soeben. Aber sie erfolgt nicht weniger bedeutsam auf dem Gebiet des Gewerbes. Dort geht die Lösung von den alten Schranken vielleicht augenfälliger, weil schärfer, als auf dem Lande vor sich. Die französische Revolution beseitigte Korporationen und Zünfte fast völlig. In England spielten sie, wie Herr Birke ausgeführt hat, seit dem 17. Jh. keine Rolle mehr; sie schwanden sozusagen dahin. Dagegen besaßen sie in Deutschland im 18. Jh. noch eine entscheidende Rolle, weil sie im allgemeinen dem vom Lande Zuwandernden nicht offenstanden. Zudem war in der Regel die Zahl der Meisterstellen limitiert. Eine Durchbrechung dieses Systems erfolgte im Manufakturwesen, in dem entweder überhaupt Befreiung vom Zunftzwang oder zusätzliche Meisterstellen gegeben wurden; Preußen hat das Manufakturwesen in großem Maßstab gefördert. Die Berichte, die der Minister von Hertzberg
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in der preußischen Akademie alljährlich gab, zeigen, daß erhebliche Förderungssummen für die Errichtung von Fabriken und Werkstätten gewährt wurden. Die Auflösung des alten Regimes des Gewerbes ist in Preußen bekanntlich rasch erfolgt, unter Finanzgesichtspunkten, weil sich Hardenberg 1811 neue Einnahmen versprach. In Süddeutschland ging die Entwicklung langsamer und zog sich bis in die 60er Jahre hin. Entscheidend ist an diesem Vorgang die Ersetzung der Gliederung lokaler und ständischer Art durch eine mobile bürgerliche Gesellschaft. Auch das Grundeigentum wird mobil und damit müssen die früher aus dem ländlichen Grundbesitz fließenden Verhältnisse aufgelöst werden, die zugleich eine Altersversorgung und anderes sicherstellten. Auch die Zünfte waren Stätten sozialer Vorsorge. Sogar die Gesellen hatten ihre Kassen, aus denen sie Krankheitsfälle deckten. Besonders wichtig ist auch die Feststellung, daß die aufkommende Industrie nicht die Quelle des Pauperismus war. Das haben neuere Untersuchungen jedenfalls für Württemberg nachgewiesen (Esslingen). Der Industriearbeiter stand sich besser als der auf Nebenerwerb angewiesene kleine Landwirt oder gar der ländliche Tagelöhner. Die große Auswanderung ist voraussichtlich aus den letztgenannten Kreisen gekommen. Man muß die Verhältnisse in Deutschland auch unter dem Gesichtspunkt betrachten, daß die Verwaltung einen stärkeren Anteil nahm als im Ausland. Das erklärt sich einfach daraus, daß der deutsche Absolutismus einen Beamtenstand geschaffen hatte, von dem man ein Eingreifen erwartete. Für Preußen und Berlin hat Ilja Mieck anschaulich geschildert, wie eine systematische Förderung der Gewerbetätigkeit stattfand, die auch vor Ausspionierung fremder Wirtschaftsgeheimnisse nicht zurückschreckte. Ein Wort nur noch zu den Fragen des Eigentums. Es gehörte zu den Grundsätzen der alten Gesellschaft in Europa, die in Deutschland niemals zerbrochen wurden, daß Veränderungen, Übergänge und Entschädigungen kennen, daß man harte Brüche vermeidet. Das ist auch für die deutschen Reformen am Beginn des 19. Jhs. bezeichnend. Man hat gewiß manche Rechte ohne Entschädigung wegfallen lassen, aber weithin wurden doch - zuweilen später - Entschädigungen geleistet. So haben die Kirchen Staatsleistungen für die erfolgten Säkularisationen erhalten, später übergeleitet in Kirchensteuern, man hat den Rittern des depossedierten Deutschen Ritterordens Pensionen gezahlt, wobei der Bundestag des Deutschen Bundes sich sogar noch dagegen aussprechen mußte, daß ein Ritter seine Laufbahn "nachzeichnen" wollte und Komturpension forderte. Es ist wohl für Europa überhaupt geschichtlich bezeichnend, daß radikale Enteignungen seit dem 11. oder 12. Jh. nichtmehr vorkommen. Es werden Konfiskationen nur unter politischen Gesichtspunkten ausgesprochen, aber auch hier mit Milderungen; so etwa bei den Vertreibungen aus den italienischen Städten. Es gibt in
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diesen Jahrhunderten keine großen Umschichtungsbewegungen. Noch die englische Revolution hat sich bei den Cavaliers mit der Auferlegung beträchtlicher Geldstrafen begnügt. Erst die französische Revolution brachte hier einen tiefen Umbruch. Naujoks: Manches ist bereits von Herrn Scheuner gesagt worden. Auch ich darf bei der Frage der Zünfte bzw. der Zunftwirtschaft ansetzen, aber zugleich auf die allgemeine Diskussion über den Sinn der Reform hinweisen. Man sollte heute nicht anfangs deren einzelne Bestandteile diskutieren und erst zum Schluß nach dem Ziel der Reformen fragen. Da letztere jedoch zur übergreifenden Fragestellung gehören, erscheint es richtig, bereits jetzt zum Hauptproblem Stellung zu nehmen. Es ist nicht immer leicht festzustellen, wieweit Modernisierungsbestrebungen erst begonnen haben. Wir sollten auch an die Physiokraten denken, die in Deutschland längst vor der Französischen Revolution auf entsprechende Versuche Einfluß gehabt haben. Das Problem einer Modernisierung der - merkantilistischen - Wirtschaft existierte sogar zuvor. Vor allem ist die Wirkung des Buchs von Adam Smith, das ja Herr Stürmer zur Diskussion gestellt hat, zu berücksichtigen, weil das Werk über den Reichtum der Völker seit seinem Erscheinen im Jahre 1776 auf diesem Gebiet ein Buchschlager ersten Ranges gewesen ist. Dennoch ist zu fragen, wieweit die Zunftwirtschaft selbst in Deutschland durch eine neue- freiere- Ordnung ersetzt wurde. Ich nehme an, daß man hinsichtlich der praktischen Realisierung der Ideen von Adam Smith von der literarischen Wirkung seines Werkes abstrahieren mußte, wenn man versuchte, nach diesen neuen Prinzipien in Deutschland freiere Wirtschaftsformen einzuführen.
Es sollte gleichfalls nicht vergessen werden, daß es das Ziel der Reformen war, zu modernisieren, um der Macht der Französischen Revolution im Zeitalter Napoleons I. mit ähnlicher Stärke entgegentreten zu können. Auch die alten absolutistischen Staaten und deren Reformer mußten deshalb die Bürger soweit aktivieren, daß sie nicht mehr passiv alles nach dem bekannten Motto zu erdulden bereit waren: "Der König hat eine Bataillie verloren, Ruhe ist die erste Bürgerpflicht!" Man wollte also das sogenannte Wunder der Französischen Revolution auf dem Boden des alten Preußen nachvollziehen, ohne damit die monarchische Regierungsform zu gefährden; naturgemäß bedeutet diese Rücksicht eine wesentliche Schranke. Die Frage der Heeresreorganisation Preußens vor 1806 und nachher unter Schamhorst bietet ein weiteres Beispiel für diese Problematik. Doch zurück zum Ausgangspunkt! Da man zur allgemeinen Frage der Reformen Stellung nehmen sollte, darf man hinzufügen, daß die Zünfte schon an sich ein eigenes Problem darstellten. Die Zunft bedeutete, was
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Herr Scheuner ausdrücklich betont, immerhin ein großes Maß von Existenzsicherung für den einzelnen Meister oder Gesellen. Ihre allgemeine politische Bedeutung hatte sie allerdings seit Jahrhunderten eingebüßt. Im 14. und noch im 15. Jh. verkörperte die Ausbreitung des Handwerks in den mittelalterlichen Städten und die Militanz ihres Auftretens in der Stadtpolitik, aber auch außerhalb der eigenen Mauern den Anspruch einer zunächst unübersehbar vordringenden Wirtschaftsform. Selbst die Fürsten und großen Herrn in Deutschland haben vor den Gefahren der Zunftrevolution gezittert, bis diese sich an dem engen städtischen Machtbereich festlief, ohne die großen Territorien aus den Angeln zu heben. Daß Deutschland ein agrarisches Land blieb, teilte es mehr oder weniger mit allen Nachbarstaaten; dennoch hat erst der Sieg der Landesherren über die schlechter organisierten städtischen Kontingente der Zunftrevolution ein sichtbares Ende gesetzt. Es hat nicht lang gedauert, bis die Zünfte in einen allmählichen Erstarrungsprozeß gerieten, weniger exportieren und deshalb weniger produzieren konnten. Dennoch blieb die Zunftwirtschaft noch während des Manufakturzeitalters im 18. Jh. und hat noch über die Revolution von 1848/49 ernsthafte Verteidiger gefunden. Um der Existenzsicherung der Meisterklassewillen ist auch das Zunftwesen nur Schritt für Schritt und meist vorsichtig in Deutschland durch die liberale Wirtschaftsordnung abgelöst worden. Es gab innerhalb Deutschlands deutliche Unterschiede in dieser Entwicklung. In Preußen hat man seit den Reformen des Fürsten Hardenberg rascher das Zunftwesen beseitigt als etwa in Süddeutschland. Freilich spielt in dieser Entwicklung auch die Reaktion oder die Reformmüdigkeit nach dem Wiener Kongreß eine unübersehbare Rolle. Mehr möchte ich bei diesem Stand der Diskussion zu diesen Fragen nicht sagen.
Willoweit: Herr Botzenhardt, Ihr Referat handelt von den Wandlungen der ständischen Gesellschaft. Mir ist aufgefallen, daß Sie im Laufe Ihres Vortrages den für diesen Zeitraum naheliegenden Gegenbegriff der bürgerlichen Gesellschaft nicht besonders bemüht haben. Damit steht in Einklang, daß sie den gewerblichen Bereich ganz knapp abhandelten. In der Diskussion sagten Sie auch, hier seien durch die Gewerbefreiheit eigentlich Dinge nachträglich legalisiert worden, die sich schon vorher entwickelt hatten. Nun hat Herr Scheuner eine sehr dezidierte Gegenposition bezogen, indem er die Bedeutung der Gewerbefreiheit betonte. Ich glaube, dies ist eine zentrale Problematik und daher bitte ich Sie, dazu noch Stellung zu nehmen. Ich will nicht verhehlen, daß meine persönliche Auffassung wahrscheinlich eher der Ihrigen nahesteht. Es ist zweifellos richtig, darin stimme ich Herrn
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Scheuner zu, daß für den zünftig geregelten Bereich die Einführung der Gewerbefreiheit einen massiven Einschnitt bedeutet. Aber im Laufe des 18. Jhs. haben sich aufgrund neuer Techniken und Herstellungsverfahren Gewerbe in zunftfreien Räumen entwickelt. Insofern hat sich in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. im Gewerbe Preußens sehr viel getan, vielleicht mehr als in den ersten zwei bis drei Jahrzehnten des 19. Jhs. Und nun, im Zusammenhang mit diesen Erwägungen, folgende Frage: Gibt es denn nun diese bürgerliche Gesellschaft im landläufigen Sinn in den ersten Jahrzehnten des 19. Jhs. überhaupt? Im gewerblichen Bereich ist zu vermuten, daß die büvgerlichen Verhältnisse des 18. Jhs. fortwirken und sich erst allmählich auflösen. Wir scheinen es mit einem postfeudalen Gewerbewesen zu tun zu haben, das durch einen noch nicht wesentlich weiter fortgeschrittenen Industrialisierungsgrad und durch zerfallende Zünfte mit immerhin noch sozialen Funktionen gekennzeichnet ist. Das Neue dürfte die Beamtenschaft sein, die sich in ihrem Selbstverständnis von der des 18. Jhs. doch abhebt, die geprägt ist durch die Aufklärung, die sich in Einklang weiß mit dem aufgeklärten Staat und diesen gleichzeitig zum Sprechen bringt. Es gibt also eine Identität von aufgeklärter Beamtenschaft und aufgeklärtem Staat, der sich seiner selbst gewiß ist. Vielleicht dürfen wir also die Bedeutung des gewerblichen Bereichs für die Entwicklung der "bürgerlichen Gesellschaft" im frühen 19. Jh. nicht zu hoch einschätzen. Vielleicht haben wir eher eine postfeudale, aber noch frühbürgerliche Gesellschaft vor uns, die geprägt ist durch die beherrschende Elitefunktion der sich von der übrigen Bevölkerung scharf abhebenden Beamtenkaste. Meine Frage wäre, ob Sie dem zustimmen könnten oder ob Sie doch Einschränkungen einer solchen Sicht der Dinge für erforderlich halten.
Scheuner: Hierzu möchte ich noch zwei Sätze sagen: Ich glaube, man muß hier unterscheiden zwischen den industriellen Zentren, in denen das außerzünftische Manufaktur- und Industriewesen sich entwickelt hatte, wie das vielleicht für Sachsen, aber sicher für Berlin, Hamburg, Nürnberg und Augsburg gilt. Das übrige Land bleibt in den, was Sie jetzt eben sagten, nachfeudalen Verhältnissen. Die kleinen Zentren sind natürlich noch gar nicht erfaßt. Dietrich: Daran kann ich gleich anschließen. Gerade in gewerblichen Zentren wie in Mitteldeutschland, nicht nur in Sachsen, auch Thüringen, aber auch in Bayern weitgehend, entwickelt sich diese Industrialisierung des 19. Jhs. trotz und neben der fortbestehenden Zunftverfassung. Das ist das Interessante. Und das zweite, was ich zu Ihnen noch sagen wollte, Herr Willoweit, Sie haben vollkommen recht, in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. tut sich in Preußen auf dem gewerblichen Sektor außerordentlich viel. Aber daß das beinahe mehr sei, als in der ersten
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Hälfte des 19. Jhs., das möchte ich doch bezweifeln, wenn ich an die ganz zielbewußte Gewerbepolitik nicht nur schon von Stein an, sondern vor allen Dingen schon von Beuth an denke. Da ist also sehr viel ganz zielbewußt vom Staat gesteuerte Politik und insofern finde ich die Bemerkung, die Sie am Schluß machten, sehr zutreffend, nämlich die entscheidende Führung der Rolle der Beamtenschaft in diesem ganzen Prozeß. Sie ist tatsächlich eine Art Eliteschicht, die damals die Dinge weitertreibt.
Botzenhardt: Zu dem, was Herr Scheuner ausführte, möchte ich in bewußter Überspitzung sagen, daß hier vielleicht eine prinzipiell andere Gewichtung vorliegt, die stärker vom rechtlichen als vom historischen Aspekt geprägt ist. Mit der Verkündung der Gewerbefreiheit, mit der Gewährleistung der freien Berufswahl, mit der weitgehenden Herstellung der Freizügigkeit u. a. m. waren im Grunde alle Voraussetzungen für einen industriellen Aufschwung und eine Mobilisierung der Gesellschaft gelegt. Diese rechtlich vorgegebenen Möglichkeiten wurden aber in den ersten vier Jahrzehnten des 19. Jhs. nur sehr zögernd genutzt. Gerade die starken Aktivitäten des Staates in diesem Bereich scheinen mir auch dafür zu sprechen, daß die ökonomischen Entwicklungskräfte in der Gesellschaft nicht stark genug waren, um die Industrialisierung von selbst in dem Maße zu tragen und zu beschleunigen, wie es angesichts der r elativen Rückständigkeit Deutschlands auf diesem Gebiet, der Bevölkerungsprobleme usw. eigentlich erforderlich gewesen wäre. In Preußen lag dies zum Teil außerdem daran, daß der Staat eine freihändlerische Zollpolitik betrieb, wie sie den Interessen des stärksten Sektors der preußischen Wirtschaft entsprach, nämlich der Landwirtschaft. Daraus entstand aber doch eine Art von schlechtem Gewissen gegenüber der ungeschützt bleibenden Industrie, der durch bewußte Förderungsmaßnahmen ein gewisser Ausgleich geschaffen wurde. Wenn ich nun aber im Ganzen vergleiche, wie auf der einen Seite die Landwirtschaft modernisiert und kommerzialisiert wird und auf der anderen Seite kleinräumiges Wirtschaftsdenken, Kleingewerbe und Zunftwesen den gewerblichen Bereich weiterhin bestimmen, so scheint mir trotz aller hier vorgebrachten Einwände der Begriff der relativen Stagnation seine Berechtigung zu behalten. Hier gibt es nicht nur einen quantitativen, sondern auch einen qualitativen Unterschied gegenüber dem Industrialisierungsprozell nach der J ahrhundertmitte. Nach den wirtschaftlichen Einbrüchen der napoleonischen Zeit hatte Deutschland erst um 1830 wieder den Lebensstandard von 1790 erreicht. Das war in der Gewerbeentwicklung vielleicht am deutlichsten zu sehen, die dann erst nach der Sammlung des Kapitals durch Banken und Aktiengesellschaften mit dem Eisenbahnbau in eine neue Phase eintrat. Daß durch staatliche Gewerbeförderung in Preußen oder z. B.
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auch in Baden versucht wurde, diese Entwicklung voranzutreiben, ist unbestreitbar, aber der gesamtwirtschaftliche Effekt der staatlichen Gewerbeförderung blieb zunächst gering: von dieser These würde ich weiterhin ausgehen. Von den Zünften habe ich gesagt, daß sie in den Staaten mit Gewerbefreiheit nur noch als privatrechtliche Korporationen ohne staatlichen Zwangscharakter weiterbestanden, ihre Funktionen aber weiterhin wahrnahmen. Offenbar hat auch das Publikum vorausgesetzt, daß es von einem regelrecht ausgebildeten und geprüften "Zunftmeister" besser bedient werden würde als von einem "Patentmeister". Was schließlich noch die Beamtenschaft betrifft, so würde ich allerdings meinen, daß der spezifisch deutsche Weg in die bürgerliche Gesellschaft vom Beamtenturn getragen und geprägt worden ist. Immerhin haben schon Zeitgenossen wie der im Grunde ja doch eher konservative hannoversche Märzminister Stüve am Vorabend der Revolution von 1848 die Auffassung vertreten, daß in Deutschland die Beamtenschaft die beherrschende Stellung im Staat eingenommen habe, die in England von der Parlamentsoligarchie, in Frankreich von der Bourgeoisie ausgefüllt werde, daß das Beamtenturn diese Rolle aber nicht zum Wohl des ganzen Volkes habe wahrnehmen können und so dieLegitimation für seine Stellung verloren habe. Andererseits würde ich aber auch nicht davon sprechen, daß es sich hier um einen "Klassenkampf" gehandelt habe, in dem das Beamtenturn die Rolle der aufsteigenden Klasse gespielt hat. Das ist m. E. schon deshalb eine unzutreffende Sehweise, weil sich der Klassenbegriff, wie in meinem Referat erwähnt, auf die Beamtenschaft nicht anwenden läßt. Zu fragen wäre allenfalls, ob und wie weit es einer Klasse gelang, die in der Verwaltung konzentrierte Macht für ihre Interessen einzusetzen. Und da es bei diesen Auseinandersetzungen (wie im Verlauf meines Referates betont wurde) auch immer wieder zu erheblichen Niederlagen der Verwaltung kam, würde ich auch nicht mit Kehr von einer Diktatur der Bürokratie sprechen, die sich im Verlauf der Reformzeit in den Sattel gesetzt habe. Behr: In der Diskussion ist deutlich geworden, daß die preußischen Verhältnisse bei weitem am besten erforscht sind. Sie haben deshalb auch im Vordergrund des Referats gestanden. Von den Rheinbundstaaten ist dagegen mit den nord- und westdeutschen ein großer Teil außerhalb der Betrachtung geblieben. Herr Borck hat bereits auf Besonderheiten im Großherzogtum Berg hingewiesen. Auch das Königreich Westphalen wäre in diesem Zusammenhang zu nennen. Man müßte zudem einmal fragen, wie weit die Reformen der napoleonischen Zeit hier über das Ende jener Staatsschöpfungen hinaus sowohl institutionell wie geistig weitergewirkt haben. Noch zwei weitere Bemerkun-
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gen möchte ich anbringen. Die Exklusivität des preußischen Offizierscorps ist doch wohl weitgehend eine preußische Eigentümlichkeit. Sie ist, überspitzt ausgedrückt, Ersatz für die politische Entmachtung des Adels in den Landständen. Was für Preußen gesagt werden kann, gilt keineswegs für alle deutschen Staaten. In Oldenburg, Hannover und in anderen norddeutschen Ländern sind bürgerliche Offiziere im 18. wie im 19. Jh. keine Ausnahme. Auch bei der Beurteilung der Beamtenschaft möchte ich vor Verallgemeinerung warnen. Für Hannover z. B. ließe sich eine ganze Reihe von Beispielen anführen, die zeigen, daß die Beamtenschaft im Vormärz durchaus als Widerpart des feudalen Adels und der konservativen Kräfte angesehen wird. Baumgart: Herr Botzenhardt, eine Frage im Zusammenhang mit der Heeresreform. Welche Bedeutung hat diese Heeresreform im Gesamtzusammenhang der Reform? Ist es lediglich eine technische Reform im Sinne einer Modernisierung des Heeres, um sich auf die Auseinandersetzung mit Napoleon einzustellen? Oder inwieweit hat sie soziale Auswirkungen auf die preußische Gesamtgesellschaft. Sie haben dies ja am Beispiel des Offizierscorps anklingen lassen. Läßt sich dies noch etwas näher ausführen, etwa auch vom Heeresgesetz 1814 her und den Folgen, die sich dann 1819, nach dem Rücktritt Boyens etc., vielleicht ergaben. Mußgnug: Mich bewegt eine Frage, von der ich nicht genau weiß, ob sie überhaupt zu unserem Thema gehört, und wo ich sie in dem Katalog unserer Diskussionspunkte unterbringen soll. Deshalb habe ich sie vorsichtshalber bis zum Schluß aufgespart. Ich würde gerne in Erfahrung bringen, ob sich über die gleichheitsstiftende Wirkung des Bildungswesens im engeren Sinne hinaus auch gleichheitsfördernde Effekte des allgemeinen Kulturlebens nachweisen lassen. Ich halte das für nicht unwahrscheinlich. Denn es fällt auf, daß sich im letzten Viertel des 18. und im ersten Viertel des 19. Jhs. auf dem Gebiet der schönen Künste ein für mein Empfinden höchst frappierender Wandel vollzogen hat, der in einem auffälligen zeitlichen Zusammenhang mit den politischen Gleichheitspostulaten jener Zeit steht. Dieser Wandel ist in allen Bereichen der Kunst - in der Literatur wie auf dem Theater, in der Malerei wie in der Musik- zu beobachten. Es verschoben sich überall die thematischen Interessen der Künstler. In gleicher Weise veränderte sich das Publikum, das sie ansprachen und dem sie sich zuwendeten. Die Kunst drängte weg von Höfen und hinaus aus den Kirchen in die Salons der Bürger, in die von ihnen frequentierten städtischen Theater (z. B. in das zu jener Zeit gegründete und rasch aufblühende Mannheimer Nationaltheater) und in die, wenn nicht für jedermann, so doch nicht nur für den Adel offenen Konzertsäle. Auf den Bühnen erwuchs den griechischen und römischen Heroen eines Comeille und eines Racine in 7 Der Staat, Beiheft 4
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den bürgerlichen Helden und Heldinnen Schillers Konkurrenz. Phädra und Hektar traten ab; Luise Miller begann ihren Siegeszug. Sie stand keineswegs allein. Das beweisen die Dramen der zweiten Garnitur des Sturm und Drang, etwa Wagners "Kindsmörderin" und "Die Soldaten" von Lenz. Ähnliches spielte sich im Bereich der Oper ab. Hier führt der Weg von Rändels Staatsaffären über die Zwischenstation Mozarts, bei dem sich mit Figaro und Susanne die "Unterschicht" bereits zu Wort meldete, bis hin zur Försterstochter Agathe in Webers "Freischütz" und zum "Waffenschmied" Lortzings. In der Instrumentalmusik traten die Hof-, Staats- und Kirchenkompositionen zurück. Die höfische Tafelmusik Telemanns wurde von der Kammermusik Beethovens und dem Kunstlied Schuberts verdrängt, die das Bürgertum in seinen Salons nicht nur anhörte, sondern auch selbst aktiv pflegte. Ähnliche Entwicklungen machte die Malerei durch. Ich denke vor allem an die zutiefst bürgerlichen Sujets, denen Waldmüller und Spitzweg sich mit beträchtlichem Erfolg zuwandten. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich übertreibe, wenn ich die Behauptung riskiere, daß dies alles eine sehr ernst zu nehmende sozial- und verfassungsgeschichtliche Bedeutung besitzt. Jedenfalls halte ich es nicht für abwegig, in der für mein Empfinden deutlichen Hinwendung der Kunst zum Bürgertum den Ausdruck eines zunächst langsam, alsbald aber sehr rasch wachsenden Selbstwertgefühls der Bürger zu sehen. Man überließ die Kunst nicht mehr dem Adel. Man war gebildet genug und auch wohlhabend genug geworden, um es dem Adel im Kunstgenuß und in der Kunstpflege gleich tun zu können, und man machte von dieser Möglichkeit auch energisch Gebrauch, um dem Adel zu dokumentieren, daß sich auch im Bereich des Kulturlebens längst nicht mehr alles allein um ihn dreht. Sieht man die Dinge so, so nimmt es nicht weiter wunder, daß mit dem Eindringen des Bürgers in das Kulturleben ziemlich synchron auch die Forderung nach Teilhabe an den politischen Entscheidungen einhergehen. Wer sich kulturell ausgewiesen hat, erhebt alsbald auch weitergehende soziale und politische Ansprüche. Weil der Stand der Kaufleute, Bankiers, Professoren etc. zum Träger des Kulturlebens geworden war, konnte er auch fordern, ohne Ansehung der Geburt, zum Mitträger der politischen Entscheidungen erhoben zu werden. Dunkel bleibt allerdings, was hier Ursache und was Wirkung ist. Kam zuerst die kulturreUe und danach die politische Mündigkeit des Bürgertums? Oder ist die Entwicklung umgekehrt verlaufen? Entwickelte sich das politische Selbstwertgefühl des Bürgertums aus seinem kulturellen Aufstieg? Oder ist beides untrennbar miteinander verwoben? Daß es enge und wichtige Interdependenzen zwischen der Kultur- und der Verfassungsgeschichte gibt, scheint mir jedenfalls un-
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verkennbar zu sein. Dafür spricht vor allem, daß die Verbürgerlichung der Kultur Europa nicht in einem Zug erfaßt hat. Sie hat sich schrittweise ausgebreitet und ihren Anfang dort genommen, wo sich auch die politische Macht wohlhabender Bürger am frühesten durchsetzte. Die markanten Unterschiede zwischen der niederländischen und der deutschen Malerei des 17. und 18. Jhs. zeigen das. Während die deutschen Maler noch Fürsten porträtierten und Heilige malten, beschäftigten sich ihre niederländischen Kollegen bereits mit Schützengesellschaften, Bohnenkönigen, Anatomien und Stadtratsporträts. Ich glaube nicht, daß dabei der Zufall Pate stand. Denn mit diesen Unterschieden in der Themenwahl der Maler gehen nicht minder gewichtige Unterschiede im Verfassungsleben einher. Dies verdient es, auch unter dem Blickwinkel der Verfassungsgeschichte betrachtet und genauer erforscht zu werden. Vielleicht ergibt sich dabei, daß ein so unpolitischer Mensch wie Franz Schubert mehr für die Durchsetzung des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes getan hat als mancher politischer Theoretiker seiner und unserer Zeit. Denn die politische Theorie liefert nur Argumente. Künstler dagegen können im Idealfall - und Schubert war sicher ein solcher Idealfall - ihrem Publikum das Bewußtsein vermitteln, das es zur Durchsetzung seiner politischen Ansprüche beflügelt und befähigt. Wer an sich selbst die Bereicherung seines Lebens und die Ausweitung seines Horizonts erfahren hat, die aus der intensiven Beschäftigung mit der Kunst wächst, gewinnt daraus nämlich unvermeidlich auch das Selbstbewußtsein, dessen es bedarf, um auch auf dem Felde der Politik mutiger und hartnäckiger als bisher aufzutreten. Ich bitte um Nachsicht für die vage Unbestimmtheit, mit der ich diese Einfälle vor Ihnen ausbreite. Sie beruhen leider nicht auf soliden Grundlagen. Denn ich bin auf dem Felde der Kulturgeschichte nur ein Dilettant. Aber möglicherweise verbirgt sich hinter meinen laienhaften Vermutungen doch der Zugang zu einem Seitenweg, auf dem die verfassungsgeschichtliche Forschung in Zusammenarbeit mit unseren kulturgeschichtlichen Nachbardisziplinen den einen oder anderen brauchbaren Fund machen kann.
Kleinheyer: Ich wollte hier nur die Frage stellen, ob man irgend etwas aussagen kann über die gesellschaftliche Bedeutung der Beziehung zwischen Unteroffizierscorps und Beamtenschaft. Ich weiß auch nicht, ob man solche feststellen kann, aber es war wohl das Vorrecht des Unteroffizierscorps, in der mittleren Beamtenschaft untergebracht zu werden und dort weiter tätig zu sein. Baumgart: Herr Kollege Mußgnug hatte die Frage des Kulturwandels angesprochen. Ich möchte diese Frage gerne aufgreifen und sie in Be-
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ziehungsetzen zu den Thesen, die Henri Brunschwig aufgestellt hat. Er behauptet ja in seinem Buch über die "Krise des preußischen Staates am Ende des 18. Jahrhunderts" einen Mentalitätswandel von der Aufklärung zur Romantik, und seine These ist die, daß die aufgeklärte Gesellschaft den Modernisierungs- und Wandlungsprozeß in Preußen gefördert habe, während die romantische Gegenbewegung nicht nur literarisch und kulturell, sondern auch politisch nun eine Rückwendung, eine "Reaktion", herbeigeführt habe. Inwieweit halten Sie diese Theorie der preußischen Gesellschaft von Brunschwig für verifizierbar? Ist sie genügend substantiell, oder handelt es sich lediglich um einen geistreichen Einfall, den man besser vergessen sollte?
Weis: Herr Kleinheyer hat die Frage angesprochen, warum oder auf welchen Gebieten die Heeresreform noch weitere Auswirkungen im Hinblick auf die Gleichheit gehabt hatte. Vielleicht sollte man daran erinnern, daß hier Personen verschiedenster sozialer Herkunft, gerade in den Freiheitskriegen, aber auch danach, zusammenwirkten. Auch die einjährig Freiwilligen mußten ja zunächst einmal mit den sog. Gemeinen zusammen sein. Ferner wurde das gemeinsame Staatsbewußtsein gestärkt, und das war gerade für die neuentstandenen Mittelstaaten sehr wichtig. Für viele Menschen war der Militärdienst die einzige Möglichkeit in ihrem Leben, einmal den heimatlichen Lebenskreis zu verlassen, etwa sogar die Hauptstadt kennenzulernen, überhaupt Städte kennenzulernen und etwas von der Welt, zunächst aber von ihrem eigenen Staatsgebiet zu sehen. Zu der Frage, die Herr Mußgnug soeben aufwarf, ist vielleicht noch zu erwähnen, daß in dieser Zeit um 1800 die Teilnahme weiterer Schichten am Kulturleben auch dadurch begünstigt wurde, daß das Theater schon im späten 18. Jh. für ein viel weiteres Publikum geöffnet worden war, daß der Besuch von Theatern und Konzerten nicht mehr ein ständisches Privileg gewesen war, ferner daß sich um 1800 und in dem Zeitraum bis etwa 1825 in allen großen Städten Europas und auch Deutschlands musikalische Gesellschaften bildeten, in denen das Bürgertum neben dem Adel die maßgebende Schicht war. Ferner, daß die Kunst weite Verbreitung durch die Erfindung des Steindrucks fand, und auch Galerien dem weiten Publikum geöffnet wurden und schließlich, daß die zunehmende Alphabetisierung der Gesellschaft dazu führte, daß z. B. in den 40er Jahren ein ungleich größerer Prozentsatz der Bevölkerung am literarischen Leben teilnahm als am Anfang des Jahrhunderts. Man las, auch über den Kreis der sog. gebildeten Schichten hinaus, was wohl auch ein Erfolg der Schulreformen gewesen sein muß. Viel mehr Menschen beteiligten sich an Publikationen, als es noch 20 bis 30 Jahre früher der Fall gewesen war. Also auch auf diesem Sektor sind starke Veränderungen unter dem Gesichtspunkt der Gleichheit zu beobachten.
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Dietrich: Darf ich einen Satz nur dazu sagen. Herr Weis, es sind ja nicht nur musikalische Gesellschaften, sondern Lesegesellschaften, Theatergründungen landauf, landab, möchte ich sagen, im ausgehenden 18.Jh. Mußgnug: Dafür ist der Lebenslauf von Joseph Haydn signifikant. Haydn hat seine Laufbahn als mittelloser Fürstendiener begonnen. An seinem Lebensende war er ein freischaffender Künstler, der von den Erträgen seiner Werke und Konzerte nicht nur leben, sondern auch beträchtliche Ersparnisse ansammeln konnte. Salieri erging es ähnlich. Er war der J ames Last seiner Zeit. Er hat dem ausgehenden 18. Jh. seinen "Sound" gegeben. Mazart war ohne Zweifel der bessere Musiker. Aber Salieri ist mit den Existenzbedingungen des freischaffenden Künstlers besser zurechtgekommen. Dilcher: Ich wollte einen Gesichtspunkt aufgreifen, den Sie, Herr Botzenhardt, schon in Ihrer Erwiderung in die Diskussion eingebracht haben, nämlich die Frage der juristischen Eröffnung von Gleichheitschancen und deren sozialer Ausfüllung. Dabei meine ich, daß es sich nicht nur um eine Frage der sozialen Ausfüllung handelt, sondern auch des juristischen Weiterarbeitens an der Reform in Verwaltungsvorschriften. Wir können dabei gerade etwa an die preußische Agrarreform denken, wo die Ausfüllung der einmal gegebenen Gleichheitschancen nicht nur etwas Tatsächliches ist, sondern eine Frage, wie sie dann durch Durchführungsvorschriften kanalisiert wird. Ich meine also, daß auch der rechtliche Strang da weiterläuft neben dem der rein sozialen Ausfüllung von eröffneten Gleichheitschancen. Meine Frage dazu ist folgende, ob wir da nicht ein sehr typisches Verhältnis sehen können, in welchem Maße die Interessen der verschiedenen Schichten bei der Ausfüllung, eben auch in den Verwaltungsvorschriften, eingebracht wurden. Sicher sind für die bäuerlichen Bereiche Gleichheitschancen eröffnet worden, aber ist hier die bäuerliche Bevölkerung nicht eigentlich rein Objekt geblieben, indem sie keinen Weg hatte, abgesehen von den Großgrundbesitzern, ihre Interessen in diesen weiteren Vorgang einzubringen? Bei dem Handwerksbürgertum ist es vielleicht so, daß eine Einbringung von Interessen nach der Steinsehen Kommunalreform möglich war, vor allem aber diese Schicht in einer Wirtschaft, in der der gewerbliche Sektor an Bedeutung gewinnt, einen festen Stand hat, den sie verteidigen konnte. Doch vor allen Dingen kamen die Interessen des besitzenden und gebildeten Bürgertums in ganz starkem Maße zum Zuge, die sich wohl auf drei Wegen artikulieren konnten; erstens allgemein über eine gebildete "Öffentlichkeit", wozu ich auch etwa die liberale Wirtschaftstheorie rechnen würde, zweitens über die Bürokratie, die die Theorie aufnimmt, und in der sich ja neben dem Adel gerade
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der typische Vertreter dieses Bürgertums findet, und schließlich in den konstitutionellen Staaten in den Landtagen, in den Debatten und der Gesetzgebung der Landtage. Endlich: Die Öffnung der Eliteschichten, der Verwaltung und auch des Militärs für die neuen Eliteschichten, die wohl keine Klasse und kein Stand sind, aber doch gewisse typische soziale Rekrutierungsressourcen haben, vor allem aus dem Beamten- und Bildungsbürgertum, das ist vielleicht insgesamt das bemerkenswerteste Ergebnis der Gleichheitsbestrebungen mindestens in der ersten Hälfte des Vormärz, vielleicht aber des Vormärz insgesamt.
Botzenhardt: Was Herr Behr sagte, ist völlig richtig. Die adelige Exklusivität des Offizierscorps ist eine preußische Eigentümlichkeit; in Bayern etwa ist das ganz anders, während Hannover das vielleicht klassische Beispiel dafür ist, wie sich im deutschen Vormärz auch eine spezifische Feindseligkeit gegen eine Adelsherrschaft entwickeln konnte, die dann dort in der 48er Revolution stärker zum Ausdruck kommt, als sonst irgendwo in Deutschland. Daß die Heeresreform in die gesamtgesellschaftlichen Reformen eingeordnet war und in die gleiche Richtung zielte, ist keine Frage. Sie war nicht bloß eine Anpassung an militärtechnische oder taktische Entwicklungen der napoleonischen Zeit, und ich glaube durchaus, daß vom preußischen Heeresgesetz von 1814 mit der allgemeinen Wehrpflicht und der Landwehrordnung egalisierende und liberalisierende Tendenzen auch im weiteren Verlauf des 19. Jhs. ausgegangen sind - trotz aller regressiven Tendenzen auch in diesem Bereich. Den Thesen von Brunschwig würde ich nur begrenzt zustimmen. Die Gleichzeitigkeit der sozialen Krise und des Entstehens der politischen Romantik belegt noch keinen ursächlichen Zusammenhang. Über die Probleme der gleichheitsfördernden Tendenzen eines breiteren Kulturlebens haben Herr Weis und Herr Dietrich das Wesentliche wohl schon gesagt. Wie breit das Publikum für diese größere kulturelle und politische Öffentlichkeit gewesen ist, wage ich nicht abzuschätzen. Mir ist bewußt, daß mein Referat hier gewisse Fragen offen gelassen hat, gerade auch, was die Bedeutung einer freien bürgerlichen Intelligenz, der Hauslehrer, der Schriftsteller usw. betrifft. Vielleicht war sie sogar in Reaktion auf die Revolution in der Zeit zwischen 1800 und 1815 in Deutschland geringer als in den Jahren 1780 - 1790, denken Sie etwa an das Schicksal Heinrich von Kleists. Die Anregungen und Hinweise der Diskussionsteilnehmer zu diesem Fragenbereich nehme ich gerne auf. Die Bemerkungen von Herrn Dilcher führen uns schon in das Gebiet hinein, das auf dieser Tagung durch Herrn Gall behandelt werden sollte. Daß mit den süddeutschen Verfassungen ein wesentliches Forum für die Artikulierung bürgerlicher Interessen und bürgerlicher Vorstel-
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lungen geschaffen worden ist, steht ganz außer Frage, auch wenn der politische Einfluß dieser Kammern begrenzt geblieben ist. Gemessen an den Repräsentationsmodellen, die in den Rheinbundstaaten und im Preußen der Reformzeit diskutiert wurden, muß man die Fortschrittlichkeit der süddeutschen Konstitutionen mit allem Nachdruck unterstreichen.
Begriff und rechtliche Tragweite der Grundrechte im Übergang von der Aufklärung zum 19. Jahrhundert* Von Ulrich Scheuner, Bann 1. Die Erscheinung der Grundrechte kann nicht allein mit ihrer Konzeption im liberalen Zeitalter oder dem gegenwärtigen Verständnis des Grundrechtsteiles des Grundgesetzes gleichgesetzt werden. Geschichtlich treten die Grundrechte in anderer Form, nicht als subjektive individuelle Rechte, sondern als programmatische Grundsätze der politischen und rechtlichen Ordnung hervor. Sie sind Ausprägungen bestimmter Rechtspositionen und Rechtsprinzipien, die als grundlegend für die politische Ordnung angesehen werden, vor allem im Hinblick auf ein Element der persönlichen Lebensform; im 17. und 18. J ahrhundert wohnt dem Begriff der Grund- und Freiheitsrechte ein naturrechtliebes Moment inne. 2. Die Frühgeschichte der Grundrechte kann in einzelnen Gedankenketten weit zurückverfolgt werden. Aber die Entstehung der spezifischen Gestalt des auf die Sphäre der menschlichen Person bezogenen Rechts oder Grundsatzes vollzieht sich erst auf der Annahme einer rationalen Begründung des Staates, der aus dem Stande der natürlichen Freiheit der Menschen durch deren Zusammenschluß entsteht. Zu den geschichtlichen Vorläufern grundrechtlicher Vorstellungen gehört die Anerkennung der Würde des Menschen in der mittelalterlichen Lehre (Thomas v. Aquin), die Ausbildung korporativer Freiheiten für die Städte, Zünfte und andere Gemeinschaften (Freiheiten, liberties), der Gedanke einer die Freiheit achtenden gemäßigten politischen Ordnung und der Grenzen staatlicher Herrschaft, endlich auch die Vorstellung von den Pflichten des Regenten, die auf die Wahrung von pax et justitia, • Das an dritter Stelle vorgesehene Referat mußte ausfallen, weil der Referent zu Beginn der Tagung plötzlich erkrankte. Der Vorstand bat daraufhin Herrn Prof. Dr. Ulrich Scheuner, in die Bresche zu springen. Herr Scheuner trug daraufhin die hier abgedruckten Thesen vor, entwickelt in Anlehnung an seinen Vortrag "Die Verwirklichung der bürgerlichen Gesellschaft", den er am 16. März 1979 auf dem Interdisziplinären Symposion der Universität Trier zur Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte gehalten hatte und der in einem anderen Zusammenhang veröffentlicht wird. Der Referent bittet, die rasche Entstehung der Thesen zu berücksichtigen, Vorstand und Mitglieder der Vereinigung danken ihm für seine uneigennützige Hilfe in einer ungewöhnlichen Situation.
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aucl1 auf die clementia und auf die Beförderung des Gemeinwohls gerichtet sind. In Verwendung solcher älterer Auffassungen formt sich in der angelsächsischen Welt des 17. Jahrhunderts die Idee eines naturrechtlich gesicherten Rechtsstandes von Freiheit, Eigentum, Gewissensfreiheit der Bürger und - jedenfalls bei den radikalen Gruppen (Levellers) -auch der Gleichheit. Auf dieser Grundlage konnte sich in England seit dem 17. Jahrhundert die Anerkennung der natürlichen für die Staatsgründung maßgebenden Rechte des Bürgers entwickeln (Locke), zumal in England die ständische Ordnung in dieser Zeit bereits fortschreitend aufgelöst und durch eine bürgerliche Erwerbsgesellschaft abgelöst wurde. Ähnliches gilt für die Kolonien in Amerika, in denen in einer stärker egalitären Gesellschaft ein an Besitz geknüpftes Wahlrecht weiteren Kreisen die politische Mitwirkung gestattete. Grundrechte der angelsächsischen Tradition sind notwendig politisch verstandene Rechte als Grundlage der Formung der politischen Gemeinschaft, die die sie tragenden Gruppen durch Rechtsgewähr sichert, während Randgruppen wie die Besitzlosen oder die Sklaven unbeachtet blieben, weil sie nicht als wirkende Glieder dieser politischen Gemeinschaft empfunden werden. 3. Die Entwicklung des Gedankens der Grundrechte in Frankreich und Deutschland im 18. Jahrhundert bedarf noch der weiteren Untersuchung. In Frankreich gewinnt in der Mitte des 18. Jahrhunderts die Vorstellung einer natürlichen Freiheit des Menschen ein grundlegendes Gewicht; seine Herausarbeitung zielt auf die Überwindung der bestehenden ständischen und politischen Ordnung und bereitet den Gedanken ursprünglicher auch im Staatsverband fortbestehender menschlicher Rechte vor. In Deutschland geht die spätere Naturrechtslehre des 18. Jahrhunderts von einer der Staatsgründung vorausgehenden natürlichen Freiheit des Menschen aus, die dem Naturzustand angehört. Sie bleibt aber nach dem Zusammentritt zum Staate, soweit der Staatszweck der Beförderung der allgemeinen Glückseligkeit reicht, nur als libertas civilis, als Stellung innerhalb der Ordnung des absoluten Staates bestehen, während nur für diese Ordnung indifferente Handlungen als Rest der natürlichen Freiheit fortdauern. Seit etwa 1770 mehren sich auch in Deutschland Stimmen, die für einen Fortbestand natürlicher Rechte im Staat eintreten, die überhaupt den Gedanken der Freiheit des Menschen betonen und die im Zweck der Glückseligkeit nicht mehr nur das Wohl der Gesamtheit mit Vorrang vor dem einzelnen betonen, sondern gerade auch die Verfolgung des individuellen Wohles als Grundlage des daraus entspringenden Gemeinwohles hervorheben. Die Pflichten des Regenten spielen in der deutschen Lehre eine wichtige Rolle. Ihre Herausstellung entspricht auch der aus reformatori-
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schem Erbe (Melanchthon) entwickelten Lehre des Naturrechts von den Grundpflichten des Menschen, den Pflichten gegen Gott, der Pflicht zur Selbstvervollkommnung und den Pflichten gegen den Nächsten. Gerade der Gleichheitsgedanke wird in Deutschland in diesen Zusammenhang gestellt. Er erscheint bei Pufendorf und bei späteren Autoren nicht als Recht des einzelnen, sondern als eine Pflicht, den Nächsten wie einen Gleichen zu behandeln. Für die Beurteilung der deutschen Anschauungen bildet das Jahr 1789 insofern einen wichtigen Einschnitt, als die Gedanken der französischen Revolution in Deutschland rasch Eingang fanden und das deutsche Denken prägten. Neben ihnen sind für die 90er Jahre auch die Werke Kants von großer Bedeutung. Jedenfalls aber bedeutet das Jahr 1789 eine Schwelle, jenseits deren die Erscheinung grundrechtlicher Vorstellungen nicht mehr als unbeeinflußt von den französischen Vorgängen angenommen werden kann. 4. Die Grundrechte der französischen Revolution wie diejenigen der deutschen frühkonstitutionellen Verfassungen stellen im allgemeinen keine Proklamation individueller Rechte von alsbaldiger rechtlicher Anwendung dar, sondern sie enthalten Programme der sozialen Änderung und der Gesetzgebung. Ihre Verwirklichung erfolgt in der französischen Revolution teilweise rasch - insbesondere bei der Herstellung bürgerlicher Gleichheit und einer beweglichen Rechtsordnung im Grundeigentum und im Gewerbe - während in Deutschland sich die Entwicklung zu einer gesellschaftlichen Umgestaltung über ein halbes Jahrhundert hinzieht und die Verkündung der konstitutionellen Verfassungen innerhalb dieses Prozesses liegt. Die Grundrechte der Epoche sind mithin mehr Zeugnisse einer fließenden Entwicklung, die dem Geschehen die Richtung weisen. Tragen die angelsächsischen Freiheiten stärker den Charakter einer Bestätigung bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse, so werden in der Epoche der späten Aufklärung und der ihr folgenden Veränderungen die Grundrechte in Frankreich und Deutschland weithin zum Ausgangspunkt einer sozialen Umgestaltung. Ihre Erfüllung erfolgt in Deutschland weithin von oben her durch die Tätigkeit einer Schicht des führenden Beamtentums. Das französische Vorbild wirkt dabei vor allem in seiner napoleonischen Form d. h. in der Überformung durch ein autoritäres und streng zentralistisches System ein. Die Realisierung der Grundrechte vollzieht sich überwiegend in der Einzelgesetzgebung und weist daher unabhängig von der unterschiedlichen politischen Entwicklung in Nord- und Süddeutschland übereinstimmende Züge auf. 5. Das Ziel dieser Neuformung war, wenn auch im einzelnen nicht immer als zusammenhängendes Programm entwickelt, die Verwand-
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lung der ständischen Ordnung in eine bürgerliche Gesellschaft, mit Gleichheit vor allem der bürgerlichen privatrechtliehen Ordnung, einheitlichen Rechtsvorschriften für Grundeigentum und Gewerbe und einer staatsbürgerlichen Gleichheit, die freilich im Rahmen der politischen Mitwirkung eine gestufte Einflußnahme aufwies. Die ständische Gesellschaft des 18. Jahrhunderts war streng erblich und rechtlich gegliedert, besaß keinen einheitlichen Begriff des Eigentums oder der persönlichen Rechtsstellung, sondern zeigte für die einzelnen Stände und Berufe unterschiedliche Regelungen bis in den strafrechtlichen Schutz hinein. Das wurde nun überwunden durch die Erstreckung eines vorwiegend städtisch ausgerichteten Rechts persönlicher Freiheit und beweglicher Verfügung auch über den Boden auf das Land und die Auflösung der dort bestehenden Abstufungen und Abhängigkeiten in einer langen Zeitphase. Zu der Neuordnung gehört in Frankreich auch die Aufhebung der Zünfte und Korporationen. Auch sie geht in Deutschland langsam vor sich. In Preußen führte das finanzielle Bedürfnis des Staates 1811 zur Einführung der Gewerbefreiheit, in Süddeutschland zögerten Widerstände des Handwerks diese Entwicklung teilweise bis nach der Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus. Das Ergebnis war eine bewegliche bürgerliche Ordnung, in der die einzelnen rechtlich gleichberechtigt waren - von gewissen fortbestehenden Adelsprivilegien abgesehen - und frei über ihr Vermögen wie ihren Beruf verfügen konnten. Dazu gehörte auch die Gewährung von Freizügigkeit und Auswanderungsfreiheit. Erreicht wurde dieser Stand erst in den 50er und 60er Jahren, als die Industrialisierung die älteren Schranken und Gliederungen auch faktisch vollends beiseite rückte. 6. Die Grundrechte der frühkonstitutionellen Verfassungen stellen nicht ohne weiteres Rechte dar, auf die sich das Individuum berufen konnte. Es galt kein rechtlicher Vorrang der Verfassung, kein Recht der Gerichte zur Prüfung von Gesetzen an ihrem Maßstab. Grundrechte erschienen daher weniger als eine höhere normative Ordnung, wie als ein Kreis von teilweise rechtlich verbindlichen Grundsätzen, als ein Programm mit Wendung an den Gesetzgeber. In der Nationalversammlung von 1848 hat man über eine alsbaldige rechtliche Wirksamkeit der grundrechtliehen Bestimmungen diskutiert und das Einführungsgesetz zur Einführung der Grundrechte vom 21. 12. 1848 sah ausdrücklich das lokrafttreten zahlreicher Grundrechte - auch der Gleichheit - vor nebst Außerkrafttretung entgegenstehender Landesgesetze, während für andere Bestimmungen (Strafen, Ehe, Schule) eine alsbald zu erlassende Landesgesetzgebung in Bezug genommen wurde. Dieses Gesetz wurde indes nur in einzelnen Bundesstaaten vorübergehend angenommen, nicht in Preußen und Bayern. Die Zeit der Mitte des 19. Jahrhun-
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derts gab den Grundrechten gewissermaßen den Rang gesetzlicher Neuerungen, die früheres Recht beseitigten oder ergänzten, und auch die Rechtsprechung im preußischen Staat behandelte sie in diesem Sinne als Novellierungen der bestehenden Rechtslage. Man stritt darum, welche gleichheitswidrigen Privilegien durch die preußische Verfassung von 1850 aufgehoben waren. 7. Der Grundsatz der Gleichheit ist ausgeprägt als Gleichheit vor dem Gesetz. Das bedeutet gemeinsame Gesetze für alle, gleichmäßige Anwendung ohne Unterschiede des Standes. Keineswegs liegt darin im 19. Jahrhundert ein Ansatz zu egalitären Strömungen, wie sie in der Gegenwart für das Verständnis des Gleichheitssatzes und für seine programmatische Wirkung bestimmend zu werden beginnen. Auch die französische Revolution hat nur in ihrer radikalen Phase solche Tendenzen zu sozialer Angleichung gezeigt. Wohl gibt es seit dem späteren 18. Jahrhundert die Anerkennung der Unterstützung und Hilfe für sozial schwächere Kreise, aber es gibt im liberalen Zeitalter noch keinen sozialen Ausgleich (Umverteilung). Die Hilfe wird als Pflicht des Staates zur Fürsorge oder auch im karitativen Sinne verstanden. Die staatliche Sozialversicherung entstammt nicht liberalem Gedankengut. In der altliberalen Gedankenwelt erscheinen Freiheit und Gleichheit miteinander, aber der Ton liegt eher auf der Freiheit, nicht auf der staatsbürgerlichen Gleichheit. Politische Rechte sollen Besitz und Bildung vorzugsweise zukommen; das allgemeine Wahlrecht ist keine Forderung der ersten Jahrhunderthälfte in Deutschland. 8. Aus diesen kurzen Bemerkungen ergeben sich einige methodische Folgerungen. Die Betrachtung der Tragweite der Grundrechte in der älteren Zeit bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts sollte stets von folgenden Leitgedanken sich bestimmen lassen: a) Neben dem Text der grundrechtliehen Bestimmung sollte stets die Frage nach der rechtlichen Tragweite dieser Vorschrift erhoben werden. b) Eine weitere Frage gilt der tatsächlichen Realisierung der grundrechtlichen Aussage in der politischen und sozialen Situation. In der Frühzeit werden grundrechtliche Sätze zwar rechtliche Bedeutung besitzen, aber sie werden nicht notwendig alsbaldige Rechtsänderungen ausdrücken, sondern im Zeitablauf zu erfüllende Programme für den Gesetzgeber bilden. c) Grundrechte werden stets auf dem Hintergrund der politischen und sozialen Lage und ihrer Spannungen gesehen werden müssen. Sie werden aus der Lage der Zeit heraus und gegenüber bestehenden Kräften formuliert, wobei sie sowohl erhaltende wie gesellschaftsgestaltende Tendenzen enthalten können.
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9. Die Grundrechte der Zeit des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts sind in der Auslegung eher als objektive rechtliche Grundsätze, wie als subjektive Rechte zu deuten. In der französischen Revolution und ihren Verfassungen treten auch erste Ansätze zu sozialen Grundrechten hervor (Recht auf Arbeit). Die Auffassung, die Grundrechte des frühen 19. Jahrhunderts hätten in erster Linie individuelle Freiheitsrechte enthalten, ist in dieser Form auch geschichtlich nicht haltbar. 10. Ausdruck und Ergebnis der fortschreitenden Umwandlung der gesellschaftlichen Verhältnisse war: a) die Herstellung der persönlichen Freiheit aller und die Ausbildung eines einheitlichen Begriffs des Staatsbürgers, der in der Lehre nach 1815 als allgemeiner Ausdruck erscheint, b) die Schaffung einer einheitlichen Privatrechtsordnung für alle Bürger des Staates. Der Begriff des rechtlich verfaßten Standes wird ersetzt durch den der aus wirtschaftlichen Gegebenheiten sich bildenden Klasse. Hierzu gehört ferner die Überführung der mannigfachen Eigentumsformen am Boden in ein einheitliches freies Eigentum, auf gewerblichem Gebiet die Einführung der Gewerbefreiheit. Die zivil:.. rechtlichen Kodifikationen der Zeit werden auf diese Weise zum entscheidenden Ausdruck und zum bestimmenden Element der Wandlung. c) Die staatsbürgerliche Gleichheit steht zurück, was nicht nur in der Bewahrung mancher Vorrechte des Adels sich zeigt, sondern vor allem an der noch ständischen Gliederung der Wahlbezirke und Wahlkörper und der Abstufung des Wahlrechts sich erkennen läßt. Im politischen Felde finden ferner noch diskriminierende Bestimmungen gegen das Koalitionsrecht der Arbeiter ihren Platz. d) Der Rechtsschutz der Grundrechte wird immerhin in Ansätzen bewirkt. Er führt in Württemberg und vor allem in Bayern zum Recht, Petitionen an den Landtag bei Verletzung der Grundrechte zu richten. In Bayern gaben die Kammern, wenn sie die Eingabe annahmen, sie zur Erledigung an den König weiter. Von dieser Möglichkeit wurde vor und nach 1848 ein begrenzter Gebrauch gemacht (vgl. Max v. Seydel, Bayer. Staatsrecht 2. Aufl. Bd. 1, 1896, S. 364 ff.), zumeist in Fragen des Steuerund Abgabenrechts, aber auch hinsichtlich anderer Freiheitsrechte. Grundrechte werden, namentlich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, von der Rechtsprechung wie Neuerungen zur Gesetzgebung angesehen. In anderen Fällen legen sie Richtpunkte fest, deren Realisierung durch die einfache Gesetzgebung erfolgt (Pressegesetz, Vereinsgesetz).
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Schneider: Unter dem Eindruck Ihres großartigen und weitgreifenden Referats, lieber Herr Scheuner, bleibt mir eigentlich nur noch Raum für zwei ergänzende Hinweise und eine abschließende Frage an Sie. Meine erste Bemerkung betrifft das Problem der "Staatsnähe" des Naturrechts in Deutschland. Mir scheint in der Tat, daß jedenfalls bis zur Mitte des 18. Jhs. das Naturrecht deshalb eine besonders enge Beziehung zum aufgeklärten Absolutismus eingegangen ist, weil sich beispielsweise in Preußen die voluntaristische Variante durchgesetzt hat (vgl. Cocceji), wohingegen etwa in Frankreich stärker rationalistische Elemente der Naturrechtslehre mit entsprechend kritischerer Tendenz gegenüber Staat und Gesellschaft wirksam geworden sind. Dies hing z. T. damit zusammen, daß gerade die voluntaristische Traditionslinie eben auch zur Legitimation des aufgeklärten Absolutismus verwendet werden konnte (sie volo, sie iubeo). Typisch hierfür ist die Haltung Friedrichs des Großen zum Naturrecht. Bekanntlich hat er bis zur Mitte seiner Regierungszeit zunächst sehr stark WoZffschen Lehren angehangen. Mit dem Übergang Preußens zur Machtpolitik trat jedoch auch in Friedrichs Naturrechtsverständnis eine gewisse Wende ein, womit zugleich das rationale Naturrecht auf preußischem Boden in eine ungewohnte "Staatsferne" gedrängt wurde. So konnten die Wolffschen Lehren von nun an nur noch im "Untergrund" durch Geheimbünde tradiert werden, bis sie dann in Gestalt der Reformer zu Beginn des 19. Jhs. erneut wirksam geworden sind. Mindestens seit der zweiten Hälfte des 18. Jhs. tritt also jedenfalls in Preußen auch eine stärker kritische Funktion des Naturrechts in Erscheinung, wenngleich sie sich erst später politisch durchsetzen konnte. Meine zweite Bemerkung: Das Problem der Konstitution des Staatsbürgers (über das gestern schon gesprochen wurde und welches auch Sie, Herr Scheuner, beschäftigt hat) ist für Deutschland geistesgeschichtlich recht gut zu orten, wenn man bedenkt, daß es wohl Kant gewesen ist, der in seiner Schrift "Über den Gemeinspruch" und später auch in der "Metaphysik der Sitten" als erster diesen modernen Staatsbürger konzipiert hat, indem er die Gleichheit des Staatsbürgers als Untertan zum maßgeblichen Anknüpfungskriterium gegenüber allen ständisch-feudalen Differenzierungen erhob. Staatsbürger im kantischen Sinne war allerdings nur der, dessen Selbständigkeit auf Besitz oder Bildung als Erwerbsquellen beruhte, während in abhängi-
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ger Arbeit stehende Tagelöhner oder sonstige Bedienstete nicht dazu gehörten, so daß letztlich dem gesamten Dienstleistungsbereich (mit Ausnahme der Beamten und des Militärs) die Staatsbürgerschaft noch vorenthalten wird. Nun zu meiner Frage: Sie haben den programmatischen Charakter der Grundrechte sehr stark betont. Ich würde Ihnen dabei im Prinzip zustimmen, allerdings mit der Einschränkung, daß wir doch punktuell schon feststellen können, wo sich gewisse schutzwürdige Positionen schon zu individuellen Rechten verdichtet haben. Ich denke hier etwa an Eigentum und Erbrecht im preußischen ALR sowie an gewisse Freiheitsrechte und ich denke ferner daran, daß die preußischen Reformen mit ihrer privilegienfeindlichen oder doch zumindest nivellierenden Tendenz zweifellos neue Freiräume geschaffen haben, die sich zu individuellen Rechtspositionen entwickeln konnten. Wenn ich zum Beispiel durch ein Reformedikt den Zunftzwang abschaffe oder Handels- und Gewerbefreiheit ermögliche, so ergibt sich daraus zwar noch nicht automatisch ein Abwehrrecht gegen den Staat, aber doch ein Recht, das zunächst im gesellschaftlichen Bereich eine Art "Drittwirkung" entfaltet: Ich darf nämlich nunmehr jeden Beruf ergreifen, ohne daß sich irgendwer auf ein Standes- oder Zunftprivileg beziehen und mir das verbieten kann. Soweit sich in diesem Sinne die Grundrechte gegen die intermediären Gewalten des Ständestaates richteten, würde ich darin durchaus schon gewisse Rechtspositionen im modernen individualrechtliehen Verständnis erblicken können. Deshalb hatten die Grundrechte, soweit sie solche Rechtspositionen schützten, schon damals zugleich statusbegründenden Charakter, ein Gesichtspunkt, den ich der programmatischen Dimension gleichrangig zur Seite stellen würde. Die Grundrechte besaßen in dieser Zeit vor allem eine Verallgemeinerungsfunktion: sie waren gewissermaßen Garant und Voraussetzung dafür, daß grundrechtsausgestaltende Gesetze die Form der Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit annehmen konnten. Würden Sie, Herr Scheuner, die Gleichheit vor dem Gesetz, die in unserer Diskussion ja eine so wichtige Rolle spielt, zumindest für das 19. Jh. in ihrer egalisierenden Wirkung nicht auch etwas geringer veranschlagen und eher als Ausprägung der Allgemeinheit des Gesetzes verstehen wollen, die damals noch ganz im Vordergrund rechtsstaatlicher Reformpostulate stand? Kleinheyer: Herr Scheuner, ich möchte Ihnen vollkommen zustimmen in Ihrer Feststellung, daß die Grundrechte nicht unmittelbar zurückgeführt werden dürfen auf Freiheiten ständischer Art. Ich meine, daß alle Vereinbarungen zwischen Ständen und Landesherren, dualistische Vereinbarungen, eigentlich nicht Grundrechte begründen. Denn Grundrechte sind, wenn man von diesem Terminus ausgeht, Rechte, die sich
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gegen den Staat richten, und zwar in allen seinen Funktionen. Und diesen Staat gibt es im dualistischen Verhältnis zwischen Ständen und Landesherren nicht. Die Rechte der Stände richten sich gegen den Landesherrn, sie richten sich nicht gegen den Staat in unserem Sinne. Unmittelbar von daher komme ich dazu, daß ich auch den Rechten der frühen Konstitutionen einen echten Grundrechtscharakter absprechen würde; denn auch sie sind dualistisch bestimmt, sie richten sich noch nicht gegen alle Träger der Staatsfunktion, sie richten sich nämlich insbesondere nicht gegen die Landstände. Derengesetzgeberische Tätigkeit wird nicht etwa grundrechtlich kontrolliert, sondern sie vertreten die Rechte des Volkes gegenüber der Regierung, nicht gegenüber dem König. Dies ist in der Tat nie zu lesen, sondern regelmäßig wird die Regierung als Gegenüber der Landstände genannt. Diese Rechte richten sich eben nicht gegen die Gesamtheit derer, die an den Staatsfunktionen beteiligt sind. Entsprechend ist auch die Repräsentation zu sehen. Ich habe in der Tat nur zwei Belege dafür gefunden, daß man überhaupt einmal die Stände als Repräsentanten des Fürstentums oder des Königreiches angesprochen hat. Sonst sind sie immer nur die Repräsentanten des Volkes gegen die Regierung.- Und nun zu der Wirkung der Grundrechte. Hier ist ja zunächst zu fragen, seit wann es überhaupt die Vorstellung gibt, daß die Konstitutionen, Verfassungen einen gegenüber dem Gesetz sich durchsetzenden Rang haben. Ich kann dies nicht sagen, müßte das einmal näher nachprüfen. Wieweit gibt es denn überhaupt die Vorstellung, daß es da eine höhere Rechtsquellenqualität gibt? Im Verhältnis zwischen Konstitution und einfachen Gesetzen ist uns heute das ja völlig selbstverständlich, aber ich könnte mir vorstellen, daß es ein langer Denkprozeß ist, ehe man dahin kommt. Das Problem gab es ja auch bei den Grundgesetzen des Alten Reiches: Wie setzten sie sich eigentlich durch, wie wirkten sie im Verhältnis zu anderen Rechtsquellen? Und ein Zweites: was die aktuelle Wirkung von Grundrechten angeht, so meine ich, daß es da eine gewisse Abstufung gibt. Ich würde nicht generell sagen, daß diese Untertanenrechte keine aktuelle Bedeutung hatten, sondern nur Programmsätze waren. Es gab nämlich erstens Rechte, die zurückgingen auf die entsprechende Gewährleistung in der Bundesakte, Rechte, die also das Auseinanderfallen des alten Reichskörpers in souveräne Einzelstaaten für den einzelnen weniger schmerzlich machen wollten, insbesondere das Freizügigkeitsrecht über die Landesgrenzen hinweg. Das ist in der Bundesakte festgelegt und hat natürlich auch eine größere Wirkung als ein einfacher Programmsatz, weil ja die Staaten daran gebunden waren. Es gab zweitens Untertanen- oder Staatsbürgerrechte, die eine so lange Tradition hatten, daß deren aktuelle Wirkung gar nicht bezweifelt werden kann. Sie haben das Eigentum gerade genannt. Ich darf vielleicht noch die Justizgrundrechte, vor allem den Habeas-Corpus-Satz, hinzufügen. Ge8 Der Staat, Belheft 4
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rade dieser Satz ist, wie Huber schreibt, die große Errungenschaft des Frühkonstitutionalismus, und dem würde ich durchaus zustimmen. Ich glaube nicht, daß man bei einem Verstoß gegen diesen Grundsatz von seiten der rechtsanwendenden Organe hätte schweigen können. Und schließlich haben Sie ja selber hingewiesen darauf, daß es im Petitionsrecht, das die Stände sich zu eigen machen konnten, auch bereits einen Ansatz zu einem Schutz des Individuums gab. Aber daß eine ganze Reihe von Rechten sich finden, die schon nach ihrer Formulierung gar keine aktuelle Bedeutung haben und nur im Zusammenhang mit der Umsetzung in Gesetze wirksam werden konnten, das ist natürlich ohne weiteres zuzugeben, und viele Sätze bezeichnen sich ja selbst als Programm.
Birke: Ich möchte an das anknüpfen, was Herr Kleinheyer gerade vorgetragen hat und auf einige Aspekte der Grundrechtsauffassung des deutschen Liberalismus verweisen. Ich glaube, daß im 48er Liberalismus, jedenfalls in weiten Teilen, die Forderung von Grundrechten als Schranke gegen staatlichen Machtmißbrauch verstanden wird und daß gerade in diesem Punkte bis zum Jahre 1866 eine in gewissem Sinne rückläufige Entwicklung eingetreten ist; eine sehr viel stärkere Identifizierung des Liberalismus mit der staatlichen Macht, wie sie z. B. in Hermann Baumgartens berühmter "Selbstkritik" von 1866 programmatisch herausgearbeitet wurde. Erhellend für die Grundrechtsauffassung des deutschen Liberalismus ist dann wenig später die interessante Auseinandersetzung im deutschen Reichstag vom Frühjahr 1871, die sogen. Grundrechtsdebatte, bei der die neugegründete Zentrumspartei den Antrag einbrachte, die Religions- und Kirchenartikel der revidierten preußischen Verfassung von 1850 in die Reichsverfassung aufzunehmen, um auf diese Weise "Grundrechte" zu etablieren. Hiergegen ist ja aus liberaler Sicht sehr heftig polemisiert worden. So hat Treitschke ausdrücklich darauf verwiesen, daß diese Auffassung, die Grundrechte als vorstaatliche Rechte verstanden wissen wolle, einem fortschrittlich liberalen Standpunkt widerspreche. Sie sei ein Rückfall in die Zeit der Kinderstube von 1848, als der Liberalismus noch nichts von realer politischer Macht verstanden habe. Die katholischen Abgeordneten bezogen hingegen den Standpunkt der Paulskirche, daß Grundrechte als vorstaatliche Rechte notwendig seien, um staatliche Macht einzugrenzen. Sie mußten sich aber den Vorwurf gefallen lassen, ctaß ihr Grundrechtsantrag gar kein allgemeiner sei, sondern daß er sich nur auf die Sicherung kirchlicher Privilegien beziehe. Die Katholiken glaubten jedoch, daß ihre Forderung der Kirchenfreiheit Ausfluß des allgemeinen Grundrechts der Religionsfreiheit sei. Da für sie die Lehrinstitution der Kirche als inhaltlich zum Glauben gehörend verstanden
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wurde, glaubten sie, individuelles, kollektives und vorstaatliches Grundrecht als Einheit betrachten zu können. Wahl: Ich darf anknüpfen an eine der zentralen Thesen von Herrn Scheuner, die ich voll unterstütze, an die These vom Programmcharakter der Grundrechte. Ich möchte hier kurz eingehen auf eine Bemerkung, die vorhin gefallen ist, in der gesagt wurde, daß Grundrechte nur Programmcharakter gehabt hätten. Mir scheint, daß der Begriff doppeldeutig ist: Auf der einen Seite bedeutet er von unserem heutigen Denken her eher ein Minus, insofern damit ausgesagt ist, daß den Grundrechten aktuelle rechtliche Bedeutung nicht zukommt. Im Sprachgebrauch des 19. Jhs. taucht diese Variante auf, wenn man in der Reaktionszeit der 50er Jahre den Grundrechten die aktuelle Bedeutung mit der Behauptung abgesprochen hatte, sie hätten nur Programmcharakter. Das scheint aber nicht der entscheidende Sprachgebrauch gewesen zu sein, sondern die zweite und wichtigere Bedeutung ist, die Sie auch sehr deutlich herausgestellt haben, daß die Grundrechte Richtungsangaben enthalten haben. So formuliert z. B. Anschütz ganz deutlich, daß die Grundrechte als Verheißungen künftiger Gesetzgebung verstanden worden sind. Ich meine, daß damit etwas ganz Wesentliches gemeint ist, daß nämlich in den Grundrechten- seien es die der frühen Verfassungen, seien es die der preußischen Verfassung - tatsächlich ein Programm für das formuliert worden ist, was dieser Staat, der hier verfaßt worden ist, an konkreten Leistungen erbringen soll. Damit war auch zugleich ein Maßstab für die Staatspraxis gesetzt. Darüber hinaus meine ich, daß die Grundrechte Legitimationsprobleme des Staats im 19. Jh. umschrieben haben. Für die erste Hälfte des 19. Jhs. bedeutet dies, daß diese Staaten unter der Herausforderung der französischen Ideen den Abbau der ständisch-feudalen Rechte leisten mußten. Da es sich um ein Legitimationsproblem handelte, kam es nicht darauf an, ob diese Anforderungen in den Verfassungen formuliert waren oder nicht; auch Preußen stand unter diesem Druck und eine der Ursachen für die 48er Revolution war das teilweise Versagen in dieser Hinsicht. In der zweiten Hälfte des 19. Jhs., nachdem der Abbau der ständisch-feudalen Überhänge geleistet war, ging es um die Ausgestaltung einer bürgerlichen Gesellschaft, wiederum durch Gesetzgebung und wiederum durch eine Gesetzgebung, die auch dort der Sache nach Grundrechtsvollzug war, wo es - wie im Reich - Grundrechte in der Verfassung selbst nicht gab. Hier ist nun interessant, die Reihenfolge der Verwirklichung von Grundrechtsforderungen zu betrachten. Die zeitliche Abfolge bringt zunächst die Gewerbefreiheit und die Freizügigkeit, dann in den 70er Jahren das Pressegesetz und erst 1908 das Vereins- und Versammlungsgesetz. Die Reihenfolge scheint mir typisch zu sein, vor allem in der sehr verzögerten Gewährung der politischen Rechte der Vereins- und s•
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Versammlungsfreiheit. Auf den Legitimationsaspekt zurückkommend zeigt sich darin auch, daß dort, wo die Verwirklichung von Grundrechtsforderungen in der Gesetzgebung verzögert wurde, jeweils auch Belastungen für die Legitimation aufgetreten sind. In beiden Hälften des 19. Jhs. ist Grundrechtsgeschichte Gesetzgebungsgeschichte und die Grundrechtsgesetzgebung ist jeweils eng verbunden mit den Legitimationspro blemen.
Dietrich: Es tut mir leid, ich muß jetzt nochmals zurückgreifen auf das, was Herr Schneider vorhin sagte. Er hat einiges vorweggenommen von dem, was bei meinen Überlegungen vorhin eine Rolle spielte. Ich möchte es in Frageform kleiden. Herr Schneider hat vorhin auf einen Bruch im Denken Friedrichs des Großen hingewiesen, in der Grundrechtsrezeption des deutschen aufgeklärten Absolutismus; er hat auf den Wolfflanismus hingewiesen und dann darauf, daß später Friedrich der Große anderen Gedankengängen gefolgt sei. Ich überlege mir, und das ist der Zusammenhang, den ich jetzt in Frageform kleiden möchte, ob da nicht doch eine etwas größere Kontinuität da ist, insofern als auch beim späten Friedrich dem Großen, genau wie beim frühen, immer doch letztlich Montesquieu dahintersteckt, mit dem er sich sehr intensiv beschäftigt hat, wobei aber nun die weitere Frage auftaucht, was Montesquieu unter Grundrechten, was er etwa unter dem Begriff der Freiheit versteht; daß sie meist kor porativ gemeint ist bei Montesquieu, das ist klar. Aber trotzdem ist dieser Begriff bei ihm so schillernd, daß es mir sehr schwer fällt, einigermaßen klare Antworten von Montesquieu her zu geben, was Friedrich der Große gemeint haben könnte. Das ist das, was ich noch nachtragen wollte zum Anfang dieser Diskussion. Scheuner: Ich möchte zunächst auf die rechtliche Bedeutung der Grundrechte eingehen. Natürlich hat Herr Kleinheyer völlig recht, daß es einzelne Grundrechte gibt, die alsbaldige rechtliche Wirkung entfaltet haben, das will ich nicht ableugnen. Die Wirkung der in der Bundesverfassung ausgesprochenen Grundrechte richtete sich gegen die Staaten und band sie in ihrer Gesetzgebung. So haben die Einzelstaaten den Standesherrn ihre Privilegien zugestehen müssen, weil das in der Bundesakte verankert war, haben das aber anderen Gruppen, wie etwa den Reichsrittern vorenthalten. Auch ist es richtig, daß man unmittelbare Anwendungen einzelner Grundrechte immer wird feststellen können. Aber im ganzen glaube ich, und da bin ich dankbar für Herrn Wahls Bestätigung, die Grundrechte der frühkonstitutionellen Verfassungen waren programmartige Zielsetzungen, die wie die Gleichheit, die Pressefreiheit, die doch außerordentlich beschränkt war, allmählich sich erst verwirklichten. Ich würde auch Ihre Unterscheidung annehmen können, daß die Grundrechte bis 1848 sehr stark auf den
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Umbau der Gesellschaft gerichtet sind, während sie später dann auf den Ausbau einer mehr liberal gesehenen bürgerlichen Gesellschaft abzielen. Ich würde dabei auch auf die Parallele in Frankreich hinweisen. Ich habe gefunden, daß die beiden bedeutendsten Werke über die französischen libertes publiques von Georges Burdeau und Maurice Duverger beide übereinstimmend die Grundrechte der französischen Revolution als Programm bezeichnen. Das zeigte sich auch darin, daß sie kaum zur Wirkung gekommen sind. Kaum war die Verfassung erlassen, wurde der König ins Gefängnis geworfen. Sowohl die Jakobiner wie das Directoire haben sehr starke Einschränkungen der Grundrechte vorgenommen, Napoleon natürlich auch, so daß man also von einer unmittelbaren Geltung der französischen Grundrechte der Revolution gar nicht ausgehen kann. Die entscheidenden Vorgänge waren die Gesetze über die Bodenenteignung, des Gewerbes usw. Es ist interessant, daß heute in Frankreich die wichtigsten Grundrechte in Gesetzen niedergelegt sind. Wenn m an z. B. von der Pressefreiheit spricht, ist es das Gesetz über die Liberte de la presse von 1873, das unverändert noch heute in Geltung steht. Das ist von der deutschen Entwicklung des 19. Jhs. gar nicht so verschieden. In Frankreich beruft man sich bei den Libertes publiques nicht auf die Verfassung, sondern stützt sich auf die gesetzliche Verwirklichung der Verfassung. Ich würde auch, dies zu Herrn Schneider, betonen, daß die starke Hervorhebung der Rolle des Staates bei der Förderung der Wohlfahrt gegen Ende des Jahrhunderts abflacht und einer stärker individualistischen - bei Wilhelm von Humboldt sogar ausgeprägt individualistischen - Tendenz Platz macht. Dabei zeigt sich aber auch, daß in Deutschland diese Stärkung des Individuums einen Zug zum Unpolitischen trägt, daß eine staatsfreie Sphäre des Bürgers als Ziel erscheint, der sich fern vom politischen Geschehen frei entfaltet, während die angelsächsischen Grundrechte immer den Zug des aktiven in der Politik tätigen Bürgers erkennen lassen. Ich würde ferner zu Herrn Birke bemerken, daß die von ihm geschilderten Entwicklungen sehr interessant sind, aber jenseits des betrachteten Zeitraumes liegen. Deshalb bin ich auf sie nicht mehr eingegangen. Sie zeigen, daß die Grundrechtsauffassung des späteren 19. Jhs. sicherlich auf die Konzeption eines subjektiven Rechts zugeht. Für jenen späteren Abschnitt ist diese Charakterisierung berechtigt und setzt sich durch, ohne doch in allen Fällen alsbald sich praktisch auszuwirken. Man müßte die Rechtsprechung bis 1918 genau untersuchen, wie weit in ihr eine unmittelbare Anwendung grundrechtlicher Sätze erfolgt. Für Preußen läßt sich das in einem gewissen Umfang feststellen. Man müßte dazu vor allem die Verwaltungsgerichte ins Auge fassen. In Österreich sind die Grundrechte des Staatsgrundgesetzes alsbald von der früh ausgebauten Verwaltungsrechtsprechung aktiviert worden. Der Österreichische Verwaltungsgerichtshof ist hier, etwa in Nationalitätenfragen, früh voran-
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gegangen. Es gibt also eine Anwendung grundrechtlicher Bestimmungen im späteren 19. Jh., aber nicht im Sinne einer Gesetzeskorrektur, einer höheren Geltung, sondern in einer Anwendung als positives sozusagen gesetzliches Recht.
Brauneder: Ich möchte mich zuerst zu einem Problemkreis äußern, der auch schon gestern angesprochen worden ist, nämlich: Privatrechtskodifikation und Grundrechte mit insbesondere der These, daß die Privatrechtskodifikation, etwa in Österreich das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch ( = ABGB), den Gleichheitssatz verwirklichen wollte. Das generelle Thema, Grundrechte in der Privatrechtskodifikation, würde ich in einen weiteren Rahmen einspannen und sagen, daß die sogenannten "Allgemeinen Gesetze" in Österreich, als Elemente der Verfassung überhaupt zu werten sind. Dies in verschiedenster Weise: Erstens einmal durch ihre Existenz, die eine Vereinheitlichung in der Ausübung der Staatsgewalt, die sozusagen von der Ebene der Länder auf die der Länderverbindung gehoben worden ist, gewährleisten sollte, was eindeutig im Ausdruck "Allgemein" formuliert wird, etwa "Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch für die sämtlichen deutschen Erbländer des Kaisertums Österreich", im Unterschied zum nicht "Allgemeinen", sondern bloß "Bürgerlichen Gesetzbuch für Westgalizien". Wie schon zur Wehrpflicht bemerkt, bedeutet "allgemein" keineswegs "gleich", sondern will den umfassenden territorialen Geltungsbereich in Gegensatz stellen zu den Landes- oder Provinzialgesetzen. Verfassungselemente sind diese "Allgemeinen Gesetze" dann zweitens vom Inhalt her: Dies wird deutlich bei Vorläufern des ABGB, die beispielsweise Aussagen über Legislative, Exekutive und Judikative enthalten oder auch über die "angeborenen Rechte" wie der Entwurf Martini. Im Sinne von Herrn Scheuner handelt es sich hier wohl um Grundrechte als Programm für die Verfassung des Staates im vorkonstitutionellen Sinn. Sie enthalten Richtlinien zur Ausübung der Staatsgewalt, sind "Organische Gesetzen", nicht subjektive öffentliche Rechte. Der Staat will gewisse Grundprinzipien von sich aus wahren, nicht aber diese als Rechte der Bürger berücksichtigen. Damit im Zusammenhang steht das spezielle Problem, ob das ABGB ein gleiches Privatrecht schafft. Dies würde ich eher verneinen, zumindest für überdenkenswert erachten. Eine bloße Durchsicht des ABGB vermag auf den ersten Blick den Eindruck zu erwecken, es schaffe ein gleiches Privatrecht, denn es differenziert im großen und in der Regel auch im Detail nicht nach Ständen. Die Rechtsinstitutionen des ABGB stehen -vom Gesetzestext her allen Staatsbürgern offen. Doch betreffen sie- und das darf man wohl nicht außer acht lassen - des öfteren Rechtsverhältnisse einer ständischen Gesellschaft, d. h., daß die Rechtsmaterien sehr wohl ständisch bestimmt sind und damit auch das ABGB, da es diese ja nicht etwa ab-
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schafft oder nicht regelt, sondern im Gegenteil eben für das Vorhandene Regeln bereitstellt. So entstammt etwa das geteilte Eigentum der bäuerlichen und adeligen Rechtswelt, Erbzins- und Bodenzinsvertrag betreffen bäuerliche, die Familienfideikommis se adelige Verhältnisse. Ungleichheit herrscht auch - und zwar deklariert - im Eherecht, das konfessionell orientiert ist. Was den Protestanten erlaubt wird, ist daher den Katholiken verboten, nämlich eine Scheidung der Ehe dem Bande nach. Vor allem aber respektiert das ABGB die Ungleichheit durch ein gesetzestechnisches Mittel, nämlich die Verweisung: Es verweist sehr oft auf die sogenannten "Politischen Gesetze". So enthält es zwar eine einheitliche Erbfolgeordnung, aber bezüglich des Erbrechts im Bauernstand ist auf die politischen Gesetze verwiesen, um nur ein Beispiel zu nennen. Das ABGB gleicht damit einem Emmentaler Käse, der für bestimmte Bevölkerungsschicht en gar keine materiellen Rechtsregeln enthält, sondern durch dessen Löcher, die Verweisungen auf die politischen Gesetze, zum Durchgriff auf andere Materien nötigt. Insgesamt würde ich daher nicht der Ansicht folgen, das ABGB habe ein gleiches Privatrecht für einen einheitlichen Untertanenverband geschaffen. Es hat ein solches wohl auch gar nicht schaffen wollen, da man ja ansonsten von der Überlegung ausgehen muß, die Hofkommission in Gesetzgebungssachen habe Jahre hindurch an einem Phantomgebilde gearbeitet. Ein sofort wirksames gleiches Privatrecht in Kraft zu setzen, war Zeiller und den übrigen Mitgliedern dieser Hofkommission wohl verwehrt, da sie ja sehr gut wußten, daß das Kaisertum Österreich noch durchaus auf einer ständisch strukturierten Gesellschaft aufbaute und diese bewahren wollte. Noch einige Worte zu einem anderen Themenkreis, nämlich "Grundrecht als bloßes Programm". Man wird wohl bei einer derartigen Klassifikation darauf sehen müssen, in welcher konkreten Verfassungssituation Grundrechte formuliert werden. Während ich mich eben für die Grundrechte der Privatrechtskodifika tionen dieser Scheunerschen Terminologie bedient habe, scheinen mir im Frühkonstitutionalis mus die Grundrechte schon mehr als ein Programm zu sein. Geht man von der Gewaltenteilung frühkonstitutionelle r Verfassungen aus, nämlich von der spezifischen Art, die Gesetzgebung noch nicht den beiden übrigen Gewalten über-, sondern gleichzuordnen, dann haben hier die Grundrechte wohl die Funktion einer Mauer gegenüber Eingriffen der staatlichen Verwaltung. Diese ist ja noch nicht Vollziehung der Gesetze, sondern in erster Linie Vollziehung der Staatszwecke schlechthin. Gegen derartige Eingriffe der Verwaltung, die sich nicht auf Gesetze gründen, stehen die Grundrechte und sind daher wohl schon mehr als nur Programm. Sehr wohl aber trifft diese Feststellung in Österreich auf die Verfassungsperiode ab 1852, den sogenannten Neoabsolutismus, zu.
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Es ist interessant und berührt sich mit dem Referat von Herrn Kleinheyer, daß zu Silvester 1851 zwar der frühkonstitutionellen Verfassung 1849 formell derogiert wird, zwei Grundrechte aber ausdrücklich weiterhin in Geltung belassen werden. Das eine ist der Gleichheitssatz, mit der ausdrücklichen Beifügung, daß die Bauernbefreiung weiter durchzuführen ist, das zweite betrifft die Rechtsstellung der anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften. Angesichts des neoabsolutistischen Systems mit insbesondere dem Fehlen eines Grundrechtsschutzes erhebt sich die Frage, welche Funktion den Grundrechten in dieser Zeit zukommt, zumal sie 1860 (sogenanntes Oktoberdiplom) noch vermehrt werden. Hier trifft wohl die Erklärung ins Schwarze, die Grundrechte seien ein Programm für den Gesetzgeber gewesen. Dies ändert sich mit der konstitutionellen Verfassung 1867, hier insbesondere durch die Einführung des Reichsgerichtes als Verfassungsgerichtshof. Allerdings hatte man 1867 die Grundrechte nicht neu formuliert, sondern fast wortwörtlich der Verfassung 1849 entnommen. Wie schon Herr Scheuner bemerkt hat, war es nun das Hauptverdienst des Reichsgerichtes, im konstitutionellen System diese frühkonstitutionellen Grundrechte zu subjektiven öffentlichen Rechten gemacht zu haben- und dies selbst dann, wenn es - im Zeichen der Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung - an einfachen Gesetzen zur Durchführung der Grundrechtsbestimmungen fehlte. Da das entsprechende Staatsgrundgesetz 1867 heute noch gilt, besitzt Österreich seit 1849 unverändert formulierte Grundrechte, die aber je nach Verfassungsgefüge und Verfassungsverständnis unterschiedliche Positionen haben konnten. Es erschließt sich der Charakter von Grundrechtsformulierungen daher wohl nicht allein aus diesen, sondern eben der jeweiligen Verfassungssituation. Wadle: Mein Beitrag gilt zwei Bereichen. Zunächst eine Bemerkung zur Verwirklichung des in den Grundrechten niedergelegten bürgerlichen Status im Privatrecht. Die Geschichte der Grundrechte im Bereich des Privatrechts ist im 19. Jh. sicherlich nicht nur Gesetzgebungsgeschichte gewesen, sondern ebenso Geschichte der Privatrechtswissenschaft. Die Theorie bildet jene Grundfiguren aus, die auf älteren Formen aufbauend, die Struktur des bürgerlichen Rechts ganz wesentlich prägen, so z. B. die Idee des subjektiven Rechts, die Verschuldenshaftung als allgemeinen Grundsatz und die Vertragsfreiheit. Es werden aber nicht nur solche Grundbausteine entfaltet, auch das Selbstverständnis der Privatrechtswissenschaft selbst wird dadurch auf eine neue Basis gestellt, daß man in der Folge der Historischen Rechtsschule dem Privatrecht innerhalb der Gesamtrechtsordnung eine gewisse Autonomie zuspricht; in der Figur des "abstrakten Privatrechts", die Ihering entwickelt hat, findet dieser Gedanke geradezu einen Höhepunkt. Diese Bestrebungen trugen dazu bei, dem Individuum im Bereich des bürger-
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liehen Rechts einen Status der Selbständigkeit zu garantieren. Eine zweite Bemerkung betrifft den methodischen Hintergrund. Eine gewisse Akzentverlagerung in der Betrachtung der Grundrechte des 19. Jhs. ist offensichtlich. Schob man früher ihre Einschätzung als Freiheitsrechte in den Vordergrund, so betont man jetzt ihren Richtschnurcharakter, ihre Funktion als Grundwerte. Ich frage mich, ob bei diesem Wandelzumindest beim Juristen - nicht die aktuelle Diskussion der letzten Jahrzehnte eine Rolle spielt. Die Interpretation der Banner Grundrechte ist einen ganz ähnlichen Weg gegangen. Mir scheint, daß diese Entwicklung sich nunmehr in der Neuinterpretation des 19. Jhs. und seiner Grundrechte niederschlägt. Brandt: Ich habe zu Ihrem Referat, Herr Scheuner, nur Ergänzendes, keinesfalls Kritisches anzumerken. Auch ich glaube, daß man sehr scharf unterscheiden muß zwischen dem Stellenwert von Grundrechten in Diskussion, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis vor 1848 und der Zeit etwa nach 1870. In der Tat war der früheren Epoche der Gedanke fremd, Bürgerrechte, Freiheitsrechte seien subjektive individuelle oder korporative Anspruchsrechte gegen eine manifeste öffentliche Gewalt, möglicherweise einklagbar in einem fest fixierten Instanzenweg. Sie haben zu Recht herausgestellt, daß die Grundrechte der früheren Zeit Zeugnisse einer noch fließenden Entwicklung, möglicherweise Programm für eine künftige Gesetzgebung waren. Allerdings muß man vielleicht hinzufügen, daß mit der begrenzten rechtlichen Tragweite der Grundrechte durchaus eine beträchtliche politische Tragweite korrelierte. Was zunächst nur Deklaration war, bedeutete für die Kammerliberalen immerhin einen Ansatzpunkt für oppositionelle Politik. Die Grundrechte waren, so gesehen, nicht nur Gesetzgebungsprogramm, sondern Instrument politischer Veränderung. Darin stehen sie mit Budgetrecht und Ministerverantwortung auf einer Stufe. A la longue betrachtet, hat diese Politik - ich wies gestern schon darauf hin- ja durchaus ihre Früchte getragen. Gewerbefreiheit, Pressefreiheit, Gleichstellung der Juden usw., das waren ja Dinge, die in den 1860er Jahren auf breiter Front verwirklicht wurden. Ich wollte abschließend noch ein Wort zur Gleichheit sagen. Ich gehe mit Herrn Scheuner darin einig, daß in der Tat von einer Gleichheit im Sinne der Gleichheit der materiellen Substanz der Gesetzgebung nicht gesprochen werden kann. Dies allein schon deshalb nicht, weil die Verfassungen ja nicht zuletzt die Funktion schonender Abfindung vormals selbständiger Herrschaften hatten. Gleichheit war im wesentlichen also Anwendungsgleichheit, und das liberale Denken der Zeit hat die Dinge nicht anders gesehen. Darüber hinaus sollte man aber natürlich nicht vergessen, daß es in jener Zeit in Deutschland auch ein Underground-Denken gab. Ich nenne die Gehrüder Fallen, F . W. Schulz, die Initiatoren des Harnbacher
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Festes und schließlich die Pariser Emigranten. Grundrechte waren für diese Autoren von zentraler Bedeutung, wenn auch in neuer Gewichtung: Im Vordergrund standen erstmals soziale Anspruchsrechte (Recht auf Arbeit, Recht auf Urlaub, Recht auf Teilhabe an den materiellen und geistigen Gütern der Gesellschaft).
Dilcher: Ich wollte auf einen Punkt eingehen, der inzwischen schon angesprochen worden ist von Herrn Brauneder und von Herrn Wadle, nämlich die Frage der Rolle des Privatrechts. Herr Scheuner hat ja insbesondere in der, wenn ich recht gezählt habe, 5. und 9. These darauf hingewiesen, daß dies einen sehr wichtigen Aspekt der Verwirklichung des Grundrechtsprogramms darstellte; es läßt sich hier auch anknüpfen an das erste Referat, in dem Herr Kleinheyer sehr deutlich gezeigt hat, wie Allgemeinheit, Gleichheit und ständische Ordnung im ALR noch vereint waren. - Mir scheint, daß schon im ALR - und zwar darin, daß das ALR eine erste große Verwirklichung des Kodifikationsgedankens ist- das Prinzip der privatrechtliehen Gleichheit doch gegenüber dem vorherigen Privatrecht auf eine ganz neue Grundlage gestellt wird. Wohl hat auch das römische Recht in der damaligen Form des usus modernus gleichheitliehe Gesichtspunkte, indem das römische Recht ja in klassischer Weise am Individuum anknüpft; der usus modernus war doch durch lange Zeit mit den Rechtsregeln einer ständischen Gesellschaft durchtränkt worden. Mir scheint, daß sich das Problem der Gleichheit und der ständischen Ungleichheit durch die Privatrechtsgeschichte in den Kodifikationen wie in der Wissenschaft sehr deutlich durchs ganze 19. Jh. hindurchzieht. Im Code civil kam ein gleichheitliches Privatrecht auf deutschen Boden; sehr typisch bricht es sich im badischen Landrecht, wo sich das gleichheitliehe Programm des Code civil, verbunden mit ständischen Vorbehalten findet. Man hat das Badische Landrecht damals sehr anschaulich bezeichnet als klassischen Tempel mit gotischem Anbau; das Gotische war hier nicht nur bildlich gemeint, sondern bezeichnete treffend die Reste mittelalterlichen Feudalrechts, die dem Code civil angefügt wurden. - Worauf ich insbesondere aber hinweisen möchte, das ist die Pandektenwissenschaft, die die neue Rolle, die das Privatrecht zu spielen hat, übernimmt und damit einen wichtigen Teil des Programmes des Liberalismus durchführt. Fundierend auf dem Entwurf Savignys wird hier inmitten der historischen Schule und ihres insofern sicher zu Unrecht als "romantisch" bezeichneten Programms ein Stück des Naturrechts vollzogen, indem das römische Recht in seiner Form des usus modernus systematisiert, in der knappen Form eines Lehrbuchs zusammengefallt wird und dabei ganz konsequent die Bestandteile ständischer Ungleichheit ausgeschieden werden: das Programm der Reinigung des römischen Rechts. Am bekanntesten ist wohl die Herausarbeitung des einheitlichen Eigentums-
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begriffs gegenüber dem von der mittelalterlichen Rechtslehre entwickelten gespaltenen Eigentum. Hier hat also die Rechtswissenschaft ein gemäßigtes Gleichheitsprogramm im Privatrecht durchgeführt; gemäßigt deshalb, weil in dem gleichheitliehen Privatrecht, das hier von der Pandektenwissenschaft entwickelt wird, die ständischen Vorbehalte als Bestandteile außerhalb des Privatrechts sehr viel besser Platz haben können als in einem Kodifikationsprogramm. Im ALR war beides noch zusammengefügt innerhalb eines Gesetzes. Herr Brauneder hat in bezug auf dieses Problem zur Österreichischen Kodifikation Stellung genommen. Es ist, glaube ich, kein Zufall, daß die nächsten privatrechtliehen Kodifikationsbestrebungen dann erst nach der 48er Revolution einsetzten, als wenigstens große Teile der ständischen Angleichung vollzogen waren. Die letzten Reste der ständischen Vorbehalte finden sich aber noch im Einführungsgesetzbuch zum BGB ganz deutlich. - Vor allem auf dieses Programm der Reinigung des römischen Rechtes, das ein Stück Durchführung des liberalen Gleichheitsprogrammes war, wollte ich hinweisen.
Scheuner: Ich bin besonders Herrn Brauneder dankbar für seine Ergänzungen zu Österreich. Er bestätigt meine Annahme, daß die Österreichische Rechtsprechung tatsächlich zu den wichtigsten Anwendungen von Grundrechten im 19. Jh. gehört. Für die Ergänzungen der Herren Wadle und Dilcher bin ich ebenfalls dankbar. Ich würde sogar darüber hinausgehen. Herr Wadle hat deutlich gemacht, Herr Dilcher hat sich hier bescheidener ausgedrückt, daß das Privatrecht im 19. Jh. ein solches Selbstbewußtsein gewann, daß es in sich vermeinte, die fortschrittlichen Ideen zum Ausdruck zu bringen, ohne sich auf die Verfassung berufen zu müssen. Insofern ist die Pandektenwissenschaft sicherlich in gewissem Umfang eine Verwirklichung der grundrechtliehen Ziele gewesen, als sie eine einheitliche Ordnung für alle Stände schuf, auch den Begriff des Eigentums einheitlich ausbildete, was vielleicht in der Gegenwart wieder zerbröckelt. Im Bewußtsein der Zeit lag wohl auch in der Tat in dieser Herstellung einer allgemeinen Gleichheit des zivilen Rechts ein wesentliches Element der Gleichheit. Das öffentliche Recht behielt mehr von den älteren Unterschieden, so daß es den erwähnten gotischen Anblick bieten konnte. Insofern stellte das Privatrecht eine zentrale Zone der Verwirklichung grundrechtlicher Gleichheit und Rechtsgewähr dar. Heute ist das anders geworden, weil die klassischen Grundrechte im Privatrecht längst ihren Ausdruck gefunden haben und von dort her daher keine Impulse mehr kommen. Es ist heute das Sozialrecht, das Arbeitsrecht, aus denen sich neue Anstöße zu grundrechtlicher Entwicklung ergeben, die sich dann auch im Grundrechtsbereich auswirken.
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Friauf: Ich möchte eine kurze Bemerkung an die letzte These anschließen. Sie haben darauf hingewiesen, Herr Scheuner, daß der fehlende Rechtsschutz gegen staatliche Maßnahmen zugunsten der Grundrechte teilweise dadurch kompensiert worden ist, daß die landständischen Vertretungen dem Bürger Rechtsschutz für die Durchsetzung seiner Grundrechte gewährt haben. Dem heutigen Betrachter könnte diese Feststellung zunächst etwas verwunderlich erscheinen, aber sie trifft nach meiner Sicht genau den Kern der landständischen Funktion dieser Zeit. Die Landstände standen - Herr Kleinheyer hat darauf hingewiesen- auf der Seite des Bürgers gegen den Staat, d. h. die landständische Vertretung stand damit zwangsläufig auf der Seite der Grundrechte. Dieses Bild hat eine weitere Facette, auf die es mir im Augenblick ankommt, sie liefert gleichzeitig die Erklärung für die Frage, über die wir vorher diskutiert haben, nämlich die eingeschränkte Funktion der Grundrechte gegenüber der Gesetzgebung, die als Programmsätze dem Bürger kein subjektives Abwehrrecht gegen den Gesetzgeber gewähren konnten. Die landständische Vertretung war nicht Gesetzgeber, aber da ihre Mitwirkung schon in der konstitutionellen Zeit indispensabel war zum Akt der Gesetzgebung, bedeutete eine gesetzgeberische Entscheidung, daß die Landstände einer entsprechenden Freiheitsbeschränkung zugestimmt hatten. Das bedeutete aber, die gewählte Vertretung des Landes hatte sich mit der betreffenden Freiheitsbeschränkung abgefunden, sie damit sanktioniert und ihr ein Unbedenklichkeitszeugnis ausgestellt. Hätte der Bürger nun gegenüber dem so zustandegekommenen Gesetz "Grundrechtsschutz" beanspruchen wollen, dann wäre dieses Begehren verfassungspsychologisch mit einem Mißtrauensvotum gegen die landständische Vertretung verbunden gewesen. Denn verfassungsrechtliche Sanktionen und Sicherungsinstrumente kommen wohl immer nur dort zustande, wo zunächst von einer Mißtrauensposition ausgegangen wird. Da das aber nicht der Fall war, konnte der Bürger, wenn überhaupt das System in sich stimmig sein sollte, keinen Grundrechtsschutz gegenüber dem Gesetzgeber beanspruchen. Das Problem ist nur, daß man möglicherweise nicht rechtzeitig gesehen hat, daß diese ursprüngliche Prämisse von einem gewissen Zeitpunkt an nicht mehr stimmte. In dem Augenblick, in dem die Landstände nicht mehr eine "objektiv neutrale Schutzfunktion" zugunsten der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber dem Staat wahrnahmen, sondern wo sie selbst auf die Seite des politischen Aktivismus übergingen, selbst "gestalten" wollten, konnte natürlich die Grundrechtsposition des einzelnen nunmehr auch vom Parlament bedroht werden. Das hat man vermutlich zu lange nicht gesehen. Wie mir scheint, ist selbst 1919 in der Weimarer Nationalversammlung das Problem noch nicht richtig erkannt worden, als man über die ausdrückliche Einführung eines Grundrechtsschutzes gegenüber dem Gesetzgeber diskutierte.
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Ausgerechnet die konservative Seite lehnte- wohl aus einem sehr viel älteren Verfassungsverständnis heraus - diesen Grundrechtsschutz gegenüber der Gesetzgebung ab, im Grunde ihren eigenen Interessen zuwider, wie die spätere Entwicklung zeigen sollte. Das Reichsgericht hat in seiner berühmten Enteignungsrechtsprechung zuerst die neue Situation erkannt und auch teilweise durchgesetzt, bis die Entwicklung in Art. 1 III GG ihren Abschluß fand. Die Ablehnung des Grundrechtsschutzes gegenüber der Gesetzgebung war ursprünglich systemgerecht, aber sie ist zu lange aufrechterhalten worden, bis in eine Zeit hinein, in der ihre ursprünglichen Prämissen nicht mehr tragfähig gewesen sind. Gangl: Zu Beginn meines Diskussionsbeitrages möchte ich von dem bekannten Wort ausgehen, wonach der Gegensatz zwischen Rousseau und Montesquieu von jeder Generation neu ausgetragen werden muß. Daß diese beiden politischen Denker wenige Jahrzehnte vor der Französischen Revolution gegensätzliche Positionen eingenommen haben, bedarf also hier keiner weiteren Betonung. Was aber hervorgehoben zu werden verdient, ist die Tatsache, daß ihre Ideen eine Zeitlang gemeinsam das Verfassungsgebäude der Französischen Revolution getragen haben. Das war in der ersten, der monarchischen, Periode der Fall gewesen, zu deren Verfassung vom 3. September 1791 sowohl Montesquieu als auch Rousseau eine theoretische Fundierung gegeben haben. So fand Montesquieus Präferenz für das Repräsentativsystem seinen Ausdruck in der Verfassungsbestimmung, wonach die französische Verfassung eine Repräsentativverfassung ist. Das Gewaltenteilungskonzept des Aufklärers und frühen Liberalen mußte sich freilich eine "interpretation separatiste" (Charles Eisenmann) gefallen lassen, was die Verfassunggeber künftiger Zeiten sehr häufig in die Enge eines kanonartig erstarrten Denkschemas führen sollte. So recht aus dem Geist Montesquieus geboren war die berühmte Deklaration der Menschenund Bürgerrechte von 1789, insbesondere deren Art. 2, worin der Primat des Individuums und die dadurch bedingte Funktionalisierung des Staates zur Schutzinstitution für die natürlichen Menschenrechte ihre verfassungsrechtliche Anerkennung fanden.
Neben dieser liberalen darf aber nicht die demokratische Komponente der ersten Revolutionsverfassung Frankreichs übersehen werden, worin der Einfluß sichtbar wird, den Rousseau auf die Mitglieder der Nationalversammlung ausgeübt hat. Dieser Einfluß zeigt sich nicht nur in der Definition des Gesetzes als Ausdruck des Allgemeinwillens, sondern auch in dem verfassungsrechtlich verkündeten Grundsatz der Nationalsouveränität. Es ist daher zutreffend, wenn französische Autoren die von der Verfassung von 1791 begründete Staatsform Frankreichs
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nicht als konstitutionelle Monarchie bezeichnen, sondern als "democratie royale", als "königliche Demokratie". Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, daß die konstitutionelle Monarchie, mag es sich nun um den französischen oder den deutschen Konstitutionalismus des 19. Jhs. handeln, vom Grundsatz der Fürstensouveränität, nicht aber von dem der Volkssouveränität getragen wurde. Wenn sich auch für den Verfassunggeber von 1791 die Gedanken von Demokratie und Liberalismus als durchaus amalgamierungsfähig dargestellt hatten, so konnte dies auf die Dauer doch nicht die Einsicht verhindern, daß es sich dabei im Grunde um einander antinomisch gegenüberstehende Prinzipien handle. Es war vor allem der durch den weiteren Verlauf der Französischen Revolution und später durch das Entstehen einer egalitären Massendemokratie in den Vereinigten Staaten "alarmierte" Liberalismus, der nunmehr in der Theorie das zu trennen bemüht war, was die Praxis nur allzu häufig unreflektiert nebeneinandergestellt hatte. Der berühmte Vortrag eines Benjamin Constant von 1819 im Athenee royal mit der Gegenüberstellungzweier Freiheitsbegriffe, der demokratisch verstandenen Freiheit der Antike und der liberal verstandenen Freiheit der Moderne, ist hier ebenso zu erwähnen wie Alexis de Tocquevilles Hauptwerk "De la democratie en Amerique", in welchem die Sorge des Liberalen über die tödliche Bedrohung der Freiheit in einem Zeitalter der Gleichheit ihren literarischen Ausdruck gefunden hat. Was nun die soziale Idee, die freilich erst im späteren Verlauf der Französischen Revolution in Erscheinung getreten ist, betrifft, so hat Herr Scheuner auf die nicht immer beachtete Tatsache verwiesen, daß schon in die Jakobinerverfassung vom 24. Juni 1793 gewisse soziale Grundrechte, vor allem das Recht auf Arbeit, Eingang gefunden haben. Das bedeutet ein Abrücken von dem dogmatisch verhärteten Individualismus von 1789, der übrigens auch die Anerkennung der Vereinsfreiheit verhindert hatte, und damit gleichzeitig ein stärkeres Hervortreten des bis dahin im Hintergrund gestandenen dritten Gliedes der "Revolutionstrias": des Begriffes der "Fraternite". Zwar ist dieses Wagnis von sozialen Grundrechten im Frankreich des 19. Jhs. nur vorübergehend, und zwar in der vom "esprit quarante-huitard" geprägten Verfassung von 1848 wieder aufgenommen worden, aber die mit dem Hoch- und vor allem dem Spätkapitalismus einhergehende "corporatisation du milieu politique" machte es unmöglich, an dem klassischen Modell des "zweidimensionalen" Staates (Staat - Staatsbürger) festzuhalten. Die "Entindividualisierung" der Demokratie (Deslandres) war zum Faktum geworden, das dann das Recht durch die Gewährung der Koalitionsfreiheit (Frankreich 1884) und der Vereinigungsfreiheit (Frankreich 1901) sanktionieren sollte.
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Im Zusammenhang mit Herrn Scheuners - im übrigen durchaus zu billigender - Aufforderung, die geistesgeschichtlichen Wurzeln der Grundrechte nicht über Aufklärung und Liberalismus zurückzuverfolgen, möchte ich am Schluß meines Diskussionsbeitrages auf einen interessanten "renversement des positions" in einer bestimmten Phase der französischen Politik vor 1848 aufmerksam machen, als die Konservativen aus praktisch-politischen Erwägungen heraus eine Erweiterung des Wahlrechts befürworteten (von einer im Besitz des Wahlrechts befindlichen Landbevölkerung erwarteten sie eine Verstärkung ihrer politischen Stellung), während die einem elitären Denken zuneigenden Liberalen das abgestufte Wahlrecht in seinem Wesengehalt nicht antasten wollten.
Grawert: Der Vorrang der Verfassung vor dem Gesetz, wie er heute verstanden wird, hat im alten Reichsrecht noch kein Vorbild. Aufgrund ihres gleichen Ursprungs galten die Reichstagsgesetze in formal gleicher Weise; doch besaßen einige eine inhaltlich bessere Qualität: die Reichsgrundgesetze. Eine ähnliche Gewichtung läßt sich für das Verhältnis von Verfassungen und Gesetzen im Frühliberalismus annehmen. Die Verfassungen brauchten eine stärkere Verbindlichkeit insoweit auch nicht - Herr Friauf hat darauf bereits hingewiesen - , als die einfache Gesetzgebung nicht ohne Mitwirkung der betroffenen Staatsbürger erfolgen durfte! Diese Mitwirkung mußte freilich allseits verbindlich gesichert sein. Das wird anders, als der Gesetzgeber von Parteien beherrscht wird: 1918. Ihm werden auch inhaltliche Bindungen auferlegt. Andererseits verblieben auch die frühkonstitutionellen Verfassungen nicht gänzlich im Programmatischen. In der Altenburger Verfassung etwa findet sich der Satz vom Verbot gesetzlicher Rückwirkung. Man wird noch weitere Normen finden, die sich desgleichen unmittelbar verbindlich an die Gesetzgebung - und zwar auch an die konstitutionell gemeinsam ausgeübte- richten. Eine zweite Anmerkung zum Gesetz: wenn man der These folgt, die Sie entwickelt haben- auf die auch Herr Wahl abgehoben hat-, daß Grundrechte Programme sind, dann sind die Folgerungen für den Gesetzesbegriff zu bedenken. Mit einem Stichwort angedeutet: es findet dann die Funktionalisierung der Gesetzgebung statt- Programmausfüllung. Was den Bedeutungsgehalt der "Grundrechte" selbst anbetrifft, so stimme ich Ihnen, Herr Scheuner, darin durchaus zu, daß diese Rechte weithin Programmcharakter, Legitimationsfunktion u. ä. besitzen. Es gibt aber eine ganze Reihe von Regelungen in den jeweiligen Rechtekatalogen- die ja nicht mit "Grundrechte" sondern mit "Rechtsverhältnis der Staatsbürger" überschrieben sind - , die heute sogenannte institutionelle Garantien normieren: Familie, gemeindliche
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Selbstverwaltung, Unabhängigkeit der Gerichte; ihnen wird die Kennzeichnung "Programm" nicht ganz gerecht. Sie stehen im übrigen neben Garantien etwa der Gewissensfreiheit, Auswanderungsfreiheit und diese Garantien bezeichnen kaum ein Programm, sondern - insoweit stimme ich Herrn Kleinheyer zu - sicherlich Rechte, die wirksam nur als subjektive Rechte sein können. Fazit: Das gesamte "Grundrechtssystem", besser: das was im Rechteteil der Verfassungen steht, ist seinem Gehalt wie seiner Wirkung nach differenziert zu beurteilen: politisch legitimierende Programmsätze stehen neben institutionellen Vorkehrungen und Individualisierungen in subjektiven Rechten. Mußgnug: Nur eine kurze Bemerkung zu dem Widerspruch, der darin liegt, daß auf der einen Seite sowohl die Verfassungen des 19. Jhs. als auch die öffentliche Meinung jener Zeit das Gleichheitsprinzip so nachdrücklich betont haben, daß aber auf der anderen Seite die Ungleichheit des Wahlrechts die Realität prägte. M. E. war das gar nicht so widersprüchlich, wie es uns heute vorkommt. Die Verfassungen des frühen 19. Jhs. knüpften nämlich an das altlandständische Prinzip an, das in der Steuerbewilligung das entscheidende Recht der Ständeversammlungen sah. Die Steuerbewilligung stand daher auch im verfassungspolitischen Denken des Frühkonstitutionalismus beherrschend im Vordergrund. Daß in der neuen Verfassungsordnung das Gesetzgebungsrecht der Parlamente gleichrangig neben ihr Steuerbewilligungsrecht getreten war, hat man lange Zeit mehr geahnt als richtig durchschaut. Daher wirkt es nicht unverständlich, daß man sich auf den Standpunkt stellte: Im Parlament soll nur durch Abgeordnete seiner Wahl repräsentiert werden, wer Steuern zahlt. Wer dagegen ohnehin nicht steuerpflichtig ist, braucht keinen Repräsentanten und darf daher auch nicht mitwählen. Denn welche Interessen hat bei der Steuerbewilligung zu vertreten, wer keine Steuern zahlt? Für das ungleiche Wahlrecht der ersten Jahrzehnte des 19. Jhs. könnte das eine Erklärung liefern. Wie es 1848 noch in einem Atemzug einerseits zu den stolzen Sätzen in Art. 4 der Preußischen Verfassungsurkunde "Alle Preußen sind vor dem Gesetz gleich, Standesvorrechte finden nicht statt. Die öffentlichen Ämter sind für alle dazu Befähigten gleich zugänglich" und andererseits zum preußischen Dreiklassenwahlrecht kommen konnte, bleibt freilich eine andere Frage. Friauf: Es geht in der Tat, das bestätigt die Intervention von Herrn Mußgnug, im Frühkonstitutionalismus um die Abwehrfunktion der Stände, nicht um die Herrschaftsfunktion. Und von der Abwehrfunktion aus ist es dann sachgerecht, daß derjenige, der doppelt und dreifach an der Aufforderung beteiligt ist, auch entsprechend an Stimmgewicht erhält.
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Kleinheyer: Es gibt bereits aus dem Ende des 18. Jhs. einen interessanten Hinweis darauf, daß man gesehen hat, wie sich bei einer Herrschaft des Parlaments die Grundrechte in einen Minderheitenschutz verwandeln können. Ich darf dafür verweisen auf die "Acht Gespräche über Freiheit und Eigentum" von Ernst Ferdinand Klein, wo dies erwähnt ist. Und zweitens verweise ich auf das von mir hochgeschätzte Preußische Allgemeine Landrecht. Die Rückwirkung von Gesetzen ist dort nicht ausgeschlossen, aber man kann das technisch auch anders machen. Man kann nämlich dem Richter verbieten, Gesetze rückwirkend anzuwenden. Und so findet man es dort. Man kann Grundrechtsschutz auch über die Anwendung der Gesetze dem Richter anvertrauen. Ableitinger: Ich habe um Zurückreihung in der Rednerliste gebeten, weil ich nun zum Schluß nach einigem Zweifeln doch auf etwas zu sprechen kommen will, was nicht unbedingt zu den Grundrechten gehört, was eigentlich schon zur gestern geführten Diskussion gehört hätte, namentlich zum Thema Gleichheit und was darunter zu verstehen sei. Es sind dazu ja gestern gerade auch wegen ihrer Knappheit bemerkenswerte Äußerungen getan worden, z. B. wenn Herr Willoweit fragte, was denn diese Gleichheit sei, von der wir hier reden, und wenn Herr Stürmer sagte, daß man sich unter der Gleichheit wohl recht Verschiedenes im 18., im 19. Jh. und wieder heute vorstellen müsse. Ich vermute, daß unsere Diskussionen doch etwas belastet und befrachtet sind dadurch, daß wir den Begriffsapparat, der sich aus der Französischen Revolution ergibt, sehr stark anwenden und daß wir darin bekräftigt sind dadurch, daß sich diese Begrifflichkeit schließlich durchsetzte und insbesondere auch als eine juristische Begrifflichkeit nach 1848 verfestigte. Dadurch aber, meine ich, werden geschichtlich andere Verhältnisse leicht verdeckt, so daß hier manchmal tingewißheit spürbar wurde, ob "Gleichheit" eine für die Zeit angemessene Vokabel sei; wir hatten mehrfach hinzunehmen, daß in dieser Hinsicht manches sich so aber zugleich auch ganz anders darstellte. Dazu möchte ich nun die folgende Überlegung anstellen: Sollte man nicht versuchen, gerade die deutschen Verhältnisse vom späteren 18. Jh. bis 1848 hin bei aller Anerkennung dessen, daß es allerdings in ihnen starke Trends zur Revolution hin gab, Trends, die im modernen Sinn liberale, linke Trends waren, sollte man nicht versuchen, diese Verhältnisse in viel konservativeren Begriffen und in einem konservativeren Bezugsrahmen zu interpretieren, sollte man sich nicht eher davon lösen, den deutschen Vormärz so sehr als Inkubationszeit von 1848 anzusehen? Lösen sich nicht einige unserer Schwierigkeiten auf, wenn wir für diese Zeit weiter die Wirkung von Vorstellungen von älterer Polizey, von Fürstenethik, z. T. wohl auch von alter "bürgerlicher Gesellschaft" im Sinn von societas civilis annehmen? In der Zusammensetzung der Landstände etwa 9 Der Staat, Beiheft 4
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herrscht offenbar Ungleichheit, aber die erscheint dann nicht als ein wesentliches Problem für die Zeitgenossen, wenn wir annehmen, diese fänden nach alter Weise nichts dabei, viele von politischer Beteiligung auszuschließen, wenn nur alle wichtigeren Kräfte irgendwie Vertretung bekamen und die Vertreter auch die Pflicht hatten, bei ihren Unternehmungen, Gemeinwohl zu realisieren, die politisch nicht aktiv Berechtigten in ihr Kalkül einzubeziehen. Daß der Ausschluß von politischer Beteiligung der Zeit kein rechtes Problem war, scheint mir auch durch das heute von Herrn Schneider mitgeteilte Kant-Zitat belegt, wonach der Mensch als Staatsbürger frei und selbständig zu sein habe, d. h. die Figur eigentlich bleibt, die er in der alten Polis und Stadt gewesen war. Das verträgt sich bei Kant durchaus mit Gleichheitsideen und es hängt wohl allgemeiner damit zusammen, daß Naturrechtsideen weniger, als wir gemeinhin mit ihnen assoziieren, auf die Vorstellung von der Gleichheit der Menschen fixiert waren, daß sie sehr lange den Unterschied zwischen Herren hier und Untertanen da, den Unterschied zwischen "Mensch" und "Person" sehr gut ertrugen, ja durchaus als Teil von "Natur" erfaßten. Auch durch andere Stellen unserer Diskussion finde ich mich ermutigt, ältere Begrifflichkeit auf den deutschen Vormärz anzuwenden. Ich denke besonders an das wiederholt berührte Entschädigungsthema. Es ist hervorgehoben worden, daß und wie Rechtsänderung stets mit Entschädigung der Betroffenen einhergeht. Deren altes Recht galt also immerhin etwas, war auch gutes Recht. Es ist dann gesagt worden, daß etwa die mit Sitzen in den neu gebildeten Kammern entschädigten Mediatisierten und die auf den Großgrundbesitzerbänken der Landtage Platz nehmenden Leute gerade die Reformtätigkeit gehemmt haben, in deren Zug sie- wieder- politische Mitwirkungsmöglichkeit erhielten. Kann man dieses Paradox nicht dadurch auflösen, daß man sagt, es war eben herkömmlich, daß die von einer Rechtsänderung Betroffenen an ihr irgendwie mitwirkten, und darum mußten sie in den neu zu gestaltenden Repräsentationsorganen installiert werden. Damit komme ich noch einmal auf die Thematik Gleichheit bzw. Ungleichheit und Repräsentation. Ich möchte meinen, daß wir es zugleich mit Anerkennung älterer Repräsentationsrechte wie mit Anerkennung neuer Repräsentationsbedürfnisse zu tun haben und daß die dabei entstehenden Probleme mehr nach englischer Manier - als die alteuropäischen Gepflogenheiten bewahrende Manier - angepackt wurden als nach französischen Maximen, revolutionären auch in ihrem vollsouveränen Umgang mit hergebrachtem Recht schlechthin. Ähnlich, das hat Peter Blickle ja verdeutlicht, wünschten es weithin die Bauern am Anfang des 16. Jhs.: Einbeziehung in das vorhandene politische System, in die politische Gesellschaft durch Einrichtung eines jeweils besonde-
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ren Standes der Bauern in den "Landschaften". Gegenüber solchen Gedanken trat damals wie noch im frühen 19. Jh., so möchte ich meinen, mathematische Gleichheit dann gar nicht als Problem auf. Mit anderen Worten: ich frage mich auch -und das ist einigermaßen keck, da ich unmittelbar neben Herrn Quaritsch sitze- wie souverän der im späten 18. und frühen 19. Jh. handelnde Staat war, bzw. wie sehr seine Akteure und Träger auch nach den Revolutionsereignissen noch immer im Vollzug sehr alter Normvorstellungen und im Rahmen sehr alter Orientierungsmuster verblieben waren. In diesem Kontext würde ich auch Herrn Gall, wenn er zu uns gekommen wäre, gerne gefragt haben, ob er sein Bild vom Liberalismus, das Liberalismus jedenfalls vorindustriell zeigt, mit einem breiten Mittelstand als sozialem Ziel und gerade auch ökonomischer Harmonie in ihm, nicht auch an ein zähes Weiterleben älterer Ordnungsvorstellung anzuschließen für möglich hielte.
Scheuner: Ich will bei der allgemeinen Erschöpfung nur noch eine Bemerkung machen: Bei den Herren Mußgnug und Friauf bin ich zwar der Ansicht, daß ihre rationale Begründung nicht falsch ist, aber das Entscheidende bei der politischen Vertretung des Besitzes ist ein anderer Gedanke, nämlich der, daß der Besitzende stärker am Wohl des Ganzen interessiert ist. Das ist ein alter, schon in den Gesprächen von Putney 1697 geäußerter Gedanke, der auch in der Literatur des 19. Jhs. wieder häufig anzutreffen ist.
Verzeichnis der Redner Ableitinger 129 ff.
Grube 36
Baumgart 33, 37, 78 ff., 81, 82, 89 f., 97, 99 f. Behr 96 f. Birke 82 f., 114 f. Borck 84 f., 88 Botzenhart 55 ff., 78, 86 ff., 90, 95 f., 102 f. Brandt 43 ff., 121 f. Brauneder 118 ff.
Janssen 83
Diestelkamp 50 f., 52 Dietrich 33 ff., 35, 76, 77, 85 f., 94 f ., 101, 116 Dilcher 39 f., 101 f., 122 f. Friauf 124 f., 128 Frotscher 38 f., 48 f. G angl 125 ff. Grawert 32, 127 f .
Kleinheyer 7 ff., 33, 35, 36, 37 f., 40 f., 43, 45 f., 48, 49, 50, 51, 52, 53, 54, 99, 112 ff., 129 Iv'Iußgnug 97 ff., 101, 128 Naujoks 53, 54, 80, 92 f. Scheuner 90 ff., 94, 105 ff., 116 ff., 123, 131 Schneider 111 f. Schott 38 Stürmer 49 f., 51 f., 80 f., 89, 90 Wadle 120 f. Wahl 46 ff., 83 f., 115 f. Weis 41 f., 77 f., 82, 85, 100 Willoweit 37, 93 f.
Vereinigung für Verfassungsgeschichte Satzung § I
Die Vereinigung für Verfassungsgeschichte stellt sich die Aufgabe: 1. wissenschaftliche Fragen aus der Verfassungsgeschichte, einschl. der Verwaltungsgeschichte, durch Referate und Aussprache in Versammlungen ihrer Mitglieder zu klären; 2. Forschungen in diesem Bereich zu fördern; 3. auf die ausreichende Berücksichtigung der Verfassungsgeschichte im Hochschulunterricht sowie bei staatlichen und akademischen Prüfungen hinzuwirken. § 2
Gründungsmitglieder der Vereinigung sind diejenigen Personen, die zur Gründungsversammlung am 4. 10. 1977 in Hofgeismar eingeladen worden sind und schriftlich ihren Beitritt erklärt haben. § 3
1. Mitglied der Vereinigung kann werden: wer a) auf dem Gebiet der Verfassungsgeschichte, einschl. der Verwaltungsgeschichte, seine Befähigung zu selbständiger Forschung durch entsprechende wissenschaftliche Veröffentlichungen nachgewiesen hat und b) an einer Universität bzw. gleichgestellten wissenschaftlichen Hochschule oder Hochschuleinrichtung als selbständiger Forscher und Lehrer, an einem wissenschaftlichen Forschungsinstitut als selbständiger Forscher oder im Archivdienst tätig ist.
2. Das Aufnahmeverfahren wird durch schriftlichen Vorschlag von drei Mitgliedern der Vereinigung eingeleitet. Ist der Vorstand einstimmig der Auffassung, daß die Voraussetzungen für den Erwerb der Mitgliedschaft erfüllt sind, so verständigt er in einem Rundschreiben die Mitglieder von seiner Absicht, dem Vorgeschlagenen die Mitgliedschaft anzutragen. Erheben mindestens fünf Mitglieder binnen Monatsfrist gegen die Absicht des Vorstandes Einspruch oder beantragen sie mündliche Erörterung, so beschließt die Mitgliederversammlung über die Aufnahme. Die Mitgliederversammlung beschließt ferner, wenn sich im Vorstand Zweifel erheben, ob die Voraussetzungen der Mitgliedschaft erfüllt sind. 3. In besonders begründeten Ausnahmefällen kann Mitglied der Vereinigung auch werden, wer die Voraussetzungen nach Abs. 1 lit. b nicht erfüllt. In diesem Falle wird das Aufnahmeverfahren durch näher begründeten
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Satzung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte schriftlichen Vorschlag von fünf Mitgliedern der Vereinigung eingeleitet. Über die Aufnahme entscheidet nach Stellungnahme des Vorstandes die Mitgliederversammlung mit 2/3-Mehrheit der anwesenden Mitglieder. § 4
Die ordentliche Mitgliederversammlung soll regelmäßig alle zwei Jahre an einem vom Vorstand bestimmten Ort zusammentreten. In dringenden Fällen können außerordentliche Versammlungen einberufen werden. Auf Verlangen von 1/s der Mitglieder ist der Vorstand verpflichtet, eine außerordentliche Mitgliederversammlung unverzüglich einzuberufen. Auf jeder ordentlichen Mitgliederversammlung muß mindestens ein wissenschaftlicher Vortrag mit anschließender Aussprache gehalten werden. § 5
Der Vorstand der Vereinigung besteht aus einem Vorsitzenden und zwei Stellvertretern. Die Vorstandsmitglieder teilen die Geschäfte untereinander nach eigenem Ermessen. Der Vorstand wird am Schluß jeder ordentlichen Mitgliederversammlung neu gewählt; einmalige Wiederwahl ist zulässig. Der alte Vorstand bleibt bis zur Wahl eines neuen Vorstandes im Amt. Zur Vorbereitung der Mitgliederversammlung kann sich der Vorstand durch Zuwahl anderer Mitglieder verstärken. Auch ist Selbstergänzung zulässig, wenn ein Mitglied des Vorstandes in der Zeit zwischen zwei Mitgliederversammlungen ausscheidet. § 6
Der Beirat der Vereinigung besteht aus fünf Mitgliedern; die Mitgliederzahl kann erhöht werden. Der Beirat berät den Vorstand bei der Festlegung der Tagungsthemen und der Auswahl der Referenten. Die Mitglieder des Beirats werden von der Mitgliederversammlung auf vier Jahre gewählt. § 7
Zur Vorbereitung ihrer Beratungen kann die Mitgliederversammlung, in eiligen Fällen auch der Vorstand, besondere Ausschüsse bestellen. § 8
Zu Eingaben in den Fällen des § 1 Ziff. 2 und 3 und über öffentliche Kundgebungen kann nach Vorbereitung durch den Vorstand oder einen Ausschuß auch im Wege schriftlicher Abstimmung der Mitglieder beschlossen werden. Ein solcher Beschluß bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder; die Namen der Zustimmenden müssen unter das Schriftstück gesetzt werden. § 9
Der Mitgliedsbeitrag wird von der Mitgliederversammlung festgesetzt. Der Vorstand kann den Beitrag aus Billigkeitsgründen erlassen.
Verzeichnis der Mitglieder (Stand: 10. Oktober 1979)
Vorstand I. Quaritsch, Dr. Helmut, Professor, Otterstadter Weg 139, 6720 Speyer
(Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer) 2. Baumgart, Dr. Peter, Professor, Am Pfad 15, 8706 Höchberg (Universität Würzburg)
3. Engelbert, Dr. Günther, Gartenstraße 20, 4930 Detmold (Staatsarchiv Detmold)
Beirat I. Ableitinger, Dr. Alfred, Professor, Heinrichstraße 26, A-8010 Graz
2. 3. 4. 5.
Birke, Dr. Adolf M., Professor, Pariser Straße 20, 1000 Berlin 15 Dietrich, Dr. Richard, Professor, Sachsenstraße 17, 3500 Kassel41 Grube, Dr. Walter, Professor, Hangleiterstraße 2, 7000 Stuttgart 1 Kleinheyer, Dr. Gerd, Professor, Steinergasse 58, 5305 Alfter (Universität Bann) 6. Scheuner, Dr. Ulrich, Professor, Römerstraße 118, 5300 Bann
Mitglieder I. Ableitinger, Dr. Alfred, Professor, Heinrichstraße 26, A-8010 Graz 2. Badura, Dr. Peter, Professor, Habsburgerstraße 2, 8000 München 40 3. Barmeyer, Dr. Heide, Privatdozent, Mars-la-Tour-Straße 4, 3000 Hannover, Tel.: 05 11/85 18 87 4. Baumgart, Dr. Peter, Professor, Am Pfad 15, 8706 Höchberg (Universität Würzburg) 5. Becker, Dr. Hans-Jürgen, Professor, Leichtensternstraße 11, 5000 Köln 41 6. Behr, Dr. Hans-Joachim, Dorotheenstraße 19, 4400 Münster (Staatsarchiv Münster), Tel.: 02 51/6 45 06 7. Birke, Dr. Adolf M., Professor, Pariser Straße 20, 1000 Berlin 15 8. Böckenförde, Dr. Ernst-Wolfgang, Professor, Türkheimstraße 1, 7801 Au bei Freiburg, Tel.: 07 61/40 56 23 (Universität Freiburg) 9. Boldt, Dr. Hans, Professor, Jahnstraße 31, 6945 Hirschberg, Tel.: 06 21/ 5 15 88 (Universität Mannheim)
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Verzeichnis der Mitglieder
10. Borck, Dr. Heinz-Günther, Am Steine 7, 3200 Bildesheim (Stadtarchiv und Stadtbibliothek) 11. Botzenhart, Dr. Manfred, Professor, Michaelstraße 42, 4401 Havixbeck, Tel.: 0 25 07 I 71 46 (Universität Münster) 12. Brandt, Dr. Hartwig, Privatdozent, Krummbogen 28 c, 3550 Marburg 13. Brauneder, Dr. Wilhelm, Professor Mag., Schimmergasse 31, A-2500 Baden (Universität Wien) 14. Diestelkamp, Dr. Bernhard, Professor, Kiefernweg 12, 6242 Kronberg 2 (Universität Frankfurt), Tel.: 06 11 I 7 98- 26 59 i5. Dietrich, Dr. Richard, Professor, Sachsenstraße 17, 3500 Kassel 41, Tel.: 05 61 I 3117 62 16. Dilcher, Dr. Gerhard, Professor, Kuckucksweg 18, 6240 KönigsteiniTs. (Universität Frankfurt) 17. Duchhardt, Dr. Heinz, Professor, Postfach 3980, Saarstraße 21, 6500 Mainz 18. Engelbert, Dr. Günther, Gartenstraße 20, 4930 Detmold (Staatsarchiv Detmold), Tel.: 0 52 31 I 2 15 10 19. Ermacora, Dr. Felix, Professor, Dr.-Karl-Lueger-Ring 1, A-1010 Wien 20. Friauf, Dr. Karl Heinrich, Professor, Eichenhainallee 17, 5060 BensbergFrankenhorst, Tel.: 0 22 04 I 6 19 84 (Universität Köln) 21. Frotscher, Dr. Werner, Professor, Hundersingerstraße 11, 7000 Stuttgart 70 (Universität Hohenheim) 22. Gall, Dr. Lothar, Professor, Gräfstraße 76 IV-V, 6000 Frankfurt a. M., Tel.: 06 11 I 7 98 26 65 23. Gang!. Dr. Hans, Professor, Universitätsplatz 3, A-8010 Graz 24. Giesen, Dr. Dieter, Professor, Boltzmannstraße 3, 1000 Berlin 33 25. Grimm, Dr. Dieter, Professor, Fallerslebenstraße 16, 6000 Frankfurt 1 26. Grawert, Dr. Rolf, Professor, Aloysiusstraße 28, 4630 Bochum 1, Tel.: 02 34 I 47 36 92 27. Grube, Dr. Walter, Professor, Hangleiterstraße 2, 7000 Stuttgart 1 28. Hartlieb v. Wallthor, Dr. Alfred, Gutenbergstraße 2, 4400 Münster, Tel.: 02 51 I 3 58 23 (Provinzialinstitut für westfälische Landes- und Volksforschung Münster) 29. Hecke!, Dr. Martin, Professor, Liesehingstraße 3, 7400 Tübingen 30. Hofmann, Dr. Hasso, Professor, Breslauer Straße 15, 8521 Uttenreuth (Universität Würzburg), Tel.: 0 91 31 I 5 26 43 31. Hoke, Dr. Dr. Rudolf, Professor, Dr.-Karl-Lueger-Ring 1, Universität, A-1010 Wien (Universität Wien) 32. Huber, Dr. Ernst Rudolf, Professor, In der Röte 2, 7800 Freiburg-Zähringen i. Br., Tel.: 07 61 I 5 37 13 33. Ishibe, Dr. Masasuke, Professor, Sumiyoshiku Sugimotocho, Osaka, Japan 34. Ishikawa, Dr. Takeshi, Professor, Faculty of Law, Hokkaido-Universität, Kita-ku, Kita 9, Nishi 7, Sapporo, Japan 35. Janssen, Dr. Wilhelm, Professor, Kalkstraße 14 a, 4000 Düsseldorf 31 (Hauptstaatsarchiv Düsseldorf), Tel.: 02 11 I 44 97- 2 00 36. Kimminich, Dr. Otto, Professor, Killermannstraße 6, 8400 Regensburg, Tel.: 09 41 I 2 41 75
Verzeichnis der Mitglieder
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3'1. Kleinheyer, Dr. Gerd, Professor, Steinergasse 58, 5305 Alfter (Universität Bonn)
38. Koselleck, Dr. Reinhart, Professor, Stieghorsterstraße 70, 4800 Bielefeld, Tel.: 05 31/1 06 32 25 39. Kroeschell, Dr. Karl, Professor, Schloßbergstraße 17, 7801 Au bei Freiburg i.Br. (Universität Freiburg) 40. Landwehr, Dr. Götz, Professor, Schlüterstraße 28, 2000 Harnburg 13 41. Laufs, Dr. Adolf, Professor, Hainsbachweg 6, 6900 Heidelberg 42. Link, Dr. Christoph, Professor, Mönchsberg 17, A-5020 Salzburg 43. Malettke, Dr. Klaus, Professor, Nienkemperstraße 46 a, 1000 Berlin 37 44. Maurer, Dr. Hans-Martin, Staatsarchivdirektor, Liesehingstraße 47, 7000 Stuttgart 80 45. Menger, Dr. Christian-Friedrich, Professor, Vredenweg 14, 4400 Münster/ Westf., Tel.: 02 51/5 13 20 46. Morsey, Dr. Rudolf, Professor, Blumenstraße 5, 6730 Neustadt 22 (Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer) 47. Mußgnug, Dr. Reinhard, Professor, Keplerstraße 40, 6900 Heidelberg, Tel.: 0 62 21/4 62 22 48. Naujoks, Dr. Eberhard, Professor, Wildermuthstraße 32, 7400 Tübingen 49. Ogris, Dr. Werner, Professor, Dr.-Karl-Lueger-Ring 1, Universität, A-1010 Wien 50. Press, Dr. Volker, Professor, Otto-Behaghel-Straße 10 C 1, 6300 Giessen 51. Putzer, Dr. Peter, Professor, A-5501 Bergheim 311 (Universität Salzburg) 52. Quaritsch, Dr. Helmut, Professor, Otterstadter Weg 139, 6720 Speyer, Tel.: 062 32/3 26 37 53. Randelzhofer, Dr. Albrecht, Professor, Van't-Hoff-Straße 8, 1000 Berlin 33 54. Scupin, Dr. Hans Ulrich, Professor, Robert-Koch-Straße 46, 4400 Münster/ Westf., Tel.: 02 51/49 07 09 55. Scheuner, Dr. Ulrich, Professor, Römerstraße 118, 5300 Bann, Tel.: 02 21/ 5 56 - 26 28 56. Schlaich, Dr. Klaus, Professor, Wolkenburgstraße 2, 5205 St. Augustin 2 (Universität Bann), Tel.: 0 22 41/2 75 09 57. Schlenke, Dr. Manfred, Professor, Friedensstraße 13, 6149 Hirnbach (Universität Mannheim), Tel.: 0 62 53/7115 58. Schmitt, Dr. Eberhard, Professor, Feldkirchenstraße 21, 8600 Bamberg 59. Schneider, Dr. Hans, Professor, Ludolf-Krehl-Straße 44, 6900 Heidelberg, Tel.: 0 62 21/4 03 81 60. Schneider, Dr. Hans-Peter, Professor, Delphweg 16, 3000 Hannover 91 61. Schott, Dr. Clausdieter, Professor, Dorfstraße 37, CH-8126 Zumikon (Universität Zürich) 62. Schubert, Dr. Werner, Professor, Grevenkamp 11, 2300 Kiel-Klausdorf 63. Schulz, Dr. Gerhard, Professor, Wilhelmstraße 36, 7400 Tübingen 64. Schütz, Dr. Rüdiger, Privatdozent, Kopernikusstraße 16, 5100 Aachen (RWTH Aachen, Historisches Institut)
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Verzeichnis der Mitglieder
65. Sprandel, Dr. Rolf, Professor, Steubenstraße 16, 8700 Würzburg 66. Stolleis, Dr. Michael, Professor, Waldstraße 15, 6242 Kronberg 2 (Universität Frankfurt) 67. Stourzh, Dr. Gerald, Professor, Dr.-Karl-Lueger-Ring 1, A-1010 Wien 68. Stürmer, Dr. Michael, Professor, Kochstraße 4, 8520 Erlangen 69. von Unruh, Dr. Georg-Christoph, Professor, Steenkamp 2, 2305 Kitzeberg, Tel.: 04 31 I 23 14 59 (Universität Kiel) 70. Wadle, Dr. Elmar, Professor, Kleistraße 16, 6670 St. IngbertiSaar (Universität Saarbrücken), Tel.: 0 68 94 I 62 77 71. Wahl, Dr. Rainer, Professor, Sundgauallee 68, 7800 Freiburg i. Br., Tel.: 07 61 I 8 58 71 72. Weis, Dr. Eberhard, Professor, Ainmillerstraße 8111, 8000 München 40 73. Willoweit, Dr. Dietmar, Professor, Friedrich-Dannemann-Straße 24, 7400 Tübingen 74. Würtenberger, Dr. Thomas, Professor, Herbststraße 6, 8901 Neusäß (Universität Augsburg)