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German Pages 147 Year 1978
Gesellschattliche Strukturen als V erfassungsproblern
Beihefte zu "Der Staat" Zeitschrift für Staatslehre, Öffentliches Recht und Verfaesungegeschichte
Heft2
Gesellschaftliche Strukturen als Verfassungsproblem Intermediäre Gewalten, Assoziationen, Öffentliche Körperschaften im 18. und 19. Jahrhundert
Gründungstagung der Vereinigung für Verfassungs· geschichte in Hofgeismar am 3./4. Oktober 1977
DUNCKER &HUMBLOT I BERLIN
Redaktion: Prof. Dr. Helmut Quaritsch, Speyer
Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlln 41 Gedruckt 1978 bei Buchdruckerei A . Sayffaerth - E. L. Krohn, Berlln 61 Printed 1n Germany
© 1978 Dunelter
ISBN B 428 M290 5
Vorwort Die hier veröffentlichten Referate und Diskussionsbeiträge wurden am 3. und 4. Oktober 1977 an der Ev. Akademie in Hofgeismar vorgetragen. Der Kreis der Teilnehmer setzte sich aus Historikern, Juristen und Archivaren zusammen. Der Erfolg dieser interdisziplinären Tagung führte zur Gründung der "Vereinigung für Verfassungsgeschichte". Sie soll die institutionelle Basis abgeben für die Pflege der Verfassungsgeschichte innerhalb des deutschen Sprachraums durch das freie wissenschaftliche Gespräch der beteiligten Disziplinen. Der Vorstand
Inhaltsverzeichnis
Dietmar Willoweit:
Struktur und Funktion intermediärer Gewalten im Ancien Regime . .
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Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Hartwig Brandt:
Ansätze einer Selbstorganisation der Gesellschaft in Deutschland im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
68
Adolf M. Birke:
Voluntary Associations - Aspekte gesellschaftlicher Selbstorganisation im frühindustriellen England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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UZTich Scheuner:
Staatliche Verbandsbildung und Verbandsaufsicht in Deutschland irrt 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
122
Verzeichnis der Redner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Satzung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Verzeichnis der Mitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Struktur und Funktion intermediärer Gewalten im Ancien Regime Von Dietmar Willoweit, Berlin Seit den politischen Umwälzungen im 16. Jahrhundert, beschleunigt seit dem Westfälischen Frieden, entsteht im Heiligen Römischen Reiche der frühneuzeitliche, frühmoderne Staat, der sich vom Staatswesen des 19. Jahrhunderts vor allem durch die fortdauernde Existenz subordinierter Ordnungsmächte unterscheidet. Diese nehmen zwischen Landesherr und Untertan gesellschaftliche Angelegenheiten wahr, welche nach modernem Dafürhalten eigentlich öffentlich, also des Staates sind. Derartige Gewalten gehören den verschiedenartigsten sozialen Bereichen an. Die Städte sind hier zu erwähnen und die Landgemeinden, die Zünfte und die Universitäten, geistliche Anstalten, bäuerliche Genossenschaften, Gutsherrschaften, Bergwerke und anderes mehr1 • Die Frage ist, ob wir es hierbei mit einem Prinzip der staatlichen Ordnung zu tun haben, oder nur mit einer zufälligen Anhäufung heterogener, zum Absterben verurteilter Institutionen. Es ist also gar nicht sicher, ob der Gegenstand der folgenden Überlegungen richtig gewählt ist. Er verlangt nach gefährlichen Generalisierungen und Abstraktionen, wie sich gerade für unsere Problematik an der Kategorie des "Feudalismus" zeigen läßt2 • Dennoch möchte ich das Thema direkt 1 Die folgenden Ausführungen wollen allgemeine Formen und Gründe des Gegenstandes in der historischen Wirklichkeit aufsuchen. Sie gehen daher mit Rücksicht auf die besonderen deutschen Verhältnisse von einem weiter gefaßten Begriff der intermediären Gewalt aus, als ihn Montesquieu, De l'esprit des lois, 1748, li, 4 (ed. G. Truc S. 20, ed. E. Forsthoff S. 28) verwendete. Die dort erwähnten "pouvoirs intermediaires, subordonnes et dependants" werden als Vermittler staatlicher Macht vorgestellt, als "canaux moyens par ou coule la puissance". Diese geistvolle Spekulation könnte als Grundlage für Variationen über das Thema dienen, das hier zunächst selbst zu Wort kommen soll. 2 Vgl. Otto Hintze, Wesen und Verbreitung des Feudalismus, SB der Preuß. Ak. d. Wiss., phil.-hist. Kl. 1929, Nr. 20, Neuabdruck in: ders., Staat und Verfassung, Ges. Abh. Bd. I, hrsg. von Fritz Hartung, 1941, S. 74 ff.; Otto Brunner, "Feudalismus", Ak. d. Wiss. u. d. Lit. Mainz, Abh. d. geistesu. sozialwiss. Kl. 1958, Nr. 10; ders., Feudalismus, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Histor. Lexikon der politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. von 0. Brunner, W. Conze u. R. Koselleck, Bd. li, 1975, S. 337 ff.; Karl Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte 1, 1972, S. 277.
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Dietmar Willoweit
und ohne den Umweg über eine exemplarische Untersuchung angehen, weil die - notwendigen - Allgemeinbegriffe der Rechts- und Sozialgeschichte ständig der Rechtfertigung und Kontrolle bedürfen. Die Frage nach Struktur und Funktion zielt im einzelnen auf den historischen Sinn unseres Gegenstandes, zuvor aber auf die Beschaffenheit jener Gebilde, ihren inneren Bau, wie aber auch auf ihre Außenwirkung, auf die Aufgaben, die Bedeutung im größeren Gebäude der staatlich organisierten Gesellschaft. Beschaffenheit und Sinn nichtstaatlicher Ordnungsmächte im absolutistischen Staat - so möchte ich das Thema übersetzen und zugleich interpretierend überdenken. Ich will versuchen, mich diesem Ziel in drei Schritten zu nähern: 1. Institutionelle Formen, oder: Genossenschaft und Obrigkeit; 2. Rechtliche Gründe der sozialen Strukturierung, oder: Recht und Ordnung; 3. Der soziale Sinn intermediärer Gewalten, oder: Stand und gute Polizei.
1. Institutionelle Formen oder: Genossenschaft und Obrigkeit Die intermediären Gewaltverhältnisse sind nur zum kleinsten Teil Schöpfungen der absolutistischen Epoche. Fast alle gingen aus den Prozessen der mittelalterlichen Genossenschafts- und Herrschaftsbildung hervor. Die Frage nach den Entstehungsbedingungen dürfen wir hier jedoch weitgehend vernachlässigen, weil der Begriff der intermediären Gewalt auf die mittelalterlichen Verfassungsverhältnisse nicht angewendet werden kann. Dort sind alle korporativen und herrschaftlich strukturierten Mächte in die gesellschaftliche Ordnung völlig integriert. Sie selbst konstituieren diese Ordnung. Erst im Obrigkeitsstaat des 15. bis 17. Jahrhunderts wird dem überkommenen System vielfältiger persönlicher Herrschaftsrechte ein allgemeines Gewaltverhältnis, das zwischen dem Landesherrn und jedem Untertan angenommen wird, übergestülpt. Mit diesem Vorgang, den die ersten Staatsrechtslehrer des frühen 17. Jahrhunderts reflektiert haben, entsteht das für den frühmodernen Staat charakteristische Problem der intermediären, subordinierten, mittelbaren Gewalten3 • Auf welchen Rechtspositionen sie beruhen, ist oft genug dargestellt worden4 • An dieser Stelle ist daher nur daran zu erinnern, daß die be3 Über das Verhältnis der mittelalterlichen Herrschaftsordnung zum absolutistischen Staat vgl. Kurt v . Raumer, Absoluter Staat, korporative Libertät, persönliche Freiheit, HZ 183, 1957, S. 55 ff., Neuabdruck in: W. Hubatsch (Hrsg.), Absolutismus (WdF CCCXIV) 1973, S. 152 ff., 168 ff., 176 ff. Gerhard Oestreich, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, in: VSWG 55 (1969) S. 329 ff. Neuabdruck in: ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, 1969, S. 179 ff.; ders., Ständeturn und Staatsbildung in Deutschland, Der Staat 6, 1967, S. 61 ff., Neuabdruck a. a. 0. S. 277 ff.; Wilhelm Störmer, Territoriale Landesherrschaft und absolutistisches Staatsprogramm, in: Bl. f. dt. LG 108, 1972, S. 90 ff.; Dietmar Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt, 1975, S. 121 ff.
Intermediäre Gewalten im Ancien Regime
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sonders wichtigen Obrigkeiten der Grund- und Gutsherren sowie der Städte auf den alten grundherrliehen und gerichtsherrliehen Rechten aufbauten. Im Niedergericht, oft aber auch in hochgerichtliehen Sachen judizierten vielfach Beamte des Adels, des Klerus und der städtischen Magistrate. Doch ist es nicht unbedingt die streitentscheidende Funktion der nichtstaatlichen Gewalthaber, die dieser Gerichtsbarkeit ihr besonderes Gewicht verleiht. Seit den wegweisenden Forschungen Hanns Hubert Hofmanns über die staatsrechtlichen Verhältnisse Frankens wissen wir von der Schlüsselfunktion der Niedergerichtsbarkeit5• Sie vermittelt Gebot und Verbot und damit die politische Macht im alltäglichen Leben des Untertanen. Auf diesem, für die große Politik belanglosen, für die sozialen Zustände indessen entscheidenden Felde scheinen mir sogar die von der alten Grundherrlichkeit geprägten fränkischen Verhältnisse mit den ostelbischen Gutsherrschaften vergleichbar. Hier wie dort- und ähnlich in den meisten Territorien des Reiches - hat der einfache Untertan zunächst nicht mit dem fernen Landesherrn zu tun, sondern den Weisungen des stets gegenwärtigen Guts- oder Grundherrn Folge zu leisten. Natürlich dürfen dabei die vergleichsweise freien, weil auf einer Fülle einzelner Rechte und Pflichten beruhenden Herrschaftsverhältnisse etwa Frankens mit der gleichsam absolutistischen Macht ostelbischer Junker nicht einfach über einen Kamm geschoren werden. Dennoch gibt es hier ein gemeinsames, auch anderswo anzutreffendes Strukturprinzip, das gerade die Regulierung der gesellschaftlich wichtigen, alltäglichen Verhaltensweisen in Landwirtschaft und Gewerbe, die zivilrechtliehen Streitsachen, die Ahndung der oft vorkommenden Bagatellkriminalität und ähnliches dem Adel und weitgehend auch den städtischen Magistraten überläßt8 • In Preußen finden sich selbst auf den staatlichen Domänen Pächter, deren Vor4 Gerhard Oestreich, in: Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, 9. Auf!., hrsg. von H. Grundmann, Bd. II, 1970, S. 394 ff.; Störmer, Territoriale Landesherrschaft (Fn. 3) S. 91 ff.; Mitteis/Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte, 14. Aufi. 1976, S. 202 ff. m. w. Nachw. 5 Hanns Hubert Hofmann, Adelige Herrschaft und souveräner Staat, 1962, S. 47 ff., 81 ff.; ders., Freibauern, Freidörfer, Schutz und Schirm im Fürstentum Ansbach, in: ZbLG 23 (1960) S. 195 ff.; vgl. ferner den Historischen Atlas von Bayern, fränkische Reihe. 6 Vgl. die in der vorigen Anmerkung genannten Arbeiten, ferner Willi Boelcke, Bauer und Gutsherr in der Oberlausitz, 1957, S. 58 ff.; FriedrichWilhelm Henning, Herrschaft und Bauernuntertänigkeit, 1964 (Beihefte zum Jahrbuch der Albertus-Universität Königsberg/Pr. XXV), S. 97 ff.; Rudolf Wilhelm, Rechtspflege und Dorfverfassung. Nach niederbayerischen Ehehaftsordnungen vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. (= Verhandlungen des Historischen Vereins für Niederbayern 80, 1954); Heinrich Hirschfelder, Herrschaftsordnung und Bauerntum im Hochstift Osnabrück im 16. und 17. Jahrhundert, 1971, S. 39 ff. Klaus Spies, Gutsherr und Untertan in der Mittelmark Brandenburg zu Beginn der Bauernbefreiung, 1972. Zur neuzeitlichen Stadtverfassungsgeschichte vgl. Oestreich, in: Gebhardt (Fn. 4), S. 426 ff. m. w. Nachw.
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bild die adelige Eigenwirtschaft ist7• Diese Ebene wird vom Beamtenapparat des Landesherrn oft gar nicht erreicht. Seine Behördenorganisation hat ursprünglich ganz überwiegend mit Steuerwesen, Hofhaltung und Heer zu tun und ist auf solche Bedürfnisse zugeschnitten8 • Nicht zufällig haben aus diesem Befund die Landesgeschichte und die Verfassungsgeschichte zwei verschiedenartige Forschungsgegenstände geformt, die sich einerseits mit der rechtlichen Mikrostruktur der Territorien, andererseits mit deren zentralen Instanzen befassen. Solange wir also bei den Herrschaftsrechten verweilen, ist in - allerdings unscharfen Umrissen eine Funktionsteilung zwischen subordinierter und landesherrlicher Gewalt festzustellen. Die judizielle und überwiegend auch administrative Tätigkeit der landesherrlichen Beamten einerseits und der adeligen, bzw. städtischen Amtleute andererseits konzentriert sich deutlich auf jeweils verschiedene Schwerpunkte. So einfach läßt sich freilich das Verhältnis staatlicher und nichtstaatlicher Gewalt im Absolutismus abschließend nicht beschreiben. Die Institutionen eines Verfassungssystems werden nicht nur von den organisatorischen Formen geprägt. Ebenso wichtig wie die jeweiligen Herrschaftsrechte sind die Regeln, Maßstäbe und Zielvorstellungen, nach denen die Funktionsträger handeln. Dieser Bereich der Willensbildung und Normensysteme wird durch drei Faktoren bestimmt: durch Reste genossenschaftlicher Autonomie, durch landesherrliche Anordnungen und schließlich durch die Gebote lokaler Obrigkeiten. Da die subordinierten Gewaltverhältnisse in der Regel von altersher überliefert sind, blieb zunächst auch ihr innerer Aufbau im wesentlichen unverändert. Mittelalterliche Herrschaft und Genossenschaft setzt sich in der neuzeitlichen Obrigkeit und Korporation modifiziert fort. Der begriffsgeschichtlichen Entwicklung entspricht die tatsächliche Situation. Die Handhabung von Herrschaftsrechten weitet sich zu einer immer umfassenderen Befehlsgewalt aus. Auf der anderen Seite beruhen die Korporationen nicht mehr auf freier Assoziation, sondern auf rechtlich oder tatsächlich erzwungener Zuordnung. Der Gewerbetreibende muß 7 Henning, Herrschaft und Bauernuntertänigkeit (Fn. 6) S. 80 ff. Zur Niedergerichtsbarkeit der landesherrlichen Amtleute, vgl. auch Paul Lenel, Badens Rechtsverwaltung und Rechtsverfassung unter Markgraf Karl Friedrich 1738 - 1803, 1913, S. 91 ff. 8 Otto Hintze, Behördenorganisation und allgemeine Verwaltung in Preußen beim Regierungsantritt Friedrich 11., 1901 (Acta Borussica VI, 1); Adolf Stölzel, Brandenburg-Preußens Rechtsverwaltung und Rechtsverfassung, Bd. 1, 1888; Conrad Bornhak, Preußische Staats- und Rechtsgeschichte, 1903, S. 83 ff.; Fritz Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte, 9. Aufl. 1969, S. 72 ff., 107 ff.; Oestreich, in: Gebhardt, Handbuch (Fn. 4) Bd. II, S. 404 ff.; Robert Scheyhing, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 1968, S. 58 f., 63 ff.; Ernst Forsthoff, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 3. Aufl., 1967, S. 43 ff.; Hermann Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. II, 1966, S. 245 ff., 252 ff.
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die Stadtbürgerschaft erwerben, der Handwerker in die Zunft eintreten. Die genossenschaftlichen Mechanismen sind aber oft noch intakt. Auf dem Lande gibt es vielerorten auch im 18. Jahrhundert noch die dörfliche Bauernschaftsversammlung mit Kompetenzen in Flursachen, Maß- und Gewichtsangelegenheiten, Nothilfe usw. Nicht selten begegnet selbst noch der Laienschöffe. Längst wissen wir indessen Otto von Gierke ist für diesen Gegenstand maßgebend geblieben9 daß die genossenschaftlichen Formen in der Neuzeit unter ständiger Auszehrung leiden. Die "Bauerngerichte" werden verlacht, der obrigkeitliche Richter ersetzt den Schöffen, der fürstliche Amtmann zieht städtische Geschäfte an sich, die Zünfte können gerade soviel von ihrer alten Rechtsstellung retten, wie ihnen der Landesherr in seinen Generalprivilegien einzuräumen geneigt ist. Mit der Expansion obrigkeitlicher Strukturen auf Kosten korporativer Einrichtungen folgt das Sozialleben nun anderen Regeln, nämlich solchen, die am Fürstenhofe, in Amtsstuben und Herrensitzen erdacht, befohlen und erzwungen werden. Die Gerichtsversammlungen, diese typischen Instrumente korporativer Selbstbestimmung, werden in zunehmendem Maße von Administrationen ersetzt, die Befehle empfangen, weitergeben und Gehorsam fordern. Mit dem Verfall der korporativen Willensbildung spiegeln nun auch die subordinierten Corpora das absolutistische Herrschaftsideal von Befehl und Gehorsam wieder. Es lohnt sich, den Gründen dieser Entwicklung nachzugehen. Der pauschale Hinweis auf "den Absolutismus", auf die Apotheose des fürstlichen Willens und seine institutionelle Konkretisierung im Gesetzgebungsrecht10 ist nicht ohne allen Erklärungswert. Befehl und Gehorsam, die Gliederung der Gesellschaft in Befehlende und Gehorchende, werden in der Staatsrechtslehre des 17. und 18. Jahrhunderts zuweilen in geradezu euphorischer Weise beschworen11 • Aber ebenso sicher grenzt die Theorie die auf der Gesetzgebungsmacht beruhende summa potestas von der Despotie ab. Absolute Herrschaft ist nicht gleichbedeutend mit willkürlicher Befehlsgewalt12• Sie ist an göttliches und natürliches Recht gebunden, aber nicht nur das. Im 17. Jahrhundert werden aus der protestantischen Aristotelesrezeption des vorangehenden saeculums Kriterien und Ziele staatlichen Handeins formuliert, 0 Otto von Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. I, 1868, S. 638 ff. 10 Heinz Mohnhaupt, Potestas legislatoria und Gesetzesbegriff im Ancien Regime, in: Jus commune IV (1972) S. 188 ff. Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität, Bd. 1; Die Grundlagen, 1970, S. 333 ff.; Wilhelm Ebel, Geschichte der Gesetzgebung in Deutschland, 2. Aufl. 1958, S. 67 ff., 71 ff.; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 1958, S. 53 ff.; Willoweit, Rechtsgrundlagen (Fn. 3) S. 179 ff. 11 Willoweit, Rechtsgrundlagen (Fn. 3) S. 306 f. 12 Quaritsch, Staat und Souveränität (Fn. 10) S. 383 ff.; Christian-Friedrich Menger, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 1975, S. 41 f.
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Dietmar Willoweit
die der Befehls- und Gesetzgebungsbefugnis des Landesherrn Inhalt und Richtung geben13• Mit dem aristotelischen Denken und ähnlichen Konzeptionen des Stoizismus14 ist die Autonomie politischen Handeins und zugleich ihre Verpflichtung auf das bonum commune begründet worden. Die praktische Dimension dieser Politik, ihre Realisierung im Leben der Untertanen ist die "gute Polizei". In der Optik unserer verfassungsgeschichtlichen Darstellungen erscheint sie wegen ihres Bezuges zur Landfriedensbewegung eher als ein Attribut laudesväterlicher Fürsorge im 16. Jahrhundert, denn als ein Charakteristikum des hochabsolutistischen Staatswesens späterer Zeit15• Aber bis über die Mitte des 18. Jahrhunderts hinaus bleibt die Gesetzgebung ebenso an polizeiliche Ziele gebunden wie der Machtwille des Landesherrn an das gemeine Wohl18• Selbst nach der methodischen Überwindung des Aristotelismus durch das Vernunftrecht ist das Gemeinwohl als Ziel allen staatlichen Handeins für Staatstheorie, Rechtswissenschaft und Gesetzgebung verbindlich. Nicht nur bei den führenden Köpfen dieser Zeit, wie Christian Wolfj11 , ist es nachweisbar, es begegnet auch in den 13 Peter Petersen, Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland, 1921; Horst Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat. Die "Politica" des Henning Arnisaeus (ca. 1575 - 1636), 1970; Michael Stolleis, Reichspublizistik- Politik- Naturrecht im 17. und 18. Jahrhundert, in: ders. (Hrsg.), Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert, 1977, S. 7 ff., 15 ff.; Dietmar Willoweit, Hermann Conring, ebda. S. 129 ff. m. w. Nachw. Zu den Voraussetzungen des neuzeitlichen politischen Denkens bei Aristoteles, vgl. Wilhelm Anz, Zum Verhältnis von Politik und Ethik bei Aristoteles, in: Säkularisation und Utopie, Ebracher Studien Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag, 1967, S. 253 ff. 14 Gerhard Oestreich, Politischer Neustoizismus und niederländische Bewegung in Europa und besonders in Brandenburg-Preußen, in: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, 1969, S. 101 ff. u. bei Hubatsch, Absolutismus (Fn. 3) S. 361 ff. 15 Z. B. Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte (Fn. 8) S. 63 ff.; Forsthoff, Deutsche Verfassungsgeschichte (Fn. 8). S. 33 f. Anders Otto Kimminich, Deutsche Verfassungsgeschichte, 1970, S. 247. Abgewogen Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte (Fn. 8) S. 257 ff. 16 Allen voran verdient Johann Jacob Masers Definition festgehalten zu werden: "Ich verstehe hier unter dem Wort: Policey diejenige Landesherrliche Rechte und Pflichten, auch daraus fliessende Anstalten, welche die Absicht haben, der Untertanen äusserliches Betragen im gemeinen Leben in Ordnung zu bringen und zu erhalten, wie auch ihre zeitliche Glückseligkeit zu befördern", Von der Landes-Hoheit in Policey-Sachen, 1773 (Neues teutsches Staatsrecht Bd. 16, 6), S. 2. Wilhelm Brauneder, Der soziale und rechtliche Gehalt der Österreichischen Polizeiordnungen des 16. Jahrhunderts, in: ZHF 3 (1976) S. 205 ff., 212 ff.; Kurt Wolzendorff, Der Polizeigedanke des modernen Staates, 1918, S. 5, 9 ff., 14 ff.; Hans Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre (Polizeiwissenschaft), 1966, S. 116 ff.; Franz-Ludwig Knemeyer, Polizeibegriffe in den Gesetzen des 15. bis 18. Jahrhunderts, in: AöR 92 (1967) S. 153 ff.; Oestreich, in: Gebhardt, Handbuch (Fn. 4) Bd. II S. 397 f. Zur älteren Geschichte verwandter Vorstellungen Walther Merk, Der Gedanke des gemeinen Besten in der deutschen Staats- und Rechtsentwicklung, in: Festschrift für Alfred Schultze zum 70. Geburtstag, 1934, S. 451 ff. (Neudruck Libelli CCXXXIII 2. Aufl. 1968).
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Details der gemeinrechtlichen Jurisprudenz18 und liegt verwandten Formulierungen polizeilicher Anordnungen zu Grunde19 • Heute bereitet es nach den zwiespältigen Erfahrungen zweier Jahrhunderte staatlicher Macht einige Mühe, die scheinbare Vieldeutigkeit und Dehnbarkeit des Gemeinwohlbegriffs zu eliminieren. Doch für diesen ersten Schritt unserer Überlegungen genügt es, wenn wir dem so oft benutzten Wort vom bonum commune, von der salus publica, populi oder rei publicae als einer allgegenwärtigen Denkfigur jenen Rang einräumen, den seine häufige Verwendung verlangt und nicht unsere Ideologieprobleme in die Vergangenheit projizieren. Der Niedergang der genossenschaftlichen Formen in den intermediären Gewaltverhältnissen ist insofern sicher nicht unmittelbar auf den aristotelischen Gemeinwohlgedanken zurückzuführen, als dieser keine spezifisch korporationsfeindlichen Züge aufweist. Ein anderes Bild ergibt sich aber, wenn wir umgekehrt nach dem Verhältnis des Korporationswesens zur politischen Theorie und zur polizeilichen Praxis fragen. Otto von Gierke bemerkte dazu: "Indem der Begriff des öffentlichen Wohls als der oberste gefaßt wird, muß die Sorge für das öffentliche Wohl oder die Polizei als diejenige Staatsfunktion gelten, in deren Dienst alle anderen Funktionen stehen20." Dieser Gedanke verträgt eine verständnisvollere Würdigung als sie sich Gierke selbst in seiner polemischen Ablehnung des Obrigkeitsstaates gestatten konnte. Die Genossenschaft, auch in ihrer erstarrten korporationsrechtliehen Form, war prinzipiell nicht in der Lage, das politische und polizeiliche Denken und Handeln zu adaptieren. Hier stießen zwei Grundformen sozialen Verhaltens und ganz verschiedenartige moralische Prioritäten aufeinander, die sich unter dem Dache einer Institution nicht vereinigen ließen. Die 11
Marcel Thomann, Christian Wolff, in: Stolleis, Staatsdenker (Fn. 13)
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Z. B. Widerruf eines Privilegs aus Gründen des öffentlichen Wohls, vgl.
s. 248 ff., 254 ff.
Ludwig Julius Friedrich Höpfner, Theoretisch-practischer Commentar über die Heineccischen Institutionen, 5. Aufl. 1795, §50 und ebenso schon Samuel Stryck, Disputatio de jure privilegiati contra privilegiatum, 1684, in: Disser-
tationum juridicarum Francofurtensium Volumen novissimum, Frankfurt 1744 (Opera omnia Vol. V) cap. I n. 31. Weitere Beispiele bei JohannesMichael Scholz, Der brandenburgische Landrechtsentwurf von 1594, 1973, s. 106 ff. 19 Knemeyer, Polizeibegriffe (Fn. 16) S. 155 ff. und die Beispiele in den Quellen zur neueren Privatrechtsgeschichte Deutschlands, Bd. II, 1 - 2; Polizeiund Landesordnungen, hrsg. von Wolfgang Kunkel, Gustaf Schmelzeisen und Hans Thieme, 1968 - 1969. Die älteren umfassenderen Polizei- und Landesordnungen des 16. und 17. Jahrhunderts sprechen von "Nutz und Wohlfahrt" (II, 1 S. 161, 329, 373), "Landeswohlfahrt" (II, 1 S. 571) u. ä. (II, 1 S. 637). Später wird in den nun überwiegend knapperen Anordnungen schlicht von "guter Ordnung" (II, 1 S. 423, 705 u. II, 2 S. 164, 172) vom "gemeinen" oder der Untertanen "Besten" (II, 2 S. 172, 356) oder von der "Billigkeit" (II, 2 S. 203, 238) gesprochen, oft aber auch auf eine derart allgemeine Begründung verzichtet. 20 Genossenschaftsrecht I (Fn. 9) S. 643.
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Genossenschaft bedarf des stets erneuerten Konsenses der Genossen in grundsätzlichen wie in peripheren Angelegenheiten. Wie dieser Konsens zustande kommt, ob durch Mehrheit oder durch das Wort der Ältesten und Großen, bleibt sich gleich. Maßgebend für Entscheidungen dieser Art sind das Herkommen, die Sitten der Alten, ererbte Vorrechte, die Interessen der Einflußreichen. Hier herrscht ein konservativer Kanon der Werte, der schon aus Gründen der Prozedur, aber auch aus Überzeugung und schließlich wegen der sozialen Gewichte innerhalb der Corpora kaum erweiterungsfähig ist21 • Ein Allgemeines wie das bonum commune kann in diesen engen und oft engherzigen Zirkeln nur mühsam begriffen und kaum in politische Entscheidungen umgesetzt werden. Politische Theorie ist in dieser Zeit eine Sache weitläufiger Entwürfe, an deren Hintergrund sich das gewisse Ziel der menschlichen Glückseligkeit abzeichnet. Darüber kann es kein Verhandeln geben und daher auch nicht die Notwendigkeit des Konsenses. Die Struktur der Genossenschaft erlaubt also die Fixierung auf ein außerhalb der eigenen Interessen liegendes Ziel nicht. Ihre Willensbildung wäre nicht mehr autonom, wenn sie an ein gemeinsames Gut des Staates gebunden würde22 • Die aristotelische Staatsethik hat auch in ihren rezipierten und popularisierten Formen einen anderen Adressaten, nicht ständische Korporationen, sondern das Gemeinwesen im ganzen und den einzelnen Bürger. Unter den Bedingungen des Absolutismus tritt an ihre Stelle der Landeshel-r, der nun zu jeder vom gemeinen Besten geforderten Initiative legitimiert erscheint. Drastischer Ausdruck dieser Umschichtung der Entscheidungsprozesse sind die landesherrlichen Polizeiordnungen. An ihnen ist ablesbar, mit welcher Intensität die Selbstregierung der Korporationen eingeschränkt und diese selbst auf die generellen Ziele staatlicher Politik ausgerichtet werden. Handel und Handwerk, Bauern und Gesinde, grundsätzlich jeder Stand wird mit immer neuen Anordnungen des Landesherrn konfrontiert, die das Verhalten und Wirtschaften der Untertanen zu lenken versuchen. Für diese Gesetzgebung ist charakteristisch, daß sie sich z. B. an alle Angehörigen einer Berufsgruppe oder an einen unbestimmten Personenkreis mit Rücksicht auf näher beschriebene Tätigkeitsmerkmale wendet. Die Polizeiordnungen setzen sich also über die Korporationen einfach hinweg. Ihr Leitbild ist der dem Gesetz des Landesherrn unmittelbar unterworfene Untertan23• 21 Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. ed. J. Winckelmann, 1976, S. 133, 438. 22 Gierke, Genossenschaftsrecht I (Fn. 9) S. 640 f. 23 Schmelzeisen, Quellen II, 1 (Fn. 19) Ein!. S. 25 ff. Zur landesherrlichen Politik vgl. auch Jürgen Falkenhagen, Absolutes Staatswesen und Autonomie der Territorialverbände und Genossenschaften, Diss. Kiel 1967 (betr. Schleswig-Holstein).
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Die "gute Polizei" nimmt daher den Korporationen ihre Funktion, ohne ihren Bestand selbst antasten zu müssen. Die Ablösung der genossenschaftlichen Autonomie durch adelige oder landesherrliche Obrigkeiten ist die institutionelle Konsequenz dieses Vorganges. Die obrigkeitlich strukturierten mediaten Gewaltverhältnisse, wie etwa die Gutsherrschaften, konnten die Gesetzgebungsflut der staatlichen Macht besser verkraften. Das Gesetz ist in dieser Zeit oft weniger eine abstrakte, generelle Regel mit unbestimmtem Adressatenkreis als vielmehr eine Richtlinie für die ausführende Verwaltung. Ob diese zum staatlichen Apparat gehört oder als Gutsobrigkeit in Erscheinung tritt, ist von sekundärer Bedeutung. Die landesherrliche Gesetzgebung braucht nur ein Vollzugsorgan. Die adeligen und städtischen Obrigkeiten genügen für diesen Zweck, wenn sie nur die Entschlüsse des Landesherrn durchführen. Nimmt man hinzu, daß daneben die auf alten Herrschaftsrechten beruhenden Gebotsrechte erhalten bleiben, dann wird deutlich, daß die intermediäre Ordnungsebene in der Tat zum Spiegelbild, ja m anchmal zum Multiplikator des absolutistischen Gesetzgebungsstaates gerät. Die institutionellen Formen subordinierter Gewalt sind also deshalb durch den Verfall des genossenschaftlichen Elements gekennzeichnet, weil sich Autonomie und Polizei, d. h. Politik im schon geschilderten Sinne, nicht miteinander vertragen. Wenn das so ist, dann ist allerdings auch darüber nachzudenken, was diese nichtstaatlichen Obrigkeiten überhaupt noch am Leben erhält, warum sie nicht einfach durch Gesetzgebungsakt aufgehoben werden, da dies doch die Geburtsstunde des souveränen Staates ist.
2. Rechtliche Gründe der sozialen Strukturierung, oder: Recht und Ordnung Die Überzeugung, das Gemeinwohl sei die suprema lex des Staates, ist zunächst philosophischer, nicht juristischer Art. Besonders im 17. Jahr·· hundert weiß man sehr genau zwischen politischer Theorie und praktischer Rechtsanwendung zu unterscheiden24 • Wenn daher der Gemeinwohlgedankewie der Souveränitätsbegriff auch eine Vereinfachung der Verfassungstrukturen auf ein Entscheidungszentrum nahelegt, dann ist damit noch nichts über die tatsächliche Möglichkeit solcher Eingriffe in die überlieferte Rechtsordnung gesagt. Die Gesetzgebungsmacht des absoluten Herrschers darf nicht mit dem Gesetzespositivismus des 19. Jahrhunderts verwechselt werden. Der Landesherr gebietet über Untertanen. Über das Recht kann er nur insoweit disponieren, als er die Rechte der Untertanen nicht verletzt. Mit anderen Worten: die intermediären Gewaltverhältnisse bleiben bestehen, weil sie ein Stück Rechts24
Willoweit, Conring (Fn. 13) S. 131.
2 Der Staat, Belheft 2
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ordnung verkörpern, die nur ein despotischer Herrscher durch offenen Rechtsbruch prinzipiell beseitigen könnte. Diese These bedarf der näheren Begründung. Recht ist bis zur Aufklärung grundsätzlich auf das Herkommen gegründet. Die landesherrlichen Polizeiordnungen sind dagegen nicht Recht, sondern eben "Ordnung", praktische Politik, Verhaltensregulativ. Dem modernen Beobachter mutet diese Unterscheidung befremdlich an, weil er, in der Tradition des 19. Jahrhunderts stehend, gelernt hat, Recht und Gesetz weitgehend zu identifizieren. Die Rechtsauffassung der frühen Neuzeit ist aber durch ganz andere Traditionen bestimmt, die im spätmittelalterlichen Rechtsdenken wurzeln. Auch nach der Rezeption beruht das Recht, nun nicht mehr auf der Gewohnheit der Laien, aber doch auf Gerichtsgebrauch und Juristenweisheit. Der Landesherr kann zwar die einheimische Rechtsgewohnheit, ebenso wie das jus commune, reformieren und damit im Wege der Anpassung auch ändern. Auf diese Weise entsteht neues Landrecht, dessen Adressaten in erster Linie die Gerichte sind. Aber wie die Präambeln dieser Landrechte oft selbst beteuern, sollen überwiegend doch nur infolge des Rezeptionsprozesses entstandene Unklarheiten ausgeräumt werden. Das Landrecht wird dem jus commune aufgesetzt und verschmilzt mit diesem zu einer sich allmählich territorial differenzierenden Rechtsmasse25 • Der Landesherr wirft sich nicht zum Herrn des Privatrechts auf. Er trägt nur für dessen forensische Funktionstüchtigkeit Sorge. Anders die Polizeiordnungen. Sie wenden sich zu allererst an Obrigkeiten und Untertanen, denen Verhaltensweisen auferlegt und für den Fall der Zuwiderhandlung oft Strafsanktionen angedroht werden. Diese Gegenüberstellung28 mag pointiert erscheinen. Es ist gewiß richtig, daß Recht und Ordnung terminologisch nicht sauber zu trennen sind und die Polizeiordnungen auch viele Sätze materiellen Privatrechts enthalten, das die Gerichte bindet. Aber diese inhaltlichen Überschneidungen zwischen LandesRecht und Landes-Ordnung widerlegen die Differenz zwischen Recht und Ordnung nicht, sondern sie werden auf diese Weise überhaupt erst erklärbar. Nicht eine, in der Forschung immer wieder anklingende materiell-rechtliche Abgrenzung liegt der Unterscheidung von Recht zs Zur historischen Entwicklung A. Laufs und K.-P. Schroeder, Landrecht, in: HRG li, Sp. 1527 ff. m. w. Nachw.; Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 193 ff., 198. 28 Vgl. schon die Autoren bei Maser, Policey-Sachen (Fn. 16), S. 3 (und die Beurteilung des bei Pütter auftretenden engeren Polizeibegriffs als "Schulstreitigkeit"! a. a. 0. S. 5), ferner Brauneder, Der soziale und rechtliche Gehalt (Fn. 16) S. 209; Ralf Grawert, Historische Entwicklungslinien des neuzeitlichen Gesetzesrechts, in: Der Staat 11, 1972, S. 1, 11 ff.; Bernhard Diestelkamp, Das Verhältnis von Gesetz und Gewohnheitsrecht im 16. Jahrhundert - aufgezeigt am Beispiel der oberhessischen Erbgewohnheiten von 1572, in: Rechtshistorische Studien, Hans Thieme zum 70. Geburtstag, 1977, S. 1 ff.,
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und Ordnung zu Grunde 21 , sondern eine funktionale. Zwei verschiedenartige Regelungssysteme treten nebeneinander: Recht und Justiz einerseits, Polizei und Obrigkeit andererseits. Die bekannten Kompetenzkonflikte zwischen ordentlichen Gerichten und Verwaltungsbehörden sind die Konsequenz dieser dualistischen Ordnung28 • Otto von Gierke hat diese Polarität im Prinzip erkannt, wenn er den Vorwurf erhebt, die Berufung auf das Gemeinwohl ermögliche Rechtsbruch, der Staat werde zum Gegenteil des Rechtsstaates, der Polizeistaat erhebe sich über das Recht. Aber er hat zugleich Partei ergriffen und sich damit der Einsicht in die Sache entzogen29 • Der Bereich des vom Herkommen geprägten Rechts umfaßt nun im Ancien Regime viel mehr, als die glänzende Selbstdarstellung der absoluten Herrscher vermuten läßt. Nicht nur das Privatrecht gehört dazu, sondern z. B. das gesamte Privilegienwesen und vor allem der grundlegende Bestand der alten Herrschaftsrechte, auf denen die intermediären Gewalten beruhen. Gerichtsbarkeiten, Vogteien und sonstige "öffentliche" Befugnisse vermitteln ihren Inhabern subjektive Rechte, die sie mit Vehemenz zu verteidigen und in machtpolitischen Auseinandersetzungen oder vor den Reichsgerichten durchzusetzen wissen30• Im Wege polizeilicher Maßnahmen, und nur so, nämlich durch gemein27 ff.; Maria Dirks, Das Landrecht des Kurfürstentums Trier, 1965, S. 13, 102; Knemeyer, Polizeibegriffe (Fn. 16) S. 171 ff.; Heinz Lieberich, Die Anfänge der Polizeigesetzgebung des Herzogtums Baiern, in: Festschrift für Max Spindler, 1969, S. 331 ff.; Ebel, Geschichte der Gesetzgebung (Fn. 10) S. 63 ff. - Undeutlich insofern Wieacker, Privatrechtsgeschichte (Fn. 25) S. 198 u. 200. 27 Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre (Fn. 16), S. 99; Wieacker, Privatrechtsgeschichte (Fn. 25), S. 201 ff.; Scholz, Der brandenburgische Landrechtsentwurf (Fn.18) S. 17; vgl. auch Schmelzeisen, Polizeiordnungen und Privatrecht, 1955, S. 4 ff., 9; ders., Quellen II, 1 (Fn. 19) Einl. S. 6 ff., 11. 28 Edgar Loening, Gerichte und Verwaltungsbehörden in BrandenburgPreußen, 1914, S. 30 ff.; Max Springer, Die Coccejische Justizreform, 1914, S. 337 ff.; Wolfgang Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz in Preußen von 1749 bis 1842, 1962, S. 47 ff. Vgl. auch die Hinweise bei Johann Stephan Pütter, Litteratur des Teutschen Staatsrechts, Bd. 3, 1783, S. 545 f. 29 Genossenschaftsrecht I (Fn. 9) S. 643. Vgl. Gerhard Dilcher, Genassenschaftstheorie und Sozialrecht: ein "Juristensozialismus" Otto v. Gierkes? In: Quaderni Fiorentini per la storia del pensiero guiridico moderno 3/4 (1974/75) s. 319 ff., 333, 342. 3° Friedrich Hertz, Die Rechtsprechung der höchsten Reichsgerichte im römisch-deutschen Reich und ihre politische Bedeutung, in: MIOG 69 (1961) S. 331 ff.; Bernhard Diestelkamp, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts, in: Rechtsgeschichte als Kulturgeschichte, Festschrift für Adalbert Erler zum 70. Geburtstag, 1976, S. 435 ff., Willoweit, Rechtsgrundlagen, (Fn. 3) S. 185 ff. u. passim. - Zum Thema Absolutismus und Recht vgl. auch Scheyhing, Verfassungsgeschichte (Fn. 8), S. 61 f.: "Das absolute Regiment des Monarchen ... stellt eine ... abgesicherte politische Machtlage dar ... Man darf also vermuten, daß die Gegenpositionen zum System der absoluten Monarchie im Bereich des Rechts zu finden sind." 2•
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wohlorientierte Politik, kann der Landesherr die alten Rechte zwar unterlaufen und aushöhlen. Aufheben kann er sie nicht. Politisches Denken und traditionelles Recht treffen sich nur selten auf einer gemeinsamen Ebene, wo erfolgreich gestritten und die Aufhebung alten Rechts erreicht werden könnte31 • Die territorialen Herrschaftsrechte in den Händen des Adels, der Kirchen und der Städte sind in ihrer Substanz von privaten Rechten, etwa dem Eigentum, nicht unterscheidbar und wie dieses aller Politik vorgegeben. Man möchte dieses System subjektiver Rechte die wahre Verfassungsordnung des frühmodernen Staates nennen, die aus sich heraus nicht verändert, sondern nur durch revolutionäre Eingriffe beseitigt werden konnte. - Auch die Souveränitätslehre mußte diesen Tatbestand zunächst hinnehmen. Ihre Umsetzung in Regeln praktischer Jurisprudenz war ja ein langwieriger Prozeß, an dessen Anfang recht bescheidene Kataloge einzelner actus superioritatis standen und dessen Abschluß die deduktive Herleitung aller vom Gemeinwohl geforderten Hoheitsrechte aus dem Begriff der höchsten Gewalt bildete32• Bis sich diese Überzeugung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts durchsetzte, gab es kein juristisches Instrument, das dem Landesherrn die grundlegende Neuordnung der alten Rechtsverhältnisse erlaubt hätte. Ein Weiteres schließlich kommt hinzu. Die subordinierten Gewaltträger stehen nicht als individuelle Inhaber subjektiver Rechte dem Landesherrn gegenüber, sondern in ständischer Verbundenheit mit ihresgleichen im selben Territorium und darüber hinaus. Zur Sphäre des Rechts gehört die horizontal zu denkende Standesordnung, die sich mit der vertikalen Herrschaftsstruktur der Landesobrigkeit überkreuzt. In den Landständen hat dieses soziale Ordnungsprinzip seine dichteste institutionelle Ausformung erfahren. Daß es vielfach, durchaus nicht immer, gelingt, die landständischen Versammlungen faktisch zu entmachten, ist auf eben jenes schon erörterte politische Ordnungsmonopol des Landesherrn zurückzuführen, der allein entscheidet, was dem gemeinen Besten frommt. Ganz folgerichtig vermag sich daher der Primat der Politik dort nicht durchzusetzen, wo die Vollendung der absoluten Herrschaft am altständischen Wesen scheitert33• Die Stände sind aber 31 Vgl. aber das Beispiel in Fn. 18. Seit Thomas von Aquin begegnet die Berufung auf die publica utilitas, das bonum commune u. ä. Prinzipien auch in der juristischen Literatur, vgl. dazu Scholz, Der brandenburgische Landrechtsentwurf (Fn. 18) S. 104 ff. Das tatsächliche Ausmaß der juristischen lnstrumentalisierung des Gemeinwohlgedankens ist derzeit noch nicht absehbar. a2 Willoweit, Rechtsgrundlagen (Fn. 3) S. 173 ff. 33 Rudolf Vierhaus, Land, Staat und Reich in der politischen Vorstellungswelt deutscher Landstände im 18. Jahrhundert, HZ 223, 1976, S. 40 ff. ; ders., Ständewesen und Staatsverwaltung in Deutschland im späteren 18. Jahrhundert, in: Dauer und Wandel der Geschichte, Festgabe für K. v. Raumer, 1966,
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nicht nur im Recht ihres Territoriums verankert. Vor allem die Ritter, Kleriker und Handwerker, aber auch die Korporationen und Anstalten selbst, wie Städte, Zünfte, Klöster, selbst mediate Bistümer, sind durch vielfältige Rechtsbeziehungen mit den Standesgenossen anderer Territorien oder supraterritorialen Einrichtungen verbunden. Erinnert sei nur an die weitreichenden Lehensbeziehungen und dazu gehörigen Anwartschaften der Ritter, an die Oberhofsysteme, an die Hauptladen der Zünfte, an die kirchlichen Privilegien, Orden und Metropolitanbezirke34. In allen diesen Erscheinungen, die nicht zufällig viel mit Rechtszug und Gericht zu tun haben, lebt eine ganz andere Ordnung des Rechts weiter, die mit Untertänigkeit und Polizei, Gemeinwohl und Politik nichts zu tun hat. Das Spannungsverhältnis zwischen staatlicher und intermediärer Gewalt drückt sich daher nicht so sehr in vertikalen Konflikten zwischen Landesherr und einzelnen subordinierten Herrschaftsträgern aus. Das mit größter Energie verfolgte Ziel der Staatsgewalt war es vielmehr, die latent vorhandene Gefahr horizontaler, die Territorien übergreifender Gegenstrukturen ständischen Charakters zu bekämpfen. Ständische Zusammenschlüsse in der süddeutschen Ritterschaft hatten im 15. und 16. Jahrhundert Landesherrschaften gesprengt. Diese Vorgänge waren unvergessen und in den Streitigkeiten mit der S. 337 ff.; Gerhard Oestreich, Die verfassungspolitische Situation der Monarchie in Deutschland vom 16. bis 18. Jahrhundert, in: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, 1969, S. 253 ff., 270 ff.; Leo Just, Stufen und Formen des Absolutismus, HJ 80, 1961, S. 143 ff., Neuabdruck in: Hubatsch, Absolutismus (Fn. 3) S. 288 ff., 298; Störmer, Territoriale Landesherrschaft (Fn. 3) S. 96 ff. Eine vergleichende Untersuchung eher landständisch als absolutistisch organisierter Territorien liegt bisher nicht vor. Vgl. aber Überblick und Problemaufriß bei Vierhaus, Ständewesen a. a. 0. - Auf eine Auseinandersetzung mit spezifischen Problemen des Ständestaates muß hier verzichtet werden. Zur jüngeren Diskussion vgl. aber Peter Blickle, Landschaften im alten Reich. Die staatlichen Funktionen des gemeinen Mannes in Oberdeutschland, 1973, und dazu Volker Press, Herrschaft, Landschaft und "Gemeiner Mann" in Oberdeutschland vom 15. bis zum frühen 19. Jahrhundert, in: ZGO 123 (1975) S. 169 ff. Umfassende Literaturhinweise bei Mitteis/Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte (Fn. 4) S. 283 f. 34 Zum neuzeitlichen Lehenswesen: Otto Prausnitz, Feuda extra curtem, 1929; Willoweit, Rechtsgrundlagen (Fn. 3) S. 253 ff. Oberhöfe: Mitteisf Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte (Fn. 4) S. 291 ; Eduard Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, 1954, S. 38. - Hauptladen: vgl. die Hinweise bei Hans Proesler, Das gesamtdeutsche Handwerk im Spiegel der Reichsgesetzgebung von 1530 bis 1806, 1954, Nr. 18 Z. 6 u. 25 a. Z. 6; Gustav SchmolleT, Das brandenburgische Innungswesen von 1640 - 1806, hauptsächlich die Reform unter Friedrich Wilhelm I., in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 1, 1888, H. 1. S. 57 ff., 75 f. u. H. 2. S. 21; Otto Hintze, Staat und Gesellschaft unter dem ersten König, in: ders. Regierung und Verwaltung, hrsg. v. Gerhard Oestreich, Bd. 3, 1967, S. 313 ff., 413. Kirchliche Gerichtsbarkeit: Willibald M. Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts, Bd. IV, 1966, S. 354 ff. - Mediate Bistümer: Dietmar Willoweit, Die Entstehung exemter Bistümer im deutschen Reichsverband unter rechtsvergleichender Berücksichtigung ausländischer Parallelen, in: ZRG (KA) 83, 1966,
s. 176 ff., 244 ff.
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Reichsritterschaft gegenwärtig35• Es galt nun, und hier auch über alles Recht hinweg, solchen Tendenzen jeden Ansatzpunkt zu entziehen. Den betroffenen Ständen und Korporationen stand nur noch der Landesherr gegenüber, ohne daß doch innerhalb des Territoriums die Verankerung des Standes im Recht angetastet wurde. Der Dualismus von Recht und Ordnung findet in der aufgeklärten Staatstheorie sein Ende. Erst im Kodifikationsgedanken wurde zugleich der moderne Legalismus geboren. Damit war nicht nur der Auftrag gegeben, mit Hilfe der Vernunft alle sozialen Beziehungen einer umfassenden Regelung zu unterwerfen, sondern überhaupt erst die Möglichkeit eröffnet, im Einklang mit dem Recht dieses selbst im Wege der Gesetzgebung neu zu schaffen36• Wir wissen, daß im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten dennoch die Standesordnung und damit wesentliche Elemente des überkommenen Rechts konserviert wurden. Obwohl nun der Weg zu einer Neuordnung des Staates theoretisch geräumt worden war, wurde er nicht beschritten. Damit stellt sich die weitere, für das Verständnis der hier erörterten Problematik entscheidende Frage nach dem sozialen Sinn der intermediären Gewaltverhältnisse, auf die man schließlich doch nicht verzichten wollte. 3. Der soziale Sinn intermediärer Gewalten, oder: Stand und "gute Polizei" Korporationen und lokale Obrigkeiten sind Schauplatz einer Fülle sozialer Aktivitäten. Das Leben der meisten Untertanen kann ohne die Einbindung in festgefügte Gruppen überhaupt nicht beschrieben werden. Es fällt daher nicht leicht, so etwas wie einen Aufgabenkatalog der intermediären Gewalten zusammenzustellen. Zu den öffentlichen, weil auf das Ganze des staatlichen Gemeinwesens bezogenen Funktionen gehört aber sicher erstens die Herstellung und Verteilung von Gütern, die sowohl als Urproduktion wie als Gewerbe überwiegend unter subordinierten Obrigkeiten durchgeführt wird. Diesen ist zweitens stets in eigenen Gerichten die Aufgabe der Konfliktlösung innerhalb des jeweiligen Personenverbandes zugewiesen. Und drittens nehmen diese Obrigkeiten auch insofern öffentliche Funktionen wahr, als sie über die Beachtung allgemeinerer Verhaltensnormen durch die ihnen unterworfenen Personen zu wachen haben. Mit der Zurückdrängung der korporativen Autonomie kommt dagegen dem ehemals 35 Volker Press, Die Ritterschaft im Kraichgau zwischen Reich und Territorium 1500 - 1623, in: ZGO 122 (1974) S. 35 ff. Willoweit, Rechtsgrundlagen (Fn. 3) S. 327 ff. 36 Vgl. dazu Carl Gottlieb Svarez, Vorträge über Recht und Staat, hrsg. von Hermann Conrad und Gerd Kleinheyer, 1960, S. 14 ff., 477 ff. Auch Svarez beachtet freilich noch die Grenze der iura quaesita.
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zentralen Gesichtspunkt der genossenschaftlichen Willensbildung keine nennenswerte Bedeutung mehr zu. Obwohl es unter sozialgeschichtlichen Aspekten vielleicht reizvoll wäre, lohnt es für unsere Fragestellung kaum, bei den erwähnten Funktionen länger zu verweilen. Es ist wiederum nur eine Konsequenz der überlieferten, rechtskonformen Verfassungsstrukturen, nicht aber Spezifikum des absolutistischen Obrigkeitsstaates, daß Produktion, Handel, Gerichtsbarkeit und daher im hergebrachten Rahmen auch die Reglementierung des sonstigen Verhaltens auf der unterstaatlichen Ebene bewältigt werden. Zentralistische, rein staatlich organisierte Territorien gibt es nicht und mangels solcher Gegenstücke läßt sich aus bloßen Funktionsbeschreibungen der tatsächlichen, dem Staat überall vorgegebenen intermediären Strukturen nichts gewinnen. Die Frage muß daher lauten: Kommt diesen subordinierten Gewaltverhältnissen mit ihren sozialen Funktionen im Ancien Regime ein spezifischer, aus dieser Epoche heraus erklärbarer Sinn zu oder sind diese Funktionen, ebenso wie ihr rechtlicher Rahmen ausschließlich traditionaler Art? Wiederum müssen wir also zur Zielsetzung und Ordnungsstruktur der staatlichen Sphäre zurückkehren und darauf sehen, wie sie sich gegenüber der traditionellen gesellschaftlichen Aufgabenverteilung verhält. Das Prinzip staatlichen Handeins ist die Politik, ihre Erscheinungsform die polizeiliche Ordnung. Was der Staat will, welche Rolle er den Korporationen und Obrigkeiten zuweist, ist also den vom Landesherrn gesetzten Ordnungen zu entnehmen. Ihre Auswertung bereitet bekanntermaßen große Schwierigkeiten, weil es dem Landesherrn - wie schon ausgeführt - überhaupt nicht um bestimmte Rechtsmaterien, sondern eben um Polizei, um Durchsetzung politischer Zielvorstellungen geht. Dennoch sind Schwerpunkte dieser Politik erkennbar und gerade ihre wichtigsten treffen unsere Problematik. Die Forschung hat als grundsätzliches Anliegen der Polizeiordnung längst die "Wiederherstellung gestörter Lebensverhältnisse" erkannt37• Damit ist vor allem das infolge sozialer Bewegungen in Unordnung geratene Ständewesen gemeint. Die reglementierenden Eingriffe der Landesherren richten sich bevorzugt gegen eingetretene oder drohende Veränderungen des standesgemäßen Verhaltens, Arbeitens und Wirtschaftens. Handwerker werden vor Unzünftigen geschützt, Adel, Geistlichkeit, zum Teil auch Beamte haben sich aller bürgerlichen Gewerbe 37 Knemeyer, Polizeibegriffe (Fn. 16) S. 160 ff.; Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre (Fn. 16) S. 99, wenig glücklich aber auf S. 104: die Polizeiordnungen "regeln alles, was sich ... der Selbstordnung der Ständegesellschaft entzogen hat und weiter entzieht". Solche Selbstordnung der Gesellschaft suchen die Polizeiordnungen gerade zu verhindern. Vgl. ferner Schmelzeisen, Polizeiordnungen und Privatrecht (Fn. 27) S. 4 ff.; Wolzendorff, Polizeigedanke (Fn. 16) S. 16 ff.; vgl. auch Maser in Fn. 16.
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zu enthalten, Hökerei darf nur der Bürger treiben, Zwischenhandel und Hausieren müssen überhaupt unterbleiben, Bauern sollen ihre Schafe dem Hirten übergeben, Bauerngüter dürfen vom Adel - je nach der Entwicklung des Gutslandes - erworben werden oder auch nicht38• Jeder soll "seiner Vorfahren Fußstapfen nachfolgen, damit unter Adel, Bürgern und Bauern ein Unterscheid zu finden sey" 39 • Zu dieser Nachfolge gehört nicht nur die Beachtung der traditionellen Standesgrenzen, sondern ebenso die selbstgenügsame Befolgung von Standespflichten, vor allem Gewinn und Warenqualität betreffend. Ergänzt wird diese Gesetzgebung durch die bekannten Maßnahmen gegen unwirtschaftlichen Aufwand und Müßiggang. Die intensiv betriebene Pflege der Standesordnung gibt sich dabei nicht als eine autonome Entscheidung des Landesherrn. Die vielfachen Bestimmungen über geistliche Sachen, über Predigt und Gottesdienst in den Polizeiordnungen selbst zeigen, daß der hier eingeschlagene politische Weg als Korrelat der christlichen Tugenden und Konsequenz christlichen Gehorsams erscheint40 • Dies alles ist mit den gängigen Vokabeln "Fürsorge" und "Bevormundung" nur unzureichend charakterisiert. Hier sind nicht Monomanen der Gesetzgebung am Werke, sondern Praktiker der Politik, in deren Verstande das gemeine Wohl die Erhaltung und Reformation der überlieferten Standesordnung erfordert. Darauf läuft also der aus der politischen Philosophie in die polizeiliche Praxis transferierte Gemeinwohlgedanke hinaus: daß der Untertan in seinem Stande verharren solle und dort gesichert werde. Das im Neuaristotelismus beschworene bonum commune verschmilzt in den Polizeiordnungen mit den älteren Traditionen der Landfriedensgesetzgebung und deren ordnungserhaltender Tendenz41 • Die in der staatswissenschaftliehen Literatur zuweilen geradezu kühn anmutende Perspektive des Gemeinwohls erscheint in der praktischen Politik eher als eine Vorstellung restaurativ-konservativen Charakters. Die Quellen lassen jedoch, vor allem nach dem 30jährigen Kriege, eine Akzentuierung der guten Polizei erkennen, die über den älteren Gedanken der bloßen Friedenswahrung hinaus38 In die Problematik führt, allerdings unter privatrechtsgeschichtlichem, nicht ständerechtlichem Aspekt ein: Schmelzeisen, Polizeiordnungen und Privatrecht (Fn. 27) S. 286 ff., 294 ff. Zu den erwähnten und ähnlichen Anordnungen ebda. und Schmelzeisen, Quellen (Fn. 19), II, 1 S. 621, 628, 633, 634, 635; II, 2 S. 109 u. ö. 39 Fürstl. sächsische Landeserdung (für Sachsen-Gotha) von 1666, II. Teil 111. Cap. XI. Tit. Ziffer 1, bei Schmelzeisen, Quellen (Fn. 19) II, 1 S. 621. 40 Vgl. die Vorrede zur gemeinen Landesordnung des Herzogtums Württemberg von 1621 bei Schmelzeisen, Quellen (Fn. 19) II, 1 S. 430, sächsische Landesordnung von 1666 ebda. S. 571 ff. u. ö.; ferner Wolzendorfj, Polizeigedanke (Fn. 16) S. 33 ff. 41 Vgl. dazu etwa die Bairische Landesordnung von 1553 bei Schmelzeisen, Quellen (Fn. 19), II, 1 S. 161 ff. und Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre (Fn. 16) S. 105.
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geht. Nicht nur beiläufig ist immer wieder von der "Nahrung" der Betroffenen die Rede, die nicht gefährdet werden dürfe und daher zu schützen sei42 • Die Untertanen sollen fromm, fleißig und bescheiden im hergebrachten Stande ihr Auskommen finden und Steuern zahlen. Sie sollen nirgendwohin aufsteigen, aber auch nicht Not leiden und das Heer der Vagabunden vergrößern. Die Sozialordnung ist als ein extrem statisches Gebilde gedacht, in dem- soweit irgend möglich- die Freiheit gesellschaftlicher Bewegungen unterbunden wird. Die einzelnen Individuen sind nicht privatautonome Subjekte des gesellschaftlichen Prozesses. Die grundlegenden Entscheidungen ihres sozialen Daseins sind ihnen in den beschränkten Möglichkeiten des ständischen Systems stets vorgegeben. Der Staat gewährleistet die Nahrung und ermöglicht den Untertanen, der christlichen Hoffnung nachzuleben. Der durch den Landesherrn handelnde Staat kennt im Grunde genommen Zweck und Ziel des menschlichen Daseins am besten. Er vermittelt daher das irdische Glück. Dies ist der Grund der von Gerhard Gestreich so eindrucksvoll beschriebenen Sozialdisziplinierung im Zeitalter des Absolutismus43. Weil die Frage nach dem Ziel menschlicher Existenz nicht individueller Entscheidung anheim gegeben wird, sondern auf der sozialen Ebene immer schon beantwortet ist, sieht sich die staatliche Gewalt zu disziplinierenden Maßnahmen gedrängt. Die Identität von individueller und sozialer Existenz aber impliziert die Identität von Gesellschaft und Staat. In dieses Koordinatensystem von Polizei und Untertänigkeit, Stand und Nahrung sind auch die intermediären Gewalten einzuordnen. Sie sind gewiß nicht die essentiellen Substrate des absolutistischen Staates und auch nicht die primären Faktoren seiner Politik. Die Aufmerksamkeit des Landesherrn ist zu allererst auf die Stände gerichtet. Seine Ordnungen betreffen vorzugsweise Händler, Handwerker, Wirte, Apotheker, Juden, Gesinde, Bergleute usw. Ob diese unter besonderen Obrigkeiten oder Korporationen stehen oder solche überhaupt nicht kennen, ist für den standespolitischen Zweck der erlassenen Gebote zunächst ohne Bedeutung. Aber es braucht nicht weiter ausgeführt zu werden, daß die Stabilität vieler Stände in hohem Maße von der Funktionstüchtigkeit der zugehörigen korporativen oder obrigkeitlichen Organisationsformen abhängig war. Die Handwerkerschaft hätte ohne Zunft, die Kaufmannschaft ohne Stadt, das Gesinde ohne Herrschaft in die Autonomie des Privatrechtssubjekts entlassen werden müssen. Gerade die wirtschaftlich wichtigen und großen Berufsgruppen sind subordinierten Gewaltverhältnissen unterworfen, während die RechtsSchmelzeisen, Polizeiordnungen und Privatrecht (Fn. 27) S. 294 ff. Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, in: Geist und Gestalt (Fn. 3) S. 187 ff. 42
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verhältnisse der seltener auftretenden Apotheker und Wirte z. B. individuell durch Privilegien geregelt werden. Restaurative und reformatorische Maßnahmen der guten Polizei zielen also nicht speziell auf die Neuordnung der Korporationen und Obrigkeiten, sondern auf die Erhaltung des ständischen Systems und der von ihm vermittelten Nahrung. Sie müssen sich aber zur Realisierung dieser Politik der nichtstaatlichen Mächte bedienen und dies auch dort, wo - wie etwa gegenüber den Zünften - die kritische Distanz des Landesherrn zu bestimmten Korporationen unverkennbar ist44 • Obwohl die ständischen Obrigkeiten historisch auf einem verlorenen Posten standen und mit der Durchsetzung von Souveränität und allgemeiner Untertänigkeit ihre Rechtfertigung im Repräsentationsgedanken suchen mußten45 , bildeten sie doch bis dahin ein nicht hinwegzudenkendes Stück der staatlichpolitischen Ordnung. Der geschilderte Zusammenhang von Polizei, Stand und intermediärer Gewalt bestätigt sich schließlich auch bei der Entstehung neuer Stände im 18. Jahrhundert. Die Rechte und Pflichten der Hofbeamten, Soldaten und z. T. auch der Manufakturarbeiter können kaum anders gesichert werden als durch die Begründung neuer Gewaltverhältnisse mit eigener Binnenordnung und Jurisdiktion. Dabei wird die partielle Zerstörung alter Korporationen, in den genannten Fällen vor allem der städtischen Jurisdiktion, in Kauf genommen. Die Aufsplitterung der jurisdiktioneilen Gewalt ist geradezu ein Kennzeichen der neuzeitlichen Stadtverfassungsgeschichte48 • Die sich neu herausbildenden Formen folgen aber den alten Mustern mit manchen Varianten, weil ein Stand der rechtlichen Verankerung bedarf und dazu mangels einer tatsächlich gleichen Untertänigkeit auf die Schaffung jeweils besonderer Gewaltverhältnisse zurückgegriffen werden muß - wenn man nicht zu Einzelprivilegien Zuflucht nehmen will. Der Staat des Ancien Regime war also nicht lediglich eine Präfiguration moderner Staatlichkeit, der in Gestalt subordinierter Mächte noch einige Reste vorstaatlicher Existenz anhafteten. Er war deswegen ein Staatswesen eigener Prägung, weil er nach dem Untergang der Reichsidee, aber vor dem Sieg der Aufklärung, zum letzten Mal die Einheit von individueller und öffentlicher Moral, von ständisch-korporativer und politischer Überzeugung zu realisieren versuchte. Insofern repräsentiert dieser Staat zugleich die letzte legitime Herrschaftsordnung vor der Problematisierung der Legitimität. Zwar hat Hasso Hofmann vor kurzem mit Recht darauf hingewiesen, daß sich die Legitimitätsfrage 44 Moritz Meyer, Geschichte der preußischen Handwerkerpolitik, Bd. 1 - 2, 1884- 1888, Bd. 1 S. 73 ff., 107 ff. 45 Hasso Hofmann, Repräsentation, 1974, S. 345. 46 Adolf Zycha, Deutsche Rechtsgeschichte der Neuzeit, 1949, S. 131 ff.
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erst, aber auch schon mit der Souveränitätslehre stelle47 • Dies gilt aber zunächst nur für die Staatstheorie, deren Diskussionen den hier gemeinten Staat des Absolutismus begleiteten. Als Verfassungsproblem wird die Frage nach der Legitimität erst mit der tatsächlichen Verwirklichung der Souveränität im aufgeklärten Gesetzgebungsstaat akut, da erst jetzt der Staat die Herrschaft über die Rechtsordnung antritt. Zusammenfassend ergeben sich etwa die folgenden Thesen: 1. Die Staatsrechtslehre des 17. Jahrhunderts geht von einem einheitlichen Untertänigkeitsverhältnis aus. Im Gegensatz zu dieser wissenschaftlichen Konzeption von der summa potestas und subjectio kann der Landesherr auf der Grundlage seiner Herrschaftsrechte nur in deren jeweiligem Umfang auf seine Untertanen einwirken. Die intermediären Gewalten beruhen auf herrschaftlichen und korporativen Rechten, die mit Gebot und Verbot häufig die gesellschaftlich effektivere Rechtsmacht vermitteln als die alten landesherrlichen Rechte. 2. Der landesherrlichen Gewalt wird mit der guten Polizei eine neue Wirkungsebene eröffnet. In ihr vereinigt sich die ältere Landfriedensidee mit der Aristotelesrezeption zu einer praktischen Politik, deren theoretische Konzeption an das Gemeinwohl gebunden ist. Die intermediären Gewalten wandeln sich von korporativen zu obrigkeitlichen Verfassungsformen, weil nicht die Genossenschaft, sondern nur der Landesherr die vom Gemeinwohlgedanken bestimmte Politik in praktische Regeln umsetzen kann. Sie bleiben gleichwohl bestehen, weil sie als Teil der Rechtsordnung selbst nicht durch die politischen Instrumente des Landesherrn beseitigt werden können. 3. Der Dualismus von Recht und polizeilicher Ordnung hat nicht materiell-rechtliche, sondern funktionale Gründe. Er wird erst im aufgeklärten Legalismus mit der Identifizierung von Recht und Gesetz aufgehoben. Damit wurde den intermediären Gewalten die bisherige Verankerung in der Rechtsordnung entzogen. 4. Ziel der landesherrlichen Polizei ist die Erhaltung von Stand und Nahrung. Autonome gesellschaftliche Bewegungen werden damit weitgehend ausgeschlossen. Den Untertanen ist diese Entscheidung über den Sinn ihrer sozialen Existenz vom Landesherrn vorgegeben. Die intermediären Gewalten nehmen seit altersher Funktionen der Güterproduktion und -verteilung, der Konfliktlösung und der Verhaltenskontrolle wahr. Als Stabilisatoren der ständischen Ordnung werden sie in die landesherrliche Politik integriert. 47
Hasso Hofmann,
Legitimität und Rechtsgeltung, 1977, S. 16.
Aussprache Scheuner: Der schöne Überblick, den wir gehört haben, trifft, wie ich meine, auf das Bild des frühmodernen Staates des 17. bis etwa zur Mitte des 18. Jahrhunderts im wesentlichen zu. Es ist ganz richtig, daß der Absolutismus nicht darauf ausgegangen ist, die vorgefundenen mittelalterlichen Formen zu zerstören. Er hat sie überformt, das ist etwa der Gedanke des Policeyrechtes, er hat sie aber nicht beseitigt, schon deshalb nicht, weil er, worauf der Vortragende hingewiesen hat, gar keine so tief in das Volk reichenden Organe besaß. Er mußte sich auf diese Gewalten stützen, wenn er überhaupt seine Ordnung fundieren wollte. Es scheint mir allerdings wohl richtig zu sein, daß man die neuen Elemente, die der moderne oder der aufsteigende absolute Staat verkörpert, nicht allein mit dem Begriff des Gemeinwohls identifizieren kann. Der Begriff des Gemeinwohls ist sicher ein älterer. Er ist schon für den mittelalterlichen Staat vorgegeben, wir brauchen nur etwa an Marsilius zu denken, wo das ganz ausdrücklich vorkommt. Ich würde also meinen, der neue Gedanke liegt weniger im Gemeinwohl als in der Vorstellung einer überhaupt aktiven Sorge, wie sie hier im Begriff der Policey sich verkörpert, den ich etwas weiter als der Vortragende auffassen würde. Policey ist nicht etwa, wie im späteren Sinne und wie man es heute versteht, Beseitigung von Störungen, sondern ist im Gegenteil Herbeiführung der guten Ordnung. Policey ist eigentlich als Verwaltung zu übersetzen. Es ist der Terminus, der das bezeichnet, was Administration, was Verwaltung seit dem späten 18. und 19. Jahrhundert ist, so daß Policey bedeutet, der Fürst kümmert sich aktiv, wie es der Vortragende völlig richtig umschrieben hat, um Erhaltung der guten Ordnung, womit Gesundheit, Zuwanderung von Fremden, Vagabundenwesen, Armenwesen eingeschlossen sind. Ich würde dem Vortragenden auch darin zustimmen, daß die sozialen Funktionen dieser Ordnungen, die vorgefunden und benutzt wurden, durchaus erhalten blieben, denn ohne sie wäre eine lokale Befriedung, eine lokale Disziplinierung der Bevölkerung gar nicht denkbar. Daß der Staat allmählich diese Ordnungen fester an die Hand nahm, hat Herr Willoweit mit Recht betont. Die Magistrate der Städte werden immer mehr gegängelt, werden schließlich in den größeren Territorien beinahe durch die Amtsleute und anderen fürstlichen Beamten regiert, fast mehr als durch die herabgekommenen und vielfach oligarchischen Stadtmagistrate. Die Gutsherrschaft bleibt unabhängiger, wohl vor
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allem deswegen, weil der Staat an der Erhaltung des Adels ein so großes Interesse besaß, daß er diesem Stand niemals zu nahe treten konnte. Erst der aufgeklärte Absolutismus hat mit der Beseitigung der Leibeigenschaft in der Tat eine völlige Innovation herbeigeführt, die jenseits des Zeitabschnittes dieses Vortrages liegt. Und endlich zur Frage Rechtsordnung und Polizei. Es ist richtig, daß das alte Recht, das alte Herkommen erhalten bleibt und sich verkörpert in dem, was eine spätere Jurisprudenz etwa als Eigentum oder wohlerworbene Rechte definiert. Dieser Begriff reichte sehr viel weiter als unser heutiges privates Eigentum. Er umfaßte die Fülle der Gerechtigkeiten, Mühlengerechtigkeiten und gutsherrliche Rechte, er umfaßte natürlich auch die Gutsherrschaft selbst mit der an ihr hängenden Gerichtsbarkeit, die für den Gutsherrn eine Einnahmequelle war. Die Frage, wie weit der Fürst in diesem Bereich durch seine Gesetze eingreifen kann, ist eine sehr offene. Ich glaube, daß die Macht hierzu ihm im Ausland sehr viel früher zustand, in der englischen und französischen Entwicklung sicher schon im 16. Jahrhundert, in der deutschen Entwicklung infolge des altertümlicheren Herkommens wohl später. Hier ist in der Tat der Widerstand dieses ständischen Geflechtes, das uns der Vortragende so schön vor Augen geführt hat, ein infolge auch der Bindung der Landesgewalt an das Reich und infolge dieser vielfältigen Verästelungen durchaus nachhaltiger. Wieweit der Fürst in der Lage gewesen wäre, diese Rechte schon im 17. Jahrhundert aufzuheben, ist eine wahrscheinlich in der Forschung noch offene Frage. Der Fürst konnte jedenfalls Ausnahmen von der überkommenen Ordnung schaffen. Er konnte ohne weiteres seinen Leibarzt, oder einen Hofhandwerker, der Zunft aufdrängen. Der Fürst war schon in der Lage, auch die eigenen korporativen Ordnungen zu durchbrechen. Die Fabrikanten haben das gut genutzt; diejenigen Leute, die Erfindungen machten und die Fabriken anlegten, wurden entweder von den Zünften freigestellt oder erhielten solche zusätzlichen Zunftstellen. Ich will nur noch einen Punkt anschneiden. Sie haben einen wichtigen Punkt ausgespart. Zwar erscheinen bei Ihnen die Klöster, aber nicht die Kirchen. Die Kirche war unter diesen intermediären Gewalten in der Tat ein etwas schwer zu bändigender Gegenstand. Erst der aufgeklärte Absolutismus ist mit ihr fertig geworden. In der Tat war für das 16. Jahrhundert die evangelische Kirche bereits abhängig. Weil die Reformation sie in die Hände des Landesherrn gespielt hatte, war sie keine Macht mehr in dem Sinne, daß sie selbständig gegen den Landesherrn hätte vorgehen können. Die katholische Kirche war wesentlich stärker. Denn sie hatte einen internationalen Zusammenhang, den niemand abschneiden konnte. Alle Landesherrn waren daher bei der katholischen Kirche genötigt, mindestens doch ihre landesherrlichen Rechte immer wieder in einem ständigen Kampfe
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gegen Rom auszubauen und allmählich zu befestigen. Auch hier ist erst der aufgeklärte Absolutismus mit fast brutaler Rücksichtslosigkeit vorgegangen. Aber kann man nicht sagen, daß auch die Kirche diesem Prozeß der Domestizierung unterliegt? Auch sie wird aus einem eigenen theologischen Reich, das sie bei Luther noch war, zu einem Helfer des Landesherrn. Dietrich: Nach diesem Koreferat von Herrn Scheuner bleibt jetzt wohl nicht mehr viel zu sagen. Hier fehlt nur noch ein Begriff, den ich sowohl bei Herrn Willoweit wie bei Herrn Scheuner vermißt habe. Weshalb hat man diese intermediären Gewalten beim Aufbau des modernen Staates nicht einfach beseitigt oder sie völlig integriert? Als ich mich aus einem ganz anderen Anlaß heraus mit den politischen Testamenten der Hohenzollern beschäftigt habe, mit der Problematik und der Genesis des preußischen Staatsgedankens in den politischen Testamenten der Hohenzollern, ist mir dieser Begriff deutlich geworden, der nicht nur auf die Hohenzollern anwendbar ist, sondern auch auf das gesamte deutsche Fürstentum bis zum ausgehenden 17. und Anfang 18. Jahrhundert, nämlich der Gedanke der religiösen Verantwortlichkeit, der Verantwortung der staatlichen Gewalt fürs Recht. Das ist m. E. ein Gesichtspunkt, den man nicht außer acht lassen darf, denn alle diese Gewalten, um die es sich hier dreht, sind ja in dieser Sicht irgendwie in das göttliche Koordinatensystem weltlicher Gewalt mit eingebaut. Und auch sie darf man aus diesem Grunde schon, weil sie eben in diese göttliche Ordnung hineingehören, nicht ohne weiteres beseitigen, sondern man muß versuchen, sie weiter zu entwickeln und sie einzuordnen. Also der Gesichtspunkt der göttlichen Verantwortung des Herrschers, der alles das, was er tut, vor dem nach wie vor sehr persönlich verstandenen Gott zu vertreten hat. In den politischen Testamenten des 17. Jahrhunderts tritt das außerordentlich deutlich hervor, d. h. noch bis in das erste Viertel des 18. Jhs. hinein. In der Spätzeit der Aufklärung ist es natürlich anders. Ich glaube, darüber brauchen wir gar nicht zu reden.
Böckenförde: Ich möchte zum zweiten Abschnitt Ihrer Ausführungen etwas sagen. Mir leuchtet die von Ihnen gebrachte Differenzierung zwischen Recht und Gebot, Recht und Ordnung gerade für das 17. und 18. Jahrhundert sehr ein. Möglicherweise führt sich hierin die ältere, dem Mittelalter geläufige Unterscheidung fort zwischen dem Gebieten kraft Bannrechts, aus irgendeiner Bannbefugnis heraus, und dem Weisen, Wahren, Sprechen des Rechts, was in den Bereich der jurisdictio gehört. Im 17. und 18. Jahrhundert liegen, wenn ich recht sehe, zwei grundsätzlich unterschiedene Rechtsbegriffe in Auseinandersetzung mitein-
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ander und realgeschichtlich in einer Gemengelage. Von der Theorie des modernen Staates her wird das Recht als Legalordnung, die zweck-. orientiert ist, begründet. Als Anordnung für Zwecke wird es seinem Charakter nach Gebotsrecht, das Gesetz wird, wie Ebel gezeigt hat, zunehmend als Gebot des Landesherrn definiert. Hobbes sagt schon ganz präzis, damit noch nicht die Wirklichkeit treffend, sondern einen Anspruch formulierend: lex est mandatum. In dem Maße, in dem der Landesherr diesen Gesetzgebungsanspruch, den die politische Theorie ihm zusprach und zuargumentierte, zu realisieren vermochte, kommt es zur Umformung von Recht in Gesetz. Ich würde Ihnen zustimmen, daß am Ende des 18. Jahrhunderts das in der Theorie vollzogen ist und dann auch praktisch, z. B. im preußischen Allgemeinen Landrecht, niedergelegt wird. Im 13. Titel des zweiten Teils finden wir das sehr deutlich, wenngleich die tatsächliche Macht auch hier noch nicht ausreichte, um das überall, etwa auch gegenüber der Grundherrschaft, durchzusetzen. Dies ist aber nur die eine Seite des Vorgangs. Auf der anderen Seite steht, was auch Herr Dietrich eben angesprochen hat, die Bindung und Verankerung des Fürstenamtes in einer religiösen Verantwortlichkeit. Diese Bindung und Verantwortung war eine Brücke für die Umformung des Rechts in Gesetz. Der Träger des Rechtsetzungsanspruchs, - von überlieferten Auffassungen her etwas Ungeheuerliches - war seinerseits noch unbestritten rückgebunden in die göttlich gefügte Weltordnung und verfügte daher über eine besondere Legitimationsgrundlage, diesen Anspruch zu realisieren und für das Zeitbewußtsein hinnehmbar zu machen. Von der alten Legitimationsgrundlage des Rechts her war der Monarch, auch der zum Absolutismus strebende Monarch, kein Revolutionär, sondern er stand in der göttlichen Weltordnung noch darin, als Träger eines besonderen Amtes (Obrigkeit). Gerade deshalb konnte er diese Veränderungen und Umformungen ins Werk setzen, ohne daß es zu einer ernsthaften politischen Krise kam. Das besagt nichts dagegen, daß der Prozeß der Durchsetzung sehr lange gedauert hat und für den normalen Landesherrn die Unterscheidung von Recht und Ordnung noch lange in Geltung war. Auch die praktischen Juristen sind ja erst allmählich dazu gekommen, aus den einzelnen Eingriffsbefugnissen, die im ius eminens zusammengefallt wurden, einen allgemeinen Rechtstitel als Vehikel zur Realisierung von Souveränität zu machen.
Dilcher: Mich hat es sehr beeindruckt, wie Herr Willoweit durch Herausarbeitung von zueinander und gegeneinander gelagerten Grundprinzipien das weitgespannte und komplexe Thema für uns hier greifbar gemacht hat - Grundprinzipien, die eben nicht nur in einem systematischen und logischen Verhältnis zueinander stehen, sondern
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sich auch in ihren ganz realen politischen und sozialen Konsequenzen zueinander verhalten und eventuell auch sich ausschließen. - Ich wollte aber Zweifel anmelden, ob der Gemeinwohlbegriff wirklich in einem so scharfen Gegensatz zum Konsensprinzip der Genossenschaft steht, wie es hier dargelegt wurde. Ich meine, der Begriff des Gemeinwohls findet sich vor dem Absolutismus nicht nur- auf einer recht abstrakten und theoretischen Ebene - in mittelalterlichen Fürstenspiegeln und staatstheoretischen Traktaten, sondern sehr viel konkreter in der mittelalterlichen Stadt, also einem aus genossenschaftlicher Wurzel gewachsenen Gemeinwesen. In städtischen Ratsverordnungen, die ja weitgehend das Vorbild landesherrlicher Polizeiordnungen sind, scheint mir die Berufung auf das Gemeinwohl oft im Sinne einer Konsensstrategie des Stadtrates gegenüber der Gesamtbürgerschaft verwandt, und zwar nicht einfach im Sinne einer Herrschaftsideologie, sondern begründet auf dem Erlebnis bürgerlicher Gemeinsamkeit gegenüber einer andersartigen adlig-bäuerlichen Umwelt. Es mag dann sein, daß seit dem Ende des Mittelalters auch der Rat mehr obrigkeitliche Formen annimmt und den Gemeinwohlbegriff in diesem Sinne einsetzt.
Baumgart: In Ihrer groß angelegten Konzeption, Herr Willoweit, vermisse ich den Freiheitsbegriff als ein Element der Charakteristik autonomer Gebilde, wie es die intermediären Gewalten in vielen Teilbereichen gewesen sind, vom Anspruch her freilich stärker als von der Realität. Aber auch in der politischen Theorie des 18. Jahrhunderts hat Montesquieu dieses Freiheitselement ganz stark betont. Freiheit ist für ihn ein Attribut, das er allen "gemäßigten" europäischen Monarchien ohne weiteres einräumt, von dem er lediglich asiatische Despotien ausklammert. Ihre Betrachtungsweise, Herr Willoweit, will mir ein wenig als die Betrachtungsweise "von oben", vom Zentrum der Monarchie her, erscheinen, nicht als die der Betroffenen, die Perspektive "von unten" fehlt. Herr Gestreich hat in seiner Abhandlung über "Strukturprobleme des europäischen Absolutismus" m. E. zu Recht betont, daß wir die Verfassungsprozesse nicht nur aus der Loge des Monarchen, sondern gelegentlich aus dem Parterre betrachten sollten. Beispielsweise könnten wir auf die landsässige Ritterschaft eines geistlichen Territoriums oder auf die freie Reichsritterschaft in ihren Verbänden am Ende des Alten Reiches oder sogar auch auf die gutsherrlich angesessenen Kreisstände in den brandenburg-preußischen Provinzen zurückgreifen - überall ließen sich Elemente solcher verbliebenen "korporativen Freiheit" (K. v. Raumer) konstatieren, sogar unter König Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. Herr Scheuner hat rechtens darauf hingewiesen, daß der Adel als integrierendes Element der vorrevolutionären Gesellschaft unabschaffbar war. Und mit dieser Adelsexistenz ist natürlich auch ein autonomer Freiheitsbereich verbunden
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gewesen. Insofern ist es wohl angebracht, über der von Ihnen mit vollem Recht herausgearbeiteten Perspektive die andere, jedenfalls als Folie und als Hintergrund, nicht ganz zu vergessen. Nur darauf kam es mir an. Schlaich: Die Freiheitsthematik veranlaßt immer wieder zu der Frage: Zeigen sich von diesen Rechten der Untertanen irgendwelche Verbindungslinien zu den Grundrechten, gibt es einen Übergang vom ständischen Recht zum Grundrecht? Herr Willoweit, stellen Sie nicht das Gemeinwohlprinzip doch zu eng und einseitig in einen Zusammenhang mit dem Absolutismus? Dazuim Anschluß auch an Herrn Dilcher - ein Beispiel aus dem Staatskirchenrecht der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts: Die damalige protestantische "Kollegialtheorie"- eine Lehre der Aufklärung über das Wesen der Kirche, ihr Recht und ihr Verhältnis zum Staat- verwendet den salus publica-Begriff gerade dazu, die Eingriffsrechte des Landesherrn in das territoriale Kirchenwesen zu begrenzen. Die Kirchenaufsicht des Landesherrn soll nur dem Ziel der Bewahrung der salus und tutela publica dienen und gibt dem Landesherrn so nur iura negativa. Durch diese Begrenzung des landesherrlichen Eingriffsrechts wird eine Art Freiraum geschaffen für eine Konsensbildung in der Kirche nach eigenem Maßstab und eigenem Bekenntnis (bis hin zum pietistischen Konventikelwesen) - Konsens an der "Basis". Der salus publicaBegriff hat hier durchaus eine "konstitutionelle" Bedeutung. Dann die zweite Frage, ob Sie das Verhältnis von Recht und Ordnung mit Ihrer These, das Recht sei der Politik vorgegeben, nicht etwas zu statisch sehen. Das Recht (im Sinne auch der Rechte der Untertanen) wird auch in den Dienst der Politik gestellt, es wird geltend gemacht um der besseren politischen Ordnung willen. Ein Beispiel dazu - allerdings aus dem Verhältnis Territorium - Reich: Nach Art. V §52 des Westfälischen Friedens von 1648 ist in den Reichstagskollegien die Beschlußfassung durch Mehrheitsabstimmung (pluralitas votorum) unter anderem dann ausgeschlossen, wenn die Stände des Reichstags bezüglich der zu entscheidenden Angelegenheit nicht als "unum corpus" angesehen werden können. Diese Formel hat man dahingehend interpretiert, daß der Tatbestand gegeben sei, wenn ein Reichsstand oder eine Gruppe von Reichsständen ein ius singuli geltend mache. Dieses ius singuli wird natürlich ganz zeitgemäß auch "statisch" zum Zwecke der Verteidigung von Privilegien, zur Besitzwahrung, geltend gemacht, aber nicht nur. In der Auseinandersetzung zwischen den Religionsparteien ist es ein Titel zur Verfolgung politischer Ziele und zur Neuordnung der konfessionellen Angelegenheiten. Die protestantische Minderheit beim Reichstag beruft sich seit 1529 darauf, daß in Religionsangelegenheiten ein jeder Reichsstand unmittelbar vor Gott und seinem Ge3 Der Staat, Belheft 2
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wissen stehe und sich deshalb einer ihm widrigen Mehrheitsentscheidung nicht beugen könne. Das ging in Art. V §52 IPO ein. Mit dem "ius singuli" wird der altgläubigen Mehrheit die Möglichkeit genommen, die erreichte Reformation im Reich bzw. in den einzelnen Territorien wieder rückgängig zu machen und den Protestanten die Möglichkeit verschafft, die konfessionellen Angelegenheiten in den Territorien und auch im corpus Evangelicorum innerhalb des Reichstags reformatorisch - "progressiv" i. S. des nicht-statischen - vorwärtszutreiben. Also: ius singuli, Geltendmachung von Rechten um der politischen Ordnung willen.
J anssen: Es geht um das Problem, ob die intermediären Gewalten die Untertanen tatsächlich lückenlos gegen die zentrale Territorialgewalt abschirmten. Kennzeichnend für den frühabsolutistischen Staat scheint mir vielmehr, daß er teilweise durch intermediäre Gewalten vom direkten Zugriff auf die Untertanen abgeblockt war, teilweise aber unmittelbar nach unten durchschlug, mithin zu einem Teil Staat im Vollsinne des Begriffs, zum anderen Teil ein von Traditionshemmungen deformierter Staat war. Diese strukturelle Unausgeglichenheit mußte ihre Konsequenzen für das haben, was hier "Polizei" genannt worden ist. Das Phänomen der unterschiedlichen Intensität der Staatlichkeit in einem Staat erklärt sich m. E. aus dem Rückschlag, den die zum modernen Staat drängende Entwicklung im 15. Jh. erlitten hat. Im Zusammenhang damit steht die Frage der Korporationen. Hier werden wir unterscheiden müssen zwischen Korporationen, die reine Personenverbände darstellen und ihren mittelalterlichen Ursprung nicht verleugnen, und Korporationen mit einem territorialen Substrat (Landstände z. B.). Bei letzteren handelt es sich in der Regel um Sekundärbildungen, bei deren Entstehung ein erhebliches Maß an herrschaftlicher Initiative mitgespielt hat und denen ein herrschaftlich strukturiertes Ordnungsgefüge bereits vorgegeben war. Es scheint mir gefährlich, beide Typen von Korporationen in einen Topf zu werfen. Wahl: Ich möchte eine Bemerkung zum dritten Teil Ihres Vortrages machen. Sie haben dort als Ziel der Polizeiordnungen vor allem die Pflege der Ständeordnungen genannt. Es sei darum gegangen, die Ständeordnung vor der gesellschaftlichen Eigenbewegung zu schützen. Die Frage, die dabei auftaucht, ist die nach den Ursachen dieser Veränderungen. War es nicht z. T. der Landesherr selbst, der hier Bewegungen in Gang gebracht und insbesondere neue Formen des Wirtschaftens gefördert hat. Insoweit möchte ich Ihren Vortrag ergänzen mit der Bemerkung, daß es bei dieser auf Pflege der Ständeordnung zielenden Politik z. T. darum ging, Folgeprobleme der eigenen Aktivitäten des Landesherrn zu bewältigen. Der Landesherr hat eine Bewegung geför-
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dert, die er selbst nicht stabilisieren konnte; dazu brauchte er die alten Ordnungen. Aber diese Ständepolitik ist dann nicht nur eine konservierende Politik, sondern auch das Bemühen, selbst mitbewirkte Veränderungen zu begrenzen und aufzufangen.
Hofmann: Ich möchte noch einmal auf Herrn Willoweits außerordentlich anregende Gegenüberstellung von Recht und Ordnung zurückkommen. Meine Frage: Kann dieser Gegensatz wirklich so ganz unvermittelt aufgestellt werden? Jene Gegenüberstellung findet ihre Fortsetzung im Spätabsolutismus in der Gegenüberstellung des Bereichs der privata und des Bereichs der publica et politica, einer Entgegensetzung, die synonym ist mit der Antithese justiziabel - nicht justiziabel, synonym mit: staatlicher Veränderung zugänglich respektive nicht zugänglich, was in der Reformzeit bekanntlich dazu führte, daß die Möglichkeit staatlicher Eingriffe in ein Rechtsverhältnis von dessen Interpretation als öffentlich oder privat abhing. Insofern gehört das alles ja in die Vorgeschichte unserer- heute freilich anders liegenden- Unterscheidungvonöffentlichem und privatem Recht. Meine Überlegung geht dahin, ob die Kräfte, die sich dann im Kodifikationsgedanken durchgesetzt haben, mit dem nach Herrn Willoweit allererst der moderne Legalismus beginnt, ob diese Kräfte nicht in durchaus ambivalenter Weise zunächst einmal auch der Abschirmung und Konservierung dessen dienen, was ich jetzt abgekürzt die Privatrechtsordnung nenne. Um es auf eine Formel zu b ringen: War es nicht vielleicht so, daß dieser Bereich nicht nur als unantastbarer Bereich der Überlieferung des Rechten von staatlicher Beeinflussung, von polizeylicher Neu-Ordnung ausgespart blieb, nicht nur deswegen weiter, weil das Gemeinwohlprinzip gar keine Veranlassung für eine Umgestaltung bot und die Machtmittel hierfür fehlten und weil die Ordnungsleistung, welche jene überkommenen Rechtsfiguren erbrachten, ja auch kaum ohne weiteres ersetzbar gewesen wäre, sondern vielleicht auch deshalb, weil dieser Bereich des Privaten bereits sehr frühzeitig rechtstheoretisch neu unterfangen war, indem man ihn als Bereich natürlicher Ordnung nach Vernunftsprinzipien begriff. Die der Privatrechtsordnung supponierte Vernunftrechtsstruktur nahm wie es schien- insoweit jede Möglichkeit staatlicher Gestaltung außer der bloßen Festschreibung, außer eben der Kodifikation im Sinne eines zumindest subjektiv recht konservativen Aktes. Naujoks: Wie weit hat der Fürst (Landesherr) die intermediären Gewalten als genossenschaftliche Bildungen geschont, sie eventuell besonders behandelt oder, - weil mit dem herrschaftlichen Prinzip unvereinbar- diese zu beseitigen gesucht? Kleinheyer: Man kann wohl beobachten, daß da, wo es um die Begründung vor allem neuer Rechte ging, man auch den Weg eingeschla-
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gen hat, die Begründung von Korporationen zu versuchen und zwar auch in Bereichen, die bisher so etwas gar nicht kannten; ich nenne etwa über das Reich verbreitete Verbindungen der Angehörigen eines Berufsstandes. Oder man kann in Prozessen feststellen, daß die Prozellfähigkeit gelegentlich im Zusammenhang steht mit dem Entstehen von neuen Korporationen; wenn etwa Prozesse von Landesherren gegen ihre Untertanen geführt werden, erscheinen diese Untertanen als Korporation, die sich aber abhebt von den Landständen. Möglicherweise ist der korporative Zusammenschluß eine besondere Art der Legitimation? - Zum anderen wollte ich einige bereits geäußerte Bedenken verstärken. Ich glaube nicht, daß es den absoluten Herrscher in Deutschland gegeben hat, der in der Lage gewesen wäre, als Gesetzgeber im modernen Sinne aufzutreten und wirksam zu werden. Auch das Allgemeine Landrecht versucht alles, was vorgefunden wird, behutsam einzuschmelzen, und wenn man sich die Kodifikationsgeschichte etwa in Österreich ansieht, dann findet man, daß viele Rücksichten genommen werden, vor allen Dingen auf die unterschiedlichen Verhältnisse in den einzelnen Erbstaaten, die natürlich dann auch wieder teilweise nationale Unterschiede sind. Den absoluten Herrscher hat es nicht gegeben. Absoluter Herrscher ist, wenn ich das recht sehe, erst der Volkssouverän des nächsten oder übernächsten Jahrhunderts. Möglicherweise waren gegenüber diesen vielleicht gar nicht so mächtigen Herrschern auch Verfassungen noch nicht so dringend erforderlich wie gegenüber dem späteren Volkssouverän.
Willoweit: Die Pause war insofern wohltuend, als ich die Diskussionsbeiträge ein wenig ordnen konnte. Ich will also versuchen, sytematisch zu antworten und nicht nach der Reihenfolge der Redner. Der erste Punkt betrifft die mit dem Gemeinwohl zusammenhängenden Fragen. Ich bin mir natürlich bewußt, daß der Begriff und die Sache älter sind als der Absolutismus. Auf diesen genetischen Aspekt bin ich nicht eingegangen. Ich habe ihn ausgeklammert, weil es mir darauf ankam, die spezifische Funktion des Gemeinwohlgedankens für den Absolutismus darzutun. So, wie die Aristotelesrezeption ja sehr viel älter ist, reicht natürlich auch die Auseinandersetzung mit der Idee des Gemeinwohls in ältere Zeiten zurück. Die Berufung auf das Gemeinwohl ist vielleicht einer der ganz konstanten Topoi in der Staatsphilosophie schon lange vor dem Absolutismus. Aber worauf es mir hier ankam, war der Hinweis, daß dieser Begriff und diese Vorstellung im Absolutismus bestimmte Steuerungsfunktionen übernimmt. Es mag sein, daß er zu anderen Zeiten ähnliche Funktionen gehabt hat, aber dann natürlich im Kontext einer ganz anderen Ordnung und daher auch mit unvergleichbaren Wirkungen. Im Absolutismus begegnet der Gemeinwohlgedanke sowohl in der Staatsphilosophie, wie in den Polizeiordnungen, wie auch
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schließlich in der Jurisprudenz. Es geht also darum, sein Vordringen im Zeitalter des Absolutismus deutlicher zu erkennen, insbesondere im Verhältnis zum Souveränitätsbegriff, dessen praktische Bedeutung für die absolutistische Rechtsordnung meiner Überzeugung nach oft überschätzt wird. Der Souveränitätsbegriff ist wichtig für die Genese des Staatsgedankens. Aber für den etwa bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts real existierenden Staat spielt der Souveränitätsbegriff vielleicht eine geringere Rolle als der Begriff des Gemeinwohls. Ich werde das am Schluß mit einem Beispiel zu belegen versuchen. Herr Scheuner hat besonders darauf hingewiesen, daß die Sorge um das Gemeinwohl nicht nur restaurativen Charakter habe. Dem würde ich gerne zustimmen. Ich habe mich insoweit vielleicht mißverständlich ausgedrückt. Es handelt sich ganz gewiß auch um eine aktive Sorge und nicht nur um ein schlichtes Festhalten am Vorhandenen. Der Hinweis auf die Ordnung neu entstehender Stände sollte das belegen. Herr Dilcher hat einen schwierigen Einwand vorgetragen. Gemeinwohl im Gegensatz zur Genossenschaft- ich gebe zu, eine pointierte These. Der Gemeinwohlbegriff dürfte in der mittelalterlichen Stadt analoge Steuerungsfunktionen übernommen haben, aber dann eben eingebunden in diese Korporation. Im absolutistischen Staat, wo er auf das Ganze des Territoriums, auf den Landesherrn und die Gesamtheit der Untertanen bezogen wird, muß er inhaltlich eine neue Dimension bekommen. In diesem Zusammenhang wurden auch Einwendungen geltend gemacht, betreffend die Differenzierung zwischen Genossenschaften, sonstigen Obrigkeiten und intermediären Gewalten mit territorialen Substraten. Ich habe im Rahmen dieses Vortrages insofern nicht unterschieden. Selbstverständlich gibt es da Unterschiede und dazu gehört auch der Hinweis auf die Sonderstellung des Adels. Natürlich ist eine intermediäre Gewalt von der Art der Zünfte für den Landesherrn etwas ganz anderes als die Gesamtheit seiner adligen Gutsbesitzer. Die feindselige Haltung gegenüber den Zünften ging ja so weit, daß man in Preußen Generalprivilegien erließ, die eine Abschaffung der alten Rechtsposition indizieren, da sich die Zünfte sagen lassen mußten, ihre Rechte seien allein vom Landesherrn abgeleitet. Es gab also in der Behandlung dieser verschiedenen intermediären Gewalten gravierende Unterschiede. Dennoch wurden schließlich z. B. diese Generalprivilegien erteilt. Bei aller noch so sehr differenzierenden Behandlung dieser verschiedenen nichtstaatlichen Mächte hält man im Prinzip - und dies scheint mir entscheidend zu sein - an ihnen fest. Im 18. Jh. gibt es sogar - in Österreich, aber auch in Preußen - Erwägungen, die Zünfte ganz abzuschaffen. Das ist dann doch nicht geschehen, wenn wir von einer partiellen Gewerbefreiheit in Österreich einmal absehen. Im Unterschied zu solchen oft massiv reglementierten Bereichen verkör-
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pern die Machtpositionen des Adels natürlich intermediäre Gewalten von größerer Widerstandskraft und höherem Wert für das absolutistische Staatswesen. Aber das Gemeinsame ist doch, daß die Stände samt ihren spezifischen Ordnungsmechanismen erhalten werden sollten. Auch neue Berufsgruppen - auch Herr Kleinheyer hat darauf hingewiesen -wurden korporativ organisiert. Soweit z. B. in Preußen die Manufakturen nicht mit eigener Hausgerichtsbarkeit ausgestattet waren, gab es für siez. T. eine besondere Gerichtsbarkeit. Man hat also solche neuartigen Personenverbände, auch wenn sie obrigkeitlich strukturiert waren hier durch einen privaten Unternehmer - durchaus dem einmal bekannten und für die Ordnung sozialer Konflikte benötigten Modell anzupassen versucht. Nun zu der Frage von Recht und Ordnung. Ich habe erwartet, daß diese Unterscheidung auf Zweifel stoßen würde. Zunächst darf ich an den Vorwurf Otto von Gierkes erinnern, die Berufung auf das Gemeinwohl ermögliche Rechtsbruch. Der Staat werde zum Gegenteil des Rechtsstaates, der Polizeistaat erhebe sich über das Recht. Er hat also die Polarität sehr deutlich betont. Nur ist er in dieser Sache Partei. Der Polizeistaat ist für ihn eine unheilvolle Entwicklung. Der Aufstand gegen ihn ist noch Geschichte, die er miterlebt. Infolgedessen ist er nicht in der Lage, dieses Staatsgebilde in seiner Eigenart, als einen besonderen historischen Typus und nicht nur als Verfallprodukt zu erfassen. Er hat aber gesehen, daß über die Polizei- und Landesordnungen, auch Einzelmandate usw., das überkommene, z. T. auch kodifizierte Recht ausgehöhlt wird. In diesem Zusammenhang, Herr Schlaich, zu Ihrem Einwand, das Recht selbst unterliege der politischen Instrumentalisierung. Das werde ich nicht leugnen. Nur meine ich, diese politische Instrumentalisierung von Rechtspositionen ist geradezu ein Beleg für die ehemalige, nun allmählich schwindende Autonomie des Rechts. Man kann sich nicht über sie hinwegsetzen, man muß sich des Rechts bedienen, um politisch etwas zu erreichen. Es ist aussichtslos, außerhalb der Rechtsordnung zu argumentieren, weil sich so keine diplomatischen Bundesgenossen finden lassen usw. Die politische Instrumentalisierung von Recht weist gerade daraufhin, daß die Sphäre des Rechts prinzipiell respektiert werden muß. - Die mittelalterlichen Wurzeln, auf die Sie hingewiesen haben, Herr Böckenförde, sehe ich auch, aber ich sehe die Kontinuität mit der Neuzeit noch nicht in aller Klarheit. Es ist ja so, daß im Mittelalter oft ausdrücklich zwischen Recht und Willkür unterschieden wird. Und aus den Willküren entstehen ja Satzungen, entsteht Gebotsrecht. Da ist in der Tat ein Vorbild und ich habe den Eindruck, daß sich tatsächlich der alte Dualismus von Recht und Satzung noch in der Neuzeit fortsetzt. Aber daß es wirklich so viel Kontinuität gibt, möchte ich jetzt noch nicht zu behaupten wagen. - Ein ähnliches Kon-
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tinuitätsproblem wirft Ihre Frage, Herr Schlaich, auf, ob es einen Zusammenhang zwischen ständischem Recht und Grundrechten gebe. Ich weiß nicht, ob sich das behaupten läßt. Auch Ihre Frage, Herr Hofmann, ob die alten Rechte nicht deswegen geschützt würden, weil sie schon als subjektive Privatrechte, als bürgerliche Rechte theoretisch unterfangen sind, zielt in die gleiche Richtung. Ich habe dafür keinen direkten Beleg. Ich glaube eigentlich eher, daß hier einfach der Respekt vor dem erworbenen Recht fortlebt, wie ich noch an einem Beispiel erläutern will. Schließlich noch zu Ihrem Argument, Herr Wahl, Veränderungen der Gesellschaft seien vom Landesherrn selbst ausgelöst worden. Dem möchte ich nur teilweise zustimmen. Die Gesellschaft ändert sich natürlich. Aber der Landesherr möchte sie lieber statisch haben. Die Leute sollen buchstäblich an ihrem Platz bleiben. Man denke nur an die ständig wiederkehrenden Strafdrohungen gegen Personen, die ihren Arbeitsplatz wechseln. Schon das ist eine strafwürdige Ungeheuerlichkeit. Natürlich ist eine so statische Gesellschaft nicht möglich. Es gibt Entwicklungen, nicht zuletzt wirtschaftlicher Art, in denen die Manufakturen eine Rolle spielen. Insofern hat der Landesherr durchaus zum Wandel beigetragen. Aber eine große Bedeutung haben z. B. auch die seit dem Dreißigjährigen Kriege aufgetretenen Ordnungsprobleme. Man glaubte wohl, die alte Gesellschaft wieder herzustellen. Es gelang nicht und die Evolution der Gesellschaft war das Ergebnis. Nun das angekündigte Beispiel zum Verhältnis von Recht, Ordnung und Gemeinwohl. Es entstammt dem preußischen Gewerberecht. Die Manufakturunternehmer erhalten z. T. Privilegien. Diese Privilegien sind subjektive Rechte. Sie nehmen schließlich auch Konzessionscharakter i. S. einer öffentlich-rechtlichen Erlaubnis an. Aber primär sind es subjektive Rechte, die vor der Störung durch andere und vor der Störung durch den Landesherrn selbst schützen. Nun kommen die Juristen und sagen, es müsse doch möglich sein, solche Rechte wieder aufzuheben. Der wirtschaftliche Hintergrund sieht so aus, daß den ersten Unternehmungen oft großzügige Monopolprivilegien erteilt wurden. Die Industrie entwickelt sich, es gibt mehr Menschen, es gibt geschickte Meister, die aus dem Betrieb austreten und selbständig werden wollen. Binnen kurzem steht man vor dem Problem: kann man einen weiteren Unternehmer privilegieren, obwohl ja ein Monopolprivileg schon früher gewährt wurde? Eigentlich geht das nur unter Verletzung des zuerst erteilten Privilegs. Am naheliegendsten wäre nun der Hinweis auf die Souveränität, die summa potestas, die sich über Monopolprivilegien doch wohl hinwegsetzen könnte. In dieser Weise wird nun in derzeitgenössischen Literatur eigentlich überhaupt nie argumentiert. Das bestätigt nur meine Skepsis gegenüber der praktischen Bedeutung des Souveränitätsgedankens in dieser altständischen Zeit bis zur Aufklä-
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rung. Wenn man schon i. S. des Absolutismus argumentiert, dann so: das Privileg ist eine lex singularis oder specialis, jedenfalls ein Gesetz. Der Fürst hat aber nach allgemeiner Überzeugung das Gesetzgebungsrecht. Er kann also doch wohl durch ein späteres Gesetz sein früheres Gesetz ändern. Auf diese Weise könnte in der Tat die Aufhebung des Privilegs begründet werden. Nun hat dieser Gedankengang aber nur wenige Anhänger. Die meisten Autoren wenden sich gegen diese Argumentationskette. Eine lex singularis dürfe nicht mit den allgemeinen Gesetzen gleichgesetzt werden. Hier hebe das spätere Gesetz das frühere nicht auf, weil ein Recht erworben worden sei. Dann folgen ganz privatrechtliche Ausführungen zur traditio usw. Der Empfänger des Privilegs ist Inhaber dieses Rechts, das ihm nicht genommen werden darf. Wenn die Berliner nun nicht genügend Samt aus ihrer privilegierten Manufaktur bekommen, der Bedarf also nicht gedeckt wird, dann ist allerdings das öffentliche Wohl betroffen. Das Gemeinwohl erfordert die Aufhebung des Privilegs. Das ist ein Argument, mit dem man durchkommt. Es ist herrschende Meinung. Das Gemeinwohl erlaubt, auch ein Monopolprivileg aufzuheben. Das ist eine Argumentationskette, die uns heutigen Juristen ja gar nicht so fremd ist. Also kein direkter Durchgriff auf das Souveränitätsprinzip, auch nur selten Berufung auf das Gesetzgebungsrecht, mit dessen Hilfe man ja Privilegien kassieren könnte. Wenn das schon sein muß, dann hat man sich auf das Gemeinwohl berufen. Ich vermute, daß es noch mehr solcher Fälle gibt, in denen dieselbe Argumentationstechnik herangezogen wird. Ich meine, an diesem Beispiel zeigt sich die Kraft des politischen Gedankens, der sich gegen das alte Rechtsdenken durchsetzt. Herr Dietrich, Ihr Hinweis auf die religiöse Verantwortung des Landesherrn, glaube ich, gehört in diesen Zusammenhang. Der Fürst hat das Recht zu respektieren. Von Friedrich d. Gr. kenne ich zu einem solchen Konflikt um verschiedene Privilegien eine Marginalie: man solle die alten Privilegien nachsehen, gegen sie solle nichts geschehen. Und da meine ich, Herr Hofmann, das ist trotz Aufklärung noch nicht Respekt vor dem Recht des Bürgers, sondern es ist Achtung des überkommenen Rechts, das nur, dann aber sicher, aus Gründen des öffentlichen Wohls genommen werden darf. Zum Abschluß dieser Ausführungen, Herr Baumgart, möchte ich auf Ihren Hinweis eingehen, der ja eine Kritik zur Methode enthält. Den Einwand muß ich akzeptieren. Es ist richtig, daß ich mich auf eine Perspektive beschränkt habe, die der Ergänzung bedarf. Was ich hier in komprimierter Form vorgetragen habe, ist eine Ableitung allgemeiner Prinzipien aus konkreten Verfassungserscheinungen, etwa aus der Eigenart der Polizeigesetzgebung, aus dem Privilegienwesen, aus Territorialstreitigkeiten usw. Die Ergänzung durch Untersuchungen auf der unteren Ebene, also im Bereich einer Gutsherrschaft oder Grundherrschaft z. B. fehlt hier. Ich habe das bisher nicht unternommen.
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Schott: Herr Willoweit, Sie haben uns mit Ihrem Beitrag die Resistenz des ins Mittelalter zurückreichenden Necessitas-Gedankens eindrücklich demonstriert. Das führt nochmals zu Ihrem prägnanten Satz: Autonomie und Gemeinwohl vertragen sich nicht. Hier handelt es sich doch auch um eine Kompetenzfrage, d. h. wer ist sachlich zuständig für die Definition und für die Bestimmung über das Gemeinwohl. Die dahinterstehende naturrechtliche Tradition hat zeitweise doch gerade den Karparationskonsens über den des Princeps gestellt und ist hier, abgesichert durch biblische Textzitate, zu Unfehlbarkeitsaussagen gelangt. Erinnert sei an den auf den weltlichen Bereich ausstrahlenden Konziliarismus. Ist nun von dieser korporationsorientierten Gemeinwohlkompetenz nichts mehr vorhanden und hat der Fürst als unbestrittene Gemeinwohlemanation zu gelten? Willoweit: Abschließend kann ich die Frage nicht beantworten. Meinen Satz, Autonomie und Gemeinwohl vertragen sich nicht, verstehe ich so, daß das Gemeinwohl im Absolutismus als ein generelles Prinzip den Menschen vom Herrscher vorgestellt wird. Eben in Gestalt dieser überbordenden Gesetzgebung. Dort wird es in verschiedenartigen Formeln vielfach erwähnt. Und die Juristen schlagen ja eigentlich, wie Sie an meinem Beispiel sehen, in dieselbe Kerbe. Auch für sie ist es ein generelles Problem, das die Beziehung zwischen Landesherr und Untertanen prägt. Ich kann nicht ausschließen, daß die Korporationen vielleicht irgendwo in den Quellen oder in der zeitgenössischen Literatur als gemeinwohlfähig erkannt werden. Aber sie können eigentlich gegenüber diesem politischen Anspruch des Landesherrn nur als Vollzugsorgane auftreten. Sie können sich ja gegenüber einer Polizeiordnung nur gehorchend verhalten. Daß sie prinzipiell nicht fähig sind, Gemeinwohl aus ihrem genossenschaftlichen Organismus zu entwickeln, meine ich nur insofern, als sie nicht fähig sind, eben dieses Gemeinwohl im Sinne einer Zielsetzung des Staates zu entwerfen. Daß sie vielleicht für fähig erkannt werden, weiterhin Gemeinwohl auf korporativständischer Basis zu entwickeln, wollte ich nicht ausschließen. Es kann sein, daß z. B. die stadtfreundliche juristische Literatur der Neuzeit sogar eine besondere Affinität der städtischen Korporation zum Gemeinwohlbegriff behauptet. Ich weiß nicht, ob es der Fall ist. Nur der gesamtstaatliche politische Impuls des Gemeinwohlgedankens kann durch die ständischen Gewalten doch kaum adäquat konzipiert werden. Dietrich: Die letzte Bemerkung von Ihnen hat mir doch zu denken gegeben. Ich möchte doch eine kleine Frage an Sie stellen. Sie haben gerade darauf hingewiesen, daß bei dem Gedanken der religiösen Rückbindung man auf diese Probleme des Gemeinwohls Rücksicht nehmen müsse, bzw. umgekehrt. Soweit meine Kenntnis reicht, ist es in der Staatstheorie des 17. Jahrhunderts weitgehend verbreitet, daß der Ge-
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danke des Gemeinwohls in die religiöse Verpflichtung des Staatslenkers, um es einmal ganz allgemein auszudrücken, eingebettet wird. Ich denke z. B. hier an die Helmstädter Schule, an Conring, an Lampadius und ihre weiterführenden Interpreten. Wir finden es auch in politischen Testamenten der deutschen Fürstenwelt von Ernst dem Frommen angefangen bis zu Friedrich-Wilhelm I. hin. Aber ob das nun gerade bei Friedrich dem Großen noch der Fall ist, ist mir noch etwas zweifelhaft. Aber was dahinter steckt, scheint mir doch weniger diese religiöse Bindung zu sein, als eben die Bindung an, oder die Herkunft aus der Philosophie der Aufklärung. Da finden wir z. B. bei Friedrich dem Großen Gedanken wie den der sozialen Gerechtigkeit, die allen Untertanen zuteil werden müsse. Man findet es sogar in solchen modern anmutenden Gedanken und Ideen, daß man, um eine solche Gerechtigkeit erhalten zu können, sich überlegen müsse, ob man nicht eine allgemeine progressive Einkommensbesteuerung unter Berücksichtigung des Familienstandes einführen müsse. Das sind Gedanken, die wir früher im 17. und 18. Jahrhundert überhaupt nicht kennen. Das sind doch Gedanken, die zweifellos auf die Aufklärung zurückgehen und nicht auf diese alten Rückbindungen, wie sie im 17. Jahrhundert und bei Friedrich Wilhelm I. noch gang und gäbe waren. Das möchte ich jetzt noch als Frage hier an dieser Stelle sagen.
Willoweit: Natürlich erlebt der Gemeinwohlgedanke, vor allen Dingen wohl bei Christian Wolf!, eine Kulmination und gleichzeitig eine Säkularisierung. Da wird er aufgegliedert in einem ganzen System einzelner Sätze und damit verfügbar gemacht. Sie werden mit dem gleichzeitigen Umschlag in den Gesetzesstaat einfach realisierbar und haben dann allerdings selbst mit christlichem Regiment usw. nur noch wenig zu tun. Diese Säkularisierung des Gemeinwohlgedankens und seine Umgestaltung zu einer Legitimation für gesetzgeberische Aktivität in verschiedenartigster Richtung müßte noch näher untersucht werden. Diese Entwicklungsstufe unterscheidet sich von der gewissermaßen treuherzigen Berufung auf das Gemeinwohl, das mit dem christlichen Regiment eng verbunden erscheint und sich eher restaurativ oder doch konservativ gibt. Die Wirkung des anders gearteten aufgeklärten Weltbildes beruht gewiß auch auf den Persönlichkeiten der jeweiligen Herrscher. Grube: Zum Begriff des Gemeinwohls ein Beispiel aus Altwürttemberg: Um 1700 kommt es zu einer scharfen Auseinandersetzung zwischen dem Herzog und der "Landschaft", der Spitzenorganisation der intermediären Gewalten, über die Staatsräson, die ratio status. Der Herzog erklärt, er vertrete das "Staatswohl" gegenüber dem Eigennutzen überalterter Korporationen. Die Landschaft hält dem entgegen,
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sie sei der Anwalt des wahren Gemeinwohls gegenüber dem Privatnutzen des Fürsten und seiner Augendiener; gegenüber der "List und Gewalt" der "Staatisterey" vertrete sie die "wahre Justiz und Pietät" des Verfassungsstaates. Willoweit: In den Territorien, in denen es so starke Landstände gibt, wie in Württemberg, muß sicher auch die Frage nach dem Gemeinwohl anders beantwortet werden als in Preußen. Die Stände sind mancherorts nur herangezogen worden, um Recht zu setzen. Wo sie dagegen auch am Erlaß von Polizei- und Landesordnungen mitwirken und insofern auf die Verwirklichung des Gemeinwohls direkt Einfluß nehmen, da ist es nicht möglich, eine Antinomie herzustellen zwischen gemeinwohlorientierter Politik des Landesherrn und dem Rechtsdenken der dieses Gemeinwohl gewissermaßen passiv erleidenden Stände. Dadurch aber wird die Bedeutung des politischen Impulses nicht gemindert. Die Integration der intermediären Gewalten in den neuzeitlichen Staat konnte schon bei der Gesetzgebung beginnen. Typisch für das Zeitalter des Absolutismus ist diese Verfassungsform jedoch nicht und auch in der aristotelisch geprägten Staatslehre ist Politik immer eine Sache, die den Staat als ganzen meint und nicht spezifisch ständische Sonderinteressen. Dietrich: Nur eine ganz kurze Bemerkung zu dem Gespräch zwischen Herrn Willoweit und Herrn Grube. Sie haben mit Recht darauf hingewiesen, daß in Württemberg manchmal die Dinge ein bißeben anders gegangen sind. Es gibt ja einen größeren deutschen Staat, in dem man das, was Sie eben sagten, sehr deutlich beobachten kann, nur daß es eben noch recht wenig untersucht ist, nämlich Sachsen, wo ja die Städte bei weitem nicht die Rolle spielen wie in Württemberg, die aber selbst in den absolutistischen Episoden Augusts des Starken nie ganz ausgeschaltet werden können. Dabei spielt gerade das Problem des Gemeinwohls, das die Städte für sich beanspruchen, gegenüber den absolutistischen Tendenzen des Herrschers eine sehr große Rolle. Baumgart: Für die Gemeinwohlidee ließen sich neben Württemberg auch andere Territorien des Reiches ins Spiel bringen, die nicht unbedingt dem preußischen Beispiel entsprechen. Zu denken ist dabei namentlich an Hannover, wo ja in Abwesenheit des in England residierenden Landesherrn ein ständisches Regiment mit dem Anspruch der Verkörperung des Gemeinwohls amtierte. Hinsichtlich der Entwicklung des Gemeinwohlgedankens würde ich, im Sinne der Ausführungen von Herrn Dietrich, gern zwischen Absolutismus und aufgeklärtem Absolutismus differenzieren. Diese Zäsur läßt sich am Beispiel Friedrichs I I., wie mir scheint, gut demonstrieren, und zwar nicht zuletzt durch die veränderte Begründung des Gemeinwohls, nämlich mit einer säkularisierten Form des Naturrechts. Friedrich steht in der Tradition
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von Pufendorf, Thomasius und Wolf!; seine Staatsvertragslehre hat den Staatszweck, d. h. das Wohl der vertragschließenden Untertanen, als Grundsatz, an dem sich das System orientiert. In dieser Naturrechtslehre, nicht in den reformierten Überlieferungen des Hauses Brandenburg, liegt sein Orientierungspunkt für das Gemeinwohl. J anssen: Ein kurzer Hinweis und eine Frage: Kann sich die Zuordnung von bonum commune und Herrscherfunktion nicht auch aus der mittelalterlichen Tradition herleiten? Mir ist eine Stelle bei Nikolaus von Cues in Erinnerung, wo er sagt, der Zweck des Staates sei das bonum commune. Dieses aber wird inhaltlich definiert als die pax, zu deren Aufrechterhaltung die iustitia, die Gerichtsbarkeit, und die iusta bella, die erlaubten Kriege, dienen. Insofern diese friedenwahrende und -stiftende Funktion die eigentliche Aufgabe des Herrschers ist und insofern nicht zuletzt das Friedensbedürfnis den von den mittelalterlichen Herrschaftsordnungen unterschiedenen modernen Staat hervorgebracht hat, kann der Herrscher als Friedensgarant für sich in Anspruch nehmen, der Repräsentant des bonum commune zu sein, und aus diesem Anspruch seine Legitimation herleiten.
Willoweit: Zweifellos, dies zunächst zu Herrn Baumgart, tritt schon im 17. und dann vor allem im 18. Jh. der Gemeinwohlgedanke in verschiedenartigen theoretischen Modellen auf. Nicht alles ist hier auf den Neuaristotelismus allein zurückzuführen. Es spielen dabei gewiß auch naturrechtliche Überlegungen eine Rolle. Aber selbst bei Christian Wolff ist der Gemeinwohlgedanke wohl auf aristotelischen Einfluß zurückzuführen. Wir müssen von einem Geflecht verschiedener theoretischer Konzeptionen ausgehen, nicht von einem schroffen Gegensatz einer aristotelischen und einer naturrechtliehen Linie, der nur zeitweilig von Bedeutung gewesen sein dürfte. Auch Friedrichs Staatszweckgedanke ist ohne die älteren aristotelischen Grundlagen kaum denkbar. Aus seiner Regierungspraxis ist mir ein Fall bekannt, in dem ein Monopolprivileg aus den schon geschilderten Gründen mit Rücksicht auf das Gemeinwohl hätte aufgehoben werden können. Man hat auf dieses Argument verzichtet. Es war keine persönliche Entscheidung Friedrichs. Der zuständige Referent im Generaldirektorium bedient sich lieber einer privatrechtliehen Begründung: wir haben mit dem Privilegierten einen Vertrag geschlossen, er hat die Bedingungen nicht eingehalten. Daher wird sein Privileg eingeschränkt. Die pax findet sich bei den inhaltlichen Beschreibungen des Gemeinwohlbegriffs wieder. Er wurde in der Staatslehre stärker konkretisiert, als meine stereotype Wiederholung des Wortes vermuten läßt. Pax, justitia, auch die alten Kardinaltugenden des Fürsten Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maß usw. werden immer wieder genannt. Autoren, die sich mit dem Gemeinwohlbegriff auseinandersetzen, bemühen sich oft um
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etwas genauere Umschreibungen. Ich habe auch den Eindruck, daß dabei, entsprechend der polizeilichen Praxis, der Befriedungsgedanke eine große Rolle spielt. Ich bin auch nicht sicher, ob der Ursprung der Polizeiordnungen schon hinreichend gekärt ist. Gewöhnlich wird ja auf ihre Herkunft aus dem städtischen Bereich hingewiesen, wo sie am frühesten realisiert wurden. Diese Entwicklungslinie gibt es ganz sicher. Aber im 16. Jh. wird sie ergänzt oder überformt durch den Landfriedensgedanken. Das deckt sich dann durchaus mit Ihrem Hinweis auf den Cusaner. Diebayerische Landesordnung von 1553 z. B. enthält in ihrem ersten Teil Landfriedensrecht. Die Befriedung steht neben der Ordnungswahrung. Beide münden dann, besonders nach dem 30jährigen Krieg, in das Nahrungsprinzip ein. Scheuner: Die Verbindung mit dem Landfrieden ergibt sich einfach aus der alten schon mittelalterlichen oder besser hochmittelalterlichen Formel der staatlichen und der fürstlichen Aufgabe als pax et tranquilitas. Pax erscheint dann im 18. Jahrhundert als Ruhe, Abwesenheit von Unruhen. Pax ist die Abwesenheit von Bürgerkrieg, von innerer Unruhe, ein wesentliches Anliegen des 17. Jahrhunderts. Böckenjörde: Herr Willoweit, mir scheint eine gewisse Spannung zwischen Ihrem zweiten Abschnitt und Ihrem dritten Abschnitt zu bestehen. Sie sprachen im zweiten Abschnitt von der Differenz zwischen Recht und Ordnung und insbesondere von dem Polizeirecht als dem mehr umgestaltenden Element, das Raum gibt für zweckbezogene Entscheidungen und Anordnungen, die bestimmte Ziele verwirklichen sollen im Rahmen des Rechts. Es handelt sich also dabei durchaus um ein dynamisches Moment, das dann ja auch als Vehikel der Umgestaltung weiterer Bereiche des Rechts in eine mobile Legalordnung gedient hat. Otto Hintze hat den Vorgang, soweit er das 18. Jahrhundert betrifft, in der berühmten Rezension des Buches von Löhning, Gerichte und Verwaltungsbehörden in Brandenburg-Preußen, eingehend beschrieben und gezeigt, wie hier neue Rechtsgedanken und Rechtsprinzipien sich allmählich durchsetzten und das nur konnten, weil dafür eigene Jurisdiktionsbehörden, die sog. Kammerjustiz geschaffen wurde, die von den Regierungen, die ständisch besetzt waren und die alten Rechtsbegriffe und Rechtstraditionen wahrten, unabhängig waren.
Auf der anderen Seite haben Sie bei der Frage nach Sinn und Aufgabe der intermediären Gewalten Ihre These von dem sehr statischen Ordnungsbild vorgetragen, das auch den landesherrlichen Reglementierungen zugrunde lag. Jeder soll da bleiben, wo er von den Vorfahren her ist. Wenn ich das recht verstanden habe, sind auch die Polizeiordnungen mit dazu eingesetzt worden, um das überkommene Ordnungsgefüge statisch beieinander zu halten. Hier liegt, wenn ich recht sehe,
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eine gewisse Spannung, die es zu vermitteln gilt. Vielleicht war die Situation in den kleineren Territorien anders als in den größeren, insbesondere Preußen und den habsburgischen Ländern; jedenfalls für die Politik der preußischen Domänenkammern, wo es um Landeserschließung ging, ja durchaus auch um Anfänge der Sozialgestaltung, diente das Polizeirecht dazu, diese Politik zu verwirklichen. Spricht das nicht dagegen, daß alles noch so statisch bewahrend und religiös eingebunden gesehen wurde?
Willoweit: Ihr Diskussionsbeitrag trifft sicher einen, vielleicht den Kern meiner Überlegungen. Ich glaube, es ist eine Frage der gewählten Perspektive. Wenn wir uns die Polizeiordnungen ansehen, dann kommen wir nicht daran vorbei - und das hat die bisherige Forschung auch immer gesehen - daß sie in Ordnung bringen wollen, was in Unordnung geraten erscheint: Beseitigung von Mißständen, Wiederherstellung von standesgemäßen, gesetzesgemäßen Zuständen usw. Damit sind sie einfach angefüllt und darin liegt ein Stück aktiver und zugleich statischer Standespolitik, die sich gegen autonome gesellschaftliche Bewegungen richtet- insofern wirklich ein Gegenbild zum 19. Jahrhundert. Wenn diese Gesetzgebung dennoch Dynamik enthält, dann ergibt sich dieser Eindruck wohl nur aufgrund einer anderen Perspektive. Wir sehen natürlich außer diesen Polizeiordnungen auch die Masse des sonstigen Rechts und aus unserer Sicht ist im Verhältnis zwischen der Polizeigesetzgebung und dem überlieferten Recht vor allem Veränderung festzustellen. Das ist genausowenig zu leugnen. Das umfangreiche Werk von Schmelzeil;en (Polizeiordnungen und Privatrecht, 1955), das sich mit dem Privatrecht der Polizeiordnungen beschäftigt, weist ja zahlreiche materiell-rechtliche Neuerungen im Privatrecht nach. Das Recht wurde also geändert. Nur war das Ziel eben nicht, die Rechtsordnung zu ändern, sondern es war das Ziel der Polizeiordnungen, ganz bestimmte politische Zwecke, die selbst eher bewahrender und stabilisierender Natur waren, durchzusetzen. Wenn Bauern z. B. verboten wird, ihre Schafe selbst zu hüten, da es doch einen Hirten im Dorf gibt, der auch etwas zu essen haben muß, dann ist dies mit Sicherheit als eine die alte Ordnung stabilisierende Maßnahme gedacht. Daß dabei aber u. U. in einem Nebensatz über den Verkauf von Schafen durch einen Eingriff in das Kaufrecht die Rechtsordnung geändert wird, steht auf einem anderen Blatt. Vielleicht löst sich das von Herrn Böckenförde zur Sprache gebrachte Spannungsverhältnis so auf, daß auch eine Politik, die sich stabilisierend gibt, die den status qua will und nicht die soziale Mobilität, trotzdem durch ihre Aktivität Veränderung schafft. So würde ich es vielleicht ausdrücken. Kleinheyer: Zu dem, was Sie zur Bestandskraft der Privilegien gesagt haben, würde ich zu überlegen geben, ob man evtl. aus dem Ver-
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fahren bei der Bestätigung der Privilegien eine Veränderung der Einstellung zu den Privilegien ablesen könnte. Ich habe gerade jetzt in Wien bei den confirmationes privilegiorum des Reichshofsrates einige ganz interessante Verfahren der Privilegienbestätigung aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts gesehen, wo zwar überhaupt nicht in Frage gestellt wird, daß ein Privileg, das erteilt ist, auch bestätigt werden muß. Aber es wird doch viel stärker kontrolliert und nachgeprüft, ob das Privileg auch immer wirklich erteilt worden ist. Es werden den Ansuchenden Auflagen gemacht, ihre Unterlagen einzureichen. Man begnügt sich also nicht mehr damit, daß die Privilegien auch früher schon in Anspruch genommen worden sind, das Herkommen reicht nicht mehr aus; man will die konkrete Grundlage, die Privilegienerteilung sehen. Bei Aufrechterhaltung des hergebrachten Rechtsstandpunktes deutet dies doch möglicherweise an, daß man diesen Dingen nun mit einem anderen Instrument zu Leibe rückt.
Dilcher: Ich wollte zu der angeschnittenen Frage "Recht" einerseits, "Ordnung" andererseits Stellung nehmen. Ich meine mit Herrn Willoweit, daß es sich (etwa im Sinne von W. Ebel) im mittelalterlichen Rechtsverständnis um zwei verschiedene, wenn auch nicht unverbundene Bereiche handelt, die eigentlich erst in der Kodifikationsepoche, und zwar erst nach dem preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794, zusammenfließen und damit auch das "Recht" dem Gesetzgeber voll verfügbar machen. Das zeigt sich auch in den weitgehend getrennten Rechtsaufzeichnungen. Als Beispiel will ich ein mir naheliegendes städtisches Gemeinwesen wählen, nämlich die Reichsstadt Frankfurt a. M., das übrigens im 18. Jahrhundert durchaus als "Staatsverfassung" bezeichnet wird (J. A. Moritz, 1785). Das "Recht" -im Sinne von Prozeß-, Vertrags-, Familien-, Erbrecht usw. - wird überhaupt nur zweimal aufgezeichnet, nämlich im 16. Jahrhundert als romanistisch beeinflußte Reformationen. Das mittelalterliche "Recht" bleibt weitgehend unaufgezeichnet, obwohl Frankfurt Oberhof war. Dagegen gibt es eine überaus reiche rechtsetzende Tätigkeit des Rates auf dem Gebiet der Wirtschaftsordnung, von Messe, Markt, Gewerbe, Sicherung des Stadtfriedens, Eidesformeln usw., also der ordnend-verwaltenden, später sogenannten polizeilichen Tätigkeit. Beide Bereiche werden auf diesen Grundlagen bis ins 18. Jahrhundert als getrennte Bereiche weitergeführt, in Darstellungen und Kommentierungen des reformierten Stadt-"rechts" einerseits und in Fortführung der Sammlungen der Ratsverordnungen andererseits. Darin scheint mir doch ein deutlicher Ausdruck des Bewußtseins von der Verschiedenheit beider Materien, besonders in bezug auf ihre Dauer und Abänderbarkeit, zu liegen, wobei die Grenze bekanntlich nicht der späteren zwischen öffentlichem und privatem Recht entspricht.
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Dietrich: Eine ganz kurze Bemerkung. Ich glaube, das wichtigste an Ihrem Diskussionsbeitrag ist untergegangen. Das war nämlich Ihr interessanter Hinweis auf die Kabinettsjustiz in Preußen unter den Justiz- und Domänenkammern. Ich wollte dabei nur daran erinnern, daß gerade jetzt, ich habe leider den Namen des Autors im Augenblick nicht mehr im Kopf, eine juristische Dissertation erschienen ist, die sich mit der preußischen Kabinettsjustiz befaßt und dabei zu einem ganz positiven Urteil kommt. Auch unter Hinweis darauf, wie wirklich wenig Urteile einer Kabinettsjustiz in dem hier pejorativ verstandenen Sinne des Wortes in Preußen zu verzeichnen gewesen seien, sondern wie stark die Kabinettsjustiz zur Weiterbildung von Rechtsgrundsätzen beigetragen habe. Botzenhart: Ich wollte noch eine Ergänzung anbringen zur Frage der Stände. Man könnte noch mehr, als es hier geschehen ist, nicht nur ihre Rolle im Rechtssystem, sondern auch ihre Funktion im Rahmen des staatlichen Finanzwesens untersuchen. In Preußen z. B. wurden ja noch bis in den Beginn des 19. Jahrhunderts hinein die Aufbringung der Kriegskontributionen den alten provinzialen Ständegremien übertragen, und dies legt die Frage nahe, welche Rolle ständische oder sonstige intermediäre Gewalten im ancien regime noch für die Finanzierung der öffentlichen Aufgaben überhaupt (Wohlfahrtspflege, Straßenbau u. ä.) gehabt haben. Baumgart: Ich wollte, Herr Willoweit, noch einmal nach dem Geltungsbereich für die von Ihnen skizzierte Entwicklung fragen. Ist es nur der deutsche Fürstenstaat oder sind es vielleicht auch die Reichsstädte oder etwa die Reichsritterschaft? Wie steht es in diesem Zusammenhang mit dem Reich als ganzem, das mit seiner Reichspolizeiordnung, seiner Reichskriegsverfassung, dem Versuch einer Reichswirtschaftsordnung ja durchaus auch Ansatzpunkte dazu kennt. Und das Reich im Verhältnis zu seinen Reichsständen spiegelt ebenfalls einen solchen Zusammenhang zwischen zentraler und intermediären Gewalten. Wenn Sie also den Geltungsbereich Ihrer These im wesentlichen auf den deutschen Fürstenstaat beschränken wollten, könnte ich ihr im Nachhinein leichter zustimmen, als wenn das Reich in totooder Gebilde wie die Reichsstädte, die Reichsritterschaft davon erfaßt sein sollten. Meine weitere Frage ist noch die, inwieweit Sie dabei auch die europäischen Zusammenhänge im Auge hatten. Von der Souveränitätstheorie ist die Rede gewesen, aber wohl nur im Hinblick auf die deutschen Territorialverhältnisse. Mit dem System der Polizeiordnungen, von Recht und Ordnung dürfte aber, nach meiner bescheidenen Kenntnis, die französische Entwicklung im vergleichbaren Zeitraum nicht erfaßt werden. Vielleicht kann Herr Malettke dazu mehr sagen. England wäre wohl ganz auszuklammern; auf die italienische Politik etwa der
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Päpste dürfte es nicht anwendbar sein etc. Es bleibt also die Frage nach dem Rahmen dessen, was hier gelten soll.
Willoweit: Einige Diskussionsbeiträge betreffen jetzt Fragen, zu denen mir selbst Quellenkenntnisse nur in beschränktem Umfang zur Verfügung stehen. Das gilt für die Staatsfinanzen und die Kabinettsjustiz. Die Beiträge von Herrn Kleinheyer und Herrn Dilcher habe ich eher als zustimmende Ergänzungen verstanden. Auf Ihre sehr präzise Frage, Herr Baumgart, nach dem Substrat meiner Überlegungen, ist zu antworten: in erster Linie habe ich an den deutschen Fürstenstaat gedacht. Ich möchte aber vermuten, daß sich insbesondere dieser Dualismus von Recht und Ordnung wahrscheinlich auch auf anderen Ebenen findet. Herr Dilcher wies ja gerade auf die Stadt hin und auch bei einem Reichsritter kann ich mir Entsprechungen vorstellen. Nehmen wir an, es gilt in einem solchen Kleinterritorium gemeines Recht, irgendwie territorial gefärbt durch örtliche Traditionen. Es wird doch diesen reichsritterschaftliehen Herrn nicht abhalten, über den Hirten und den Verkauf von Schafen möglicherweise seine eigene Ordnung zu erlassen. Das überkommene Recht zu verändern, ist sicher nicht sein Ziel. Es handelt sich um Pragmatik, um tägliche Notwendigkeit, um Regulative, mit denen die Untertanen auf den richtigen Weg geleitet werden sollen. Ob Recht und Ordnung auch auf der Ebene des Reiches unterscheidbar sind, vermag ich, mangels detaillierter Kenntnis nicht zu beurteilen. Dasselbe gilt für das Ausland. Malettke: Da Herr Baumgart mich angesprochen hat, möchte ich einige Bemerkungen zum Ständewesen in Frankreich während des 17. und 18. Jahrhunderts machen. Bekanntlich konnte in Untersuchungen, die von der 1936 gebildeten "Commission internationale pour l'Histoire des Assemblees d'etats" angeregt worden sind, nachgewiesen werden, daß die Stände im Frankreich des "Ancien Regime" trotz ihrer politischen Entmachtung durchaus noch einen bedeutenden Faktor im administrativen Bereich dargestellt haben. So hat Franc;ois Dumont für das Herzogtum Burgund feststellen können, daß die Finanzadministration in dieser Provinz noch im 18. Jahrhundert weitgehend eine ständische Domäne war. Auch für das Boulonnais, für Französisch-Flandern und für das Bearn läßt sich aufzeigen, daß noch unter Ludwig XV. die Intendanten für die Durchführung der Steuererhebung, des Straßenbaus und anderer öffentlicher Arbeiten in beträchtlichem Maße auf die Mitarbeit ständischer Ausschüsse zurückgegriffen haben. In der Bretagne erreichten die Provinzialstände im Verlauf des 18. Jahrhunderts sogar einen weiteren Ausbau ihrer Position im Bereich der Steueradministration. Gleichwohl darf dieser Tatbestand nicht dazu verleiten, Bedeutung und Funktion ständischer Institutionen, so vor allem der Provinzialstände überzubewerten, wie es gelegentlich in verständlicher Reak4 Der Staat, Beiheft 2
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tion auf die lange Zeit praktizierte Unterschätzung der Rolle der Stände geschieht. Wenn auch nicht geleugnet werden soll, daß sich unterhalb der staatlichen Suprastruktur der absoluten Monarchie das Ständewesen, ständisch-regionale und korporativ-lokale Organe und Institutionen als weitaus lebens-und aktionsfähiger erwiesen haben, als man lange geglaubt hat, so sollte darüber doch nicht übersehen werden, daß es dem monarchischen Absolutismus in Frankreich gelungen ist, die Provinzialstände aus der "Sphäre gesamtstaatlicher Lenkung und der gesamtstaatlichen Vertretung nach außen" (Gerhard Oestreich) auszuschließen. Gleiches gilt auch für Brandenburg-Preußen und Bayern.
Behr: Ich möchte noch einmal auf Kurhannover zurückkommen. Hier haben wir nach der englischen Sukzession des Welfenhauses im Jahre 1714 ja eigentlich ein ständisches Regiment. Wohlfahrtsstaatliches Denken geht deshalb in Hannover mehr als anderorts von den Ständen statt vom Landesherrn aus. Der Wohlfahrtsbegriff wird von den Ständen vor allem in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts als politischer Gedanke aufgenommen und gegenüber dem Landesherrn in England vertreten. Baumgart: Im Anschluß an Herrn Malettke möchte ich zu bedenken geben, daß die französischen Stände und Provinzen ja mit auslösend gewesen sind für den Ausbruch der Französischen Revolution. J ean Egrets bekanntes Buch "La Pre-Revolution fran9aise" stellt diese ständische Vorphase geradezu in den Mittelpunkt. Ein zweiter wichtiger Gesichtspunkt scheint mir zu sein, daß sich am Ende des 18. Jahrhunderts nahezu in allen deutschen Territorialstaaten eine Wiederbelebung ständischen Wesens konstatieren läßt. Herr Willoweit ist daraufhin zu fragen, wie er dieses Faktum mit seinem Ansatz der fortwährenden Nivellierung des bestehenden Systems vereinbaren kann. Wie erklären Sie diese Wiederbelebung ständischen Wesens am Ausgang des 18. Jahrhunderts, dessen Kontinuität ins 19. Jahrhundert hinein uns wohl noch beschäftigen wird? Willoweit: Ich glaube, daß ich im letzten Teil meines Vortrages unter Hinweis auf das ALR deutlich gesagt habe, daß die intermediären Gewalten im Staate ja sehr wohl eine Funktion hatten. Die späteren Entwicklungen am Ende des Jahrhunderts haben wahrscheinlich ganz andere Wurzeln. Diese Renaissance des Ständewesens ist schon getragen von Gedanken der Aufklärung. Herr Hofmann hat ja auf diesen Punkt in seinem Buch (Repräsentation, 1974) besonders Bezug genommen. Im aufgeklärten Denken hatten eigentlich nur noch Landesherr und Bürger Platz. In dieser Situation wurden nun Konstruktionen erfunden, die den Ständen Repräsentativfunktionen zubilligten. Ich glaube, Herr Hofmann hat mir die Beantwortung dieser schwierigen Frage schon abgenommen.
Ansätze einer Selbstorganisation der Gesellschaft in Deutschland im 19. Jahrhundert Von Hartwig Brandt, Marburg Am 1. Februar 1812 beschied der Prorektor der Berliner Universität, Johann Gottlieb Fichte, das Begehren einer Gruppe von Studierenden, deren Mentor er im übrigen war, alle Studenten der Universität künftig in Burschenschaften zusammenzufassen, u. a. mit den schneidenden Sätzen: "Seit dem Mittelalter tritt die Gesellschaft nach und nach hervor aus der Anarchie und geht über in den Staat. Diese Veränderung mußte freilich auch auf das Jugendleben sich erstrecken. Sollte es wahr sein, daß gerade das alleredelste Jugendleben, das der Studierenden, noch immer der Anarchie Preis gegeben wäre, so wäre das sehr traurig1." Im Jahre 1869 schrieb der Wiener Staatswissenschaftler Lorenz von Stein in der Neuauflage seiner Verwaltungslehre dies: "Das Vereinswesen steht noch auf der ersten Stufe seiner Entwicklung. Es ist bestimmt und fähig, im öffentlichen und Privatleben einen Platz einzunehmen, von dessen Bedeutung und Umfang wir nur noch die erste Ahnung haben2 ." Fast sechzig Jahre politisch-sozialen Wandels und, wie unschwer zu erkennen ist, eine beträchtliche Differenz des verfassungspolitischen Blicks trennen beide Äußerungen: hier der Staat, noch im Streit begriffen mit Resten von korporativem Wildwuchs, von Anarchie, wie Fichte sagt, dort der Staat, bereits gefahrlos aufruhend auf einer vielfältigen "Subkultur" sozialer und politischer Vereinigungen, Zusammenschlüsse, Assoziationen. Die Äußerungen sind antipodisch, bedeuten Anfang und Ausklang einer Entwicklung und dokumentieren vor allem doch eins: die über die Epoche fortdauernde, zumeist banale, gelegentlich provozierende Gegenwärtigkeit des Phänomens "Verein". Das Problem hat die Zeitgenossen wie kaum ein anderes, eine nachfolgende Geschichtswissenschaft hingegen nur beiläufig beschäftigt. Erschien der Gegenstand Lorenz v. Stein noch so bedeutsam, daß er 1 Zit. n. K.-L. Ay, Das Frag- und Antwortbüchlein des Darmstädtischen Offiziers Friedrich Wilhelm Schulz, in: Zs. f. bayer. Landesgesch., Bd. 35, 1972,
s. 730.
2 1. T. (Die vollziehende Gewalt), 3. Abt.: Das System des Vereinswesens und des Vereinsrechts, 2. umgearb. Aufl., 1869, Vorrede.
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ihm einen ganzen Band seiner "Verwaltungslehre" reservierte, so ließen die Historiker der nächsten Generationen das Thema liegen. Erst nach 1950, jetzt im Gewande sozialwissenschaftlicher Parteien- und Verbändeforschung, wurde es wieder "entdeckt", wurde der Gegenstand nunmehr auch systematisch zurückverfolgt bis in die 1850er Jahre. Von der Frühgeschichte, der Archäologie des Vereins her kam ein anderer Impuls: eine kultursoziologisch, auch literargeschichtlich geprägte Richtung des Fachs, die den Formen von Assoziation und Geselligkeit des 18. Jahrhunderts sich zuwandte. Haben sich beide Ansätze indes sachlich wie methodisch bisher nur sporadisch getroffen und ausgetauscht, so ist auch der literarische Ertrag für die Überschneidungsperiode, das frühe 19. Jahrhundert also, eher gering. Zur Hand sind einige Studien, die das Strukturelle, das Grundsätzliche der Sache herausstellen, aber es fehlt noch gänzlich an der Unterlage breiterer Feldforschung3 • So mag es eine gewisse Berechtigung haben, wenn hier das Thema, zentriert allerdings auf Vorgänge unterstaatlicher Selbstbewegung der politischen Gesellschaft, ein weiteres Mal im Wege der Thesenskizze abgehandelt wird'.
I. Assoziationen waren im 18. Jahrhundert traditionslos. Vereine und Zusammenschlüsse entstanden dort, wo korporative Bindungen sich lockerten oder auflösten, wo freischwebende Interessen und Zwecke neue organisatorische Bindung suchten. Thomas Nipperdey hat das Strukturelle dieses Vorgangs nachgezeichnet6 • Er sieht ihn als einen solchen der Individualisierung und der Spezialisierung: Die Mitgliedschaft in der Assoziation wird individual, ihr Zweck partikular. Steht hier noch die Korporation als ein den ganzen Lebenskreis des Menschen außerhalb von Haus und Kirche umspannendes Gebilde, so dort der je spezifischen Interessen sich zuwendende Willensverband. Kunst und 3 Vgl. G. Schulz, Über Entstehung und Formen von Interessengruppen in Deutschland seit Beginn der Industrialisierung, in: Polit. Vj. Sehr., Jg. 2, 1961, S. 124- 54, Wiederabdr. in: ders., Das Zeitalter der Gesellschaft, 1969, S. 222- 251; 0. Dann, Die Anfänge politischer Vereinsbildung in Deutschland, in: Soziale Bewegung und politische Verfassung (FS. W. Conze), 1976, S. 197- 232; vor allem aber Th. Nipperdey, Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Gesch. Wiss. u. Vereinswesen im 19. Jh. (Veröff. d. Max-Planck-Inst. f. Gesch., Bd. 1), 1972, S. 1 - 44, Wiederabdr. in: ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie, 1976, S. 174 - 205, eine bestechende, Theorie und Anschauung verbindende Analyse. Kurzfassung von Problem und Gegenstand im sozialgeschichtlichen Kontext bei W. Conze, Sozialgeschichte 1800- 1850, in: Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 2, 1976, S. 470 ff. 4 Einschränkend für das Folgende gilt, daß die aufgeführten Beispiele einem relativ engen Erfahrungsbereich entstammen. Die Fußnoten beschränken sich, die Vortragsform bewahrend, auf den unmittelbaren Beleg. s Verein (Fn. 3) S. 1 ff.
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Wissenschaft lösen sich von den ihr traditionell eigenen rituellen und repräsentativen Funktionen der ständisch-hierarchischen Gesellschaft, werden allgemein zugänglich, werden zum disponiblen Gut des Interesses von Privatleuten. Auch das Allgemeine, das Politische verbleibt nicht weiterhin exklusives Reservat von Amt und Obrigkeit. Dekorporierung und Individualisierung setzen Kritik frei. Deutlicher: Das freie Räsonieren, vormals beschränkt auf den privaten Innenraum, verlagert sich zunehmend in Klubs und Gesellschaften, bekommt mithin fast öffentliche Qualität. Es ist bekannt, daß der Staat selbst, jedenfalls wo er sich als aufgeklärt begriff, diese partielle Formveränderung der Gesellschaft durchaus gutgeheißen, wenn nicht selbst gefördert und betrieben hat. Als Enklaven in einer noch weitgehend ständisch-korporativ geprägten Lebenswelt waren die Vereine Versuchsfeld für jenes Prinzip bürgerlicher Freiheit, das die aufgeklärte Bürokratie ihren Untertanen verordnete und das Karl Gottlieb Svarez, etwa in seinen Kronprinzenvorträgen, so anschaulich beschrieben hat'. Indes: Bei aller Konjunktur in Gruppenbildungen - handle es sich um Geheimbünde, Lesezirkel, patriotische Gesellschaften oder auch Zusammenschlüsse eher informeller Art - darf nun nicht übersehen werden, daß das Politische im strikteren Sinne in ihnen nur sehr indirekt und vermittelt eine Rolle spielte und schon gar nicht sichtbar als Vereinszweck deklariert wurde. Landwirtschaftliche, philanthropische und musikalische Vereinigungen dominierten zunächst, dazu die fast überall emporschießenden Lesegesellschaften. Ein neuer Typ von Verein- und damit treten wir in das 19. Jahrhundert ein - entsteht unter der napoleonischen Besetzung. Im Königsherger Exil und in der Absicht, die Bevölkerung der okkupierten Gebiete zum Widerstand zu motivieren, gegebenenfalls auch materiell zu unterstützen, gründeten Bürger, Beamte und Militärs 1808 den sogenannten Tugendbund, eine Unternehmung, die es während ihres nicht einmal zweijährigen Bestehens auf über 700 Mitglieder brachte. Das durch die allgemeinen Bedingungen diktierte Prinzip der Konspiration war den Freimaurerlogen entlehnt. Neu war die Intensität des Einverständnisses von Vertretern der Bürgerklasse und hoher Administration, neu war ganz sicher der Zweck der Vereinigung: Agitation statt Räsonnement. 1814 folgte eine zweite Phase nationalpolitischer, gleichfalls allerdings ephemerer Vereinsgründungen7 • Sie wird ausgelöst durch 8 Vorträge über Recht und Staat, hrsg. v. H. Conrad und G. Kleinheyer, 1960, s. 65, 237 u. ö. 7 Dazu F. Meinecke, Die Deutschen Gesellschaften und der Hoffmannsehe Bund, 1891; H. Haupt, Wilhelm Snell und sein Deutscher (sog. Hoffmannscher) Bund von 1814/15 und dessen Einwirkung auf die Urburschenschaft, in: Quellen u. Darst. z. Gesch. d. Burschenschft. u. d. dt. Einheitsbwg., Bd. 13, 1932, S. 133 - 208; K.-L. Ay, Frag- und Antwortbüchlein (s. Fn. 1).
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Ernst Moritz Arndts Broschüre "Entwurf einer deutschen Gesellschaft", eine jener über dreißig Schriften, mit denen der Verfasser ein gut Teil der deutsch-patriotischen Propaganda besorgte. Die Gründung deutscher Gesellschaften konzentrierte sich auf das Mittelrheinische, Durchzugsgebiet der Koalitionsarmeen in jenen Zeitläuften. Gründungen sind bezeugt u. a. für Heidelberg, Kreuznach, Gießen und Wiesbaden. Nahm die Zielsetzung der Vereine, gehalten an die etwa des Tugendbundes, eine deutliche Wendung ins Nationalistische, auch in romantische Verklärung des Politischen, so blieb die bedingungslose Orientierung auf Preußen als den präsumptiven Wegbereiter nationaler Einheit erhalten. Das gilt auch für den sogenannten Hoffmannsehen Bund, eine überregionale Nachfolgeorganisation der zumeist schon 1815 aufgelösten deutschen Gesellschaften. Über die Organisation dieser Gesellschaften ist wenig bekannt. Es steht dahin, ob die von Wilhelm Snell, einem ihrer Wortführer, geforderte Dreiklassenscheidung der Mitgliedschaft in "enger Befreundete", "rechtschaffene Männer aus allen Ständen" und "das ganze Volk" praktiziert oder gar die von Arndt geforderte innerbündische Kontrolle des Privatlebens der Mitglieder je ernsthaft erwogen wurde. Keine Zweifel bestehen hingegen über das soziale Erscheinungsbild der Gesellschaften. Pfarrer, Lehrer und Juristen, die "Edlen des Mittelstandes", wie Snell sagte, sind in der Überzahl vertreten, kaum dagegen Handwerker und Kaufleute8 • Ist Prävalenz des Bildungsbürgertums - Kennzeichen übrigens der patriotischen Bewegung bis Karlsbad überhaupt- das eine Merkmal, so die Rückbindung der Vereine an Teile der preußischen Bürokratie und deren Interessen das andere. Anlaufstelle war vor allem die Steinsehe Zentralverwaltung, in deren publizistischen Diensten Arndt stand, verschwiegener Förderer des konspirativen Netzes aber niemand anders als der Staatskanzler Hardenberg selbst. Es ist bekannt, daß mit dem antiliberalen Kurswechsel der preußischen Führung 1815/16 das hier bezeichnete System der Kollaboration zusammengebrochen ist. Der aufgeklärt-gouvernementale Staat war, wenn auch unter nationalpatriotischer Zielsetzung, an die einst selbst gezogene Emanzipationsgrenze geraten- dorthin, wo das Volk mündig geworden, der Sohn erwachsen, wie Ernst Ferdinand Klein schon 1790 vorausgesagt hatte9 ; dorthin, wo bürgerliche in politische Freiheit umzuschlagen im Begriff war. Die verbreitete und im besonderen vom "Hoffmannschen Bund" erhobene Verfassungsforderung lag genau auf dieser Linie. Preußen "löste" den Konflikt administrativ und unter Preisgabe eigener Prinzipien: durch Aufkündigung des Verbunds, durch Verbot des "Rheinischen Merkur", durch Nichteinlösung des Verfass Meinecke, Gesellschaften, S. 24 ff. 9 Freyheit und Eigenthum, Berlin/Stettin 1790, S. 182 f.
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sungsversprechens. Die Selbstorganisation der Gesellschaft im Wege staatsverbundener patriotischer Vereine war noch vor Karlsbad diskreditiert. Von den deutschen Gesellschaften führt kein Weg ins konstitutionelle System, führt kein Weg zu den Wahl- und Volksvereinen späterer Jahre. II.
Die Jahre zwischen Wiener Kongreß und Märzrevolution gelten als die erste Blüteperiode nachkorporativen Vereinswesens. Seine Bedeutung für den Haushalt der politischen Kultur der Zeit spiegelt sich trotz obwaltender Zensur in der zeitgenössischen Presse, den Tag- und Intelligenzblättern zumal. Denn der Verein hier, der Landtag, die Ständevertretung dort, waren als privilegierte Stätten öffentlicher Kritik und Diskussion bevorzugte Objekte auch des publizistischen Interesses. Über Umfang und Verbreitung des Vereinswesens wären wir gern genauer unterrichtet. Es fehlt fast gänzlich am Unterfutter regionaler und lokaler Studien. Nur für drei Städte (Hamburg, Nürnberg und Weinheim) liegen - täusche ich mich nicht - diesbezügliche Untersuchungen vor10• In Österreich soll es 1856 2 234 Vereine oder vereinsartige Zusammenschlüsse gegeben haben11 • Man darf eine vergleichbare Dichte und Größenordnung für andere deutsche Regionen und Staaten unterstellen. Wüßten wir es nicht im Einzelfall durch Zeugnisse, so läßt schon die Metaphorik (Zeit der Vereine, Vereinsleidenschaft) auf einen hohen Verbreitungsgrad schließen. Mehr ist uns bekannt über die Breite des Interessenfeldes, das den Vereinen zur Unterlage diente. Dominiert vor und um 1800 der kaum spezialisierte Verein, in dem Kulturelles und Politisches, weniger Berufsständisches noch ungeschieden den Vereinszweck ausmachen - Patriotische Gesellschaften, Logen und Lesevereine bieten dafür den vorherrschenden Typus - , so setzt doch wenig später schon eine beträchtliche Spezialisierung ein. Mehr noch: Vereinsbildung wird zum Indikator sich differenzierenden gesellschaftlichen Lebens überhaupt. Selbst das Politische im engeren Sinne wird, bei einiger zensurbedingter Verzögerung, zum speziellen Vereinszweck. Hier sind es zunächst die Wahlklubs, dann Handwerker-, Bürgerund Volksvereine, die zu registrieren sind. Als Organisationen gehen sie den späteren Parteien vorauf, sind deren Embryonalformen sozusagen. to H. Freudenthal, Vereine in Hamburg, Harnburg 1968; W. Meyer, Das Vereinswesen der Stadt Nürnberg im 19. Jahrhundert, Nürnberg 1970; H. Schmitt, Das Vereinsleben der Stadt Weinheim an der Bergstraße, Weinheim
1963. 11
F. Klein,
Das Organisationswesen der Gegenwart, 1913, S. 53.
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Die Vielfalt der Vereinsformen ist groß. Ich darf mich auf Skizzenhaftes beschränken. Da sind zunächst die Zusammenschlüsse auf berufsständischer Basis, etwa die von Apothekern, Advokaten, Ärzten und Buchhändlern, um einige der Branchen zu nennen, die sich schon früh örtlich, regional wie überregional organisierten. Der norddeutsche Apothekerverein, der sich 1820 in Minden konstituierte, darf als die erste Gründung ihrer Art in Deutschland gelten. Freilich sind Formen und Zwecke solcher Assoziationen noch fließend; sie forsch auf den Nenner eines Interessenverbandes zu bringen, wäre eher irritierend als hilfreich. Der Zusammenschluß der Apotheker, von dem die Rede war, war vielleicht auch schon dies, also eine Interessengruppe, aber ausweislich seiner Statuten doch zunächst eine Einrichtung der Alterssicherung, des Invaliditätsschutzes seiner Mitglieder sowie nicht zuletzt der Förderung der pharmazeutischen Wissenschaft12 • Die landwirtschaftlichen Vereine wiederum, die übrigens vielfach schon im 18. Jahrhundert bestanden, verwischen die Konturen auf andere Weise. Mitglieder waren Gutsbesitzer und nur gelegentlich Bauern, dafür aber auch Förderer und Freunde des Gewerbes, also Nichtpraktiker, Beamte, Professoren, Pfarrer, wie es bezeugt ist13 • Hinzu kam das durch geldliche Zuwendungen noch geförderte enge Verhältnis zur Staatsverwaltung, das manchem Verein dieser Sorte ein fast offiziöses Aussehen gab, mochten sie auch als Sprachrohr in dieser, als beratendes Organ in jener Richtung tätig werden. Es dürfte kein Zufall sein, daß in zwei Fällen, nämlich in Württemberg und Baden, die landwirtschaftlichen Vereine am Ende zu Staatsbehörden werden. Noch augenfälliger schließlich bieten sich die Beziehungen der Organisationen von Handwerk und Handel zum Staat dar. Folgt man Hartmut Kaelble, so waren die sog. kaufmännischen Korporationen, ob nun formal als freie Verbände oder als halbstaatliche Handelskammern verfaßt, zumindest in Preußen nie mehr als ein "Gutachter- und Informationsanhängsel der Staatsverwaltung" und in dieser Rolle in den Entscheidungsprozeß der Bürokratie eingebaut14 • Sie sind also nur noch sehr bedingt ein Fall von Selbstorganisation der Gesellschaft. Was die Zeitgenossen des Vormärz glauben ließ, sie lebten in einer Epoche der Vereine, war aber sicher etwas anderes als das bisher Referierte. Es war das überaus vielfältige Assoziationswesen auf dem Felde genossenschaftlicher oder karitativer Vor- und Fürsorge. Wo der Staat, 12 M. Erdmann, Die verfassungspolitische Funktion der Wirtschaftsverbände in Deutschland 1815 - 1871, 1968, S. 129 ff. 13 Vgl. wieder Erdmann (Fn. 12) S. 46. 14 Industrielle Interessenverbände vor 1914, in: Zur soziologischen Theorie und Analyse des 19. Jhs., hrsg. v. W. Rüegg u. 0. Neuloh, 1971, S. 180- 92
(182).
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und das darf als die Regel gelten, noch keine sozialpolitische Kompetenz wahrnahm, andererseits Kommunen und Stiftungen sich zunehmend außerstande sahen, der Armut und ihrer Folgen Herr zu werden, bildete sich eine (lichte Zwischenzone staatlich in der Regel geförderter Selbsthilfeeinrichtungen, handle es sich um Witwen- und Waisenkassen, Sparund Kreditvereine, Versicherungsgesellschaften, Vereine zum Wohl der arbeitenden Klassen, Siedlungsgesellschaften, Auswanderervereine, Armenkolonien - um hier nur einige Formen zu nennen. Die Skala reicht bis zu den Produktivassoziationen, wie sie emigrierte deutsche Handwerker in den 1830er Jahren in Paris zum Programm erhoben. Auch die in den vierziger Jahren emporschießenden Handwerker- und Arbeiterbildungsvereine wären hier zu nennen: Organisationen nicht nur der Betroffenen selbst, wie der Name es nahelegt, sondern auch von Angehörigen der "gehobenen Stände". In ihnen verband sich frühsozialistisches, aus der Emigration herrührendes Gedankengut mit philanthropischem, der "Sittigung" des Arbeiters geltendem Bürgereifer16 • Schließlich meint Konjunktur der Vereine natürlich jene Assoziationen, die im Zuge nachständischer Freisetzung von Kultur, Wissenschaft und Lebensformen sich diese in "kollektiver Privatheit" 16 als Gegenstand des Interesses aneigneten. Liederkränze, Musik- und Turnvereine und Geschichtsvereine sind die wichtigsten und der Nachwelt geläufigsten Formen dieses Typus. Den gemeinbürgerlichen, ständische Exklusivität durchbrechenden Zug haben die Vereine dabei seit dem 18. Jahrhundert im Prinzip bewahrt, wenn auch die Veränderungen nicht zu übersehen sind. Waren sie vormals Inseln des aufgeklärten Diskurses in einer statisch nach Amt, Stand und Herkommen geordneten Gesellschaft, so repräsentierten sie nun weithin eben diese Gesellschaft selbst, und dies in ihrer ganzen sozialen Vielfalt. Das zog neue Formen der Ausschließung nach sich: Differenzierungen nach Besitz und Bildung vor allem. Man darf gleichwohl sagen, daß der aufgeklärte Grundsatz bürgerlicher Selbstbestimmung gerade im Klima der Restauration nach 1815 im Gehäuse der Vereine eine feste Heimstatt hatte, ja sich in ihm weiter fortbildete. Dabei kann als Faustregel gelten, daß, je offener die Vereine sich in der Rekrutierung ihrer Mitglieder zeigten, desto unverhohlener auch zur allgemeinen Politik sich äußerten, ja in diese sich einmischten. Die liberalen und nationalen Bekundungen von Turnern und Liederkränzen, die Aktivitäten der Wahlklubs schließlich sind dafür Beispiel. Hier spätestens, wo Vereine den Grundsatz verließen, Mosaikstein auf dem Felde des Systems sozialer und ökonomischer Bedürfnisse zu sein und 16
Vgl. zuletzt K. Birker, Die deutschen Arbeiterbildungsvereine 1840- 1870,
16
Nipperdey, Verein (Fn. 3) S. 30.
1973.
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ihre in der Kumulation längst öffentliche Wirkung politisch wurde, hier trat nun in aller Regel der Staat auf den Plan. Dazu jedoch in einem anderen Zusammenhang später. III.
Mit alledem ist aber nun doch erst die eine, und die fraglos geläufigere Seite von Sache und Problemlage erörtert. Ich wende mich einer zweiten zu. Für die begriffliche Fixierung der deutschen Verhältnisse vor 1848 hat sich, wie bekannt, die Formel von der "Dichotomie von Staat und Gesellschaft" eingebürgert, wobei der Staat als institutionalisierter Motor des Fortschritts, die Gesellschaft als Objekt der Politik, als depolitisierter Bereich ökonomischer Bedürfnisse gesehen wird. Daß dieses Kürzel, Rezeption Hegeischen Geistes, namentlich für den preußischen Bereich vieles erklärt, bedarf keiner weiteren Erörterung; daß sie aber auch etliches verdeckt, das macht einen wesentlichen Aspekt des Themas aus. Dabei ist auszugehen von der eigentlich fast trivialen Feststellung, daß die Herausbildung des konstitutionellen Verfassungsstaates in Kontinentaleuropa nicht deckungsgleich ist mit der Formveränderung der sozialökonomischen Verhältnisse durch die industrielle Revolution, vielmehr das zweite phasenverschoben auf das erste folgte. In Deutschland gar markiert diese Phasenverschiebung eine eigene Epoche. Sie markiert das, was wir im weiteren Sinne als Vormärz bezeichnen. Das deutsche Zeitbewußtsein nach 1820 kannte im Schnitt der Zeugnisse eigentlich keinen politisch ausgelaugten Begriff von "Gesellschaft"; vielmehr verbanden sich in ihm auf eigentümliche, aber symptomatische Weise aufklärerische Vertragsgemeinschaft und die herkömmliche statische societas der Hausväter. Kleingewerbliche Formen des Produzierens, sichtbar im handwerklich agrarischen Familienbetrieb, überschaubare, aber in lokaler Engbrüstigkeit befangene Konnexionen, feste Orientierung an überkommenen sozialständischen Leitbildern, dazu der Mangel an Ressourcen und der Überfluß an Menschen, sichtbar in der schleichenden Not des Paupers, des Tagelöhners, des Dorfschullehrers, des Kinderreichen - das ist die Lebenswelt, über die seit 1815 das Netz neuer Verfassungen gelegt wird. Entsprang die Verfassunggebung selbst dabei durchweg bürokratischem Kalkül, so belebte sie doch die örtliche Szenerie auf nicht revidierbare Weise: durch die Austeilung des Wahlrechts an Besitzende, an Selbständige aller Grade, durch den Zwang zu offener Stimmabgabe. Das hob nachbarlichen oder auch nur familiären Streit ins Politische, machte empfindlich für Pressionen, ließ Interessen schärfer hervortreten, provozierte Wahlwerbung, öffnete den Blick für die Angelegenheiten des
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Gemeinwesens, kurzum: schuf politisches Selbstbewußtsein. Der Vorgang muß einstweilen recht abstrakt beschrieben werden, denn wir wissen nicht viel über ihn. Erst nach 1830 tritt er deutlicher hervor, vor allem durch die Institution der Wahlklubs und Wahlvereine, die landauf, landab gegründet werden, Kandidaten küren, deren politisches Glaubensbekenntnis abnehmen, in Einzelfällen sogar einen Einfluß auf die Politik der künftigen Abgeordneten geltend machen. Eine grundlegende Veränderung der lokalen, der gemeindlichen politischen Kultur ist die Folge17• Gegenüber den Jahren nach 1812 fällt dazu ins Auge, daß der Staat nicht mehr als Agent, als Kompagnon, sondern als Aufseher erscheint; ferner, daß der Befreiungsvorgang nun auch schon in breiteren Schichten der Bevölkerung Wurzeln schlägt. Die frühen 1B30er Jahre bedeuten für Deutschland den Beginn einer Selbstorganisation der Gesellschaft, die einen neuen Typ des Bürgers schuf, die das parlamentarische Leben veränderte und virtuell auch die Staatsgewalt in deren Kräftefeld zog. Das Neue des Vorgangs hat schon Lorenz von Stein 1865 erkannt: "So entsteht ein Gegensatz zwischen Staatsgewalt und Vereinswesen, der im Grunde ein Ausdruck des Gegensatzes zwischen der neuen, noch nicht zur Herrschaft gelangten staatsbürgerlichen Gesellschaft und der Staatsgewalt ist. In diesem Gegensatze verlieren die Vereine ihren natürlichen Boden. Sie beginnen statt der Verwaltung die Verfassung zu ihrem Ziel zu setzen, und statt der öffentlichen Aufgaben die Ordnung der Organe, welche sie leiten, die Volksvertretungen und ihr Recht durch ihre Macht ändern zu wollen. Das ist die Zeit der politischen Vereine18." Das Faktische bedarf der Ergänzung: Wie sahen die Zeitgenossen Zweck und Funktion der Vereine? IV. Es war bereits die Rede vom durchweg vorindustriellen Zuschnitt der Gesellschaft, die hier in eine neue, durch Verfassunggebung geförderte Phase politischer Emanzipation eintrat. Alle politischen Richtungen haben diesem Umstand Rechnung getragen, nicht wenige ihrer Vertreter sogar mit Eifer für den sozialen Status quo gestritten. Der Liberalismus in allen seinen Spielarten - Lothar Gall hat das jüngst überzeugend dargetan19 - zunächst und vor allem; aber auch der Republi17 Die These von der Fundamentalpolitisierung durch Austeilung des Wahlrechts wird hier vorerst eingeschränkt auf die süddeutschen Staaten. Für Württemberg speziell ist sie expliziert und belegt in der HabiL-Schrift des Vf. (Württembergischer Parlamentarismus 1819- 1848, Masch. Marburg 1975). 18 Die Verwaltungslehre, T . 1 (1. Aufl. 1865), S. 535. 19 Liberalismus und "bürgerliche Gesellschaft". Zu Charakter und Entwick:lung der liberalen Bewegung in Deutschland, in: Hist. Zs., Bd. 220, 1975, 324- 56.
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kanismus, wie er nach 1830 vorübergehend starke Resonanz erhielt. Der gemeinsame Grundton ist unüberhörbar, wenn der württembergische Minister Weckherlin ein Land preist, in dem "das Wohl oder Wehe von Tausenden" nicht abhängig sei "von dem Glück oder den Launen eines einzigen Fabrikherrn", vielmehr Tausende die Produzenten ihres eigenen, wenn auch in der Regel bescheidenen, ja kärglichen Glücks seien20 ; wenn Karl von Rotleck den Wahlzensus nur gelten läßt, um den gänzlich Vermögenslosen, keinesfalls jedoch den steuerzahlenden Kleinbesitzer von den politischen Geschäften auszuschließen21 ; wenn die demokratischen Emigranten in Paris an einem fast familiären Gemeinwesen Hausseausehen Angedenkens sich aufrichten; wenn schließlich in den Landtagen Kapitalisten wie Feudalherren als Außenseiter und Parasiten der Gesellschaft gescholten werden. Wenn solche und andere Äußerungen laut werden, dann stehen sie für eine Tendenz. Für welche? Obwohl die industrielle Klassengesellschaft bereits ihre Kerben einzeichnet, unterliegt doch alle politische Selbstbewegung der Gesellschaft im Vormärz noch traditionalem Konsensus der bezeichneten Art. Und das wiederum heißt: Vorherrschend ist eine fast naive Auffassung von der sozial ungespaltenen Natur der öffentlichen Dinge. Es ist das, was in der sentimentalen Wortprägung "Altliberalismus" mitschwingt, was in der Nachwelt als "politisches Biedermeier" umläuft, es ist das, was noch der Faulskirehe ihr vermeintlich altmodisches, unpraktisches Flair verlieh. Konkret aber bedeutet es dies: Alle Vereinsbildungen, alle korporativen Einungen und Zusammenschlüsse der Zeit besaßen, ob ausgesprochen oder nicht, eine ins Öffentliche, ins Gemeinwesen weisende Tendenz. Wenn Turnvereine und Liedertafeln vaterländische Gesinnung pflegten, so taten sie das nicht nur, weil erklärtermaßen politische Zusammenschlüsse verboten waren, war das nicht nur ein Vorgang politischer Mimikry. Vereine sollten- so die vorherrschende liberale Meinung - Brücken schlagen zwischen Gesellschaft und Staat, ja sie waren Partikel des Gemeinwesens selbst; in ihnen sollte Privates, Lokales, Separates öffentliche Qualität erhalten. Karl Theodor Welcker erblickte in ihnen "Blüte und Kraft der Staaten, den kräftigsten Quell für patriotischen Gemeingeist". "Wechselseitige Mittheilung und Vereinung mit Gleichgesinnten" erschien ihm neben "Freiheit und Freude am Eigenen" als sicherstes Unterpfand einer freien Gesellschaff22 • "Denn 20 So in einem Bericht von 1823 an den König, abgedr. in: Württ. Jbb., Jg. 1823, S. 135 f. (zit. n. E. Klein, Die Anfänge der Industrialisierung Württembergs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Raumordnung im 19. Jh., 2. T., 1967, S. 85 f.).
21 Art. "Census, insbesondere Wahlcensus", in: Staats-Lexikon oder Encyclopädie der Staatswissenschaften, Bd. III, Altona 1836, S. 366 - 88. 22 Art. "Association, Verein, Gesellschaft, Volksversammlung (Reden ans Volk und collective Petitionen), Associationsrecht", in: Staats-Lexikon, Bd. Il,
1835,
s. 21 - 53 (41 f.).
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nur aus dem Verein entsteht das Vollkommene", verkündet 1835 der Republikaner Theodor Schuster23 • Der idealistische Ton bedeutet nicht Verstellung, ist nicht gespielt. Wo der zeitgenössische Polizeistaat von Grund auf als etwas Transitorisches, als etwas Veränderbares, vor allem aber als Domäne eines angehbaren politischen Interesses galt und alle Assoziationsbildung zuerst bestimmt schien, ihn auf den Weg der Verbesserung, der Liberalisierung, der Mitbestimmung der Bürger zu bringen, da blieb das Interessenmotiv notgedrungen versteckt. Vereine als Interessenverbände gegen den Staat zu mobilisieren, ja solches auch nur zu erwägen, das war nicht die Philosophie der Vor-Achtzehnachtundvierziger. Nun soll beileibe nicht behauptet werden, es habe politischen Interessendruck - ob organisiert oder nicht - in dieser Zeit überhaupt nicht gegeben. Jede Gesellschaft, die sich ihrer korporativen Fesseln entledigt, kennt ihn selbstredend, und in einem elementaren Sinn gibt es ihn wohl überall. Nicht nur einmal haben vor 1848 Vertreter regionaler Ritterschafts- und Grundbesitzerverbände in gezielter Verbandsmanier die Ablösungsgesetzgebung behindert: über die ersten Kammern, über die zuständigen Departements und nicht zuletzt durch Intervention beim Bundestag. Auch Bürgerzusammenschlüsse zum Zweck der Abfassung und Absendung von Petitionen- auch dies eine Form gesellschaftlicher Selbstorganisation - verfolgten z. T. partikulare Ziele. Es scheint mir kein Zweifel darüber zu sein, daß solcher Einfluß hier und da die Gesetzgebung mitbestimmt hat. In Württemberg etwa novellierten Anfang der 1830er Jahre Regierung und Landtag angesichts einer Flut von Zuschriften aus dem Lande Bürgerrechts- und Gewerbegesetz. Niederlassungsfreiheit, Freizügigkeit und Freiheit der Eheschließung wurden wieder eingeschränkt, für etliche Gewerbe der Zunftzwang restituiert. Genau das aber verlangte eine Vielzahl von Bürgereingaben. Ins gleiche Fach gehören die gegenseitigen Vorhaltungen von Regierungen und Landtagen, aber auch der Parteien in den Kammern selbst, sie verabsäumten die Vertretung der materiellen Interessen der Bevölkerung. Materielle und geistige Interessen der Bevölkerung. Materielle und geistige Interessen, das ist ein fast geflügeltes Wortpaar in jener Zeit. Ja- um ein anderes Beispiel zu geben-, es wäre zu prüfen, ob nicht die ständisch-konservative Schlagseite vieler Liberaler - ein Problem, das normalerweise in den Höhen des theoretischen Disputs abgehandelt wird -ob nicht diese Neigungen überhaupt mit Rücksichtnahme auf örtliche Wählerklientelen von Handwerkern und Kleinbauern zusammenhängen. Denn einesteils ist bekannt, daß diese Schieb23 Gedanken eines Republikaners, in: Der Geächtete, Bd. li (reprograf. Nachdr. Leipzig 1972, hrsg. v. W. Kowalski), S. 62.
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ten das erdrückende Gros der Wahlmänner stellten, andererseits gab es kaum einen liberalen Schriftsteller, der in jener Zeit nicht einmal Abgeordneter gewesen wäre. Und doch. Die individuelle oder organisierte Form der Vertretung von Interessen ist in der politischen Kultur des Vormärz keine dominante Erscheinung. Das zeigt sich schon am Institut der Bürgerpetition selbst. Soweit sich das sagen läßt - wir wissen ja über die Petitionen des Vormärz, aber auch noch der Reaktionsjahre sehr wenig - , sind die Eingaben in aller Regel Echo der Landtagspolitik, der liberalen vor allem, wirken als deren publizistischer Verstärker, stehen also durchaus im Gleichklang und nicht im Konflikt mit jenen. Für ein politisches System, das verfassungspolitisch als ein dualistisches eingerichtet war, in dem sich das Parlament selbst als Interessenvertretung - nämlich der Staatsgesellschaft - gegen einen dritten nämlich Krone und Verwaltung- begriff, war es folgerichtig, daß die Volksvertretung die Vertretung von Teilinteressen absorbierte; lag es nahe, daß die Bürgerbasis von Wahlklubs und Adressenvereinen eher zur Rückenstütze als zur Kontrollinstanz geriet. Die Selbstorganisation der Gesellschaft stand, namentlich wo sie sich politisch gerierte und politische Ziele prätendierte, im Dienst und damit im Schatten parlamentarischer Willensbildung.
V. Es bleibt mitzuteilen, welchen Spielraum Verfassungen und ministerielle Politik den Vereinen, den politischen zumal, boten; im weiteren, welche retardierenden Kräfte sich der Ausbreitung des Assoziationswesens und seiner organisatorischen Verfestigung entgegenstellten und diese behinderten. Die Rechtslage - um mit ihr zu beginnen - war zunächst dadurch bezeichnet, daß die Vereinsfreiheit ebenso wie ihr Geschwisterinstitut, die Versammlungsfreiheit, keine verfassungsrechtliche Absicherung kannte24. Es ist bekannt, daß weder die "Bill of Rights" noch die "Declaration des droits de l'homme et du citoyen" noch die französischen Verfassungen von 1793 und 1795 die Assoziationsfreiheit kodifiziert haben und daß sie 1815 überhaupt erstmals in einer Verfassung, nämlich der niederländischen, auftaucht. Für den Bereich des Deutschen Bundes findet sich die erste, wenn auch eher einschränkende Erwähnung im Grundgesetz des thüringischen Kleinstaates Sachsen-Meinirrgen von 1829, und das ist - auf dieser Ebene, versteht sich - bis zur Faulskirehe schon alles. 24 Für das Folgende J. Baron, Das deutsche Vereinswesen und der Staat im 19. Jahrhundert, Diss. jur. Göttingen 1962, S. 47 ff.
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Die offene Verfassungslage kam den Regierungen selbstverständlich nicht ungelegen. Sie lud dazu ein, das Vereinswesen im Wege des herkömmlichen Polizeirechts zu ordnen, d. h. zu tolerieren oder zu fördern, wo es ökonomischen, sozialen oder kulturellen Zwecken nachging, dort aber zu drücken, wo es politisch wurde. Das Kalkül war berechnet auf die politische Indolenz der 1820er Jahre und damit erfolgreich. Für die 1830er und 1840er Jahre verfing es nicht mehr. Denn nun schlug die Rechtslage auf die Regierungen zurück. Die liberal-demokratische Bewegung deutete die Verfassungslücke nicht nur im Sinne unbeschränkter Organisationsfreiheit, sondern nutzte sie auch zu forcierter politischer Vereinsbildung. Was folgte, ist in seinen disparaten Erscheinungen ebenso bekannt, wie es als überregionaler und epochaler Vorgang - weil unerforscht - noch unbekannt ist. Ich meine die Konstituierung der Polenvereine und in ihrem Gefolge die der Wahlklubs als traditionslosen Beginns politischer Mobilisierung breiter Schichten der Bevölkerung25 • In kürzester Zeit gelang es den Liberalen in Süddeutschland, 1830/ 31/32, von den regionalen Zentren aus ein Netz von Ortsvereinen über das Land zu werfen, mit Vollversammlung, mit Mitgliedschaft, mit Komitee, mit Vorstand- im Einzelfall auch mit Geschäftsordnung. Ja, mit dem Preß- und Vaterlandsverein trat im Herbst 1831 eine Organisation überregionalen Zuschnitts, d. h. einer Reihe über das Gebiet des Deutschen Bundes verstreuter Filialen auf den Plan. Nun weiß man, daß es sich bei all diesen Vorgängen nur um eine langgestreckte Episode faktischer Vereinsfreiheit handelt. Folge der Irritation von Behörden und Zensoren unter dem abrupten politischen Klimawechsel der Julirevolution. In dem Maße, wie die Regierungen ihr Gleichgewicht wiederfanden, wurden Presse und Vereine wieder unter Kuratel gestellt. Der Frankfurter Bundestag beendete das Kapitel, indem er neben Assoziationen und Tagblättern nunmehr auch politische Versammlungen unter Strafe stellte. Das war um die Jahresmitte 1832. Es wird dabei im historischen Kontext oft übersehen, daß die Feste und Treffen, die im Frühjahr 1832 die politische Szenerie namentlich Süddeutschlands bestimmten, nurmehr eine Schrumpfform der Vereinsfreiheit, ein Rückzugsgefecht gewissermaßen, darstellen - eingeschlossen die große Demonstration auf der Ruine des Harnbacher Schlosses. Bei Lichte besehen, bedeutete sie den Pyrrhussieg der liberaldemokratischen Bewegung der 1830er Jahre. 25 Der Gegenstand ist seit E. Bauer (Geschichte der constitutionellen und revolutionären Bewegungen im südlichen Deutschland in den Jahren 1831 bis 1834, 1845) und R. Mucke (Die politischen Bewegungen in Deutschland 1830- 1835 mit ihren politischen und staatsrechtlichen Folgen, 1875) nicht mehr im Zusammenhang behandelt worden.
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Was blieb, was folgte, waren Konspiration und Emigration, mitunter beides kombiniert, wo ihr die Gastländer Schweiz und Frankreich auf die Finger sahen. Dabei verlagerte sich das Schwergewicht innerhalb Deutschlands ins Hessische. Hier die Zirkel um Büchner und Weidig, dort - im Schatten der neu etablierten Frankfurter Untersuchungsbehörde kurioserweise-die Frankfurter Union, der sogenannte Männerbund. Diese letztgenannte Verschwörung ist gewiß ein Einzelfall und als solcher auch ohne Nachfolge geblieben, aber doch bedeutsam, weil hier erstmals die handarbeitenden Schichten der Gesellschaft selbst, hier vor allem die Gesellen, zu aktiven Teilhabern von Politik wurden, wo sie doch bis dahin allenfalls Objekte klassenfremder Fürsorge waren, die ihre Advokaten in Außenseitern der gehobenen Bourgeoisie fanden. Auch hier also eine Wegkehre im Fortschreiten von Organisation und Selbstverständnis, wobei übrigens das, was in damals wie heute unscharfer Terminologie "Arbeiterbewegung" genannt wurde bzw. wird, u. a. von hier seinen Ausgang nahm. Und doch war 1834, als der Deutsche Bund die Demokraten verjagt oder eingekerkert, die Liberalen aber großenteils wieder fest im Geschirr hatte, nicht mehr alles wie vorher, mag eine vom Außergewöhnlichen, vom spektakulären Vorfalllebende Geschichtswissenschaft es auch so sehen. Jene Grundwoge der Politisierung und Selbstorganisation, wie sie Verfassunggebung und die auf sie folgenden periodischen Wahlen denn gewählt wurde natürlich auch weiterhin- in Bewegung setzten, ist nie wieder gänzlich zum Stillstand gekommen. Was blieb, war der im Zeichen offenen und das heißt ungeschützten Wahlrechts direkte Austrag lokaler politischer Konflikte; was blieb, war die Verquickung von politischen Interessen und privater ökonomischer Existenz; was blieb, war die Beteiligung breiter Schichten am Wahlentscheid. Was sich 1848 in Wochen, ja Tagen abspielte, ist ohne die Inkubationsphase des Vormärz undenkbar28 • Zuzugeben bleibt allerdings, daß die politische Emanzipation schubweise und auf die Wahltermine konzentriert erfolgte, während die sozial-kulturelle Komunikation in Turnvereinen, Liederkränzen und berufseigenen Genossenschaften in steter Regelmäßigkeit ihren Fortgang nahm. Die zeitgenössische Presse bietet dafür einen anschaulichen Unterricht. 26 Diese Erkenntnis beginnt sich allmählich Gehör zu verschaffen, bedarf allerdings weiterer empirischer Untermauerung. Ich nenne an neueren, das Thema von der Peripherie her streifenden Arbeiten: H. Kramer, Fraktionsbindungen in den deutschen Volksvertretungen 1819- 1849, 1968; J. P. Eichmeier, Anfänge liberaler Parteibildung (1847 bis 1854), Diss. phil. Göttingen 1968; W. Boldt, Die württembergischen Volksvereine von 1848 bis 1852, 1970; H. Gebhardt, Revolution und liberale Bewegung. Die nationale Organisation der konstitutionellen Partei in Deutschland 1848/49, 1974; J. Paschen, Demokratische Vereine und preußischer Staat. 1977.
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Nur zwei deutsche Staaten schließlich garantierten dem Vereinswesen fortan einen begrenzten Freiraum - verließen also den Grundsatz polizeilicher Ad-hoc-Genehmigung. Baden gab sich 1833 ein Vereinsgesetz; Württemberg räumte den Assoziationen einen Paragraphen seines voluminösen Strafgesetzbuches ein (§ 149). In beiden Fällen beschränkte sich der Staat darauf, für den Fall ein Eingriffsrecht geltend zu machen, daß er Sicherheit und allgemeines Wohl bedroht glaubte. Die Leitlinie staatlicher Politik war dabei durchweg die, das öffentliche Interesse des Bürgers auf kulturelle, berufsständische oder sozialkaritative Zwecke zu lenken, d. h. ihn auf diesem Felde zu genossenschaftlich-vereinsmäßiger Selbstbetätigung zu ermuntern, das politische Interesse desselben Bürgers jedoch zugleich zu kalmieren, d. h. ihn staats-und wahlpolitisch zu isolieren. In fast ritueller Weise pflegen die Regierungen seit den 1830er Jahren den von Oppositionellen initiierten Wahlvereinen vorzuhalten, sie behinderten, ja strangulierten die politische Entscheidungsfreiheit des Bürgers, vergingen sich gegen den Grundsatz des ungebundenen Mandats. Wie 1831/32 der Innenminister Kapff in Württemberg, so nutzte auch anderswo die Obrigkeit den liberalen Repräsentativgedanken für taktische Zwecke, waren die Regierungen bemüht, die Selbstorganisation der Wählerschaft als ein Moment der Rückständigkeit zu denunzieren und dann zu unterbinden. Ein anschauliches Beispiel für die Verfügbarkeit politischen Gedankengutes. Stand den gesellschaftlichen Gruppen ein breites Sortiment von Mitteln der Selbstorganisation zu Gebote, so wurde den Wahlklubs und Volksvereinen vielfach Vorstands- und Ausschußwahl sowie ein geschäftsordnungsmäßiges Verfahren mit der Begründung verwehrt, hier greife Privates in öffentliche Rechte über. Die Austeilung des Wahlrechts und damit die verfassungsmäßige Bestellung eines Gebildes Gemeinde oder Staatswählerschaft - so weiter der Gedankengang - erlaube nicht den freiwilligen, den spontanen Zusammenschluß des gleichen Personenkreises zu politischen Zwecken. Eine taktisch forcierte Auslegung des Repräsentativstaatsgedankens verband sich dabei mit jener Auffassung von herkömmlich-ständischer Arbeitsteilung, nach der das Öffentliche, das Allgemeine ausschließlich oder doch vorwiegend von der Obrigkeit, vom Staat, zu besorgen sei, in seine Kompetenz, mithin in seine Regie falle. Und doch war das alles natürlich nur ein Rückzugsgefecht. Die akkurate Unterscheidung von Zusammenschlüssen zu geselligen Zwecken, die der Staat förderte, und solche zu politischen, die er zu unterbinden suchte, ließ sich nur über eine kurze Strecke durchhalten. Wie das parlamentarische Budgetrecht so war auch das politische Assoziationsprinzip durch eine Verfassungslücke in das konstitutionell-monarchische System eingedrungen und stand im Begriff, dieses von innen her auf5 Der Staat, Beiheft 2
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zusprengen oder doch zu verändern. Nur die Restriktionspolitik des Bundestages, die offene Drohung nicht zuletzt mit dem Staatsstreich bewahrte einstweilen den Status quo; verhinderte, daß die Maxime "gesellschaftlicher" Selbstorganisation mittels der Schubkraft der Vereine auf den Staat übergriff; verhinderte, daß Landtage Regierungen ihre Politik aufzwingen konnten; verhinderte eine sukzessive Formverwandlung der konstitutionellen Monarchie.
VI. Das bisher Gesagte bedarf noch einer korrigierenden Ergänzung. Die Vielfalt der Vereinsgründungen auf der einen Seite, die Verbotspolitik von Bund und Einzelstaaten auf der anderen hat die Geschichtswissenschaft, beginnend schon mit Gierke, glauben lassen, der Liberalismus sei der eigentliche Motor dieser Entwicklung gewesen und ihm selbst eigne von Anbeginn eine genuine gruppen- und parteibildende Kraft. So geradlinig und unfallfrei ist die Entwicklung nun in der Tat nicht verlaufen. Schon die "verbandsfeindliche Haltung" 27 des klassischen Naturrechts lastete als beträchtliche Hypothek auf der zeitgenössischen Diskussion28 • Und geradezu gesperrt hat sich der liberale Zeitgeist gegen den Vereinsgedanken, wo neben dem Verbindenden das Trennende, neben dem Ganzen das Partielle, neben dem Vermittelnden das "Parteiische", der Konflikt hervortrat. Noch in den frühen dreißiger Jahren sah man sich keineswegs als "Pars" in einem exklusiven, Richtungen und Gruppierungen voneinander trennenden Sinne. Es dominierte im Sinne altliberalen Denkens die Vorstellung einer geschlossenen Repräsentation der öffentlichen Meinung gegen die Regierung. Der Weg der Selbsttindung als Partei ist für die Liberalen des Vormärz von schweren Skrupeln begleitet gewesen und ist ihnen nicht zuletzt von den Verhältnissen aufgezwungen worden. Die Erfordernisse des politischen, vor allem des parlamentarischen Betriebes haben dabei ebenso eine Rolle gespielt wie die - vorerst illegale - Selbsthilfe der "Praktiker der Organisation" 29 : der Republikaner, der "Sozial-Demokraten", der Burschenschaftler. Ein obsolet gewordenes Selbstverständnis, mochte dieses auch literarisch noch fortwirken, wurde so von den Zeitläuften überholt. VII. Der Kollaps der gescheiterten Revolution zerstörte nicht nur alle Hoffnungen auf ein Ende der autokratisch verfaßten Politik des BundesVereinswesen (Fn. 24) S. 47. Dieser Aspekt fehlt in der Arbeit von F. Müller (Korporation und Assoziation, 1965), der umfangreichsten modernen "Problemgeschichte" des Gegenstandes. 29 Eichmeier, Parteibildung (Fn. 26) S. 2. 27
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Baron,
Selbstorganisation der Gesellschaft
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tages, dieses übermächtigen anonymen Teilhabers einzelstaatlicher Innenpolitik bis dahin, er entzog auch dem für den Vormärz so charakteristischen "mittelständisch akzentuierten "Sozialoptimismus" 30 die Grundlage. Die Verbindung von republikanischen Institutionen und einer auf Autarkie und Kleinbesitz gegründeten Gesellschaft erschien als hinfällig, da beides sich gegen die vorherrschende Zeittendenz sperrte. Wo die schnell fortschreitende Industrialisierung die Klassengegensätze schärfer hervortreten ließ, da verlor jene Maxime an Glaubwürdigkeit, die Selbstorganisation durch Assoziationen, Versammlungen und Parlamente vermöchte die Unterschiede der materiellen Interessen wenn nicht auszugleichen, so doch durch politisch korporative Selbstentfaltung zu neutralisieren. Was im Vormärz den Konsens der meinungsbildenden moyenne classe ausmachte, von - um Namen sprechen zu lassen - Dahlmann über Rotteck bis SiebenpfeifJeT und Venedey, d. h. zu einer "sozialdemokratischen" Politik vor Marx, das war nunmehr historisch ortlos geworden, stieß sich tödlich an einer Klassengesellschaft, die sich dezidiert nunmehr auch als eine solche begriff. Der ihr adäquate Ausdruck der Form der Selbstorganisation war nicht mehr die herkömmliche Assoziation, sondern der Interessenverband. Mit ihm spätestens aber gerät das Thema "Ansätze einer Selbstorganisation der Gesellschaft" an seine eigene Peripherie.
ao Gall, Liberalismus und .,bürgerliche Gesellschaft", S. 355.
s•
Aussprache Wadle: Ich will nur kleine, ergänzende Anmerkungen machen. Es gibt in der Frühzeit nur ausnahmsweise Interessenverbände; so war z. B. der ältere Börsenverein ein überregionaler und sehr aktiver Interessenverband. Es gibt in der Zeit des Vormärz aber auch noch Formen der Selbstorganisation, die man nicht vergessen sollte: Da ist der Versuch zur Rekonstruktion von Zunftverfassungen oder zunftähnlichen Gebilden, der im Assoziationswillen der Beteiligten verankert ist, also keineswegs nur von einzelnen, bestimmten Gruppen betrieben wird. Ich denke an die Versuche, die im bergischen Raum, etwa in Solingen, in den zwanziger Jahren und darüber hinaus angestellt worden sind; sie wurden aber abgeblockt, und zwar nicht durch die unteren Verwaltungsbehörden, sondern durch das Berliner Ministerium selbst. Dann noch eine Bemerkung zur vermittelnden Funktion mancher Korporationen. Es gibt ein schönes Beispiel für Preußen: den Verein zur Förderung des Gewerbefleißes; er ist ein Musterbeispiel für die Koordination der gewerbefördernden Tätigkeit des Ministeriums einerseits und interessierter Unternehmer andererseits; hier sind in bezeichnender Weise auf beiden Seiten gleichgesinnte Männer am Werke. - Eine letzte Bemerkung noch, die schon in das nächste Kapitel hinüberreicht: Ich habe Bedenken gegen die These, daß die Volksvertretung die Versuche der Interessenvertretung absorbiert hätte; die Stände waren wohl nur bedingt in der Lage, Interessen wirkungsvoll an das Ministerium heranzutragen.
Naujoks: Mit großem Interesse habe ich aus dem Vortrag die Angaben über die ungeahnte Fülle von Vereinen und Vereinstypen entnommen; ich bin überrascht, so viel Neues über Gründungen solcher Art unter dem vormärzliehen Polizei- und Zensursystem erfahren zu haben. Darf ich fragen, auf Grund welcher Quellen bzw. Forschungsansätze der Referent an diese oft schwer zugänglichen Vorgänge herangekommen ist? Dietrich: Die beiden bisherigen Diskussionsbeiträge haben mir ein Bedenken etwas zu stark werden lassen, das ich seit Ihren Ausführungen, Herr Brandt, gehabt habe: ob man nicht doch gerade bei den ganzen Vereinsgründungen auf dem Gebiet der landwirtschaftlichen Organisationen, auf dem Gebiet auch der Handels- und Gewerbevereine usw. den staatlichen Einfluß sehr viel stärker herausarbeiten sollte als
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den Gedanken der Selbstorganisation. Das wurde soeben für Preußen getan, es gilt aber auch für die landwirtschaftlichen Organisationen wie sie etwa in Württemberg, aber auch in preußischen Ostprovinzen z. T. entstehen, das gilt aber auch für die Bestrebung zur Förderung von Handel und Gewerbe etwa in Sachsen, wo auch die Initiative dazu wirklich von der Regierung ausgegangen ist. Sie ist nicht von den betroffenen bzw. den interessierten Kreisen ausgegangen. Da würde ich etwas bedenklich sein, ob man das so stark auf die Selbstorganisation hin abstimmen darf, wie Sie es getan haben. Brauneder: Sie haben die vielen Vereine im Kaisertum Österreich erwähnt und allerdings in anderem Zusammenhang festgestellt, daß die Selbstorganisation der Gesellschaft im Dienste staatlich-parlamentarischer Willensbildung gestanden sei. Das kann wohl nur dort gelten, wo es hierfür die entsprechenden Institutionen gab, die aber in Österreich fehlten. Österreich war ja in seinen zum Deutschen Bund gehörigen Ländern vor 1848 und nach 1852 ein absolut regierter Staat. Trotz der vielen hier existierenden Vereine geht von diesen im Vormärz keinerlei Einflußnahme auf die Regierung aus - die konstitutionell-parlamentarische Plattform fehlt eben. Ganz große Bedeutung erreichen die Vereine dann allerdings im Jahre 1848. Von ihnen wird die Revolution beeinflußt, allen voran vom "Juridisch-politischen Leseverein" in Wien. Vielleicht kann man sagen, daß die anderswo im parlamentarischen Leben verbrauchte Vereins-Energie in Österreich mangels eines derartigen Ventils der Revolution 1848 zugute kommt.- Noch ein Wort zu der erwähnten Regierungsinitiative. Für Österreich will ich die Feststellung unterstreichen, da zumindest bei den landwirtschaftlichen Vereinen und bei den wissenschaftlichen Gesellschaften und Akademien die Regierungsinitiative eine sehr maßgebliche Rolle spielte und sich mit der Selbstorganisation der Gesellschaft z. T. verband. Etwa hinsichtlich der Akademie der Wissenschaften in Wien, aber auch ähnlicher Gesellschaften wie in Rovereto oder in Venedig scheint der Staat die Initiative der Begründer aufzunehmen, um seine Kontrollmöglichkeit zu wahren und auch, um liberale Wünsche einzudämmen und zu kanalisieren. Für die Kontrolle spricht etwa der Umstand, daß generell keine Literatur aus dem Ausland eingeführt werden durfte, ausgenommen allerdings für die wissenschaftlichen Vereine, die Akademien. Für die Kanalisierung sei der "Juridisch-politische Leseverein" genannt, wo eben diese ausländischen Bücher zur - beschränkten - Benützung auflagen und damit die liberale Diskussion auf diesen bei der Obrigkeit bekannten Verein konzentriert war. Botzenhart: Ein kleiner Hinweis vielleicht noch zum Zusammenhang zwischen Vereinsbildung und organisierter Interessenvertretung. Das
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große Vorbild für eine allgemeine Vereinsbildung im deutschen Vormärz war eine ausländische Interessenvertretung, die englische "AntiCorn~Law League". Das war das große Beispiel für eine erfolgreiche Assoziation. Überhaupt sollte man noch einen Gedanken unterstreichen, der bei Ihnen nur beiläufig anklang, daß sich nämlich auf das Prinzip der "Assoziation" um die Mitte des 19. Jahrhunderts im deutschen Liberalismus ganz große Hoffnungen gerichtet haben als auf ein Strukturmerkmal neuer gesellschaftlicher Gliederung. Nachdem die Ständegesellschaft des ancien regime verfallen war und eine völlig ungegliederte Gesellschaft gleicher Staatsbürger unvorstellbar erschien, hoffte man aus dem Prinzip freier Assoziation heraus eine neue Strukturierung der Gesellschaft sich entwickeln zu sehen. Der Ruf nach "Gesellschaftswissenschaft" überhaupt resultiert z. T. gerade aus der Hoffnung auf das Assoziationswesen als Prinzip einer neuen Gesellschaftsstruktur. Das wird bei Robert v. Mohl besonders deutlich, aber er ist nur das herausragende Beispiel für eine Fülle ähnlicher Stimmen im älteren deutschen Liberalismus. Schlenke: Wie steht es mit dem Wechselspiel zwischen Staat und Bürokratie auf der einen Seite und organisierter Assoziationen auf der anderen Seite? Wenn man daran denkt, in wie starkem Maße der englische Liberalismus den deutschen Liberalismus beeinflußt hat, so drängt sich die Frage auf, ob englische Vorbilder auch Pate gestanden haben bei der Entstehung von Selbstorganisationen im deutschen Bereich. Böckenförde: Herr Brandt, ich bin Ihnen sehr dankbar für dieses Bild, das Sie uns von den Anfängen gesellschaftlicher Bewegung und Organisation für den Vormärz gezeichnet haben. Gerade als Jurist steht man immer etwas in der Versuchung, die Dinge zu global zu sehen. Im Hinblick auf das Auseinander- und Gegenübertreten von Staat und Gesellschaft verstehen wir meistens den Staat als strukturiert und organisiert, während unter Gesellschaft dann alles andere irgendwie zusammengefaßt wird, aber diffus bleibt. Es ist daher äußerst wichtig, wie Sie es getan haben, konkret nachzufragen, wie die Gesellschaft denn eigentlich aussah, die sich allmählich dem Staat gegenüberstellte. Nach dem Überblick, den Sie gegeben haben, wird eigentlich der Weg von Regel zu Robert von Mohl sehr deutlich. Regel beschreibt die bürgerliche Gesellschaft, schon z. T. das neue Strukturprinzip, das im System der Bedürfnisse sich ankündigt, theoretisch vorausnehmend, sieht aber dann die Gliederung der Gesellschaft in den Korporationen noch institutionell gefügt. Das Assoziationsprinzip erscheint bei ihm noch nicht als neuer Gliederungsmodus für die Gesellschaft. Das steht offenbar sehr in der Zeit. Die ersten zehn oder zwanzig Jahre nach 1815
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war es anscheinend noch gar nicht vorstellbar, daß das System der Bedürfnisse nun das tragende Prinzip ist und wird, nach dem sich die Gesellschaft verfaßt. Man sieht und will überkommene Institutionen und Gliederungen, die z. T. mit neuem Sinn und neuen Aufgaben ausgestattet werden, und in ihnen die Vermittlung von Einzelinteressen und der Anteilnahme an den allgemeinen Angelegenheiten, die ja im Hegeischen Begriff der Korporation immer zugrunde liegt. Robert von Mahl zeichnet demgegenüber bereits das liberale, man kann auch sagen vernunftrechtliche Organisations- und Strukturprinzip schärfer auf und steht auf seinem Boden. Für ihn wird die Gesellschaft bereits um 1830 zum Inbegriff von Assoziationen, ein Zustand, der in der Wirklichkeit dann, wie Sie dargelegt haben, eigentlich erst 1848 und später dominant und strukturbildend wird und von dem dann die älteren Korporationen mehr und mehr aufgezehrt werden. Wir haben heute noch letzte Ausläufer in den Ärztekammern, Anwaltskammern, Handwerkskammern usw. Diese werden dann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts z. T. wieder mit neuen, vom Staat abgeleiteten oder übertragenen Aufgaben versehen, aber das Dominante und Strukturbildende werden einerseits die sozial-ökonomischen Interessenvereine, andererseits die Parteiauseinandersetzungen der politischen Richtungen. Mir war es sehr interessant, daß der Frühliberalismus, wie Sie gezeigt haben, immer noch eine einheitliche Repräsentation der öffentlichen Meinung gegenüber dem Staat will, und noch nicht im Sinne der Assoziationsvielfalt oder des Pluralismus denkt.
Willoweit: Der Vortrag hat gezeigt, daß in der Frühzeit des 19. Jhs. die Assoziationen noch wenig spezialisiert waren. Mich hat das immer beeindruckt und ich habe mich manchmal gefragt, warum es so etwas wie die aufgeklärten Clubs und romantischen Salons heute eigentlich nicht mehr gibt. Nunhöreich von Ihnen, daß sich die Assoziationen im Vormärz spezialisieren. Meine Frage dazu: zeigt diese Spezialisierung das endgültige Ende der Aufklärung und die Rückkehr zur ständischen Gesellschaft in anderer Form an? In der kurzen Zeit von zwei Menschenaltern entstehen und verschwinden diese umfassend konzipierten politisch-patriotischen Clubs und Bildungsgesellschaften. Sie scheinen mir für die Phase der Spätaufklärung charakteristisch zu sein. Dann aber kehrt man zurück zu Zirkeln standespolitischer Art, in denen wieder gerechnet und fachliche Fortbildung getrieben wird, und die schließlich auch der Interessenvertretung dienen. Birke: Meine Frage bezieht sich auf das von ihnen verwendete Gegensatzpaar: Korporation und Assoziation. Sie sprechen von der Dekorporierung alter Ordnungen und werten dabei das Assoziationsprinzip als neue Möglichkeit der Strukturierung gesellschaftlicher Organisation.
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Nun ist aber der Begriff .,Korporation" im 19. Jh. als Rechtsbegriff durchaus erhalten und zwar generell für Gemeinschaften mit juristischer Persönlichkeit, besonders auch für eingetragene Vereine. Gibt es also nicht neben dem Vorgang der Dekorporierung eine neue Form der Inkorporation, der Verleihung der juristischen Persönlichkeit, die sich gerade auf das freie Vereinigungswesen, auf einen neuen Typus sozialer Organisation bezieht? Brandt: Ich bin Ihnen sehr dankbar für die weitgestreuten Beiträge zu dem, was ich hier vorgetragen habe. Sehe ich recht, so sind dabei eigentliche Kontroversen indes nicht zutage gefördert worden; ich lasse aber dahingestellt, ob das ein Vorteil oder ein Nachteil ist.
Es ist von verschiedenen Teilnehmern der Diskussion, insbesondere von Herrn Dietrich, darauf hingewiesen worden, daß ich das Problem zu ausschließlich von der Gesellschaft her, gewissermaßen .,von unten" behandelt hätte. In der Tat: das habe ich, denn so formuliert war das Thema vorgegeben. Darüber hinaus hatte ich von Anfang an die Vorstellung, daß die Sicht .,von oben", also vor allem die Formen der Einflußnahme auf die Organisation der Vereine durch den Staat doch mehr ein Gegenstand des Vortrages von Herrn Scheuner heute nachmittag sein sollte. Das ist das Eine; dann zur Sache selbst. Herr Naujoks fragte , inwieweit für die Dinge, die ich vorgetragen habe, Material, Literatur verfügbar sei. Dazu muß ich zweierlei sagen: 1. Für die sog. gesellschaftlichen Vereine, für die ich mich aber als Fachmann eigentlich nicht zuständig fühle, gibt es einige Arbeiten. Einige Regionen, einige Städte sind untersucht. Insgesamt darf man aber wohl sagen, daß dieses Feld noch weitgehend der Erforschung bedarf. 2. Über politische Vereine, Wahlclubs vor allem, habe ich selbst wenn auch vorerst beschränkt auf einige deutsche Staaten (Bayern, Baden, Württemberg) - etwas gearbeitet. Man muß sich dabei klarmachen, daß sich dieses Organisationswesen zunächst gewissermaßen subkutan, d. h. unter Ausschluß der großen Öffentlichkeit entwickelt hat - regional und örtlich. Was das Material angeht, so ist einiges in den Akten der Innenministerien zu finden, vor allem dort, wo Wahlfälschungen in den Parteienstreit geraten. Im übrigen aber ist es unumgänglich, Ortsarchive und Intelligenzblätter zu konsultieren, ein aufwendiges, mitunter etwas haariges Verfahren wissenschaftlicher Recherchen. Zum nächsten. Natürlich hat es Interessenverbände in der Zeit vor 1848 gegeben. Es wurde der Börsenverein des Buchhandels von 1825 erwähnt. Ich nannte den deutschen Apothekerverein von 1820. Die Advokaten haben sich in den dreißiger Jahren zusammengeschlossen.
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Alles das hat es gegeben und noch mehr. Indes: nicht daß es in einer Epoche bestimmte Dinge gibt, scheint mir ausschlaggebend, sondern deren Wichtigkeit, deren Stellenwert im politisch-sozialen System einer Zeit. In diesem Sinne sind Interessengruppen für den Vormärz eine sekundäre Erscheinung. Mit Interesse habe ich Ihre Ausführungen, Herr Böckenförde, verfolgt. Was Sie über den Weg von Regel zu Mahl gesagt haben, möchte ich voll unterstreichen, verstehe es vor allem als theoretische Illustration meines Vortrags. Dann die Frage von Herrn Willoweit. Das Problem von Kontinuität und Diskontinuität der Vereine vom 18. zum 19. Jahrhundert ist in der Tat eine schwierige Sache. Der Wandel scheint mir darin zu bestehen, daß die Vereine erst im Vormärz in ihre gesellschaftliche Erprobungsphase eintreten. Beleg dafür ist nicht zuletzt die Spezialisierung. Einen parallelen Vorgang finden wir übrigens in der Geschichte des demokratischen Denkens. Der Unterschied wird deutlich, wenn wir die doch mehr im Literarischen angesiedelte Jakobinerliteratur von 1790 ff. mit ihren Nachfolgern der Zeit nach 1815 vergleichen: ungleich praktischer, aber eingeschränkt, verwässert im organischen, im nationalen, im ständischen Sinne. Dann zu der begrifflichen Scheidung von Korporation und Assoziation. Sie ist eine politisch-polemische. Der Gegensatz von Korporation und Assoziation ist bis in die 1860er Jahre hinein ein festes Repertoirestück der politischen Diskussion, besonders der um Ablösung, Gemeindeverfassung und Gewerberecht. Durchweg wird der Begriff Korporation dabei appliziert auf die alten Verhältnisse, Assoziation dagegen als offener Willensverband verstanden.
Dietrich: Sie haben Ihre gesamten Ausführungen, Herr Brandt, mit der Feststellung begonnen, daß diese Assoziationsbewegung etwas Neues sei. Ich fragte mich schon vorhin und dann nach Ihren Beiträgen jetzt auch wieder, ob Sie nicht doch das Problem Kontinuität haben dabei ein bißchen zu kurz kommen lassen. Das gilt nicht nur für die wirtschaftlichen Einigungen, über die Sie wiederholt gesprochen haben, wenn man an die Gesellenbewegungen des 18. Jahrhunderts etwa denkt, sondern das gilt auch für die Frage: hat Goethe schon Lesegesellschaften gekannt. Wenn Sie an den Palmenorden, an die Früchte bringende Gesellschaft und solche Dinge denken, das hat es doch alles schon einmal gegeben. Ich möchte das jetzt nur als Frage an Sie stellen. Baumgart: In Ihren Ausführungen, Herr Brandt, fiel auch das Stichwort "deutsche Jakobiner". Den Prozeß der gesellschaftlichen Selbstorganisation am Beginn des 19. Jahrhunderts stellten Sie jedoch mit Beispielen so dar, als sei dieser im wesentlichen unpolitisch und dazu,
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jedenfalls in Teilbereichen, ganz unverkennbar gouvernemental beeinflußt gewesen, von der fürsorgenden Hand des Staates gelenkt. Es gibt jedoch, wie in der Diskussion schon anklang, auch Formen oder Vorformen der bewußten Gegenorganisation gegen den bestehenden Staat, gegen den Staat des aufgeklärten Absolutismus vor, während und nach der Französischen Revolution. Die Frage ist, ob da keine Kontinuitäten bestanden. Die Geheimgesellschaften - die verschiedenen Formen des Maurerturns bis hin zu den Illuminaten - bieten ebenso einen Anknüpfungspunkt wie die jakobinische Bewegung. Wegen der von ihnen ausgehenden Fernwirkungen ins 19. Jahrhundert würde ich zwar nicht so weit gehen wollen wie noch unlängst bei einer Berliner Tagung über "Die demokratische Bewegung in Mitteleuropa im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert" Walter Grab aus Tel Aviv, der überall solche Anknüpfungspunkte sah, aber doch fast so weit wie Axel Kuhn, der in der Jakobinerbewegung eine Präfiguration des politischen Parteienwesens im 19. Jahrhundert erblickt. Am Beispiel Aachens und Kölns wie anderer Städte des französisch besetzten Rheinlandes hat er derartige Kontinuitäten aufzuzeigen sich bemüht. Zu erinnern ist auch an die Untersuchungen von Heinrich Scheel in Ostberlin über die Jakobiner in Süddeutschland und seine Edition über die "Mainzer Republik" mit den Protokollen der "Gesellschaft der Freunde für Freiheit und Gleichheit". Kontinuitätszusammenhänge, wie sie dort bestanden haben dürften, lassen sich, um an die Ausführungen unserer Österreichischen Kollegen anzuknüpfen, wohl auch in der Habsburgermonarchie aufzeigen, und zwar über die josephinisch-leopoldinische Zeit hinweg noch während der Regierung Franz II. Leopold II. hat sich ja bekanntlich selbst des Instruments der Geheimgesellschaften bedient, um die öffentliche Meinung im Sinne seines aufgeklärt absolutistischen Staatsideals zu beeinflussen. Dort besteht also gerade im Fall des vermeintlichen abrupten Abbruchs einer politischen Linie Kontinuität. Ich ziehe aus alledem den Schluß, daß man den politischen Aspekt dieser neuen Assoziationen des 19. Jahrhunderts wohl stärker betonen sollte, als das bei Ihnen der Fall war.
Scheuner: Gegen die Verwendung des Gegensatzes Staat und Gesellschaft schon für die frühliberale Zeit habe ich gewisse Einwände. Mit der Bezeichnung Gesellschaft wird im wesentlichen der damals noch eng begrenzte Bereich des oberen Bürgertums in seiner Gegenüberstellung zu der traditionellen Staatsverwaltung umschrieben. Keineswegs ist jedenfalls diese Gesellschaft gleichzusetzen mit der gesamten Bevölkerung. Denn der frühe Liberalismus nimmt noch gegen das allgemeine Wahlrecht Stellung. Faßt man diese enge Umgrenzung der "Gesellschaft" ins Auge, so wird auch der Zusammenhang deutlicher, den Herr Baumgart zu den vorrevolutionären Verhältnissen herge-
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stellt hat. Der Übergang von der ständischen in eine bürgerliche Gesellschaft hat sich in Deutschland allmählich vollzogen, etwa in der Spanne von 1780 bis 1850. Daß, wie Herr Baumgart meint, ein Fortleben der Jakobiner möglich ist, aber man muß auch bedenken, daß man nach 20 Jahren französischer Okkupation auch von den Einflüssen aus diesem Lande zuweilen genug hatte. Was die Interessenvertretung anlangt, so waren gewiß auch in Deutschland in den Ständen die Interessen gegenwärtig. Daß sie nicht sehr hervortraten, lag an einem spezifischen deutschen Mythus des Idealismus, daß in der Politik idealistische Ziele zu vertreten seien. Das zieht sich durch das ganze 19. Jahrhundert und hat viel zur Kritik am Parteiwesen beigetragen. Eine stärkere Politisierung setzt, darin würde ich zustimmen, seit 1830 ein. Aber dennoch bleibt auch in dieser Zeit die Arbeiterschaft noch unvertreten. Ich werde auf diesen Punkt in meinem Referat zurückkommen, und zeigen, wie man durch staatliche Einwirkung diesem Mangel abzuhelfen in der bürgerlichen Literatur geneigt war. Quaritsch: Sie hatten, Herr Brandt, i. S. verfassungsgeschichtlicher Betrachtungsweise das Augenmerk gerichtet auf die Organisation der politischen Interessen durch Wahlvereine und Lesegesellschaften, auf die Organisation beruflicher und gewerblicher Interessen und unter diesen beiden Aspekten das Wachsen der Assoziationen im Vormärz betrachtet. Man könnte hier vielleicht noch das Entstehen und die Ausbreitung der Sekten hinzuziehen. Meine Frage zielt auf ein anderes Gebiet: Wie steht es um die Organisation von Liebhabereien, um die Pflege der Goldfisch- und Kaninchenzucht? um den "Verein zur Förderung des deutschen Vergißmeinnicht"? Wann hat in diesem Bereich "Vereinsmeierei" eigentlich eingesetzt? Das unpolitisch-private Vereinswesen ist verfassungspolitisch sicherlich nicht unmittelbar bedeutsam. Aber mittelbar können solche Assoziationen von Bedeutung sein, weil durch sie latent explosive Kräfte der Gesellschaft absorbiert werden können. Das Vereinswesen bringt nicht nur freizeitliehen Zeitvertreib, es bietet auch die Möglichkeit, außerhalb von Beruf und Familie Ansehen und Selbstverwirklichung zu gewinnen. Die Vereinshierarchien gestatten Karrieren ohne staatliche Berechtigung und wer im Beruf unbekannt und bedeutungslos geblieben ist, kann im Verein durch entsprechende Aktivitäten zur zentralen Figur avancieren, der die Mitglieder ein Maß an Respekt entgegenbringt, den sonst nur Minister und Kardinäle genießen. Um solche Karrieren wird in den Vereinen erbittert gekämpft und die Auseinandersetzungen lassen sich durchaus mit den Machtkämpfen in politischen Parteien vergleichen- vielleicht mit dem Unterschied, daß in den Idealvereinen die Opposition sehr viel erbarmungsloser und wirksamer verfolgt wird. Auf diese Weise kann
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ein blühendes Vereinswesen - so meine Vermutung - einiges an Ehrgeiz, an Unzufriedenheit mit den Verhältnissen in Beruf und Familie oder sonst überschüssige Energie aufsaugen, so daß der politische Bereich entlastet wird. Ebenso kann natürlich den politischen Parteien ein nützliches Talentpotential verloren gehen. Langer Rede, kurzer Sinn: Welchen Stand haben die unpolitischen Idealvereine im Vormärz erreicht?
Brandt: Zunächst die Fragen von Herrn Dietrich und Herrn Baumgart, das Problem der historischen Kontinuität betreffend. Herr Baumgart insbesondere hat abgestellt auf meine unvorsichtige Seitenbemerkung bezüglich der Jakobiner. Ich habe die Arbeit von Herrn Kuhn noch nicht gelesen, ich weiß aber, daß er es ähnlich gesehen hat, wie Sie es hier ausgeführt haben. Will man von Kontinuität sprechen, dann muß man wohl dreierlei unterscheiden: Einmal die personelle Kontinuität, zweitens die institutionelle Kontinuität und drittens die ideologische Kontinuität. Eine personelle Kontinuität sehe ich nicht. Im Gegenteil, es ist bekannt, daß maßgebliche Figuren der J akobinerbewegung nach 1815 entweder konservativ geworden oder in Staatsdienste getreten sind (Rebmann!) oder gar ständische Verteidigungsschriften verfaßten wie etwa Wedekind. In einer Reihe von Fällen (Forster!) war eine derartige Entwicklung allerdings deshalb schon ausgeschlossen, weil die Autoren früh gestorben sind. Auch institutionell sehe ich keine Weiterentwicklung. Die Mainzer Republik ist letztlich Episode geblieben. Das Verfassungs- und Vereinswesen des 19. Jahrhunderts baut auf gänzlich neuen Erfahrungen auf. - Schließlich die ideologische Kontinuität, die natürlich von der personellen nicht ganz zu trennen ist. Für die Zeit bis 1820 wüßte ich hier nur ganz wenige Namen resp. Schriften zu nennen, so etwa den "Entwurf einer Reichsverfassung" von Karl Fallen, so etwa auch das "Frag- und Antwortbüchlein" des Darmstädters Friedrich Wilhelm Schulz.- Hinzufügen sollte man noch, daß ein Großteil jener Autoren, die von der jüngeren Forschung- etwa von Walter Grab und Heinrich Scheel- als Jakobiner ausgegeben werden (Beispiel: Heinrich Würzer), schlichte Liberale oder einfach Aufklärer sind. Herr Scheuner hat von dem Mythos gesprochen, den man möglicherweise mit der Politisierung der Staatsgesellschaft in den 30er Jahren verbindet. Daran mag einiges dran sein. In der Tat ist es so, daß die Liberalen ein demokratisches Wahlrecht nicht gefördert haben. Aber andererseits muß man doch fragen: Wie sehen Wahlrecht und Wahlpraxis in jener Zeit aus? Wählen durfte, zumindest in Baden und Württemberg- und das sind die beiden Staaten mit politischer Signalwirkung - , wählen durfte jeder, der selbständig war, also auch der agrarische oder gewerbliche Kleinbesitzer, jedenfalls, soweit er Grund-,
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Gebäude- oder Gewerbesteuer zahlte. Die Politisierung dieser Schichten durch Teilnahme an den Wahlen ist nun aber gerade eben kein Mythos, sondern ein zwar bisher wenig geläufiger, aber gleichwohl belegbarer Vorgang. Das Wort "Organisation" darf dabei natürlich nicht auf die Goldwaage gelegt werden. Von "Organisation" würde ich z. B. auch dort schon reden, wo ein Bürgermeister mit "seinen" Wahlmännern im Geleitzug den Wahlort aufsucht oder wo Wahlmänner sich treffen, um sich über mögliche Kandidaten zu besprechen. Das Politische, das Kontroverse reicht dabei übrigens bis in die Vorwahlen hinein. Schließlich: Die hier beschriebene Politisierung ist in dieser Form kein Resultat liberaler Mobilisierung der breiten Bevölkerung, sondern eher ein "Selbstgänger", ausgelöst durch vorgegebene Verfassungsbestimmungen. Was Herr Scheuner zum Schluß seines Beitrages über "Interessenprüderie" gesagt hat, verdient ganz sicher volle Zustimmung. Ich glaube allerdings diese Seite des Themas auch nicht unterschlagen zu haben. Dann die Frage von Herrn Quaritsch, die Vereine betreffend. Sie bringt mich in nicht gelinde Verlegenheit. Man kann vielleicht sagen, daß die Amateur- und Freizeitvereine, insbesondere etwa auch die Sportvereine, erst ein Phänomen der zweiten Jahrhunderthälfte sind, wenn auch das "Dilettantische", das "Amateurprinzip" ein durchgängiger Zug auch schon des früheren Vereinswesens ist. Ob die Quellenlage es gestattet, sozialpsychologische Erwägungen der Art anzustellen, wie Sie es hier getan haben, das erscheint mir allerdings als zweifelhaft. Im übrigen hängt die Ausbreitung von Vereinen dieses Typs sehr eng zusammen mit dem Entstehen von Freizeit als einer massenhaften Erscheinung. Und davon kann im Vormärz nun schlechterdings noch nicht die Rede sein. Botzenhart: Ich wollte nur kurz darauf hinweisen, daß man nicht so scharf zwischen politischen und gesellschaftlichen Vereinen trennen sollte. Das ging in Zeiten politischer Spannung, vor Landtagswahlen usw. fließend ineinander über. Schützen-, Turn- oder Gesangvereine übernahmen hier häufig genug auch politische Funktionen; das läßt sich gar nicht voneinander trennen.
Voluntary Associations Aspekte gesellschaftlicher Selbstorganisation im frühindustriellen England Von Adolf M. Birke, Berlin Anders als in Deutschland, wo freie Vereinigungen als neuer Typus sozialer Organisation sich im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert auszubreiten begannen, reichen die Anfänge der Voluntary Associations in England bis in die vormoderne Zeit zurück. Sie verdanken ihre lange Tradition nicht zuletzt einer Verfassungsentwicklung, die sich in ihren Grundzügen von der des Kontinents unterschied. Die frühe Herausbildung einer Zentralgewalt in England wurde durch ein zunehmend stärkeres Heranziehen und Beteiligen der in sich relativ durchlässigen sozialen Führungsschicht des Landes nicht in Frage gestellt. Vielmehr trugen die bekannten Formen parlamentarischer Repräsentation und die ausgeprägte Selbstverwaltung dazu bei, die Ausbildung absolutistischer Herrschaft zu verhindern und gleichzeitig die soziale Mobilität und die mit ihr korrespondierende Elastizität gesellschaftlicher Organisationsformen zu begünstigen. Im Unterschied zu den absolutistisch geprägten Monarchien Europas blieben hier die Organisationen und Gruppierungen des intermediären Bereichs eher staatlicher Regulierung und Einflußnahme entzogen. Aber auch in England ist die freie Assoziation, wie sie sich etwa seit dem Ende des 17. Jahrhunderts voll zu entfalten begann, nicht eine bloße Fortführung mittelalterlicher Genossenschaftsbildungen1 • Als voluntaristischer Zusammenschluß von Personen zu einem selbstgesetzten begrenzten Zweck, mit der Freiheit des Bei- und Austritts, dem Recht der Gründung und Auflösung war sie bereits Ausdruck der in1 In England ist trotz zahlreicher sozialhistorischer Untersuchungen zur späteren Verbandsgeschichte des 19. und 20. Jh. die Entstehung von Voluntary Associations als Problem der Verfassungsgeschichte, außer einigen Ansätzen aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg, bisher, soweit ich sehe, nicht thematisiert worden. Vgl. zur deutschen Entwicklung den wegweisenden Auf..: satz von Thomas Nipperdey, Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Geschichtswissenschaft und Vereinswesen im 19. Jahrhundert, hrsg. v. Hartmut Boockmann u. a., 1972, S. 1 - 44; auch in: Th. Nipperdey, Gesellschaft, Kultur, Theorie, 1976, s. 174- 205.
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dividualistischen Komponente moderner Gesellschaftsstruktur. Sie unterschied sich damit grundlegend von der auf "status", auf Geburt und Stand basierenden, auf den gesamten Lebensbereich eines Menschen ausgerichteten Gemeinschaft der "alten Welt" mit ihren spezifischen Rechtsfolgen. Die alten, "polyfunktional" orientierten Gruppen - die Stände, Korporationen und Zünfte - wichen allmählich Organisationen, die an Zwecken orientiert, dem Bedürfnis nach individuellem Zusammenschluß entsprachen2 • Die Anpassungsfähigkeit freier Assoziationen kam den modernen sozialen Erfordernissen entgegen und verstärkte damit den Prozeß der Überwindung ständisch-herrschaftlich geprägter Ordnungen. Ein besonderes Merkmal der Kontinuität englischer Verbandsgeschichte sind jedoch die ungebrochenen Möglichkeiten der Gemeinschaftsbildung ohne die Einmischung der Krone bzw. des Parlaments. Sie fand ihren wichtigsten institutionengeschichtlichen Niederschlag in der Herausbildung und Weiterentwicklung eines Rechtsinstituts, das auf dem Kontinent ohne Gegenstück geblieben ist, dem Trust. Es ist das Verdienst Frederic William Maitlands, mit seinen bahnbrechenden Arbeiten zur vergleichenden Rechtsgeschichte am Beginn unseres Jahrhunderts die Bedeutung des Trust für die Entfaltung der Vereinigungsfreiheit in England gezeigt zu haben3 • Gewiß bedarf es heute des Hinweises, daß der Blick auf die rechtliche Verfaßtheit nur begrenzt geeignet ist, Aufschluß über die umfassende Wirklichkeit sozialer Organisation zu geben. Doch kann zum Nachweis der Besonderheit der englischen Verbandsentwicklung auf eine Erwähnung dieses Rechtsinstituts nicht verzichtet werden, zumal das englische Recht unmittelbarer als die an systematische Überlegungen gebundenen kontinentalen Rechtssysteme auf soziale Realitäten reagiert und in sich selbst in hohem Maße Wirklichkeitsbeschreibungen einschließt. Im Trust entfalteten sich wesentliche Möglichkeiten für die Engländer zu einer "defacto-Assoziierung" in weiten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ohne große Formalitäten und ohne Einmischung des Staates. Rechtshistorisch gesehen verdankt er seine Entstehung und Ausbreitung der Starrheit des Common Law und seiner Corporationstheorie. Mit Blick auf die restriktive Behandlung gesellschaftlicher Verbände durch die staatliche Gewalt - wie sie in vielen europäischen Ländern im 18. und über weite Teile des 19. Jahrhunderts zu beobachten war- hat Mait2 In diesem Zusammenhang sind die soziologischen Kategorien Talcott Parsons auch für die historische Analyse wiederholt nutzbringend angewandt worden. Vgl. u. a. Jürgen Bergmann, Das Berliner Handwerk in den Frühphasen der Industrialisierung( = Einzelveröffentlichung der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 11) 1973, S. 25 ff. 3 So besonders in Frederic William Maitland, Trust und Korporation, in: Grünhuts Zeitschrift 32 (1905) S. 1 - 76.
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land das Hauptverdienst des Trust darin gesehen, daß er die nichtincorporierte Genossenschaft in England gegen die Angriffe unangemessener individualistischer Theorien geschützt habe4 • Der Trust stellte eine Rechtsform bereit, mit der es unter Vermeidung der eigentumsrechtlichen Konsequenzen des Common Law gelang, wesentliche Vorteile körperschaftlicher Existenz (Begründung und Handhabung eines Gemeinschafts- bzw. Zweckvermögens) zu erlangen, ohne gleichzeitig die Nachteile einer Corporation des englischen Rechts (Gründung durch Royal Charter bzw. Parlamentsgesetz, Festlegung auf die gesetzlich fixierten Zwecke etc.) oder einer "partnership", d. h. einer nur auf individueller Vertragsbasis beruhenden Gesellschaft, in Kauf nehmen zu müssen. Diese Wirkung wurde dadurch erreicht, daß man sich der im Trust gegebenen, durch die Equity-Rechtsprechung entwickelten und geförderten zweiten eigentumsrechtlichen Dimension von Berechtigungen bediente, die selbständig neben dem Eigentum nach Common Law stand. Durch Übertragung von Eigentum auf Treuhänder (Trustees) zum Nutzen bestimmter Personen oder Zwecke gelang es, neben dem Rechtstitel nach Common Law eine "ownership in equity" zu kreieren, die wesentliche Vorteile gemeinschaftlicher bzw. zweckbestimmter Nutznießung bot, ohne die aus dem Eigentums- und Corporationsrecht des Common Law resultierenden Beschränkungen. Der "Wall von Trustees" ermöglichte vielen nichtincorporierten Verbänden eine quasi-corporative Existenz. Er gab ihnen die harte äußere Schale, hinter der sich ein spontanes und unabhängiges Gemeinschaftsleben entfalten konnte5• Bereits an der Schwelle zur Neuzeit gab es in England ein immenses Zweckvermögen, das von Bruderschaften, Genossenschaften oder auch Kommunalverbänden innegehabt wurde, die sich des Trust bedienten und keine Corporations waren. In der Elisabethanischen Epoche war der "public charitable trust" eine weitverzweigte Erscheinung6 • Im 18. Jahrhundert hat der Trust wesentlich dazu beigetragen, wenigstens in einigen Bereichen die Entwicklung der Religionsfreiheit zu ermöglichen. Er gestattete es den protestantischen Nonkonformisten, die nach der Revolution von 1688 die bloße Duldung ihres Bekenntnisses durchsetzen konnten, ein Gemeinschaftsleben zu entfalten, obwohl für sie die 4 Vgl. dazu Adolf M. Birke, Pluralismus und Gewerkschaftsautonomie in England. Entstehungsgeschichte einer politischen Theorie, Stuttgart 1978, S. 31 ff. Da die "Corporation" des englischen nicht voll identisch mit der "Korporation" des deutschen Rechts ist, wird die englische Schreibweise bevorzugt. Vgl. ebd., S. 21. s Vgl. Maitland (Fn. 3) S. 43. 6 Die Elisabethanischen Gesetze über sog. Charitable Uses geben ein plastisches Bild von der Vielfalt. So: 43 & 44 Elizabeth I. c. 4. An Acte to redresse the misemployment of Landes Goodes and Stockes of Money herefore given to Charitable Uses.
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Aussicht auf lncorporation nicht bestand7 • Die Wesleyaner (Methodisten) begannen gegen Ende des 18. Jahrhunderts erfolgreich mit dem Aufbau einer weitverzweigten zentralisierten Kirchenorganisation auf der Basis von Trusturkunden8 • Ausgenommen von dieser Möglichkeit blieben allerdings für lange Zeit Katholiken, Unitarier und Juden. Die Entfaltung des Klubwesens, der Lesezirkel, fand im Trust eine willkommene Rechtsform zur Sicherung ihrer Organisationen. Selbst die lnns of Court, deren Entstehung bis ins 13./14. Jahrhundert zurückreicht, entfalteten ihre ausgeprägte Selbstverwaltung mit den Möglichkeiten des Trust'. Auf der Ebene des Local Government haben "Trust Boards" entscheidend geholfen, die Unzulänglichkeit und Ineffektivität städtischer Selbstverwaltung im Zeitalter der beginnenden Industrialisierung zu überbrücken10• Auch wissenschaftliche Einrichtungen wie die London Library und die Seiden Society bedienten und bedienen sich zur Verwaltung riesiger Sondervermögen der Rechtsform des Trust. Und auch in den verschiedenen Unternehmensformen des wirtschaftlichen Bereichs fand der Trust zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten11 • Als liberalem Substitut des Corporationsrechts kam dem Trust auf Grund der Flexibilität seiner Anwendungsmöglichkeiten auch für die Umstrukturierung einer durch rapiden wirtschaftlichen Wandel geprägten Gesellschaft eine wesentliche Bedeutung zu. Unter dem Dach des Trust konnten sich verschiedene Formen kollektiver Aktivität entfalten, soweit nicht der Vorbehalt einer illegalen Vereinigung bestand und soweit sie nicht durch gesetzliche Einschränkungen bzw. Begünstigungen überlagert waren. Die Verfassungs- und Rechtsentwicklung im vorindustriellen England läßt somit bereits zwei Tendenzen erkennbar werden: 1. eine Prädestination für spontane gesellschaftliche Organisation und 2. eine zurückhaltende Einstellung des Gesetzgebers gegenüber solchen Aktivitäten. Die industrielle Revolution, die von diesen Voraussetzungen profitierte, stimulierte ihrerseits die Entwicklung von Voluntary Associations in ungeahntem Ausmaß, während der Staat seine Zurückhaltung im Übergang vom Protektionismus zur Politik des Laissez-faire eher noch verstärkte. Die Industrialisierung Großbritanniens war nicht das Ergebnis 7 Dazu Sir William Holdsworth, A History of English Law, Bd. 8, London 1925, s. 410 ff. 8 Maitland (Fn. 3) S. 42. 9 Zur Entwicklung der Inns of Court vgl. Holdsworth (Fn. 7) Bd. 2, S. 493 ff.; Bd. 4, S. 263 ff.; Bd. 12, S. 15 ff.
10 über die Unzulänglichkeiten dieses Systems s. The Report of the Royal Commission on Municipal Corporations, Parliamentary Papers 1835,
S. XXIII - XL. 11
Beispiele bei Maitland (Fn. 3) S. 47 ff.
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planmäßiger Regierungspolitik. Vielmehr ist sie das klassische Beispiel eines spontanen Wachstums, das sich an den Erfordernissen des Marktes orientierte12 • Anders als im Frankreich oder Preußen des 18. Jahrhunderts kam dem Staat nicht die entscheidende Bedeutung für die Wirtschaftsentwicklung zu. Bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts zögerte er, sich an den gesellschaftlichen Investitionen zu beteiligen, um das wirtschaftliche Wachstum zu unterstützen, ja er fand sich nicht in der Lage, den sozialen und politischen Folgeerscheinungen der industriellen Revolution zu steuern. Das trifft für nahezu alle Bereiche der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Infrastruktur zu. Vielmehr beschränkte er sich darauf, die innere Ordnung aufrecht zu erhalten und die Sicherheit des internationalen Handels zu gewährleisten. Wo der Staat sich aktiv einschaltete, schadete er bisweilen mehr, als er nützte13• Wie er es den gesellschaftlichen Kräften überließ, die Schwelle zu einem kontinuierlichen Wirtschaftswachstum zu überschreiten, so überließ er es ihnen im wesentlichen auch, mit den sozialen Folgen fertig zu werden. Es war die englische Gesellschaft, die den Modernisierungsprozeß einleitete, bevor der Staat sich zu den durch die gesellschaftliche Entwicklung hervorgerufenen öffentlichen Aufgaben bekannte und sich dadurch gleichzeitig in seiner Gestalt wandelte. Einige charakteristische Merkmale dieser Wechselwirkung von gesellschaftlicher Selbstorganisation und moderner Staatsentwicklung im frühindustriellen England lassen sich exemplarisch am wichtigsten Typus der Voluntary Associations, den sogen. Friendly Societies nachweisen. Als Keimzellen der Selbstorganisation "sozialer Unterschichten" erlangten sie für die Umstrukturierung der englischen Gesellschaft im Gefolge der industriellen Revolution zentrale Bedeutung. Im 19. Jahrhundert wurde mit ihrer Hilfe das breite Netz des auf Selbsthilfe beruhenden Versicherungs- und Genossenschaftswesens entwickelt, das unter dem Begriff des "thrift and self-help" der viktorianischen Gesellschaft ihr Etikett gab. Als "poor man's club" waren sie häufig Zentren des gesellschaftlichen Lebens der arbeitenden Klassen. Friendly Societies, d. h. Selbsthilfeorganisationen auf der Basis der Gegenseitigkeit zur Versicherung gegen Krankheitsfälle und Arbeitsunfähigkeit,zur Vorsorge für den Todesfall, aber nicht zuletzt auch zur Pflege sozialer Kontakte, tauchen in England seit dem späten 17. Jahrhundert auf. Anders als ihre spätere Entfaltung in der viktorianischen 12 Aus der Fülle der Literatur zur Rolle des Staates in der Frühphase der industriellen Revolution sei hier nur verwiesen .auf Peter Mathias, The First Industrial Nation. An Economic History of Britain 1700- 1914, London 1969, s. 32 ff. 13 So die Behinderung der lncorporation für wirtschaftliche Unternehmungen nach dem Bubble Act von 1720 bis hin zu den sporadischen protektionistischen Eingriffen des Staates durch die Corn Laws etc.
6•
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Zeit haben die Entstehungsphase und die frühen Entwicklungen der Friendly Societies bisher keine eingehendere Untersuchung erfahren14• Ältere Autoren vermuteten eine direkte Verbindung zwischen ihnen und den Zünften des späten Mittelalters, andere wiederum führten sie auf das Freimauerertum zurück15• Die Rituale, Zeremonien und Symbole, die Formen der Zulassung, die Geheimhaltung, die Kasse mit den drei Schlössern, die gemeinsamen Mahlzeiten, die Bezeichnungen für die Funktionsträger und die Selbstdarstellung der Vereinigungen schienen für diese These zu sprechen. Dennoch gibt es bisher keinen überzeugenden empirischen Nachweis für eine Herkunft aus dem Zunftwesen oder aus der Freimauerei18 • Für ihr Entstehen müssen vielmehr die sozialen und wirtschaftlichen Wandlungserscheinungen verantwortlich gemacht werden, die in die industrielle Revolution einmündeten. Dazu gehören Strukturveränderungen in den ländlichen Gemeinden und in den Boroughs ebenso wie die in Handel und Gewerbe. Die Modernisierung der Landwirtschaft und die mit ihr einhergehende Enclosure-Bewegung trugen zur Zersetzung der traditionellen Dorfgemeinschaft bei17• Die Funktionsfähigkeit der Pfarrgemeinden, die als unterste Einheit der lokalen Selbstverwaltung auch für das Armenwesen zuständig waren, sah sich, nicht zuletzt durch das starke Anwachsen der Bevölkerung, immer stärker infrage gestellt 18• Im gewerblichen Bereich trugen das schnelle Handelswachstum und die verstärkte Spezialisierung der Arbeit wie auch die Einführung von Maschinen in einzelnen Betrieben dazu bei, die Interessenunterschiede zwischen Arbeitsherren und Arbeitern, Meistern und Gesellen zu vergrößern, während das althergebrachte System der Lohn- und Arbeitsregulierungen durch Parlamentsgesetze und Zunftordnungen immer weniger den Arbeitsfrieden zu gewährleisten vermochte. 14 Die neueren Arbeiten von Peter Henry J. H. Gosden, The Friendly Societies in England 1815 - 1875, Manchester 1960 und ders., Self-Help. Voluntary Associations in Nineteenth-century Britain, untersuchen nur die Entwicklung nach 1815, ohne die soziale Strukturierung als Verfassungsproblem zu thematisieren. 15 So zeigte sich u. a. J. M. Ludlow, Sekretär der Royal Commission on Friendly Societies (1871 - 74), überzeugt, daß eine Kontinuität zu den Zünften des Mittelalters bestand; ders., Gilds and Friendly Societies, in: The Contemporary Review, (1873) S. 553- 73 u. 737- 62. 16 So schon überzeugend Sidney u. Beatrice Webb, The History of Trade Unionism, 2. Aufl. London 1920, S. 18 ff. Allerdings sind differenzierte Aufschlüsse erst durch umfangreiche - bisher kaum vorhandene - sozialhistorische Studien zu den frühen Voluntary Associations zu erwarten. 17 Zur Forschungsproblematik s. G. E . Mingay, Enclosure and the Small Farmer in the Age of the Industrial Revolution, London 1968. 18 Zur Forschungsproblematik s. J. D. Marshall, The Old Poor Law 1795- 1834, London 1968.
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Ein fruchtbarer Boden für Friendly Societies entstand dort, wo traditionelle Gemeinschaften zerbrachen oder funktionsunfähig wurden und den dringendsten Erfordernissen der Lebenssicherung und der sozialen Kommunikation nicht mehr entsprachen. Die Furcht, durch eine unvorhergesehene Notlage den Maßnahmen des Poor Law anheim zu fallen und damit ins gesellschaftliche Abseits zu geraten, gehörte zu den wesentlichen Motiven der organisierten gegenseitigen Vorsorge. Nonkonformismus und vor allem der Methodismus trugen dazu bei, den Geist freiwilliger Association zu wechselseitiger Hilfe in den unteren Schichten des Landes zu verankern18• Schon in der frühen Phase ihrer Entwicklung lassen sich unter dem Aspekt der Rekrutierung zwei Typen von Friendly Societies unterscheiden: solche, deren Mitglieder aus derselben Berufsgruppe stammten - sie waren stets geeignet, über die Versicherungszwecke hinaus gewerkschaftliche Aktivitäten zu entfalten - , und andere, deren Mitglieder verschiedenen Berufen angehörten, die sich daher auf die "friendly purposes" beschränkten20 • Seit Beginn der industriellen Revolution und der mit ihr einhergehenden Bevölkerungsexplosion in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam es zu einem rapiden Anwachsen der Friendly Societies. Zwar existieren bis heute keine genauen Statistiken für die frühen Entwicklungen, aber es ist wahrscheinlich, daß die Angaben F. M. Edens aus dem Jahre 1801 eine durchaus realistische Einschätzung bieten. Danach gab es zu dieser Zeit bereits rund 7 200 Friendly Societies mit insgesamt 648 000 Mitgliedern21 • Der Poor-Law-Bericht des Jahres 1803 spricht sogar von 9 672 Vereinigungen mit insgesamt 704 350 Mitgliedern für England und Wales22 • Die traditionellen rechtlichen Voraussetzungen erwiesen sich als so flexibel, daß sie auch für die an neuen Zwecken und Bedürfnissen orientierten Vereinsgründungen einen organisatorischen Rahmen ermöglichten. Der Staat selbst stellte den Friendly Societies keine Hindernisse entgegen, ließ ihnen aber zunächst auch keine zusätzliche Förderung zuteil werden. Allerdings fehlte es während des 18. Jahrhunderts nicht an Vorschlägen, die freiwillige Vorsorge durch eine Zwangsabgabe vom Lohn obligatorisch zu machen, um so die öffentliche 19 Vgl. dazu E. P. Thompson, The Making of the English Werking Class, Penguin 1968, S. 411 ff. 20 Vgl. Gosden, The Friendly Societies (Fn. 14) S. 71. 21 Frederick Morton Eden, Observations on Friendly Societies for the Maintenance of the Industrious Classes during Sickness, Infirmity, Old Age and other Exigencies, London 1801, S. 7. Danach hatten sich zu dieser Zeit bereits 5117 Klubs gemäß dem Gesetz von 1793 registrieren lassen. 22 Returns Relative to the Expense and Maintenance of the Poor, London
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Armenfürsorge zu entlasten. Es gab auch Versuche, Friendly Societies für bestimmte Berufsgruppen verpflichtend einzuführen23 • All diese Vorstöße scheiterten oder blieben bedeutungslos. Eden stellte in seiner Untersuchung "The State of the Poor" aus dem Jahre 1797 fest, daß es große Widerstände gegen alle Pläne obligatorischer Friendly Societies gebe, deren Zwangsbeiträge von den arbeitenden Klassen als eine Zusatzsteuer empfunden werden müßten. Er riet daher, von solchen Plänen Abstand zu nehmen. Jeder Versuch des Gesetzgebers, die Selbstversicherungsaktivitäten zur Entlastung der öffentlichen Armenfürsorge zu nutzen, werde nur dazu führen, die Neigung zur Selbstvorsorge zu dämpfen. Er hob hervor, daß die Friendly Societies ihre Existenz nicht parlamentarischer Einflußnahme, nicht einmal der Anregung von Fachleuten und Politikern verdankten, sondern daß sie ausschließlich auf der Initiative der Betroffenen beruhten24 • Die starke Verbreitung der Friendly Societies ließ allerdings den Gedanken, sie als nützliche Organisationen zur Minderung der Kosten der öffentlichen Armenfürsorge und zur Entlastung der Pfarrgemeinden zu werten, zum tragenden Motiv des Staates in der Behandlung dieser Vereinigung werden, deren Unabhängigkeit und Selbständigkeit er jedoch nicht anzutasten wagte25 • So war das erste Gesetz, das sich auf die Friendly Societies bezog, der Rose's Act von 179326 , von dem Willen getragen, rechtliche Schwierigkeiten für die innere Organisation und die Verwaltung und Sicherung des Zweckvermögens durch gesetzliche Vergünstigungen zu überbrücken und damit die weitere Verbreitung von Friendly Societies zu ermutigen. Einer der Hauptmängel der freien Vereinigungen lag zu dieser Zeit in der immer wieder auftretenden Gefahr der Zweckentfremdung oder Veruntreuung der gemeinsamen Fonds durch Kassierer oder Treuhänder, gegen die schon gar nicht die Gesellschaft des englischen Rechts, aber auch nicht der Trust hinreichenden Schutz boten. Um diesem Mißstand abzuhelfen, erhielten die Friendly Societies nun, sofern sie sich beim zuständigen Friedensrichter registrieren ließen und sofern sie die von ihnen verfolgten Zwecke offenlegten, u. a. ein Privileg, das sonst nur Corporations zustand, nämlich als Körperschaft zu klagen und beklagt zu werden. Der zweite wesentliche Vorteil betraf das so heikle Recht auf Wohnsitz. Mitglieder 23 Im Jahre 1757 wurden die Kohlenlöscher im Bereich der Themse gesetzlich verpflichtet, Beiträge an eine Friendly Society zu entrichten, die unter der Oberaufsicht eines Ratsherren der Londoner City stand. Vgl. 31 George II, c. 76. Allerdings wurde das Gesetz bereits im Jahre 1770 aufgehoben, da es sich als ineffektiv erwies. 24 F. M . Eden, The State of the Poor, London 1797, Bd. 1, S. 603 ff. u. s. 630 ff. 25 So z. B. der "Report of the Select Committee of the Hause of Commons on the Poor Laws", London 1817, 8.12. 2 & 33 George III, c. 54.
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einer registrierten Friendly Society konnten nun nicht mehr aus der Gemeinde, in der sie sich aufhielten, entfernt werden, solange sie nicht der Armenfürsorge anheimfielen!7. Trotz dieser entscheidenden Vergünstigungen zogen viele Friendly Societies es vor, von den Möglichkeiten des Rose's Act keinen Gebrauch zu machen. Sie empfanden bereits eine minimale Staatsaufsicht als unzulässige Intervention in ureigene Angelegenheiten. So ergab sich für die künftige Entwicklung ein grundlegender Unterschied zwischen registrierten und nichtregistrierten Friendly Societies. Doch auch die aus naheliegenden Gründen wohlwollende Einstellung des Gesetzgebers paarte sich zunehmend mit dem Mißtrauen gegenüber den nicht nur auf Wohltätigkeitszwecke gerichteten anderen- besonders gewerkschaftlichen - Aktivitäten, die bei fortschreitender Industrialisierung aus dem organisatorischen Rahmen der Friendly Societies erwuchsen. Unter dem Einfluß unternehmerischer Interessen, aber auch unter dem Eindruck der revolutionären Vorgänge in Frankreich kam es in den Jahren 1799 und 1800 zu einem ersten generellen Vereinigungsverbot, von dem allerdings die reinen Friendly Societies ausgenommen blieben. Die Furcht vor jakobinistischen Umtrieben, die Erfahrung, daß die staatliche Gewalt mit ihren sporadischen Eingriffsmöglichkeiten Rebellionserscheinungen fast ohnmächtig gegenüberstand, hatte das Mißtrauen gegen Vereinigungen aller Art verstärkt. Es ist heute in der Forschung weitgehend unbestritten, daß die Cerobination Laws, die jede nur erdenkliche gewerkschaftliche Tätigkeit für ungesetzlich erklärten, in der Praxis ohne große Auswirkungen geblieben sind28 • Zwar waren diese Gesetze geeignet, ein konspiratives Klima zu schaffen, sie konnten jedoch nicht verhindern, daß bis zu ihrer Aufhebung in den Jahren 1824/25 die Gewerkschaftsbewegung in England expandierte. Selbst in dieser Zeit der völligen Illegalität blieben den Trade Unions Möglichkeiten zu überleben. Die wichtigste bestand darin, den Deckmantel der Friendly Societies zu benutzen, um gewerkschaftliche Kampfmaßnahmen finanziell zu sichern. Nicht selten geschah es, daß Friendly Societies sich plötzlich auflösten, um die gemeinsam ersparten Mittel als Streikunterstützung zur Verfügung zu stellen. Die Horne Office Papers sind voll von Klagen gegen solche - wie es dort heißt - Mißbräuche29 • So heißt es in einem "Memorial Respecting Cerobinations and Benefit Societies" aus dem Jahre 1813: ... "the laws are artfully and efficaciously evaded and defeated by and under the !7 Vgl. auch F. M. Eden, The State of the Poor (Fn. 24) S. 601, Anm. 1. 28
So selbst schon S. u. B. Webb, The History of Trade Unionism (Fn. 16)
s. 83 f.
29 Eine Fülle von Beispielen dazu bei A. Aspinall, The Early English Trade Unions. Documents from the Horne Office Papers in the Public Record Office, London 1949.
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mask of Benefit Societies, institutions which have created, cherished and given effect to the most dangeraus combinations among the several journeymen of our district, to the great injury and annoyance of ourselves and the generality of manufacturers, and by which the welfare and tranquillity of the country are materially endangered30." Die Regierung wurde immer wieder gedrängt, dagegen einzuschreiten und den Wirkungsradius dieser Vereinigungen durch zusätzliche gesetzgeberische Maßnahmen einzuschränken. Diesem Begehren wurde nicht gefolgt, da man befürchtete, das freiwillige Unterstützungswesen zu behindern, die öffentliche Armenfürsorge hoffnungslos zu überlasten und sich somit vom Hauptziel staatlicher Politik, dem Aufrechterhalten der öffentlichen Ordnung, durch die Zuspitzung sozialer Konflikte noch weiter zu entfernen. Während sich also die Friendly Societies der wohlwollenden Kenntnisnahme durch den Gesetzgeber erfreuten und von ihm mit gewissen Sonderrechten ausgestattet wurden, unterlagen die mit ihnen verbundenen Trade Unions von Beginn an einschneidenden Beschränkungen31 . Kein Wunder, daß die Friendly Society-Gesetzgebung von den Gewerkschaften genutzt wurde, um die Behinderung ihrer Existenz wenigstens in einigen wichtigen Bereichen zu umgehen. Es darf dabei nicht übersehen werden, daß die vom Gesetz streng gezogene Grenze zu den Trade Unions in der Entstehungsphase so gar nicht bestand, daß die Gesetzgebung selbst dazu beitrug, den Unterschied zu verdeutlichen32. Die englischen Gewerkschaften mochten bis in unser Jahrhundert hinein auf das Angebot sog. "benefit purposes" nicht verzichten. Auch nach der Aufhebung der Combination Laws 1824/25, dem Anfang eigentlich legaler Existenz der Trade Unions, wurde die für Friendly Societies bestimmte Gesetzgebung zur Umgehung rechtlicher Hindernisse genutzt33. Erst als sich Ende der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts zeigte, daß eine die gewerkschaftliche Betätigung immer stärker einengende Rechtsprechung auch diese Auswege versperrte, machten die Gewerkschaften ihren neu entstandenen parlamentarischen Einfluß geltend, um die Sicherung ihrer Existenz auf dem Wege einer Ausnahmegesetzgebung zu erreichen34 • 30 Ebd., Dok. Nr. 145, S. 161. 31 Die Combination Laws von 1799/1800 waren ja besonders gegen siegerichtet. 32 Vgl. u. a. Gosden, The Friendly Societies (Fn. 14) S. 9. 33 So hatte der Fall "Hornby v. Close" (1867) gezeigt, daß die Registrierung unter den "Friendly Society Act" von 1855 keineswegs die Trade Union Fonds vor einer möglichen Unterschlagung durch eigene Funktionäre sicherte. Vgl. S . u. B. Webb, The History of Trade Unionism (Fn. 16) S. 262. 34 Zur Problematik der quasi-extrakonstitutionellen Entwicklung der britischen Trade Unions vgl. A. M . Birke, Pluralismus und Gewerkschaftsautonomie in England (Fn. 4).
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Die Entwicklung der Friendly Societies selbst nahm nach den napoleonischen Kriegen mit dem Aufkommen der "Affiliated Orders", dem Entstehen von Organisationen, die sich mit Zweigstellen über größere Gebiete und schließlich über das ganze Land erstreckten, eine neue Qualität an 35• Diese neue Organisationsform nahm ihren Ausgang in den bereits stärker industrialisierten Regionen. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts gewannen sie gegenüber den auch weiterhin bestehenden, isolierteren örtlichen Friendly Societies wegweisende Bedeutung38 • Ihnen ist der Aufbau eines umfassenden Versicherungs- und Genassenschaftswesen zu danken. Der Staat konnte dieser Entwicklung nicht nur abwartend gegenüberstehen. Er mußte, selbst im Zeitalter des "Laissezfaire", reagieren, um das weitgespannte Netz der Selbsthilfeorganisationen nicht an seinen immanenten Gefährdungen zerreißen zu lassen. Eines der Hauptprobleme der Friendly Societies war seit eh und je ihre mangelnde finanzielle Zuverlässigkeit und Stabilität, die auf verschiedenen Ursachen beruhte. Eine dieser Ursachen bestand in der weitverbreiteten Praxis fragwürdiger Handhabung und Verwaltung der Unterstützungsfonds. Sie zeigte sich in dem fast überall üblichen Heranziehen der Unterstützungskassen für gemeinsame, der Geselligkeit dienende Ausgaben wie Freibier oder auch freie Mahlzeiten auf den monatlichen Mitgliederversammlungen und den jährlichen Klubfesten, die meistens in Wirtshäusern stattfanden37 • Die Erwartungen der Mitglieder waren eben verständlicherweise nicht nur auf den eventuell gar nicht eintretenden Versicherungsfall gerichtet, sondern gerade auch auf geselliges Beisammensein. Es lag nur zu nahe, in gewissem Maße unmittelbare Entschädigung für die gemeinsamen Anstrengungen zu erwarten. Die starke Konkurrenz der Klubs untereinander führte außerdem häufig dazu, mit besonders verlockenden Konditionen um die Mitglieder zu werben, ihnen bei niedrigen Beitragszahlungen relativ hohe Entschädigungen für den Unterstützungsfall anzubieten. Es gab aber nicht nur diese auf allzu menschlichen Motiven beruhenden Schwierigkeiten. Die sehr viel größere Gefahr resultierte aus der vagen Kalkulationsgrundlage, mit der das frühe Versicherungswesen zwangsläufig operierte. Es gab nur sehr allgemeine Erfahrungswerte, nach denen man sich richtete38• Die vielfach kurze Lebensdauer und die Gosden, The Friendly Societies (Fn. 14) S. 26 ff. Dazu gehören einmal die großen Versicherungsgesellschaften wie die Manchester Unity of Oddfellows (1872: 426 663 Mitglieder), Ancient Order of Foresters (1872: 388 872 Mitglieder) etc., aber auch die Building Societies, die Cooperative Societies, die Savings Banks usw. 37 Interessante Aufschlüsse bietet u. a. J. W. Cunningham, A Few Observations on Friendly Societies and their Influence on Public Morals, London 1817. 38 Zur Problematik und Entwicklung der frühen Versicherungstabellen vgl. C. A. Ansell, Treatise on Friendly Societies in which the Doctrine of 35 38
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häufigen Zusammenbrüche der Friendly Societies geben hier ein lebendiges Bild der kaum zu überwindenden Schwierigkeiten. Zwischen 1793 und 1875 beschäftigten sich vier Select Committees des House of Commons, eines des House of Lords und eine Royal Commission mit dem Zustand der Friendly Societies39 • 19 Gesetze wurden erlassen mit der Tendenz, durch Vergünstigungen einen Anreiz zur freiwilligen Registrierung zu geben und auf diesem Wege die staatliche Oberaufsicht zu verstärken und so die Stabilität der Friendly Societies zu erhöhen. Dies geschah in der eigennützigen Absicht, sie zur vollen Selbständigkeit und Selbsthilfe ohne staatliche Unterstützung zu befähigen. Seit den dreißiger Jahren wurde die Registrierung der Friendly Societies aus dem Kompetenzbereich der örtlichen Friedensrichter gelöst und auf ein zentrales Registeramt verlagert40 • Die registrierten Friendly Societies wurden zur Offenlegung ihrer Kalkulationen und Rechnungsführungen verpflichtet. Im Zusammenhang mit dem Department des Registrar of Friendly Societies gelang es durch die jährlichen Bestandsaufnahmen, genügend empirische Daten zu sammeln und so der Entstehung einer wissenschaftlichen Statistik den Weg zu bahnen41 • Indem der Staat dazu überging, ein eigenes Department zu errichten, das sich mit der Herstellung von Statistiken und Rahmentabellen für ein besseres Management der Friendly Societies beschäftigte, gewann er zunehmend selbst gesichertere Kenntnisse über Vorgänge an der gesellschaftlichen Basis, die ihrerseits zur Weiterentwicklung seiner gesetzgeberischen und administrativen Möglichkeiten führten. Das Beispiel der Friendly Societies in der frühindustriellen Zeit, das hier im Rahmen unserer Fragestellung nur in groben Umrissen vorgeführt werden konnte, ließe sich durch viele zusätzliche Bereiche und Aspekte gesellschaftlicher Selbstorganisation im klassischen Land der industriellen Revolution erweitern. Sie würden im wesentlichen das Interest of Money and the Doctrine of Probability are Practically Applied, London 1835; F. G. P. Neison, Contributions to Vital Statistics being a Development of the Rate of Mortality and the Laws of Sickness, London 1845; Henry Ratcliffe, Observations on the Rate of Mortality and Sickness Existing among Friendly Societies . . ., Manchester 1850. 39 Diese außerordentlich aufschlußreichen Materialien sind nun zusammengefaßt veröffentlicht in: British Parliamentary Papers. Irish University Press, Friendly Societies, 10 Bde., Shannon 1968- 70. 40 1846 wurde der Barrister, bei dem die Satzungen der Vereinigungen hinterlegt wurden, mit dem Titel eines Registrar ausgestattet. 41 In welcher Weise Daten gesammelt und veröffentlicht wurden, wie das Department des Registrar of Friendly Societies als Vermittler zwischen den Vereinigungen und den Regierungsbehörden wirkte, darüber geben die Materialien der Royal Commission on Friendly Societies von 1874 Auskunft. Vgl. Four Reports from the Royal Commission Appointed to Inquire into Friendly and Benefit BuHding Societies, 1871- 74, Fourth Report 1874,
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entworfene Bild des Verhältnisses von gesellschaftlicher Selbstorganisation und moderner Staatsentwicklung bestätigen: Bereits lange vor der industriellen Revolution- und nicht erst durch sie ausgelöst - gab es Möglichkeiten und Formen freiwilliger Assoziation in England. Sie fanden ihren Niederschlag in Besonderheiten der englischen Rechtsentwicklung. Sie waren aber nicht eine bloße Weiterentwicklung traditioneller Verbandsstrukturen. In der Differenzierung ihrer Organisationszwecke unterschieden sie sich vielmehr grundlegend von ständisch-korporativ geprägten Gemeinschaften. Mit ihren spontanen, nicht auf staatliche Konzession angewiesenen Möglichkeiten begünstigten die freien Assoziationen den Übergang zur industriellen Revolution, die selbst nicht das Ergebnis gezielter Regierungspolitik, sondern das Resultat selbsttätiger gesellschaftlicher Entwicklungen war. Die große Flexibilität der Voluntary Associations war geeignet, einen ersten organisatorischen Rahmen für den durch die industrielle Revolution beschleunigten tiefgreifenden sozialen Strukturwandel zu bieten. Die Aktivitäten der Selbstorganisation schufen hierbei selbst neue soziale und politische Tatbestände, die auch ein zur Politik des "Laissezfaire" tendierender Staat auf die Dauer nicht außer acht lassen konnte. Indem der Staat zunehmend diese Aufgaben als Inhalte seines Handeins akzeptierte, begann auch er seine eigene Gestalt zu verändern.
Aussprache Naujoks: Im Vortrag wurde dargestellt, daß die staatliche Einwirkung auf die Friendly Societies wie auch die soziale Entwicklung Englands überhaupt erst seit den 60er Jahren eingesetzt habe. Muß man nicht auf frühere behördliche Initiativen ernsthafter Sozialgesetzgebung seit 1833 bzw. 1847 verweisen? Birke: Es ist richtig, daß in England eine vergleichsweise moderne Arbeitsgesetzgebung schon relativ früh einsetzt. Hier ging es jedoch darum aufzuzeigen, daß im Zuge der industriellen Revolution eine Fülle von Problemen auftauchte, auf die der Staat nicht reagierte. Er überließ sie gern spontanen gesellschaftlichen Initiativen, u. a. den Friendly Societies, deren Aktivitäten er nicht nur duldete, sondern darüber hinaus förderte. Wobei der Trust die Möglichkeiten spontaner kollektiver Aktivität bietet, derer sich auch der Staat bedienen kann. Die Grenze zwischen dem öffentlichen und privaten Bereich ist im frühindustriellen England ohnehin nicht klar abzustecken. Frotscher: Ich möchte auf die allgemeinen Ausführungen des Referenten noch einmal zurückkommen und sie in gewisser Hinsicht abrunden. Herr Birke hat die Bedeutung des "trust" zu Recht hervorgehoben. Dabei hat er insbesondere, wie es dem Thema entspricht, die wichtige Rolle des "trust" für die Vereinsbildung und damit für die gesellschaftliche Selbstorganisation deutlich gemacht. Bemerkenswert ist, und das sollte man noch ergänzen, daß eben dieses "Treuhand"Prinzip auch für den - nach deutscher Terminologie (im Englischen müssen wir mit den Begriffen "Staat" und "Gesellschaft" ja etwas vorsichtiger umgehen!) - staatlichen Bereich gilt. Das Verhältnis von Government und Civil Society wird ganz entscheidend durch den "trust" geprägt. So läßt sich für die staatliche Organisation wie für die gesellschaftliche Selbstorganisation ein einheitliches, "trust-gewebtes" Organisationsmuster feststellen, welches das englische Gemeinwesen von der Spitze (Government) bis zur Basis (Associations) durchzieht. Baumgart: Ich wollte Sie fragen, Herr Birke, welche Rolle die Friendly Societies in der langen Vorbereitungs- und Anlaufphase der großen Wahlreform von 1832 gespielt haben. Die Ansätze dazu reichen ja bis in die 60er und 70er Jahre des 18. Jahrhunderts zurück; und der Fall des vom Parlament wiederholt zurückgewiesenen, aber immer wie-
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dergewählten Parlamentsabgeordneten lohn Wilkes, den die City of London zu ihrem Lord Mayor erhob (1774) und der eine ganze Petitionsbewegung für die Rechte der Wähler auslöste, dürfte ein frühes Beispiel für lokale Organisationen mit politischer Zielsetzung außerhalb des vorhandenen Parteiensystems sein. Derartige Organisationen lokaler oder regionaler Ausdehnung hat es doch wohl viele gegeben. Welcher Zusammenhang besteht zwischen ihnen und den von Ihnen geschilderten societies?
Birke: Wir stoßen hier auf die Schwierigkeit, daß der Begriff "Friendly Society" nicht zugleich schon Aufschluß über die umfassende Wirklichkeit der so bezeichneten sozialen Organisation gibt. Ich habe mich bewußt auf das freiwillige Unterstützungswesen beschränkt und gezeigt, wie sich von dieser Basis aus andere bzw. zusätzliche Zwecke ergeben konnten. Grundsätzlich gestattete das Organisationsmuster einer Friendly Society auch die politische Mobilisierung für einen bestimmten Zeitraum. Der enge Zusammenhang mit den frühen Gewerkschaften ist von mir bewußt betont worden. Der Trade Unionismus entwickelt sich im Umfeld der Friendly Societies, die ihrerseits einen wesentlichen Zweig des freien Assoziationswesens darstellen. Auch die politischen Gesellschaften am Ende des 18. Jhs. gehören zu den "Voluntary Associations"; insoweit besteht eine Parallele zu den Friendly Societies. Schlenke: Sie haben zu Recht gesagt, daß sich in England sehr früh eine zentrale Gewalt herausbildet. Allerdings wäre es völlig falsch, dieses England nur von der Zentrale her zu betrachten. Vielmehr hat sich- ausgehend von den Friedensrichtern der Tudorzeit- schon sehr früh eine lokale Selbstverwaltung gebildet, die zwar durch Parlamentsgesetze an die Zentrale gebunden war, aber doch genügend Spielraum für Eigeninitiativen ließ. Eine ähnliche Dezentralisierung beobachten wir auf wirtschaftlichem Gebiet im Verlauf der Industriellen Revolution. Zu Recht wurde betont, der Staat sei hier nicht tätig geworden. Warum nicht? Hier ist auf die spezifisch englische Konzeption des Eigentums zu verweisen: Im Unterschied zu den meisten kontinentaleuropäischen Ländern beinhaltete Eigentum den absoluten, uneingeschränkten Besitz an Grund und Boden einschließlich der tief unter der Oberfläche liegenden Bodenschätze. Der größte Grundbesitzer aber war der Adel, der zum Motor der industriellen Revolution wurde und nicht wie z. B. in Preußen - die industrielle Entwicklung hemmte. Einen ausgeprägten Gegensatz zwischen Industrie - und Agrargesellschaft hat es in England nie gegeben. - Sie haben sich in ihrem Vortrag auf die "Friendly Societies" beschränken müssen. Zieht man die zahlreichen anderen "societies" (auch die wissenschaftlichen) in eine vergleichende Betrachtung ein, so ergibt sich, daß insgesamt gesehen diese Vereinigung
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nicht auf bestimmte Bevölkerungsgruppen beschränkt blieben, sondern Mitglieder aus allen Gesellschaftsschichten von den Adeligen bis zum Handwerker umfaßten. Birke: Ich stimme dem voll zu. Ich habe weitere Assoziationen aus genau den Gründen nicht berücksichtigt, die sie genannt haben. Ich bin mir auch völlig darüber im klaren, daß die Problematik Zentralgewalt - lokale Selbstverwaltung ebenso wie die Begriffe "Staat" und "Gesellschaft" für England viel eingehender zu diskutieren wären als das hier geschehen konnte. Was ich in meiner kurzen Skizze als Unterscheidungsmerkmal zur kontinentalen Entwicklung andeuten wollte, ist die frühzeitige Herausbildung der Zentralgewalt in England, die prinzipiell nicht mehr in Frage gestellte wurde und die dezentrale Herrschaftsausübung der sozialen Führungsschichten. Obwohl die Krone im 18. Jh. keineswegs zur politischen Bedeutungslosigkeit herabsank, waren es doch die Vertreter der Hocharistokratie, die die Gewalt im Lande verkörperten, die die lokale Selbstverwaltung dominierten und zugleich ihren Einfluß im Parlament zur Geltung brachten. Hofmann: Was mich an den beiden ausgezeichneten Referaten des heutigen Vormittags besonders beeindruckt hat, ist das deutliche Hervortreten der Unterschiede zwischen den englischen und den kontinental-europäischen Verhältnissen. Diese Unterschiede betreffen zum einen die Gesellschaft, die sich hier und die sich dort formiert. In diesem Punkt sind die Differenzen so groß, daß man ~ Herr Scheuner hat das bereits angedeutet- jedenfalls im Blick auf die deutschen Verhältnisse schon mit der Verwendung des Begriffs der gesellschaftlichen Selbstorganisation vorsichtig sein muß. Zum anderen gibt es offensichtlich aber auch sehr erhebliche Unterschiede im Verständnis und in der Artikulation dessen, was in dieser Selbstorganisation der Gesellschaft geschieht und geleistet wird. Herrn Birkes Referat läßt vermuten, daß die englische Entwicklung in dieser Hinsicht deswegen ungezwungener verlief, weil die gesellschaftliche Selbstorganisation dort - jedenfalls in der Anfangsphase- von dem Problem befreit war, das die Vereinigun~ gen des deutschen Vorwärz im Zeichen des Liberalismus belastete, nämlich vom Repräsentationsproblem. Was freilich nicht ausschließt, daß jene englischen Assoziationen über ihre ursprünglichen caritativen, arbeitsrechtlichen und sonstigen sozialen Zwecksetzungen hinaus dann auch wieder politische Bedeutung für die Veränderung des parlamentarischen Vertretungssystems gewinnen. Des weiteren möchte ich an das Referat von Herrn Birke die Frage knüpfen, inwieweit dieses- ich darf einmal sagen-unverkrampfte Verhältnis zu partikularen Formationen innerhalb der Gesellschaft etwas zu tun hat mit dem Verständnis der Reformierten vom Gemeinwesen und Gemeinwohl- ob da ein Hintergrund ist, der im deutschen Vormärz weithin fehlt.
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Birke: Ein Zusammenhang zwischen den frühen Formen neuartiger sozialer Organisation und dem Methodismus ist zweifellos gegeben. Er ist bisher noch nicht hinreichend untersucht worden. Auch für Petitionsbewegungen im politischen Bereich - Chartismus, Anti-Corn-Law League- waren die religiösen Organisationsbewegungen von Bedeutung. Sie spielen auch für die Entwicklung des Trade Unionismus eine erhebliche Rolle. Zum Repräsentationsproblem in diesem Zusammenhang nur so viel: Auffallend und interessant ist die Staatsferne der frühen Friendly Societies. Obwohl der Gesetzgeber ihnen als Gegenleistung für die Registrierung erhebliche Vorteile für ihre korporativen Handlungen einräumt, müssen sie regelrecht geködert werden. Die "abstention of law and state" ist ein grundlegendes Merkmal des freien Vereinigungswesens in England, und sie kennzeichnet noch heute in extremer Weise die Einstellung der Gewerkschaften. Hier ist die Kontinuität zu den frühen Entwicklungen deutlich zu erkennen. Obwohl die Gewerkschaften seit dem Ende des 19. Jahrhunderts als Pressure Groups- schließlich mit dem Mittel einer selbständigen Labour Party - auf die staatliche Willensbildung einwirken, nutzen sie ihre politische Macht, um ihren Charakter als Voluntary Associations, als von Gesetz und Gerichten nur schwer erreichbare Vereinigungen zu konservieren. Diese Staatsferne hat ihre lange Geschichte, und sie hat ihre Wurzeln in der lang andauernden staatlichen Repressionspolitik der frühindustriellen Epoche. Borck: Vielleicht darf ich gerade an diesem letzten Punkt eine Frage anknüpfen, Sie haben ja gesagt, diese Friendly Societies seien im wesentlichen Selbsthilfeorganisationen, d. h. eigentlicher Zweck dieser Vereinigungen ist die Vorsorge gegen Zustände der Mitglieder, die dazu führen können, diese hier angesprochenen Leistungen der deutlichen Armenverwaltung in Anspruch zu nehmen. Meine Frage an Sie, gibt es irgendwelche quantitativen Angaben über den Erfolg, den diese Einrichtungen auf diesem Gebiete tatsächlich erzielt haben, gibt es also Anhaltspunkte über das Ausmaß der finanziellen Leistungen dieser Organisationen im Verhältnis zu dem, was die lokalen und wie Sie also sagen schlecht funktionierenden Armen-Verwaltungen dann immer noch übrig behielten. Birke: Das ist eine der zentralen Fragen und sicher auch ein Bereich, der sozialgeschichtlich angelegten quantitativen Untersuchungen stärkere Anreize bietet. Daß solche Überlegungen den Gesetzgeber bewegt haben, liegt auf der Hand. Von den frühen Select Committees bis hin zur Royal Commission der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts wird immer wieder die Frage gestellt und zu beantworten versucht, wie
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sich die Aktivitäten der Friendly Societies auswirken, in welcher Weise sie die öffentliche Armenfürsorge entlasten. Hier bleibt es im wesentlichen bei Mutmaßungen. Es muß bezweifelt werden, ob die Selbstversicherungen für den Notfall tatsächlich eine hinreichende Absicherung boten. Das müßte noch an Hand konkreter Fälle untersucht werden. Da die Mitglieder der Friendly Societies sich vornehmlich aus solchen Handwerkern und Arbeitern rekrutierten, die immerhin in der Lage waren, einen minimalen Beitrag von ihrem Lohn für den Versicherungszweck aufzuwenden, wurden in den meisten Fällen gerade nicht diejenigen erfaßt, bei denen die Gefahr bestand, daß sie dem Armenrecht anheim fielen.
Schlenke: Neben dem Poor Law Amendment Act von 1834 haben wir den umfangreichen Report of the Royal Commission of the Poor Laws vom gleichen Jahr. Findet sich darin etwas über die Effektivität der Friendly Societies? Birke: Nur Mutmaßungen! Man läßt sich durch die Clerks der Justices of the Peace genau berichten, wieviele solcher Organisationen es gibt, welchen Aktivitäten sie nachgehen, wieviele von ihnen zugrunde gegangen sind. Man versucht Anhaltspunkte zu gewinnen. Verläßliche Daten gibt es aber erst etwa seit der Jahrhundertmitte durch die Rahmentabellen, die für das Versicherungswesen zentral erstellt werden und die für die Entwicklung der wissenschaftlichen Statistik von außerordentlicher Bedeutung waren.
Staatliche Verbandsbildung und Verbandsaufsicht in Deutschland im 19. Jahrhundert Von Ulrich Scheuner, Bann 1. Staat und intermediäre Gewalten in der neueren Entwicklung In diesem Vortrag sollen zwei Linien der neueren Beziehungen zwischen Staatsmacht und Verbänden verfolgt werden, die eng miteinander zusammenhängen. Einmal die Haltung des Staates gegenüber der sozialen Strukturierung der Gesellschaft, von der auch seine Einstellung zu freien und von ihm gelenkten Verbindungen abhängt, zum anderen die freilich stets schwierig zu bestimmenden Unterschiede zwischen den vom Staate geschaffenen und geformten, und den autonomen Organisationen. Der Blick richtet sich dabei über das 19. Jahrhundert zurück auch zu älteren Stufen, weil sich auf deren Grundlage die Entwicklung des 19. Jahrhunderts deutlicher abhebt. An bestimmten Rechtsbegriffen, wie dem der öffentlichen Körperschaft, ist die Darstellung nicht orientiert, weil das in spezielle rechtliche Untersuchungen hineinführen würde. Jede Betrachtung der Rolle des Staates im Verhältnis zu sozialen Gruppen muß von der Einsicht ausgehen, daß es in der Geschichte des neuzeitlichen Staates keine Staatsform, keine Periode gibt, in der sich das politische Gemeinwesen aus isolierten Individuen hätte aufbauen können. Stets waren intermediäre Gewalten und Körper vorhanden. Es hat dabei Zeiten gegeben, in denen die zentrale politische Gewalt gegenüber den einzelnen Kräften und Verbindungen eine Schwäche zeigte, wie das im 15. Jahrhundert zu beobachten ist und wohl auch in unserer Gegenwart. In anderen Epochen ringt die politische Führung darum, den Gruppen gegenüber eine Überlegenheit zu gewinnen und auf sie gestaltenden Einfluß zu nehmen. Schon im Mittelalter hat die fürstliche Herrschaft, etwa in der Heranziehung des Rittertums zu leitenden Positionen im 12. und 13. J ahrhundert1 oder in der Förderung des Städtewesens, zuweilen Einfluß auf die Gliederung der 1 Zur Heranziehung des Rittertums anstelle der zurücktretenden großen Vasallen durch die Kapetinger in Frankreich im 12. Jahrhundert, s. Eric Bournazel, Le gouvernement capetien au XIIe siecle 1108 - 1190. Paris 1975, s. 15 ff., 145 ff., 165 ff.
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Bevölkerung geübt. Wenn ich in diesem Zusammenhang das Wort "Staat" gebrauche, so meine ich diejenige politische Gewalt, die im Mittelalter in voller oder weitgehender Unabhängigkeit eine politische Herrschaft über ein Gebiet ausübte, und ich füge hinzu, daß ich im Blick auf die westeuropäische Entwicklung wie die Geschichte der deutschen Territorien von einer aus dem Mittelalter kommenden Kontinuität staatlicher Machtbildung ausgehe und die Meinung derer nicht teile, die erst mit dem 16. Jahrhundert vom modernen Staat sprechen wollen2 • Der folgende Überblick gliedert sich in drei Zeitabschnitte. Einleitend wird ein Blick geworfen auf das Zeitalter, das wir als das des absoluten Fürstenstaates bezeichnen können, und das vom 17. bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts reicht. Die darauf folgende Periode von 1780 - 1848 bringt in der deutschen Entwicklung den Übergang von der älteren ständisch geordneten Gesellschaft zu einer beweglicheren auf Rechtsgleichheit und Freiheit beruhenden sozialen Struktur, zur bürgerlichen Gesellschaft, in der die Unterschiede eher durch Klassen und wirtschaftliche Positionen als durch rechtliche Kriterien markiert werden. In Unterschied zu Frankreich, das diesen Übergang revolutionär vollzieht, geht er in Deutschland in einer langsamen Verwirklichung über Jahrzehnte hin vor sich. In dieser Umgestaltung spielt in Deutschland der Staat durch bewußte Reformen der sozialen Verhältnisse eine bestimmende Rolle. Der Beginn dieser Umformung liegt bereits vor der französischen Revolution in den Veränderungen unter Josef II. in Österreich und in der Vorbereitung des preußischen Allgemeinen Landrechts; die Durchführung der gesellschaftlichen Veränderung mit ihren Folgen für Bodenverteilung, Verwaltungsformen und soziale Angleichung zieht sich bis tief in das 19. Jahrhundert hinein3 • Die dritte zu betrachtende 2 Dabei kommt es auf die Kontinuität der Bildung zentraler politischer Einheit an und nicht auf die Namen .,Staat", dessen mittelalterliche Bezeichnung res publica, regnum, civitas deutlich erkennen lassen, daß die Existenz politischer Gebilde der Zeit vertraut war. Zur Herkunft der ma. Bezeichnung für politische Einheiten, s. Werner Suerbaum, Vom antiken zum frühmittelalterlichen Staatsbegriff, 3. Aufl. 1977, S. 308 ff. Für den Ausdruck .,Staat" s. Wolfgang Mager, Zur Entstehung des modernen Staatsbegriffs Abh. d. AkdWiss u. Lit. Mainz, Geisteswiss. Kl., 1968, Nr. 9 und Paul-Ludwig Weinacht, Staat, Studien zur Bedeutungsgeschichte des Wortes von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert, 1968. Vgl. ferner Gaines Post, Studies in Medieval Legal Thought, Princeton, 1964, S. 241 ff. sowie Götz Landwehr, Mobilisierung und Konsolidierung der Herrschaftsordnung im 14. Jahrhundert, in: Der deutsche Territorialstaat im 14. Jahrhundert (Konstanzer Arbeitskreis Bd. 14), 1971, S. 484 ff. 3 Die tiefgehendste zeitgenössische Analyse des Überganges von der ständischen zur staatsbürgerlichen Gesellschaft findet sich bei Lorenz von Stein, Die Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, 1849 (Neudruck 1959), Bd. 1, S. 153 ff., 463 ff.; s. hierzu Rainer Wahl, Der Übergang von der feudal-ständischen Gesellschaft zur staatsbürgerlichen Gesellschaft als Rechtsproblem: Die Entwährungslehre Lorenz von Steins, in:
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Periode wird durch die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts gebildet, in der die freie Verbandsbildung voll zur Entfaltung gelangt und die Scheidung von Staat und Gesellschaft die allgemeine Anschauung beherrscht, die die sich selbst gestaltenden Kräfte des sozialen Lebens dem überkommenen monarchischen Staatsapparat gegenüberstellt. Das Problem dieser Epoche, in der das Assoziationswesen weite Bedeutung erlangt, liegt in der Beziehung dieser Kräftegruppen zum Staate, wobei freilich für jenen Abschnitt noch nicht davon die Rede sein kann, daß die Vereinigungen und Verbände ihre Vorstellungen dem Staate hätten aufprägen können.
2. Der absolute Staat und die ständischen Formationen Wenn ich mich zunächst dem politischen Aufbau in der Zeit der absolutistischen Herrschaft zuwende, so möchte ich von dem Gedanken ausgehen, m it dem Roland Mousnier für Frankreich von einer soch~te des ordres, einer in festen Formen gegliederten Gesellschaft spricht'. In seinem Vortrage hat Herr Willeweit die gleiche Meinung geäußert. Er sieht den einzelnen in jener Epoche in stabile Ordnungen eingefügt, durch die zugleich der Staat, dessen Verwaltung noch nicht so weitgehend ausgebaut ist, wesentliche Funktionen der Ordnung und Disziplinierung wahrnimmt5 • Auch diese Gesellschaft besitzt eine gewisse Mobilität zwischen den Gliederungen der Stände. In Frankreich sinkt im 16. Jahrhundert der Adel ab, während die neue Schicht der noblesse de rohe emporsteigt und auch obere Schichten des Bürgertums in den Adel übergehen8 • Das 18. Jahrhundert ist, wie Palmer gezeigt hat7 , wieder eine Zeit, in der allenthalben der Adel sich erneut einen größeren Anteil an den führenden Stellen zu sichern wußte. In England wurde die ständische Ordnung seit dem 16. Jahrhundert zunehmend durch die Ausbreitung neuer Formen ergänzt und aufgelöst, so daß eine erhebliche Beweglichkeit entstand8, während in Deutschland aus Roman Schnur (Hrsg.) Staat und Gesellschaft. Studien über Lorenz von Stein,
1978, s. 337 ff. 4 Roland Mousnier, Les institutions de Ia France sous Ia monarchie absolue Bd. 1, Paris 1974, S. 14 f., 335 ff., 362 ff. 5 Zur disziplinierenden Wirkung des absoluten Regimes s. Gerhard Oestreich, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, in: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, 1969, S. 187 ff. 6 s. Mousnier (Anm. 4) S. 102 ff., 172 ff. 7 R. R. Palmer, The Age of Democratic Revolution, Princeton 1959, Bd. 1, S. 9 f., 73 f. E. Weis für Frankreich in: R. Vierhaus (Hrsg.}, Der Adel vor der Revolution, 1971, S. 29 f.; für Deutschland G. Birtsch, dort S. 77 ff. 8 Die industrielle Revolution veränderte schon im 18. Jahrhundert die
englische Gesellschaft tiefgehend und löste die älteren Schranken auf. Vgl. The Crisis of the Seventeenth Century, in: Trevor Aston (Ed.), Crisis in Europe 1560 - 1660, London, 1965, S. 5 ff.
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vielerlei hier nicht zu untersuchenden Gründen- ständische Schichtung und die Einbindung in feste Formen des sozialen Lebens (Zünfte, Gutsherrschaft) erhalten blieb. In dieser Lage hatten in Deutschland die lokalen und korporativen Formationen für den Staat die Bedeutung, daß sie- hier stimme ich ganz mit Herrn Willeweit überein - eine Strukturierung und Ausrichtung der Gesellschaft herstellten, ohne die der Staat seine Aufgabe nicht hätte erfüllen können. Der frühabsolute Staat strebte danach, das kommt etwa bei Bossuet zum Ausdruck, der für die königliche Gewalt forderte, daß sie "invincible" sei', eine unwiderstehliche Macht zu begründen, die sich über alle diese ständischen Kräfte erhob. Bei diesem Vorgang war besonders bemerkenswert, daß in dieser Periode die Staaten auch das mächtigste vorgefundene soziale Phänomen, die Kirche, einzufangen und ihrer Hoheit zu unterwerfen verstanden. Die Reformation hatte für die protestantischen Kirchen diesen Weg schon vorbereitet, die Ansprüche der katholischen Herrscher befestigten sich in dieser Epoche (Gallikanismus) und im 18. J ahrhundert wurde auch begrifflich die Kirche von der weltlichen Lehre nicht mehr als ein eigener Bereich neben dem Staate, sondern als ein ihm eingegliederter, wenn auch mit weiter Autonomie versehener Bereich angesehen. Das sich im 18. Jahrhundert ausbildende Kirchen-Staatsrecht oder Staatskirchenrecht, wie wir es heute nennen, war ein vielleicht auch für unsere Gegenwart fesselndes Beispiel des Verhaltens des Staates gegenüber einer mächtigen von ihm nicht voll beherrschten Erscheinung. Wenn auch der Staat die Vereinigung seiner Bürger zu religiösen Gemeinschaften achtete und ihnen eine weite Autonomie gewährte, so betont er demgegenüber doch seine übergeordnete Hoheit für die äußere Sicherheit und Wohlfahrt und zog der kirchlichen Gewalt Grenzen in der öffentlichen Sicherheit10• Er band die Kirchen an die salus publica, unterwarf sie einer gewissen Aufsicht und sah sie als im Staate bestehend, ihm unterworfen, an11 • 9 Jacques-Benigne Bossuet, Politique tiree des propres paroles de l'Ecriture sainte (Ed. Jacques le Brun, Genf 1967), Buch IV, 8 proposition, S. 101. 10 Nach der Lehre des späten Naturrechts lebt die Kirche im Staat und untersteht als Vereinigung in ihrem äußeren Leben dem Staat, der ihre Glieder an die Beobachtung der securitas civitatis bindet. Joach. Geor g Daries, Institutiones Jurisprudentiae Universalis, 3. Aufl., Jena 1748: 912, 913. Daniel Nettelbladt, Systema elementare universae jurisprudentiae naturalis, 4. Auli., Halle 1777, stellt die Kirchen in eine Reihe mit den privaten und öffentlichen Gesellschaften und wendet das für diese Gesagte auf sie an (§§ 1485- 1487). Auch K. A . von Martini, Erklärung der Lehrsätze über das allgemeine Staatsund Völkerrecht, Wien 1791, stellt die inneren Vorgänge der Religion frei, erklärt aber, daß die Kirche "im wahrhaft politischen Verstande im Staate sei" . 11 In krasser Weise wird dieser Standpunkt am Ausgang des 18. Jahrhunderts vertreten. Vgl. Wiese, Handbuch des gemeinen in Teutschland üblichen Kirchenrechts, Leipzig 1799, Bd. 1, S. 124: "Alleine da im Staat nur die höchste Gewalt allein independent, alle Andere im Staat befindliche Ge-
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Ein solcher Vorgang der Überordnung hatte sich gegenüber anderen aus dem Mittelalter überkommenen korporativen Einrichtungen, den Städten, den Zünften bereits vollzogen. In den fürstlichen Herrschaftsordnungen fanden die freien Assoziationen der älteren Zeit keinen Platz mehr; sie wurden, soweit sie fortbestanden, in eine Abhängigkeit von der obersten Gewalt gebracht. In der Lehre wie in der politischen Wirklichkeit des 16. und 17. Jahrhunderts rangen zwei Staatsbilder miteinander. Das eine verkörperte die Idee des aufsteigenden fürstlichen Staates, in dem nun die Einheit und die Souveränität der fürstlichen Macht betont wurde und dessen Ziel daher die Etablierung einer über allen Einzelkräften stehenden Macht ist. Auf der anderen Seite steht demgegenüber eine Vorstellung, die aus dem späten Mittelalter kommt und die wir als ständische Position bezeichnen können. Hier wird dem Fürsten die oberste Gewalt zuerkannt, aber eingebunden in festes Herkommen und in eine Konsensleistung der Stände. Wo sich, wie in den nördlichen Niederlanden, der Konflikt entzündete, rückten die ständischen Repräsentanten zur eigentlichen Herrschaft auf, wie dies dem englischen Gesandten gegenüber eine Aufzeichnung des Ratspensionärs von Gouda aus dem Jahre 1587 feststellte. Die städtischen Räte und die Korporation des Adels vertreten das Ganze und alle Einwohner und bilden den Grundstein, auf dem das Gemeinwesen ruht 12• Hier waren die intermediären Gewalten zu eigentlichen Souveränen geworden. In England hat sich die Monarchie behauptet, aber wurde praktisch seit dem 18. Jahrhundert der Herrschaft der Adelsoligarchie unterstellt. Konnte noch 1701 eine Petition von Bürgern einer Grafschaft im Parlament als "scandalous and insolent" verurteilt werden13, so bildeten sich nach der Mitte des Jahrhunderts, etwa in der Wilkes-Affäre, und erst recht am Ende dieser Periode nicht nur, wie wir gehört haben, die Friendly Societies, sondern auch politische Assoziationen, die freilich dann unter dem Eindruck der französischen Revolution zeitweise Beschränkungen unterlagen14• genstände ihr untergeordnet sein müssen, Alles ihrer vorsorgenden Oberaufsicht unterworfen sein muß; so müssen auch alle Arten der gesellschaftlichen Verbindungen dieser subordiniert sein, also auch die allgemeine kirchliche Verbindung dem Staat ... Die Kirche existiert im Staat, ist subordiniert, existiert nur mit Bewilligung des Staats, als eine von demselben abgesonderten Verbindung". Wiese erkennt Schranken der staatlichen Oberaufsicht an, doch muß die kirchliche Gesellschaft mit dem Zwecke des Staates und der öffentlichen Sicherheit verträglich sein (S. 139). 12 Auseinandersetzung der Rechte der Ritter, Adeligen und Städte von Holland und Westfriesland, niedergeschrieben von Francis Vranck, Pensionär von Gouda, 16. 10.1587. Text nach E. H. Kossmann und A. F. Mellink, Texts concerning the Revolt of the Netherlands, Cambridge 1974, Nr. 66, S. 274. 13 N. N . Williams, The Eighteenth Century Constitution, Documents and Commentary, Cambridge 1960, S. 410 f. 14 Versammlungen wurden durch die Seditious Meetings Act (36 Geo 111 c. 7) von 1795, Vereinigungen durch die "Act against Unlawful Combinations
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In Frankreich hatten die Kämpfe des 16. Jahrhunderts dahin geführt, daß Heinrich IV. den Hugenotten eine Reihe von Festungen und andere Befugnisse zugestand. Diese Rechte erschienen Richelieu so wenig mit der königlichen Macht verträglich, daß er diese Position zerbrach, aber im Frieden von Alais 1629 den Protestanten noch die Glaubensübung beließ. Freie politische Einigungen erschienen dem ausgebildeten Absolutismus, der die Vergangenheit des Bürgerkrieges vor Augen hatte, als gefährlich. Die intermediären Gewalten, die er nicht beherrschte, erschienen ihm in einem negativen Lichte. Die älteren, bei Gierke so betonten genossenschaftlichen Bildungen, hatten im Bau des absoluten Staates nur Platz, wenn sie in seiner Oberherrschaft eingeordnet waren15• Die französische Monarchie ist den Weg, den in Deutschland das spätere Naturrecht so deutlich vorzeichnet, der Einfügung aller überlieferten Korporationen bei den Städten und Zünften weitgehend gegangen, hat aber in den Parlamenten und in den Vorrechten des Adels Einrichtungen nicht überwinden können und ist schließlich von diesen Kräften entscheidend an Reformen behindert worden18• In Deutschland ist die Entwicklung anders verlaufen. Hier lagen in der aufgelockerten Struktur des Reiches eine Fülle von Gegenkräften; in den großen Territorien aber fügte die monarchische Gewalt die Korporationen der Gesamtordnung ein und vermochte daher auch durchgreifendere Reformen zu ergreifen. Wir müssen gewiß, worauf Herr Willeweit hingewiesen hat, erkennen, daß in der absoluten Periode viele ältere Einrichtungen und Körper bestehen blieben, aber sie wurden von der Staatsgewalt überwölbt, in ihre Ordnung eingegliedert. Die Stände blieben, wurden aber zurückgedrängt, zuweilen beseitigt, es blieben die alten Korporationen der Handwerker, diejenigen der Städte, aber beide wurden staatlicher Aufsicht unterstellt und ihre Autonomie immer mehr beschränkt. Faßt man das Bild des absoluten Staates in Deutschland zusammen, so blieben in ihm eine Reihe korporativer Einheiten, von den Städten und den Zünften bis zu den Universitäten und den Zusammenschlüssen des Adels und der Ritterschaft erhalten, aber unter straffer Aufsicht des Staates in dessen Aufbau eingeordnet. Frei gebildete Vereinigungen waren nicht unterdrückt und im geselligen and Confederacies von 1799 (39 Geo III c. 79) beschränkt. Diese Maßregeln waren indes nicht von Dauer. 15 Vgl. Otto v. Gierke, Das Deutsche Genossenschaftsrecht, Neudruck Graz 1954, Bd. 1, S. 514 ff., 638 ff., der S. 866 ff. das begrenzte Fortleben älterer Einungen und Genossenschaften in Schützenvereinen, geselligen Standesassoziationen behandelt und darauf hinweist, daß das Reichsrecht kein allgemeines Verbot unbewilligterVereine kannte. 16 Jean Egret, La Prerevolution fran!;aise, Paris 1962, S. 39 ff., 147 ff., 204 ff. (Widerstand der Notablen, der Cour des Pairs und der Parlamente). Ders., Louis XV. et l'opposition parlementaire, Paris 1970.
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und kulturellen Bereich anzutreffen, aber allen Vereinigungen, die sich öffentlichen Fragen zuwandten begegnete alsbald die staatliche Macht11•
3. Der Vbergang von der ständischen Ordnung zur bürgerlichen Gesellschaft Die beschriebene Situation spiegelt sich auch wieder in der Konzeption der öffentlichen Ordnung, der wir in der Lehre des späten Naturrechts begegnen. In ihr erschien der Staat eingebettet in einen Aufbau von Gesellschaften, societates, und wurde selbst auch als eine Gesellschaft, ein Zusammenschluß von Menschen definiert18• Das naturrechtliehe Bild der Gemeinschaft war das einer voluntaristischen Vereinigung zu bestimmten Zwecken. Den Staat führte die Naturrechtslehre auf ein pactum unionis civilis zurück, so daß sich auch der Staat in dieses Bild eines ius sociale universale, ein allgemeines Recht der Gesellschaften, einfügte. Der Aufbau dieser Kette der Vergesellschaftung setzt ein mit der Familie, der Hausgemeinschaft mit Gesinde (societas herilis), begreift die Handelsgesellschaft ein und führt zu Zünften und Gemeinden, endlich zu gelehrten Gesellschaften und geselligen Vereinen11• Daß auch die Handelsgesellschaften noch in diesen Kreis einbezogen wurden, erscheint begründet, wenn man sich vergegenwärtigt, daß sie korporative Rechte nur durch Verleihung durch den Staat erhalten konnten und daß unter den Handelsgesellschaften jener Zeit auch mächtige Ge17 Die Lehre vertrat den Standpunkt, daß dem Staatszweck nicht widerstreitende private Vereinigungen erlaubt seien, auch ohne eine besondere behördliche Genehmigung. Doch steht ihnen eine Befassung mit öffentlichen Aufgaben nicht zu. Siehe Daniel Nettelbladt, Systema elementare universae jurisprudentiae naturalis, Halle 1777, §§ 1326, 1327, 1335. Daries (Anm. 10) § 675. Das PrALR II 6 erlaubt Gesellschaften, deren Zweck mit dem gemeinen Wohl bestehen kann, erklärt aber solche, deren Zweck und Geschäfte der gemeinen Ruhe, Sicherheit und Ordnung zuwiderlaufen, für unzulässig und sieht ein Verbot vor, wenn sie gemeinnützigen Absichten hinderlich oder nachteilig sind. (§§ 2 - 4 II 6 ALR). Deutlich auch Svarez in den Kronprinzenvorträgen: Vorträge über Recht und Staat von Carl Gottlieb Svarez, hrsg. von Hermann Conrad und Gerd Kleinheyer (Wiss. Abh. d. Arbeitsgem. f. Forschung d. Landes NW, Bd. 10) 1960, S. 48: "Eine Gesellschaft, die unmittelbar auf den Staat wirken will, kann unter keinerlei Umständen sich der Aufsicht des Staates entziehen. Sie ist vielmehr schuldig sich bei dem Staat zu melden und demselben ihren Plan vorzulegen." Sonst kann sie der Staat, Svarez verweist hier auf die Illuminaten, aufheben. 18 Systematisch entfaltet, erscheint ein ius sociale universale bei Gottfried Achenwall, Jus Naturae, 5. Auft., Göttingen 1763, Bd. 2, Sectio I, §§ 1 ff.; s. auch Nettelbladt (Anm. 17) §§ 1260 ff.; Daries (Anm. 10) § 660: "Omnis civitas est societas." 19 In den naturrechtliehen Werken erscheinen unter den Gesellschaften zumeist nur die Familie, die häusliche Gesellschaft und die Handelsgesellschaften. Ein breiteres Spektrum bietet Svarez in seinen Kronprinzenvorträgen (Anm. 17) S. 47, wo auch Dorf- und Stadtgemeinden, Zünfte und Innungen, gelehrte Gesellschaften, geistliche Gesellschaften, Ordensverbindungen und Klubs aufgeführt werden.
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bilde wie die Ostindische Kompanie erschienen. Dieses Bild des Gesellschaftsaufbaus erblickte im Staate das oberste über allen anderen Vereinigungen stehende Gesellschaftsgebilde, wobei ein Unterschied von Staat und Gesellschaft noch nicht gemacht wurde. Jedenfalls erschienen alle Verbindungen dem Staate ein- und untergeordnet; das gilt in der weiteren Fortbildung der ursprünglich ihre Selbständigkeit betonenden Kollegialtheorie20 auch von den Kirchen. Indem sie als collegia in dies Bild der Gesellschaften eingebracht werden, unterliegen auch sie der staatlichen Oberaufsicht, die alle Verbindungen überwacht. Innerhalb des Kreises der gesellschaftlichen Gebilde unterschied die Lehre die Privatgesellschaften, die der Staat zuließ und beaufsichtigte, die sich aber im Bereich der privaten Betätigung hielten, von denjenigen Formationen, die einen dem gemeinen Besten dienenden Zweck verfolgten, vom Staate stärker beaufsichtigt wurden, dafür aber von ihm eine privilegierte Stellung erhielten, den öffentlichen Gesellschaften oder Korporationen. In diesen Bereich gehörten die Städte und Zünfte, sonstige vom Staate gestiftete oder geförderte Vereinigungen, sowie die anerkannten Kirchen und ihre Gliederungen. Hier bildete sich im 18. Jahrhundert die rechtliche Vorstellung einer dem Staate eingegliederten oder jedenfalls verbundenen öffentlichen Körperschaft aus, die öffentliche Zwecke verfolgen kann und der dafür eine herausgehobene rechtliche Stellung zugesprochen wurde. Die privilegierte Korporation nahm eine erhöhte Stellung ein, ohne daß sie aber als Bestandteil der staatlichen Organisation erschien21 • Freie Vereinigungen, die einen Anteil an den öffentlichen Angelegenheiten erringen wollten, konnte es in diesem streng beaufsichtigten Verbandswesen des absoluten Staates nicht geben. Dagegen ließ mit 20 Zum Kollegialismus s. K. Schlaich, Kollegialismus, Kirche und Staat, 1969, S. 89 ff., 180 ff., 221 ff., der vor allem das Streben des frühen Kollegialis-
mus in der kirchlichen Lehre nach Selbständigkeit der Kirche gegenüber dem Staat hervorhebt. Die weltliche Lehre hat an der Überordnung des Staates über die Kirche kraftsäkularer Hoheit festgehalten. 21 Den Oberbegriff bildet im 18. Jahrhundert die Gesellschaft (societas), während in der älteren Rechtslehre die Bezeichnung universitas (für Städte und Provinzen) und collegia (für Zünfte) vorwiegt. s. Christoph Besold, Juridico-Politicae Dissertationes, Straßburg 1624, S. 51 ff., 224 ff. Zur Ausbildung der Lehre von der Staatspersönlichkeit, an der Pufendorf wesentlichen Anteil hat, s. Horst Denzer, Die Ursprünge der Lehre von der juristischen Person (persona moralis) in Deutschland und ihre Bedeutung für die Vorstellung von der Staatspersönlichkeit, in: La Formazione storica del diritto moderno in Europa, Atti del terzo Congresso internazianale della Societa Italiana di Storia del Diritto, Florenz 1977, S. 1189 ff. Putendorf entwickelte die Lehre von der persona moralis als Willensvereinigung, in: De Jure Naturae et Gentium, Buch 1, cap. 1 § 13. Zur Lage im 18. Jahrhundert s. m eine Darlegung, in: R. Schnur (Hrsg.), Lorenz von Stein (Anm. 3) S. 280 f. Zu der besonderen Stellung der societates publicae (und collegia) s. Nettelbladt (Anm. 17) §§ 1313, 1337 ff.; Svarez in den Kronprinzenvorträgen (Anm. 17) S. 47/48, der sie Korporationen nennt. Ferner§ 25 II 6 ALR.
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dem späteren 18. Jahrhundert der Staat freigebildete Vereinigungen zu, die sich mit wissenschaftlichen, künstlerischen und geselligen Gegenständen befaßten22 • In diesem Rahmen, dessen Anfänge teilweise weiter zurückreichen23 , bildeten sich dann auch die ersten Verbindungen aus, die sich für die öffentlichen Angelegenheiten interessieren, vor allem die Lesegesellschaften, die durch Zeitungsbezug und Diskussion das gebildete Bürgertum zusammenführten24 • In diesen Zusammenhang gehören auch die Logen, die der absolute Staat duldete, da führende Persönlichkeiten ihnen verbunden waren und er genügend Einblick in sie besaß, um sie nicht für gefährlich zu halten. Dagegen wandte sich sowohl die Lehre wie die Praxis stets gegen geheime Gesellschaften, deren Zweck verborgen blieb oder nur den Oberen bekannt war. Solche Bildungen, wie die Illuminaten, verfielen der Auflösung25, und die gesamte tolerante Einstellung gegenüber patriotischen Vereinigungen, Lesegesellschaften und ähnlichen Verbindungen wich mit dem Fortschreiten der französischen Revolution neuer Besorgnis und Unterdrückung~6 • Dieses Schicksal blieb auch dem in der Zeit preußischer Not gegründeten Tugendbund, obwohl er über nahe Beziehungen zu Regierungskreisen verfügte27 nicht erspart28 • Jedenfalls bestand seit dem späten 18. Jahrhundert in der bürgerlichen Welt - zu der auch adelige Elemente stießen - ein Verlangen nach wenigstens lockerer Organisation und 22 Zu diesen Erscheinungen gesellschaftlicher Verbindungen s . die w ichtige Studie von Otto Dann, in: Otto Engelhardt/Volker Sellin/Horst Stuke (Hrsg.), Soziale Bewegung und politische Verfassung, 1976, S. 197 ff., 213 ff. Thomas Nipperdey, Verein als soziale Struktur im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Hartmut Brackmann u. a., Geschichtswissenschaft und Vereinswesen im 19. Jahrhundert (Veröff. d. Max Planck Instituts f. Geschichte, Bd. 1), 1972, S. 1 ff. 23 Dann, S . 199 weist auf die Sprachgesellschaften hin. 24 Zu ihrer weiten Verbreitungs. Dann, S. 200-202. Über die Rolle solcher Lesegesellschaften und Klubs in Frankreich etwa seit 1770 und während der Revolution, s. Jacques Godechot, Les institutions de la France sous Ia Revolution et l'Empire, 2. Aufl., Paris 1968, S. 66 ff., 482 ff. 25 Die Stellungnahme gegen die geheimen Gesellschaften erscheint gegen Ende des 18. Jahrhunderts. s. Svarez, Kronprinzenvorträge (Anm. 17) S. 47/48, der bei den Freimaurern keine Gefahr besorgt. Ferner §§ 3 - 5 II 6 und §§ 184, 185 II 20 ALR. Zu den Illuminaten, Dann, S. 207 ff., 224. s. auch Günther Heinrich von Berg, Handbuch des Teutschen Policeyrechts, 2. Aufl., Hannover 1802, Bd. 1, S. 249 ff. 26 Zu dem Rückschlag der staatlichen Stellungnahme nach 1790 s. Ernst Wangermann, From Joseph II to the Jacobin Trials, Oxford 1959, S. 133 ff. Eine scharfe Betonung der Polizeiaufsicht über Vereinigungen findet sich auch bei Justus Christoph Leist, Lehrbuch des Teutschen Staatsrechts, Göttingen 1803, S . 501 f. 27 s. das Schreiben von Vertretern des Tugendbundes an den Freiherrn von Stein, v. 18. 6. 1808, in: G. Botzenhart/W. Hubatsch, Stein. Briefe und amtliche Schriften, Bd. II, 2, 1960, Nr. 723, S. 759. 28 Zum Tugendbund s. Dann, S. 217 f.; Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 1, 1957, S. 702.
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Diskussion, das sich auch in den zahlreichen engeren Kreisen auslebte, die sich zu Vorträgen oder Mahlzeiten regelmäßig begegneten. Die gesellschaftlichen Vereinigungen, die sich mit der Förderung der Wissenschaft, nützlicher Kenntnisse und auch in Anfängen mit der Verfolgung der politische Geschehnisse befaßten, waren überwiegend vom Bürgertum geprägt. Sie trugen aber nicht den Charakter einer auf Veränderung der gesellschaftlichen Schichtung gerichteten Bestrebung, mochten sie auch zu ihrer Auflockerung führen. In diesem Zeitabschnitt des letzten Viertels des 18. Jahrhunderts begannen die führenden Territorien in Deutschland, verändernd in die gesellschaftlichen Verhältnisse einzugreifen. Die Agrarreformen Josefs II. gingen voran, wenn sie auch vorerst nur geringe dauerhafte Erfolge bewirkten. Das Reformwerk des Kaisers traf vor allem die Kirche, die Teile ihres Besitzes verlor und die sich in eine verstärkte Inanspruchnahme durch den Staat fügen mußte. Auch die Auflösung der Zünfte kam in die Diskussion, nachdem der Reichsschluß zur Handwerksordnung von 1731 schon einige der alten Mißbräuche beseitigt hatte. Als Preußen im Allgemeinen Landrecht die Summe der im späten Naturrecht angelegten Ideen der Vereinheitlichung und Erneuerung zog, vermochte es eine systematische Durchdringung und in manchen Punkten Fortbildung der Rechtsordnung der preußischen Länder zu erreichen, aber es blieb noch in den Bahnen der überkommenen ständischen Ordnung. Man hat die Schritte, die hiermit auf einen gesetzlich gestalteten Staat, auf rechtstaatliche Vorstellungen hin, getan wurden, zu Recht betont29 • Aber obwohl der formelle Abschluß des Gesetzgebungswerkes nach der französischen Revolution lag, erweist sich das Landrecht doch eher als eine abschließende Formulierung der von der naturrechtliehen Lehre getragenen Staatsauffassung der absoluten Monarchie denn als ein Schritt zu tieferen Umgestaltungen hin30• Es nahm nicht die Aufgabe auf sich, dem preußischen Staate gewissermaßen eine neue Verfassung zu geben. Das Gesetzbuch nahm zwar die Stände nun in ihrer Zuordnung zum Staat in Anspruch, aber es ging noch nicht den Weg zu einer Gleichheit in der bürgerlichen Gesellschaft. Auch die Stellungnahme des ALR zu den Gesellschaften hält 29 Herman Conrad, Die geistigen Grundlagen des Allgemeinen Landsrechts für die preuß. Staaten von 1794 (Arbeitsgemeinschaft f. Forschung des Landes NW G 77), 1958, S. 35 ff.; ders., Rechtsstaatliche Bestrebungen im Absolutismus Preußens, und Osterreichs am Ende des 18. Jahrhunderts (AG f. Forschung 695), 1961, S. 19 ff.; ders., Staatsgedanke und Staatspraxis des aufgeklärten Absolutismus, (Rh.-Westf.-AkWiss G 173), 1971, S. 31 ff.; Gerd Kleinheyer, Staat und Bürger im Recht. Die Vorträge des Carl Gottlieb Svarez vor dem preuß. Kronprinzen, 1959, S. 143 ff. 30 In diese Richtung geht die Würdigung durch Günter Birtsch, in: Politische Ideologien und nationalstaatliche Ordnung, Festschrift Th. Schieder, 1968, S. 97 ff. Mit stärkerer Betonung der weiterweisenden Elemente sieht auch Kosselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, 2. Aufl. 1975, S. 23 ff., das Landrecht noch in der ständischen Differenzierung beharrend.
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die überkommenen Vorstellungen fest. Es stellt die privilegierten Korporationen heraus, bindet sie aber zugleich auch fest an den Staat. In dem ruhigen Jahrzehnt, das Preußen nach 1795 verblieb, wurden Anfänge agrarischer Reformen unternommen31 , auch der Gedanke der Abschaffung der Zünfte trat hervor32, aber der Entschluß zu einer grundlegenden Erneuerung der sozialen Ordnung im Sinne der vor Augen stehenden Vorgänge der französischen Geschehnisse wurde nicht unternommen. Auch in Frankreich wurden in der letzten Phase des absoluten Regimes, in der Regierungszeit LudwigsXVI., und in den späten Jahren Ludwig XV., Ansätze zu einer Vereinheitlichung und Erneuerung sichtbar, die sich auf eine Reform der Gerichte wie auf finanzielle Fragen bezogen. Sie konnten sich gegenüber dem Widerstand der Parlamente und der regionalen Kräfte nicht durchsetzen. Die große Umschichtung vollzog sich dann in radikaler Weise in der Revolution. Sie räumte die alten Korporationen und corps der älteren Zeit hinweg, hob die Zünfte auf, beseitigte die Stände und stellte die bürgerliche Gleichheit her. Die alten Stadtregimente wurden aufgehoben und durch eine neue Munizipalverfassung geordnet, die alten Provinzen durch die rationale Neugliederung der Departements ersetzt. Es wurde ein radikaler Bruch vollzogen, den auch die Restauration nicht mehr zurückzuwenden vermochte33. In Deutschland wurde nach dem Zusammenbruch des alten Reiches die Notwendigkeit einer Erneuerung der Gesellschaftsordnung nunmehr erkannt und in den Grundzügen in der Reformgesetzgebung des ersten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts eingeleitet, aber in der langsameren gleitenden Form einer fortschreitenden Reform. Die Stände wurden als Erbstände und rechtlich festgelegte Schichtung abgeschafft, blieben aber sozial noch sehr lange wirksam und für lange Zeit erkennbar34. Die Zünfte wurden in Preußen durch das Edikt über die Gewerbesteuer vom 2. 11. 1810 unter finanzpolitischen Gesichtspunkten 31 s. Kasselleck (Anm. 30) S. 134 ff. 32 So sprach sich schon in einem Immediatbericht an den Minister v . Voss der Freiherr von Stein am 24. 10. 1805 gegen eine Ausdehnung des Zunftzwanges aus und meinte, daß man auf die Einwendungen der Zünfte nicht hören solle (Botzenhart/Hubatsch, Schriften, Bd. li 1, 1954, Nr. 102, S. lOB). 33 s. Gadechot (Anm. 24) S. 102 ff., 203 ff. 34 Zu diesem Nachwirken in Preußen, Kasselleck (Anm. 30) S. 477 ff., 676 ff. Noch im Norddt. Reichstag von 1867 standen 134 Adelige 146 Bürgerlichen gegenüber (Helmut Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht, Studien zum Verhältnis von Wirtschaft und Staat während der Reichsgründungszeit 1848 - 1881, 1966, S. 263. Für Süddeutschland mag ein Blick auf Conrad Cucumus, Lehrbuch des Staatsrechts der constitutionellen Monarchie Baierns, Würzburg 1825, genügen. Dort wird in § 92 (S. 131) die Rechtsgleichheit aller Staatsbürger in politischer Beziehung stark betont, aber es folgen in den §§ 93 - 162 breite Darlegungen über die Ausnahmen, die Vorrechte der Standesherren, die Fideicommisse, die gutsherrliehen Rechte und sonstigen Vorrechte des Adels.
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abgeschafft, während in Süddeutschland sich der Kampf um die Gewerbefreiheit noch Jahrzehnte hinzog35 • Auch in Preußen wurde den Innungen erlaubt, fortzubestehen, aber mit Austrittsrecht für alle. Die Korporationen des Grundbesitzes und Adels dagegen wurden nicht berührt. Beschränkt auf landwirtschaftliche Interessen und Kreditfunktionen blieben sie als Landschaften oder Ritterschaften erhalten. Im Jahre 1808 traten sogar die königlichen Domänen der ostpreußischen Landschaft bei und diese erhielt ein neues Statut von 487 Paragraphen86. Für den Bestand an solchen älteren Einrichtungen, die als Korporationen fortdauerten, ist eine Vereinbarung zwischen Preußen und dem Königreich Westfalen vom 28. 4. 1811 lehrreich, die in Ausführung des Tilsiter Friedens erfolgte und für Überleitungsfragen in ihrem Art. 31 eine Übersicht der als öffentliche Anstalten anzusehenden Einrichtungen gibt. Da erscheinen die Stände der Provinzen, die Städte, Flecken und Dörfer, die Bank zu Berlin, die Seehandelsgesellschaft, die Postanstalt, die Verwaltung der Monopole, kirchliche Institutionen und endlich Gymnasien, Schulen und Lyceen, sowie die Anstalten der Adelsund Ritterorden, auch die Porzellanmanufaktur37• Im Ganzen doch ein buntes Bild, das freilich mehr staatliche Anstalten wiedergibt als Assoziationen, obwohl die Grenzen hier noch nicht klar gezogen waren. In der Tat haben viele dieser Gebilde, vornehmlich Ständisch-ritterschaft35 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 1, S. 203 ff. Der freiwillige Fortbestand der Zünfte beruhte auf dem Gewerbepolizeigesetz vom 7. 9. 1811 (GS S. 263). s. Paul Rudolph, Zunftverfassung, Leipzig 1935. I. G. Hof/mann, Die Befugnis zum Gewerbebetriebe mit besonderer Berücksichtigung auf den preuß. Staat, Berlin 1841. Für Bayern s. Jas. Nep. Frhr. v. Pelkoven, über die Gewerbe in Baiern aus einem höheren Standpunkt betrachtet oder über die Folgen einer unbeschränkten Gewerbeund Handelsfreiheit, München 1818. 36 Revidiertes Ostpreuß. Landschafts-Reglement v. 24. 12. 1808 (GS 1808 S. 377). Das lange Nachleben gerade dieser Institutionen wird deutlich, wenn man in den Ausführungsvorschriften zu Art. 131 GG (Ges. zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art. 131 des Grundgesetzes fallenden Personen v. 11. 5. 1951, BGBl. I S. 307 (Anlage A) die Liste der Körperschaften, Stiftungen und Anstalten des öffentlichen Rechts überschaut, in der viele dieser älteren Korporationen figurieren. Vgl. hierzu auch BVerfGE 15, 46 ff. 37 Vertrag zwischen Preußen und dem Kgr. Westfalen v. 28. 4. 1811 (GS 1811 S. 213). Ein Beispiel für die Umformung älterer gesonderter Körper bildet die KabO v. 30. 10. 1809 (GS 1809/10 S. 601) über die künftige Verfassung der franz. Kolonie. Der bisherige isolierte Charakter der einzelnen Gemeinden nach dem Edikt v. 29. 10. 1685 wurde als mit der neuen Staatsordnung unverträglich bezeichnet. Jede Organisation fordere Einheit der Verwaltung. Nach dem Publikandum vom 16. 12. 1808 könne es kein franz. Oberdirektorium und kein besonderes Department für die franz. Kolonie geben. Die geistlichen und Schulsachen gehen an die Provinzverwaltung (Regierung), der die Kolonie untergeordnet wird. Das Franz. Oberkonsistorium und die besondere Gerichtsbarkeit entfallen, das besondere Bürgerrecht der franz. Kolonie hört auf, weil es nur mehr ein allgemeines Bürgerrecht gibt. Das franz. Gymnasium wird der Sektion f . Unterricht unterstellt.
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liehe Kreditinstitute und Stiftungen zum Teil bis in die Gegenwart überlebt, freilich ohne größere soziale Bedeutung. Zwei Gruppen der überkommenen korporativen Gebilde wurden vom Staate indes in dieser Epoche von Grund auf neu gestaltet, die Städte und die Universitäten. Die Städte wurden vom Freiherrn von Stein unter dem Gesichtspunkt der Heranführung der Bürger zu tätiger Mitwirkung in den öffentlichen Angelegenheiten aus ihrer weitgehenden Abhängigkeit vom Staate gelöst und mit Befugnissen der Selbstverwaltung ausgestattet, nicht im Sinne einer Gegenmacht zum Staate, sondern im Gegenteil als Einrichtungen zur Erweckung der Teilnahme des Bürgers an der Staatsverwaltung. In den Universitäten trat dies Verbandsmoment weniger hervor. Hier war der entscheidende Akzent der der Freiheit des Geistes und der Erziehung zu wissenschaftlichem Denken, auch hier freilich in dem Sinne, damit die Kräfte des Staates durch aktive Gestaltung zu stärken38• Hier wurden zwei überlieferte, zum Teil erstarrte Korporationen neu gefaßt und sozusagen in Korporationen neuen Stiles umgeformt, die nun ihr eigenes autonomes Leben haben, zugleich sich aber in das Gesamtziel der staatliche Organisation einfügen, statt wie früher vorwiegend den Geist überlieferter Privilegien und Vorrechte festzuhalten. Die Zeitspanne nach 1814 ist wiederum eine Epoche des stärker werdenden Verlangens nach freier Vereinigung der Bürger39 , in der nun auch ein Anteil an den politischen Geschehnissen verfolgt wird. Auf diese Entwicklung fiel aber alsbald der Reif der Besorgnis vor politischen Forderungen und radikalen Bewegungen. Wie die Äußerungen der Presse, so wurden auch die Vereinigungen in den deutschen Staaten, zumal nach den gegen das Aufkommen politischer Strömungen gerichteten Karlsbader Beschlüssen von 1819, durch eine strenge Gesetzgebung zurückgedrängt und scharfer polizeilicher Aufsicht unterstellt. Die Zeit Metternichs stand der Bildung politischer Vereinigungen ablehnend gegenüber und entgegen mancher milderen Haltung einzelner seiner Glieder ergriff der Deutsche Bund hier eine Rolle der Sicherung und der vereinheitlichenden Kontrolle. 38 Vgl. die Außerung einer Denkschrift Wilhelm v. H umboldts an den Minister des Innern v. 9. 5. 1810 über den Beginn der Berliner Universität, daß der Staat kein edleres Mittel haben könne auszuzeichnen und hervorzutun, als liebevolle Förderung der Wissenschaft. (Idee und Wirklichkeit einer Universität, Gedenkschrift der Freien Univ. Berlin, 1960, hrsg. v . Wilhelm Weischedel, 1960, S. 218}. 39 Die Bewegung ist vor allem eine solche des Bürgertums, an die sich Adelige auf dem Boden der Gleichheit anschließen. s. Dann (Anm. 22), S. 221 f.; Nipperdey (Anm. 22) S. 15 f. Auf der anderen Seite beschränkt sich die Beteiligung an diesen Verbindungen auf das Bürgertum, zeigt freilich auch schon in sich die Schichtenunterschiede dieses Bereiches. Vgl. Nipperdey, s. 16 ff.
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Unmittelbar in der Zeit der Freiheitskriege trat eine starke, noch mit den Geheimbünden der Zeit der napoleonischen Fremdherrschaft zusammenhängende Bewegung hervor, die den Kampf gegen die französische Macht unterstützen wollte. Hier ist vor allem der Hoffmannsehe Bund zu nennen, der freilich bald sich auflöste, von dem aber zahlreiche Fäden zu den Universitäten und zu den Burschenschaften führen40 • Im Vordergrund politischer Zusammenschlüsse standen die Universitäten, während erst später gegen 1840 auch die Gesellenvereine mit ihren ausländischen Verbindungen bedeutsam wurden. Die Unruhe an den Hochschulen führte bald zu Maßnahmen der Regierungen. Preußen, das bereits 1816 das Edikt von 1798 erneuert hatte, welches Vereinigungen untersagte, die sich mit Veränderungen in Verfassung und Verwaltung befaßten, schloß sich den Karlsbader Beschlüssen über die Universitäten41 an, und erließ am 18.11.1819 eine Verordnung über die Universitäten, die den Regierungsbevollmächtigen (Kuratoren) bei ihnen weitgehende Vollmachten einräumte42 und ging durch weitere Schritte gegen Studentenverbindungen vor43 • Der preußische Staat betonte zwar, daß er die bürgerliche Freiheit gewähre, aber er verstand diese in einem Sinne, der über die gewährte Vertretung in Provinzialständen hinaus keine aktive politische Betätigung einschloß 44 • Ernst Rudolf Huber 40 über den im hessischen Gebiet gebildeten Hoffmannsehen Bund, der Beziehungen bis zu Hardenberg und Gneisenau unterhielt und um die Jahreswende 1814/15 seine Betätigung entfaltete, s. Friedrich Meinecke, Die Deutschen Gesellschaften und der Hoffmannsehe Bund, Stuttgart 1891; D ers., in: Hermann Haupt (Hrsg.), Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Burschenschaften und der deutschen Einheitsbewegung, Bd. 1, 1910, S. 4 ff.; E. R. Huber (Anm. 35) Bd. 1, S. 703 f.; Nipperdey (Anm. 22) S. 35. 41 Das Edikt vom 20. 10. 1798 verbot alle Gesellschaften, deren Zweck darauf gerichtet war, über gewünschte Veränderungen in der Verfassung und Verwaltung des Staates Beratschlagungen zu veranstalten. Die VO v . 6. 1. 1816 (GS S. 5) nahm dabei ebenso wie das Edikt von 1798 genau bezeichnete Logen vom Verbot geheimer Gesellschaften aus. 42 Bundesbeschluß v. 20. 9. 1819. Text bei E. R . Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 1961, S. 90. 43 Die Burschenschaften erfuhren ein volles Verbot durch die KabO v. 21. 5. 1824 (GS S. 122) gegen alle geheimen burschenschaftlichen Verbindungen. Der Bundesbeschluß v. 5. 7. 1832 sprach ein Verbot aller politischen Vereine aus und wurde auch in Preußen publiziert. über die Studentenverbindungen erging noch das Gesetz v. 7. 1. 1838 (GS S. 13). Alle diese Bestimmungen wurden durch die VO v. 6. 4. 1848 (GS S. 87) beseitigt. Vgl. einzelnes bei Ludwig v. Rönne, Das Staatsrecht der preuß. Monarchie, 2. Auf!., Bd. 1, 1, Leipzig 1864, S. 144 f., Heinrich Zoepfl, Grundsätze des gemeinen deutschen Staatsrechts, 3. Aufl., Leipzig und Heidelberg 1863, Bd. 2, S. 612 ff. Zum Vorgehen gegen die Burschenschaften s. noch Hans Fraenkel, in: Quellen und Darstellungen, hrsg. v. H. Haupt, (Anm. 40), Bd. 3, S. 241 ff.; E . R. Huber (Anm. 35) Bd. 1, S. 705 ff. 44 Die VO v . 22. 5. 1815 über Provinzialstände spricht von dem "rechtlichen Zustand bürgerlicher Freiheit und der Dauer gerechter auf Ordnung gestützter Verwaltung". Zu der Begrenzung des Begriffs der "bürgerlichen Freiheit", s. Birtsch (Anm. 30) S. 109.
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berichtet über eine dieser Anschauung durchaus parallele Haltung des Deutschen Bundes. Als sich anläßlich der Wiener Ministerialkonferenz 1820 Vertreter des von Friedrich List gegründeten Handelsvereins an die Konferenz wandten, wurde bemerkt, daß diese Vereinigung keine verfassungsmäßige Korporation sei, der Handelsstand jeden Landes sich an seinen Landesherrn zu wenden habe, ein Verein deutscher Handelsleute daher ebensowenig wie jeder andere Verein anzuerkennen sei. Man wies die Anträge der Bevollmächtigten ab'5 • Rechtlich blieb die Lage für die Vereine nicht ungünstig'6 • Zwar enthalten weder die alsbald nach 1815 noch die um 1830 geschaffenen Verfassungen unter den Rechten der Bürger auch das Recht der Vereinigung und Versammlung, aber die liberale Theorie konnte mit einem gewissen Recht die These vertreten, daß ein gemeinrechtliches Assoziationsverbot nicht bestehe und daher die Vereinsgründung erlaubt sei47 • Ein Verbot geheimer Gesellschaften wurde auch jetzt anerkannt, aber mindestens seit 1840 wurde die Auffassung, daß Vereinigungen im politischen Felde keine Stelle hätten, abgelehnt'8• In der Wirklichkeit entwickelte sich ein ausgedehntes Vereinigungswesen mit geselligen, wissenschaftlichen, literarischen und praktischen Zielen, das, getragen von den bürgerlichen Schichten, sich zunächst nicht auf politische Ziele richtete und erst allmählich gewisse politische Orientierungen annahm. Es erfuhr dort, wo es staatliche Bestrebungen in Kunst und Wissenschaft ergänzte, auch Förderung und wirkte mit den Behörden zusammen48 • Das galt vor allem etwa für die zur Förderung der Landwirtschaft oder des Gewerbes gegründeten Vereinigungen50. Die Staaten sahen es auch nicht ungern, wenn sich das Interesse E. R. Huber (Anm. 35) Bd. 1, § 804 f. Seit 1814 breitet sich nun anstelle der Bezeichnung Gesellschaft oder Verbindung, die die Gesetzessprache weiterbenutzt, der Ausdruck "Verein" oder Assoziation aus. Vgl. Nipperdey (Anm. 22) S. 1. Zur Lage des Vereinslebens s. ferner auch Friedrich Müller, Korporation und Assoziation, 1965. Georg G. Iggers, The Political Theory of Voluntary Association in Early Nineteenth-Century, German Liberal Thought, in: Voluntary Associations, Studies in Honor of James Luther Adams Richmond, Va, 1966, S. 141 ff. 41 So insbesondere C.Welcker, in: Rotteck/Welcker, Staats-Lexikon, 2. Aufl., Art. Association, Bd. 1, Altona 1843, S. 732. Die entgegengesetzte Ansicht von Zirkel, Associationsrecht, Leipzig 1834, lehnt W. ab. Er erkennt dort (Bd. 3, 1846, S. 560 ff.) für die öffentlichen Cerparationen an, daß sie staatlicher Einwilligung bedürfen. 48 s. Heinrich Albert Zachariae, Deutsches Staats- und Bundesrecht, Göttingen 1841, Bd. 2, S. 279. Ein freies Associationsrecht erkennt an das badische Gesetz über Vereine v. 26. 10. 1833. Frankreich dagegen band durch Ges. v. 10. 4. 1834 jede Vereinigung über 20 Personen an eine Genehmigung. 49 Nipperdey (Anm. 22) S. 31 f. 50 Als Mitglied des Finanzministeriums rief Wilhelm Beuth selbst den Verein zur Förderung des Gewerbefleißes in Preußen ins Leben. s. Ilja Mieck, Preuß. Gewerbepolitik 1806- 44, (Veröff. d. Hist. Komm. zu Berlin Bd. 20), 45
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der Bürger geschichtlichen Dingen und der Pflege historischer Denkmäler, wie des Kölner Domes oder der Marienburg, zuwandte51 • Zeitweilig hoffte das Bürgertum auch, durch die Unterstützung von sozialen Fragen zugewandten Vereinigungen zur Erleichterung der Arbeiterfrage beizutragen52• Im Ganzen zeigte die Epoche nach 1815 eine starke Vermehrung der Vereinigungen, vor allem solcher unpolitischer Natur. Das Betätigungsfeld, das der Staat dem Bürgertum freigab, das hat Herr Brandt zu Recht gesagt, war ein unpolitisches. Was die öffentliche Verbandsbildung betrifft, die der Staat selbst ins Leben ruft oder fördert, so entwickelte sich in dieser Zeit die Erscheinung der öffentlichen Körperschaft als einer im weiteren Sinne in die Staatsorganisation eingegliederten Organisation, die öffentliche Zwecke wahrnimmt und mit besonderen Rechten ausgestattet wird. Ihre Aufgabe weist sie dem öffentlichen Recht zu. Doch bleibt der Begriff der Körperschaft noch nicht klar umrissen, wenn auch der Unterschied zwischen den privaten Vereinen und den vom Staate anerkannten Korporationen bereits deutlich erkannt wird58• Wenn wir die Entwicklung des Vormärz zusammenfassend kennzeichnen, so zeigt sich eine weitgehende, wenn auch allmählich vor sich gehende Umformung der Gesellschaft. Der entscheidende Faktor ist hierbei die Staatsmacht, nicht so sehr die sozialen Kräfte. Auch ist zwar das Ziel eine staatsbürgerliche Gleichheit, aber keineswegs eine egalitäre Gesellschaft. Der Liberalismus dieser älteren Epoche akzeptierte 1965, S. 24. Gewerbevereine und landwirtschaftliche Gesellschaften fanden weithin staatliche Unterstützung. s. hierzu E. R. Huber, Dt. Verfassungsgeschichte (Anm. 35) Bd. 4, 1969, S. 997. 51 Nipperdey (Anm. 22) S. 27. Zu den Geschichtsvereinen s. auch Hermann Heimpel, dort S. 45 ff. Zu der Zusammenarbeit von Staat und Bürgern im Denkmalschutz (Kölner Dom, Marienburg), Hartmut Boockmann, dort S. 123. 52 Hierzu Nipperdey (Anm. 22) S. 27. Robert v. Mahl empfahl in einem seiner früheren Aufsätze zur Arbeiterfrage, der Staat solle selbst Assoziationen der Arbeiter schaffen, um deren Gewinnbeteiligung, die Mahl als Zukunft vorschwebte, zu ermöglichen: Die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der politischen Ökonomie, in: Deutsche Vierteljahresschrift, 1840, Heft 3, S. 63 f. Gegen die Assoziationen der Gesellen wandten sich die Bundesbeschlüsse vom 15. 1. 1835 und 3. 12. 1840 (Philipp Anton Guido v. Meyer/Heinrich Zoepfl, Corpus Juris Confoederationis Germanicae, 3. Aufl., Bd. 2, Frankfurt 1859, S. 324/388), die namentlich die ausländischen Verbindungen der wandernden Gesellen zu unterbinden suchten. 53 Vorbild der staatlichen Korporation ist in dieser Zeit die Ortsgemeinde, s. Heinrich Zoepfl, Staatsrecht (Anm. 43) Bd. 2, S. 478. Im Rahmen seiner Sicht der Bewegung von der ständischen zur staatsbürgerlichen Gesellschaft erblickte Lorenz von Stein in den Korporationen, die er vor allem in Ritterschaften und Zünften gegeben sah, Elemente der zu überwindenden ständischen Ordnung. s. Verwaltungslehre, 1. Aufl., Stuttgart 1865, Bd. 1, S. 512 ff. und auch noch 2. Aufl., Stuttgart 1869, Bd. 1, 2 S. 117 ff. Schon in die Zeit vor 1848 geht zurück die Bildung von Handelskammern, s. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte (Anm. 35), Bd. 4, 1969, S. 998.
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gewisse Unterschiede und Schichtungen in der Gemeinschaft. Er ist kein Anhänger des allgemeinen Wahlrechts gewesen. Das Wahlrecht der Zeit stellte, wie Herr Brandt richtig festgestellt hat, auf die Selbständigkeit des zur Wahl Berufenen ab und zeigte noch in erheblichem Maße ständische Züge. Die Tendenz, bei den Abgeordneten eine elitäre Auswahl zu fördern, wurde noch durch die Einrichtung der Übertragung der Personenauswahl an Wahlmänner gestützt. So liegen die politischen Einflüsse, soweit sie nach den Verfassungen ermöglicht sind, durchaus in den Händen der oberen bürgerlichen Schichten. In dem letzten Jahrzehnt dieser langen Phase biedermeierlicher, freilich auch durch den Druck von oben erhaltener Ruhe, zeichneten sich wachsende politische Bewegungen ab. Die Ausdehnung der Verbindungen greift nun über auf die Schichten der Gesellen und Arbeiter, in deren Kreisen radikale Tendenzen aufsteigen, aber auch die wissenschaftlichen und geistigen Interessen gewidmeten Vereinigungen griffen nun politische Themen auf. Es ist bezeichnend, daß der erste Germanistentag in Frankfurt 1846, zu dem sich Historiker, Juristen und Sprachforscher vereinten, den ganzen ersten Tag seiner Beratungen der schleswig-holsteinischen Frage widmete5•. Wie andere Erscheinungen zeigt dieser Vorgang, daß sich in diesem letzten Abschnitt vor 1848 die Verdrängung der politischen Diskussion aus dem Vereinsleben schon erheblich zurückgebildet hatte. Es ergänzt dieses Bild, daß jedenfalls in denjenigen Ländern, in denen bereits konstitutionelle Formen, vor allem Volksvertretungen bestanden, in den späten Jahren des Vormärz auch die Bildung der Ansätze zu einem Parteiwesen beobachtet werden kann. Stand dieser Entwicklung auch noch die fortdauernde Einstellung gegen Parteiungen und für staatliche Einheit entgegen, so ging doch die Lehre dieser Zeit bereits von einem grundlegenden Gegensatz einer mehr erhaltenden und mehr fortschrittlichen Richtung aus55 und Grundrichtungen der politischen Einstellung wurden erkennbar. Die eigentliche Ausbildung des Parteiwesens gehört freilich erst der Periode der Revolution von 1848 und der ihr folgenden Zeit an58• 5•
Verhandlungen der Germanisten in Frankfurt am Main am 24., 25. und
26. September 1848, Frankfurt 1847, S. 18- 57. Beseler, der den Vortrag über
die Frage hielt, bemerkte allerdings, daß er ihre rechtliche Seite wissenschaftlich behandeln wolle, nicht die politische Seite und in der Tat hielt sich die Verhandlung in ruhigem Tone. Aber sicherlich griff hier eine wissenschaftliche Versammlung eine hochpolitische Frage auf. 55 Zu dieser Vorstellung eines grundlegenden Gegensatzes zwischen den Kräften der Bewahrung und der Bewegung siehe meine Darlegungen in: Volkssouveränität und Theorie der parlamentarischen Vertretung, in: Kar! Bosl (Hrsg.), Der moderne Parlamentarismus und seine Grundlagen in der ständischen Repräsentation, 1977, S. 338. 58 Zu den Anfängen des Parteiwesens s. Th. Nipperdey HZ 185 (1958), S. 554 f.; Theodor Schieder, Staat und Gesellschaft im Wandel unserer Zeit, 2. Aufl., 1970, S. 110 f., 134 f.; Fritz Valjavec, Die Entstehung der politischen 8 Der Staat, Beiheft 2
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4. Das Verbandswesen in der Zeit seiner vollen Entfaltung Wenn wir uns nunmehr dem Zeitraum der zweiten Jahrhunderthälfte, nach dem tiefen Einschnitt von 1848 - der gerade für unseren Gegenstand sehr bedeutsam ist - zuwenden, so erfuhr nun nach der Revolutionsepoche und in Überwindung der darauf folgenden Reaktionszeit der 50er Jahre das Verbandswesen eine breite Entwicklung. Es blieben zwar, vor allem für politische Vereinigungen und für die Zusammenschlüsse der Arbeitnehmer, Beschränkungen bestehen, aber nach dem Vorbild der Verfassung der Frankfurter Nationalversammlung (§ 162) wurde nun die Vereinsfreiheit in die Landesverfassungen oder jedenfalls die Landesgesetzgebung aufgenommen57• Der Versuch des Deutschen Bundes, nochmals mit dem Beschluß vom 18. 7. 1854 eine scharfe Beschränkung aller Vereine, besonders der politischen, durchzusetzen, scheiterte weitgehend, da ihn Preußen und Bayern nicht publizierten und auch die anderen Länder Abstriche vornahmen58 • Wiederum mit dem Auge auf Frankreich, das nach wie vor die politischen Vereine einer Überwachung unterstellte59 , gab das Recht der deutschen Staaten nun doch, sei es in der Verfassung, sei es in den erlassenen Gesetzen, grundsätzlich füL" Vereinigungen die Freiheit der Errichtung. Nach dem preußischen Vereinsstatut vom 11. 3. 1850 war der Zusammenschluß zu Vereinen frei, doch mußten Statuten und Mitgliederverzeichnis der Polizei eingereicht werden. Politische Vereine unterlagen schärferer Aufsicht. Sie durften keine Frauen und Lehrlinge aufnehmen, durften sich nicht überörtlich zusammenschließen60 • Ungeachtet dieser formellen Beschränkungen begann aber nun die Zeit der Ausweitung des Verbandswesens. Vor allem entstanden nun in rascher Folge die wirtschaftlichen Organisationen, daneben aber auch große, über das ganze nationale Feld reichende Zusammenschlüsse kulStrömungen in Deutschland, 1950; E. R. Huber, Verfassungsgeschichte (Anm. 35) Bd. 2, 1960, S. 318 f. 57 Eine Übersicht über die Rechtslage gibt Otto v. Gierke, Genossenschaftsrecht (Anm. 15) Bd. 1, S. 889 f.; Heinrich Zoepfl, Grundsätze (Anm. 43) Bd. 2, S. 622 ff.; Heinrich Albert Zachariae, Deutsches Staats- und Bundesrecht, 3. Auf!., Göttingen 1865, S. 469 f. 58 s. den Text des Bundesbeschlusses bei E. R. Huber, Dokumente (Anm. 42) Bd. 2, 1964, S. 6 und hierzu Otto v. Gierke (Anm. 15) Bd. 1, S. 889/90. 59 G eorges Burdeau, Les libertes publiques, 4. Auf!., Paris 1972, S. 189 f. über das liberale Gesetz vom 28. 7. 1848, das freilich bald einem einschränkenden Gesetz vom 19. 6. 1849 Platz machte, das wieder die öffentliche Sicherheit voranstellte. s. auch Claude-Albert Colliard, Libertes publiques, 5. Auf!., Paris 1975, S. 663. 60 VO über die Verhütung eines die gesetzliche Freiheit und Ordnung gefährdenden Mißbrauchs des Versammlungs- und Vereinsrechts v. 11. 3. 1850 (GS S . 277). s . dazu E. R. Huber, Verfassungsgeschichte (Anm. 35) Bd. 3, 1963, S.109.
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turellen und nationalen Charakters, wie der Deutsche Nationalverein und die Verbindungen der Sänger und Turner, die den Untergrund für die nationale Bewegung bildeten. In dieser Zeit traten auch theoretische Überlegungen über die Stellung und Bedeutung der Vereine im Staatswesen auf, wie sie vor allem in breiter, freilich eigenwilliger Form Lorenz von Stein angestellt hat. Er hat dem Vereinswesen einen ganzen Band seiner Verwaltungslehre gewidmet81 • In seiner Konzeption geht er aus von der Trennung von Staat und Gesellschaft und dem Gegensatz der Klassen. Ausgehend von der französischen Revolution, als dem großen die neue Zeit einleitenden Vorgang, erblickt er den Fortgang in der Überwindung der ständischen durch eine bürgerliche Gesellschaft als einer Ordnung der Gleichen. Aber wenn die Revolution politisch die Freiheit und Gleichheit herbeigeführt hat, so nicht in der effektiven Schichtung der Gesellschaft, weil die Besitzunterschiede geblieben sind, die nun die beiden Klassen der Besitzenden und Arbeiter gegeneinanderstellen. Stein erwartete- hier im Gegensatz zu Marx - die Lösung auch nicht im Siege der Arbeiter, weil diese sich in einem solchen Falle alsbald spalten würden in die Gruppe derjenigen, die hoffen zu Besitz zu gelangen und derjenigen, denen diese Aussicht nicht winken würde. Steins Lösung der sozialen Frage ist in dem Werke über die Revolution in Frankreich von 1850 das soziale Königtum62 - ein Gedanke, dessen Gewicht bei ihm oft überschätzt wird; später erwartet Stein die Förderung der Probleme von der Selbsthilfe der Arbeiter und von dem Eingreifen des Staates63 • 61 Lorenz von Stein, Verwaltungslehre, 2. Aufl., Bd. I. 3, Das System des Vereinswesens, Stuttgart 1869, S. 97 ff. In der 1. Auflage finden sich diese Gedanken in: Die Lehre von der vollziehenden Gewalt, Bd. 1, 1865, S. 520 ff., wo das Vereinswesen als ein Teil des Organismus der Verwaltung erscheint. 62 Lorenz von Stein, Der Begriff der Gesellschaft und die soziale Geschichte der Französischen Revolution bis zum Jahre 1830, 1849, Neudruck 1959, Bd. 1, S. 463 ff. Zur Rolle eines Königtums der Reform, s. Bd. 3, S. 40 ff., 139 ff. Hierzu Ernst, Lorenz v. Stein als Theoretiker der Bewegung von Staat und Gesellschaft zum Sozialstaat, in: Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 146 ff., 162 ff.; E. R. Huber, Stein und die Grundlegung des Sozialstaats, in: Lorenz v. Stein, Gesellschaft, Staat, Recht, hrsg. v. Ernst Forsthoff, 1972, S. 505 ff.; Eckart Pankoke, Sociale Bewegung, sociale Frage, sociale Politik, 1970, S. 90 ff., 195 ff. Kritischer zu diesem Gedanken und mit stärkerer Betonung sozialkonservativer Züge bei Stein: Karl Hermann Kästner, in: R. Schnur (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, Studien über L. v. Stein, 1978, S. 331 ff. 63 In der späteren Entwicklung Steins überwiegt durchaus de r Gedanke der Reform, die er vom Staate erwartet, unter Teilnahme der Assoziationen. s. Handbuch der Verwaltungslehre, 3. Aufl., Stuttgart 1887/88, Bd. 3, S. 65 ff., 213 ff. In der hohen Einschätzung der Rolle der Vereine und Verbindungen für die Beförderung der sozialen Frage und das staatliche Leben im allgemeinen begegnet sich Stein in gewissem Maße mit den Gedanken Otto v. Gierkes, der in dem genossenschaftlichen Element diesen wesentlichen Beitrag suchte und die Bedeutung des Vereinswesens im obrigkeitlichen Staat betonte. Vgl. Genossenschaftsrecht, Bd. 1, S. 865 ff., 944 ff., 1030 ff. Hierzu
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Beide müssen zusammenwirken und in diesem Rahmen gewinnt das Vereinsleben seine Bedeutung. Es ist für Stein nicht ein Ausdruck der freien Gesellschaft in Ausklammerung vom Staate, wie für die liberale Theorie, sondern er erblickt in ihm eine Ergänzung und Fortsetzung der staatlichen Verwaltung. Gerade insoweit es sich mit öffentlichen Fragen befaßt, wird das Vereinsleben zum Ausdruck der Mitwirkung der Bürger am Organismus der öffentlichen Verwaltung64 • Stein stellte also bei den Vereinen, die sich öffentlichen Zwecken widmeten, durchaus dies Moment des Öffentlichen in den Vordergrund und fügte das Vereinswesen, vor allem in seiner beruflichen, wirtschaftlichen und sozialen Ausrichtung, als ein Stück der Selbstverwaltung in den von ihm so stark betonten Organismus einer tätigen und selbständig handelnden Verwaltung ein, in der sie die "freie Verwaltung" bildete65 • Diese Anschauung Steins, die fraglos gewisse Überzeichnungen enthielt, suchte mithin die Vereine, oder jedenfalls diejenigen, die eine Aufgabe in der weit verstandenen öffentlichen Sphäre wahrnahmen, in den öffentlichen Bereich zu ziehen. In diesen Zusammenhang fügt sich dann auch die Hoffnung bei Stein ein, daß durch soziale Bemühungen solcher Vereinigungen, Arbeiterhilfsvereine, Kreditvereine usw. wichtige Beiträge zur sozialen Frage geleistet werden könnten66 • Demgegenüber hat Robert von Mahl in seinen späteren Schriften das Vereinswesen aus bestimmten sozialen Verbindungen gelöst und ganz allgemein als einen Bereich gesellschaftlicher Betätigung angesehen, ohne dies aber selbst weiter ausgeführt zu haben67 • Solche literarischen Anschauungen haben für die tatsächliche Entwicklung wenig beigetragen. Diese nahm unter dem Einfluß der liberalen Vorstellungen durchaus den Weg einer Gegenüberstellung der Vereine zum Staat und führte daher entgegen Lorenz von Stein, das Vereinswesen - abgesehen von gewissen öffentlich-rechtlichen Rahmenbestimmungen - in das Privatrecht68• Tatsächlich entstanden nun Gerhard Dilcher, Genossenschaftstheorie und Sozialrecht. Ein "Juristen-
sozialismus" Otto von Gierkes? in: Quaderni Fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno 3- 4, 1974/75, S. 319 ff. 64 Verwaltungslehre, 2. Aufl., Bd. 1.3, S. 104 ff. 65 Verwaltungslehre, 2. Aufl., Bd. 1.1, S. 115 ff. und Bd. 1.1 S. 100 ff. Zu der Lehre Steins von den Verbänden s. meine Darlegung: Zur Rolle der Verbände im Rahmen der sozialen Verwaltung nach der Lehre von Lorenz von Stein, in: R. Schnur, Stein (Anm. 62), S. 273 ff. 66 Verwaltungslehre, 2. Aufl., Bd. 1.3, S. 171 ff. 67 Robert von Mahl, Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, Erlangen 1855/58, Bd. 1, S. 88 ff.; Encyclopädie der Staatswissenschaften, 1. Aufl. Tübingen 1859, S. 42 ff. 68 Hierzu für den Unterschied der Vereinigungen mit privater Zwecksetzung (vor allem Erwerbsgesellschaften) und den Vereinen mit öffentlichem Auftrag Verwaltungslehre, 2. Aufl., Bd. 1.3, S. 24, 63 ff. Zur Verdrängung des Vereins aus einer öffentlichen Aufgabe und seine "Liberalisierung"
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auch die großen Interessenverbände der Industrie, des Handels und der Landwirtschaft, die sich dann nach 1870 noch weiter entfalten und zusehends einen Einfluß auf die staatliche Verwaltung gewinnen. Besonders in der Zeit des Übergangs vom liberalen Freihandel zu dem neuen Kurs eines Agrar- und Industrieprotektionismus am Ausgang der 70er Jahre haben die Organisationen der Industrie und der Landwirtschaft eine maßgebende Rolle gespielt69 • Ich versage es mir, auf diese bekannten Vorgänge des Aufblühens eines umfangreichen Verbandswesens im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts näher einzugehen, da diese Vorgänge zeitlich am Ausgang unserer Betrachtung liegen und auch genügend behandelt worden sind70 • Entwickelte sich demnach das Vereinswesen nach der Mitte des 19. Jahrhunderts unter liberalen Vorstellungen im Sinne einer vom Staate unabhängigen freien Verbandsbildung - die nur bestimmten gesetzlichen Beschränkungen für politische und sozialpolitische Vereine unterlag - so gab es ein Gebiet, wo die Gegensätze erhalten blieben und der Staat sich nur zögernd aus der Rolle einer hemmenden und beaufsichtigenden Macht zurückzog: die Gestaltung der Vereine im Rahmen der Arbeiterbewegung. Der Bundesbeschluß von 1854 sah schlechthin ihre Auflösung vor, die Beschränkung gegen politische Vereine konnte sich gegen Verbindungen der Arbeiter auswirken, und vor allem bestand nach der preußischen Gewerbeordnung vom 17.1.1845, §§ 181184, ein strenges Verbot der gewerblichen Koalitionen und Streiks71 • Hier trat eine grundlegende Lockerung durch die Bestimmung des § 152 der Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes (und dann des Reiches) vom 21. Juni 1869 ein. Die Verbote gegen Vereinigungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zur Erlangung günstigerer Lohn- und Arbeitsbedingungen wurden aufgehoben, auch der Streik nicht mehr als solcher untersagt. Allerdings stand den Mitgliedern solcher Vereinbarungen und Vereinigungen jederzeit der Austritt frei72 • Damit war der Weg für die legale Bildung von Gewerkschaften geöffnet. Hätte sich hieraus eine Lage entwickeln können, die auf einen und "Privatisierung" s. Herbert Lessmann, Die öffentlichen Aufgaben und Funktionen privatrechtlicher Wirtschaftsverbände, 1976, S. 215. 09 Hierfür s. Helmut Böhme, Weg zur Großmacht (Anm. 34) S. 359 ff., 387 ff., 530 ff.; Hans Rosenberg, Die Große Depression und Bismarckzeit (Veröff. d. Hist. Komm. zu Berlin Bd. 24), 1967, S. 154 ff.; E . R. Huber, Verfassungsgeschichte (Anm. 35) Bd. 4, S. 995 ff.; Lessmann (Anm. 68) S. 26 ff. 70 s. noch Hans Herbert v. Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, 1977, s. 130 ff. 71 Text dieser Bestimmung bei E. R. Huber, Dokumente (Anm. 42) Bd. 2, S. 247. Ferner hierzu E. R. Huber, Verfassungsgeschichte (Anm. 35) Bd. 4, s. 1135 f. 72 Auch waren die Abmachungen solcher Verbindungen und Vereinbarungen nicht einklagbar. s. E. R. Huber, Dokumente (Anm. 42) Bd. 2, S. 247 (Text) und Verfassungsgeschichte (Anm. 35) Bd. 4, S. 1137 ff.
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allmählichen Ausgleich zwischen der überlieferten Ordnung und den Kräften der Arbeiterbewegung hinausgelaufen wäre? Diese Möglichkeiten wurden jedenfalls verschüttet, als am Ausgang der 70er Jahre der Staat erneut zu einem Vorgehen gegen die politische Bewegung der Sozialdemokratie durch das Sozialistengesetz vom 21. 10. 1878 schritt73 • Demgegenüber vermochte auch der Ansatz der Sozialversicherung, gewiß eine sozialpolitische Leistung sehr hohen Ranges, von der sich Bismarck eine Milderung der Gegensätze erhoffte, keine grundlegende Wirkung auf die politische Bewegung zu erlangen74 • Vor dem Sozialistengesetz betrug die Mitgliederzahl der freien Gewerkschaften 90 000 (1878), sie stieg bis 1890 auf 300 000 und entsprechend stiegen auch die Wählerzahlen der Sozialdemokratie nach vorübergehendem Rückgang75 • Man kann in diesem Vorgehen des Staates gegen die aufsteigende Arbeiterbewegung einen im Ergebnis durchaus mißlungenen Versuch des Einwirkens auf die gesellschaftliche Gestaltung erblicken. Wenn es nach der Mitte des 19. Jahrhunderts gelang, die Bestrebungen der bürgerlichen Kreise in einem lebendigen und weitgespannten Verbandswesen auszudrücken und zum Staate in eine geordnete Beziehung zu bringen, so vermochte das Kaiserreich nicht, die Kräfte der sozialen Bewegung in seine Ordnung aufzunehmen. Es blieb eine tiefe Kluft, die sich zwar in der Folge mit dem sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg auch der Arbeiterschaft milderte, die aber bis zum ersten Weltkrieg nicht geschlossen wurde. Hierin liegt ein entscheidendes Moment der Verbandsentwicklung im späteren 19. Jahrhundert. Die liberalen Interessenverbände kamen mit dem Staate im Ganzen zurecht, es bestanden zwischen ihnen und dem Staate keine prinzipiellen Gegensätze. Dagegen hinterließ der Versuch, die Vereinigung der Arbeiterbewegung und diese zu lähmen und zu unterdrücken eine Spannung, die zur Bildung einer eigenen Subkultur dieser Bewegung führte, deren Auswirkungen bis in die Gegenwart hinabreichen. 5. Ausblick So erscheint die Zeit des späteren 19. Jahrhunderts, von der sozialistischen Problematik abgesehen, als eine Periode im wesentlichen freier 73 Zum Sozialistengesetz und seiner mit zahlreichen weiteren Eingriffen beladenen Durchführung, s. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte (Anm. 35) Bd. 4, S. 1153 ff. 74 Zur Sozialgesetzgebung und der Einführung der Sozialversicherung s. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte (Anm. 35) Bd. 4, S. 1191 ff. Der tiefe Gegensatz dieses Ansatzes der Gewinnung der Arbeiter und des politischen Vorgehens gegen die Arbeiterbewegung wird scharf herausgearbeitet von Hans Rosenberg (Anm. 69) S. 202 ff., 210 ff. 75 E. R. Huber, Verfassungsgeschichte (Anm. 35) Bd. 4, S. 1177.
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Entfaltung des Vereinswesens. Einige weitere Erleichterungen brachte noch das vom Reiche erlassene Vereinsgesetz vom 19. 4. 190878 • Es bleiben damit weite Gebiete des sozialen Lebens der freien Formung durch die eigenen Kräfte des gesellschaftlichen Lebens überlassen, obwohl nicht zu übersehen ist, daß auch in der Zeit, in der die liberalen Grundsätze vorherrschten, die Staatsverwaltung ihre Tätigkeit langsam aber stetig erweiterte77 • Entsprechend bildete sich in dieser Zeit die Gemeindeverwaltung zu einem gewissen Gegenpol der staatlichen Verwaltung heraus, in der sich die liberalen politischen Kräfte leichter entfalten konnten. Dadurch konnte, zumal bei der Erstreckung des Dreiklassenwahlrechts auf die kommunale Ebene, diese im wesentlichen die obere Schicht der bürgerlichen Gesellschaft wiederspiegeln. So ergab sich für diese Zeit in der Tat ein gewisses Nebeneinanderstehen des traditionellen, militärisch-bürokratischen Staatsapparates und der bis in die Gemeinden reichenden, aber gerade auch durch das Verbandswesen ausgedrückten bürgerlichen Gesellschaft. Die Arbeiterbewegung in diese Entwicklung einzufügen, gelang nicht, vollends nach der Auseinandersetzung in der Zeit des Sozialistengesetzes. Darin lag ein großer Gegensatz zur englischen Entwicklung, in der die Trade Unions aus dem älteren sozialen Vereinigungswesen ohne Bruch herauswuchsen78 • Mit der allmählichen Ausdehnung der staatlichen Aufgaben nahm auch die Zahl der vom Staate auf verschiedenen Gebieten, vor allem dem beruflichen Felde, der Landwirtschaft, im Gewerbe und dem Handel geschaffenen Körperschaften mit öffentlichen Aufgaben zu. Im Unterschied zum frühen 19. Jahrhundert, wo sie eine gewisse Rolle als Gutachtergremien, nicht als Korporationen gespielt haben, würde ich ihnen aber keine politische Rolle mehr nach der Mitte des Jahrhunderts zuweisen. Ein Vorgang muß in diesem Überblick noch erwähnt werden, weil er an ältere Erscheinungen anknüpft und eine gewisse Parallele zu dem Verhalten gegenüber den Sozialisten zeigt. Es ist der Kulturkampf. Unter liberalen Einflüssen hat hier der Staat gegenüber der noch für sehr selbständig und stark gehaltenen katholischen Kirche - die im 78 Zum Vereinsgesetz von 1908 s. Gerhard Anschütz, Die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat, 1912, S. 513 ff. 11 Es ist heute anerkannt, daß entgegen der liberalen Theorie diese Erweiterung stattfand. s. Wolfgang Rüfner, Formen öffentlicher Verwaltung im Bereich der Wirtschaft, 1967, S. 52 ff.; Peter Badura, Das Verwaltungsrecht des liberalen Rechtsstaates, 1967, S. 41 ff. Diese Ausdehnung war besonders sichtbar im Bereich der gemeindlichen Vorsorgeanstalten. 78 s. Gerhard A. Ritter, Zur Geschichte der britischen Labour Party, in: Parlament und Demokratie in Großbritannien, 1972, S. 125 ff.; ders., Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, "Die sozialdemokratische Arbeiterbewegung bis zum Ersten Weltkrieg", in: Arbeiterbewegung, Parteien und Parlamentarismus, 1976, S. 21 ff.
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19. Jahrhundert in ihrer Erneuerung im Verbandswesen wie in der Bildung einer politischen Partei eine gewiß auch von ihr manchmal unabhängige Stütze fand - den Versuch unternommen, eine große Kraft innerhalb des Staates zu schwächen und einzufügen. Auch dieser Versuch, auf die gesellschaftliche Entwicklung von oben her verändernd einzuwirken, mißlang. Es gelang mit den katholischen Kräften zu einem Ausgleich zu kommen, aber es blieb auch hier für das Kaiserreich in seiner weiteren Entwicklung ein Riß, der sich niemals ganz geschlossen hat. So stellte die Gesellschaft des späteren 19. Jahrhunderts sich durchaus als eine gegliederte, von Verbänden gestaltete Gesellschaft dar, über der damals indes der Staat noch eine übergeordnete leitende Stellung zu bewahren vermochte. Dieses Bild einer Vielzahl von Verbänden, die sich untereinander aufwiegen und die dem Staate eine eigene lenkende Position erhalten, bestimmt in erheblichem Umfang auch die in der Gegenwart auf diesem Felde entwickelte Theorie des Pluralismus. Auf dieses Bild wirken aber heute neue Kräfte ein, die die Gesamterscheinung der politischen und sozialen Ordnung berühren. Einmal macht sich heute ein erneutes weites Eingreifen des Staates oder jedenfalls bestimmter in ihm herrschender politischer Richtungen bemerkbar, die auf eine Einwirkung in gesellschaftsverändernder Richtung drängen. Die Tendenz geht in der Richtung einer stärkeren Egalisierung, die sich über die wirtschaftliche, durch umfangreiche Umverteilungen beeinflußte Sphäre hinaus nun auch auf das Bildungsgebiet erstreckt und darüber hinaus in Reformen der Familie und anderer Lebensbereiche die gleiche Neigung erkennen läßt. Diese Bestrebungen beginnen schärfere Konflikte hervorzurufen, ohne daß bisher hier noch eine bedeutendere Anregung zur Bildung von Verbänden hervorgetreten wäre. Zum anderen haben aber manche Verbände nun in einer Situation, in der der Staat seine übergeordnete Position in erheblichem Umfang verloren hat und von wechselnden politischen Richtungen beherrscht wird, eine Stellung im öffentlichen Leben gewonnen, die sie unmittelbar mit zentralen politischen Entscheidungen in Beziehung setzt. Solche Verbandsmächte, vor allem die Gewerkschaften, können vom Staate nicht mehr von einer Stellung der Überordnung her, sondern nur mehr im Wege der Verhandlung und des Abkommens behandelt werden. Der social contract in England ist ein deutliches Zeichen dafür, daß sich hier eine Machtstellung ergeben hat, die nicht mehr durch eine einfache Überordnung der staatlichen Autorität beherrscht werden kann. Zur Bewältigung dieses Problems, dem kürzlich Herr Böckenförde einen gedankenreichen Aufsatz gewidmet hat79 , reicht, so scheint mir, freilich die Gegenüberstellung von Staat und 79 Ernst-Wolfgang Böckenfarde, Die politische Funktion wirtschaftlichsozialer Verbände und Interessenträger in der sozialstaatliehen Demokratie,
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Gesellschaft und die These, daß nun auch die letztere an der politischen Entscheidung mit ihren geformten Kräften teilnimmt, nicht aus. Es liegt hier ein Ansatz vor, die Rolle des Staates als ein alle Bürger umfassendes ausgleichendes Element der hoheitlichen Gestaltung überhaupt zu entkräften und im Staate nur mehr einen jeweils der zugreifenden Herrschaft verfügbaren Apparat zu sehen. Eine solche Konzeption würde freilich die Grundlagen der Demokratie, die in dem Grundkonsens aller Bürger gefunden werden muß, beiseitelassen. Das Problern der Verbände und ihrer Macht in der Gegenwart bedarf daher, das kann nur mehr als Frage angedeutet werden, einer neuen Durchdringung und theoretischen Bewältigung. Es handelt sich im Grunde um ein Staatsbild, das in der Lage ist, in einer demokratischen Ordnung das Gerneinsame aller Bürger festzuhalten und die Verantwortung der Regierenden für alle zu sichern, da die Herrschaft der Mehrheit nur auf einer Hinnahme ihrer Vertretungsbefugnis durch die Gesamtheit beruht. In diesem Rahmen vermögen Verbände, mögen sie auch eine Mitsprache in Fragen des Ganzen beanspruchen, diese auf verfassungsmäßiger Grundlage beruhende und durch mancherlei Einrichtungen gemäßigte und kontrollierte Staatsmacht nicht zu ersetzen. Wenn sie aber im Stande sind, bei den politischen Entscheidungen ohne eine verfassungsmäßige Grundlage mitzuwirken, so stehen wir vor einem Verfassungsproblern, das der Zukunft gestellt ist.
Der Staat 15, 1976, S. 457 ff.; jetzt auch in Wilhelm Hennis (Hrsg.) Regierbarkeit, Bd. 1, 1977, S. 223 ff.
Aussprache Quaritsch: Am Ende Ihrer Ausführungen haben Sie, Herr Scheuner, den Staat als Motor der großen gesellschaftlichen Egalisierungen bezeichnet, deren Zeugen wir seit den vergangeneo Jahren und Jahrzehnten sind. Sie haben diese Veränderung der Gesellschaft vornehmlich durch den staatlichen Gesetzgeber als "neuen Eingriff des Staates" bezeichnet und damit bewußt jenen Unternehmungen des 17. bis 19. Jahrh. in Deutschland gleichgesetzt, die man plastisch und einprägsam als "Revolution von oben" umschrieben hat. Es ist für mich außerordentlich wichtig, daß sie das Subjekt dieser Bewegungen mit demselben Wort benennen, nämlich mit "Staat". Auf den ersten Blick könnte man an der Berechtigung der Parallelisierung ebenso zweifeln wie am Wortgebrauch: Der "Staat" der frühen Neuzeit bis in die Zeit des Konstitutionalismus hinein ist der Fürstenstaat, d. h. der Machtapparat des monarchischen Souveräns, insbesondere das sitzende und stehende Heer. Die Erbfolge bestimmte die Person an der Spitze, die Auswechselung der personalen Spitze konnte im allgemeinen nur der Tod besorgen, Berater und Minister waren abhängig von der allerhöchsten Zufriedenheit. Im parlamentarischen System hingegen wird die Regierung des Staates gestellt durch die Führungsgruppe der in allgemeinen Wahlen siegreichen politischen Partei. Ob der Gesetzgeber die Egalisierung der Gesellschaft vorantreibt, hemmt oder rückgängig machte, richtet sich nach der personellen Besetzung der staatlichen Ideendirektion, und diese hängt davon ab, für welche personellen und sachlichen Alternativen sich die Mehrheit der Wähler am letzten Wahltage entschieden hat, eine Entscheidung, die in der freiheitlichen Demokratie nach ein paar Jahren für die Zukunft revidiert werden kann. Das personelle Substrat des Motors gesellschaftlicher Veränderungen ist also in meinem idealtypisch-soziologischen Umriß früher die Herrschaftsapparatur des Fürsten gewesen, heute ist es die Herrschaftsapparatur der jeweiligen MehrheitsparteL Man könnte deshalb auf die Idee kommen, heute verändere nicht "der Staat" die Gesellschaft, sondern die Gesellschaft verändere sich selbst, der Staat stelle nur das Instrumentarium. Wenn Sie gleichwohl das eine wie das andere auf die Formel "Staat" bringen, dann doch wohl unter dieser Annahme: für die Untersuchung, ob und wie die "politischen" Herrschaftsinstanzen in die "Gesellschaft" eingreifen, um sie zu verändern, ist es eine sekundäre Frage, wie die Personen heißen, die
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diesen Veränderungsprozeß vorantreiben, und wie sie in ihr Regierungsamt hineingekommen sind. Der Veränderer kann "Staat" genannt werden, weil er die Änderungskompetenz aus eigenem, nämlich politischen Recht, sei es des angestammten Herrscherhauses, sei es der Wählermehrheit, für sich beansprucht und die Rechtsordnung die Änderungskompetenz grundsätzlich anerkennt. Die Konstante so verschiedener Zeiten und Regierungssysteme ist die Existenz einer Herrschaftsapparatur, die anerkanntermaßen verbindliche Entscheidungen für "gesellschaftliche" Bereiche treffen kann. Es spielt dabei keine Rolle, ob und in welchem Maße die Personen in "Staat" und "Gesellschaft" tatsächlich identisch sind. Entscheidend ist vielmehr, daß die Personen verschiedenen Handlungsbereichen angehören, wenn sie z. B. einmal (gesellschaftlich) als Familienvater oder Fußballenthusiast agieren oder (staatlich) als Wähler, Beamter oder Minister. Es würde mich interessieren, Herr Scheuner, ob ich damit den Sinn Ihres parallelisierenden Wortgebrauchs in etwa getroffen habe. Birke: Meine Frage richtet sich auf die Problematik der Stellung des Staates zu den Gruppierungen der Gesellschaft wie sie in der Pluralismustheorie aufgegriffen wird. Sie sagten von der StamokapTheorie, daß sie den Staat nur als einen, zwar mächtigen, unter vielen Verbänden begreife. Gerade diese Vorstellung liegt auch einer Theorie zugrunde, die in England bereits zu Beginn des 1. Weltkrieges von Harold Laski mit Blick auf die Verfassung der Gewerkschaften des Landes formuliert wurde.
Was Sie über die mangelnde Integration der deutschen Arbeiterbewegung in den Staat gesagt haben, gilt in noch viel stärkerem Maße für Großbritannien. Das zeigt sich u. a. darin, daß es dort am Ende des 19. Jhs. nicht gelungen ist, einen arbeits- und tarifrechtliehen Rahmen um das Geflecht der "industrial relations" zu spannen, während in Deutschland seit dem 1. Weltkrieg- hier ist zunächst Hugo Sinzheimer zu nennen - staatlich integriertes kollektives Arbeitsrecht geschaffen wurde. Muß man hier nicht stärker zwischen Deutschland und England differenzieren? Botzenhart: Der Bereich ist vielleicht weniger zentral, aber das Spannungsverhältnis zwischen Staat und freier, zweckbestimmter bürgerlicher Vereinigung läßt sich m. E. auch am Beispiel der Aktiengesellschaften und ihrer Konzessionierung gut verfolgen, zunächst vor allem im Eisenbahnbau um die Mitte des 19. Jh. Privatwirtschaftliche Eigeninitiative und Gewinnorientierung wurden hier mit den strategischen und wirtschaftspolitischen Interessen des Staates integriert, z. B. durch die mit einer Dividendengarantie erkaufte Mitwirkung des Staates bei der Tarifgestaltung.
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Scheuner: Zunächst zum Einwand von Herrn Quaritsch, der sicherlich einen schwierigen Punkt trifft. Die Verwendung der Bezeichnung Staat hat gewiß ihre Bedenken gerade im Blick auf die moderne Parteienherrschaft. Dennoch scheint es mir so, daß die Veränderungen der Gegenwart aus der Gesellschaft kommen. Sie werden mit Hilfe der politischen Institutionen getroffen und durchgesetzt. Daß die Realität heute eine andere ist als im monarchischen Staat, ist zuzugeben. Aber auch in diesem besaß das Beamtenturn eine sehr wichtige Stellung. Zu Herrn Birke würde ich bemerken, daß auch in England die Gewerkschaftsbewegung sich nicht so glatt in die überlieferte Ordnung eingefügt hat. Die Eingliederung der Arbeiterschaft in die Gesellschaft ist im 19. Jahrhundert nirgends ganz gelungen und es bleibt in unserem Bereich ein Fragepunkt, weshalb sie nicht in dem Assoziationswesen aufgefangen werden konnte. Herr Botzenhart hat zu Recht an die Aktienvereine erinnert. Ich habe davon abgesehen, sie zu erwähnen, aber sie gehören zweifellos in den Fragenbereich mit hinein. Das führt auf ein Problem, das ich kurz erwähnen möchte. Die Ausdehnung der Staatstätigkeit in Deutschland bedeutet andererseits, daß der Raum der gesellschaftlichen Verbände enger wird, im wesentlichen sich auf den wirtschaftlichen Raum erstreckt. Entgegen der liberalen Vorstellung, daß der Staat sich auf Sicherheit und Ordnung beschränken sollte, ist in Deutschland, wie Badura und Rüfner gezeigt haben, die staatliche (auch kommunale) Tätigkeit ständig angewachsen. Nur den wirtschaftlichen Bereich hat der Staat bewußt ausgespart. Die Gemeinden z. B. haben mit ihrer amtlichen Vorsorge Funktionen übernommen, die in England den freien Assoziationen verblieben. Der sog. Kommunalsozialismus hat mit dafür gesorgt, daß weite Aufgaben bei uns bei der öffentlichen Hand blieben. Brauneder: Sie haben erwähnt, daß in der ersten Hälfte des 19. Jhs. in Deutschland die Landstände abgeschafft worden wären. Dazu sei jedoch in Erinnerung gebracht, daß nach der Gentz'schen Interpretation von Artikel13 DBA in den Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes eben solche Landstände einzuführen wären. In Österreich ist dies auch hinsichtlich der 1815 zurückgekehrten Länder geschehen: In Tirol und Krain wurden 1816 bzw. 1818 mit den neuen Landesverfassungen die Landstände wiederhergestellt, für Salzburg und Vorarlberg wurde die Wiedereinführung der ständischen Verfassung versprochen. - Der Widerspruch zu Ihren Ausführungen mag sich aber durch folgende Beobachtung beheben: Die Landstände werden trotz ihrer Restauration zu keinem verfassungsrechtlich relevanten Faktor, sondern üben insgesamt eine Tätigkeit ähnlich einem mit wenigen politischen Rechten "Beliehenen Unternehmen" aus, so daß die Grenze zu staatlich geförderten Vereinen wie etwa Handels- und Gewerbekammern oder wissenschaft-
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liehen Gesellschaften, insbesondere Akademien, kein durchwegs trennender Graben ist. Auch in der Gesetzgebung erscheinen die ständischen Korporationen nur als ein Auskunftsgremium neben zahlreichen anderen. - Besteht nun, so meine Frage, ein Zusammenhang zwischen den Wiederbelebungen der ständischen Einrichtungen und der staatlichen Förderung diverser Vereine und Gesellschaften?
Willoweit: Ich möchte auf die zentrale Frage Ihres Referates zurückkommen. Wie steht es mit der Selbstorganisation der Gesellschaft? Sie sagten, der Staat gehe voran, er räume die alte Gesellschaft ab. Ist es eigentlich nicht die Gesellschaft, die das Neue entwickelt? Über diesen Punkt möchte ich noch ein wenig nachdenken. Heute früh hatte ich bei den Referaten von Herrn Birke und von Herrn Brandt den Eindruck, daß in England, möglicherweise aber auch in Deutschland, doch ein Zusammenhang besteht zwischen Selbstorganisation, also Assoziationsbildung und Industrialisierung. Es gibt losgelöste Gesellschaftsteile, Bevölkerungsmassen in den rasch wachsenden Städten. Dort setzt Selbstorganisation ein, ganz deutlich in England, aber auch in Deutschland- wenn wir daran denken, daß der Vormärz nicht nur eine verfassungsgeschichtliche Epoche ist, sondern auch eine Zeit, in der die Industrialisierung in Deutschland auf breiter Front voranschreitet. Gibt es nicht einen Zusammenhang zwischen Industrialisierungsprozell und Assoziationsbewegung? Wenn das so ist, dann würde sich für mich die Frage nach der Selbstorganisation der Gesellschaft ein wenig anders stellen. Der Staat ist ein auslösender Faktor. Hinzu kommt aber der tatsächliche Wandel innerhalb der Gesellschaft, der dort zur Selbstorganisation führt. Scheuner: Ich will nur zwei kurze Bemerkungen machen. Ich stimme Herrn Willoweit ganz bei. Die Wegräumung des Zunftwesens eröffnet und zwar bewußt vom Staate aus die Möglichkeit der Industrialisierung. Die Wegräumung der Feudalrechte ermöglicht den kapitalistischen Betrieb der Landwirtschaft. Insofern haben Sie Recht, der Staat öffnet ein Tor, und die Neugestaltung vollzieht sich hier sogar gegen das von Herrn Brandt gezeichnete Bild einer mittelständischen Gesellschaft Selbständiger. Die Fabrik ist nicht unbedingt im Staat erwünscht, erst später erkennt er, daß sie viel Reichtum bringt. Zu Herrn Brauneder würde ich sagen, die Frage der Erhaltung der altständischen Formen führt auf ein Gebiet, das ich hier nicht angeschnitten habe, das Gebiet der politischen Vertretung. Hier war natürlich die Wiederherstellung der altständischen Formen anstelle einer Volksvertretung ein Weg, um die politischen Neuerungen zu begrenzen. Schlenke: Sie haben als Beispiel eines partnerschaftliehen Verhältnisses zwischen Staat und Gewerkschaften in England den sog. Sozial-
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pakt erwähnt. Meine Frage: Sehen Sie in diesem Beispiel eine generelle Entwicklungstendenz oder nicht vielleicht doch nur eine Ausnahme von der Regel? Eine Ausnahme, die bedingt sein könnte durch die außergewöhnlich starke Verschränkung- finanziell und auch stimmenmäßig auf dem Parteitag- zwischen regierender Labour Partei und Gewerkschaften. Ist die dem 19. Jahrhundert entstammende Frontstellung, ja Feindschaft, der Gewerkschaften gegen alles, was wir als Mitbestimmung bezeichnen, wirklich überwunden? Der Bullock-Bericht, der versucht, die Mitbestimmung in den Industrien zu klären und konkrete Vorschläge zu machen, hat doch bei den britischen Gewerkschaften kaum positives Echo gefunden. Böckenförde: Herr Scheuner, Sie haben für die zweite Hälfte des 19. Jhs. die Bewegung so geschildert, daß auf der einen Seite das freie Vereinswesen sich entfalten kann, vom Staat zugelassen wird, sozusagen die hohe Zeit der freien Vereine, auf der anderen Seite die politischen Parteien, insbesondere die politische Organisation der Arbeiterschaft bekämpft wird, und schließlich die Kammern, die gebildet werden, nur partikuläre, aber keine grundsätzliche Bedeutung erlangen. Meine Frage ist, ob in dieses Bild nicht noch die allgemeine Aufhebung des Koalitionsverbots im Jahre 1868 hineingehört, die ja immerhin der Arbeiterschaft ermöglichte, sich in der industriellen Klassengesellschaft zu organisieren- als Arbeitsmarktpartei in den Auseinandersetzungen innerhalb der Gesellschaft, aus denen sich der Staat bemerkenswert heraushielt. Liegt hier nicht doch ein Ansatz, der in Deutschland zumindest die 1918 relativ weit fortgeschrittene Integration der Arbeiterschaft in das Gemeinwesen bewirkt hat? Auch die Situation der sozialdemokratischen Partei, die Herr Groh gar nicht falsch als "revolutionären Attentismus" gekennzeichnet hat, deutet wohl in diese Richtung. Die SPD verstand sich zur Beteiligung an praktischer Sozialpolitik, in der Theorie erwartete sie indes den großen Umschlag gemäß den marxistischen oder interpretations-marxistischen Prämissen über die notwendige Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft. In der Konsequenz führte dies dazu, eine praktische Politik mitzutragen, die das bestehende System stabilisierte und integrierte. Wir wissen jetzt aus der Dissertation von Martini, daß z. B. die Nichtaufnahme des Arbeitsrechts in das BGB, vielfach als Ausdruck des bürgerlich-kapitalistischen Zeitgeistes kritisiert, eine Entscheidung war, die gerade von den Gewerkschaften und dann auch von der SPD mitgetragen und mitherbeigeführt wurde. Die Erwägung dabei war, wenn wir das nicht herauslassen, wenn das im BGB geregelt wird, dann wird es in unseren Augen reaktionär geregelt; lassen wir es aber draußen, dann haben wir die Möglichkeit freier Vereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften. Die Regierung hat das gesehen und
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zugelassen, um damit einen Bereich der Befriedigung und der Integration zu eröffnen. Die eben erwähnte Schrift von Sinzheimer ist ja mit ein Ausdruck dafür, was sich hier heranbildet. Die Tarifverträge nehmen zu, gerade in den Jahren von 1900 bis zum ersten Weltkrieg. Das wird bei Sinzheimer konstatiert und rechtssoziologisch und rechtstheoretisch unterbaut. Noch ein Wort zu Ihrem Ausblick auf die heutige Situation. Ich würde Ihnen zustimmen, daß die Machtstellung einerseits der Gewerkschaften, andererseits einer einigermaßen konzentrierten Wirtschaft über das Verbandsmodell hinausweist und daß sich da auf dem Boden einer Unterscheidung von Staat und Gesellschaft Bildungen vollziehen, die gerade diese Unterscheidung und Gegenüberstellung in Frage stellen. Gerade um dies zu erkennen, muß man sich freilich, wie ich glaube, des Modells von Staat und Gesellschaft und der Unterscheidung beider bedienen, um dann zu bemerken, was eigentlich vorgeht. In der Sache läuft es auf die Frage hinaus, ob die politische Ordnung noch die Kraft und die Chance hat, diese Bildungen in eine Position der Vermittlung (im Hegeischen Sinne) hineinzubringen und darin festzuhalten. Gewerkschaften und Arbeitgeber dort wieder hinauszudrängen und zu sagen, sie seien nur gesellschaftliche Bildungen, Ausdruck des freien Vereinswesens, halte ich nicht mehr für realistisch. Der Punkt ist, ob es erreicht und institutionell abgesichert werden kann, daß bei Gewerkschaften und Arbeitgebern zwar, wie ich an anderer Stelle gesagt habe, eine Teilnahme an der Ausübung politischer Entscheidungsgewalt vorliegt, aber nur eine sektorale Teilnahme, die nicht den Anspruch macht und machen kann, ihrerseits die allgemeinpolitische Entscheidungsgewalt, die bei den demokratisch legitimierten Organen liegt, mit innezuhaben.
Wadle: Ich habe nur eine kleine Bemerkung zur Rolle der Handelskammer zu machen: Ich möchte etwas stärker differenzieren. Sicherlich ist es so, daß die Kammern seit der Mitte der siebziger Jahre sehr an Bedeutung verlieren, weil sich das später übliche industrielle Lobbywesen auszubilden beginnt, das die Rolle der Handelskammern übernimmt. In denfünfzigerund sechziger Jahren jedoch sind die Handelskammern sehr aktiv und einflußreich, insbesondere in der Gestalt des Deutschen Handelstages. Daß die Kammern in ihrer praktischen Politik viel erreicht haben, zeigt die Gesetzgebung des frühen Bismarckreiches, die in ganzen Bereichen auf die Initiative und das Drängen der Kammern oder doch bestimmter Handelskammern zurückgeht; so z. B. im Bereich des gewerblichen Rechtsschutzes. Brandt: Ich möchte noch ein paar Sätze anschließen zum Kräfteverhältnis von Staat und gesellschaftlichen Organisationen. Es ist ja eine
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sehr populäre Vorstellung, daß hier im 19. Jh.- mindestens bis in die 60er Jahre- hinein, auf der einen Seite ein fast übermächtiger Staat steht, in seinen Institutionen gestärkt durch den Absolutismus, auf der anderen Seite ein durchaus schwächliches Assoziationswesen, das sich nun erst mühsam herausbildet. Die Frage ist, ob, wenn wir von Preußen absehen, das die richtige Optik ist. Waren die kleineren deutschen Staaten wirklich in der Lage, so umstandslos zu "disziplinieren", wenn sich aus der Gesellschaft eine Gegenkraft entwickelte? Ich habe da meine Zweifel und würde so sagen: Die "Disziplinierung" des Vereinswesens - ebenso übrigens die "Disziplinierung" der Stände - wurde in fast allen deutschen Staaten des 19. Jhs. nur mittels Drohung mit der Bundesintervention durchgesetzt. Sie ist im Grunde das Instrument gewesen, mit dem sich die meisten deutschen Staaten über diesen Emanzipationsvorgang haben hinwegretten können- bis in die 60er Jahre.
Scheuner: Zu Herrn Schlenke würde ich meinen, daß der social contract gewiß eine spezifisch englische Erscheinung darstellt, aber auch in der Bundesrepublik berühren wichtige Lohnverhandlungen die Regierung, bemüht diese sich, durch die konzertierte Aktion auf sie generell einen Einfluß zu nehmen. In England wird diese Entwicklung, in der die Regierung zur Vertragspartei in den Lohnverhandlungen wird, besonders deutlich faßbar. Bei Herrn Böckenförde würde ich dem zustimmen, daß die Pluralismustheorie die heutige Lage nicht mehr erfaßt, aber da wir sie noch nicht ersetzen können, müssen wir vorerst an ihr festhalten. Der social contract ist wahrscheinlich eine der Formen, in denen sich das Einbinden der sozialen Kräfte in die Gesamtordnung vollziehen kann. Was Ihre Bemerkung zu der späteren Behandlung der SPD betrifft, höre ich Ihre Feststellungen aufmerksam. Es ist sicherlich richtig, daß die SPD vor dem ersten Weltkrieg, vor allem aber in dessen Verlauf durch die nun vollzogene Anerkennung der Gewerkschaften näher an den Staat herangerückt wurde. Zu Herrn Wadle würde ich darauf hinweisen, daß die Handelskammern im wesentlichen seit den 60er Jahren die Politik Bismarcks unterstützt haben, obwohl sie damals durchaus in liberalen Händen sich befanden. Insbesondere deckten sie seine Politik im Zollverein. Zu Herrn Brandt würde ich meinen, daß gewiß die gesellschaftlichen Organisationen eine erhebliche Eigenkraft gehabt haben, vielleicht auch in den kleineren Staaten mehr Einwirkung hatten. Ich habe diese Zusammenhänge nur in einer etwas allgemeinen Form behandelt. Naujoks: Ich wollte Herrn Scheuner fragen, ob das Vordringen der Wirtschaftsverbände in Deutschland seit der Mitte der 70er Jahre nicht doch im Vergleich zu den anderen angeführten Beispielen anders zu beurteilen ist?
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Dietrich: Zu dem, was Herr Naujoks gesagt hat, haben sich eine ganze Menge von Problemen angesammelt, über die noch zu reden wäre. Ich will mich aber auf drei Dinge konzentrieren. Also, anknüpfend an das, was Herr Naujoks gesagt hat: Ich sehe die Dinge bei den Handelskammern und den Wirtschaftsverbänden auch etwas anders. Ich habe vor dem Zweiten Weltkrieg die ganzen Archive der sächsischen Industrie- und Handelskammern durchgearbeitet, für die Zeit zwischen 1866 und 1914, die Stellungnahmen der Industrie- und Handelskammern zur staatlichen Wirtschaftspolitik. Ich habe dabei feststellen müssen, daß gerade in den 70er Jahren beim Übergang zur Schutzzollpolitik die Industrie- und Handelskammern eines so - für die damaligen Zeiten - hochindustrialisierten Landes wie Sachsen mit zu den eigentlichen Kräften gehört haben. Sie haben in dauernden Stellungnahmen an die Regierung und in ihrem Jahresbericht dauernd diese Problematik aufgegriffen und ihre Forderungen aufgestellt, solange bis sie dann gemerkt haben, jetzt geht es aber in die Richtung, in der wir sie haben wollen. Also da ist der Einfluß ganz offensichtlich noch außerordentlich stark gewesen und zwar im Sinne der von Bismarck dann inaugurierten Schutzzollpolitik. Ich hatte doch den Eindruck, als ob die Ausführungen von Herrn Scheuner eine notwendige Korrektur dargestellt hätten an dem Bild, das uns heute Vormittag von Herrn Brandt entworfen worden war, denn der Prozell der Industrialisierung ist ja eben bei uns im Gegensatz zu England nicht aus den selbstorganisierenden Kräften hervorgegangen, sondern ist ja immer wieder vom Staat angetrieben bzw. angeregt worden. Das gilt nicht nur für die eigentliche Industrialisierung, das gilt auch für die Landwirtschaftspolitik, für die Handelspolitik sowie für die Zollpolitik. Man braucht ja nur ein paar Namen zu nennen wie Beuth, Maasen, Motz und Weinrich und ein paar andere noch, man braucht nur an die württembergische Politik der Landwirtschaftskammern zu denken, um auf dieses Gebiet noch hinzuweisen. Überall ist der Staat der Anreger, Verkörperer, Verteiler, manchmal sogar und erst, wenn die Dinge in Gang gekommen sind, dann überläßt er es den selbstarbeitenden Kräften der Wirtschaft weiterzugehen. Also hier würde ich doch sehr stark den staatlichen Einfluß hervorheben und in diesem Sinne sehe ich die Äußerungen von Herrn Scheuner als eine sehr wünschenswerte Korrektur an. Und nun zum dritten Punkt. Herr Scheuner, Sie haben vorhin in einer Ihrer Entgegnungen darauf hingewiesen, daß Sie, und zwar im Zusammenhang mit dem, was bereits Herr Botzenhart gesagt hatte, nicht berücksichtigt hätten das Problem der Ausdehnung der Staatstätigkeit. Da möchte ich jetzt an Sie sozusagen die Bitte richten, daß Sie dieses Problem zumindest bei der künftigen Fixierung Ihrer Ausführungen doch noch etwas stärker ins Auge fassen und zwar auch u nter dem 9 Der Staat, Belheft 2
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Gesichtspunkt, warum dehnt der Staat seine Tätigkeit stärker aus. Es sind ja z. T. handfeste Interessen, die dahinterstehen, z. T. militärpolitische Interessen, auch beim Eisenbahnbau darf man das nicht außer acht lassen, nicht nur daß es private Gesellschaften auf die Dauer nicht mehr schaffen, wenn man an Sirausberg denkt und an den Zusammenbruch seiner Gesellschaft und somit auch an militärpolitische Interessen. Dann ist aber auch noch ein anderer Aspekt dabei, der Ihnen ja auch sehr am Herzen liegt, der Aspekt der Verschiebung der Staatstätigkeit nämlich von der Staatstätigkeit des Einzelstaates in Deutschland auf die Staatstätigkeit des Reichs, also die Strukturprobleme, die sich ja aus dem föderalistischen System ergeben und der auch dauernden Veränderungen schon in der Bismarckzeit unterliegt, Gleichgewichtsverschiebung vom Einzelstaat hin zum Gesamtstaat. Das wären Dinge, die man vielleicht in Ihrer schriftlichen Fassung sich noch wünschen dürfte.
Ableitinger: Ich wollte zurückgreifen auf etwas, was Herr Kollege Brauneder angesprochen hat. Ich m eine, daß man nicht, wie Herr Scheuner sagte, die Stände nur als etwas sehen sollte, das zur politischen Vertretung eingerichtet war oder wiedereingerichtet wurde. In der politischen Vertretung war es ja nach 1815 mit den Ständen im Kaisertum Österreich nicht weit her. Aber dort wird man ihre Wirkung nicht primär zu suchen haben. Ich glaube, daß gerade auch die teilweise Neu- bzw. Wiedererrichtung von Ständen - und zwar in der Regel nach uralter Weise zusammengesetzter Stände- einen Zustand im Österreich von damals reflektiert, der darum hier erwähnt werden darf, weil er der Anfang einer Entwicklung geworden ist, die heute Vormittag hier als eine Entwicklung von Hege! zu Mohl skizziert wurde. Es scheint mir bemerkenswert, daß es vielfach Stände und Menschen aus ihrem Umkreis in Österreich sind, die Funktionen übernahmen, die Vereinsfunktionen sein konnten oder anderswo von Vereinen, die sich leichter entfalten konnten, übernommen wurden. Es war z. B. so, daß sich in den Ländern die Stände speziell in Kulturfragen sehr stark hervortaten, daß sie bzw. Mitglieder der Stände die Landesmuseumsbewegungen und wissenschaftlichen Landesgesellschaften trugen. In dem auch sonst zum Nachdenken sehr anregenden Buch von Christoph Thienen über Graf Leo Thun im Vormärz findet sich dazu viel zusammengetragen. Es ist unter Bedingungen, die der gesellschaftlichen Selbstassoziation so wenig förderlich waren wie die Österreichischen im Vormärz, wohl auch charakteristisch, daß sich dann Stände so neuer Dinge annahmen wie der Nationalbewegungen- so wie sie unter solchen Bedingungen eben auch frühe Träger der späteren liberalen Kräfte wurden. In Ungarn ist das ja notorisch. Weniger bekannt dürfte es außerhalb
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Österreichs für Böhmen, für Kroatien und in bescheidenem Maß sogar für Krain (bezogen auf die slowenische Bewegung) sein. Mir scheint es schließlich überlegenswert, ob man diese Vorgänge nicht etwas verknüpfen solle damit, daß da tatsächlich noch etwas sozusagen vom alten Recht - zum Unterschied von "Ordnung", wie gestern früh diskutiert worden ist- lebendig war. Diese Lebendigkeit ließ Wiedererrichtung von Ständen nach 1815 normal, selbstverständlich und deshalb erforderlich erscheinen. Diese Lebendigkeit drückte sich ferner darin aus, daß einige bürgerliche Nationalbewegungen aus der ständischen Ideenwelt programmatisch Wesentliches übernommen haben. Ich denke nicht nur wieder an Ungarn, sondern auch an die seit den 1840er Jahren hörbaren Forderungen nach dem vorabsolutistischen böhmischen Staatsrecht, das bis 1620/27, bis zum Weißen Berg und bis zur V erneuerten Landesordnung existiert hatte, auch an die jahrzehntelang sehr wirksame kroatische "Rechtspartei" des Ante Starcevic. Mir scheint, daß es da überprüfenswerte Zusammenhänge zwischen alten Rechtsvorstellungen von ständischer Libertät und den neuen, aufgeklärt-liberalen Vorstellungen von Freiheit gab und daß in solchen Vorgängen nicht nur taktische Überlegungen gegen das Zentrum Wien zum Ausdruck kamen. Dererlei Zusammenhänge hatte es ja andernorts im 18. Jahrhundert vielfach gegeben, ihr Wiederauftreten im 19., auch noch im späten 19. Jahrhundert aber überraschte und führte bei den Zeitgenossen zu schweren und folgenreichen Fehleinschätzungen, wenn etwa auf deutsch-österreichischer Seite die tschechischen, nationalen Parteien zumeist als konservativ, klerikal - und daher nach verbreitetem damaligen Urteil als niveaulos- erschienen, eben weil sie an alte ständische Vorstellungen anknüpften. Daß der Anknüpfungspunkt nicht eigentlich in den traditionellen Elementen, sondern in den libertären lag, wurde nicht mehr verstanden. Schlaich: Herr Scheuner, wenn ich mir einige Stichworte Ihres Referats vor Augen halte - Zulassung und Begünstigung freier Vereinigungen, solange der Staat die Aufsicht hat; der Staat regt die Verbandsbildung an; das Vereinswesen wird für öffentliche Funktionen vereinnahmt usw. -, dann drängt sich mir eine neugierige Frage auf: Wo bleibt da eigentlich die Freiheitsidee? Kann man diesen Zeitraum des 2. Teils Ihres Referates bis 1848 eigentlich schildern, ohne die Freiheitsidee und die Grundrechte als Prinzip, als politisches Postulat zu erwähnen?- Es ist interessant, in welchem Maße in Ihrem Referat der deutsche Staat als Staat der Staatsaufsicht erscheint, Staatsaufsicht dabei aber eben nicht eine Aufsicht der bloßen Kuratel, der Schikane, sondern der Gemeinwohlverwirklichung ist. Hier treten Verbindungen zu dem Referat von Herrn Willeweit auf. Die Verwirklichung von Freiheit und Grundrechten erscheint nicht so sehr als Folge einer isolierten 9•
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Menschenrechts- und Grundrechtsidee, sondern als Aufgabe des sozialgestaltenden Staates, der die Dinge abfängt und in die Hand nimmt. Die staatlich geschaffenen oder angeregten Institutionen decken offenbar den Grundrechtsgedanken weithin ab. Bezüglich der Religionsfreiheit ist dies deutlich: Sie kam zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu voller Anerkennung, ihre positive Seite, die Freiheit auch der Vereinigung zu Religionsgemeinschaften, aber stand nicht im Mittelpunkt. Denn die Kirchen als Korporationen waren ja da, sie waren öffentlich anerkannt oder gefördert, und das Verlangen nach dem Grundrecht Religionsfreiheit so abgedeckt. Die Religionsfreiheit wurde so mehr nach ihrer negativen Seite hin, als Recht zum Dissens virulent.- Herr Scheuner, ist es so, daß in Deutschland die Grundrechte in Ihrem Zeitabschnitt die Szene nicht so sehr beherrschten, weil staatlicherseits vorgesorgt war? Wie ist der Zusammenhang Staatsaufsicht - Gemeinwohlverwirklichung- Grundrechte? Die Parallele zur heutigen Grundrechtstheorie ist ja auffällig: Faßt man Grundrechte - über die liberale Ära hinausgehend - zunehmend also Sozialrechte, als Teilhabe- und Leistungsrechte auf, so verstärkt das ja nicht zuerst die rechtliche Position des Grundrechtsträgers - sein Recht auf Teilhabe steht unter dem Vorbehalt staatlicher Entscheidung und Zuweisung -, sondern bedeutet eine Ausweitung staatlicher Tätigkeit und Verteilungskompetenz.
Scheuner: Herrn Naujoks würde ich ganz zustimmen. Bei Herrn Dietrich teile ich seine Auffassung, daß die Handelskammern zeitweilig auch einen Einfluß geltend gemacht haben. Aber neigte nicht Bismarck bereits der Richtung zu, als sich die Wende der Politik um 1878/79 abzeichnete? Die Österreichischen Länder bilden eine sehr eigene Erscheinung. Sie haben eine tiefe historische Wurzel, die sich durch den Absolutismus durchgehalten hat, so daß man sie später wieder restituieren konnte. Ich bin für die Ergänzung dankbar, die darauf aufmerksam macht, daß hier Angelegenheiten aufgegriffen wurden, die anderswo vielleicht den Verbänden zufielen. Zu Herrn Schiaich würde ich bemerken, daß man die Grundrechte vor 1848 nicht überschätzen soll. Sie werden in der Zeit des 19. Jahrhunderts, zumal im Vormärz, als Programmsätze angesehen, zu denen man wie im Wilhelm Tell einmal hinauflangt, aber sie sind kein Gegenstand der täglichen Anwendung, schon gar nicht der Gerichte. Es gab noch kein höheres Recht der Verfassung, keine Verfassungsgerichtsbarkeit. Wenn der Gesetzgeber ein einschränkendes Vereinsgesetz erläßt, kann man auf die Verfassung hinweisen, aber eine solche Berufung blieb ohne praktische Wirkung. Die moderne Vorstellung der Grundrechte läßt sich nicht in das 19. Jahrhundert zurückübertragen. Sie sind Prinzipien, meist auch mit Einschränkungen formuliert, die erst durch die Gesetzgebung wirkliche
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Umrisse und Anwendbarkeit gewinnen. Zwar vertreten Rotteck/Welcker die Assoziationsfreiheit, aber das ist auch ein Stück liberale Vorstellung. Vor 1848 geht es nicht um Diskussionen, um Grundrechte, sondern um unterschiedliche Staatskonzeptionen. Es kommt hinzu, daß ein großer Teil der Lehre die Grundrechte als eine französische Erfindung verwarf. Ernstlich für die Grundrechte traten vor 1848 nur Friedrich Julius Stahl und der Theologe Rothe ein, daneben sind sie natürlich ein Bestandteil der liberalen Auffassung.
Baumgart: In diesem Zusammenhang, Herr Scheuner, ist zusätzlich die Frage nach der Bedeutung der Verfassungen der süddeutschen Staaten am Beginn des 19. Jahrhunderts zu stellen. Zwar ist in ihnen sicherlich noch nicht die moderne Grundrechtsproblematik angesprochen, aber entsprechende Tendenzen dürften in der nassauischen, bayeHschen u. a. Verfassungen doch erkennbar sein. Scheuner: Um Ihnen gleich zu antworten: Natürlich findet sich im Süddeutschen schon eine Aufnahme von der Grundrechtsvorstellung, aber wenn man dann die Lehrbücher des bayerischen Staatsrechts aufschlägt, dann findet man sie auch behandelt als Rechte der Bayern, aber wenn man dem die Rechte Bayerns in der Gleichheit ansieht so handelt der nächste Paragraph vom Adel und der nächste vom Bürgerstand und der dritte vom Bauernstand, d. h. da löst sich die Gleichheit wieder auf. Überall wird zu den Grundrechten gleich das positive Gesetzesrecht gebracht, und wenn von der Presse die Rede ist, so erfährt man alsbald, wie die Presse beschränkt ist. Sicherlich entsprach das nicht der Meinung der liberalen Politiker, aber das Gesetzesrecht ist so stark, daß die Verfassung dahinter nur einen etwas schattenhaften, einen stark programmierten Charakter besitzt. In einem früheren Aufsatz in der Festschrift für E. R. Huber habe ich auf die überwiegend gesetzliche Gestaltung hingewiesen. Wahl: Herr Scheuner, ich stimme mit Ihnen voll darin überein, daß auf der juristisch-dogmatischen Ebene die Wirkungen der Grundrechte im 19. Jahrhundert begrenzt waren, daß sie also Programmsätze waren. Näher zu fragen ist aber, was dieser Charakter als Programmsätze bedeutete, insbesondere dann, wenn man auch die politischen Wirkungen einbezieht. Natürlich hat im 19. Jahrhundert kein Gericht ein Gesetz auf einen möglichen Verstoß gegen ein solches Recht überprüft oder es gar für nichtig erklärt. Aber in diesen Grundrechten waren doch Legitimationsanforderungen enthalten, denen sich die Regierungen und ihre Politik auf die Dauer nicht folgenlos entziehen konnten. Will man deshalb die Wirkungen der Grundrechte insgesamt untersuchen, dann muß man nach den inhaltlichen Zielsetzungen dieser Politik fragen und insbesondere an dem Grundsachverhalt anknüpfen, den Sie angesprochen
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haben, daß der Staat etwas auf den Weg gebracht hat. Warum hat er dies getan? Stand er dabei nicht immer auch unter den inhaltlichen Anforderungen, die aus Frankreich als die "Ideen von 1789" herübergekommen waren und die dort als Grundrechte formuliert worden waren und die dann ihren Niederschlag auch in den süddeutschen Verfassungen gefunden haben. Sicherlich war damit keine rechtliche Bindung der Gesetzgebung oder der Politik verbunden; aber im Hinblick auf ihre Legitimation stand diese Politik unter diesen Anforderungen. Insoweit haben die Grundrechte und Grundrechtsvorstellungen erhebliche politische Wirkungen gehabt, selbst in den Zeiten, in denen sie noch nicht überall in der Verfassung fixiert waren.
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Brandt: Man muß unterscheiden zwischen der juristischen Begleitliteratur, zwischen der Kommentarliteratur und zwischen dem, was sich in den Landtagen selbst abspielte. Was in den Verfassungen des 19. Jh. unter "Rechte der Untertanen" firmiert, hat natürlich nicht den einklagbaren Charakter heutiger Grundrechtsnormen. Die Bedeutung von Rechtserklärungen lag woanders: sie waren politischer Sprengstoff für die Verwaltung und Orientierungsmarke für die liberalen Minderheiten in den Kammern. Das Gesagte wird deutlicher, wenn man hinzufügt, daß mindestens drei Viertel aller Gesetze dieser Zeit von den Mitgliedern der Kammern als Einlösung von Grundrechten verstanden worden sind. Dazu gehören die Ablösungsgesetzgebung, die Gesetze über Abschaffung der Privilegien des Adels, das Jagdrecht, die Gewerbegesetzgebung und die Justizgesetze. Man kann es cum grano salis so sagen: Die Grundrechtskataloge wurden von den liberalen Politikern der Landtage als Pressionsmittel benutzt, um jeweils bestimmte Dinge einzulösen und die Regierungen unter Druck zu setzen. Darin besteht die enorme verfassungspolitische Bedeutung der Grundrechte in jener Zeit. Schlaich: Herr Scheuner, ist das, was Sie eben unter der Überschrift "Staatsaufsicht" schilderten, nicht auch ein Stück Grundrechtsverwirklichung? Herr Wahl fragte dies ja auch schon. War nicht staatlicherseits vorweggenommene Pazifizierung und Grundrechtserfüllung auch bei dem im Spiel, was Sie zur Neukorporation der Städte und Universitäten sagten? Darf das nur unter den Stichworten Sozialgestaltung und Staatsaufsicht firmieren? Boldt: Was das Verhältnis von Grundrechten und Gesetz anlangt, so sollte man auch an die Frage der Gesetzesinitiative im Vormärz denken. Das Recht zur Gesetzesinitiative gab den Landständen ja die Möglichkeit, ihre Vorstellungen von Grundrechtsverwirklichung in die Gesetzgebung einzuschleusen und in dieser Richtung über das Parlament einen gewissen Druck auszuüben - wenn sie dieses Recht erlangt hatten; darum ging eben der Kampf damals.
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Scheuner: Zu Herrn Schiaich würde ich darauf hinweisen, daß es keinen Anhalt bei den Reformen des Freiherrn von Stein gibt, die irgendeine Beziehung auf Grundrechte aufweisen. Den übrigen Rednern stimme ich zu, daß selbstverständlich auch ein programmatischer Satz Bedeutung gewinnen kann. Man hat übrigens in der Frankfurter Nationalversammlung den Versuch unternommen, genau festzulegen, welche Grundrechte als alsbald wirksam gelten sollten. Man hat sogar hierüber eine wenig bekannte Gesetzesbestimmung in dem Einführungsgesetz vom 27. 12. 1848 erlassen, die bestimmte, welche Vorschriften der Grundrechte alsbald in Kraft treten sollten. Da die Grundrechte sehr bald durch den Deutschen Bund wieder dort, wo sie eingeführt waren, außer Kraft gesetzt wurden, hat das freilich geringere Bedeutung gehabt. Dilcher: Ich wollte darauf hinweisen, daß man neben der dominierenden Linie des Verhältnisses von Staat und gesellschaftlichen Kräften zur Assoziationsfreiheit, wie sie heute und besonders im letzten Vortrag sehr überzeugend gezeichnet worden ist- daß man neben dieser Linie noch eine andere, etwas schwächere, gegenläufige sehen kann. Der Liberalismus identifiziert sich zwar einerseits mit der Assoziationsfreiheit, hegt aber andererseits auch gewisse grundsätzliche Bedenken gegen jene Assoziationen, die sich auf eine neue Verfestigung der Gesellschaft, auf die Bildung von neuen Privilegständen richten. Wenn man diese Bedenken, diese zweite Linie sieht, kann man vielleicht auch gewisse Kompromisse zwischen konservativ-staatstragenden Kräften und den parlamentarischen Vertretungen des Liberalismus gerechter würdigen. Ich möchte dies nur an einigen Beispielen andeuten. Das Verbot wirtschaftlicher Koalitionen bis zur Gewerbeordnung von 1869 war zwar vom Staatsinteresse diktiert, es war aber genauso von den auf frühliberalen Ideen fußenden französischen Codes ausgesprochen worden. Es war deshalb auch für den Liberalismus nicht ganz abwegig, die Aktiengesellschaft als große anonyme Kapital- und Machtzusammenballung einer Staatsaufsicht zu unterwerfen - als mit der Aktienrechtsreform von 1870 diese Staatsaufsicht aufgegeben wird, wird statt dessen ein privatrechtlicher Aufsichtsrat geschaffen, der eben nicht umsonst so heißt. Mit dieser Aktienrechtsreform, mit dem Prinzip freier Gründung und Normativbestimmungen, die fast gleichzeitig liegt mit der Zulassung von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerkoalitionen in der Gewerbeordnung von 1869, hat man aber den bedeutsamen Schritt von einem weitgehend individualistischen, zu einem auch kollektive Formen akzeptierenden Liberalismus getan. Ich meine, daß sich das in der Rechtswissenschaft in den individualistischen Positionen des romanistischen Privatrechts oder etwa von Gerber und Laband im Staatsrecht einerseits, in der Position Gierkes andererseits mit seinem Ringen um
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den Genossenschaftsgedanken, das Verständnis von Korporation und realer Verbandspersönlichkeit spiegelt - was ja zu heftigen Kontroversen zwischen beiden Positionen im Staatsrecht (Labandrezension Gierkes) wie im Privatrecht (Kampf um das BGB) geführt hat. Als weiteren Punkt möchte ich in diesem Zusammenhang die Einordnung von Sozialistengesetzen und Sozialgesetzgebung in der Bismarck-Zeit ansprechen, wobei ich mich hier aufs engste mit Herrn Scheuner berühre. Ich meine, daß die Sozialistengesetze für den Liberalismus, der sie ja großenteils parlamentarisch mittrug, zwar etwas bedenklich, als befristete Maßnahmengesetze aber doch grundsätzlich noch als vertretbar erschienen, weil die sozialdemokratische Partei - ähnlich die Gewerkschaftsbewegung - als örtlicher Wahlverein geduldet und nur als überlokale Machtstruktur verboten wurde. Das entsprach doch einem alten liberalen Prinzip der Abneigung gegen überindividuelle, Kollektivmacht begründende Assoziationen, wenn es sicher hier auch gezielt gegen Existenzbedingungen einer Arbeiterpartei (ähnlich bei der Gewerkschaft) gerichtet war, die anders als bürgerliche Honorationsparteien eben auf Kollektivmacht und Begründung einer "Bewegung" zur Erreichung ihrer politischen Ziele angewiesen war. Dem angesprochenen Standpunkt des Liberalismus entspricht es dann auf der anderen Seite, wenn er die Bismarck'sche Sozialpolitik, in der soziale Sicherung unter Zusammenfügung von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeitrag unter staatlicher Garantie errichtet wurde, im Parlament als eine Form des Sozialismus angriff - auch hier aus dem alten Mißtrauen gegen intermediäre Bildungen zwischen individualistisch verstandener Gesellschaft und Staatsmacht. - Die hier angedeutete Linie läßt doch eine gewisse Konsequenz in der Haltung des Liberalismus erkennen, wo er scheinbar vom Standpunkt der Assoziationsfreiheit abweicht. Kleinheyer: Ich kann da sofort anschließen, mit einem Hinweis auf die Diskussionen um die Grundrechte, die nach 1870 wieder auflebten im Reichstag. Dort wird im Zusammenhang mit der Kultusfreiheit der Kirche entgegengehalten: wenn wir ein solches Grundrecht einführen, dann führt das nur zur Verfestigung eurer Positionen gegenüber den Gläubigen; wir schaffen da neue Machtverhältnisse, die wir nicht wollen.
Borck: Ich möchte noch einmal anknüpfen an die vorhin hier vorgetragenen Ausführungen zur Frage der Kammern. In dem Vortrag selbst sind die Kammern ja, wenn ich das so recht verstanden habe, mehr als periphere Einrichtungen, mehr unter dem Aspekt der gesellschaftlichen Gestaltungskraft angesprochen worden. Für die Handelskammern wurde das Bild bereits etwas modifiziert durch die Ausführungen von Herrn Wadle und Herrn Dietrich. Ich meine, es gibt aber noch einen anderen Bereich, in dem umgekehrt der gesellschaftsgestaltende Ein-
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griff des Staates hier ganz besonders deutlich wird, gerade im Gegensatz also zu dem, was da vorgetragen wurde, und das ist der Bereich der Handwerkskammern. Wenn man die Vorgeschichte der Handwerkskammern verfolgt, dann sieht man, daß nach der Einführung der völligen Gewerbefreiheit 1869 bzw. 71 im Norddeutschen Bund bzw. im Deutschen Reich sich gewisse Auflösungserscheinungen im Handwerk bemerkbar gemacht haben. Um 1890 herum wurden diese so offensichtlich, daß sich die Regierung veranlaßt sah, eine Art Enquete zu veranstalten, um den Zustand des Handwerks ermitteln zu lassen. Das Ergebnis war ein tiefer Einblick in einen offensichtlich in voller Auflösung befindlichen Gewerbezweig. Die Konservativen und die Nationalliberalen, inbesondere aber auch das Zentrum haben ja nun in der Einschätzung des Handwerks als eines staatstragenden Teils des Mittelstandes versucht, eine regelrechte Handwerkerschutzgesetzgebung zu entfalten. Dies wird deutlich, wenn man die Presse in der damaligen Zeit verfolgt, die Beiträge also in den Zeitungen, die ich öfter einmal bei eigenen Untersuchungen in Osnabrück habe nachprüfen können, die Osnabrücker Zeitung und ähnliche Blätter. Man stellt fest, daß dieser Schutzgesichtspunkt, d. h. ein gewisser ständischer Aspekt, ganz maßgeblich hervorgetreten ist. Die Handwerkskammer, die dann als Hauptergebnis der Neufassung der Gewerbeordnung 1897 eingerichtet wurde, verfolgte offensichtlich mit all den Unterorganisationen, die damit verbunden sind, die Absicht, einen Teil der Gesellschaft durch staatliche Hilfe zur Selbsthilfe zu ermuntern, also eine gewisse Rahmenbedingung zu schaffen, die eben den Fortbestand dieses Zweiges des Gewerbes ermöglichen sollte, und tatsächlich ist es auch eben keineswegs so, daß das als Selbstorganisation der Wirtschaft auch nur im weiteren Sinne aufzufassen wäre, denn von 1897 bzw. 1900 bis 1929 zur nochmaligen Modifizierung der Gewerbeordnung ist ja der Staat unmittelbar in der Form eines Staatskommissars an den Geschäften dieser Handwerkskammern beteiligt. Und schließlich ist noch eines unter dem Aspekt gesellschaftsgestaltender Eingriffe in dieser Kammerordnung von 1897 recht interessant. Das ist der geradezu revolutionäre Entschluß, eine Arbeitnehmervertretung zu schaffen. Die Kammer setzt sich ja nicht nur aus den Arbeitgebern, also den Handwerkern zusammen, sondern es kommt für bestimmte spezielle Bereiche, also etwa Ausbildungsfragen, zur Einsetzung von Gesellenausschüssen, gegen deren Ablehnung das Plenum der Kammer sich nur in Sonderfällen durchsetzen kann. Es scheint also, daß hier am Beispiel der Handwerkskammer eben doch zu zeigen ist, daß diese Einrichtungen durchaus das Ergebnis dieser eben von Ihnen angesprochenen gesellschaftsgestaltenden Absichten des Staates sind und daß sie darüber hinaus auch erhebliches Eigengewicht entwickelt haben, ebenso wie die anderen Organisationen in der Wirt-
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schaft, insbesondere die Handelskammern. Es führt jedoch zu weit, dies im einzelnen darzulegen, man könnte es aber durchaus darüber hinaus noch nachweisen.
Schott: Herr Scheuner, läßt sich beobachten, daß der Staat in der Phase, in der er die freie Verbandsbildung begünstigt, selbst von Formen abgeht, in denen er wichtige Aufgaben der Daseinsvorsorge wahrnimmt? Weicht also der Staat zurück, indem er bisherige Anstaltsinstitutionen preisgibt und nun der freien Verbandsbildung überläßt, oder gibt er nur das jetzt neu entstehende Terrain ohne eigene Verkürzung frei? Scheuner: Ich vermag den Äußerungen Herrn Dilchers durchaus zuzustimmen. Es ist richtig, daß sich die Aktiengesellschaft erst im späteren 19. Jahrhundert aus dem Zusammenhang mit anderen Gesellschaften löst. Bis dahin stand sie in einer politisch-sozialen Verbindung zu den anderen Vereinigungen. Die Überweisung der Aktiengesellschaft in die reine Privatrechtssphäre erfolgt erst später, und heute wird sie in gewissem Umfang wieder zurückgeholt durch die Mitbestimmung. Mit Herrn Kleinheyer gehe ich einig, und für die Ergänzung durch Herrn Bork bin ich recht dankbar. Die Frage von Herrn Schott ist nicht ohne weiteres zu beantworten. Hier wären nähere Untersuchungen erforderlich. Der Staat ist mit der Verwendung des Körperschaftsbegriffes im Ganzen sparsam umgegangen. Er hat Körperschaften geschaffen, wenn wichtige Dinge des Gemeinwohls wahrzunehmen waren. Das gilt im späteren 19. Jahrhundert für die Kammern, die ursprünglich nicht Korporationen waren. Es ist auch möglich, daß der Staat auf dem Höhepunkt liberaler Strömungen manche Fragen freien Formen der Verbandsbildung überlassen hat. Hier fehlen aber noch genauere Untersuchungen.
Verzeichnis der Redner Ableitinger 130 f. Baumgart 32 f., 43 f., 48 f., 50, 73 f., 92 f., 133 Behr 50 Birke 71 f., 79 ff., 92, 93, 94, 95, 96, 123 Böckenförde 30 f., 45 f., 70 f., 126 f. Boldt 134 Borck 95, 136 ff. Botzenhart 48, 69 f., 77, 123 Brandt 51 ff., 72 f., 76 f., 127 f., 134 Brauneder 69, 124 f. Dietrich 30, 41 f., 43, 48, 68 f.,73, 129 f. Dilcher 31 f., 47, 135 f. Frotscher 92 Grube 42 f.
Hofmann 35, 94 J anssen 34, 44 Kleinheyer 35 f., 46 f., 136 Malettke 49 f. ~aujoks
35, 68, 92, 128
~uaritsch
75 f., 122 f.
28 ff., 45, 74 f., 97 ff., 124, 125, 128, 132 f., 133, 135, 138 Schiaich 33 f., 131 f., 134 Schlenke 70, 93 f., 96, 125 f . Schott 41, 138 ~cheuner
Wadle 68, 127 Wahl 34 f., 133 f. Willeweit 9 ff., 36 ff., 41, 42, 43, 44 f., 46, 49, 50, 71, 125
Vereinigung für Verfassungsgeschichte Satzung § 1
Die Vereinigung für Verfassungsgeschichte stellt sich die Aufgabe: 1. wissenschaftliche Fragen aus der Verfassungsgeschichte, einschl. der Verwaltungsgeschichte, durch Referate und Aussprache in Versammlungen ihrer Mitglieder zu klären;
2. Forschungen in diesem Bereich zu fördern; 3. auf die ausreichende Berücksichtigung der Verfassungsgeschichte im Hochschulunterricht sowie bei staatlichen und akademischen Prüfungen hinzuwirken. § 2
Gründungsmitglieder der Vereinigung sind diejenigen Personen, die zur Gründungsversammlung am 4. 10. 1977 in Hofgeismar eingeladen worden sind und schriftlich ihren Beitritt erklärt haben. § 3
1. Mitglied der Vereinigung kann werden: wer a) auf dem Gebiet der Verfassungsgesdüchte, einschl. der Verwaltungsgeschichte, seine Befähigung zu selbständiger Forschung durch entsprechende wissenschaftliche Veröffentlichungen nachgewiesen hat und b) an einer Universität bzw. gleichgestellten wissenschaftlichen Hochschule oder Hochschuleinrichtung als selbständiger Forscher und Lehrer, an einem wissenschaftlichen Forschungsinstitut als selbständiger Forscher oder im Archivdienst tätig ist.
2. Das Aufnahmeverfahren wird durch schriftlichen Vorschlag von drei Mitgliedern der Vereinigung eingeleitet. Ist der Vorstand einstimmig der Auffassung, daß die Voraussetzungen für den Erwerb der Mitgliedschaft erfüllt sind, so verständigt er in einem Rundschreiben die Mitglieder von seiner Absicht, dem Vorgeschlagenen die Mitgliedschaft anzutragen. Erheben mindestens fünf Mitglieder binnen Monatsfrist gegen die Absicht des Vorstandes Einspruch oder beantragen sie mündliche Erörterung, so beschließt die Mitgliederversammlung über die Aufnahme. Die Mitgliederversammlung beschließt ferner, wenn sich im Vorstand Zweifel erheben, ob die Voraussetzungen der Mitgliedschaft erfüllt sind. 3. In besonders begründeten Ausnahmefällen kann Mitglied der Vereinigung auch werden, wer die Voraussetzungen nach Abs. 1 lit. b nicht erfüllt. In
Satzung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte
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diesem Falle wird das Aufnahmeverfahren durch näher begründeten schriftlichen Vorschlag von fünf Mitgliedern der Vereinigung eingeleitet. Über die Aufnahme entscheidet nach Stellungnahme des Vorstandes die Mitgliederversammlung mit 2 /s-Mehrheit der anwesenden Mitglieder. § 4
Die ordentliche Mitgliederversammlung soll regelmäßig alle zwei Jahre an einem vom Vorstand bestimmten Ort zusammentreten. In dringenden Fällen können außerordentliche Versammlungen einberufen werden. Auf Verlangen von 1/s der Mitglieder ist der Vorstand verpflichtet, eine außerordentliche Mitgliederversammlung unverzüglich einzuberufen. Auf jeder ordentlichen Mitgliederversammlung muß mindestens ein wissenschaftlicher Vortrag mit anschließender Aussprache gehalten werden. § 5
Der Vorstand der Vereinigung besteht aus einem Vorsitzenden und zwei Stellvertretern. Die Vorstandsmitglieder teilen die Geschäfte untereinander nach eigenem Ermessen. Der Vorstand wird am Schluß jeder ordentlichen Mitgliederversammlung neu gewählt; einmalige Wiederwahl ist zulässig. Der alte Vorstand bleibt bis zur Wahl eines neuen Vorstandes im Amt. Zur Vorbereitung der Mitgliederversammlung kann sich der Vorstand durch Zuwahl anderer Mitglieder verstärken. Auch ist Selbstergänzung zulässig, wenn ein Mitglied des Vorstandes in der Zeit zwischen zwei Mitgliederversammlungen ausscheidet. § 6
Der Beirat der Vereinigung besteht aus fünf Mitgliedern; die Mitgliederzahl kann erhöht werden. Der Beirat berät den Vorstand bei der Festlegung der Tagungsthemen und der Auswahl der Referenten. Die Mitglieder des Beirats werden von der Mitgliederversammlung auf vier Jahre gewählt. § 7
Zur Vorbereitung ihrer Beratungen kann die Mitgliederversammlung, in eiligen Fällen auch der Vorstand, besondere Ausschüsse bestellen. § 8
Zu Eingaben in den Fällen des § 1 Ziff. 2 und 3 und über öffentliche Kundgebungen kann nach Vorbereitung durch den Vorstand oder einen Ausschuß auch im Wege schriftlicher Abstimmung der Mitglieder beschlossen werden. Ein solcher Beschluß bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder; die Namen der Zustimmenden müssen unter das Schriftstück gesetzt werden. § 9 Der Mitgliedsbeitrag wird von der Mitgliederversammlung festgesetzt. Der Vorstand kann den Beitrag aus Billigkeitsgründen erlassen.
Verzeichnis der Mitglieder (Stand: 1. Oktober 1978) Vorstand 1. Quaritsch, Dr. Helmut, Professor, Otterstadter Weg 139, 6720 Speyer
(Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer) Tel.: 0 62 32 I 3 26 37
2. Baumgart, Dr. Peter, Professor, Am Pfad 15, 8706 Höchberg (Universität Würzburg), Tel.: 09 31 I 4 84 35 3. Engelbert, Dr. Günther, Gartenstraße 20, 4930 Detmold (Staatsarchiv Detmold), Tel.: 0 52 31/2 15 10
Beirat 1. Ableitinger, Dr. Alfred, St. Peter-Hauptstraße 31 bl20, A-8042 Graz (Uni-
versität Graz, Historisches Institut)
2. Birke, Dr. Adolf M., Pariser Straße 20, 1000 Berlin 15 (Freie Universität Berlin) 3. Dietrich, Dr. Richard, Professor, Heerstraße 132, 1000 Berlin 19, Tel.: o 30 13 o4 45 43 4. Grube, Dr. Walter, Professor, Hangleiterstraße 2, 7000 Stuttgart 1 5. Kleinheyer, Dr. Gerd, Professor, Steinergasse 58, 5305 Alfter (Institut für Deutsche und Rheinische Rechtsgeschichte Bann) 6. Scheuner, Dr. Ulrich, Professor, Römerstraße 118, 5300 Bann (Universität Bann)
Mitglieder 1. Ableitinger, Dr. Alfred, St. Peter-HauptstraBe 31 bl20, A-8042 Graz (Uni-
versität Graz, Historisches Institut)
2. Badura, Dr. Peter, Professor, Habsburgerstraße 2, 8000 München 40 3. Barmeyer, Dr. Heide,Privatdozentin, Mars-La-Tour-Str. 4, 3000 Hannover (Technische Universität Hannover) Tel.: 05 11 I 85 18 87 4. Baumgart, Dr. Peter, Professor, Am Pfad 15, 8706 Höchberg (Universität Würzburg) 5. Behr, Dr. Hans-Joachim, Dorotheenstraße 19, 4400 Münster, Tel.: 02 51 I 6 45 06 (Staatsarchiv Münster) 6. Birke, Dr. Adolf M., Pariser Straße 20, 1000 Berlin 15 (Freie Universität Berlin)
Verzeichnis der Mitglieder
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7. Böckenförde, Dr. Ernst-Wolfgang, Professor, Türkheimstraße 1, 7801 Au bei Freiburg, Tel.: 07 61 I 40 56 23 (Universität Freiburg) 8. Boldt, Dr. Hans, Professor, Jahnstraße 31, 6945 Großsachsen, Tel.: 06 21 I 5 15 88 (Universität Mannheim) 9. Borck, Dr. Heinz-Günther, Am Steine 7, 3200 Hildesheim (Stadtarchiv und Stadtbibliothek) 10. Botzenhart, Dr. Manfred, Professor, Michaelstraße 42, 4401 Havixbeck, Tel.: 0 25 07 I 71 46 (Universität Münster) 11. Brandt, Dr. Hartwig, Privatdozent, Krummbogen 28 c, 3550 Marburg (Universität Marburg) 12. Brauneder, Dr. Wilhelm, Professor Mag., Herzogbergstraße 37, A-2345 Brunn am Gebirge (Universität Wien) 13. Dietrich, Dr. Richard, Professor, Heerstraße 132, 1000 Berlin 19, Tel.: o 30 I 3 o4 45 43 14. Dilcher, Dr. Gerhard, Professor, Kuckucksweg 18, 6240 KönigsteiniTs. (Universität Frankfurt) 15. Duchhardt, Dr. Heinz, Professor, Postfach 3980, Saarstraße 21, 6500 Mainz (Universität Mainz) 16. Engelbert, Dr. Günther, Gartenstraße 20, 4930 Detmold (Staatsarchiv Detmold), Tel.: 0 52 31 I 2 15 10 17. Friauf, Dr. Karl Heinrich, Professor, Eckertstraße 4, 5000 Köln 41 (Institut für Staatsrecht der Universität Köln) 18. Frotscher, Dr. Werner, Professor, Hundersingerstraße 11, 7000 Stuttgart 70 (Universität Hohenheim) 19. GaU, Dr. Lothar, Professor, Gräfstraße 76 IV- V, 6000 Frankfurt a. M. (Historisches Seminar der Universität) 20. Gangl, Dr. Hans, Professor, Universitätsplatz 3, A-8010 Graz (Institut für öffentliches Recht, Politikwissenschaft und Verwaltungslehre an der Universität Graz) 21. Grawert, Dr. Ralf, Professor, Universitätsstraße 150, Gebäude GC 81147, Postfach 2148, 4630 Bochum-Querenburg (Ruhr-Universität Bochum) 22. Grube, Dr. Walter, Professor, Hangleiterstraße 2, 7000 Stuttgart 1 23. Hartlieb v. Wallthor, Dr. Alfred, Gutenbergstraße 2, 4400 Münster, Tel.: 02 51 I 3 58 23 (Provinzialinstitut für westfälische Landes- und Volksforschung Münster) 24. Hecke!, Dr. Martin, Professor, Liesehingstraße 3, 7400 Tübingen 25. Hofmann, Dr. Hasso, Professor, Breslauer Straße 15, 8521 Uttenreuth (Universität Würzburg) 26. Hake, Dr. Dr. Rudolf, Professor, Dr. Karl Lueger-Ring 1, Universität, A-1010 Wien (Universität Wien) 27. Huber, Dr. Ernst Rudolf, Professor, In der Röte 2, 7800 Freiburg-Zähriogen i. Br. 28. Ishibe, Dr. Masasuke, Professor, TaunusstraBe 8, 1000 Berlin 33 (Universität Osaka City, z. Zt. Freie Universität Berlin)
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Verzeichnis der Mitglieder
29. Ishikawa, Dr. Takeshi, Professor, TaunusstraBe 8, 1000 Berlin 33 (z. Zt. Universität Berlin) 30. Janssen, Dr. Wilhelm, Kalkstraße 14 a, 4000 Düsseldorf 31 (Hauptstaatsarchiv Düsseldorf) 31. Kimminich, Dr. Otto, Professor, Killermannstraße 6, 8400 Regensburg 32. Kleinheyer, Dr. Gerd, Professor, Steinergasse 58, 5305 Alfter (Institut für Deutsche und Rheinische Rechtsgeschichte, Universität Bonn) 33. Koselleck, Dr. Reinhart, Professor, Stieghorsterstraße 70, 4800 Bielefeld (Universität Bielefeld) 34. Kroeschell, Dr. Karl, Professor, Werthmannplatz, 7800 Freiburg i. Br. (Universität Freiburg) 35. Landwehr, Dr. Götz, Professor, Schlüterstraße 28, 2000 Harnburg 13 (Universität Hamburg) 36. Laufs, Dr. Adolf, Professor, Hainsbachweg 6, 6900 Heidelberg (Universität Heidelberg) 37. Link, Dr. Christoph, Professor, Mönchsberg 17, A-5020 Salzburg 38. Malettke, Dr. Klaus, Professor, Nienkemperstr. 46 a, 1000 Berlin 37 (Freie Universität Berlin) 39. Menger, Dr. Chr.-Fr., Professor, Vredenweg 14, 4400 Münster/Westf. 40. Morsey, Dr. Rudolf, Professor, Blumenstraße 5, 6730 Neustadt 22 (Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer) 41. Mußgnug, Dr. Reinhard, Professor, Keplerstraße 40, 6900 Heidelberg 42. Naujoks, Dr. Eberhard, Professor, Wildermuthstraße 32, 7400 Tübingen (Universität Tübingen) 43. Press, Dr. Volker, Professor, Otto-Behaghel-Straße 10 C 1, 6300 Giessen (Universität Giessen) 44. Quaritsch, Dr. Helmut, Professor, Otterstadter Weg 139, 6720 Speyer (Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer) Tel.: 0 62 32 I 3 26 37 45. Randelzhofer, Dr. Albrecht, Professor, VanT-Hoff-Str. 8, 1000 Berlin 33 (Freie Universität Berlin) 46. Scupin, Dr. H. U., Professor, Robert-Koch-Straße 46, 4400 Münster/Westf. 47. Sprandel, Dr. R., Professor, 6 rue Eduard Detaille, 921 Boulogne-surSeine, Frankreich 48. Scheuner, Dr. Ulrich, Professor, Römerstraße 118, 5300 Bonn (Universität Bonn) 49. Schlaich, Dr. Klaus, Professor, Wolkenburgstraße 2, 5205 St. Augustin 2 (Universität Bonn) 50. Schlenke, Dr. Manfred, Professor, Friedensstraße 13, 6149 Hirnbach (Universität Mannheim, Historisches Institut) 51. Schmitt, Dr. Eberhard, Professor, Feldkirchenstraße 21, 8600 Bamberg (Universität Bamberg) 52. Schneider, Dr. Hans, Professor, Friedrich-Ebert-Anlage 6- 10, 6900 Heidelberg (Universität Heidelberg, Juristisches Seminar)
Verzeichnis der Mitglieder
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53. Schneider, Dr. Hans-Peter, Professor, Hanomagstr. 8, 3000 Hannover 91 (Technische Universität Hannover) 54. Schott, Dr. Clausdieter, Professor, Dorfstraße 37, CH-8126 Zumikon (Universität Zürich) 55. Schubert, Dr. Werner, Professor, Olshausenstraße, 2300 Kiel 56. Schulz, Dr. Gerhard, Professor, Wilhelmstraße 36, 7400 Tübingen (Universität Tübingen) 57. Stolleis, Dr. Michael, Professor, Waldstr. 15, 6242 Kronberg 2 (Universität Frankfurt) 58. Stourzh, Dr. Gerald, Professor, Luegerring 1, A-1010 Wien 59. von Unruh, Dr. jur. Georg-Christoph, Professor, Steenkamp 2, 2305 Kitzeberg (Universität Kiel) 60. Wadle, Dr. Elmar, Professor, Universitätsstraße, 4800 Bielefeld 1 (Universität Bielefeld) 61. Wahl, Dr. Rainer, Professor, Sundgauallee 46, 7800 Freiburg (Universität Freiburg), Tel.: 07 61 I 8 58 71 62. Weis, Dr. Eberhard, Professor, Ainmillerstraße 8/11, 8000 München 40 (Universität München) 63. Willoweit, Dr. Dietmar, Professor, Pfleidererstraße 7, 1000 Berlin 45 (Freie Universität Berlin)