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German Pages [85] Year 2019
Werner Bohleber
Von der Orthodoxie zur Pluralität Kontroversen über Schlüsselbegriffe der Psychoanalyse
Herausgegeben von Franz Resch und Inge Seiffge-Krenke
Werner Bohleber
Von der Orthodoxie zur Pluralität – Kontroversen über Schlüsselbegriffe der Psychoanalyse
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Paul Klee, Betroffener Ort, 1922/akg-images Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2566-6401 ISBN 978-3-666-40388-0
Inhalt
Vorwort zur Reihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Vorwort zum Band . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Teil I: K ontroversen über den Pluralismus, die Metapsycho‑ logie und die Frage einer konzeptuellen Integration . . . . 13 Die Etablierung des Pluralismus in der Psychoanalyse . . . . . . . . . 13 Die Kontroversen um den Pluralismus der Theorien . . . . . . . . . . 19 Kontroversen um die psychoanalytische Metapsychologie . . . . . . 24 Das Konzept der unbewussten Phantasien und die Frage, ob eine Integration kontroverser Theorien möglich ist . . . . . . . . . 26 Teil II: Die Bedeutung von Kontroversen bei der Entwicklung zentraler psychoanalytischer Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . 35 1 Das Konzept des Unbewussten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Die Konzeption des Unbewussten bei Sigmund Freud . . . . . . . . . 35 Das psychodynamische Unbewusste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Das nichtverdrängte Unbewusste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Das traumatisch-dissoziative Unbewusste . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Das kreative und das romantische Unbewusste . . . . . . . . . . . . . . 43 2 Das Konzept der Übertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Freuds Verständnis der Übertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Übertragung und die Kontroverse um die Funktion lebens geschichtlicher Erinnerung im analytischen Prozess . . . . . . . . . . . 46 5
Die Kontroverse um die Übertragung und die Erkenntnishaltung des Analytikers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Übertragung und Zwei-Personen-Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . 55 3 Das Konzept der Gegenübertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Die Entwicklung des Konzepts der Gegenübertragung in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Die Entwicklung des Konzepts der Gegenübertragung in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Gegenübertragung, projektive Identifizierung und unbewusste Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 4 Das Konzept des Traumas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Die Kontroverse zwischen dem psychoökonomischen und dem objektbeziehungstheoretischen Verständnis des Traumas . 64 Das Problem der Rekonstruktion von traumatischen Erinnerungen in der analytischen Behandlung . . . . . . . . . . . . . . 70 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76
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Inhalt
Vorwort zur Reihe
Zielsetzung von PSYCHODYNAMIK KOMPAKT ist es, alle psychotherapeutisch Interessierten, die in verschiedenen Settings mit unterschiedlichen Klientengruppen arbeiten, zu aktuellen und wichtigen Fragestellungen anzusprechen. Die Reihe soll Diskussionsgrundlagen liefern, den Forschungsstand aufarbeiten, Therapieerfahrungen vermitteln und neue Konzepte vorstellen: theoretisch fundiert, kurz, bündig und praxistauglich. Die Psychoanalyse hat nicht nur historisch beeindruckende Modellvorstellungen für das Verständnis und die psychotherapeutische Behandlung von Patienten hervorgebracht. In den letzten Jahren sind neue Entwicklungen hinzugekommen, die klassische Konzepte erweitern, ergänzen und für den therapeutischen Alltag fruchtbar machen. Psychodynamisch denken und handeln ist mehr und mehr in verschiedensten Berufsfeldern gefordert, nicht nur in den klassischen psychotherapeutischen Angeboten. Mit einer schlanken Handreichung von 70 bis 80 Seiten je Band kann sich die Leserin, der Leser schnell und kompetent zu den unterschiedlichen Themen auf den Stand bringen. Themenschwerpunkte sind unter anderem: ȤȤ Kernbegriffe und Konzepte wie zum Beispiel therapeutische Haltung und therapeutische Beziehung, Widerstand und Abwehr, Interventionsformen, Arbeitsbündnis, Übertragung und Gegenübertragung, Trauma, Mitgefühl und Achtsamkeit, Autonomie und Selbstbestimmung, Bindung. ȤȤ Neuere und integrative Konzepte und Behandlungsansätze wie zum Beispiel Übertragungsfokussierte Psychotherapie, Schematherapie, Mentalisierungsbasierte Therapie, Traumatherapie, internet7
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basierte Therapie, Psychotherapie und Pharmakotherapie, Ver haltenstherapie und psychodynamische Ansätze. Störungsbezogene Behandlungsansätze wie zum Beispiel Dissoziation und Traumatisierung, Persönlichkeitsstörungen, Essstörungen, Borderline-Störungen bei Männern, autistische Störungen, ADHS bei Frauen. Lösungen für Problemsituationen in Behandlungen wie zum Beispiel bei Beginn und Ende der Therapie, suizidalen Gefährdungen, Schweigen, Verweigern, Agieren, Therapieabbrüchen; Kunst als therapeutisches Medium, Symbolisierung und Kreativität, Umgang mit Grenzen. Arbeitsfelder jenseits klassischer Settings wie zum Beispiel Supervision, psychodynamische Beratung, Soziale Arbeit, Arbeit mit Geflüchteten und Migranten, Psychotherapie im Alter, die Arbeit mit Angehörigen, Eltern, Familien, Gruppen, Eltern-SäuglingsKleinkind-Psychotherapie. Berufsbild, Effektivität, Evaluation wie zum Beispiel zentrale Wirkprinzipien psychodynamischer Therapie, psychotherapeutische Identität, Psychotherapieforschung.
Alle Themen werden von ausgewiesenen Expertinnen und Experten bearbeitet. Die Bände enthalten Fallbeispiele und konkrete Umsetzungen für psychodynamisches Arbeiten. Ziel ist es, auch jenseits des therapeutischen Schulendenkens psychodynamische Konzepte verstehbar zu machen, deren Wirkprinzipien und Praxisfelder aufzuzeigen und damit für alle Therapeutinnen und Therapeuten eine gemeinsame Verständnisgrundlage zu schaffen, die den Dialog befördern kann.
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Franz Resch und Inge Seiffge-Krenke
Vorwort zur Reihe
Vorwort zum Band
Kontroversen kennzeichnen eine lebendige Wissenschaft. Da die Psychoanalyse sich in ihren methodischen Ansätzen zwischen »einer biologisch begründeten Naturwissenschaft und einem hermeneutischen Verfahren« bewegt, »das das Unbewusste und seine Konflikte zu verstehen sucht«, gehören wissenschaftliche Auseinandersetzungen zu ihrem »Mutterboden«. Aus der Reflexion der klinischen Realität entwickelte sich eine »unüberschaubare Vielfalt« von Ideen und Konzepten, die bis in die epistemischen Grundfragen von Beginn an konflikthaft diskutiert wurden. Das hat zur Befürchtung Anlass gegeben, die Psychoanalyse könnte daran zerbrechen. Auch die Akzeptanz eines Pluralismus in der Psychoanalyse löst das Problem nicht, dass unterschiedliche theoretische Konzepte zu teils kontroversen klinischen Schlussfolgerungen führen können. In einem ideenreichen und historisch fundierten ersten Teil werden die Kontroversen über den Pluralismus dargelegt, die unterschiedlichen Facetten einer Metapsychologie diskutiert und die Frage einer konzeptuellen Integration angesprochen. Triebpsychologische, Ich-psychologische, objektbeziehungspsychologische und selbstpsychologische Theoriesysteme kommen dabei zu Wort. Bleibt die Integration der psychoanalytischen Konzepte ein Ideal, an dem wir im Bewusstsein festhalten, dass es niemals erreicht werden kann? Der zweite Teil stellt vier ausgewählte Kontroversen vor, die bei der Entwicklung zentraler psychoanalytischer Konzepte bedeutsam waren und sind. Das Konzept des Unbewussten wird in seinen historischen Beschreibungen heutigen traumabezogenen Vorstellungen, gedächtnispsychologischen Überlegungen und einem »kreativen 9
Unbewussten« gegenübergestellt. Es ist unübersehbar, dass unser Wissen über das Unbewusste einen hohen Komplexitätsgrad erreicht hat. Auch das Konzept der Übertragung wird in seinen Kontroversen um die Funktion lebensgeschichtlicher Erinnerung und die Erkenntnishaltung des Analytikers tiefgründig durchleuchtet. Das Konzept der Gegenübertragung hat in Amerika und Europa einen unterschiedlichen ideengeschichtlichen Verlauf genommen. Schließlich wird das Konzept des Traumas im Spannungsfeld zwischen psychoökonomischen und objektbeziehungstheoretischen Erklärungen erörtert. Können traumatische Erinnerungen im Therapieprozess rekonstruiert werden? Dieses Buch entstand auf dem Boden eines in seiner Perspektivenfülle überaus kenntnisreichen und diversifizierten ideengeschichtlichen Wissensschatzes, den der Autor in seine Darstellungen mitbringen konnte. Eine so differenzierte Analyse der wichtigsten Kontroversen in der Psychoanalyse auf engstem Raum kann als schriftstellerische Meisterleistung angesehen werden. Ein absolut lesenswertes, spannendes und grundlegendes Buch zum Thema.
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Franz Resch und Inge Seiffge-Krenke
Vorwort zum Band
Einleitung
Wissenschaftliche Kontroversen gibt es in jeder Wissenschaft. Sie sind Zeichen lebendiger Forschung und einer damit verbundenen wissenschaftlichen Auseinandersetzung über Ergebnisse, Konzepte, Theorien und Grundprobleme der jeweiligen Disziplin. Das Unbewusste als Gegenstand der Psychoanalyse ist kein direkt beobachtbarer Erfahrungsbergriff, sondern es muss aus anderen psychologischen Sachverhalten erschlossen werden. Mit ihrer Methodik bewegt sich die Psychoanalyse zwischen einer biologisch begründeten Naturwissenschaft und einem hermeneutischen Verfahren, das das Unbewusste und seine Konflikte zu verstehen sucht. Beide Sachverhalte haben wissenschaftliche Auseinandersetzungen innerhalb der Psychoanalyse in hohem Maße befördert. Die Klinik und das klinische Denken ist der Mutterboden der Psychoanalyse. Obwohl sie stets mehr war als eine therapeutische Methode, entstammen die meisten ihrer Konzepte und Theorien aus der Reflexion der klinischen Realität. Das klinische Feld der Psychoanalyse hat sich im Laufe ihrer Entwicklung enorm ausdifferenziert. Je nach Fokussierung auf bestimmte Phänomene wurden diese mithilfe stark differierender Grundannahmen konzeptualisiert und in theoretische Modelle eingeordnet, woraus sich dann psychoanalytische Schulen gebildet haben. Die daraus entstandene nahezu unüberschaubare Vielfalt von Ideen, Konzepten und Theorien ist zum Problem geworden, weil sie widersprüchliche oder inkompatible Feststellungen über dieselben Phänomene enthalten. Auch um die epistemologischen Grundfragen ist von Anfang an gestritten worden. Die Sorge um die Fragmentierung der Psychoanalyse nahm seit den 1980er Jah11
ren dramatisch zu. Die Lösung der Probleme schien in der Akzeptanz eines Pluralismus zu liegen, der für alle mehr oder weniger konsensfähig war. Dieser als befreiend erlebte Aspekt führte aber nicht zu einem methodisch begründeten Feld argumentativer Auseinandersetzung, sondern eher zu einer »Pluralität der Orthodoxien« (Cooper, 2001). Die psychoanalytische Gemeinschaft spaltete sich mehr und mehr in Subcommunitys auf, und schulenübergreifende Auseinandersetzungen verloren an Bedeutung. Sie sind aber notwendig, auch wenn sich die Suche nach Konvergenzen differierender Konzepte als mühsam und Divergenzen als schwer oder gar nicht überbrückbar erwiesen haben. Die Entwicklung von Kontroversen über zentrale Begriffe der Psychoanalyse ist das Thema dieses Bandes, wobei eine Auswahl getroffen und Schwerpunkte in der Darstellung gesetzt werden mussten. Eine Leitlinie dafür war es, aufzuzeigen, wie sich in den kontroversen Positionen eine Komplexität ausdifferenzierte, die den jeweiligen klinischen Phänomenen inhärent war. Der Umfang des Bandes setzte der Darstellung Grenzen. Für ein detaillierteres Interesse an den aufgeworfenen Fragestellungen muss auf die jeweils im Text angegebene weiterführende Literatur verwiesen werden.
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Einleitung
Teil I: K ontroversen über den Pluralismus, die Metapsychologie und die Frage einer konzeptuellen Integration
Die Etablierung des Pluralismus in der Psychoanalyse Psychoanalyse erhebt den Anspruch, eine Wissenschaft des Unbe wussten zu sein und über eine umfassende und reichhaltige Theorie des menschlichen Seelenlebens zu verfügen. Sie hat sich nicht in erster Linie auf dem Feld der Universitäten entfaltet, sondern in einer psychoanalytischen Bewegung, die sich 1910 mit der Gründung der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) eine berufsständische Vereinsstruktur gab, eine Ausbildung zum Psychoanalytiker aufbaute, über eigene wissenschaftliche Zeitschriften verfügte und eigene Tagungen und Diskussionsforen organisierte. Diese Organisationsform sicherte einerseits Wachstum und Verbreitung der Psychoanalyse, andererseits schuf sie einige grundlegende Probleme der Psychoanalyse, mit denen wir uns bis heute auseinandersetzen müssen (vgl. dazu Makari, 2008). Die Frage, inwieweit es möglich ist, ein konsistentes psychoanalytisches Theoriegebäude zu errichten, verfolgt die Psychoanalyse von Anfang ihrer Institutionalisierung an. Zu seinen Lebzeiten war Freud für die psychoanalytische Bewegung der Garant der Wahrheit der psychoanalytischen Erkenntnisse. Mit den »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« (1905d) hatte Freud den entscheidenden Baustein für seine Theorie der Psychosexualität und der grundlegenden Bedeutung der infantilen Sexualität, die im Ödipuskomplex kulminierte, gefunden und formuliert. Auch hatte sich die psychoanalytische Behandlungsmethode als Technik zur Behandlung von 13
Psychoneurosen etabliert. Aber schon bald nach Gründung der IPV eskalierten die theoretischen Differenzen mit Alfred Adler, der mehr eine Theorie des vorbewussten Ichs als eine des Unbewussten favorisierte und die Aggression als Triebstrebung gegenüber der Sexualität bevorzugte. Zudem betonte Adler die Geschwisterrivalität mehr als den Ödipuskomplex. Nach mehreren Debatten kam es schließlich 1911 zum endgültigen Bruch mit Adler. Auch die persönlichen und wissenschaftlichen Differenzen mit Carl Gustav Jung eskalierten seit 1910. Jung hatte sich zunehmend seinen mythologischen Forschungen zugewandt und sich dann in »Wandlungen und Symbole der Libido« (1912) von Freuds psychosexueller Libidotheorie und der infantilen Sexualität abgewandt. 1913 kam es zum endgültigen Bruch mit Freud. Diese ganze Entwicklung hatte den Charakter eines Reinigungsprozesses. Die in der IPV verbleibende Gruppe hatte sich in eine homogene freudianische Bewegung gewandelt, die die Psychoanalyse auf der theoretischen Basis der Psychosexualität begründete. Alle freudianischen Anhänger, die diese oder andere Teile von Freuds Entdeckungen und Theorien nicht geteilt hatten, waren verschwunden. Die Loyalität gegenüber Freud wurde zu einem zentralen Identitätsmerkmal der Psychoanalytiker innerhalb der IPV.1 Aber Freud war kein dogmatischer Denker. Mit seiner analytischen Methode, den Regeln der freien Assoziation des Patienten und der gleichschwebenden Aufmerksamkeit des Analytikers sowie der Entdeckung von Übertragung und Widerstand hatte Freud einen Raum geschaffen, in dem die Innenwelt des Menschen erforscht werden konnte. Die Breite der Phänomene, die Freud untersuchte, hatte eine Reichhaltigkeit klinischer Beobachtungen und kultureller Analysen zur Folge, die in den verschiedenen Phasen seines Schaffens zu unterschiedlichen theoretischen Konzeptionen führte, wobei Freud jedoch seine triebtheoretischen Grundüberzeugungen und die Konzeption 1 Zum Verständnis der Dissidenz in der Psychoanalyse umfassend Bergmann (2004). 14
Teil I: Kontroversen
der Psychoanalyse als einer biologisch begründeten Naturwissenschaft stets durchhielt. Freud hat nicht versucht, die Widersprüche und Inkonsistenzen, die sich daraus ergaben, zu begradigen oder in ein widerspruchsfreies System umzuwandeln. Auf diese Weise hat Freud zwei Modelle des Seelenlebens – oder, wie er es nannte, des psychischen Apparates – formuliert. Das erste und frühere topografische Modell (1915e) unterscheidet drei Systeme: das Unbewusste, das Vorbewusste und das Bewusste. Jedes System hat seine Funktionen, seine Abwehrformen und seine Besetzungsenergie. Der Übergang seelischen Materials von einem System zum anderen wird durch Zensoren kontrolliert. Vorstellungen, Erinnerungen und Verhaltensweisen werden auf diese Weise verschiedenen psychischen Orten zugewiesen. Durch seine therapeutischen Erfahrungen fühlte sich Freud nach und nach gezwungen, das Ich, seine Funktionen und Abwehroperationen neu zu bedenken. Im topografischen Modell war das Ich noch als eine psychische Instanz gedacht worden, die ihren Platz in den Systemen von Vorbewusst und Bewusst hatte. Jetzt musste Freud aber erkennen, dass die Abwehroperationen des Ichs weithin unbewusst sind. Ähnlich erging es ihm bei der Analyse des Schuldbewusstseins und der Versagung von Wünschen, auch hier agierte das involvierte Über-Ich unbewusst. All das führte zur Revision seines ersten topischen Modells und zur Formulierung eines zweiten, des sogenannten Strukturmodells mit seinen Instanzen Ich, Es und Über-Ich (1923b). Da Teile des Ichs und Über-Ichs unbewusst sind, verliert die Trennung der psychischen Systeme entlang der Achsen von bewusst und unbewusst ihren fundamentalen Charakter. Das Es, als Reservoir der Triebe, beinhaltet nicht mehr die Gesamtheit des psychisch Unbewussten. Eine Entscheidung, die in der Folge immer wieder in theoretische Schwierigkeiten führte und dazu zwang, auf das topische Modell zurückzugreifen. Auch rückte mit dem Strukturmodell das Ich, seine Entwicklung und seine Abwehrmechanismen ins Zentrum einer sich ausbildenden Ich-Psychologie, wodurch das Unbewusste als zentrales Thema in den Hintergrund geriet. Die Etablierung des Pluralismus in der Psychoanalyse
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In der Folge entstanden deshalb Gegenbewegungen. Mit ihrer Theorie der inneren Objekte und früher Spaltungsprozesse rückten Melanie Klein und ihre Schule das Unbewusste wieder in den Mittelpunkt des klinischen und theoretischen Denkens. Sie übernahm auch Freuds Konzept des Todestriebs und formulierte daraus ihre eigene Theorie archaischer Destruktivität. Klein fühlte sich als die wahre Erbin Freuds, die sein Werk fortführte, während andere Psychoanalytiker und Psychoanalytikerinnen, vor allem Anna Freud und die Wiener Gruppe, die Freud persönlich näherstanden, die Todestriebtheorie als viel zu spekulativ ablehnten. Sie entwickelten das Ich-psychologische Paradigma weiter, das Freud mit seinen Arbeiten »Das Ich und das Es« (1923b) und mit »Hemmung, Symptom und Angst« (1926d) initiiert hatte. Anna Freud hatte in ihrem 1936 publizierten Buch »Das Ich und die Abwehrmechanismen« die Prozesse beschrieben, mit denen sich das Ich etabliert und durch Abwehrprozesse die inneren Triebe in Dienst nimmt oder sich vor ihnen zu schützen sucht. In den 1940er und 1950er Jahren haben dann Heinz Hartmann und David Rapaport in den USA diese Linie zum Ich-psychologischen Paradigma der Psychoanalyse weiterentwickelt. Die französische Psychoanalyse wiederum setzte sich im Gefolge von Jacques Lacan unter dem Leitgedanken »zurück zu Freud« von der amerikanischen Ich-Psychologie ab. In London waren die divergierenden psychoanalytischen Richtungen – auf der einen Seite Melanie Klein mit ihren Schülern und auf der anderen Seite die nach London emigrierten Wiener Psychoanalytiker um Anna Freud – während des Zweiten Weltkriegs in den sogenannten »Controversial Discussions« aufeinandergeprallt (King u. Steiner, 1996). Dabei wurde offensichtlich, dass nach dem Tod von Sigmund Freud Vorstellungen und Konzepte, in denen die Psychoanalytiker unterschiedlicher Auffassung waren, in einem enormen Ausmaß zugenommen hatten. In den Debatten standen die unbewussten Phantasien im Zentrum ebenso wie die Frage, ob diese schon von Beginn der menschlichen Entwicklung an vorzufinden seien. An die Stelle des Mechanismus der Verdrängung traten jetzt die Mechanis16
Teil I: Kontroversen
men von Introjektion und Projektion und die Frage, inwieweit sie schon in der Frühzeit des Säuglings aktiv sein können. Ebenso war strittig, ob die Aggression gegenüber der Libido der primärere Trieb ist und ob die Entwicklung des Kindes von der paranoiden zu einer depressiven Position verläuft und nicht entlang der Phasen oral, anal, phallisch-genital. Auch wurde infrage gestellt, dass das Über-Ich ein Produkt des Ödipuskomplexes sei, und angenommen, dass es sich schon viel früher etabliert. In all diesen Fragen erzielten die Diskutanten trotz intensiver Auseinandersetzung keine Einigung. Aber verglichen mit den früheren Abspaltungen von Adler, Jung und Rank war das Neue und fundamental Andersartige bei diesen Controversial Discussions, dass die Psychoanalyse Melanie Kleins und ihrer Schüler nicht zu einer Abspaltung von der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft und damit von der IPV führte, sondern dass die tiefgehenden Differenzen akzeptiert und als solche anerkannt wurden. Die formale Lösung der Konflikte bestand darin, drei unterschiedliche Gruppen innerhalb der Britischen Gesellschaft zu etablieren, die jeweils nach ihren eigenen Grundsätzen Psychoanalytiker ausbilden konnten: Es waren die von Anna Freud geleitete Ich-psychologische Gruppe, die Kleinianer unter Leitung von Melanie Klein und die sogenannte Mittelgruppe der Objektbeziehungstheoretiker. Abgesehen von dieser britischen Lösung leitete die Entwicklung der kleinianischen psychoanalytischen Theorie einen graduellen Übergang der Psychoanalyse als einer von Sigmund Freud geschaffenen und relativ vereinheitlichten theoretischen Struktur zu einer Vielfalt von psychoanalytischen Theoriesystemen ein, die heute nebeneinander existieren und den Pluralismus in der Psychoanalyse begründen. Mit dem wachsenden, aber nicht vereinheitlichten Theoriegebäude konnte man zunehmend den einen Freud gegen den anderen ins Feld führen. Die psychoanalytischen Theorieentwürfe und metapsychologischen Konzeptionen diversifizierten sich immer weiter. Wilfred Bion erweiterte mit seiner eigenen Konzeption die kleinianische Psychoanalyse. Die britische Theorie der Objektbeziehungen wurde durch Die Etablierung des Pluralismus in der Psychoanalyse
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Fairbairn, Winnicott und Balint eigenständig ausgestaltet. In Frankreich schuf Lacan seine philosophisch-sprachtheoretische Konzeption der Psychoanalyse, und in Deutschland unterzogen Philosophen und Analytiker die Psychoanalyse einer wissenschaftstheoretischen Kritik und unterstellten ihrer naturwissenschaftlichen Ausrichtung ein »szientistisches Selbstmissverständnis« (Habermas). Daraus ging eine Reformulierung der Psychoanalyse als hermeneutisches Verfahren durch Lorenzer, Argelander und andere Analytiker hervor. In den USA bestimmten lange Zeit die Emigranten, die sich als die wahren Erben Freuds verstanden, mit der Ich-Psychologie die dortige Entwicklung. Die Ich-Psychologie beherrschte das analytische Feld mit einer geradezu monolithischen Hegemonie, bis auch hier neue und abweichende Theorierichtungen auftraten, die erste in den 1970er Jahren mit Heinz Kohuts Selbstpsychologie. Im Zuge dieser Entwicklungen verschob sich das Gewicht psychoanalytischer Untersuchung auch mehr und mehr auf die Erforschung von nichtneurotischen Störungen, von Borderline-Fällen, narzisstischen Störungen und Psychosen. Das brachte behandlungstechnische Probleme in die Debatten, die zu theoretischen und klinischen Innovationen führten, aber auch zu einer Verunsicherung, ob die psychoanalytische Methode für die Behandlung solcher Fälle überhaupt geeignet sein könne. Die letzte größere pluralistische Erweiterung waren dann der sogenannte »Relational Turn« und die Entwicklung einer relationalen Psychoanalyse, die ihre Vorläufer in Harry Stack Sullivans interpersonaler Psychiatrie hatte. Alle diese Entwicklungen ließen die Diversifizierung des psychoanalytischen Theoriegebäudes weiter fortschreiten, und alle Versuche einer Vereinheitlichung waren zum Scheitern verurteilt, ebenso wie die Absicht, sie durch Ausschlüsse zu bewerkstelligen. Lacan war der Letzte, der 1956 als Dissident aus der IPV ausgeschlossen wurde, wobei der Grund nicht in seinen abweichenden Theorien lag, sondern in seiner radikalen Verkürzung der Dauer der analytischen Sitzung. Arnold Cooper hat es 1984 als ein Zeichen des Erwachsenwerdens einer Wissenschaft bezeichnet, wenn sie bedeutende theoretische 18
Teil I: Kontroversen
Diskrepanzen und Uneinigkeiten nicht mehr durch Ausschluss lösen muss. Diesen Schritt zu wagen, war ein großer Fortschritt innerhalb der IPV, und die Selbstpsychologie Heinz Kohuts war so etwas wie ein Lackmustest dafür. Die Anerkennung der Pluralität wirkte einerseits als befreiender Fortschritt, andererseits brachte sie die Gefahr mit sich, die Suche nach Gemeinsamkeiten beim Gebrauch von Konzepten zu lähmen. Immer wieder stellte sich in wissenschaftlichen Diskussionen heraus, dass psychoanalytische Konzepte, auch fundamentale, in den jeweiligen Schulen aufgrund der unterschiedlichen spezifischen Denktraditionen und Kulturen oft völlig andere Bedeutungen aufwiesen. Die institutionalisierte Psychoanalyse befand sich, was ihre Wissenschaft betrifft, nach Meinung mancher Analytiker in einer Situation des Turmbaus von Babel.
Die Kontroversen um den Pluralismus der Theorien Der weitgespannte Pluralismus der Ideen, Theorien und Behandlungstechniken führte immer wieder in heftige, affektiv aufgeladene Debatten und Kontroversen innerhalb der psychoanalytischen Community, die nicht auflösbar waren. Die Frage, was denn das Gemeinsame sei, das alle verschiedenen Schulen als psychoanalytisch definiert und was sie von nichtpsychoanalytischen Theorierichtungen unterscheidet, blieb stets relevant, aber ungelöst. Es war vor allem Robert Wallerstein (1988, 1990, 2005), der sich dieses Problem zu eigen machte. Er versuchte aufzuweisen, dass die Psychoanalytiker trotz ihrer unterschiedlichen metapsychologischen Theorien über den Rahmen einer erfahrungsnahen gemeinsamen klinischen Theorie verfügen. Wallerstein war zu jener Zeit Präsident der IPV (1985– 1989) und nahm an Fallpräsentationen von Analytikern unterschiedlicher Schulrichtungen an vielen Orten der Welt teil. Dabei fand er heraus, dass die Analytiker und Analytikerinnen die klinisch beobachtbaren Phänomene der inneren und äußeren Welt, von Konflikt Die Kontroversen um den Pluralismus der Theorien
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und Kompromiss, von Impulsen und deren Abwehr, von Realität und Phantasie, von aufdeckenden Deutungen und notwendigen unterstützenden Interventionen in einer vergleichbaren Art und Weise zu verstehen suchten. Den dynamischen Rahmen dafür bildeten die therapeutischen Interaktionen innerhalb der Übertragungs-Gegenübertragungs-Matrix. Die gemeinsame erfahrungsnahe klinische Theorie transzendierte für Wallerstein alle individuellen Unterschiede in Stil, Temperament, Takt und Timing der Interventionen sowie der Auswahl des zu deutenden Materials. Die erfahrungsnahe klinische Theorie bildete für Wallerstein den gemeinsamen Boden (Common Ground), der Analytiker unterschiedlichster theoretischer Provenienz verbindet. Auf dieser soliden Basis könne dann – so Wallerstein – eine sorgfältig geformte und vereinheitlichte theoretische Struktur der Psychoanalyse als Wissenschaft aufgebaut werden. Diesen Weg waren in den 1970er Jahren schon George Klein (1976), Merton Gill (1976) und Roy Schafer (1976) gegangen, aber sie suchten der Psychoanalyse die allgemeinen und metapsychologischen Theorien auszutreiben und sie allein als eine klinische psychologische Theorie zu etablieren, die empirisch untersucht und getestet werden könne. Wallerstein dagegen war nicht gewillt, die allgemeineren, abstrakteren Theorien aufzugeben. Die metapsychologischen Theorien, mit denen wir die klinischen Phänomene zu erklären suchen, haben für Wallerstein allerdings nur den Status von wissenschaftlichen Metaphern, während die Konzepte der klinischen Theorie empirisch geprüft und verglichen werden können. Die allgemeineren Theorien sind dagegen noch nicht so ausformuliert, dass sie einem empirischen Test unterzogen und dadurch bestätigt oder verworfen werden können. Eine solche Entwicklung erhoffte sich Wallerstein für die Zukunft. Er hatte die Idee nicht aufgegeben, dass sich dadurch doch wieder eine relativ unifizierte generelle Theorie bilden könnte. Die eminenten Divergenzen der psychoanalytischen Theoriesysteme waren für ihn nicht das letzte Wort. In der neueren Entwicklung der Psychoanalyse fand er durchaus Konvergenzen, die ihn zu der Feststellung veranlassten, dass zumindest eine vereinheitlichende klinische Theorie möglich erscheine (2005). 20
Teil I: Kontroversen
Der Schwachpunkt von Wallersteins Konzeption lag darin, dass er einen gemeinsamen klinischen Boden unterschiedlicher psychoanalytischer Theoriesysteme nur deshalb unterstellen konnte, weil für ihn zwischen der erfahrungsnahen klinischen Theorie und den erfahrungsfernen, zwischen den Schulen differierenden allgemeinen metapsychologischen Theorien nur eine sehr lose Verbindung besteht und es keinen Kanon von Schlussfolgerungen gibt, der vorschreibt, wie die zwei Ebenen jeweils zu verbinden sind. Genau hier setzte die Kritik von André Green (2005) an, der bestritt, dass es eine klinische Einschätzung von Beobachtungen ohne eine dahinterstehende allgemeinere Theorie geben könne. Auch die Handhabung der analytischen Methode sei jeweils von theoretischen Vorannahmen geprägt. Roy Schafer (1990) kritisierte vehement, dass die Begriffe der von Wallerstein hypothetisierten gemeinsamen klinischen Theorie für die einzelnen Analytikerinnen und Analytiker keineswegs dieselben Bedeutungen haben. Wenn wir davon sprechen – so Schafer –, dass wir »Übertragung analysieren«, dann kann das nur heißen, dass wir zwar dieselben Worte gebrauchen, es aber nicht klar ist, was wir im konkreten Tun darunter verstehen. Es gebe hier keine Identität der Bedeutungen, sondern nur eine Art von »Familienähnlichkeiten«. Schafer brachte seine Sicht der Kontroverse um den Pluralismus auf folgenden Punkt: »Wenn man ideologisch auf die Suche nach spezifisch psychoanalytischen Gemeinsamkeiten Wert legt, impliziert man, dass Unterschiede bedauerlich sind, und man handelt aus dem Impuls, sie auszugleichen. Wissentlich oder nicht, strebt man dann einen einzigen Mastertext für die Psychoanalyse an. Ich denke, dass es wirklich fortschrittlicher ist – und das ist natürlich meine bestreitbare ideologische Präferenz –, auf die Idee eines einzigen Mastertextes zu verzichten und stattdessen unsere Unterschiede zu feiern und zu studieren und in Offenheit und Unsicherheit weiter zu wachsen, wie wir es getan haben« (1990, S. 52; eigene Übers.). Fred Pine (1988; 1990; 2011) hat einen anderen Ansatz zur Lösung des Problems der Pluralität entwickelt. Wie Wallerstein betont Pine die Bedeutung der mittleren klinischen Konzeptebene zwischen BeobDie Kontroversen um den Pluralismus der Theorien
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achtungsdaten und einer generelleren Theorie. Die Psychoanalyse hat seit über hundert Jahren Wissen über die Arbeitsweise der Psyche angesammelt und damit Lücken, die Freud mit seinen Konzeptionen hinterlassen hat, zunehmend gefüllt. Aber vielfach haben Analytiker, die neue Beobachtungen machten, dazu tendiert, sie in Gegensatz zum bisherigen Wissen zu stellen, neue Grundannahmen des Seelischen zu formulieren und daraus eine neue Metatheorie des Seelischen zu entwickeln. Es entstanden »totalistic explanatory systems« (Pine, 2011, S. 827), die Pine nun wieder auf ihre zentralen klinischen Beobachtungen und ihre psychologischen Funktionsbeschreibungen zurückführen möchte. Auf diese Weise entstehe aus den psychoanalytischen Systemen wieder eine spezifische Psychologie der Person, und wir entkommen – so Pine – dem Pluralismus sich widersprechender genereller Theorien. Er sieht jede dieser Psychologien als eine spezifische klinische Perspektive auf das menschliche Individuum an, die »erfahrungsnah« Phänomene des individuellen Lebens konzeptualisiert. Aus der Sicht der Triebpsychologie ist das Individuum jemand, der mit drängenden Impulsen zu kämpfen hat, die durch die frühen körperlichen und familiären Erfahrungen gestaltet werden und sich als Wünsche, Handlungen sowie als bewusste und unbewusste Phantasien verkörpern. Da viele von ihnen als inakzeptabel und bedrohlich empfunden werden, organisiert sich das psychische Leben um Konflikte und den Versuch ihrer Lösung, um Angst, Schuld, Scham, Hemmung, Symptombildung und um pathologische Charakterzüge. Die Ich-Psychologie erfasst das Individuum mit Begriffen der Anpassung, der Realitätsprüfung und der Abwehr und wie es mit der inneren Welt der triebhaften Wünsche, Affekte und Phantasien und mit den Anforderungen der äußeren Welt umgeht. Die Ich-Konzepte bleiben deshalb konzeptuell eng an die Abwehr von Trieben gebunden. Es können Ich-Defekte und Entwicklungsblockaden entstehen, die zu Affektintoleranz, mangelhafter Impulskontrolle und fehlender Objektkonstanz etc. führen. In der Psychologie der Objektbeziehungen steht das innere Drama im Zentrum, das sich in der frühen Kindheit durch die Erfahrungen 22
Teil I: Kontroversen
mit den Primärobjekten konstelliert hat. Innere Objekte bilden sich als Personifizierungen von frühen affektiven/körperlichen/interpersonalen Zuständen. Sie sind lebenslang intrapsychisch entweder als verfolgend und bedrohlich oder als tröstend und unterstützend präsent. Internalisierte Objektbeziehungen sind eine Mischung aus Erlebtem und Phantasiertem. Sie bilden die Muster, mit denen Andere erlebt werden. Neue Erfahrungen haben die Tendenz, an diese alten Beziehungsstrukturen assimiliert zu werden. In der Psychologie der Selbsterfahrung geht es um die Subjektivität und um subjektive Zustände, um innere Abgrenzung, innere Kontinuität und das Gefühl der Wertschätzung. Bei Störungen und Ungleichgewichten der Selbstzustände spielen Gefühle des Getrenntseins bzw. des Verlustes der Grenzen von Selbst und Objekt sowie Gefühle von Ganzheit bzw. Fragmentierung eine wichtige Rolle. Diese vier Psychologien sind in den jeweiligen psychoanalytischen Theoriesystemen im Sinne einer generellen Theorie seelischen Funktionierens ausformuliert worden und schließen sich auf diesem Level in vieler Hinsicht gegenseitig aus oder werden widersprüchlich. In Bezug auf die Beobachtungen, denen sie entstammen, sind sie aber keineswegs inkompatibel. Die Frage ist nicht, ob die Modelle auf der Ebene der Metapsychologie zusammenpassen, sondern ob sie sich auf Phänomene beziehen, die in jedem Individuum und in jeder Analyse vorkommen. Pine bricht die Theoriesysteme von ihrem »totalistischen Anspruch« als umfassende Theorie herunter auf das klinische Level von persönlichen Psychologien und klinischen Beobachtungen, die der Analytiker dann in seiner konkreten Arbeit nutzen kann. Dafür ist eine Position der »Äquidistanz« zu den bestehenden psychoanalytischen Theorien notwendig. Sie haben einen Platz im Vorbewussten des Analytikers und können, wenn sie zum jeweiligen klinischen Moment passen, im Bewusstsein wieder auftauchen. Eine solche Haltung einzunehmen, erfordert vom Analytiker, von der Analytikerin eine »Autonomie« gegenüber den bestehenden Theoriesystemen. Pines vier Psychologien sind klinisch durchaus fruchtbar, es erscheint aber zweifelhaft, ob eine generelle Haltung der »ÄquidisDie Kontroversen um den Pluralismus der Theorien
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tanz« möglich ist. In unseren klinischen Konzeptualisierungen spielen die Grundannahmen psychoanalytischer Theoriesysteme immer mit herein und es erscheint kaum möglich, metapsychologische Theorien als eine Superstruktur von den klinischen Theorien, auf denen sie fußen, eindeutig zu trennen. Die Kontroversen um den Pluralismus der Psychoanalyse lassen sich deshalb nicht so elegant lösen, wie Pine es versucht. In den letzten Jahrzehnten haben sich Psychoanalytiker mehr und mehr mit dem Status der Psychoanalyse als einer pluralistischen Wissenschaft arrangiert. Eine genauere Untersuchung der konkreten Praxis klinisch arbeitender Analytiker (Sandler, 1983; Bohleber, 2007; Canestri, 2012) hat gezeigt, dass die meisten Analytiker und Analytikerinnen mit zunehmender Erfahrung eine Vielfalt von theoretischen Segmenten aufbauen, die direkt auf ihre klinische Praxis bezogen sind und aus verschiedenen schulischen Theoriesystemen stammen können. Dabei entsteht ein Amalgam aus offiziellen Theorien und ihrem impliziten Gebrauch, privatem theoretischem Denken, persönlicher Lebenserfahrung und individuellen Wertsetzungen. Die implizite Anreicherung expliziter mit privaten Theorien verschafft dem therapeutischen Handeln eine individuelle Färbung und damit eine Authentizität, die ihrerseits therapeutische Wirkung hat. Allerdings besteht hier auch die Gefahr, dass private Theorien eine stark idiosynkratische Bedeutung haben können und psychoanalytisch-wissenschaftlich nicht mehr haltbar sind.
Kontroversen um die psychoanalytische Metapsychologie Metapsychologie setzt sich zum Ziel, psychische Phänomene, ihr Zustandekommen und ihre Funktionsweise im »psychischen Apparat« zu erklären. Freud stützte sich dabei auf die biologischen und neurowissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit und entwickelte Konstrukte der Triebe und ihrer Dynamik, beispielsweise die Ver24
Teil I: Kontroversen
drängung, sowie ein Modell vom Aufbau des Psychischen mit den Systemen des Unbewussten, Vorbewussten und Bewussten und später mit den Instanzen des Es, Ich und Über-Ich. Außerdem hatte Freud verschiedene Prinzipien beschrieben, die im Seelenleben wirksam seien, wie das Lust-Unlust-Prinzip, das Realitätsprinzip u. a. Freuds Metapsychologie und das darauf beruhende sogenannte Trieb-Abwehr-Modell wurde seit den 1960er Jahren einer zunehmenden Kritik unterzogen. Ihre Position als der Fels, auf dem die Psychoanalyse ruhte, war erschüttert. Die Kritik formierte sich in verschiedene Fraktionen. Eine Richtung suchte auf die Metapsychologie, die auf naturwissenschaftlichen Annahmen basierte, zu verzichten und sich auf psychologisch-klinische Sachverhalte und Theorien zu beschränken (Gill, 1976; Klein, 1976). Psychoanalyse wird demnach als eine rein hermeneutische Disziplin verstanden. Vertreter dieser Auffassung finden sich heute vor allem in einer konstruktivistisch verstandenen intersubjektiven Psychoanalyse. Andere wiederum möchten an der Metapsychologie festhalten, weil man aus Freuds psychoanalytischem System nicht einfach die Metapsychologie herausbrechen kann. Der Kompromiss besteht darin, viele Begriffe, vor allem den Trieb- und Energiebegriff, nur noch metaphorisch zu verstehen (Schmidt-Hellerau, 1995). Vertreter dieser Position betonen auch, dass Freud stets versucht hat, Sinnfindung und Bedeutung, also den hermeneutischen Gesichtspunkt, mit einer kausalen Erklärung zu verbinden. Für ihn war Psychoanalyse immer beides, hermeneutische Psychologie und Naturwissenschaft. Genau deshalb wollen auch viele Analytiker den metaphorischen Reichtum der psychoanalytischen Sprache, der sich in den über 100 Jahren psychoanalytischer klinischer Erforschung des inneren Lebens angesammelt hat, nicht einer empirisch ausgewiesenen Begrifflichkeit opfern, die Präzision, Reliabilität und Konsistenz der wissenschaftlichen Sprache zum Ziel hat (Auchincloss u. Samberg, 2012). In den letzten beiden Jahrzehnten haben die Fortschritte der Neurowissenschaften neue Erkenntnisse über das Gedächtnis, die Erinnerung und über mentales Funktionieren mit sich gebracht. Kontroversen um die psychoanalytische Metapsychologie
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Dadurch hat bei Analytikern die Überzeugung, dass sich Theorien über unbewusste Vorgänge auf biologische und neurowissenschaftliche Erkenntnisse und Erklärungen stützen müssen, neuen Auftrieb erhalten (Mancia, 2006; Leuzinger-Bohleber, Böker, Fischmann, Northoff u. Solms, 2015). Es gilt, einen Ersatz für die Metapsychologie Freuds zu finden und psychoanalytische Konzepte so zu reformulieren, dass sie mit den Erkenntnissen gegenwärtiger Neurowissenschaft konsistent werden können (Westen, 1999). So sind etwa die neuen Erkenntnisse zum deklarativen und zum nichtdeklarativen prozeduralen Gedächtnis nur schwer mit dem topografischen und dem Strukturmodell in Einklang zu bringen. Ich komme bei der Diskussion des Konzepts des Unbewussten darauf zurück (Kapitel II, 1, S. 35 ff.). Die Frage der Vergleichbarkeit klinischer Theorien hat immer wieder auf die dahinterstehenden generelleren metapsychologischen Modelle der Psychoanalyse verwiesen. Die Revision der alten Metapsychologie und der Entwurf komplexerer Modelle, die die Ergebnisse von Nachbarwissenschaften, die für die Psychoanalyse wichtig sind, zu integrieren suchen, bleibt eine der kontroversen Debatten der heutigen Psychoanalyse.
Das Konzept der unbewussten Phantasien und die Frage, ob eine Integration kontroverser Theorien möglich ist Es hat immer wieder Versuche gegeben, konzeptuelle Konvergenzen aufzuzeigen und divergente Ansätze zusammenzuführen, wie etwa die von Otto Kernberg, der amerikanische Ich-Psychologie, Objekt beziehungspsychologie und kleinianische Psychoanalyse zu integrieren sucht. In neuerer Zeit mehren sich auch die Argumente dafür, dass wir psychoanalytische Konzepte und Theorien dadurch validieren können, indem wir nach einer externalen Kohärenz mit Ergebnissen der Grundlagenforschung verwandter Disziplinen suchen, womit vermutlich manche Kontroverse weiter aufgehellt bzw. aufgelöst wer26
Teil I: Kontroversen
den könnte (Leuzinger-Bohleber u. Fischmann, 2006). So hat zum Beispiel Juan Pablo Jiménez (2006) gezeigt, dass Ergebnisse der empirisch-neurokognitiven Forschung sowie der Säuglings- und Entwicklungsforschung dem relationalen Modell, das davon ausgeht, dass die analytische Situation eine inhärente intersubjektive Struktur besitzt, eine breite empirische Basis verschaffen können. Aber wir besitzen keine Methodologie, die systematisch angewandt werden könnte, um die unterschiedlichen Theorien und behandlungstechnischen Zugänge zu vergleichen und um Kompatibilitäten bzw. Konvergenzen, aber auch Divergenzen methodisch nachvollziehbar zu beschreiben. Dieser Mangel wird zwar immer wieder beschworen, aber bis heute gibt es keinen Konsens darüber, wie zugunsten der einen oder anderen aus einer Reihe rivalisierender und inkompatibler Theorien zu entscheiden wäre und wie eine Integration divergenter Konzepte und Theorien möglich erscheinen könnte. Das »Committee on Conceptual Integration« der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung hat von 2009 bis 2013 versucht, eine solche Methode in Ansätzen zu entwickeln, um die verschiedenen Konzeptualisierungen und die sie fundierenden Theorien miteinander zu vergleichen und sie darüber hinaus in einem Bezugsrahmen zu verorten, der eine objektivere Beurteilung ihrer Ähnlichkeiten und Unterschiede zulässt. Ich kann die Methode hier nicht im Einzelnen darstellen, sondern muss auf die Veröffentlichungen verweisen (Bohleber et al., 2013, 2016). Die Vorstellung, eines Tages wieder über ein relativ einheitliches theoretisches Modell der Psychoanalyse zu verfügen, kann beim heutigen Stand der Psychoanalyse eigentlich niemand mehr hegen. Infolgedessen ist die Integration ein Ideal, an dem wir zwar festhalten müssen, aber ohne der Illusion zu erliegen, es tatsächlich verwirklichen zu können. Dennoch scheinen Schritte in Richtung einer besseren Integration der unterschiedlichen Theorien möglich zu sein, auch wenn nicht mehr als eine partielle Integration zu erwarten sein dürfte. Das Terrain steckt voller Schwierigkeiten, denn Theorien können zu Repräsentanten der inneren Identität einer Gruppe werden, der Das Konzept der unbewussten Phantasien
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der Analytiker oder die Analytikerin angehören möchte. Außerdem gehen Analytiker eine Bindungsbeziehung zu spezifischen Theorien ein, die ihnen dann wiederum in der täglichen Arbeit ein Gefühl der Sicherheit vermitteln. Theorien haben die Funktion innerer Objekte und sind damit auch von unbewussten Prozessen beeinflusst. Dies hat sich als ein besonders relevanter Faktor entpuppt, besonders dann, wenn das zur Diskussion stehende Konzept von zentralem Stellenwert ist. Ich möchte an dem Konzept der unbewussten Phantasie zeigen, wie unterschiedlich die Konzeptionen in den einzelnen analytischen Schulen sind und welche Konvergenzen dennoch möglich erscheinen. Die unbewusste Phantasie ist eines der wichtigsten Konzepte der psychoanalytischen Theorie und Praxis. Aufgrund ihrer klinischen und theoretischen Bedeutung haben alle psychoanalytischen Schulen ein eigenes Konzept entwickelt. So ist es nicht verwunderlich, eine große Bandbreite an Definitionen vorzufinden. Sigmund Freud sieht in Phantasien hauptsächlich Erfüllungen von Wünschen. Sie haben sich infolge der Verdrängung von Triebstrebungen gebildet. Sie können bewusst sein, aber auch ins Vorbewusste absinken und von dort wieder ins Bewusstsein aufsteigen. Freud behielt diese Sichtweise auch nach der Einführung des Strukturmodells bei. Er unterscheidet zwischen zwei Arten unbewusster Phantasien: 1. Phantasien, die von jeher unbewusst gewesen sind, und 2., was der häufigere Fall ist, Phantasien, die einmal bewusst waren und durch die Verdrängung ins Unbewusste geraten sind. Der Ausdruck »von jeher unbewusst« verweist auf Freuds Konzept der »Urphantasien«. Sie sind kein Produkt der Verdrängung, sondern phylogenetisch im Unbewussten der Menschen fest verankert. Sie kreisen um Urszene, Verführung und Kastration. Susan Isaacs (1948), die die kleinianische Version in den Controversial Discussions der British Society vorgestellt hat, führt radikale Veränderungen des Konzepts ein. Unbewusste Phantasien sind nicht mehr wie bei Freud auf verdrängte Phantasien begrenzt. Sie bilden den Inhalt des Unbewussten und strukturieren das gesamte seelische Geschehen von Geburt an. Diese Sichtweise setzt die Existenz einer 28
Teil I: Kontroversen
frühen psychischen Aktivität voraus, die das Baby, wenn auch nur rudimentär, mit der Außenwelt in Kontakt bringt. Innere Objekte sind unbewusste Phantasien über vorhandene reale Objekte. Laut Klein und ihren Nachfolgern existieren unbewusste Phantasien bereits vor dem Spracherwerb, wobei sie in der präverbalen Phase hauptsächlich als Gefühle, Empfindungen sowie Körperzustände und Bewegungen ausgedrückt werden. In der modernen Ich-Psychologie hat Jacob Arlow (1969a, 1969b) das einflussreichste Konzept der unbewussten Phantasie entwickelt. Für ihn bestehen unbewusste Phantasien im Unterschied zu den Kleinianern aus Elementen mit verbalem Inhalt, und sie haben eine hochorganisierte innere Konsistenz. Phantasien sind für ihn wie Tagträume, sie kreisen um die grundlegenden Kindheitswünsche. Eine »unbewusste Phantasiefunktion« hilft dem Ich dabei, die konkurrierenden inneren und äußeren Inputs abzugleichen, auszusortieren und zu integrieren. Daran ist auch das Über-Ich beteiligt. Für Arlow sind Phantasien stets Kompromissbildungen, aber es ist prinzipiell möglich, Phantasie und objektive Realität wieder voneinander zu trennen. Joseph und Anne-Marie Sandler als moderne Freudinaner (1994) kritisieren an der kleinianischen Erweiterung des Konzepts, dass praktisch jede Form von unbewusstem seelischem Inhalt miteingeschlossen wird. Das Konzept werde dadurch überladen. Die Sandlers unterscheiden zwei Arten von unbewussten Phantasien: Phantasien des Vergangenheits-Unbewussten treten in den ersten vier bis fünf Lebensjahren auf. Sie sind nur über Rekonstruktionen anhand des assoziativen Materials des Patienten zugänglich. In das Gegenwarts-Unbewusste steigen Abkömmlinge des Vergangenheits-Unbewussten auf. Sie durchlaufen im Laufe der Entwicklung Veränderungen, weil sie sich enger mit den Repräsentanzen gegenwärtiger Personen verbinden und dadurch sekundärprozesshaft höher organisiert werden. Unbewusste Phantasien haben eine stabilisierende Funktion, indem sie dem Menschen helfen, Sicherheit und Wohlbefinden aufrechtzuerhalten. In der selbstpsychologischen Konzeptualisierung von Anna und Paul Ornstein (2008) bilden nicht mehr die Triebwünsche die motiDas Konzept der unbewussten Phantasien
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vierenden Faktoren für die Bildung unbewusster Phantasien. Dieser Platz wird jetzt von den Reaktionen der Umwelt eingenommen. Ist die Umwelt ausreichend gut, werden die Phantasien zur Quelle vieler individueller Leidenschaften und Bestrebungen. Sind die Bezugspersonen unerreichbar oder verhalten sich demütigend und sadistisch, dann werden die unbewussten Phantasien zur Grundlage von symptomatischem Verhalten und von Vergeltungsphantasien. Während der analytischen Behandlung sucht der Patient in den Selbst-ObjektÜbertragungen nach Erfahrungen, die Veränderung mit sich bringen können. Die Hoffnung darauf wird in einer »heilenden Phantasie« (curative fantasy) organisiert. Für Philip Bromberg (2008) als Vertreter der relationalen Psychoanalyse hat die unbewusste Phantasie ihren universellen Charakter als Repräsentanz der Triebe verloren. Er erkennt ihr nur noch eine heuristische Funktion zu, um dissoziierte Selbstzustände zu symbolisieren. Abgekapselte Selbstzustände werden in der Regel zunächst in der Übertragungs-Gegenübertragungs-Beziehung in Form von Enactments aktiviert. Durch das Enactment entsteht in der analytischen Behandlung ein neuer perzeptueller Kontext, der eine Symbolisierung in Form einer unbewussten Phantasie möglich macht. Die unbewusste Phantasie erlangt so eine hermeneutische Funktion. Heutige Befunde aus der entwicklungspsychologischen Forschung zeigen, dass das Kind von klein auf ein Wissen über Interaktionen mit den Bezugspersonen erwirbt und daraus Erwartungen und interaktionelle Repräsentationen bildet, die im impliziten Gedächtnis angesiedelt sind. Diese Repräsentationen sind die Grundbausteine für die Bildung unbewusster Phantasien. Sie haben die Gestalt von unbewussten Überzeugungen über das Selbst und Andere sowie über die Muster ihrer Beziehung. »Unbewusst« heißt in diesem Kontext, dass die Phantasie für das Kind nur implizit verfügbar ist (Erreich, 2003). Um methodisch einen nachvollziehbaren Vergleich der differenten Konzepte machen zu können, gilt es, ihnen auf unterschiedlichen, polar strukturierten Bedeutungsdimensionen einen Platz anzuweisen. Daraus ist dann zu ersehen, ob die jeweiligen Versionen zur selben 30
Teil I: Kontroversen
konzeptuellen »Familie« gehören oder ob die Unterschiede im Bedeutungskontext und bei der Konstruktion der psychischen Realität so groß sind, dass eine Integration unmöglich erscheint. Als eine der wichtigsten Dimensionen erwies sich die Dimension der Realität, die von »endogen erzeugt/reine Imagination« bis zur »akkuraten Repräsentation tatsächlicher Ereignisse« reicht. Phantasie hat immer ein illusorisches Element. Gäbe es aber überhaupt kein Element der Realität darin, würden wir die gesamte Phantasie als eine komplette Illusion oder Täuschung qualifizieren. Nahe am Pol der endogen erzeugten Phantasie befinden sich die kleinianischen Konzepte. Für Kleinianer kann Realitätsdenken und rationales Handeln nie ohne begleitende und unterstützende unbewusste Phantasien ablaufen. Für Jacob Arlow (moderne Ich-Psychologie) ist der Wahrnehmungsapparat des Ichs stets nach zwei Seiten ausgerichtet: nach außen auf die sensorischen Stimuli aus der externen Objektwelt und nach innen auf einen ständigen inneren Stimulationsfluss. Die psychische Realität ist immer eine Mischung aus Wahrnehmung der Realität und Phantasie. Bei Sandler und Sandler (moderne Freudianer) unterliegen die Phantasien, die Teil des gegenwärtigen Unbewussten sind, stets dem Druck, in der Realität verankert zu werden. Wunschphantasien des Vergangenheits-Unbewussten, die ins Vorbewusste aufsteigen, müssen durch Abwehrmechanismen modifiziert, verschleiert oder verdrängt werden, bevor sie ins Bewusstsein vordringen können. Für Ornstein und Ornstein (Selbstpsychologie) sind die Reaktionen der Umwelt auf die Bedürfnisse des sich entwickelnden Kindes von entscheidender Bedeutung für Form und Inhalt unbewusster Phantasien. Je nach Erfahrung bilden sich gutartige, seelisches Wachstum fördernde Phantasien oder negative, die in Symptombildungen oder Rachephantasien münden. Für Bromberg (relationale Psychoanalyse) hat das Konzept der unbewussten Phantasie lediglich einen heuristischen Wert, um für eine unformulierte Erfahrung Sinn und Bedeutung zu erschaffen. Vergleicht man die verschiedenen Konzeptualisierungen, so wird deutlich, dass nur eine partielle Integration einiger Konzepte mögDas Konzept der unbewussten Phantasien
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lich erscheint. Die Konzeption der Kleinianerin Isaacs, das Ich-psychologische Konzept von Arlow sowie das freudianische der Sandlers beschreiben alle ein konstantes, wechselseitiges Zusammenspiel zwischen Realität und unbewusster Phantasie, aus dem ein Mischgebilde aus Tatsachen und Phantasie entsteht. Die Divergenzen der verschiedenen Konzepte hängen davon ab, wie stark die realen Gegebenheiten oder die endogene Phantasie hervorgehoben oder gewichtet werden: Die Kleinianer befinden sich mehr auf der Seite der Phantasie, Arlow und noch stärker die Sandlers auf der Seite der Realitätsfaktoren. Für die Ornsteins sind die realen Erfahrungen der entscheidende Faktor bei der Bildung von unbewussten Phantasien. Eine weitere wichtige Dimension wurde von den Polen »Unbewusste Phantasie als eine dem seelischen Geschehen zugrunde liegende Struktur (Essentialismus) oder als Deutungskategorie (Nominalismus)« gebildet. Diese Dimension berührt die erkenntnistheoretischen Grundpositionen der verschiedenen Konzeptualisierungen. Unbewusste Phantasien können nicht direkt beobachtet werden, sondern müssen aufgrund von Hinweisen aus dem klinischen Material erschlossen werden. Die Frage ist nun: Können wir annehmen, dass sie existieren? Oder anders gefragt: Ist die unbewusste Phantasie eine organisierende Struktur des seelischen Geschehens, die unabhängig von den Deutungen des Analytikers existiert? An einem ontologisch-essenziellen Pol der Dimension können die kleinianischen Konzeptionen angesiedelt werden. Hier ist die unbewusste Phantasie der primäre strukturierende Inhalt des Seelenlebens. Die analytische Arbeit besteht hauptsächlich im »Begreifen« der unbewussten Phantasie, das Deuten an sich verändert die abgeleitete Phantasie nicht. Am anderen Ende des Spektrums am hermeneutisch-nominalistischen Pol können wir Bromberg einordnen. Für diesen Autor hat das Konzept der unbewussten Phantasie lediglich heuristischen Wert, um eine dissoziierte und bis dato noch vage und nebelhaft erscheinende Erfahrung zu begreifen und ihr eine Gestalt zu geben. Was wie eine Evidenz eines begrabenen unbewussten Inhalts erscheint, ist in Wirklichkeit eine Kreation, die durch die intersubjektive Struktur des analytischen Prozesses entsteht. Unbewusste 32
Teil I: Kontroversen
Phantasien sind immer ko-konstruiert. Die anderen Autorinnen und Autoren bewegen sich dazwischen, sie gehen alle davon aus, dass es tatsächlich etwas Reales wie die »unbewusste Phantasie« gibt. Bei dieser Dimension kommen wissenschafts- und erkenntnistheoretische Grundüberzeugungen ins Spiel. So dreht sich eine der Hauptkontroversen bei der Diskussion der unbewussten Phantasien um die Frage, ob der Patient die unbewusste Phantasie in sich selbst »hat«. Gibt es für die unbewusste Phantasie eine reale genetische Kontinuität von der Frühzeit des Säuglings bis zum Erwachsenenalter, oder ist die unbewusste Phantasie eine gemeinsame Konstruktion von Analytiker und Analysand von etwas, das erst im analytischen Prozess auftaucht? Anders gefragt: Ist die unbewusste Phantasie ontologisch als konkrete Entität in der Psyche existent? Dieses Problem ist kontrovers und ungelöst. Wir begegnen in der modernen Psychoanalyse solchen Kontroversen auch bei anderen psychischen Sachverhalten. Strittig ist jeweils, ob psychische Inhalte »aufgefunden werden« und deshalb psychisch im Patienten »vorhanden« sind oder ob psychische Inhalte erst in der intersubjektiven Beziehung von Analytiker und Patient ko-konstruiert werden. Ich komme bei der Diskussion des Übertragungskonzepts noch einmal darauf zurück. Zum Abschluss dieses Kapitels noch einige Bemerkungen zu der zentralen Frage, ob eine Integration dieser unterschiedlichen Konzepte der unbewussten Phantasie überhaupt denkbar erscheint. Anhand mehrerer Dimensionen lassen sie sich sehr gut unterscheiden. Manche Versionen weisen »Familienähnlichkeiten« miteinander auf, andere divergieren aber so stark, dass sie für sich stehen und nicht integrierbar erscheinen. Die maßgeblichen Divergenzen sind dabei auf die Grundannahmen der jeweiligen Schulen und ihren metapsychologischen Bezugsrahmen zurückzuführen. Pragmatisch gesehen ist die unbewusste Phantasie zu einem flexiblen Konzept geworden. Dass psychoanalytische Konzepte »elastisch« und damit anpassungsfähig sind, rechnet Joseph Sandler (1983) zu ihren Vorteilen. Gleichzeitig warnt er davor, dass Konzepte nur bis zu einem gewissen Grad erweitert werden können, bevor sie gesprengt werden. Die Folge ist Das Konzept der unbewussten Phantasien
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dann, dass das ganze Konzept amorph wird und das Vorhaben, die verschiedenen Versionen zu vergleichen und nach Ähnlichkeiten und Unterschieden zu suchen, aufgegeben werden muss.
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Teil I: Kontroversen
Teil II: D ie Bedeutung von Kontroversen bei der Entwicklung zentraler psychoanalytischer Konzepte
Im zweiten Teil möchte ich weitere Konzepte der Psychoanalyse darstellen und dabei aufzeigen, wie sich in ihrer geschichtlichen Entwicklung durch Schwerpunktverschiebungen und durch die zunehmende Erfassung der intrinsischen Komplexität psychischer Prozesse kontroverse Positionen manifestiert haben und wie diese entweder aufgelöst werden konnten oder sich verfestigt haben. Ich habe vier Begriffe dafür ausgewählt: das Unbewusste, die Übertragung, die Gegenübertragung sowie das Trauma.
1 Das Konzept des Unbewussten Die Konzeption des Unbewussten bei Sigmund Freud Angesichts des Pluralismus psychoanalytischer Theoriesysteme verwundert es nicht, dass wir heute bei einem so zentralen Konzept wie dem Unbewussten ganz unterschiedliche Auffassungen vorfinden. Das Unbewusste ist ein abstraktes Konzept, wir können es empirisch nie direkt erfassen, sondern immer nur erschließen. Die Annahme, dass das Seelenleben im Wesentlichen unbewusst abläuft, bildet die fundamentale Grundannahme der Psychoanalyse. Freud schreibt 1900 in der »Traumdeutung«: »Das Unbewußte ist das eigentlich reale Psychische, uns nach seiner inneren Natur so unbekannt wie das Reale der Außenwelt, und uns durch die Daten des Bewußtseins ebenso unvollständig gegeben wie die Außenwelt durch die Angaben unserer Sinnesorgane« (1900a, S. 617 f.). Den Kern des Unbewussten bilden für Freud die Triebrepräsentanzen. Sie wiederum formen sich 35
zu Phantasien und imaginären Szenerien, die bildhafte Darstellungen des Wunsches sind. Mit der Einführung der Strukturtheorie im Jahr 1923 verlor für Freud die Trennung der psychischen Systeme entlang der Achsen von bewusst und unbewusst ihren fundamentalen Charakter. Da ein beträchtlicher Teil des Ichs unbewusst funktioniert, fallen unbewusste Vorgänge nicht mehr mit dem Verdrängten zusammen. Freud sah sich genötigt, neben dem Vorbewussten, das nur deskriptiv unbewusst ist und dem verdrängten Unbewussten ein drittes nichtverdrängtes Unbewusstes anzunehmen. Der Charakter dieses Unbewussten war ihm aber zu vieldeutig. Auch scheint ihm Kopfzerbrechen bereitet zu haben, dass bestimmte Funktionen des Ichs unbewusst bleiben, war doch für ihn die Eigenschaft »bewusst oder nicht« »die einzige Leuchte im Dunkel der Tiefenpsychologie« (1923b, S. 245). Da ihm diese Leuchte hier fehlte, verlor er das Interesse am nichtverdrängten Unbewussten und ließ es beiseite. Das war eine folgenschwere Entscheidung. Denn dadurch blieben Freud und nach ihm Generationen von Psychoanalytikern dabei, sich nur mit dem verdrängtem Unbewussten zu befassen, das für sie therapeutisch allein relevant war. Erst nachdem in den 1990er Jahren durch die Kognitions- und Neurowissenschaften das implizit-prozedurale Unbewusste in die wissenschaftliche Diskussion kam, veränderte sich die Sachlage. Verglichen mit Freuds Konzeption des Unbewussten hat sich unser heutiges Verständnis unbewusster Prozesse beträchtlich erweitert. Ich möchte es in vier funktional zu unterscheidende Arten des Unbewussten zusammenfassen, betone aber, dass es sich dabei nicht um voneinander abgegrenzte seelische Bereiche handelt, sondern um unbewusste Prozesse, die unterschiedliche Funktionen haben. Bei meiner Darstellung werde ich auch einige relevante Ergebnisse aus den Kognitions- und Neurowissenschaften mit einbeziehen. Das psychodynamische Unbewusste Drei zentrale Konzepte haben die Debatten um das psychodynamische Unbewusste bestimmt: die unbewussten Phantasien, der Primär36
Teil II: Die Bedeutung von Kontroversen
und Sekundärprozess sowie die Verdrängung. Wie divergent in der Psychoanalyse die Konzeptionen eines so zentralen Begriffs wie der unbewussten Phantasie sind, habe ich schon beschrieben. Ich konzentriere mich hier auf die Konzepte des Primär- und Sekundärprozesses und auf die Verdrängung. a) Primärprozess und Sekundärprozess Das primärprozesshafte Denken, vor allem gekennzeichnet durch die Mechanismen von Verschiebung und Verdichtung, ist für Freud das ursprüngliche Denken in der frühen Kindheit und im Unbewussten vorherrschend. Das sekundärprozesshafte Denken bildet sich erst später im Leben aus. Nach heutiger Forschung übernehmen ab dem siebten Lebensjahr das Realitätsprinzip und die sekundärprozesshaften Organisationsprinzipien – die Verneinung sowie das Gesetz des Widerspruchs – vollends die Kategorisierung bewussten und vorbewussten seelischen Geschehens. Freud nahm an, dass die Bereiche von Primärprozess und Sekundärprozess eindeutig voneinander getrennt werden. Der Primärprozess war für ihn im Unbewussten, im Traum und in den wunscherfüllenden Phantasien wirksam. In dieser Auffassung folgen ihm heute noch viele Psychoanalytiker und Psychoanalytikerinnen. Daneben hat sich aber eine konträre Sichtweise dieser seelischen Prozesse entwickelt. Sie sieht den Primärprozess nicht nur im Traum, sondern auch im Wachbewusstsein am Werke (Bion, Modell u. a.). Für Arnold Modell (2010, 2014) ist das primärprozesshafte Denken auf die Realität ausgerichtet, zieht aus Wahrnehmungen und Erfahrungen automatisch unbewusste bedeutungsgebende Schlüsse. Es arbeitet damit, Vorstellungen metaphorisch zu verdichten und metonymisch zu verschieben. Evolutionspsychologisch ist für ihn der Primärprozess älter als der Sekundärprozess. Er ist adaptiv ausgerichtet und hat eine Überlebensfunktion. Sein Ziel ist, Gefahr und Schmerz zu vermeiden, und nicht so sehr, Lust zu suchen. Unabhängig von diesen kontroversen Sichtweisen zählt die Psychoanalyse Primär- und Sekundärprozess als Organisatoren menschDas Konzept des Unbewussten
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lichen Denkens nach wie vor zu ihren Grundannahmen. Auf dem Feld der Kognitionspsychologie und der kognitiven Neurowissenschaften finden sich nun in neuerer Zeit erstaunlich anschlussfähige Forschungsergebnisse, die im Sinne einer externalen Kohärenz diese Grundannahme unterstützen. So hat sich beispielsweise in der Kognitionswissenschaft eine Duale-Prozess-Theorie des Denkens etabliert. Am bekanntesten wurde Daniel Kahnemans Zwei-Systeme-Theorie des menschlichen Denkens (2011). Bei Kahneman bildet das assoziative Gedächtnis den Kern des sogenannten Systems 1. Das Denken im System 1 verläuft unwillkürlich und unbewusst. Es stellt eine implizite Interpretation dessen bereit, was uns widerfährt und was um uns herum geschieht. System 1 ist die Quelle unserer raschen und oftmals präzisen intuitiven Urteile. System 2 dagegen arbeitet langsamer, erfordert Aufmerksamkeit und konstruiert in geordneten Schritten Gedanken. Es hat eine Kontrollfunktion und kann die ungezügelten Impulse und Assoziationen von System 1 verwerfen. Was Kahneman als System 1 und System 2 beschreibt, entspricht weithin der heutigen Reformulierung der Konzepte des Primärprozesses und des Sekundärprozesses in der Psychoanalyse. b) Verdrängung Das Konzept der Verdrängung ist für Freud der »Grundpfeiler, auf dem das Gebäude der Psychoanalyse ruht« (1914d, S. 54). Verdrängte Triebrepräsentanzen haben den Drang, an die Oberfläche des Bewusstseins zu gelangen. Damit setzen sie den gesamten psychischen Apparat unter Druck. Um erfolgreich zu sein, müssen sie sich mit bewusstseinsfähigen Vorstellungen verbinden. Sind diese für das Ich nicht akzeptierbar, verfallen sie wieder der Verdrängung. Klinische Arbeiten aus den letzten Jahrzehnten haben nun gezeigt, dass nicht nur Triebwünsche die Verdrängung in Gang setzen können, sondern auch allerlei unangenehme Affekte. Die Verdrängung dient dabei nicht der Vermeidung von Unlust, sondern der Erhaltung des Narzissmus oder dem Bedürfnis nach Sicherheit (Sandler, 1961). Abgesehen von diesen Ergänzungen wird das freudsche Verdrängungskonzept heute 38
Teil II: Die Bedeutung von Kontroversen
viel grundsätzlicher infrage gestellt (Boag, 2012; Eagle, 2000, 2011; Mancia, 2006; Maze u. Henry, 1996; Modell, 2003, 2013; Talvitie u. Ihanus, 2002). Ich kann hier nur einige Kritikpunkte erwähnen. Eine Paradoxie des freudschen Verdrängungskonzepts hat besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Das Paradox besteht darin, dass das Ich schon vor dem unbewusst verlaufenden Akt der Verdrängung eine Ahnung von der Bedrohlichkeit des Inhalts haben muss, um ihn verdrängen zu können. Dasselbe gilt für das unbewusste Denken selbst bzw. für den Zensor. Sie müssen ein Wissen davon haben, was für das Ich anstößig bzw. unbedenklich ist, bevor sie Ersatzbildungen formen, die ins Bewusstsein vordringen können. Oder anders ausgedrückt, es stellt sich die Frage, wie das Ich etwas wissen und es gleichzeitig nicht wissen kann. In der Forschung gibt es verschiedene Versuche, diese Paradoxie aufzulösen, ohne einem Zensor ein autonomes Bewusstsein zuerkennen zu müssen (Boag, 2012; Eagle, 2011; Maze u. Henry, 1996). Für Freud vollziehen sich alle Verdrängungen in der frühen Kindheit. In dieser Zeit ist das Ich des Kindes nicht in der Lage, die Vorstellungs-Repräsentanzen des Triebes ins Bewusstsein zu übernehmen. Der quantitative Erregungsfaktor ist zu stark (Freud, 1926d). Sie verbleiben im Unbewussten und bilden den infantilen Kern des Verdrängten. Freud nennt diesen Vorgang die Urverdrängung. Alle spätere Verdrängung, die »eigentliche Verdrängung«, ist stets ein Nachdrängen. Freud vermutet, dass mit der Etablierung des ÜberIchs die Urverdrängung endgültig der eigentlichen Verdrängung Platz macht. Freud hielt stets am Begriff der Urverdrängung fest. Er war für ihn wichtig, weil nach seinem Verständnis im Unbewussten etwas da sein musste, was eine Anziehung auf zu verdrängendes Material ausüben konnte. Das Konzept der Urverdrängung ist aber heute in der Psychoanalyse umstritten. Unabhängig davon ist jedoch ihr wesentlicher Inhalt, nämlich die triebgesteuerten Interaktionen der ersten Lebensjahre, von denen sich keine bewussten Vorstellungsrepräsentanzen bilden können, für die Theoriebildung von Bedeutung. Sie werden Das Konzept des Unbewussten
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heute im nichtdeklarativen implizit/prozeduralen Gedächtnis verankert und bilden den frühen, nichtverdrängten unbewussten Kern des Selbst (Mancia, 2006). Er steht heute im Zentrum vieler Diskussionen, und das wissenschaftliche Interesse hat sich von einem verdrängten Unbewussten der frühkindlichen (Trieb-)Wünsche auf ein nichtverdrängtes Unbewusstes der frühkindlichen Repräsentationen verschoben (Eagle, 2011). Einer der schärfsten Kritiker von Freuds Fokussierung auf das psychodynamisch verdrängte Unbewusste ist Christopher Bollas. Weil die Verdrängungstheorie in der Geschichte der Psychoanalyse das Feld so lange beherrscht habe, seien die allgemeineren Prozesse der unbewussten Wahrnehmung sowie der unbewussten Organisation und Kommunikation aus der psychoanalytischen Theorie verbannt worden (2009, dt. 2011, S. 39). Für Bollas ist das verdrängte Unbewusste eine Sonderform des umfassenderen nichtverdrängten Unbewussten. Arnold Modell (2008, 2010) sieht es ähnlich. Das Unbewusste ist für ihn ein »knowledge processing center«, und das psychodynamische Unbewusste ist nur ein Aspekt in der Gesamtheit unbewusster Prozesse. Modell lehnt Freuds Triebtheorie ab. Das Es ist für ihn kein »Kessel voll brodelnder Erregungen« (Freud, 1933a, S. 80), sondern eine evolutionsbiologische Gegebenheit, die der Selbsterhaltung dient. Die Triebkräfte stehen nicht in Gegensatz zum bewussten Selbst, sondern sind vielmehr adaptiv und speisen die Intentionen des Selbst. Modell betont durchgängig die adaptive Funktion des Unbewussten. Das nichtverdrängte Unbewusste Die Verschiebung der Bedeutung vom psychodynamischen Unbe wussten auf das nichtverdrängte Unbewusste ist auch eine Folge der Unterscheidung zwischen explizit-deklarativen und nichtdeklarativen implizit/prozeduralen Gedächtnissystemen, die in den 1980er Jahren in der kognitiven Neurowissenschaft eingeführt wurde. Dadurch wurde die Gedächtnisforschung auf eine ganz neue Grundlage gestellt und die Sichtweise, wie die Vergangenheit gegenwärtige Erfah40
Teil II: Die Bedeutung von Kontroversen
rung und Verhalten bestimmt, geradezu revolutioniert (siehe dazu Schacter, 1996; Squire, 2004; Kandel, 2005). Das Verständnis der Psychoanalyse von unbewussten Prozessen ist dadurch enorm erweitert worden (Davis, 2001). Außer der Gedächtnisforschung haben auch die Ergebnisse der Säuglingsforschung, der Bindungstheorie und der Forschungen zum Embodiment das nichtverdrängte Unbewusste in den Fokus des psychoanalytischen Interesses gerückt. Unser Verständnis der frühen Objektbeziehungsstrukturen wurde dadurch wesentlich erweitert. Die affektiven und kognitiven Repräsentationen der frühen Interaktionen mit den Primärobjekten bilden Verhaltensmuster, die dann zu unbewussten Erwartungen transformiert werden und der unmittelbaren Beziehungsregulierung mit Anderen dienen. Die Bedeutung vermittelt sich durch die »enactive procedures« selbst und erfordert keine symbolisch-verbale Repräsentation. Es handelt sich um einen nichtverbalen unbewussten Handlungsdialog. Hier kann später nichts, was verdrängt wäre, aufgedeckt werden, sondern es bedarf einer intensiven Selbstbeobachtung, um die Muster von Interaktionsformen und die impliziten Erwartungen, die sich darin ausdrücken, zu entdecken und ihre Bedeutung zu erkennen. Nur so können sie nachträglich bewusst und Teil des deklarativen Gedächtnisses werden. In der therapeutischen Beziehung tauchen diese interaktiven Muster als automatisch agierte Beziehungsschemata auf. Sind Patient und Analytiker in der Lage, diese unbewussten Beziehungsmuster in Worte zu fassen, erhalten sie eine symbolische Bedeutung und können mit der Vergangenheit verbunden werden. Kontrovers diskutiert wird heute noch die Frage, ob und inwieweit das psychodynamische und das nichtverdrängte Unbewusste zusammenwirken. Vermutlich sind sie nicht scharf gegeneinander abzugrenzen. Umstritten ist auch, ob psychodynamische Bedeutung nur symbolisch und verbal repräsentiert sein kann oder ob sie nicht auch durch nichtsymbolische Prozesse befördert und ausgedrückt wird (dazu Boston Change Process Study Group, 2010).
Das Konzept des Unbewussten
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Das traumatisch-dissoziative Unbewusste In der traumatischen Erfahrung bricht die Fähigkeit des Ichs, Selbstzustände affektiv und mental zu verarbeiten, zusammen und die psychische Textur des Selbst zerreißt. Die traumatisch verursachte affektive Übererregung aktiviert einen veränderten Bewusstseinszustand. Er wird gemeinsam mit der traumatischen Szene und den mit ihr assoziierten Affekten im Gedächtnis registriert und abgekapselt. So kann die Erinnerung nicht mit anderen mentalen Inhalten assoziiert, mit Bedeutung versehen und integriert werden. Amnesie schafft häufig eine zusätzliche Barriere. Die traumatische Erfahrung ist damit unbewusst geworden, aber sie ist nicht verdrängt. Traumatisierungen und ihre Folgen sind heute ein wesentlicher Bestandteil der Theorie und Klinik der Psychoanalyse. Aber dennoch hat die psychoanalytische Theorie bis heute Schwierigkeiten, die abgekapselten, Trauma-induzierten Selbstzustände auf den Begriff zu bringen; ein Tatbestand, der mit frühen Weichenstellungen in der Geschichte der Psychoanalyse zu tun hat (vgl. dazu Bohleber, 2017). Breuer und Freud hatten zunächst – Pierre Janet folgend – angenommen, dass bei hysterischen Patientinnen die Erinnerung an das Trauma vom normalen Gedächtnis dissoziativ abgespalten worden ist und dem bewussten Denken nicht zur Verfügung steht. Anders als Breuer betonte Freud allerdings den Willensakt des Kranken, unverträgliche Vorstellungen abzuwehren. Das Ich besaß für ihn genügend Stärke, um die traumatischen Erinnerungen ins Unbewusste zu verdrängen. Er baute in der Folge seine Verdrängungslehre aus, und die Dissoziation war – von Ausnahmen wie bei Ferenczi und Fairbairn abgesehen – lange kein Thema mehr in der Psychoanalyse. Auch heute ist die Wiedereingliederung des Konzepts der Dissoziation in den Korpus psychoanalytischer Theorie immer noch ein Work in Progress, weil sich der Widerstand der Vertreter der Mainstream-Theorien nur langsam auflöst. Wir benötigen aber dieses Konzept, um die spezifische Unbewusstheit traumatischer Erinnerungen angemessen erklären zu können. Dissoziation führt als Reaktion auf ein schweres Trauma zu einer vertikalen Spaltung der Einheit des Bewusstseins in unterschiedliche 42
Teil II: Die Bedeutung von Kontroversen
Bewusstseinszustände. Traumatisch dissoziierte Selbst-Zustände sind nicht in einem psychodynamischen Sinne unbewusst, sondern sind in einem Bereich gespeichert, der dem Bewusstsein zu diesem Zeitpunkt nicht zugänglich ist. Sie können aber jederzeit wieder ins Bewusstsein einbrechen, wenn sie durch bestimmte Reize getriggert werden. Dissoziierte Selbst-Zustände werden nicht wie bei der Verdrängung von einem unbewussten Ich gesteuert, sondern brechen als chronifizierte autonome Intrusionen ins psychische Funktionieren und ins Selbstgefühl ein. Die krasseste Ausprägung dieses Mechanismus finden wir bei den dissoziativen Identitätsstörungen. Dissoziative Prozesse sind Vorgänge, die sich nicht mit der traditionellen Trennung zwischen bewusst, vorbewusst und unbewusst decken und mit diesen topischen Konzepten nicht angemessen zu erklären sind. Das kreative und das romantische Unbewusste Die psychoanalytische Klinik hat gezeigt, dass unbewusste Kräfte nicht nur in Konflikten und Symptomen gebunden sind, sondern dass unbewussten Prozessen auch eine Art von Korrekturfunktion für das seelische Gleichgewicht zukommt. Unbewusste Phantasien können eine stabilisierende Funktion haben. Man denke nur an Tagträume, die dem Einzelnen ein Gefühl der Sicherheit und Selbstbewahrung vermitteln können. Auch Träume können eine unbewusste Korrektur von Einstellungen und Konfliktorientierungen anzeigen und dem Träumer ein Gefühl wachsender persönlicher Authentizität vermitteln. Solche und andere klinische Erkenntnisse haben dazu geführt, dass der Traum in der heutigen Psychoanalyse nicht mehr in erster Linie als ein Weg angesehen wird, auf dem sich unbewusste Wünsche eine imaginäre Erfüllung suchen, sondern als eine besondere Form des unbewussten Denkens gilt, das auf der Suche nach Problemlösungen ist, der Verarbeitung von Konflikten dient, neue Ideen schafft und seelisches Wachstum fördert. Dieses unbewusste Prozessieren von ungelösten Problemen finden wir auch im Wachbewusstsein. Deshalb haben manche Psychoanalytiker auf das romantische Verständnis des Unbewussten zurückgegriffen, bei dem das Unbewusste Das Konzept des Unbewussten
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zur Quelle seelischen Wachstums wird. Newirth (2003) spricht von einem »generativen Unbewussten«, das die Personwerdung des Einzelnen und seine Subjektivität speist. In solchen generativ wirkenden unbewussten Prozessen ist auch das Konzept des wahren Selbst von Donald Winnicott verankert (1965). Er definiert es als angeborene reine Potenzialität, die sich in sogenannten »spontanen Gesten« realisiert. Die Potenzialität verdichtet sich zu einem Entwurf der eigenen Person und bedarf der mütterlichen Fürsorge, um sich verwirklichen zu können. Ein solcher Entwurf verbleibt in einem seelischen Bereich, den man mit dem Begriff des romantischen Unbewussten identifizieren kann. Christopher Bollas drückt diesen Sachverhalt mit seinem Konzept des »personality idiom« noch klarer aus. Er greift dabei auf Freuds Begriff der Urverdrängung zurück. Hatte Freud dort die frühen Triebrepräsentanzen lokalisiert, so ersetzt sie Bollas durch seinen Begriff des wahren Selbst bzw. des Idioms der Persönlichkeit. Dieser Kern des unbewussten Lebens ist als eine »dynamische Form« zu verstehen, die ihr Sein durch Erfahrung und sogenannte Objektivationen zu verwirklichen sucht (Bollas, 1989, S. 12; 1992), aber damit nie zu Ende kommt. Das eigentliche Idiom ist nie in objektiver Realität vorzufinden oder festzumachen, sondern verbleibt im Unbewussten. Ähnlich ist Wilfred Bions Konzeption des »O« zu verstehen. »O« ist nicht fest umschrieben, sondern variabel als »letzte Realität« oder als »absolute Wahrheit«. Als immaterielle psychische Realität kann »O« im Reich des Unbewussten verankert werden. »O« ist für Bion zunächst »Dunkelheit und Formlosigkeit«, kann dann aber in den Bereich des Wissens eingehen, wenn es sich so weit entwickelt hat, dass es aus sinnlicher Erfahrung hergeleitet und erkannt werden kann (1970, dt. 2006, S. 35). Der Bezug zur Konzeption des Unbewussten in der Romantik ist bei all diesen Psychoanalytikern offensichtlich, auch wenn sie ihn nicht explizit erwähnen. Freuds romantisches Erbe war in der Psychoanalyse lange unterbelichtet. Heute verfügen wir über zahlreiche Arbeiten, die dieses Erbe wieder heben (Vermorel u. Vemorel, 1986; Marquard, 1987; Ffytche, 2017). Freud war sich seiner romantischen 44
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Quellen durchaus bewusst, begegnete ihnen aber mit der Ambivalenz seiner naturwissenschaftlichen Identität. Dennoch anerkannte er die Unergründlichkeit des Unbewussten: »Ein Individuum ist nun für uns ein psychisches Es, unerkannt und unbewusst, diesem sitzt das Ich oberflächlich auf« (1923b, S. 251). Trotz allem wissenschaftlich-objektivierendem Zugriff bewahrt Freud damit etwas von der Verankerung eines authentischen Selbst im Unbewussten: ein Selbst, das sich nur im Rückblick auf seine Vergangenheit verstehen kann, aber damit nie zu Ende kommt. Es bleibt sich selbst immer auch ein unbewusstes Wesen. Überblicken wir diese ganze Reihe von Untersuchungen unbewusster Prozesse, so wird deutlich, wie sehr sich unser Wissen über das Unbewusste ausdifferenziert hat und wie komplex es geworden ist. Es ist nicht mehr in die generellen psychoanalytischen Theorien des topischen Unbewussten und auch nicht mit dem Unbewussten der Strukturtheorie zu integrieren. Über eine neue umfassende Theorie des Unbewussten verfügt die Psychoanalyse noch nicht. Interessante Ansätze dazu finden sich bei Arnold Modells Konzept des »unconscious processing center« (2010) und bei Christopher Bollas mit seinem Ansatz einer Theorie unbewussten Denkens (2009) sowie seinem Konzept des »personality idiom« (1989).
2 Das Konzept der Übertragung2 Freuds Verständnis der Übertragung In den Überlegungen, die Freud anstellte, um den Abbruch der analytischen Behandlung durch seine Patientin Dora zu verstehen, suchte er die klinischen Phänomene, mit denen er konfrontiert worden war, mit dem Konzept der »Übertragungen« zu erklären. Übertragungen sind für ihn »Neuauflagen, Nachbildungen von Regungen und Phan2 Die intersubjektive Struktur, die der Übertragung und der Gegenübertragung inhärent ist, wird ausführlicher dargestellt in Bohleber (2018). Das Konzept der Übertragung
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tasien, die von einer früheren Person auf den Analytiker übertragen werden« (1905e, S. 280). Freud hat die Übertragung nie als eigenständiges Beziehungsphänomen gesehen, sondern immer nur in ihrer Funktion für die Erinnerung. Sie konnte zum »größten Hindernis für die Psychoanalyse werden«, war aber zugleich »das mächtigste Hilfsmittel« (S. 281), um das verdrängte Material zu erinnern. Sobald die Erinnerung durch die Deutung der Übertragung wieder zugänglich geworden war, konnte sie aufgelöst werden. Erinnerung statt Wiederholung blieb für Freud stets das therapeutische Ziel. Aber Freud stieß in der analytischen Arbeit immer wieder auf Erfahrungen, die nicht in diesen konzeptuellen Rahmen passten. Die berühmten letzten zwei Absätze in seiner Arbeit zur »Dynamik der Übertragung« zeugen davon. Dort spricht Freud von der Übertragung als dem Feld, auf dem im »Kampf zwischen Arzt und Patient« »der Sieg errungen werden muss« (1912b, S. 374). Hier hat die Übertragungsbeziehung einen Eigenwert erlangt, und Freud ist unmerklich vom intrapsychischen auf das interpersonale Feld geraten. Übertragung ist eine mächtige reale Beziehungserfahrung in sich, die nicht einfach durch eine zurückkehrende Erinnerung irrelevant werden kann. Damit klingt schon bei Freud eine Kontroverse an, die sich um die Funktion von Übertragung, Erinnerung und Rekonstruktion im analytischen Prozess dreht. Seit den 1950er Jahren ist sie immer wieder durch neue Debatten aktualisiert worden, zuletzt 2003 von Harold Blum in Auseinandersetzung mit Peter Fonagy. Im nächsten Kapitel fasse ich die wichtigsten Positionen zusammen. Übertragung und die Kontroverse um die Funktion lebensgeschichtlicher Erinnerung im analytischen Prozess In der Ich-Psychologie verschob sich der Schwerpunkt der analytischen Arbeit von den wiedererinnerten lebensgeschichtlichen Ereignissen nach und nach auf deren Rekonstruktion. Ein seelisch bedeutsames infantiles Ereignis bildet durch seine Verknüpfung mit einer unbewussten Phantasie ein komplexes dynamisches Muster, das im Laufe der weiteren Entwicklung psychisch jeweils neu eingepasst und 46
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dafür umgearbeitet wird. Die Rekonstruktion sucht ausgehend vom Material der analytischen Sitzung dieses Muster und seine sich überlagernden Bearbeitungen zu erfassen, um die Entwicklung retrograd bis zum Ursprungsereignis und der damit verbundenen unbewussten Phantasie zurückverfolgen zu können. Die reale Wirkungsgeschichte dieses dynamischen Komplexes wird als Kausalgeschichte verstanden. Erinnerung und Rekonstruktion erhalten dadurch therapeutische Beweiskraft, dass sie in einen direkten kausalen Zusammenhang mit den fortdauernden psychischen Wirkungen des Ereignisses gebracht werden (Kris, 1956; Blum, 1994). Diese Auffassung der therapeutischen Wirksamkeit von Erinnerung und Rekonstruktion wird mit dem Aufkommen der neueren Objektbeziehungspsychologien und der narrativen und konstruktivistischen Wende massiv erschüttert. Laut narratologischem Verständnis kommen wir nie in Kontakt mit der tatsächlichen Erinnerung, sondern immer nur mit deren Beschreibung durch den Patienten. Wahrheit ist deshalb nicht als etwas Verborgenes unmittelbar aufzufinden, sondern sie ist stets in ein Narrativ eingebunden, das erst Wahrheitsgeltung gewinnt, wenn es für den Patienten Plausibilität erlangt und unverbunden gebliebene narrative Lebensfragmente dadurch eine kohärentere Bedeutung erhalten (Spence, 1982). In der Übertragungsbeziehung werden frühe Formen der Erfahrung in einem narrativen Kontext quasi verkörpert. Gegenwart und Vergangenheit konstruieren sich gegenseitig, und die historische Wahrheit wird durch die narrative Wahrheit ersetzt. Der Rahmen der narrativen Realität kann nicht verlassen werden, und der Bezug zur Welt des Realen bleibt stumm. Die Erforschung des Zusammenspiels von Übertragung und Gegenübertragung hat sich in der Entwicklung der analytischen Technik zunehmend als therapeutischer Schwerpunkt herausgebildet. Eine immer feiner werdende Wahrnehmung und Formulierung von seelischen Mikroprozessen, wie sie sich in der Dynamik der therapeutischen Beziehung entfalten, bezog auch das auftauchende lebensgeschichtliche Material mit ein. Dass Erinnerungen nicht ohne den Das Konzept der Übertragung
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Kontext zu verstehen sind, in dem sie auftauchen, war schon lange bekannt. Jetzt aber wird dargestellt, wie stark das Auftauchen von Erinnerungen durch eine sich entfaltende unbewusste Dynamik in der Übertragungs- und Gegenübertragungsbeziehung gesteuert wird. Außerdem hat die Analyse früher Störungen beleuchtet, wie sehr autobiografisches Material durch Spaltungsprozesse verzerrt und entstellt werden kann. Am prägnantesten hat sich in der britischen Psychoanalyse und dort vor allem in der kleinianischen Schule das therapeutische Handeln zu einer Analyse von inneren Objektbeziehungen im Hier und Jetzt von Übertragung und Gegenübertragung gewandelt. Der Patient gestaltet die Beziehung zum Analytiker unbewusst so, dass sich seine innere Welt als Gesamtsituation von der Vergangenheit auf die Gegenwart überträgt. Behandlungstechnisch hat die Vergangenheit jede eigenständige Bedeutung eingebüßt. Mit der Deutung der Übertragung im Hier und Jetzt der analytischen Situation werden gleichzeitig Vergangenheit und Gegenwart erfasst. Ein rekonstruktiver Rekurs auf die historische Vergangenheit steht unter dem Verdacht, eine Abwehrbewegung zu sein. Wenn überhaupt, dann dient eine Rekonstruktion nur noch dazu, dem Patienten ein Gefühl für die eigene Kontinuität und Individualität zu vermitteln (Joseph, 1988; Riesenberg-Malcolm, 1988). In neueren Versionen des Konzepts der Übertragung spielen die Erkenntnisse der kognitiven Neurowissenschaft über das implizit-prozedurale und das explizite Gedächtnis eine zentrale Rolle, während die klinische Relevanz des autobiografischen Gedächtnisses vernachlässigt wird. So geht Peter Fonagy (1999, 2003) davon aus, dass sich in der Übertragung implizite Schemata/Modelle von generalisierten Selbst- und Objektbeziehungen aktualisieren, die viele Einzelerfahrungen in sich vereinen und zumeist nur im prozeduralen Gedächtnis gespeichert sind. Da auch damalige Wünsche und Phantasien zu ihrer Bildung beigetragen haben, sind es keine Repliken tatsächlicher Erfahrung. Sie können deshalb keine historische Wahrheit bezeugen. Die Schemata sind »autonom« geworden, das heißt, sie sind nicht länger von den Erfahrungen, die zu ihnen beigetragen haben, abhän48
Teil II: Die Bedeutung von Kontroversen
gig. Der kurative Faktor liegt in der Durcharbeitung der psychischen Realität, also der gegenwärtigen Erfahrungen im Kontext der Perspektiven Anderer, keineswegs nur der Kindheitsperspektive. Wieder auftauchende Erinnerungen hält Fonagy für ein »Epiphänomen, eine unvermeidliche Folge der Untersuchung mentaler Beziehungsmodelle« in der Therapie (1999, S. 218). Harold Blum (2003) dagegen betont, dass Übertragung immer ein Transfer von unbewussten Phantasien und Kindheitserinnerungen in die analytische Gegenwart ist und ohne ihre infantilen Wurzeln nicht verstanden werden kann. Übertragungsanalyse und Rekonstruktion wirken synergistisch zusammen. Durch die genetische Rekonstruktion wird die Übertragung eine affektiv wiedererlebte und analytisch gedeutete lebendige Geschichte, und die Kontinuität der Person wird durch sie reorganisiert und wiederhergestellt (Blum, 2003). In einer neuen Kontroverse kritisiert Donnel Stern (2018) diese Position vom Standpunkt der relationalen Psychoanalyse. Es sei nicht das Verständnis der Übertragung durch den Analytiker, das die Rekonstruktion ermöglicht, sondern eine neue historische Rekonstruktion kommt dem Analytiker deshalb in den Sinn, weil sie das Produkt einer spontanen, emergenten Veränderung des interpersonalen Feldes ist. Der Neurowissenschaftler Richard Lane (2018) kommt aufgrund neuerer Erkenntnisse zum Prozess der Rekonsolidierung von emotionalen Erinnerungen zum Schluss, dass das alte psychoanalytische Modell der Rekonstruktion von Erinnerungen doch nicht so überholt ist, wie heute weithin gedacht. Zunächst muss der Analytiker bei den implizit ablaufenden gegenwärtigen Übertragungsinteraktionen seine körperbasierten Emotionen für sich explizit konstruieren. Um sie als Ausdruck alter Patterns des Patienten zu verstehen, muss er in einem zweiten Schritt dessen alte Erfahrungen rekonstruieren. Nur dann kann die gegenwärtige neue Erfahrung mit dem Analytiker oder der Analytikerin als eine »corrective emotional experience« zustande kommen, und die alten Erinnerungen können einen Prozess des Updating und der Rekonsolidierung durchlaufen. Das Konzept der Übertragung
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Die Kontroverse um die Übertragung und die Erkenntnishaltung des Analytikers Freud stellt bei der Frage, welche therapeutische Haltung der Analytiker einnehmen soll, um die Übertragung und ihre unbewusste Dynamik zu erkennen, zwei Methoden der Erkenntnis nebeneinander. Für beide benutzt er Metaphern, für die eine den Spiegel und für die andere den Sender und Receiver des Telefons3. Bei der Spiegelmetapher geht Freud davon aus, dass das verborgene Unbewusste nur erkannt werden kann, wenn der Analytiker dem analytischen Material voraussetzungslos und absichtslos gegenübertritt. Er soll für den Analysierten »undurchsichtig […] sein und wie eine Spiegelplatte nichts Anderes zeigen, als was ihm gezeigt wird« (1912e, S. 384). Damit drückt Freud seine Überzeugung aus, dass sich die Psychoanalyse als Wissenschaft methodisch allein auf die Deutung einer Empirie stützen kann, die durch Beobachtung gewonnen wird (1914c, S. 142). Der Spiegel verkörpert die Forderung einer möglichst objektiven Erkenntnis und sichert den Analytiker dagegen, die Übertragung des Patienten mit zu agieren. Unabhängig von der Frage, wie Freud selbst seine Ratschläge verstanden haben mag, ist in der Folgezeit die Spiegelmetapher zu einem erkenntnisleitenden Ideal für die Haltung des Analytikers geworden. Übertragung und die Übertragungsneurose entwickeln sich demnach quasi naturgesetzlich und scheinbar unabhängig vom Analytiker und dessen Funktion als Spiegel. Der Analytiker wird als Einflussfaktor fast gänzlich minimiert. Als Beobachter ist er in der Lage, die Welt des Analysanden objektiv zu erkennen und zu deuten. Die Übertragung ist eine reine Wiederholung vergangener neurotischer Beziehungsaspekte und führt damit zu einer »falschen Verknüpfung« mit der gegenwärtigen Person des Analytikers oder der Analytikerin. Die Wahrnehmungen des Patienten von der analytischen Situation sind mehr oder weniger grobe Verzerrungen der aktuellen Realität. Aber eben nicht 3 Die Bedeutung dieser Metapher erörtere ich im Kapitel zur Gegenübertragung, S. 57 ff. 50
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ganz. Sie sind eine Mischung von Reaktionen, die der Realität der Situation angemessen sind, und von Phantasien, Wünschen und Ängsten, die einer Person der Vergangenheit galten. Herauszuarbeiten, was eine angemessene Reaktion ist und was nicht, wurde zur Aufgabe des Analytikers. Er war der Experte nicht nur für die Übertragungsaspekte, sondern auch für die Realitätswahrnehmung. Die klinische Realität zwang allerdings die Analytiker einzusehen, dass sie in ihrem praktischen Handeln dem Ideal, ein objektiver Spiegel und ein leidenschaftsloser Analytiker zu sein, nicht entsprechen konnten. Nach und nach wurde anerkannt, dass die Wahrnehmung des Analysanden nicht nur durch verzerrende neurotische Übertragungsaspekte bestimmt ist, sondern dass er durchaus in der Lage ist, andere, davon nicht betroffene Eigenschaften der Person des Analytikers oder der Analytikerin realistisch wahrzunehmen und darauf angemessen zu reagieren. Schon Ida Macalpine hatte 1950 überzeugend nachgewiesen, dass Übertragung keineswegs – wie Freud und andere annahmen – spontan entsteht, sondern dass sie durch das Setting der analytischen Situation, die eine infantile Regression auslöst, aktiv induziert wird. Übertragung bildet sich insofern reaktiv und ist feldabhängig (Thomä, 1984). Übertragung gibt es nicht in Reinkultur, sondern immer nur in der Verflechtung mit der jeweiligen analytischen Situation, die wechselseitig interaktiv strukturiert ist. Merton Gill radikalisierte diese Auffassung der Übertragung in den 1980er Jahren (1979, 1982). Für ihn ist die ganze Analytiker-Patient-Beziehung Übertragung. Alle Mitteilungen des Patienten haben eine Übertragungsbedeutung, die allerdings oft nur in Anspielungen fassbar wird. Übertragung ist keineswegs nur eine Produktion des Patienten. Auch der Analytiker ist in das emotionale Geschehen der Übertragung involviert und leistet seinen Beitrag dazu. Damit wandelt sich seine Position vom objektiven Beobachter zu einem teilnehmenden Beobachter (»participant observer«), und die Übertragung wird intersubjektiv definiert. Sie ist nicht nur eine Wiederholung der Vergangenheit, sondern eine situativ entstehende Resultante der Interaktion zwischen Patient und Analytiker. Übertragung als Verzerrung oder gar als illusionär einzuDas Konzept der Übertragung
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stufen, hält Gill für eine Entwertung der Wahrnehmung des Patienten. Der Analytiker liefere mit seinem Verhalten genügend Anhaltspunkte, um die Wahrnehmung und Interpretation des Patienten als plausibel erscheinen zu lassen. Die Aktualisierung der Übertragung durch einen aktuellen Stimulus und ihre Deutung im Hier und Jetzt der analytischen Beziehung wird für den Analysanden insofern zu einer neuen Erfahrung, weil sich der Analytiker anders verhält, als von ihm erwartet. Für Gill erhält der Analytiker mit seiner Funktion, Spiegel zu sein und über die Objektivität der Wahrnehmung des Patienten zu entscheiden, eine viel zu große Autorität und Definitionsmacht, die zu Arroganz und autoritärem Missbrauch führen kann. Analytiker und Patient sind »in einen Dialog miteinander verwoben« und suchen »zu einer Übereinstimmung über die Realität zu gelangen« (Gill, 1979, dt. 1993, S. 282). Gill (1983) und auch Hoffman (1983) verabschieden sich von der Vorstellung einer Dichotomie zwischen Übertragung als Verzerrung und korrekter realistischer Wahrnehmung, denn sie verkenne die tatsächliche Natur der Beziehung zwischen Analytiker und Patient. Interpersonales Geschehen sei immer von einer mehr oder weniger großen Ambiguität geprägt und führe deshalb zu unterschiedlich selektiven Wahrnehmungen und Einschätzungen. Auf dieser Grundlage gehen sie davon aus, dass die Wahrnehmungen des Patienten von den interpersonalen Interaktionen in der analytischen Situation plausibel sind. Der Analytiker kann nicht Schiedsrichter über die Realität sein. Dennoch halten Gill und Hoffman daran fest, dass die Erfahrung des Patienten von Übertragung geprägt ist, denn seine Vergangenheit bedingt eine selektive Aufmerksamkeit und Sensibilität für bestimmte Facetten der interaktiven Situation, die mit idiosynkratischer Bedeutung aufgeladen sind. Gill lässt das naturwissenschaftliche Paradigma und die Möglichkeit einer wie immer gearteten objektiven Erkenntnis der Realität hinter sich und übernimmt eine hermeneutisch-konstruktivistische Position, in der Bedeutungen stets intersubjektiv ausgehandelt, also ko-konstruiert werden müssen. 52
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Theoretisch war eine solche Position zwar zu halten, aber klinisch führte sie in Schwierigkeiten. Eine intensive Debatte kam in Gang, die erwies, dass nicht alle Interpretationen vonseiten des Patienten gleich plausibel sind, sondern dass es durchaus Verzerrungen der Realität geben kann. Die Frage blieb, nach welchen Kriterien entschieden werden soll, welche Interpretation plausibler, also objektiver, ist und welche klinische Schlussfolgerung den Sachverhalt genauer trifft. Damit kam die Autorität des Analytikers durch die Hintertür wieder ins Spiel. Einer so gearteten autoritativen Position konnte der Analytiker auch dann nicht entkommen, wenn er sich gänzlich auf die Analyse der psychischen Realität beschränkte, denn auch da stellten sich implizit die Fragen, was plausibler bzw. was »eigentlich« gemeint ist. So hat die Frage, was Übertragung denn eigentlich ist, in den 1990er Jahren unversehens in eine Diskussion epistemologischer Grundfragen geführt. Vertreter der relationalen Psychoanalyse rückten die Subjektivität des Analytikers ins Zentrum der Diskussion und hoben die erkenntnistheoretische Subjekt-Objekt-Beziehung in eine Subjekt-Subjekt-Beziehung auf. Beide Partner der analytischen Beziehung müssen ihre irreduzible Subjektivität anerkennen, wodurch sich die Autorität des Analytikers als Experte weitgehend relativiert. Aussagen über die psychische Realität des Patienten werden nun gänzlich von Analytiker und Analysand in der intersubjektiven Situation ko-konstruiert. Die Deutung konstituiert erst das, was gedeutet wird (Aron, 1996). Psychische Realität ist deshalb nie vorgängig zur Interpretation vorhanden. Der Versuch, eine vorhandene oder vorgefundene innere Realität des Patienten zu formulieren, ist demnach genauso sinnlos wie die Suche nach einer möglichst objektiven Erkenntnis der Realität. Aus unserer Subjektivität können wir nie aussteigen, um etwas in seiner realen Objektivität zu erkennen, sondern wir haben es immer mit Konstruktionen zu tun. Damit ist das Pendel von einer durch die Spiegelmetapher versinnbildlichten objektiven Erkenntnis weit auf die andere Seite ausgeschlagen. Die Frage, inwiefern der Patient unbewusste Phantasien, Wünsche und Ängste mitbringt, die dann aufgedeckt und gedeutet Das Konzept der Übertragung
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werden können, oder ob alle Bedeutungen in der Dyade konstruiert werden, hat eine heftige kontroverse Diskussion nach sich gezogen. Vor allem gegen den radikalen Konstruktivismus vieler relationaler Theorien hat sich eine breitere Kritik erhoben. Zwar anerkennen heute viele Analytiker aus unterschiedlichen Theorierichtungen die intersubjektive Struktur der analytischen Beziehung und die Subjektivität des Analytikers oder der Analytikerin, sie lehnen aber deren Verabsolutierung im Sinne einer Subjektivität, die unhintergehbar ist, ab. Aus der intersubjektiven Bedingtheit könne nicht geschlossen werden, dass eine objektive Erkenntnis der Realität gar nicht möglich sei. Die Kritiker wehren sich gegen übergeneralisierende Schlussfolgerungen. Sie halten daran fest, dass die psychische Realität des Patienten unabhängig von den interpretierenden Aktivitäten des Analytikers besteht. Diese Unabhängigkeit ist es, die uns die Möglichkeit verschafft, unsere Vorstellungen und Konzepte in der analytischen Situation zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren (Hanly u. Hanly, 2001, S. 530). Eagle, Wolitzky und Wakefield (2001) argumentieren ähnlich: Wir müssen zwar anerkennen, dass wir über unsere Konstruktionen der Realität nicht hinauskommen, aber die unabhängige Realität des Anderen ist stets als etwas vorhanden, das unseren Konstruktionen Einschränkungen auferlegt und die Weite unserer Interpretationen begrenzt. Deshalb solle die Psychoanalyse die Position eines »bescheidenen Realismus« (humble realism) vertreten. Der Streit um Objektivität versus Subjektivität ist auch heute noch nicht zu Ende. Natürlich stehen hier erkenntnistheoretische Grundsatzfragen zur Diskussion. Vielleicht war es der amerikanische philosophische Pragmatismus, der die Vertreter moderner Ich-Psychologie daran hinderte, sich in epistemologischen Grundsatzdebatten zu verhaken. Sie wollten sich weder auf die Seite der objektiven Erkenntnis noch auf die der unhintergehbaren Subjektivität schlagen, sondern eine mittlere Position einnehmen und an einem Zusammenspiel der Objektivität der Realität und der Subjektivität des Analytikers ebenso festhalten wie daran, dass Bedeutung immer beides ist, konstruiert und vorgefunden (Gabbard, 1997; Druck, 2014). Von daher bestimmt 54
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Glen Gabbard, einer der Protagonisten dieser Position, als Zielvorstellung für die Psychoanalyse, »Objektivität in einem intersubjektiven Kontext« zu suchen (1997, S. 21). Übertragung und Zwei-Personen-Psychologie Viele moderne Ich-psychologische Konzeptionen haben eine rein intrapsychische Sichtweise des Patienten aufgegeben und changieren zwischen einer Zwei-Personen-Psychologie und einem genuin intersubjektiven Ansatz. Analytiker und Patient bilden ein »contextual unit« (Poland, 1992; Schwaber, 1996). Die Analyse der Übertragung zielt nicht mehr auf die Erinnerung der Vergangenheit ab, sondern Übertragung ist eine »original creation« (Poland, 1992). In der Gegenwart kann keine »inkarnierte übertragene Vergangenheit« (Poland, 1992, S. 189; eigene Übers.) auftauchen, sondern die Gegenwart schafft erst unsere Bilder der Vergangenheit, und die Übertragung existiert in der Unmittelbarkeit der Beziehung im Hier und Jetzt. Die unbewussten Phantasien, die die gegenwärtige Erfahrung organisieren, bilden die Brücke zur Vergangenheit. Das analytische Instrument ist nicht mehr der Spiegel, auf dem sich die latenten Inhalte der Psyche des Patienten abbilden können, sondern die von Analytiker und Patient gemeinsam vorgenommene und miteinander geteilte Untersuchung der seelischen Welt des Patienten, so wie sie sich in der analytischen Beziehung entfaltet. Zwar ist der Kontext intersubjektiv, aber das Objekt der gemeinsamen Untersuchung ist einzig die Psyche des Patienten. Der Beitrag des Analytikers bleibt außerhalb der Betrachtung. Eine solche Sichtweise steht zwar an der Schwelle, vollzieht aber den Schritt zu einer genuinen intersubjektiven Konzeptualisierung nicht mehr. Den neuralgischen Punkt, der sie an diesem Schritt hindert, bezeichnet Evelyne Schwaber (1996) als Paradox: Die klinische Realität ist zwar eine geteilte und gemeinsam kreierte (co-participatory) Welt, aber die Theorie der Psychoanalyse, mit der wir zuhören und konzeptualisieren, ist eine Ein-Personen-Psychologie für die intrapsychische Welt des Patienten. Dieses Paradox beleuchtet Das Konzept der Übertragung
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das theoretische Prokrustesbett des intrapsychischen Paradigmas, in das die moderne Ich-psychologie lange eingezwängt blieb. Sie verfügte über keine geeigneten Begrifflichkeiten, die eine Analyse des intersubjektiven »Zwischen« leisten könnten. Erst die Debatte um das Gegenübertragungsenactment öffnete hier ein neues Feld. Ich komme darauf zurück. Dennoch berührt Schwaber mit ihrem Paradox einen wichtigen Sachverhalt: Zwar ist die intersubjektive Genesis und Einbindung des Selbst heute wissenschaftlich akzeptiert, aber daraus zu folgern, dass das Subjekt immer intersubjektiv eingebunden bleibt, ist nicht haltbar, denn es verdunkelt die Eigenständigkeit des Selbst und seine Fähigkeit, für sich zu sein und sich reflexiv aus diesen Bedingungen heraus zu bewegen. Louis Sander (2009) hat die zwei biologisch gegebenen Grundprinzipien eindrücklich beschrieben, die schon zu Beginn der Primärbeziehung eine fundamentale systemische Dynamik entfalten: das Eins- und Zusammensein sowie das Unterschiedensein als Voraussetzung für die Entwicklung eines »kohärenten Empfindens des Selbst-als-Urheber« (Sander 2009, S. 287), mit dem dieser sich als selbstorganisierender Handelnder zu etablieren sucht. Ähnlich hat Sidney Blatt immer wieder die synergistische Interdependenz der beiden Entwicklungskräfte von »relatedness« und »self-definition« betont (Blatt u. Levy, 2003). In der kleinianischen Psychoanalyse hatte die Untersuchung des Übertragungskonzepts nicht dieselbe Bedeutung wie in der Ich-Psychologie. Die Begründung lag darin, dass die Gesamtsituation der analytischen Sitzung als Übertragung aufgefasst wurde und Übertragung im Sinne einer genetischen Kontinuität immer als Ausdruck einer infantilen unbewussten Phantasie des Patienten verstanden wurde. Unbewusste Übertragungsphantasien sind im Material des Patienten unmittelbar präsent und können interpretiert werden. Mit der Erkenntnis der Mechanismen der projektiven Identifizierung wurde ein neuer Rahmen geschaffen, um die Übertragungsphänomene zu begreifen. Obwohl Kleinianer den Patienten, die Patientin rein intrapsychisch im Blick haben, öffnete die projektive Identifizie56
Teil II: Die Bedeutung von Kontroversen
rung eine Perspektive auf ein intersubjektives Geschehen, bei dem die Grenzen zwischen Selbst und Anderem durchlässig werden. Ich komme beim Konzept der Gegenübertragung darauf zurück.
3 Das Konzept der Gegenübertragung Freud hat mit seiner Telefon-Receiver-Metapher beschrieben, wie der Analytiker sein Unbewusstes als empfangendes Organ dem gebenden Unbewussten des Patienten zuwenden solle. So wie die elek trischen Impulse in Schallwellen umgewandelt werden, kann das Unbewusste des Analytikers aus den ihm mitgeteilten Abkömmlingen das Unbewusste erkennen, das die Einfälle des Kranken determiniert hat (1912e, S. 381 f.). Wie aber stellt sich Freud jenseits der Metapher diesen psychologischen Vorgang konkret vor? Er empfiehlt dem Analytiker, sich mit gleichschwebender Aufmerksamkeit seiner unbewussten Geistestätigkeit zu überlassen, um so »das Unbewusste des Patienten mit seinem eigenen Unbewussten aufzufangen« (1923a, S. 215). Eine präzisere Antwort konnte Freud nicht geben. Dieses Faktum unbewusster Kommunikation zwischen Analytiker und Analysand hat dann spätere Generationen beim Versuch, die Gegenübertragung zu verstehen, intensiv beschäftigt. Die Entwicklung des Konzepts der Gegenübertragung in den USA Das Instrument des Analytikers für das Verstehen des Patienten ist sein eigenes Unbewusstes. Das Zuhören und Verstehen kann allerdings durch die eigene Übertragung des Analytikers auf den Patienten getrübt werden. Das klassische Verständnis der Gegenübertragung umfasst nicht bewältigte unbewusste Bedürfnisse und Konflikte des Analytikers, die durch den Patienten aktualisiert werden. Der Patient repräsentiert für den Analytiker eine Person seiner eigenen Vergangenheit, und die Wünsche Ängste und Konflikte, die mit ihr verbunden waren, werden auf den Patienten projiziert. Die GegenDas Konzept der Gegenübertragung
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übertragung wird so zum Hindernis für das Verstehen. Gegenübertragung kommt zwar häufig vor, was aber nichts daran ändert, dass sie ein unerwünschtes Eindringen von unbewussten Reaktionen des Analytikers in den analytischen Prozess ist. Sie gilt es zu kontrollieren, um ein sauberes analytisches Funktionieren wiederherzustellen. Diese klassische Auffassung prägte lange Zeit das Verständnis der Analytikerinnen und Analytiker von der Gegenübertragung. Anni Reich (1951) hat sie noch einmal auf dem Internationalen Psychoanalytischen Kongress 1949 in Zürich ausformuliert. Sie bestimmte für lange Zeit die Ich-psychologische Sichtweise in den USA. In Europa setzte sich ein anderes Verständnis durch, das von Paula Heimann 1949 auf demselben Kongress erstmals vorgetragen worden war (1950). Der »Atlantic Divide« zwischen Europa und den USA war bei der Gegenübertragung über Jahrzehnte hinweg besonders groß. Theodore Jacobs spricht von einem Vorhang des Schweigens, der in den USA für zwanzig Jahre über dieses Thema fiel. Erst im Laufe der 1970er Jahre nahm die Kritik an dieser theoretischen Positionierung zu und mündete in einen »Dammbruch« (Jacobs, 1999). Danach erschien eine Flut von Arbeiten zum Konzept der Gegenübertragung. Der Boom, den das Thema der Gegenübertragung in den USA erlebte, hat allerdings nicht nur psychoanalyseinterne Gründe, sondern war auch die Folge einer zunehmenden Demokratisierung gesellschaftlicher Bereiche sowie der De-idealisierung traditioneller Autoritätsstrukturen, sodass der Analytiker nicht mehr eine Autorität verkörperte, die die Wahrheit über einen selbst aufdecken konnte, sondern zu einem Experten in einer partnerschaftlichen Beziehung wurde. Gegenübertragung wird heute in der modernen Ich-Psychologie als ein analytisches Werkzeug und als eine gemeinsame Kreation des analytischen Paares verstanden. Sie ist ein komplexes Phänomen mit einem Kompromiss-Charakter, weil sich in ihm Reaktionen des Analytikers, die durch den Patienten ausgelöst wurden, mit davon unabhängigen Aspekten der Subjektivität des Analytikers verbinden (Gabbard, 1997). 58
Teil II: Die Bedeutung von Kontroversen
Für dieses neue Verständnis der Gegenübertragung war die Aufklärung der Enactments des Analytikers von großer Bedeutung. Es sind Reaktionen, die aus dem Duktus der jeweiligen analytischen Situation nicht erklärbar sind, wie ärgerliche Affekte, Langeweile oder Ablenkungen. Sie können aber auch subtil in scheinbar korrekten Deutungen zum Ausdruck kommen (Jacobs, 1986). Solche Gegenübertragungsenactments werden durch unbewusst bleibenden interpersonalen Druck vonseiten des Patienten ausgelöst oder durch eine konflikthafte Regression des Analytikers, durch die sich eigene unbewusste Konflikte in die unbewussten Übertragungsphantasien des Patienten einklinken können und die ein Enactment zur Folge haben, das für beide Partner eine unbewusste Bedeutung hat. Auf diese Weise kommt es zu einer Kommunikation zwischen dem Unbewussten des Analytikers und dem des Patienten. Die intensive und anhaltende Diskussion dieser Phänomene holte die Subjektivität und Vulnerabilität des Analytikers, der Analytikerin aus dem Dunkel eines nicht adäquaten Reagierens heraus und verortete sie in einer interpersonalen Erfahrung, die durch eine unbewusste gemeinsame regressive Bewegung entstanden ist. Dass das Gegenübertragungsenactment eine gemeinsame Schöpfung von Analytiker und Patient sein kann, hat sich im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte in der modernen Ich-Psychologie weitgehend durchgesetzt und intersubjektivem Denken über die Zwei-Personen-Psychologie hinaus Raum verschafft. Die Entwicklung des Konzepts der Gegenübertragung in Europa Die Entwicklung des Konzepts der Gegenübertragung nahm in Europa einen anderen Verlauf. Sándor Ferenczi war der Erste, der die Gegenübertragung als ein intersubjektiv erzeugtes Phänomen und als ein analytisches Instrument verstand. Er verankerte die Gegenübertragung in mütterlichen Dispositionen. Das Übertragungsverhältnis fördert das Zustandekommen »verfeinerter Empfänglichkeitsäußerungen« ungemein (Ferenczi, 1988, S. 133), weil sich die beiderseitiDas Konzept der Gegenübertragung
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gen Unbewussten in einem Dialog befinden, »ohne dass das Bewusstsein auch nur eine Ahnung davon hätte« (Ferenczi, 1915/1964, S. 231). In der Folgezeit haben Helene Deutsch, Theodor Reik, Michael Balint, Donald Winnicott, Paula Heimann, Margaret Little, Heinrich Racker und andere den Beitrag, den die Gegenübertragung für die analytische Erkenntnis haben kann, herausgearbeitet.4 Dabei wurde Paula Heimanns Arbeit von 1950 zu einem Wendepunkt und Markstein. Heimann betont, dass es sich bei der analytischen Situation um eine Beziehung von zwei Personen handelt, die auf einer tiefen Ebene unbewusst in Verbindung stehen. Dadurch verfügt der Analytiker über eine unbewusste Wahrnehmung des Unbewussten des Patienten, die weitaus »schärfer und weitsichtiger« ist als sein bewusstes Erfassen der Situation (1950, dt. 2016, S. 114). Wie aber nimmt der Analytiker unbewusst wahr? Seine unmittelbare emotionale Reaktion dient ihm als Anhaltspunkt, um die unbewussten Prozesse des Patienten zu erfassen, und sie weist ihm den Weg zu einem weiterreichenden Verständnis. Dieses »hinkt« deshalb der unbewussten Wahrnehmung immer hinterher. Die Gegenübertragung des Analytikers ist eine »Schöpfung des Patienten« (S. 116). Sie ist ein Forschungs instrument und ein »Schlüssel« zu dessen Unbewusstem. Das war eine neue Sicht auf die analytische Beziehung. Ich möchte die Veränderungen, die dadurch in Gang kamen, in zwei Punkten skizzieren: 1. An sich ist Gegenübertragung ein universelles Phänomen menschlicher Beziehungen. Das Besondere an der analytischen Situation ist die methodisch-systematische Reflexion der Phänomene. Für Heimann muss der Analytiker zunächst die Rolle übernehmen, die der Patient ihm zuschreibt, er darf sich aber nicht als Mitspieler an der Szene beteiligen, die der Patient reinszeniert. Später revidierte Heimann ihre Sicht der Gegenübertragung als einer reinen »Schöpfung des Patienten«, indem sie die Gegenseitigkeit und die reziproke Beeinflussung von Patient und Analytiker 4 60
Einen ausgezeichneten Überblick gibt Stefana (2017). Teil II: Die Bedeutung von Kontroversen
betont. In dieselbe Richtung geht dann Joseph Sandler 1976 mit seinem Konzept der »gleichschwebenden Bereitschaft zur Rollenübernahme«. Für ihn ist die analytische Beziehung ein komplexes System dynamischer Interaktion, bei dem »unbewusste Signale« (cues) gegenseitig gesendet und empfangen werden. Der Patient versucht unbewusst, dem Analytiker eine »intrapsychische Rollenbeziehung« aufzudrängen und sie in der Übertragung zu aktualisieren. Dieser Druck zur Rollenübernahme trifft beim Analytiker, bei der Analytikerin auf ganz eigene Tendenzen und Eigenarten. Gegenübertragung ist für Sandler ein »Kompromiss« zwischen den eigenen Strebungen und Neigungen des Analytikers und der Rollenbeziehung, die der Patient unbewusst aufzubauen sucht. 2. Wie wird nun der Anteil der Gegenübertragung, der »Schöpfung des Patienten« ist, in das Unbewusste des Analytikers übermittelt? Heimann geht von einem direkten kommunikativen Kontakt von Unbewusst zu Unbewusst aus. Aber wie ein solcher unbewusster Kommunikationskanal beschaffen sein könnte, bleibt bei ihr unbeantwortet. Es war dann das Konzept der projektiven Identifizierung von Melanie Klein, das von kleinianischen Psychoanalytikern weiterentwickelt worden war, das in dieser Frage weitere Aufklärung zu liefern vermochte.5 Gegenübertragung, projektive Identifizierung und unbewusste Kommunikation Mithilfe des Mechanismus der projektiven Identifizierung können unerträgliche Teile des Selbst projektiv in einem Anderen untergebracht, dort lokalisiert und kontrolliert werden. Die klinische Beschreibung solcher seelischen Prozesse hat einem intersubjektiven Denken in der Psychoanalyse neue Möglichkeiten eröffnet. Zwar gehen Kleinianer davon aus, dass das, was vom Patienten projektiv im Analytiker untergebracht wird, nur mit dem projizierenden Sub5 Zu Verbreitung des Konzepts der projektiven Identifizierung in der modernen Psychoanalyse siehe Spillius und O’Shaughnessy (2012). Das Konzept der Gegenübertragung
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jekt zu tun habe und dafür kein Entgegenkommen im Verhalten des Analytikers notwendig sei, aber Bion erweiterte diese Sicht der Dinge. Für ihn ist die projektive Identifizierung nicht nur ein pathologischer Prozess, der der Abwehr dient, sondern eine wichtige Form nonverbaler Kommunikation. Er hat diese Auffassung zu seinem Container/ Contained-Modell ausgearbeitet und für das Verständnis des analytischen Prozesses fruchtbar gemacht. In den 1980er und 1990er Jahren erlebte das Konzept der projektiven Identifizierung einen enormen Aufschwung, weil es Analytikerinnen und Analytikern aus anderen Schultraditionen hilfreich war, die eigenen Gegenübertragungsreaktionen besser zu verstehen. Das Konzept wurde aus der kleinianischen Theorie herausgebrochen und in andere theoretische Gebäude transponiert. Vor allem ihr interpersonaler Aspekt machte die projektive Identifizierung attraktiv, um sie in das eigene Theoriesystem einzubauen. So betonen beispielsweise moderne Ich-Psychologen, dass es passende Eigenschaften der Person des Analytikers geben muss, damit sich die Projektion überhaupt an ihm anhaken kann. Thomas Ogden (1994, 2004) geht noch einen Schritt weiter. Er sucht die Veränderung der Subjektivität der Subjekte in der intersubjektiven Erfahrung psychoanalytisch als eine wechselseitige projektive Identifizierung zu erfassen. Die Subjektivität des Projizierenden sowie die des Empfangenden wird dabei auf unterschiedliche Weise negiert: Der Projizierende verleugnet einen Aspekt seiner selbst, den er stattdessen dem Empfänger zuschreibt und ihn damit besetzt. Dadurch negiert er sich selbst als getrenntes Ich und wird für sich selbst ein Anderer. Gleichzeitig negiert er den Anderen als Subjekt und kooptiert dessen Subjektivität zu seiner eigenen hinzu. Der Empfänger hat an dieser Negation seiner selbst dadurch teil, indem er sich dem auf ihn projizierten Aspekt der Subjektivität des Anderen unterwirft bzw. unterordnet (subjugate), also in sich selbst Raum dafür schafft. Durch den wechselseitigen Prozess der Negation entsteht ein drittes Subjekt, das »Subjekt der projektiven Identifizierung«, auch als »subjugating third« benannt, das sowohl beides ist, Projizierender 62
Teil II: Die Bedeutung von Kontroversen
und Empfangender, als auch keines von beiden. Die Rollen von Projizierendem und Empfangendem wechseln, und jeder wird durch den anderen zu einem »dritten Subjekt«. Darin liegt die kreative und bereichernde Funktion intersubjektiven Austausches, der zu neuer Erfahrung führt. Im analytischen Prozess wird diese Art der Bezogenheit zum zentralen Mittel der Veränderung. Beide, Analytiker und Analysand, überlassen sich der Erfahrung dieses intersubjektiven analytischen Dritten, um sich dann die transformierte eigene Subjektivität wieder anzueignen.6 Wie aber gelangt der projizierte Aspekt in den Empfänger hinein? Ogden (1979) hat ein Phasenmodell der projektiven Identifizierung entwickelt. Zunächst evakuiert der Projizierende einen eigenen Anteil in das Bild, das er vom Analytiker hat. Durch die reale Interaktion übt der Projizierende Druck aus, damit der Analytiker sich in seinem Denken und Fühlen diesem Bild öffnet und sich der Projektion überlässt. Danach kann die Verarbeitung beginnen. Ogden nennt die zweite Phase eine »Induktionsphase«. Sie ist das zentrale Element intersubjektiver Beeinflussung. Die Prozesse, die in dieser Induktionsphase im Individuum ablaufen, hat James Grotstein (2005, 2009) mit seiner Theorie der »projective transidentification« zu erfassen versucht. Nur von Projektion und Introjektion zu sprechen, simplifiziere den Vorgang allzu sehr. Zumindest zwei zusätzliche Faktoren oder Funktionen müssten noch hinzugefügt werden: Das projizierende Subjekt muss über eine hypnoseartige Kraft verfügen, mit der es im Objekt Veränderung hervorrufen kann. Diese Fähigkeit gründet in einer »Körperrhetorik« und benutzt Vorgänge des Prompting und Priming sowie Gesten, 6 Bei seiner Konzeptualisierung intersubjektiv transformierter Subjektivität durch das »subjugating third« stand Hegels Intersubjektivitätstheorie mit seinem an dem Herr-Knecht-Verhältnis exemplifizierten Prozess wechselseitiger Anerkennung Pate (Ogden, 1994, S. 103 ff.). Dieses phänomenologische Prozessmodell Hegels hat Ogden mithilfe der projektiven Identifizierung psychoanalytisch umformuliert. Abgesehen davon versteht Ogden seine Konzeption analytischer Intersubjektivität als »das Dritte« als eine Erweiterung von Winnicotts Idee »there is no such thing as an infant (apart from the maternal provision)«. Das Konzept der Gegenübertragung
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Posen, Zeigen oder die Prosodie der Sprache. Es sind alles sensomotorisch geprägte Modi, die der Projizierende benutzt, um das Objekt zu beeinflussen. Diese Vorgänge funktionieren selten bewusst, sondern zumeist subliminal. Beim responsiven Objekt wiederum finden wir eine inhärente Sensibilität, empathisch zu sein und sich auf den emotionalen Zustand des Anderen einzustimmen. Wie ersichtlich, standen bei dem Konzept der projektiven Transidentifizierung die Forschungen zum impliziten Gedächtnis und zu den Spiegelneuronen Pate. Wir verfügen heute über wissenschaftliche Evidenz, dass Gefühle und Phantasien, die in uns entstehen, durch einen Anderen auf unbewusstem Wege ausgelöst bzw. beeinflusst werden können. Nach den jahrzehntelangen Kontroversen in dieser Frage konnten bei dieser sehr komplexen modernen Konzeption der Gegenübertragung von Ogden und Grotstein Erkenntnisse aus verschiedenen psychoanalytischen Schulen, der Hegel’schen Philosophie und der kognitiven Neurowissenschaft fruchtbar verwendet werden.
4 Das Konzept des Traumas Die Kontroverse zwischen dem psychoökonomischen und dem objektbeziehungstheoretischen Verständnis des Traumas Breuer und Freud fassten die Erinnerung an das Trauma als einen Fremdkörper im psychischen Gewebe auf, der dort seine Wirkung so lange entfaltet, bis er durch ein affektives Erinnern und die Abreaktion des eingeklemmten Affekts seine Fremdkörperstruktur verliert. Der Hysteriker leidet »größtenteils an Reminiszenzen« (Breuer u. Freud, 1893a, S. 86). 1897 gab Freud seine bis dahin vertretene Verführungstheorie auf, dass ein sexueller Missbrauch in der Kindheit als traumatisch und damit ursächlich für die hysterische Symptomatik anzusehen sei. Es handle sich bei den Erzählungen seiner Patientinnen nicht um wirkliche Erlebnisse, sondern um Phantasien. Gemeinhin wird 64
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angenommen, dass diese Wende in der Theorie aufgrund der Entdeckung des Ödipuskomplexes und der unbewussten Phantasien erfolgte. Blass und Simon (1994) präzisieren allerdings zu Recht, dass entgegen dieser allgemein vertretenen Annahme nicht die Entdeckung ödipaler Phantasien der entscheidende Grund war, sondern die Erkenntnis, dass es möglich ist, eine Phantasie als Realität wahrzunehmen, und dass uns Phantasien auf dieselbe Weise wie reale Ereignisse beeinflussen können. Diese Auffassung öffnete den Weg zu einer komplexeren Traumatheorie, die zwar deren innere auf der Entwicklungsgeschichte der Triebe beruhenden Aspekte betonte, aber dennoch die äußere Realität traumatischer Situationen nicht in Abrede stellte. Der Erste Weltkrieg zwang Freud und seine Schüler, sich erneut mit der traumatischen Neurose und der pathogenen Wirkung von Außenweltfaktoren zu beschäftigen. Ein psychoökonomischer Aspekt trat in den Vordergrund, den er in »Jenseits des Lustprinzips« (1920g) mit dem Konzept des Reizschutzes weiterentwickelte, der im traumatischen Erleben durchbrochen wird. Die anstürmenden Quantitäten von Erregung sind zu groß, um gemeistert und psychisch gebunden zu werden. Die traumatisierende Erregungsmenge setzt das Lustprinzip, das mit einer Vermeidung von Unlust arbeitet, außer Kraft. An seine Stelle tritt der Wiederholungszwang als psychisches Prinzip. Im posttraumatischen Traum kehrt die traumatische Situation wieder. Für Freud liegt die Funktion dieser repetitiven Träume, die ihrerseits einen intrusiven Charakter haben und Angst erzeugen, in der Reizbewältigung, bei der die übergroße Erregungsmenge abreagiert und psychisch gebunden werden soll. In »Hemmung, Symptom und Angst« (1926d) nahm Freud das Konzept der automatischen Angst wieder auf, wie er es für die Aktualneurosen entwickelt hatte. Die übergroße Erregungsmenge in der traumatischen Situation erzeugt eine massive automatische Angst, die das Ich überflutet und eine absolute Hilflosigkeit erzeugt. Die automatische Angst hat einen unbestimmten Charakter und ist objektlos. Für Freud kann eine traumatische Situation sowohl durch innere Faktoren, wie übermäßige Triebregungen, als auch durch äußere, reale Das Konzept des Traumas
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Ereignisse entstehen. Das jeweils variierende Verhältnis von äußerem Ereignis und inneren Faktoren konzeptualisiert er als Ergänzungsreihe, bestimmt es aber darüber hinaus nicht genauer (Freud, 1939a). Entscheidend ist ein Zuviel an Erregung und ein gelähmtes, hilfloses Ich, das außerstande ist, den seelischen Spannungszuwachs abzuführen und psychisch zu binden. Auch wenn wir heute nicht mehr mit Freuds Energie- und Erregungsvorstellungen arbeiten, so ist dennoch sein Verständnis des plötzlichen, überwältigenden Einbruchs des traumatischen Geschehens in die seelische Organisation und die Aufgabe, das Eingebrochene mithilfe des Wiederholungszwangs seelisch zu binden, ebenso aktuell wie sein Konzept der Hilflosigkeit des Ichs und der automatischen Angst. Während der nächsten Jahrzehnte rückten in der Theoriediskussion der Psychoanalyse die traumatischen Ursachen gegenüber den triebbedingten Konflikten an den Rand. Das war auch dem Umstand geschuldet, dass die meisten Analytiker die Aufgabe der Psychoanalyse darin sahen, die psychische Realität und das Schicksal der unbewussten Phantasien zu untersuchen, während die Beschäftigung mit der äußeren Realität in den Hintergrund trat. Es war dann Sándor Ferenczi (1931, 1933), der klar zum Ausdruck brachte, dass das traumatische Moment in der Pathogenese der Neurosen vernachlässigt wurde. Die Nichtbeachtung der äußeren Faktoren führe zu falschen Schlussfolgerungen und zu vorschnellen Erklärungen der neurotischen Phänomene aufgrund von inneren Dispositionen. Ferenczi untersuchte vor allem das Trauma des sexuellen Missbrauchs. Der Erwachsene als Garant des Sicherheitsgefühls und des Vertrauens des Kindes stößt es in einen Zustand totaler Hilflosigkeit. Um seelisch zu überleben, ist das Kind gezwungen, sich in seiner ungeheuren Angst und Schutzlosigkeit mit dem Täter zu identifizieren und auf diese Weise ein Bild des Erwachsenen festzuhalten, wie es vor der traumatischen Attacke war. Ferenczi betont, dass zur traumatischen Situation noch etwas Zweites hinzukommen muss, damit ein Trauma entsteht, nämlich das Fehlen der Unterstützung durch vertraute Erwachsene, in der Regel durch die Mutter. Deren Gleichgül66
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tigkeit, Verleugnung oder Lüge bildet das Element, das das eigentliche Geschehen erst traumatisch macht. Das Trauma gehört damit in den Kontext einer Objekterfahrung. Die Erfahrung des Kindes wird negiert, das Ausbleiben der Antwort des Objekts lähmt das Ich und hat eine Agonie des psychischen Lebens zur Folge. Es entstehen ein »totes Ich-Stück« und eine Spaltung des Ichs in eine beobachtende Instanz, die dem Selbst helfen möchte, und in einen vom Ich preisgegebenen Teil des Selbst. Mit dieser Konzeption geriet Ferenczi in Konflikt mit Freud, weil er das Objekt für das Trauma verantwortlich machte und den Wiederholungszwang nicht dem Todestrieb zuordnete, sondern ihn nur als Wiederholung der traumatischen Situation begriff (dazu Bokanowski, 1999, 2005). Ferenczi starb 1933. Seine Konzeption des Traumas wurden in der psychoanalytischen Community lange ignoriert und verfiel dem Vergessen (Haynal, 2005). Erst Ferenczis Schüler Michael Balint (1969) brachte sie wieder in die Diskussion. Spätere Untersuchungen bestätigten Ferenczis Auffassung, dass die Misshandlung oder der Missbrauch durch die Person, die man eigentlich für Schutz und Fürsorge braucht, das pathogenste Element der kindlichen Traumatisierung ist. Auch die Untersuchungen der defizitären Bedingungen der frühen Mutter-Kind-Interaktionen in den 1950er und 1960er Jahren haben wichtige Beiträge zu diesem von Ferenczi begründeten objektbeziehungstheoretischen Modell geliefert. Erforscht wurde, wie traumatische Ereignisse in den präödipalen Entwicklungsphasen schwere Neurosen mit Störungen der Ich-Entwicklung, Depressionen, Charakterstörungen und Perversionen nach sich ziehen können. Vielfältige Situationen wurden untersucht, in denen die Mutter als Reizschutz für das Kind versagte und das Kind einer überfordernden und überwältigenden Trennungs- bzw. Verlassenheitsangst ausgesetzt war. Bei Melanie Klein und bei anderen kleinianischen Autoren kommt der Begriff Trauma kaum vor.7 Melanie Klein subsumiert das Trauma 7 In dem »New dictionary of Kleinian thought« von Spillius et al. (2011) fehlt der Begriff »Trauma« als eigener Eintrag. Das Konzept des Traumas
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unter ihre Theorie der Angst. Die paranoid-schizoide Position, die depressive Position sowie frühe Ödipus-Situationen beinhalten die Gefahr, ein Gefühl der Hilflosigkeit hervorzurufen, sowie ein Risiko, durch Triebkräfte überwältigt zu werden. Insofern ist das Kind immer von einer traumatischen Erfahrung bedroht und es bedarf der elterlichen Fürsorge, um sie in Schach zu halten. Britton (2005) spricht davon, dass die Angst vor Auflösung oder Vernichtung des Selbst eine endogene traumatische Qualität haben kann. Die objektbeziehungstheoretischen Konzeptionen im Gefolge von Ferenczi stellen einen großen Fortschritt im Verständnis des Traumas dar. Zwar kritisierte Caroline Garland das psychoökonomische Modell Freuds als »mechanistisch«, denn es beschreibe nur den Zusammenbruch des reibungslosen Funktionierens der »Maschinerie des Geistes«, aber nicht den Zusammenbruch des Glaubens an den Schutz, den gute Objekte gewähren (Garland, 1998, S. 11). Dennoch haben verschiedene Analytiker betont, dass wir beide Modelle, das objektbeziehungstheoretische ebenso wie das psychoökonomische Modell, benötigen, um die massive traumatische Erfahrung zu konzeptualisieren, die die Basis des Erwartbaren zerbricht, indem sie das Vertrauen in die Gegenwart guter Objekte und in eine gemeinsame symbolisch vermittelte Welt, die uns vorbewusst verbindet, zerstört (Baranger, Baranger u. Mom, 1988; Bohleber, 2000; Bokanowski, 2005, u. a. m.). Das destruktive Element, die unmittelbare traumatisierende Gewalt, bleibt ein »Zuviel«, ein massiver quantitativ-ökonomischer Überschuss, der die seelische Struktur durchbricht und nicht durch Bedeutung gebunden werden kann. Baranger, Baranger und Mom (1988) betonen, dass die neueren Objektbeziehungstheorien des Traumas Gefahr laufen, die Verbindung zwischen der traumatischen Situation und der Angst aufzulösen. Der ökonomische Aspekt der Angst ist für sie das zentrale Faktum des Traumas. Die Angst ist der Prüfstein, der hilft zu unterscheiden, was traumatisch wirkt und was nur pathogen ist. Sie greifen auf Freuds Begriff der »automatischen Angst« zurück. Diese Angst ist so primitiv, dass sie nur in ökonomischen Termini beschrieben werden kann. Sie ruft 68
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eine seelische Desorganisation und eine vollständige Hilflosigkeit hervor. Der Traumatisierte versucht danach, das Trauma zu zähmen und zu mildern, indem er ihm einen Namen gibt und es in ein verstehbares kausales Handlungssystem einfügt. Durch diese Sinn suche wird es historisiert. Solche nachträglichen Historisierungen sind allerdings zumeist Deckerinnerungen. Erst die Rekonstruktion der authentischen Geschichte hilft, das Trauma als ein Ereignis der eigenen Geschichte integrieren zu können. Garland (1998) wiederum betont aus ihrer kleinianischen Sicht, dass beim Trauma der entscheidende Faktor darin besteht, dass zusammen mit der automatischen Angst auch die schlimmsten inneren Ängste und Phantasien aktiviert werden und das traumatische Ereignis durchtränken. Die Zerstörung des inneren guten Objekts ist das zentrale Element, das die unterschiedlichen objektbeziehungstheoretischen Konzeptionen beim Trauma verbindet. Auch Lacan, der allerdings nur selten vom Trauma spricht, kann hier mit seinem Konzept des Realen, das der Symbolisierung widersteht, mit einbezogen werden (Kirshner, 1994). Die objektbeziehungstheoretischen Konzeptionen ermöglichten es, auch das Extremtrauma besser zu verstehen, das die Überlebenden des Holocaust erlitten haben. Im Zentrum extremer Traumatisierung steht der Zusammenbruch des empathischen Prozesses. Die empathisch-kommunikative Dyade zwischen dem Selbst und seinen guten inneren Objekten bricht auseinander, was absolute innere Einsamkeit und äußerste Trostlosigkeit zur Folge hat. Die Zerstörung der Fähigkeit, das traumatische Erleben zu symbolisieren, ist von Analytikern unterschiedlicher schulischer Provenienz mit ganz ähnlichen Metaphern beschrieben worden: als Fremdkörper im seelischen Gewebe, als »schwarzes Loch« (Kinston u. Cohen, 1986), »innere Krypta« (Abraham u. Torok, 2001), »leerer Kreis« (Laub, 1998) oder als »zero process« (Fernando, 2009). Diese sprachlichen Begriffe formulieren metaphorisch die »Anwesenheit einer Abwesenheit« (Gerson, 2011; Gurevich, 2012). Um Zugang zu dieser Situation des Traumatisierten zu finden, bedarf es der Präsenz eines empathischen Anderen, Das Konzept des Traumas
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der eine »Sprache der Abwesenheit« erlernen kann, um den Patienten zu erreichen und ihn durch die toten Zonen begleiten zu können. Das Problem der Rekonstruktion von traumatischen Erinnerungen in der analytischen Behandlung In der Debatte um die analytische Behandlungstechnik rückte in den letzten Jahrzehnten die Analyse des Hier und Jetzt der therapeutischen Beziehung mehr und mehr ins Zentrum. Die Macht der Vergangenheit, der Wiederholungszwang und die Wiederkehr des Verdrängten, gerieten als Topoi analytischen Denkens in den Hintergrund. Im Zuge dieser Entwicklung stellten viele Analytikerinnen und Analytiker die Rekonstruktion als therapeutisches Instrument infrage und minimierten oder eliminierten sie. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse untermauerten allerdings die Bedeutung, die den traumatischen Erinnerungen in der analytischen Behandlung zukommt. Dadurch erhielt die Frage einer notwendigen Rekonstruktion traumatischer Erinnerungen eine neue Relevanz. In der traumatischen Situation kollabiert das Selbst, und die integrativen Funktionen des Gedächtnisses werden überwältigt und weitgehend gelähmt. Dadurch verändern sich die Prozesse der Registrierung, Speicherung und des Wiederabrufs im Gedächtnis. Im Zuge dieser veränderten Sicht auf das Trauma hat sich in jüngerer Zeit eine ausgedehnte und weit verzweigte Kontroverse über den Status traumatischer Erinnerungen und über die Möglichkeit der Rekonstruktion des realen Traumas entwickelt. Ich kann sie hier nicht detailliert darstellen. Drei Positionen haben sich herausgebildet: 1. Van der Kolk (2014) und andere nehmen an, dass die extreme Erregung die traumatische Erinnerung in verschiedene isolierte, somatosensorische Elemente aufspaltet, in Bilder, affektive Zustände, somatische Empfindungen sowie Gerüche und Geräusche. Diese impliziten Erinnerungen stimmen mit der tatsächlichen Erfahrung überein, sie können aber in dieser Form zunächst nicht in eine narrative Erinnerung integriert werden. Das Ergebnis ist ein nichtsymbolischer, unflexibler und unveränderbarer Inhalt 70
Teil II: Die Bedeutung von Kontroversen
traumatischer Erinnerungen, weil das Selbst als Autor der Erfahrung im Moment des traumatischen Ereignisses ausgeschaltet ist. Die Essenz dieser Auffassung ist nun, dass das Trauma quasi mit einer zeitlosen und gleichzeitig buchstäblichen Genauigkeit und Unveränderbarkeit dem Gedächtnis eingeprägt wird, als bezeuge das Trauma die Existenz einer historischen Wahrheit. Kann der Betroffene nachträglich darüber sprechen, werden die Eindrücke und Erinnerungsbruchstücke umgeschrieben und in eine narrative Gestalt gebracht, die allerdings für Entstellungen anfällig ist. Manche Analytiker kritisieren an dieser Position, dass damit die autobiografisch-symbolische Bedeutung vollständig eliminiert wird, was zentralen psychoanalytischen Erkenntnissen widerspricht (Leys, 2000; Oliner, 2014). 2. Bei der zweiten Position gehen Analytiker davon aus, dass traumatische Erinnerungen nach ihrer Registrierung im Gedächtnis zwar einer Adaptation durch assoziative Verbindungen infolge neuer Erfahrungen entzogen sind und relativ genau erinnerbar bleiben, dass sie aber einer inneren Bearbeitung nicht vollständig unzugänglich sind. So können etwa im Augenblick des traumatischen Ereignisses zentrale Angstvorstellungen oder eine lange bestehende verdrängte und bedrohliche Phantasie auftauchen und sich mit dem traumatischen Ereignis verbinden. Um solche Transformationen und die damit verbundene sekundäre Dynamik auflösen zu können, bedarf es der Rekonstruktion der traumatischen Ereignisse in der analytischen Behandlung. Denn sie ist die Voraussetzung, um die sekundäre Bearbeitung und Überformung des traumatischen Erlebens mit unbewussten Phantasien und Bedeutungen, die Schuldgefühle und Bestrafungstendenzen beinhalten, aufzuklären und einsichtig zu machen, was dann dem Ich einen entlastenden neuen Verstehensrahmen eröffnet (Blum, 1994; Bohleber, 2007; Garland, 1998). 3. Bei der dritten Position wird die Besonderheit traumatischer Erinnerung überhaupt geleugnet und betont, dass die Psyche im Sinne der Konflikttheorie mit ihren Mitteln wie bei jeder anderen RealiDas Konzept des Traumas
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tät danach sucht, das seelische Gleichgewicht aufrechtzuerhalten (Sugarman, 2018). Andere Analytiker wiederum stellen infrage, ob die Rekonstruktion traumatischer Erinnerung überhaupt den therapeutischen Wert hat, den man ihr bisher zuerkennt. Gottlieb (2017) etwa hebt hervor, dass die Übertragungs-Gegenübertragungs-Beziehung sowohl die Rekonstruktionsarbeit als auch die Form und den Inhalt der rekonstruierten Szene mit formt. In dieselbe Richtung argumentiert Fonagy. Für ihn spiegeln Rekonstruktionen weniger die historische Vergangenheit wider, sondern sie ähneln vielmehr einer Art Kommentar über die Gegenwart der analytischen Beziehung (Fonagy, 2003, S. 504). Anders ausgedrückt: Fonagy ist der Meinung, dass es der Prozess der Rekonstruktion innerhalb der Übertragungsbeziehung ist, der seelische Veränderung hervorbringt, und nicht die Rekonstruktion der traumatischen Vergangenheit selbst. Die wichtige Frage, ob der Inhalt der Rekonstruktion stimmig und korrekt war, wird dann zweitrangig. Alle drei Positionen entfalten wichtige Elemente des Traumas, seiner Rekonstruktion und Wiedererinnerung in der analytischen Behandlung. Vermutlich haben die Analytiker, die die jeweilige Position vertreten, auch unterschiedliche Traumatisierungen im Sinn. Es macht einen Unterschied, ob wir einen Patienten mit einem Trennungstrauma behandeln oder eine Person, die einen sexuellen Missbrauch erlebt hat, oder ob wir einen Holocaust-Überlebenden vor uns haben. Wird das traumatische Ereignis, das den Patienten überwältigt hat, in der therapeutischen Beziehung rekonstruiert und in ein Narrativ gefasst, kann die Verbindung zwischen dem durch das Trauma dissoziierten Selbstzustand und dem nichtdissoziierten psychischen Material wiederhergestellt werden. Das Narrativ, das aus dieser Rekonstruktion hervorgeht, ist das Ergebnis eines psychischen Integrationsprozesses, den es zugleich befördert. Entscheidend ist, dass dieses Narrativ an das Wissen geknüpft ist, dass tatsächlich etwas passiert ist, auch wenn dieses Geschehen unter Umständen nur frag72
Teil II: Die Bedeutung von Kontroversen
mentarisch rekonstruiert werden kann. Dieses Wissen kann Patientinnen und Patienten ein Gefühl der Wahrheit und Sicherheit vermitteln, sodass sie die traumatischen Transformationen ihres Selbst, ihrer Objektbeziehungen und ihrer Affekte verstehen können, statt sie unter der Vorherrschaft von Schuldgefühlen zu verarbeiten. Es geht um die Rekonstruktion der historischen Wahrheit der traumatischen Erfahrung. Deshalb wird der Kern der Sache verfehlt, wenn man sich wie die Vertreter der relationalen Psychoanalyse darauf beschränkt, Sinn erzeugende Narrative zu konstruieren, die das dissoziierte Material zu integrieren suchen. Es geht dann nicht mehr um die Erinnerung selbst, sondern um die Möglichkeit, all die disparaten Eindrücke zu einem kohärenten Ganzen zusammenzufassen (Boulanger, 2007, S. 149 f.). Genauso unzureichend ist es, wenn Analytiker bei traumatisierten Patienten Übertragung und Gegenübertragung einzig im Hier und Jetzt der analytischen Situation analysieren, denn auf diese Weise werden bedeutungshaltige Narrative konstruiert, die jeglicher Rekonstruktion der verursachenden traumatischen Realität entbehren. Damit laufen die Narrative Gefahr, nicht zwischen Phantasie und Realität zu unterscheiden, was im schlimmsten Fall zu einer Verwirrung und zu einer Retraumatisierung des Patienten führen kann. Die Debatte um diese Fragen ist noch nicht zu Ende.
Das Konzept des Traumas
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Schluss
Meine Darstellung von Schlüsselkontroversen in der Psychoanalyse begann mit dem wissenschaftstheoretisch kontroversen Begriff des Pluralismus und dem damit in Verbindung stehenden Konzept der Metapsychologie. Unüberbrückbare Divergenzen findet man dabei weniger auf der Ebene der klinischen Theorie als vielmehr bei den metapsychologischen Grundannahmen. Verabschiedet man sich von der Idee, je wieder ein einheitliches Theoriesystem der Psychoanalyse zu erreichen, so macht dies allerdings nicht die Debatte überflüssig, ob und wie weit eine Integration kontroverser und widersprüchlicher Versionen eines Konzepts möglich erscheint. Die Schwierigkeiten, die dabei auftreten, habe ich anhand der unterschiedlichen Konzeptualisierungen der unbewussten Phantasien diskutiert. Bei diesen Fragestellungen gibt es noch viel zu tun. Die Psychoanalyse muss sie allerdings zu einem dringlichen Thema machen und darf sich nicht mit ihrer jetzigen Verfasstheit von sich voneinander abschließenden Subcommunitys zufriedengeben. Die Konzepte des Unbewussten, der Übertragung, Gegenübertragung und des Traumas habe ich nicht im Sinne eines Lehrbuchs schulenspezifisch geordnet zusammengefasst, sondern die kontroversen Positionen in ihrer theoriegeschichtlich dynamischen Entfaltung und mit ihren Entwicklungslinien präsentiert. Dabei hat sich gezeigt, dass zumindest bei dem sehr komplexen Phänomen der Gegenübertragung eine integrative Konzeption möglich erscheint, die sich auch auf Anregungen und Erkenntnisse aus den Nachbarwissenschaften stützt. Auch bei den anderen Konzepten konnten Erkenntnisse der Neurowissenschaften, der Entwicklungsforschung und der Bindungs74
theorie neue Impulse für die Theoriebildung geben und darüber hinaus im Sinne einer externalen Kohärenz spezifischen Elementen und Inhalten psychoanalytischer Konzepte Bestätigung verschaffen.
Schluss
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