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German Pages 433 [436] Year 2010
Stein · Von der Konsumenten- zur Produktionsstadt
Ordnungssysteme Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit
Herausgegeben von Dietrich Beyrau, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael Band 3 1
Oldenbourg Verlag München 2010
Susanne Stein
Von der Konsumenten- zur Produktionsstadt Aufbauvisionen und Städtebau im Neuen China, 1949-1957
Oldenbourg Verlag 2010
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort
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Inhalt 1.
Einleitung 1. Die Fragestellung 2. Forschungsstand und Methode 3. Die Materialien 4. Zur Gliederung der Arbeit
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2.
„Stadt im Aufbau": Topos und Leitbild der 50er Jahre 1. „Versöhnung der Gegensätze": Moderner Städtebau in Westeuropa 1. Konzeptualisierungen von Stadt an der Wende zum 20. Jahrhundert 2. Sozialreform und Großstadtfieber, 1900-1945 2. Das schönere Gesicht der Moderne? Städtebau in der Sowjetunion 1. Auf der Suche nach „sozialistischen Siedlungsformen": Städtbauliche Konzepte der 1920er und 1930er Jahre 2. Typisierte Ewigkeit: Die „sozialistische Stadt" der Stalinzeit, 1932-1954 3. Zwischen „Aufbau West" und „Aufbau Ost": Die 50er Jahre im deutschen Städtebau 1. „Aufbau" als Leitbild: Zur Semantik eines geteilten Begriffs 2. „Aufbau West" versus .Aufbau Ost": Städtebau im geteilten Deutschland 4. Abgrenzungen, Schnittstellen, Transferwege - eine Zwischenbilanz zum städtischen „Aufbau" der 50er Jahre ...
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3.
Neue Städte für die Neue Gesellschaft: „Aufbau"-Diskurs und Stadtbilder in der Volksrepublik China, 1949-1957 1. Von chengshi jieguan zu jianshe: Zwischen anti-urban bias und pro-urbaner Politik 1. Die „Übernahme"-Politik der KPCh: Programmatik und Problematik der verordneten „Wende zur Stadt" 2. Entwicklungsszenarien: Sprachbilder und Bildsprache des städtischen „Aufbaus" 2. Chengshi jianshe·. Der normative Rahmen 1. Die Institutionalisierung des „Aufbaus" 2. Was macht die Stadt zur Stadt? Das Projekt statistischer Definitionen
33 36 39 51 56 65 74 79 89 100
113 116 119 140 156 157 172
3.
4.
4.
Chengshi jianshe·. Leitbilder und Bauprojekte 1. Umgestalten, umerziehen! Vom Studium „westlicher Wissenschaften" (xixue) zum „Lernen von der Sowjetunion" (xuexi Sulian) 2. Nur „zu einer Seite geneigt"? Wege des Wissenstransfers 3. Moskau - Warschau - Rotterdam: Chinesischer Städtebau vor internationaler Kulisse 4. „Der Produktion dienen, den Werktätigen dienen": Ordnungskategorien des „Aufbaus" am Beispiel städtischer Wohngebiete, 1951-1957 Chengshi jianshe: Das Bild der Stadt im chinesischen „Aufbau"-Diskurs der 50er Jahre 1. Jianshe·. Annäherungen an einen chinesischen „Grundbegriff' der 50er Jahre 2. Chengshi jianshe: Zur semantischen Vernetzung von „Stadt" und „Aufbau"
Schlußbetrachtungen: Zwei Goldene Zeitalter? Von der „Stadt im Aufbau" zur Mega-City des 21. Jahrhunderts 1. Wahlverwandtschaften: Städtebau im „Aufbaujahrzehnt" 2. Zwischen „Aufbauwerk" und Abrißbirne: Zur Aktualität der 50er Jahre
Anhang 1. 2. 3. 4. 5. Register
Abkürzungsverzeichnis Zeichenglossar Quellenverzeichnis Literaturverzeichnis Abbildungsverzeichnis
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195 219 246
264 307 309 326
351 354 363 375 375 376 381 400 420 423
Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Oktober 2008 von der Fakultät fur Kulturwissenschaften der Eberhard Karls Universität Tübingen als Dissertation angenommen. Für die Veröffentlichung wurde das Manuskript leicht überarbeitet und um seither erschienene Literatur ergänzt. Stipendien der Landesgraduiertenförderung Baden-Württemberg und des DAAD haben es mir ermöglicht, das Thema im Rahmen einer Promotion zu untersuchen. Die VG Wort gewährte mir überdies einen großzügigen Zuschuß zu den Druckkosten. Besonders bedanken möchte ich mich bei denjenigen, die diese Studie von den Anfangen bis zur Fertigstellung auf vielfaltige Weise unterstützt haben. Mein Doktorvater Hans Ulrich Vogel (Tübingen) hat das Dissertationsprojekt stets aufmunternd begleitet. Seiner Vermittlung ist es zu verdanken, daß ich als Stipendiatin und Gastwissenschaftlerin an der Qinghua Universität (Beijing) Recherchen und Interviews durchführen konnte und dabei von den chinesischen Kolleginnen und Kollegen des Instituts fur Wissenschafts- und Technikgeschichte nach Kräften unterstützt wurde. Johannes Küchler (Berlin) hat mit großem Engagement das Koreferat übernommen und wichtige Impulse für die Bearbeitung des Themas gegeben. Seine Gesprächsbereitschaft und sein kritischer Zuspruch haben mir während des gesamten Schreibprozesses sehr geholfen. Das gilt ebenso für die wertvollen Anregungen, Hinweise und Kommentare, die ich von Peter M. Kuhfus, Christine Moll-Murata, Ingrid Schierle, Klaus Gestwa, Katja Kucher, Robert Kaltenbrunner, Eva Sternfeld und Axel Zutz in den unterschiedlichen Projektphasen erhalten habe. Peter Hoffmann und Brigitte Höhenrieder standen mir bei Übersetzungsfragen zur Seite; Fabian Fechner war jederzeit bereit, meine sprachlichen und grammatischen Zweifel aus dem Weg zu räumen. Bedanken möchte ich mich auch bei allen anderen Freunden und Kollegen im In- und Ausland, die sich auf mein Thema eingelassen und mir durch Fragen, Kritik und Anmerkungen in vielen Details weitergeholfen haben. Den Herausgebern der „Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit", Dietrich Beyrau, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael danke ich für die Aufnahme in ihre Schriftenreihe. Die Arbeit hätte ohne die weitreichende Unterstützung meiner Eltern in dieser Form nicht geschrieben werden können. Vor allem aber gebührt mein Dank Andreas für seine aufmerksame Augen- und Ohrenzeugenschaft bei der Entstehung dieses Buchs. Tübingen, im Juli 2010
1. Einleitung Aus der Vergangenheit zu lernen, um für die Herausforderungen der Zukunft besser gewappnet zu sein, ist ein Postulat, das der Beschäftigung mit historischen Themen häufig vorangestellt wird.1 Besonders beliebt ist dieser Topos auch in der aktuellen Historiographie der Volksrepublik China: Die Verwertung der Geschichte im Sinne existierender Machtverhältnisse kann man entlang der gegenwärtigen Konjunkturen im wissenschaftlichen Themenspektrum nach wie vor problemlos mitverfolgen.2 Es überrascht insofern wenig, daß sich angesichts der Verstädterung Chinas während der vergangenen zwei Jahrzehnte auch die Beiträge mehren, in denen verschiedene Facetten der chinesischen Stadtentwicklung überblicksartig „in historische Perspektive" gesetzt werden. Diesbezüglich auf die eigenen Erfahrungen und Lehren seit Gründung der Volksrepublik zurückzublicken, sei notwendig, um der beschleunigten Urbanisierung des Landes im Zeitalter der Globalisierung angemessen begegnen zu können.3 Die floskelhaften Hinweise auf die jüngere Vergangenheit scheinen jedoch vor allem Teil einer akademischen Pflichtübung zu sein. In der Praxis gehören die einst als „Errungenschaften des sozialistischen Aufbaus" gepriesenen Umbauten der chinesischen Städte unterdessen keineswegs mehr zum offiziellen Kanon des Sehenswerten. Während noch bis in die 1970er Jahre hinein Arbeits- und Wohnverhältnisse zu den Vorzeigeobjekten der „überlegenen Gesellschaftsform" des Neuen China zählten, bewegt sich das obligatorische Besichtigungsprogramm, das die in- und ausländischen Besucher heute auf ihren Reisen durch Beijing, Shanghai und Guangzhou absolvieren, zwischen
1 „Durch Erinnern, Deuten, und Repräsentieren der Vergangenheit verstehen die Menschen ihr gegenwärtiges Leben und entwickeln eine Zukunftsperspektive von sich selbst und ihrer Welt.,Geschichte' in dieser fundamentalen und anthropologisch universellen Bedeutung ist diese erinnernde Deutung der Vergangenheit, die als kulturelles Mittel der Daseinsorientierung in der Gegenwart dient." Jörn Ritsert: Geschichte im Kulturprozeß, Köln 2002, S. 237. 2 Ausfuhrlicher dazu u.a. Nicola Spakowski: Helden, Monumente, Traditionen. Nationale Identität und historisches Bewußtsein in der VR China, Hamburg 1999, S. 70-77, hier S. 74f. 3 Mit dieser Formel beginnt beispielsweise der Beitrag des Wirtschaftshistorikers Dong Zhikai Í .È-0L: Cong jianshe gongye chengshi dao tigao chengshi jingzhengli. Xin Zhongguo chengjian linian de yanjiang (1949-2001) Λ ·. S i i i . î È S & ^ j i ^ ' ô f · / Building industrial city and raising city competitive power. Evolution of the New China urban construction ideas, in: ZGJJSYJ 1, 2003, S. 25-35, hier S. 25; den von Dong verwendeten Begriff linian, einer neuen Kombination aus lixiang S ïS (Ideal) und gainian (Konzept, Idee, Begriff) thematisiert für den städtebaulichen Kontext Wu Fulong: Transplanting cityscapes. Townhouse and gated community in globalization and housing commodification, in: ders. (Hrsg.): Globalization and the Chinese City, London/New York 2006, S. 190-207, hier S. 192. Siehe außerdem Su Shaozhi Λ1949-1978 nian Zhongguo chengshihua yanjiu 1949-1978-^ + S $ ΐ & [Untersuchungen zur chinesischen Urbanisierung zwischen 1949 und 1978], in: ZGJJSYJ 1, 1999, S. 34—47, hier S. 34.
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1. Einleitung
traditioneller chinesischer Baukunst und deren disneyfication. Wer schließlich genug hat von Pagodendächern älteren und neueren Datums, dem bietet sich noch die Gelegenheit, in die Zukunft zu blicken. So verfügen Beijing und Shanghai über großflächige Ausstellungen, die bereits jetzt in aller Ausführlichkeit zeigen, wie „die Stadt von morgen" aussehen soll.4 Der hier suggerierte Sprung von der Tradition in die Moderne verkörpert das von neuem Selbstbewußtsein erfüllte Selbstbild der Volksrepublik: China feiert den Schulterschluß von Chineseness und Fortschritt. Jenseits der musealen Wirklichkeiten weist dieses historiographische Konstrukt jedoch unübersehbare Risse auf. So sind die beharrlichen Relikte aus vier Jahrzehnten „sozialistischen Aufbaus" im wörtlichen wie im übertragenen Sinn zu Bruchstellen in der gegenwärtigen Stadtentwicklung geworden. Abgesehen von einigen restaurierten sozialistischen „Bauperlen", wie z.B. den sowjetischen Ausstellungshallen in Beijing und Shanghai oder der Nationalgalerie in Beijing, sind die „ultramodernen" Ansichten chinesischer Großstädte noch an vielen Stellen von schäbigen, allenfalls provisorisch instandgehaltenen Überresten der jüngeren Vergangenheit durchsetzt.5 (Abb. 1-3) Deren unzeitgemäßes Erscheinungsbild ist wiederum nicht frei von Ambivalenzen: Für die einen bieten die baulichen Strukturen der Gründungsjahre Anknüpfungspunkte für nostalgische Gefühle des Verlusts, für die anderen sind sie eher eine Kulisse, vor der sich die temporeichen Veränderungen im Urbanen Leben der Volksrepublik kontrastreich abheben können. Unabhängig davon, wie der gegenwärtige Rückblick auf das erste Jahrzehnt des Neuen China erfolgt, er ist Teil eines nationalen Geschichts- und Identitätsprojekts und wird keineswegs nur in Fachkreisen diskutiert. Im Zusammenhang mit dem chinesischen „Wirtschaftswunder" und Bauboom von heute sind die 50er Jahre im Städtebau zur Schnittstelle für widerstreitende Analysen, Erinnerungen und Werturteile des einstigen „Aufbaus" geworden. Für manche mögen mit dem Schlagwort von den chinesischen „Fünfzigern" dabei in erster Linie Städtebilder konnotiert sein, wie sie aus den Ländern des ehemaligen „Ostblocks" geläufig sind: vage Eindrücke von grauen Wohnblocks, endlosen,
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Die zentral am Volksplatz gelegene Shanghai chengshi guihua zhanshiguan J i i ^ ^ Î ÍÍLS'J/^^ ^(Shanghai Urban Planning Exhibition Hall) wurde am 25.2.2000 eröffnet, am 24.9.2004 folgte die Hauptstadt mit der Eröffnung des Beijingshi guihua zhanlanguan Λ 'Vif (Beijing Planning Exhibition Hall) diesem Beispiel. Zur Konzeption der Ausstellungen siehe http://www.supec.org/wugsjj.htm (6.11.2007). Mit „die Stadt von morgen" war die Sonderschau betitelt, die im Rahmen der INTERBAU 1957 in Berlin gezeigt wurde. Sie „avancierte zum eigentlichen Bedeutungsträger der Interbau: Hier sollte sie die Vision der modernen Stadt und Gesellschaft der Zukunft zeigen", so der einfuhrende Text zur Ausstellung „50 Jahre Interbau 1957 - Die Geschichte der Bauausteilung", die in der Berliner Akademie der Künste (8.11.-18.11.2007) gezeigt wurde. 5 Einige der ehemaligen Modell-Wohnquartiere in Beijing und Shanghai sind (äußerlich) wieder in Stand gesetzt worden. Die bisher durchgeführten Renovierungsarbeiten lassen allerdings keine denkmalpflegerischen Absichten erkennen.
1. Einleitung
Abbildung 1: „Bauperlen" - Nationalgalerie
Abbildung 2-3: „Bruchstellen" - Wohnbebauung Baiwanzhuang (r.) und Sanlihe (u.)
in Beijing
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1. Einleitung
eintönigen Straßenfluchten und stalinistischer Fassadenarchitektur, im vorliegenden Fall mit Ornamenten der chinesischen Tradition versehen.6 Für andere mischt sich in das heute tendenziell negativ besetzte Image sozialistischer Moderne dagegen immer noch etwas von den Idealen, die einst von der zeitgenössischen Propaganda wirkungsvoll in Szene gesetzt wurden: „The Beijing of the fifties exuded a certain austere virtue - the clean streets, the plain, orderly buildings, the people in their uniform clothes smiling their cheerful, disciplined smiles", beschrieb Zha Jianying in China Pop ihre Eindrücke von historischen Photographien aus den 50er Jahren. Demgegenüber nehmen sich die Bilder des „neuen Beijing", wie es seit den 1990er Jahren im Entstehen begriffen ist, ihrer Ansicht nach keineswegs positiver aus: „For an ancient imperial city that used to set a unifying aesthetic standard for the whole nation, the new Beijing has a radically splintered image. It has taken on the image of a proletarian-peasant metropolis striving to get rich, a hodgepodge of clashing styles and sensibilities."7
Implizit verleiht die am Ende des 20. Jahrhunderts geäußerte Kritik damit jenen Prämissen wieder Aktualität, unter denen auch die Planungsakteure des Neuen China seinerzeit angetreten waren, die Lebenssituation in den chinesischen Städten zu verbessern. Ihre Vorstellungen und Konzepte von „Order and Modernization in the Chinese City"8 bilden den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung.
1.1 Die Fragestellung „The degree to which the contemporary world may be said to be ,urban' is not fully or accurately measured by the proportion of the total population living in cities. The influences which cities exert upon the social life of men are greater than the ratio of the urban population would indicate, for the city is not only in ever larger degrees the dwelling-place and the workshop of modern man, but it is the initiating and controlling center of economic, political, and cultural life that has drawn the most remote parts of the world into its orbit and woven diverse areas, peoples, and activities into a cosmos."9
Die Fragestellung dieser Arbeit mit der ebenso berühmten wie kontrovers aufgenommenen Diagnose des amerikanischen Soziologen Louis Wirth aus 6
Zur Darstellung der „sozialistischen Städte" Osteuropas siehe Ivan Szelenyi: East European Socialist Cities: How Different Are They?, in: Gregory Guldin/Aiàaa Southall (Hrsg.): Urban Anthropology in China, Leiden 1993, S. 41-64. 7 Jianying Zha: China Pop. How Soap Operas, Tabloids, and Bestsellers Are Transforming a Culture, New York 1995, S. 61, 59. 8 So der Titel der Einleitung von John Wilson Lewis (Hrsg.): The City in Communist China, Stanford 1971, S. 1-26. 9 Louis Wirth\ Urbanism as a Way of Life, in: The American Journal of Sociology 44/1, 1938, S. 1-24, hier S. 2.
1.1 Die Fragestellung
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dem Jahr 1938 einzuleiten, mag auf den ersten Blick befremdlich wirken. Die Frühphase des Neuen China scheint so gar nicht in den von Wirth beschriebenen „Kosmos" einer fortschreitenden globalen Urbanisierung zu passen. Im Gegenteil, die Variation von „Urbanism as a Chinese Way of Life"10 hat im Konzert der klassischen Annahmen, mit denen die 50er Jahre der Volksrepublik China historisiert worden sind, sogar etwas Mißtönendes. Denn vielfach wird bis heute davon ausgegangen, daß - anders als in westlichen Kontexten" - „Stadt" für das Neue China kein zentraler Modernitätsbegriff gewesen sei: Mit mehr als 80 Prozent ländlicher Bevölkerung und einer Führung, der samt ihrem Verwaltungsapparat eine „Bauernmentalität" nachgesagt wurde, präsentiert sich die Stadt der „neuen chinesischen Gesellschaft" dem heutigen Betrachter zunächst als eine „anti-urbane" Siedlungsform12, die aus der plakativen Ablehnung „kapitalistischer" Großstädte ihre Konturen erhält: Typische Attribute des Stadtlebens13 - Diversität, Anonymität und Konsum - geraten unter ideologischen Vorzeichen in Verruf. In die Städte der Volksrepublik halten im Verlauf der 50er Jahre Uniformität, kollektive Lebensweisen und Produktionsfetischismus Einzug: „Some say that what the communists did to the city [of Beijing] is a crime [...], because they dismantled the magnificent city walls [...]. [...] They aimed to make 95 percent of the people in Beijing equal. In reality they made them equally poor and made them get equally bad educations and lead equally dull lives. They drove blindly for modernization: factories were built all over the city, peasants swarmed in from the provinces to ,expand the working class forces', electricity ran short, the air turned dirty, buildings took on a faceless, ascetic look, housing got crowded, and urban planning became a perpetually amateurish experiment subject to bad politics and poor management.'" 4
Inwieweit solche Rückblicke und Vorannahmen externer Beobachter den zeitgenössischen Wahrnehmungen der chinesischen Eliten entsprechen, soll im folgenden anhand der Programmatik der KPCh-Führung gegenüber den Städten, den städtebaulichen Leitbildern15 und den Stadtplanungskonzepten 10 Vgl. Martin King Whyte: Urbanism as a Chinese Way of Life, in: International Journal of Comparative Sociology 24/1-2, 1983, S. 61-85; Hervorhebung im Zitat durch die Verfasserin. 11 Siehe dazu beispielsweise die Ausführungen von Peter Halt Cities in Civilization. Culture, Innovation, and Urban Order, London 1999, S. 291ff: „Book Twö: The City as Innovative Milieu". 12 Vgl. dazu John Friedmann·. China's Urban Transition, Minneapolis 2005, S. 15: „Until quite recently, it was common to picture China as a rural society in which the distinctive life of cities could be safely ignored or, more accurately, in which city life was essentially conflated with life in the countryside." 13 „Dabei ist .Urbanität' zu einem der Begriffe geworden, mit dem wir das, was Stadt ausmacht, zu beschreiben versuchen. Seit Georg Simmeis Essay über Die Großstädte und das Geistesleben bedeutet Urbanität für uns Größe, Dichte.Vielfalt." So Martin Wentz: Die kompakte Stadt, in: ders. (Hrsg.): Die kompakte Stadt, Frankfurt/New York 2000, S. 8-15,.hier S. 11. 14 Zha, China Pop, S. 59. 15 Für den deutschen Kontext definieren Werner Durth und Niels Gutschow den „in den vierziger Jahren vorgeprägten und in den fünfziger weite Verbreitung findenden Begriff
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1. Einleitung
der 50er Jahre überprüft werden. Die Darstellung geht dabei von zwei sich überlagernden Fragekomplexen aus: Ziel der Arbeit ist es, am Beispiel des Städtebaus die semantischen Verbindungen zwischen den gesellschaftlich-ideologischen und den ökonomischphysischen Gestaltungsansprüchen der KPCh-Führung sichtbar zu machen. Dazu ist zunächst zu klären, welcher Stellenwert städtebaulichen Konzepten innerhalb der gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsszenarien des neuen chinesischen Staates eingeräumt wird; weiterhin, mit welchen Vorstellungen von der Neuen Gesellschaft und vom Neuen Menschen in den anfänglichen Entwürfen für einen „sozialistischen" Stadtumbau in China gearbeitet wird; und drittens, welche Akteure an der Ausformulierung und Ausgestaltung der damaligen Ordnungsvorstellungen beteiligt sind. Der Fokus der Betrachtung liegt dabei auf den Veränderungen, die sich von der Gründung der Volksrepublik bis zum Ende des ersten Fünijahrplans (1949—1957)16 in Stadtplanung und Städtebau vollzogen haben. Die zweite, synchron ausgerichtete Untersuchungsebene dieser Arbeit gründet auf der These, daß Modernisierungsvorstellungen, wie sie in den städtebaulichen Konzepten des neuen chinesischen Staates zutage treten, nicht als isoliertes Phänomen zu begreifen sind, sondern im internationalen Kontext des ersten Jahrzehnts nach dem Zweiten Weltkrieg betrachtet werden müssen. Während in der Forschung stereotyp auf die Referenzfunktion des „sowjetischen Modells" (und daran gekoppelter materieller, finanzieller und logistischer Hilfen der Sowjetunion) fur das „kommunistische China" hingewiesen wird, ist das Verhältnis zwischen der Volksrepublik und den „kapitalistischen" Weltregionen fur die 50er Jahre bislang vernachlässigt worden. Das Paradigma einer „Selbstisolierung" (ziwo fengbi) der VR China bis zum Beginn der Politik des städtebaulichen Leitbilds" als „eine bildhafte Konkretion komplexer Zielvorstellungen [...], die einzelnen Entwürfen, Planungskonzepten und persönlichen Gestaltungspräferenzen einen gemeinsamen Hintergrund gibt und sie in einen übergreifenden Konsens über ,Wertmaßstäbe' einbindet [...]. [...] Bei genauer Untersuchung solcher .Leitbilder' des Städtebaus ist festzustellen, daß darin Konzepte der räumlichen Planung jeweils eng auf [...] Lebensentwürfe und soziale Ordnungsvorstellungen bezogen sind, in denen räumliche und gesellschaftliche Organisationsformen unauflöslich miteinander verknüpft sind." Werner Durth!Niels Gutschow: Träume in Trümmern. Planungen zum Wiederaufbau zerstörter Städte im Westen Deutschlands 1940-1950, Braunschweig 1988, S. 161; thematisiert wurde diese Verflechtung fur die deutsche Stadtplanungsgeschichte bereits in den 1960er Jahren von Heide Berndt: Das Gesellschaftsbild bei Stadtplanern, Stuttgart 1968; siehe außerdem den Diskussionsbeitrag von Heidede BeckerlJohann ./esserc/Robert Sander. Auf der Suche nach Orientierung - das Wiederaufleben der Leitbildfrage im Städtebau, in: dies. (Hrsg.), Ohne Leitbild? - Städtebau in Deutschland und Europa, Stuttgart 1998, S. 10-17. In der vorliegenden Studie wird der „Leitbild"-Begriff als analytische Kategorie verwendet, die dabei helfen soll, disziplin- und systemübergreifende Ordnungsvorstellungen des zeitgenössischen „Aufbau"-Diskurses zu erschließen. 16 So die offiziellen historischen Zäsuren. Ausgehend von der hier zugrunde gelegten Fragestellung wird im folgenden noch deutlich gemacht, daß diese „Einschnitte" nur eine Version politisch-ökonomischer Gliederung widerspiegeln, die in dieser Form für andere Bereiche nicht unbedingt zutreffend ist.
1.1 Die Fragestellung
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von „Reform und Öffnung" (gaige kaifang) im Jahr 1978 hat die Untersuchung möglicher Transferlinien zwischen beiden weltanschaulichen „Lagern" stark behindert. Welche spezifischen Formen das Projekt der sozialistischen Moderne in China angenommen hat, läßt sich mit größerer Trennschärfe jedoch erst durch die Einordnung in das transnationale Gefüge moderner Ordnungsvorstellungen zeigen. Daher geht es in der vorliegenden Untersuchung chinesischer Stadtplanungskonzepte der 50er Jahre zugleich immer um die Frage, wie sich die darin geäußerten Entwicklungsszenarien zu denen der „westlichen", nicht-sozialistischen Moderne verhalten haben.17 Beide hier aufgeführten Aspekte der Fragestellung sind Teil eines diskursiven Zusammenhangs, der die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts länderübergreifend geprägt hat. In der damaligen Volksrepublik ist über diesen Zeitraum als jianshe (Aufbau) gesprochen worden. Jianshe signalisierte eine rationale Neuordnung der Beziehungen zwischen Staat, Gesellschaft, Mensch und Natur und mobilisierte den Einzelnen zur Mitwirkung an diesem gemeinsamen Projekt der Modernisierung. Das zeitgenössische jianshe läßt sich daher nur als umbrella term begreifen, unter dem politische, technische, ökonomische und soziale Belange gemeinsam ihren Platz fanden. Dem Städtebau, der Stadtplanung, aber auch dem Bauwesen allgemein ist innerhalb dieser diskursiven Konstellation eine besondere Funktion zugewiesen worden: Die drei Aufgabenbereiche fungieren als zentrale Schnittstellen, in denen sich die materiellen und metaphorischen Bedeutungskontexte von jianshe überlagern. Zugleich sind damit transnationale Dimensionen der Reden und Praktiken des chinesischen „Aufbaus" angesprochen. Jianshe eröffnet für die Untersuchung „gebauter Visionen"18 im Neuen China eine Vergleichsperspektive nach außen, die nicht allein auf die sowjetisch geprägte „sozialistische Stadt" verweist, sondern die städtebaulichen Konzepte des „Aufbaus West" miteinbezieht. In ganz Europa ist „Aufbau" während des ersten Nachkriegsjahrzehnts ein allgegenwärtiger Grundbegriff. Seine grenzüberschreitende Strahlkraft gewinnt er aus der symbolischen Überhöhung und der Übertragung auf (nahezu) alle Lebensbereiche: „ A u f b a u " wurde in Ost und West gleichermaßen als eine physische und geistige Konstruktionsaufgabe aufgefaßt, die auf den Menschen und seine (Lebens-)Umwelt ausgerichtet war. Die vielfaltigen Bedeutungsschichten von „ A u f b a u " und jianshe freizulegen, bildet die übergeordnete Fragestellung der Arbeit. Innerhalb dieses Rah17 Eine Unterscheidung ist hier vorzunehmen zwischen der Moderne als sozio-strukturelle Entwicklungsphase (Aufklärung, Industrialisierung, Urbanisierung) und dem intellektuellästhetischen Projekt der Moderne des frühen 20. Jahrhunderts, die vieles von dem, was erstere hervorgebracht hat, zurückweist und zu korrigieren trachtet. Zygmunt Bauman verwendet für letzteres den Begriff des Modernismus, der eine Nabelschau der Moderne gewesen sei: „In modernism, modernity turned its gaze upon itself [...]." Ausfuhrlicher dazu ders.: Modernity and Ambivalence, Ithaca 1991, S. 3f, Anm. 1. 18 Russell Ferguson (Hrsg.): Am Ende des Jahrhunderts. 100 Jahre gebaute Visionen, Ostfildern-Ruit 1999.
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1. Einleitung
mens sollen die dominanten städtebaulichen Leitbilder der Zeit in ihrer Vernetzung mit den Zukunftsentwürfen der politischen, wissenschaftlich-technischen und kulturellen Eliten der 50er Jahre analysiert werden. Das Schlagwort der „50er Jahre" wird dabei nicht als vereinfachende Zusammenfassung des chronologischen Jahrzehnts von 1950 bis 1959, sondern im Sinne eines komplexen kulturhistorischen Gewebes verwendet. In vielen Fällen sind die Vorstellungen von den „50er Jahren" mit denen des „ A u f b a u s " g verflochten, daß die Begriffe nahezu austauschbar erscheinen. Hinter den Reden über wushi niandai (fünfziger Jahre) steht in der VR China jedoch kein einheitliches historiographisches Konzept. Unangefochten kennzeichnet zwar das Jahr 1949, das Jahr der „Befreiung" (jiefang) und Staatsgründung (jianguo), den Beginn dieses „historischen Abschnitts". Er endet aus politik- und sozialgeschichtlicher Sicht aber bereits 1956 oder spätestens mit dem Jahr 1957, das als Vorbereitungsphase für den „Großen Sprung nach vorn" (dayuejin, 1958-1961) gilt. Wirtschaftshistorisch wird innerhalb dieser acht bzw. neun Jahre noch einmal zwischen der sogenannten „Phase der Wiederherstellung der Volkswirtschaft" von 1949-1952 (guomin jingji huifu shiqi, kurz: huifu shiqi) und der Zeit des ersten Fünfjahrplans von 1953-1957 (di yi ge wunian jihua, kurz: „yi wu" shiqi) differenziert.19 In der vorliegenden Untersuchung wird dargestellt, wie der „Aufbau"-Diskurs der Volksrepublik zwischen 1949 und 1956/57 seine charakteristischen Formen annimmt. Damit soll jedoch nicht der Anspruch erhoben werden, in Anlehnung an die genannten Daten eine hermetische Einheit für die Modernisierungsgeschichte Chinas zu definieren; im Gegenteil, vielmehr läßt sich gerade am Beispiel von jianshe verdeutlichen, wie porös die offiziellen Zäsuren der chinesischen Historiographie mit Blick auf das vorangegangene und das nachfolgende Geschehen sind. Im Rekurs auf die Diskussionen zur Periodisierung der deutschen Nachkriegszeit ist es möglicherweise gerechtfertigt davon zu sprechen, daß das Neue China seine eigenen Versionen von „langen" und „kurzen" 50er Jahren erlebt hat.20 s
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Exemplarisch bei Li Lizhi Φ ì : Bianqian yu chongjian. 1949-1956 nian de Zhongguo shehui % f 3Ë: 1949-1956 + S i t « · [Wandel und Wiederaufbau: Die chinesische Gesellschaft zwischen 1949 und 1956], Nanchang 2002; Liu Qingmin ill A H : Di yi ge wunian jihua yu 156 xiang jianshe gongcheng % — - ^ J L ^ - i f M - k I s e ^ U l t i t J - f é [Der erste Fünflahrplan und die 156 Aufbauprojekte], in: WSJH 11, 1999, S. 4-8; zur Einordnung der Stadtplanungsgeschichte in dieses wirtschaftspolitische Raster siehe u.a. Zhongguo chengshi guihua xuehui 1* S "f" £'] # Quanguo shizhang peixun zhongxin -È: 0 ΐ -tfc ig-ìii| + .c," (Hrsg.): Chengshi guihua duben ¿6, ΐ [ R e a d e r zur Stadtplanung], Beijing 2004, S. 92ff. 20 Ein Hinweis, der in diese Richtung deutet, findet sich bei Jin Runcheng fiUYu Xiaohang , (Hrsg.): Zhongguo chengshihua zhi lu t SM'f'ífc^.íS· [Der Weg der chinesischen Urbanisierung], Shanghai 1999, S. 158-177. Hier werden die Jahre von 1950 bis zum Beginn der „Kulturrevolution" 1966 als zusammenhängende Modernisierungsphase gedeutet. Für den deutschen Kontext wurde der Begriff der „langen 50er Jahre" durch den Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser geprägt. Er faßte in seiner Untersuchung zur Zeitgeschichte der Bundesrepublik Deutschland darunter die Zeit von der Währungsreform
1.2 Forschungsstand und Methode
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1.2 Forschungsstand und Methode Moderne Stadtplanungskonzepte in ihrer wechselseitigen Bezogenheit und Abgrenzung voneinander zu untersuchen, ist bereits aufgrund der allgemein akzeptierten Definition des Forschungsgegenstands ein interdisziplinäres Projekt. Bei allen Unterschieden in der Schwerpunktsetzung bestimmter akademischer „Schulen" gilt Stadtplanung beziehungsweise Städtebau programmatisch als „umfassende", „integrierte" oder grenzüberschreitende Wissenschaft, die auf Teilbereiche der Wirtschafts-, Sozial-, und Geowissenschaften zurückgreift. 21 D i e städtebaulichen Leitbilder der jungen Volksrepublik China unter kulturhistorischen Gesichtspunkten in den Blick zu nehmen, bedeutet insofern nicht nur, sich mit einem fremden Kultur- und Sprachraum der Vergangenheit auseinanderzusetzen, sondern schließt - w a s für den eigenen Kulturraum nicht minder relevant ist - die Beschäftigung mit einem „fremden" Wissenschaftsgebiet und seinen Fachsprachen im Wandel der Zeit ein. 22 Einen Zugang zum zeit- und ortsgebundenen Verständnis der Disziplin im westeuropäischen Kontext vermittelt die vergleichend angelegte Studie Zur Entwicklung der Stadtplanung in Europa. Begegnungen, Einflüsse, Verflechtungen v o n Gerd Albers. In ihrer Bandbreite ist sie nach w i e vor einzigartig. 23 Vorwiegend auf den anglo-amerikanischen Raum fokussiert ist hingegen die ältere Intellectual History of Urban Planning and Design in the Twentieth Cen-
1948/49 bis zur ersten wirtschaftlichen Rezession 1966/67. Vgl. Werner Abelshauser: Die Langen 50er Jahre. Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland 1949-1966, Düsseldorf 1987. Der Historiker Andersen hält diese Periodisierung auch kulturhistorisch für gültig. Vgl. Arne Andersen: Der Traum vom guten Leben. Alltags- und Konsumgeschichte vom Wirtschaftswunder bis heute, Frankfurt/New York 1999, S. 6ff. Die unterschiedlichen Periodisierungsansätze fur die deutsche Nachkriegsgeschichte und das Nebeneinander von „langen" und „kurzen" 50er Jahren diskutiert Axel Schildt. Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und ,Zeitgeist' in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg 1995, S. 31ff. 21 Siehe dazu Gerd Albers/Julian Wékel: Stadtplanung. Eine illustrierte Einfuhrung, Darmstadt 2008, S. 11-17, 93ff. Vgl. auch Zhongguo chengshi guihua xuehui (Hrsg.): Chengshi guihua duben, S. 75. Hier wird Stadtplanung als „eine eigenständige Wissenschaft, die [die Grenzen zu] Naturwissenschaften und Sozialwissenschaften überschreitet" charakterisiert (yi men kuayue ziran kexue de he shehui kexue de duli de kexue — Π â$ ^ Í" AfrÍJ^íF); a n a n c i e r e r Stelle wird von „einer eigenständigen Wissenschaft und Disziplin, die sich durch besondere Vielseitigkeit auszeichnet" gesprochen (yi men duli de, zonghexing hen qiang de kexue he zhuanye — l"]íks¡.¥], § -^'fi-fe. ö # # fc ¿t j. 22 Die unterschiedlichen Wahrnehmungsmuster von Kulturwissenschaftlern und Stadtplanern beschreibt Barbara Lang: Zur Ethnographie der Stadtplanung. Die Planerische Perspektive auf die Stadt, in: Waltraud KokotlThomas Hengartner/Kaüu'm Wildner (Hrsg.): Kulturwissenschaftliche Stadtforschung. Eine Bestandsaufnahme, Berlin 2000, S. 55-68. Dies war drei Jahrzehnte zuvor Thema der bereits erwähnten Studie von Berndt: Gesellschaftsbild. 23 Gerd Albers: Zur Entwicklung der Stadtplanung in Europa. Begegnungen, Einflüsse, Verflechtungen, Braunschweig/Wiesbaden 1997; vgl. dazu auch seine spätere tabellarische Übersicht zum Selbstverständnis von Stadtplanem in ders. : Über den Wandel im Planungsverständnis, in: Martin Wentz (Hrsg.): Wohn-Stadt, Frankfurt/New York 1993, S. 45-55, hier S. 53.
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1. Einleitung
tury von Peter Hall.24 Zum Städtebau in Deutschland im 20. Jahrhundert liegt seit 2001 eine Überblicksdarstellung von Jörn Düwel und Niels Gutschow vor, die sich durch umfangreiche Literaturverweise auszeichnet.25 Charakteristisch für die deutschsprachige Wissenschaft ist die begriffsgeschichtliche Annäherung an den Forschungsgegenstand. Düwel und Gutschow resümieren anhand der Definitionen in der Fachliteratur, was seit dem 19. Jahrhundert unter Städtebau und Stadtplanung gefaßt worden ist.26 Sie folgen darin einer älteren Darstellung und Quellenedition von Gerd Albers und Klaus Martin.27 Albers geht in seiner europäischen Vergleichsdarstellung überdies auf die begrifflichen Äquivalente von Stadtplanung und Städtebau in den Sprachen der von ihm einbezogenen Länder ein.28 In historischer Perspektive läßt die Fachliteratur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts keine klare Unterscheidung zwischen Städtebau und Stadtplanung zu. Als Beispiele seien hier zwei Definitionen zitiert, die 1957 in aufeinanderfolgenden Beiträgen eines Sammelbands zum Thema Medizin und Städtebau publiziert worden sind. Zum „Städtebau" schrieb Erich Kühn, damals Professor für Städtebau und Landesplanung in Aachen: „Städtebau ist Ausdruck des jeweiligen Gesellschaftszustandes und damit Ausdruck einer Weltanschauung, ist eine junge Wissenschaft und eine hohe Kunst. Städtebau ist in der Notwendigkeit das als richtig Erkannte und in der Form Vorgedachte in die Wirklichkeit umzusetzen auch Politik." 29
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Peter Hall: Cities of Tomorrow: An Intellectual History of Urban Planning and Design in the Twentieth Century, Oxford 1989. 25 Siehe Jörn Düwel/Niels Gutschow: Städtebau in Deutschland im 20. Jahrhundert. Ideen - Projekte - Akteure, Stuttgart 2001. 26 Vgl. Düwel!Gutschow. Städtebau in Deutschland, S. 18-24. Die Leserin erwartet durch die getrennte Abhandlung der Begriffe eine Differenzierung. Stattdessen findet sich unter der Uberschrift „Stadtplanung" mehrfach das wiedergegeben, was in diversen Nachschlagewerken zum Stichwort „Städtebau" verzeichnet ist. Auf den offensichtlich synonymen Gebrauch der Begriffe gehen die Autoren jedoch auch im weiteren Verlauf ihrer Darstellung nicht ein. Siehe demgegenüber die kurze Begriffserläuterung zu „Planung" von Gerd Albers: Stadtplanung. Eine praxisorientierte Einführung, Darmstadt 1992, S. 4-6. 27 Gerd Λ/òers/Klaus Martin: Entwicklungslinien im Städtebau. Ideen, Thesen, Aussagen 1875-1945. Texte und Interpretationen, Düsseldorf 1975. 28 Zu Äquivalenten beider Termini in anderen europäischen Sprachen siehe Albers: Entwicklung der Stadtplanung in Europa, S. 13. 29 Erich Kühn·. Vom Wesen der Stadt und des Städtebaus, in: Paul VoglerfEtich Kühn (Hrsg.): Medizin und Städtebau. Ein Handbuch für gesundheitlichen Städtebau, 2Bde, München/Berlin 1957, S. 203-213, hier S. 207. Erich Kühn (1902-1981) war während des Nationalsozialismus Leiter des Planungsamtes Eberswalde (1935), Kreisbaurat der Stadt Minden (1939) und überdies federführend im „Arbeitsausschuß für Naturschutz und Landschaftsgestaltung". Nach dem Krieg hatte Kühn eine Professur an der TH Aachen inne (1953-1970). Zu Kühn und seiner Rolle in der „Landschaftspflege" des Nationalsozialismus siehe Axel Zutz\ Wege grüner Moderne. Praxis und Erfahrung der Landschaftsanwälte des NS-Staates zwischen 1930 und 1960, in: Heinrich Mäding/Wendelin Strubelt (Hrsg.): Vom Dritten Reich zur Bundesrepublik. Beiträge einer Tagung zur Geschichte von Raumforschung und Raumplanung, Hannover 2009, S. 101-148, hier S. 122, 126.
1.2 Forschungsstand und Methode
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In seinen weiteren Erläuterungen subsumierte Kühn den Aspekt der „Planung" unter den Methoden des Städtebaus. Für den Architekten Hubert Hoffmann spiegelte der Begriff der „Städteplanung" dagegen einen grundlegenden Wandel im Fachverständnis wider. Eine veränderte Stadtwahrnehmung habe zu der Einsicht geführt, daß ein komplexes Instrumentarium zur vorausschauenden Steuerung der Stadtentwicklung notwendig sei. Er unterschied z w i s c h e n Städtebau und Stadtplanung w i e folgt: „Dem Laien ist bis heute nur die Bezeichnung .Städtebau' geläufig. Der Begriff" .Städteplanung' beginnt sich erst allmählich durchzusetzen. In der Unterscheidung beider Wortzusammensetzungen kommt die Veränderung in der Entwicklung deutlich zum Ausdruck. Städtebau hatte die Bedeutung einer unmittelbar bevorstehenden Wandlung des Raums - und zwar eines optisch überschaubaren Raums: [...] eine Baugruppe, eine Siedlung oder allenfalls ein Stadtgebiet. [...] da jedoch die Realisierung im Vordergrund stand und unmittelbar erfolgte, waren die Planung und die Maßnahmen, die der Ausführung vorausgingen, kaum erkennbar [...]. .Städtebau' entsprach der handwerklichen Technik. [...] Erst um 1900 vollzog sich eine Wandlung [...]: die Erkenntnis, daß die Stadt ein unteilbares Ganzes ist, ein Komplex, der einheitlich betrachtet in seinem Gefuge, in seinen Zusammenhängen untersucht und geplant werden muß [...]. Mit der Begründung und der Behandlung eines ,Ganzen' beginnt das wesentlich kompliziertere Vorgehen der ,Städteplanung', eine wissenschaftliche und spekulative vorausschauende und voraussorgende Tätigkeit (die ihre Verwirklichung nicht unmittelbar findet)."30 A u c h aktuelle Handbücher grenzen die Bedeutungsfelder voneinander ab, indem für „Stadtplanung" mehr das Prozeßhaft-Vorausschauende, für „Städtebau" dagegen stärker die gestalterische Komponente hervorgehoben wird: „Stadtplanung beschäftigt sich eher mit der Lenkung der räumlichen Entwicklung und der Nutzung der Flächen einer Stadt, Aufgabe des Städtebaus ist eher die Umsetzung der Planung und die bauliche Gestaltung des städtischen Lebensraumes. Städtebau und Stadtplanung bedeuten also eine vorausschauende Ordnung der baulichen und sonstigen Nutzung von Grund und Boden in Städten, in Ortschaften und Siedlungsbereichen."31 30
Hubert Hoffmann·. Die Idee der Stadtplanung, in: Paul Vogler!Erich Kühn (Hrsg.): Medizin und Städtebau. Ein Handbuch fur gesundheitlichen Städtebau, 2Bde, München/Berlin 1957, S. 214—246, hier S. 217f. Zum Karriereverlauf des Bauhäuslers Hubert Hoffmann (1904-2000) im Nationalsozialismus, u.a. als Landesplaner von Litauen (1942-1944) und Mitarbeiter im Baubüro Herbert Rimpl, siehe Andreas Butter. Neues Leben, neues Bauen. Die Moderne in der Architektur der SBZ/DDR 1945-1951, Berlin 2006, S. 738f; und Winfried Nerdinger. Bauhaus-Architekten im „Dritten Reich", in: ders. (Hrsg.): BauhausModerne im Nationalsozialismus. Zwischen Anbiederung und Verfolgung, München 1993, S. 153-178, hierS. 167, 172. 31 Martin Korda: Grundbegriffe, in: ders. (Hrsg.): Städtebau. Technische Grundlagen, Wiesbaden 2005, S. 39; vgl. auch die frühere Definition Wilhelm Wortmanns: „Unter Städtebau verstehen wir die räumliche Ordnung und Gestaltung aller Lebensvorgänge innerhalb einer Gemeinde. [...] Städtebau fußt auf Stadtplanung. Stadtplanung erfordert umfassende Kenntnisse von der Stadt und ihren Bewohnern: Stadtkunde und Stadtforschung. Hierbei ist die Zusammenarbeit vieler Disziplinen erforderlich; [...] Stadtplanung verwirklicht sich durch viele kleine und einzelne große Bauherren über eine lange Zeit hin, sie ist ein anhaltender Vorgang." Ders.: Städtebau und Stadtplanung, in: Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.): Handwörterbuch der Raumforschung und Raumordnung, Hannover 1966, S. 1939-1991, hier S. 1939ff; zur Rolle Wortmanns in der Stadt- und Landesplanung des Nationalsozialismus vgl. die weiterführenden Hinweise in Abschnitt 2.1.2.
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1. Einleitung
Entscheidend ist jedoch, daß der Anspruch, einen vorausschauenden „Beitrag zur Ordnung des Zusammenlebens" 3 2 der Menschen zu leisten, bis heute in beiden Begriffen aufgehoben ist - ein Anspruch, der sich im Selbstverständnis der Akteure seit dem 19. Jahrhundert zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich stark ausgeprägt findet. Laut der Brockhaus-Enzyklopädie wird Städtebau gegenwärtig „als Instrument zur U m s e t z u n g politischer Wertvorstellungen einer Gesellschaft in eine angemessene U m w e l t verstanden" und in diesem Sinn häufig „gleichbedeutend mit Stadtplanung (städtebauliche Planung) verwendet". 33 Daran knüpft sich im Umkehrschluß die Auffassung, daß Stadt eine „räumliche Abbildung von Gesellschaft" ist: „Stadtentwicklung ist [...] das Ergebnis von unterschiedlichen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Interessen. Hieraus resultieren konkurrierende Nutzungsansprüche an den Raum. Stadtbild und -struktur sind das Abbild konkurrierender Interessen im Wandel."34 Daß der hier formulierte Abbildcharakter städtebaulicher „Zeichen" v o n verschiedenen Seiten in Z w e i f e l g e z o g e n worden ist 35 , hat die Debatte um gesellschaftlich angemessene „Leitbilder" „am Ende des Jahrhunderts" nur weiter angefacht und nicht zuletzt zu einer breiteren historischen Auseinandersetzung mit städtebaulichen Ordnungsvorstellungen geführt. 36 32
Siehe die Kapitelüberschrift bei Albers: Stadtplanung, S. 1 : „Stadtplanung als Beitrag zur Ordnung des Zusammenlebens". 33 So die Formulierung in der Ausgabe des Brockhaus von 1993; seit der 1998er Ausgabe wird allerdings nicht mehr von „Stadtplanung (städtebauliche Planung)" gesprochen, sondern von „Stadt(entwicklungs)planung". Vgl. Brockhaus-Enzyklopädie 21. Aufl., Bd. 26, Leipzig/Mannheim 2006, S. 115-118, Stichwort „Städtebau". The New Encyclopaedia Britannica identifiziert für den Begriff „urban planning" die drei Teilaspekte „social movement", „governmental function" und „technical profession": „Together they fuse into the effort of modern society to shape and improve the environment within which increasing proportions of humanity spend their lives: the city." Im Gegensatz zu deutschen Nachschlagewerken wird hier im weiteren explizit daraufhingewiesen, daß die Ziele der Stadtplanung trotz wissenschaftlich begründeter Kriterien niemals wertneutral waren, sondern in Abhängigkeit von zeit- und ortsgebundenen Ordnungsidealen einem stetigen Wandel unterworfen sind: „Even these superficially clear objectives were not fully operational. They involve such terms as ,adequate' or ,high standard', which are relative rather than absolute and change with new insights from experience or research [...]." The New Encyclopaedia Britannica, Bd. 16, Chicago 1997, S. 428, 430. 34 Siehe dazu die Homepage des Bundesamts für Bauwesen und Raumordnung unter http://www.bbr.bund.de/nn_22412/DE/ForschenBeraten/Staedtebau/Stadtentwicklung (31.08.2006). 35 Z.B. von Spiro Kostof. Das Gesicht der Stadt. Geschichte städtischer Vielfalt, Frankfurt/New York 1992; und Anders Aman: Die osteuropäische Architektur der Stalinzeit als kunsthistorisches Problem, in: Gabi Dolff-BonekämperlHiltrud Kier (Hrsg.): Städtebau und Staatsausbau im 20. Jahrhundert, München 1996, S. 131-150; grundsätzlicher dazu unter Abschnitt 1.3 dieser Arbeit. 36 Zu nennen ist hier u.a. die anhaltende Debatte um das Leitbild der „europäischen Stadt". Siehe dazu Heidede Becker/lohann Jessen/Robert Sander (Hrsg.): Ohne Leitbild? - Städtebau in Deutschland und Europa, Stuttgart 1998. Für einen differenzierteren Blick auf die „europäische Stadt" des 19. Jahrhunderts plädiert Walter Siebel: Urbanität als Lebensweise ist ortlos geworden, in: FR, 29.07.2000, S. 7; siehe demgegenüber Martin Wentz: Aus
1.2 Forschungsstand und Methode
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Bereits die Mitte der 1980er Jahre einsetzende Rückschau auf die Planungsgeschichten des 20. Jahrhunderts zeichnete sich durch den Versuch aus, historiographische Grenzlinien aufzubrechen. In der deutschsprachigen Forschung zielte das vor allem auf die Dekonstruktion einer vermeintlichen „Stunde Null" im westdeutschen Städtebau. 37 N a c h 1989 verlagerte sich der Fokus dann stärker auf die Untersuchung der sozialistischen Stadt(planungs)geschichten in Mittel- und Osteuropa, ein Thema, das anfanglich noch als gesondertes Phänomen behandelt wurde. 3 8 Inzwischen ist man in verschiedenen Beiträgen und Ausstellungsprojekten vermehrt um eine vergleichende, transnationale Zusammenschau dessen bemüht. 3 9 A l l e n theoretischen Bekenntnissen transnationaler Geschichtsschreibung zum Trotz hat diese Öffnung ihre Grenzen: N a c h w i e vor werden außereuropäische bzw. „nicht-westliche" Schauplätze nur punktuell in Reflexionen über den modernen Städtebau einbezogen. 4 0 D i e komplexen politisch-geographischen Verflechtungen dieses Teilprojekts der Moderne werden weitgehend ignoriert oder mit erstaunlich unreflektiertem Überlegenheitsgestus v o m Tisch gefegt. 4 1 Vielen Darstellungen zufolge erklärt sich die Entwicklung der m o dern 19. ins 21. Jahrhundert. Der moderne Städtebau und die Stadt der Zukunft, in: FR, 29.10.2001, S. 6; allgemeiner dazu auch die „Bilanz: Zum Wandel von Leitbildern im 20. Jahrhundert" von Düwel und Gutschow, Städtebau in Deutschland, S. 13-17; in einer Linie damit steht die Argumentation von Robert Fishman: The American Planning Tradition. An Introduction and Interpretation", in: ders. (Hrsg.): The American Planning Tradition. Culture and Policy, Washington D.C. 2000, S. 1-29, hier S. 2. 37 Exemplarisch dafür ist die bereits erwähnte Studie von Durth/Gutschow, Träume in Trümmern. 38 Siehe u.a. Anders Âman: Architecture and Ideology in Eastern Europe during the Stalin Era. An Aspect of Cold War History, New York/Cambridge/MIT 1992; Holger Barth (Hrsg.): Projekt Sozialistische Stadt. Beiträge zur Bau- und Planungsgeschichte der DDR, Berlin 1998; ders. (Hrsg.): Grammatik sozialistischer Architekturen. Lesarten historischer Städtebauforschung zur DDR, Berlin 2001; Joachim Palutzki: Architektur in der DDR, Berlin 2000; Ruth May: Planstadt Stalinstadt. Ein Grundriß der frühen DDR - aufgesucht in Eisenhüttenstadt, Dortmund 1999; Andreas Schätzke: Zwischen Bauhaus und Stalinallee. Architekturdiskussion im östlichen Deutschland 1945-1955, Braunschweig 1991; Thomas Topfstedt: Die nachgeholte Moderne. Architektur und Städtebau in der DDR während der 50er und 60er Jahre, in: Gabi Dolff-Bonekämper/Hiltrud Kier (Hrsg.): Städtebau und Staatsausbau im 20. Jahrhundert, München 1996, S. 39-54. 39 Vgl. dazu die Ausstellungen des DHM Berlin, des IfA Stuttgart sowie des Architekturmuseums der TU München und ihre Begleitpublikationen: Rosmarie Beier (Hrsg.): Aufbau West - Aufbau Ost. Die Planstädte Wolfsburg und Eisenhüttenstadt in der Nachkriegszeit, Ostfildern-Ruit 1997; Institut für Auslandsbeziehungen e.V. Stuttgart (Hrsg.): Zwei deutsche Architekturen 1949-1989, Ostfildern-Ruit 2004; Winfried Ν erdinger (Hrsg.): Zlin - Modellstadt der Moderne, Berlin 2009; siehe außerdem die Themenstellungen der regelmäßig stattfindenden „Werkstattgespräche zur Bau- und Planungsgeschichte der DDR" unter Leitung von Christoph Bernhardt unter: www.irs-net.de (12.09.2008). 40 So auch bei Albers: Entwicklung der Stadtplanung in Europa, S. 9; Albers begründet seine Ausklammerung des „östlichen Europa" hier mit fehlenden Sprachkenntnissen, stellt seine Studie aber gleichzeitig in den Kontext des „Zusammenwachsen^] der europäischen Länder zu einer politischen Gemeinschaft". 41 Zu den Beiträgen, die früh auf diese Leerstellen hingewiesen haben, gehören die Sammelbände von John Agnew/John Mercer!David Sopher (Hrsg.): The City in Cultural Context,
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1. Einleitung
dernen Bau- und Planungsgeschichte des 20. Jahrhunderts insofern auch heute noch gänzlich aus der Geschichte Nordwesteuropas (und Nordamerikas) heraus. 42 Wenn andere Weltregionen innerhalb dieses Schemas Berücksichtigung finden, geht es zumeist um die Verbreitung eines städtebaulichen Fortschritts auf ausgewiesenen Einbahnstraßen - ausstrahlend v o m „demokratischen" Europa und den U S A an die „Peripherien" der „modernen Welt". 43 Wie schwer es für alle Seiten ist, solche Denkmuster zu überwinden, macht ein Standortwechsel deutlich. A u c h in B e z u g auf die ältere, marxistischen Erklärungsmustern folgende Städtebauforschung in der V R China läßt sich ein ausgeprägter Selbstbezug konstatieren. Im Rückgriff auf vermeintlich überzeitliche chinesische Traditionen und ideologische Überlegenheitsansprüche wurde vehement versucht, die Spezifik einer eigenen, genuin chinesischen und besseren Moderne mit sozialistischen Vorzeichen zu propagieren. Hinlänglich bekannt ist, w i e sehr diese sinozentrischen Reaktionen des N e u e n China in den 1970er Jahren auf „den Westen" zurückgewirkt haben. 44 A u s g e h e n d v o n der Absichtserklärung, den Eurozentrismus innerhalb der eigenen Disziplin überwinden zu wollen, hat die westliche Sinologie jener Zeit eigentlich nur einen Re-import sozialistischer Modernisierungskritiken des 20. Jahrhunderts betrieben, w i e Richard Kirkby Mitte der 1980er Jahre durchaus selbstkritisch zu bedenken gab. N e b e n ausgeprägten Informationsengpässen
Boston 1984; und Nezar AlSayyad (Hrsg.): Forms of Dominance. On the Architecture of the Colonial Enterprise, Aldershot 1992. 42 Von den „Cities in Civilization" bleiben in der gleichnamigen Monumentalmonographie von Peter Hall die traditionsreichen Städte Asiens (mit Ausnahme Japans), Afrikas und Südamerikas erstaunlicherweise ohne weitere Erklärung ausgeklammert. In der von Martin Korda überarbeiteten Neuauflage des Handbuchs Städtebau wird mit Bezug auf „Le Corbusiers Ideen einer modernen Stadt" gar behauptet: „Alle Veränderungen in den Städten der ganzen Welt entstanden aufgrund dieser Prinzipien." Ders. (Hrsg.): Städtebau, S. 34. 43 In diesem Fall sind die Darstellungen dann häufig an einzelne Akteure geknüpft und bleiben damit auf die „großen Namen" des europäischen Modernismus fokussiert: Le Corbusier in Indien, Bauhaus-Traditionen in China. In diesem Sinn symptomatisch ist auch das folgende Verdikt, das sich auf eine Ausstellung über die Industriestadt Zlin (Tschechien) bezieht: „Man lernt viel [...] über die Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit, die Erstklassigkeit des tschechischen Designs dieser Epoche, den sozial engagierten Unternehmer Bata, Architekten wie Vladimir Karfik, der bei Frank Lloyd Wright gearbeitet hatte. Vor allem aber trifft man auf einen Pioniergeist, der stets durch und durch westlich, europäisch war." Thomas Medicus: Batas ideale Industriestadt, in: FR, 05.01.2005, S. 15. Zum theoretischen Hintergrund siehe die Einleitung von Sebastian Conrad!Shalini Randeria: Geteilte Geschichten - Europa in einer postkolonialen Welt, in: dies. (Hrsg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt/New York 2002, S. 9-49; vgl. außerdem Achim Landwehr. Geschichte des Sagbaren. Einfuhrung in die historische Diskursanalyse, Tübingen 2001, S. 143ff. 44
Siehe dazu Kam Wing Chan: Post-1949 Urbanization Trends and Policies. An Overview, in: Gregory Guldin (Hrsg.): Urbanizing China, New York 1992, S. 41-63, hier S. 41,60; und seine Darstellung der dominanten Argumentationslinien westlicher Beiträge zur chinabezogenen Stadtforschung von den 1960ern bis in die 1990er Jahre; ders.: Cities With Invisible Walls. Reinterpreting Urbanization in Post-1949 China, Hong Kong 1994, S. 7-14.
1.2 Forschungsstand und Methode
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über das kulturrevolutionäre China 45 habe vor allem die „westliche Empfänglichkeit für Agrarutopien und orientalische Fantasien" dazu gefuhrt, die eigenen idealisierten Vorstellungen ländlicher Lebensweisen auf China und „die chinesische Mentalität" zu projizieren. 46 Vorübergehend war in diesem Kontext auch die Annahme populär, China habe mit „seinem" Weg in die Modernisierung eine anti-urbane Alternative zu den urban-industriellen Fortschrittsmodellen des „Westens" und der Sowjetunion beschritten. Daraufhin wurde im „chinesischen Modell" vermehrt nach Lösungsansätzen für die Problemlagen der westlichen Industriegesellschaften gesucht. D a s daraus hervorgegangene Interpretationsmuster eines anti-urban bias der chinesischen Führung unter Mao Zedong hat Kirkby aufgrund der chinesischen „Einmütigkeit im K a m p f g e g e n die Unwägbarkeiten der Natur" als große Ironie bezeichnet. 4 7 Erklärbar wird vor diesem Hintergrund aber, warum der chinesische Städtebau im Lauf der Jahre entweder zur sowjetischen Kopie oder zum exotischen Sonderfall stilisiert worden ist. 48 D a s Image des „Anti-Urbanismus" für die ersten drei Jahrzehnte der Volksrepublik haben bisher jedenfalls nur einzelne Autoren grundsätzlich in Frage gestellt. 49 Erst im Z u g e der gegenwärtigen Urbanisierung Chinas sind Rückblicke erfolgt, die dem städtebaulichen Entwicklungskontinuum von der Gründung der Volksrepublik bis heute nachgehen. 5 0 Von chinesischer Seite handelt es sich 45
„It is a sad commentary on our times that none of the authors represented in this volume has actually set foot in a city in Communist China", schickte John Lewis 1970 noch den Beiträgen seines Sammelbandes voraus. Und Chan Kam-Wing beschrieb in der oben erwähnten Forschungsübersicht die Zeit nach dem Tod Maos und der Entmachtung der „Viererbande" als „most welcomed explosion of information about many aspects of Chinese society and economy". Chan: Invisible Walls, S. 11. 46 So z.B. Christopher L. Salter: Chinese Experiments in Urban Space. The Quest for an Agropolitan China, in: Habitat 1/1, 1976, S. 19-35. Kam Wing Chan spricht in seinem Forschungsüberblick fur die 1970er Jahre von einem „,pro-rural' smoke-screen that had clouded the view of almost a generation of scholars." Chan: Invisible Walls, S. 11. 47 Vgl. Richard J.R. Kirkby: Urbanization in China. Town and Country in a Developing Economy 1949-2000 AD, New York 1985, S. 18. Der Herleitung dieser Schlußfolgerungen hat Kirkby unter dem Titel „China and Anti-Urbanism" das erste Kapitel seiner Untersuchung gewidmet. Siehe außerdem die Monographie von Judith Shapiro'. Mao's War Against Nature. Politics and the Environment in Revolutionary China, Cambridge 2001. 48 Vgl. dazu z.B. Morris Β. Ullmann: Cities of Mainland China. 1953-1959, in: Gerald Breese (Hrsg.): The City in Newly Developing Countries. Readings on Urbanism and Urbanization, Englewood Cliffs 1972, S. 81-103; Laurence J.C. Ma: The Chinese Approach to City Planning. Policy, Administration, and Action, in: Asian Survey 19/9, 1979, S. 838-855; Yichun A7e/Frank J. Costa: Urban Planning in Socialist China, in: CITIES 10/2, 1993, S. 103-114. 49 Differenzierter sind diesbezüglich die Beiträge in Laurence Μα/Edward W. Hanten (Hrsg.) : Urban Development in Modern China, Boulder 1981 ; der Rückblick des nach Frankreich emigrierten Architekten Léon Hoa [Hua Lanhong]: Reconstruire la Chine. Trente ans d'urbanisme, 1949-1979, Paris 1981; die Monographie von Victor F.S. Sit: Chinese Cities: The Growth of the Metropolis Since 1949, Oxford 1985; sowie die oben erwähnte Studie von Kirkby: Urbanization in China. 50 So wurde kürzlich auch eine chinesischsprachige Ausgabe des über 20 Jahre alten Titels von Léon Hoa in der Volksrepublik veröffentlicht: Hua Lanhong Chongjian Zhongguo. Chengshi guihua sanshi nian 1949-1979 f i f c t S : i s ^ Î i S L Â j 1 9 4 9 - 1 9 7 9
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1. Einleitung
dabei u m offiziöse Überblicksdarstellungen, die unbeirrt den Mustern der seit 1981 sanktionierten Parteigeschichtsschreibung folgen. 5 1 Überdies sind viele der aktuellen Beiträge zum Städtebau der 50er Jahre zu staatlichen Jahrestagen erschienen und zeichnen ein überwiegend positives Bild vergangener Planungen und Baumaßnahmen. D i e Verfasser solcher Publikationen sind z u m großen Teil Zeitzeugen, die bis heute den Institutionen der chinesischen Planungsverwaltung in prestigeträchtigen Beraterpositionen angehören. Sie prägen nicht nur maßgeblich die fachinterne Sicht auf den Städtebau im „Aufbaujahrzehnt" der Volksrepublik, sondern veröffentlichen darüber hinaus auch persönliche Rückblicke im populären Stil der Memoirenliteratur (huiyilu) für eine breitere Öffentlichkeit. 5 2
[China wiederaufbauen: Dreißig Jahre Stadtplanung, 1949-1979], Beijing 2006; weitere Beispiele für die gegenwärtige Darstellung der 50er Jahre sind Jin Runcheng/F« Xiaohang (Hrsg.): Zhongguo chengshihua zhi lu; und Wang Chunguang i- #• Ji/Sun Hui -f-l· : Zhongguo chengshihua zhi lu τ S! Afc^-fc^CSl· (Urbanization for China), Kunming 1997. 51 Wie sie in der „Resolution über einige Fragen zur Geschichte der KP Chinas seit 1949" vorgegeben wurden. Das gilt mehr oder weniger ausgeprägt für die folgenden Beiträge: Zhao Xiqing Woguo chengshi guihua gongzuo sanshi nian jianji (1949-1982) Hi^í M.ï'1 i - f t W i t [Überblick über die chinesische Stadtplanungsarbeit der letzten dreißig Jahre], CSGH 40/1, 1984, S. 4 2 ^ 8 ; „Dangdai Zhongguo" congshu bianjibu « S - f t t a>> (Hrsg.): Dangdai Zhongguo de chengshi jianshe I f t t ï ^ ^ . Î J t i i [Der Städtebau im zeitgenössischen China], Beijing 1990; Zou Denong ^P-fe-fΨ-IDou Yide % (Hrsg.): Zhongguo jianzhu wushi nian. 1949-1999 1949-1999/ Fifty Years of Chinese Architecture, Beijing 1999; Dong Jianhong ΐ & WLi Dehua Chengshi guihua zhuanye 45 nian de zuji i f c ^ M ' ] ^ [45 j a hre Stadtplanung], in: Dong Jianhong (Hrsg.): Chengshi guihua lishi yu lilun yanjiu ¡ώ,ΨΜΜίΛ jfc. 4 S tfe^f (Historical and Theoretical Research of Urban Planning), Shanghai 1999, S. 92-95; Guojia tongjiju chengshi shehui jingji diaocha zongdui S 'fcZfcif ¡h^K^V ^ - ^ ΐ ί ί ί τ ^ Ά è . â Ρλ (Hrsg.): Zhongguo chengshi sishi nian ΐ 0 $ , " ^ ® + · $ · / China: The Forty Years of Urban Development, Beijing 1990; etwas differenzierter präsentiert sich die Untersuchung zur Geschichte des modernen chinesischen Wohnungsbaus von LH Junhua/Peter G. Rowe/Zhang Jie (Hrsg.): Modern Urban Housing in China 1840-2000, München 2001; die chinesischsprachige Ausgabe erschien erst vier Jahre später unter dem Titel Zhongguo xiandai chengshi zhuzhai t a i t - R ^ ^ Ä ^ ; 1840-2000, Beijing 2005. 52
Für die Stadtplanung exemplarisch: Zhongguo chengshi guihua xuehui + UliS.'^SLJi'l Ψ ér (Hrsg.): Wushi nian huimou. Xin Zhongguo de chengshi guihua i - f - - ^ - Θ : iff ψ S W T f r i l S ' J [Rückblick auf 50 Jahre. Die Stadtplanung im Neuen China], Beijing 1999. Angesichts der schwierigen Quellenlage für den Untersuchungszeitraum der 50er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts ist die Verwendung von huiyilu in der Geschichtsforschung zur gängigen Praxis geworden. Huiyilu standen besonders zu Beginn ihres massenhaften Erscheinens in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre im Ruf, besondere „Authentizität" oder historische „Enthüllungen" zu bieten. Bis heute werden ausgesuchte huiyilu in historischen Materialsammlungen der VR gleichberechtigt neben zeitgenössische Dokumente gestellt, was bereits darauf hindeutet, daß sich die vermeintlich individuellen Darstellungen geschichtlicher Ereignisse ausnahmslos innerhalb des Sagbaren bewegen, das von der derzeit gültigen Historiographie abgesteckt worden ist. Insofern wird auch verständlich, warum die argumentativen und sprachlichen Unterschiede zwischen den aktuellen historischen Darstellungen und der Memoirenliteratur verschwindend gering sind. Zur Einschätzung von huiyilu in der westlichen Forschung siehe Steven Goldstein/He Di: Post-Cold War Sources: New Chinese Sources on the History of the Cold War, http://www.gwu.edu/~nsarchiv/CWIHP/ BULLETINS/bla2.htm (11.11.03), S. 4f.
1.2 Forschungsstand und Methode
17
Einige sozialhistorisch ausgerichtete Untersuchungen zu den 50er Jahren grenzen sich davon bereits erkennbar ab. Zu nennen sind hier z.B. die Arbeiten von Li Lizhi und Shi Jijin, die auf Transformationsprozesse der chinesischen Gesellschaft in den Gründungsjahren der Volksrepublik fokussiert sind. Im Rahmen ihrer jeweiligen Themenschwerpunkte gehen die Autoren auch auf die Anfange der sozialräumlichen und politischen Reorganisation der Städte ein. Ob und in welcher Form Ordnungsvorstellungen der politischen und wissenschaftlichen Eliten in den ersten Jahren der Volksrepublik räumliche Geltung erlangt haben, sei es durch Experimente mit bestimmten Wohn(bau)konzepten oder Stadtstrukturmodellen, wird dabei aber allenfalls indirekt angesprochen. Für die Fragestellung dieser Arbeit waren ihre Ausführungen daher nur bedingt aufschlußreich. 53 Das Zusammenspiel der staatlichen Gestaltungsansprüche gegenüber der physischen Umwelt einerseits und der Gesellschaft (bzw. der körperlichen und geistigen Verfaßtheit des Menschen) andererseits hat bis vor kurzem generell wenig Aufmerksamkeit erfahren, insbesondere aber in Bezug auf das städtische China.54 Die Neuerscheinungen der letzten Jahre sind nun insgesamt stärker diesem Themenkomplex zugewandt. Mit den räumlichen Auswirkungen der städtischen Organisationsform der (Arbeits-)Einheit (danwei) hat sich David Bray ausfuhrlich beschäftigt. 55 Lu Duanfang untersucht die Geschichte des modernen VR-Städtebaus dagegen unter dem Aspekt des „Mangels" (scarcity) eines sozialistischen Dritte-Welt-Landes.56 Beide Überblicksdarstellungen lenken dabei den Blick auf Verflechtungsgeschichten und Transferbeziehungen, die sowohl in der westlichen wie in der chinesischen Forschung über weite Strecken marginalisiert worden sind - insbesondere fur die Anfangsjahre der Volksrepublik.57 An den Ergebnissen dieser Arbeiten wird zugleich aber deut53 Vgl. Li Lizhi: Bianqian yu chongjian; Shi Jijin ff * 'k: Goujian yu shanbian. Zhongguo gongchandang yu dangdai Zhongguo shehui zhi bianqian (1949-1957) : + S [Konstruktion und Evolution: die Kommunistische Partei Chinas und der Wandel der modernen chinesischen Gesellschaft (1949-1957)], Jinan 2003. 54 Die ökologischen Folgen der Industrialisierung untersucht anhand ausgewählter Beispiele Shapiro: Mao's War Against Nature; zur „geistigen Umerziehung" siehe Yu Fengzheng ~f Ä i t : Gaizao. 1949-1957 nian dezhishifenzi : 1 9 4 9 - 1 9 5 7 4 ^ « ^ [Umgestaltung. Intellektuelle zwischen 1949 und 1957], Zhengzhou 2001. 55 David Bray: Social Space and Governance in Urban China. The Danwei System from Origins to Reform, Stanford 2005. Ältere Untersuchungen gehen laut Autor nicht systematisch auf die räumlichen und städtebaulichen Konsequenzen desrfanwe/'-Systemsein. 56 Duanfang Lu: Remaking Chinese Urban Form. Modernity, Scarcity and Space, 19492005, London/New York 2006, S. 2f. 57 Die „Orientierung" an ausländischen - auch „westlich-kapitalistischen" - Planungskonzepten ist für die 50er Jahre inzwischen teilweise anerkannt, die Transferprozesse selbst werden dagegen nur selten dargestellt. Vgl. z.B. die Formulierung in Zhongguo chengshi guihua xuehui (Hrsg.): Chengshi guihua duben, S. 103: „Die moderne Stadtplanung unseres Landes hat theoretisch, technisch, praktisch und administrativ in vieler Hinsicht die Erfahrungen ausländischer Stadtplanung als Beispiel herangezogen [jiejian guowai de chengshi guihua jingyan H Ebenfalls wenig Konkretes zum Prozeß des „Baukulturtransfers" der frühen VR China findet man in der Dissertation von Zhi Hao
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1. Einleitung
lieh, daß die Untersuchung der entangled histories der V R China und des Auslands fur die 50er Jahre (unabhängig v o m Themenschwerpunkt) ein schwieriges Forschungsterrain geblieben ist und noch in den Anfängen steckt. 58 Während transnationale Fragestellungen in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs weitgehend „undenkbar" 59 erschienen, müssen Historikerinnen heute vielleicht weniger Denkbarrieren als nach w i e vor Quellenprobleme überwinden. D a s macht auch Deborah Kaple mit ihrer Studie zur sowjetisch-chinesischen Interaktion i m Bereich des Fabrikmanagements anschaulich - im übrigen eine der w e n i g e n neueren monographischen Untersuchungen zu den 50er Jahren überhaupt. 60 Das forschungstechnische Problem, w i e sich Wege des Wissenstransfers angesichts nicht oder nur eingeschränkt zugänglicher chinesischer Archive erschließen lassen, erfordert mit Blick auf den j e w e i l i g e n Themenschwerpunkt immer individuelle Lösungsansätze. Generell hilfreich ist aber in dieser Situation die Frage, w e l c h e Referenzmaterialien aus w e l c h e n Ländern für bestimmen«: Die moderne chinesische Architektur im Spannungsfeld zwischen eigener Tradition und fremden Kulturen. Aufgezeigt am Beispiel der Wohnkultur in der Stadt Shanghai, Frankfurt a.M. 2003. Aufgrund fehlender Sprachkenntnisse konnten Forschungsbeiträge aus Japan und Rußland hier nicht berücksichtigt werden. 58 Meiner Kritik an den oben genannten Darstellungen von Bray und Lu sei vorangestellt, daß die 50er Jahre für die Autoren zwar einen Ausgangspunkt, nicht aber den Schwerpunkt ihrer Arbeiten bilden. Trotz dieser Einschränkung ist anzumerken, daß beide Untersuchungen offenbar unwissentlich die gesamte Palette aktueller historiographischer Muster der Volksrepublik für die 50er Jahre reproduzieren. Bei Bray ist das auf den unkritischen Umgang mit der chinesischen Sekundärliteratur der 1990er Jahre zurückzuführen, der angesichts seiner detaillierten methodischen Ausführungen zu diskursanalytischen Verfahren besonders erstaunt. Leser/innen, die mit dieser Forschungsliteratur vertraut sind, werden unkommentierte Paraphrasen von langen Textpassagen aus der oben bereits erwähnten offiziösen Überblicksdarstellung „Dangdai Zhongguo" congshu bianjibu (Hrsg.): Dangdai Zhongguo de chengshi jianshe, Beijing 1999 wiedererkennen; „to build upon the many fine existing empirical studies of urban China" (Bray: Social Space, S. 2) setzt aber zumindest die Fähigkeit voraus, sie zu kontextualisieren. Bei Lu Duanfang mangelt es ebenfalls an einer kritischen Reflexion über ihr Quellenkorpus, seien es zeitgenössische Schriftmaterialien der 50er Jahre oder mündliche Erinnerungen ihrer Interviewpartner an diese Zeit. Obwohl sie den Fokus auf die neighbourhood unit als „travelling urban form" gerichtet hat, bleibt ihre Darstellung gerade hinsichtlich der konkreten Transferwege dieses Konzepts während der frühen Jahre der VR China äußerst vage. 59
Zum Thema „The Cold War and the Production of Knowledge" schrieb Katherine Verdery: „[...] the Cold War was also a form of knowledge and a cognitive organization of the world. It laid down the coordinates of a conceptual geography grounded in East vs. West [...]." Katherine Verdery·. What was Socialism and what comes next?, Princeton 1996, S. 4; in diesem Sinn argumentieren auch Konrad Jarausch!Hannes Siegrist: Amerikanisierung und Sowjetisierung. Eine vergleichende Fragestellung zur deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte, in: dies. (Hrsg.): Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland 1945-1970, Frankfurt a.M. 1997, S. 11-46, hier besonders S. 23ff. 60 Vgl. Deborah Kaple: Dream of a Red Factory. The Legacy of High Stalinism in China, New York 1994, hier besonders S. 5-18. Zu den Anfangsjahren der Volksrepublik sind in jüngerer Zeit zwei Sammelbände erschienen, die diesen Eindruck bestätigen: Jeremy Brown/ Paul G. Pickowicz (Hrsg.): Dilemmas of Victory: The Early Years of the People's Republic of China, Cambridge, Mass. 2007; und Thomas P. Bernstein!Hua-Yu Li (Hrsg.): China Learns from the Soviet Union, 1949-Present, Lanham 2010.
1.2 Forschungsstand und Methode
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te Bereiche in Übersetzung oder Originalsprache vorhanden waren, w e l c h e n Ausbildungshintergrund die beteiligten Akteure besaßen und w e l c h e direkten Kontakte durch ausländische Studierende, Facharbeiter, Experten, Mittlerinstitutionen und/oder Auslandsreisen bestanden. 61 Im Zusammenhang mit dem Stichwort des „Transnationalen" 62 sei hier außerdem noch eine kritische Randbemerkung angefügt: A u f Transferprozesse aufmerksam zu machen, scheint gerade für historische Untersuchungen, die unter dem D a c h der „Neuen Kulturgeschichte" 63 angesiedelt sind, in den letzten Jahren obligatorisch geworden zu sein. 64 Aber k e i n e s w e g s ist alles, w a s gegenwärtig unter diesem Etikett verhandelt wird, gänzlich „neu". 65 A u c h für den Städtebau wurden bereits in früheren Untersuchungen Ähnlichkeiten, Querverbindungen und wechselseitige Bezugnahmen z w i s c h e n Ordnungsmodellen in West und Ost konstatiert. A n diese Beobachtungen konnte die Arbeit anknüpfen. 6 6 Mit der Frage, unter w e l c h e n Voraussetzungen und mit w e l c h e n diskursiven und praktischen Mitteln es m ö g l i c h war, Stadtplanungskonzepte
61
Vgl. dazu auch die auf den sowjetischen Kontext bezogenen Überlegungen von Michael David-Fox: Multiple Modernities vs. Neo-Traditionalism. On Recent Debates in Russian and Soviet History, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 54/4, 2006, S. 535-555, hier besonders S. 552. 62 In den Worten von David-Fox ist das Programm transnationaler Geschichtsschreibung: „to focus on features and aspects of [...] history, that transcend internal or domestic phenomena and to explore specific links or connections with other countries and realms." 63 Zum Begriff der „Neuen Kulturgeschichte", ihren Fragestellungen und ihrem Spektrum methodischer Ansätze siehe Ute Daniel·. Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt a.M. 2005, S. 7-25; und Achim Landwehr/SAzisrnt Stockhorst: Einfuhrung in die Europäische Kulturgeschichte, Paderborn 2004, S. 74-97 („Kulturgeschichte und Kulturtheorie nach 1945"). Einen kritischen Überblick über die Vielzahl der cultural turns seit den 1970er Jahren gibt Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2006; auf das Vorgehen in dieser Arbeit bezogen, siehe die nachfolgenden Ausführungen in diesem Abschnitt. 64 Vgl. Gunilla ßuiife/Sebastian Conrad!Oliver Janz (Hrsg.): Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006, S. 11. Die Herausgeber leiten ihren Sammelband mit dem Zitat ein, daß alle Historiker heutzutage „Welthistoriker" seien. Zwar sei diese Aussage in ihrer Absolutheit stark übertrieben, spiegele aber deutlich wider, daß globalhistorische Fragestellungen auf der geschichtswissenschaftlichen Forschungsagenda inzwischen an erster Stelle rangierten; über „die Einsicht, daß auf der ganzen Welt die lokalen Geschichten mit anderen Geschichten verschlungen sind und im Grunde genommen alle Geschichte nur Beziehungsgeschichte darstellt", schreibt auch Wolfgang Lepenies in: ConradΊ Randeira (Hrsg.): Eurozentrismus, S. 8. 65 Der Hinweis auf die akademische Marktgängigkeit bestimmter Begriffe, richtet sich keineswegs per se gegen die verschiedenen Ansätze der transnationalen Historiographie, sondern plädiert für einen sorgfältigen Umgang mit ihnen. 66 Siehe z.B. Milka Bliznakov: The Realization of Utopia. Western Technology and Soviet Avant-Garde Architecture, in: William C. Brumfield (Hrsg.), Reshaping Russian Architecture. Western Technology, Utopian Dreams, Cambridge 1990, S. 145-175; und Robert Kaltenbrunner. Minhang, Shanghai. Die Satellitenstadt als intermediäre Planung. Chinas Architekten zwischen kompetitivem Anspruch und parteipolitischer Realität, Berlin 1993; ders.: Minhang und Hoyerswerda. Die ,Neuen Städte' der fünfziger Jahre als Modell einer sozialistischen' Raumentwicklung, in: Kai Vöckler/Dirk Luckow (Hrsg.): Peking, Shanghai, Shenzhen. Städte des 21. Jahrhunderts, Frankfurt/New York 2000, S. 230-239.
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1. Einleitung
unterschiedlicher Herkunft in den offiziellen chinesischen Kanon des 50er Jahre·, ,Aufbaus" zu integrieren, geht die vorliegende Studie jedoch über das reine Feststellen von Ähnlichkeiten und Unterschieden hinaus. Untersucht werden Abläufe, Medien und Ergebnisse wechselseitiger Übertragungsprozesse, um den Gegenstand des Transfers in seinen zeitlichen und räumlichen Bewegungen, Wandlungen und Spezifika zu analysieren. Ziel ist es, sowohl die Prozesse des (städtebaulichen) Wissenstransfers nachzuzeichnen als auch die Wahrnehmungen der daraus entstehenden Verflechtungen systematisch zu ergründen. Als Teil dessen wird zu diskutieren sein, inwiefern die Konzepte eines high modernism67 im Neuen China letztendlich zur Ausbildung einer spezifischen Variante der sozialistischen Stadt gefuhrt haben.68 Mehrfach war im Verlauf der Einleitung von der Einordnung dieser Untersuchung in die Neue Kulturgeschichte die Rede. Das bedeutet aber nicht, daß hier „Kulturgeschichte als sektoraler Ausschnitt aus einer wie auch immer gearteten allgemeinen' Geschichte verstanden wird, dessen Grenzen so eindeutig gezogen werden können, daß sie bestimmte Themen, bestimmte Theorien oder Methoden ein- oder ausschließen", wie es Ute Daniel formuliert hat. Daniel schreibt weiterhin, sie könne sich deshalb „keinen Gegenstand vorstellen, der nicht kulturgeschichtlich analysierbar wäre." Folgerichtig versucht sie nicht, „zulässige" Themenbereiche und methodische Ansätze für die Kulturgeschichte zu definieren,69 sondern sieht wie viele andere Vertreterinnen ihres Fachs die gemeinsame Basis dessen, was Kulturgeschichte ausmacht, „auf der Ebene des wissenschaftlichen Selbstverständnisses" angesiedelt: vor allem in der Öffnung der Geschichtswissenschaft gegenüber den Kulturwissenschaften und in der tatsächlichen Anerkennung der Standortgebundenheit jeglicher historischer Erkenntnis.70 Eine Einleitung bietet nicht den Raum, die kulturhistorischen Forschungsdiskussionen der letzten zwei Jahrzehnte in all ihren Wendungen wiederzugeben.71 Vorrang hat die Frage, woran die vorliegende Arbeit methodisch orientiert ist. Hier sind in erster Linie diskursgeschichtliche Verfahren zu nennen. Ein „Verdienst" (und eine gemeinsame Grundlage der Ansätze) der Neuen 67
Zum Begriff des high modernism siehe die Studie von James C. Scott·. Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven 1998. 68 Siehe dazu z.B. die Positionen von Lu: Remaking Chinese Urban Form, S. 2 („I show that work-unit-based urbanism was an alternative both to capitalist and to Soviet urbanism"); und demgegenüber die von Szelenyi: East European Socialist Cities, 41-64. 69 Aus dem Kontext gerissen sind solche Sätze „ein gefundenes Fressen" für diejenigen, die unter „Kultur" das verstehen, was bleibt, wenn man Politik, Wirtschaft und Gesellschaft von der Geschichte abzieht und die der Kulturgeschichte regelmäßig „postmoderne Beliebigkeit" vorwerfen; an der Entwicklung der Kulturgeschichte zum „Kampfbegriff' sind die Kulturhistoriker aber nicht zuletzt selbst beteiligt. Dazu detaillierter Daniel, die für einen „Willen zum Wissen" anstelle eines „Willens zum Rechthaben" plädiert: Daniel: Kompendium, S. 16. 70 Daniel: Kompendium, S. 13f. 71 Dazu sei noch einmal auf den aktuellen Überblick von Doris Bachmann-Medick verwiesen.
1.2 Forschungsstand und Methode
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Kulturgeschichte seit dem linguistic turn besteht darin, auf die zentrale Rolle von Sprache aufmerksam gemacht zu haben. Dies geschieht auf zwei Ebenen: Zum einen geht es - auf der Ebene der historiographischen Darstellung - um die Einsicht in die Sprachgebundenheit wissenschaftlicher Erkenntnis, zum anderen - auf der Ebene der „Quellen" - um den Hinweis auf die sprachliche Verfaßtheit historischer Wirklichkeiten.72 Die Bedeutung von Sprache als Wissensspeicher vergangener Zeiten zu betonen, heißt aber im Umkehrschluß nicht, andere Blickrichtungen und Analysekategorien zu ignorieren oder gar fur ungültig zu erklären.73 Wenn im Folgenden vorwiegend nach den Bedingungen gefahndet wird, die vorstrukturiert haben, was im chinesischen Städtebau der „Aufbau"-Jahre in welcher Form artikuliert werden konnte und handlungsleitend war, negiert das weder die Relevanz von Erfahrungen, Bild- oder Raumwahrnehmungen, noch die von kulturellen Praktiken oder Übersetzungsleistungen als methodische Zugänge zu demselben Thema. Schwerpunktmäßig kann hier zunächst jedoch nur ein Segment aus dem Spektrum chinesischer Ordnungsvorstellungen für die neue Gesellschaft bearbeitet werden: Untersucht werden die Voraussetzungen für die Produktion von städtebaulichem Wissen im „Aufbau". Es bleibt ein Desiderat für weitere Forschungen, daß sich dieser begrenzte Ausschnitt mit den oben genannten Perspektiven künftig zu einem facettenreicheren Bild des chinesischen „Aufbaujahrzehnts" zusammenfügen läßt.74 Ein weiterer Grund, warum diese Studie auf die semantischen Verknüpfungen von „Aufbau"-Diskurs und Städtebaukonzepten im Neuen China fokussiert ist, hat mit der noch immer weit verbreiteten Auffassung zu tun, Architekturen und Stadtplanungen stellten autonome Zeichensysteme dar, deren Bedeutungen auf einer außersprachlichen Ebene eindeutig fixiert seien. Mit Schlagworten wie „demokratischer Städtebau" geht in der Regel die Überzeugung einher, daß eine bestimmte politisch-ideologische Ausrichtung an Architektur und Stadtstruktur unmißverständlich ablesbar sei. Dabei wird nicht reflektiert, daß weder die Form von Gebäuden noch die räumliche Struktur 72
Lediglich überblicksartig bei Daniel: Kompendium, S. 345-347; ausfuhrlicher dazu noch einmal Landwehr. Geschichte des Sagbaren. Obwohl beide Aspekte von Sprache in aktuellen Theoriediskussionen längst als Binsenweisheit behandelt werden, steht die forschungspraktische Umsetzung solcher Prämissen weiterhin auf einem ganz anderen Blatt. Pointiert zeigt dies Philipp Sarasin in seiner Darstellung der verschiedenen Ansätze diskursanalytischer Verfahren und der darüber geführten Debatten innerhalb der Geschichtswissenschaften: Philipp Sarasin: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt a.M. 2003, S. 10-60, l l f , 28. 73 Gegen die Sprachfixiertheit des linguistic turn, die teilweise dazu geführt habe, „unverzichtbare Dimensionen von Kultur, Lebenswelt und Geschichte" auszublenden, wenden sich die Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Bachmann-Medick zeigt in ihrer Diskussion der verschiedenen cultural turns eindringlich, wie sich durch die Orientierungswechsel der vergangenen Jahre die Horizonte kulturwissenschaftlicher Forschung enorm vervielfältigt haben. 74 Hier stellt sich aber nicht zuletzt auch ein Quellenproblem. Vgl. dazu Abschnitt 1.4 dieser Arbeit.
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1. Einleitung
eines Stadtgebiets von sich aus, d.h. losgelöst vom Standort und Wissensvorrat des Betrachters, „Ideenträger" sein kann. Die den Bauwerken nachgesagte« Bedeutungen werden immer in sprachlichen Äußerungen von „außen" an sie herangetragen, sei es ausgehend von räumlich-ästhetischen Wahrnehmungen der Betrachter, von der praktischen Erfahrung bestimmter Funktionen durch die Nutzer oder von schriftlich erklärten Planungsabsichten und Entwurfserläuterungen der Experten.75 Eine diskursgeschichtliche Perspektive auf den chinesischen Städtebau der 50er Jahre ermöglicht es, dieses Geflecht von sich wandelnden Bedeutungszuschreibungen und Deutungsangeboten zu sondieren. Gilt es zunächst, daraus Regeln fur das Sprechen über Stadt und Städtebau im zeitgenössischen Kontext zu identifizieren, weist die Analyse dieser Regeln über die diskursive Ebene hinaus. Durch sie werden die Machtkonstellationen sichtbar, die für die Praxis des chinesischen „Aufbaus" allgemein bestimmend waren.
1.3 Die Materialien Die Leitbilder des chinesischen Städtebaus und ihre diskursive Formierung als Teil des nationalen ,Aufbaus" der 50er Jahre zu analysieren, setzt eine breit gefächerte Materialbasis voraus. Stadt(planung), Städtebau und die damit verbundenen Imaginationen, Bedeutungszuschreibungen und Visionen sind ein Themenkomplex, der nicht nur Fachleute beschäftigt hat. Vielmehr wurden die Erwartungen an die Städte des Neuen China innerhalb eines Kräftefelds geäußert und verhandelt, auf das in den Gründungsjahren der Volksrepublik verschiedene gesellschaftliche Gruppierungen mit wechselnder Intensität eingewirkt haben. Die Recherchen für diese Arbeit wurden unter der enthusiastischen Vorannahme begonnen, daß mit der Gründung des neuen chinesischen Staates auch repräsentative Blaupausen entstanden sind, die gezeigt haben, wie die chinesische Gesellschaft der Zukunft idealerweise leben sollte. Daß das „glückliche Leben in der Zukunft" von einer stadtbasierten industriellen Modernisierung ausgehen würde, darüber haben die Verlautbarungen der KPCh-Führung zum Zeitpunkt der Staatsgründung keinen Zweifel gelassen. Allerdings fiel der Widerhall auf das von Mao Zedong im März 1949 ausgerufene Leitbild der „Produktionsstadt" anders aus, als von der Autorin anfänglich erwartet. 75
Siehe dazu Aman: Die osteuropäische Architektur, S. 143, 149f; vgl. dazu außerdem die Überlegungen von Dieter Hassenpflug: Der urbane Code Chinas, Basel 2009, S. 18-24. Daß Zurückhaltung in Bezug auf pauschale politische Einordnungen städtebaulicher Modelle angezeigt ist, hat auch Werner Durth in seinen Beiträgen mehrfach angedeutet; siehe z.B. Durth: Städtebau und Weltanschauung, in: Rosmarie Beier (Hrsg.): Aufbau West - Aufbau Ost. Die Planstädte Wolfsburg und Eisenhüttenstadt in der Nachkriegszeit, Ostfildern-Ruit 1997, S. 35-49.
1.3 Die Materialien
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Die Suche nach monographischen Beiträgen, die sich in der Folge zum Zustand bzw. zur Zukunft der Städte äußerten und in denen zugleich direkte Antworten auf die Frage „Wie werden wir künftig leben?" gegeben wurden, verlief - insbesondere fur die Phase zwischen 1949 und 1953 - weitgehend ergebnislos. Erschwerend kam hinzu, daß in diesen Jahren noch keine Fachpresse etabliert war, die sich gezielt städtebaulicher Themen annahm.76 Die ersten Bestandsaufnahmen in verschiedenen Bibliotheken in Beijing und Shanghai77 haben schließlich dazu geführt, das Umfeld der Recherchen für das Forschungsprojekt neu zu definieren. Suche und Auswahl der Materialien waren dabei von den folgenden Fragen geleitet: - Wo, von wem und in welchen Zusammenhängen wird die Stadt als Siedlungsform nach 1949 erwähnt? Wie wird sie beschrieben, welche Attribute und Metaphern werden in den Darstellungen verwendet? - Was wird dabei über die unmittelbare bzw. zukünftige Umgestaltung der räumlichen und baulichen Strukturen gesagt (oder eben nicht gesagt)? - Wie wird Stadtplanung als technische Disziplin beschrieben: ihr Nutzen, ihre Gefahren, ihre langfristigen Zielsetzungen? - Welche Aspekte von Städtebau stehen in verschiedenen Darstellungen im Vordergrund? Worin unterscheiden sich Argumentationsmuster? - In welches Verhältnis werden Stadtumbau und Stadtplanung zur „gesellschaftlichen Umgestaltung" (shehui gaizao) gesetzt - und umgekehrt? - Ist die Stadt ein Faktor bei der geplanten Transformation der „alten" zur „neuen Gesellschaft"? Wenn ja, welche Rolle wird ihr in diesem Prozeß zugewiesen? Auf diese Weise wurde eine große Anzahl von Materialien berücksichtigt, in denen die Themen Stadt und Städtebau im Kontext des „Aufbaus" zwar behandelt werden, aber nicht unbedingt im Mittelpunkt stehen. Gerade die offensichtliche „Beiläufigkeit" der Darstellungen vermittelt jedoch einen Eindruck davon, welche Vorstellungen von Stadt(umbau) in den Gründungsjahren der VR entweder bereits als so selbstverständlich und „natürlich" galten, daß sie keiner besonderen Hervorhebung mehr bedurften, oder aber noch als Norm etabliert werden sollten.78 76
Ob dies als Ursache oder Symptom für die „Sprachlosigkeit" zu diesem Themenfeld zu deuten ist, wird im Verlauf der Arbeit noch zu diskutieren sein. 77 Berücksichtigt wurden die Bestände der Nationalbibliothek Beijing (Beijing guojia tushuguan it Üä ^ . S U S Í f ), der Universitätsbibliothek der Qinghua-Universität (Qinghua daxue tushuguan S -ftí?), der Institutsbibliothek der School of Architecture, Qinghua-Universität (Qinghua daxue jianzhu xueyuan i f ^ λ =F 5t ΐΑ # und des Bibiliothekenverbunds der Stadt Shanghai (Shanghai tushuguan - L ^ ® 78 Den „Zeitpunkt, an dem ein Diskurs einen solchen Grad an Selbstverständlichkeit erreicht, daß er nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt wird" bezeichnet Landwehr als Moment der „Naturalisierung": „Eine Sicht der Welt gewinnt mithin den Status, (in einem wörtlichen Sinn) common sense zu sein, von allen geteilt und nicht angezweifelt zu werden. [...] Alle, die diesem Diskurs möglicherweise widersprechen, sind eben nicht Bestandteil der Gemeinschaft, die ,eines Sinnes' ist, haben keinen gesunden, sondern einen kranken Menschenverstand." Landwehr. Geschichte des Sagbaren, S. 132.
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1. Einleitung
Ein erstes Bild vom angestrebten Umgang mit den Städten läßt sich aus militärischen und wirtschaftspolitischen Direktiven rekonstruieren. In diesen Texten werden die inhaltlichen und sprachlichen Konturlinien gezogen, innerhalb derer die Stadt als Siedlungsform während der Folgezeit verhandelbar war. Dazu konnte zunächst auf eine Reihe von publizierten Archivmaterialien zurückgegriffen werden. Zu nennen sind hier veschiedene Veröffentlichungen zur „Übernahme der Städte" (chengshi jieguan) sowie die in den Jahren 1992 bis 1997 erschienene Reihe Jianguo yilai zhongyao wenxian xuanbian [Eine Sammlung wichtiger Dokumente seit Staatsgründung].79 Ergänzend dazu wurden verschiedene Materialsammlungen zur Parteigeschichte verwendet.80 Für die Beschäftigung mit Architektur und Städtebau zwischen 1949 und 1957 sind insbesondere zwei Bände aus der Reihe Zhonghua renmin gongheguo jingji dang 'an ziliao xuanbian [Sammlung von Archivmaterialien zur Wirtschaft der Volksrepublik China] hervorzuheben, die von der Chinesischen Akademie fur Sozialwissenschaften und dem Zentralarchiv in den 1990er Jahren herausgegeben wurde.81 Beide Bände zeichnen sich durch ein breites Spektrum von Materialien aus. Dennoch bleibt das hier gezeigte Bild von der Städtebaupolitik der Gründungsjahre lückenhaft: In fast allen Dokumenten wurden größere Auslassungen oder Kürzungen vorgenommen. Die editorischen Kriterien fur diese Eingriffe werden im Einzelfall jedoch ebenso wenig nachvollziehbar gemacht wie die Herkunft bestimmter Texte.82 79 Zhonggong zhongyang wenxian yanjiushi ' J ' A ' f ' & X & . ^ f & È (Hrsg.): Jianguo yilai zhongyao wenxian xuanbian îtHÂàfcf-fcX-àfci&^ft [Eine Sammlung wichtiger Dokumente seit Staatsgründung], 20 Bde, Beijing 1992-1997. Den hier zugrunde gelegten Untersuchungszeitraum von 1949 bis 1957 decken die Bände 1-10 (1992-1994) ab. Materialien zum Thema chengshi jieguan versammeln die nach Provinzen geordneten Einzelbände von Chengshi jieguan yu shehui gaizao [Die Übernahme der Städte und die gesellschaftliche Umgestaltung], die von den jeweiligen Provinzkomitees der KPCh als Teil der Reihe Zhongguo gongchandang lishi ziliao congshu [Materialien zur Geschichte der KPCh] Ende der 1990er Jahre herausgegeben wurden. 80 So u.a. Band 7 und 8 (Oktober 1949 bis Dezember 1957) aus Zhonggong zhongyang dangxiao dangshi jiaoyanshi + + ' k l t k U t i . & Z F i È (Hrsg.): Zhonggong dangshi cankao ziliao ' f ' - f t ^ J t ^ - ^ i f f t t [Referenzmaterialien zur Geschichte der KPCh], Beijing 1979-1980; Zhongyang dang'anguan 1* ífefe Hité (Hrsg.): Zhonggong zhongyang wenjian xuanji ^ Χ ^ ί & Λ : [Ausgewählte Dokumente des ZK der KPCh], Bd. 18: JanuarSeptember 1949, Beijing 1992. 81 Sie sind zwischen 1989 und 1998 kompiliert worden; siehe Zhongguo shehui kexueyuan t a i t Z h o n g y a n g dang'anguan + (Hrsg.): 1949-1952 Zhonghua Renmin Gongheguo jingji dang'an ziliao xuanbian: Jiben jianshe touzi he jianzhuye juan Beijing 1989; und dies. : (Hrsg.): 1953-1957 Zhonghua Renmin Gongheguo jingji dang'an ziliao xuanbian: Guding zichan touzi he jianzhuye juan : Sit ftit ί ί , Λ 4 , Beijing 1998. 82 Zur allgemeinen Begründung von Auslassungen in den abgedruckten Dokumenten vgl. die „Hinweise zur Benutzung" in Zhongguo shehui kexueyuan u.a. (Hrsg.): 1949-1952 ziliao xuanbian, S. 3f. Anzumerken ist außerdem, daß die Quellensammlungen neben Archivalien zu den jeweiligen Themen in der Regel vor allem Leitartikel sowie programmatische Aufsätze und Reden von Parteiführern oder leitenden Funktionären enthalten, die auch an anderen Orten aufzufinden sind (Werkausgaben der politischen Entscheidungsträger, Zeitungs- u. Zeitschriftensammlungen etc.).
1.3 Die Materialien
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Generell ist die historische Forschung zur Volksrepublik China der 50er Jahre aufgrund kaum zugänglicher Archive auch heute noch mit dem Dilemma konfrontiert, auf solche offiziellen Quelleneditionen angewiesen zu sein - obwohl auf der Hand liegt, daß die jeweilige Materialauswahl solcher Publikationen eine äußerst einseitige Perspektive auf die Gründungsphase der Volksrepublik erzeugt und konsolidiert.83 Im vorliegenden Fall haben sich die Lücken, die das oben geschilderte editorische Vorgehen produziert, durch zeitgenössische Handbücher zur Stadt(bau)politik zumindest teilweise auffangen lassen. Seit Mitte der 50er Jahre wurden Manuskripte von Redebeiträgen, Direktiven oder Leitartikeln zum Thema Städtebau zu offiziellen „Referenzmaterialien" (cankao ziliao) des Bauministeriums kompiliert.84 Die damalige Materialienauswahl ist fur diese Untersuchung insofern hilfreich, als dadurch bereits Grundlinien des zeitgenössischen „Aufbau"-Diskurses erkennbar werden. Kontroverse Diskussionen wird man in solchen Hand- und Lehrbüchern vergeblich suchen. Sie haben hingegen deutlichere Spuren in den Beiträgen der Fachzeitschriften hinterlassen. Seit Juni 1954 wurde mit der Jianzhu xuebao das wohl bekannteste Forum für Architektur, Stadtplanung und Bauwesen in der Volksrepublik veröffentlicht; parallel dazu erschienen in der zweiten Hälfte der 50er Jahre Hausorgane der „Aufbau"-Ministerien.85 Eine weitere Sparte sind Zeitschriften, die ausgewählte Artikel der internationalen Fachpresse in chinesischer Übersetzung publiziert haben.86 All diese Materialien 83
Diese Problematik wird allerdings auch in aktuellen Publikationen zur Frühgeschichte der Volksrepublik nicht ausreichend als „Dilemma" thematisiert. Im Gegenteil, noch immer wird vorgegeben, als handele es sich bei den offiziellen Materialiensammlungen um vielversprechende „Entdeckungen", die per se neue Sichtweisen auf historische Zusammenhänge ermöglichten. Symptomatisch dafür ist die Einleitung von Jeremy Browní?aa\ G. Pickowicz: The Early Years of the People's Republic of China, in: Brown/Pickowicz (Hrsg.): Dilemmas of Victory, 2007, S. 1-18; zur „Edition von Quellensammlungen" und zu „Quellenpublikationen in Fachzeitschriften" siehe die Untersuchung von Vivian Wagner. Erinnerungsverwaltung in China. Staatsarchive und Politik in der Volksrepublik, Köln 2006, S. 601-626. 84 Siehe z.B. Chengshi jianshebu chengshi guihuaju ïlï'1%} (Hrsg.): Chengshi guihua cankao ziliao. Chengshi guihua xunlianban jianggao huiji ΐ Ä,ΜΦÄ f [Referenzmaterialien für die Stadtplanung. Manuskriptsammlung des Stadtplanungsseminars], Beijing 1956; demgegenüber bereits als „historische Referenzmaterialien" (zuo wei lishi cankao ziliao ñ ί,Φ·^" konzipiert: Chengshi jianshebu bangongting i ^ J t - i ä : ^ (Hrsg.): Chengshi jianshe wenjian huibian (1953-1958) $ V l t i k i f t i t f ä [Dokumentensammlung zum Städtebau], Beijing 1958; seit 1955 gab das Ministerium für Bauwesen unter dem Titel Chengshi jianshe wenji [Gesammelte Schriften zum Städtebau] eine eigene Publikationsreihe zu Fragen des Städtebaus heraus. Die (übersetzten) Beiträge dieser Sammelbände stammten vornehmlich aus der Sowjetunion und den „Volksdemokratien" Ostmitteleuropas; genauer dazu unter Abschnitt 3.3.2. 85 Die Zeitschrift Jianzhu 5Í îA, (1954) wurde offiziell als „Hausorgan des Ministeriums für Bauwesen" (Jiangongbu dejiguan qikan zirkuliert, die Zeitschrift Chengshi jianshe φ It-iä: (1956) war das Organ des Ministeriums für Städtebau. 86 In der Reihenfolge ihrer Erstpublikation: Jianzhu yicong (1954); Chengshi jianshe yicong ' ΐ ΐ ί ί ϊ ' Ψ - ϋ (1955); Guowai jianzhu wenzhai S ^ J Í Í ^ J C ^ (1958); vgl. dazu auch das Zeitschriftenverzeichnis im Anhang.
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1. Einleitung
eröffnen Einblicke in das zeitgenössische Technikverständnis der neuen Entscheidungsträger der Volksrepublik und geben Aufschluß darüber, welche Referenzgrößen für die Herausbildung des städtebaulichen Fachwissens in China eine Rolle gespielt haben. Die Sichtung der offiziellen Tagespresse im Verbund mit Arbeiter-, Frauenund Jugendmagazinen der 50er Jahre hat dagegen vor allem Hinweise darauf erbracht, wie „Stadt" im Neuen China wahrgenommen werden sollte und welche gesellschaftlichen Visionen mit dem Umbau der Städte verbunden waren. Dies gilt ebenso für Propagandamaterialien und populäre Darstellungen zu Industrialisierung und Planwirtschaft. Im Kontext des friedlichen (industriellen) „Aufbaus" hat das Thema Stadt/Städtebau beispielsweise in Lesebücher für Alphabetisierungskurse und zahlreiche Comic-Hefte (lianhuanhua) Eingang gefunden.87 Gerade lianhuanhua sind eine der wenigen Quellengattungen, die die zeitgenössischen Verschränkungen von sprachlicher und visueller Ebene direkt nachvollziehbar werden lassen: die exemplarische Übertragung von „Aufbau"-Sprache in „Aufbau"-Bilder und umgekehrt. Auch andere Arten der visuellen Präsentation von Stadt und Städtebau wurden in der Analyse parallel zu den schriftlichen Quellen berücksichtigt. Das betrifft zunächst die Abbildungen aus den bereits genannten Printmedien. Hier finden sich neben technischen Plänen und Zeichnungen, Statistiken und Karten immer auch Illustrationen, die stärker auf die visionären Aspekte des ,Aufbaus" verweisen.88 Zudem wurden verschiedene Bildbände der 50er Jahre in die Untersuchung einbezogen. Dabei handelt es sich in der Regel um Selbstdarstellungen der Volksrepublik für das Ausland.89 Ihr Gegenstück - der zeitgenössische Blick des Auslands auf das Neue China - ist ein Materialfundus, der aufgrund der Fragestellung für diese Arbeit nur anhand einiger ausgewählter Beispiele berücksichtigt wurde.90 87
Allgemeiner dazu die Untersuchung von Andreas Seifert: Bildgeschichten fur Chinas Massen. Comic und Comicproduktion im 20. Jahrhundert, Köln 2008. s8 Letzteres ist häufig bei der Gestaltung von Titelblättern oder Vignetten anzutreffen. Die zu dieser Zeit etablierten Bildcodes des „Aufbaus" behalten bis in die 1970er Jahre hinein ihre Gültigkeit, wie verschiedene Illustrations-Handbücher zeigen. Vgl. z.B. Lu Xingchen föJL-fä.: Baotou tu'an [Muster für Zeitungsköpfe], Beijing 1979; Tianjin yishu xueyuan gongyixi meishu xuanchuanyuan shouce bianhuizu ^ # 2 # Κ -f (Hrsg.): Meishu xuanchuanyuan shouce k&î- ft S M [Handbuch fur Propagandisten im Bereich Illustration], Tianjin 1976. 89 Siehe z.B. A Guide to New China, Peking 1952; Hu Chia: Peking. Today and Yesterday, Peking 1956; Tianjin meishu chubanshe ifa itá (Hrsg.): Tianjin Tianjin 1957; Beijing chengshi guihua guanliju (Hrsg.): Beijing zai jianshe zhong db (Pékin ν stroitel'stve / Peking Under Construction), Beijing 1958. 90 So ζ. Β. Johannes König·. Befreites China. Bilddokumente vom Kampf und Sieg und von der Aufbauarbeit des chinesischen Volkes, Dresden 1951; Eduard Erkes: Gelber Fluss und Grosse Mauer. Reise durch Chinas Vergangenheit und Gegenwart, Leipzig 1958; Lucien Bodard: Chinas lächelndes Gesicht. Erfahrungen und Erlebnisse, Hamburg 1959; Gerald Clark: Impatient Giant. Red China Today, New York 1961; Johannes F. Geliert: Geographische Beobachtungen in chinesischen Grosstädten, in: Geographische Berichte 7/23, 1962, S. 142-152.
1.4 Zur Gliederung der Arbeit
27
Einen repräsentativen Querschnitt durch das Spektrum der damals möglichen Darstellungsweisen von Stadt und Städtebau zu erhalten, war das Ziel der Materialauswahl. Zahlreiche Hinweise fur die Recherche und Erläuterungen zu den aufgefundenen Materialien verdanke ich außerdem meinen Interviewpartnern in Beijing, Shanghai, Nanjing und Hangzhou.91 Ihre Erinnerungen an die eigene akademische Ausbildung sowie die Beschreibungen ihrer praktischen Arbeit im Städtebau der 50er Jahre und der Gegenwart haben es mir ermöglicht, dem Bild, das sich aus den aktuell verfügbaren Printmedien rekonstruieren läßt, ergänzende Perspektiven zur Seite zu stellen.
1.4 Zur Gliederung der Arbeit Zur Erschließung der oben dargelegten Fragestellung wurde die Arbeit in zwei Teile untergliedert. Der erste Teil (Kap. 2) dient als allgemeine Einfuhrung in die Thematik der modernen Stadtplanungsgeschichte(n) in Europa. Hier wird zunächst konzeptionellen Grundlinien städtebaulicher Entwicklungen von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zu den 1940er Jahren nachgegangen (2.1). Ein parallel angelegtes Kapitel (2.2) beschäftigt sich mit den städtebaulichen Alternatiworschlägen, die in Rußland und der Sowjetunion in zum Teil plakativer Abgrenzung zur „westlich-kapitalistischen" Moderne entwickelt wurden, gleichwohl aber konzeptionell wie personell im engen Wechselverhältnis zu ihr standen. Auf diese Verflechtungen ist in den letzten Jahren bereits mehrfach hingewiesen worden.92 Sie sind hier besonders im Hinblick auf die Frage nach der Herausbildung eines sowjetisch geprägten Prototyps der „sozialistischen Stadt" zu berücksichtigen, der fur die neuen „Volksdemokratien" Ostmitteleuropas nach dem Zweiten Weltkrieg mehr oder weniger offiziell zum Maßstab gemacht wurde.93 Dem folgt eine exemplarische Gegenüberstellung (2.3), bei der ausgehend vom deutsch-deutschen Beispiel (als „Nahtstelle" in der Textur des Kalten Kriegs) der Städtebau der 50er Jahre als Teil der „Aufbau"-Kulturen in West und Ost betrachtet wird. Die metaphorische Aufladung der „Städte im Aufbau" innerhalb der jeweiligen 91
Mein besonderer Dank gilt Wu Liangyong Je Chen Baorong È 5R, Zou Deci ÍP Zhang Kaiji Zhang Jie Zhang Jinggan ifc&ifc, Hu Zhaoliang (Beijing); Li Dehua Dong Jianhong Tong Ming ± Β Ά (Shanghai); Zhang Youliang (Hangzhou); Zhao Chen feih (Nanjing). 92 Ergebnisse diesbezüglich finden sich zusammengefaßt in Harald Bodenschatz/Ciuistiane Post (Hrsg.): Städtebau im Schatten Stalins. Die internationale Suche nach der sozialistischen Stadt der Sowjetunion 1929-1935, Berlin 2003; siehe außerdem den bereits erwähnten Beitrag von Bliznakov, Realization of Utopia, S. 145-175. 93 Zu „Moskau als Muster fur alle Hauptstädte der Welt" siehe Werner Durth/.Jörn Düwell Niels Gutschow. Architektur und Städtebau der DDR. Bd. 2, Frankfurt a. M. 1998, S. 48, 55-57.
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1. Einleitung
politisch-ökonomischen Referenzsysteme zu untersuchen, soll dabei helfen, die semantische Reichweite der zeitgenössischen „Aufbau"-Begrifflichkeiten auszuloten. Auf dieser Grundlage werden in einer ersten Zwischenbilanz (2.4) die Merkmale moderner „Aufbau"-Konzepte im europäischen Städtebau der 50er Jahre zusammengetragen: Welche Ansprüche und Ordnungsvorstellungen werden darin sichtbar und was sind wiederkehrende Attribute ihrer Beschreibung? Damit entsteht im Hinblick auf den zweiten Teil der Arbeit ein doppelter Bezugsrahmen: Die Ausführungen in Teil 1 (2.1-2.4) stellen einerseits den analytischen Hintergrund fur die kulturhistorische Untersuchung des chinesischen Städtebaus im Kontext des internationalen „Aufbau"-Geschehens der 50er Jahre dar. Andererseits spiegeln sie eine entscheidende Komponente der zeitgenössischen Selbstwahrnehmung chinesischer Wissenseliten wider. Chinesische Architekten, Planer und Ingenieure haben über den kontinuierlichen Vergleich mit sowjetisch-sozialistischen und westlich-kapitalistischen Referenzgrößen die Ausrichtung ihrer Disziplinen und ihr fachliches Selbstverständnis definiert. Sie sahen sich (und das nicht erst seit der Gründung der Volksrepublik) als Mittlerfiguren eines neuen, fortschrittlichen China in einen west-östlichen Kommunikationszusammenhang eingebunden. Die Geschichten dieser Orientierungsprozesse sind wiederum von den äußeren Parametern für die chinesische Stadt- und Städtebaupolitik in den Gründungsjahren der VR nicht zu entkoppeln. Der zweite Teil dieser Arbeit (Kap. 3) beginnt daher mit der Frage nach der offiziellen „Haltung" der KPCh zur Stadt. Programmatik und Praxis der militärischen Einnahme und Verwaltung der Städte durch die „Volksbefreiungsarmee" zwischen 1945 und 1952 sind das Thema des ersten Abschnitts (3.1.1). Dem schließt sich am Beispiel einer zeitgenössischen Comicdarstellung die Untersuchung der Entwicklungsszenarien an, die im Namen des „Aufbaus" während der ersten Hälfte der 50er Jahre für die Städte des Neuen China entworfen wurden (3.1.2). Das folgende Kapitel (3.2) ergänzt die Konturen des zeitgenössischen Stadtverständnisses um institutionelle Aspekte. Hier wird versucht, das Zusammenspiel von „Städtebau und Staatsausbau"94 zu rekonstruieren, d.h. soweit wie möglich den normativen Rahmen nachzuzeichnen, innerhalb dessen sich Entstehung und Rückbildung der städtebaulichen Administration der Völksrepublik zwischen 1949 und 1957 vollzogen haben. Die Frage nach den Ordnungsvorstellungen des chinesischen Städtebaus bleibt der rote Faden innerhalb des Folgekapitels (3.3). An dieser Stelle werden das Zustandekommen und die Umsetzung dominanter Leitbilder der 50er Jahre untersucht. Für die ersten drei Abschnitte (3.3.1-3.3.3) bildet der Wissenstransfer die analytische Klammer, im letzten Abschnitt (3.3.4) geht es an94
So der Titel eines Sammelbands zum deutsch-deutschen Städtebau: Gabi Doljf-Bonekâmper/WûVmà Kier (Hrsg.): Städtebau und Staatsbau im 20. Jahrhundert, München/Berlin 1996.
1.4 Zur Gliederung der Arbeit
29
hand von konkreten Baubeispielen um verschiedene Formen der Akkulturation von ausländischen Wissensbeständen in der jungen Volksrepublik. Insgesamt wird in diesem Kapitel stärker die Ebene der Akteure in den Blick genommen. Der erste Abschnitt geht der Frage nach, wie sich die internationalen Ausbildungswege der ersten Generation von Fachleuten gegenüber der offiziell verordneten Orientierung am sowjetischen Modell auf die Definition der Disziplin Städtebau in China ausgewirkt haben. Dem folgt eine Untersuchung der Wege, über die in den frühen 50er Jahren Kontakte und Transfer zwischen China und dem Ausland möglich waren und stattgefunden haben.95 Die Ergebnisse (und Probleme) des Transfers hinsichtlich der praktischen Anwendung von städtebaulichem Expertenwissen werden schließlich auf der Basis einer exemplarischen Auswahl von Wohngebietsplanungen in chinesischen Großstädten untersucht. Auch wenn während der gesamten 50er Jahre eine große Diskrepanz zwischen den von Mangel und Improvisation geprägten Lebensumständen der chinesischen Stadtbewohner und den Vorbildern moderner Wohnquartiere herrschte, verdienen die zeitgenössischen Projekte des städtischen Wohnungsbaus dennoch gesonderte Beachtung: In den Diskussionen um ihre Entwürfe und baulichen Ergebnisse tritt in konzentrierter Form zutage, inwiefern die damaligen Leitvorstellungen des sozio-politischen „Aufbaus" mit der räumlichen Gestaltung der Städte in Wechselwirkung standen und von welchen Vorannahmen hinsichtlich der Beschaffenheit eines künftig „besseren Lebens" das Handeln der akademischen und politischen Eliten ausging. Auf der Basis der vorhergegangenen Darstellungen werden im letzten Kapitel (3.4) Funktionsweisen und Charakteristika der semantischen Vernetzung von Stadt und „Aufbau" als Gesamtbild analysiert. Daraus eröffnet sich abschließend wieder eine Vergleichsperspektive: In den Schlußbetrachtungen (Kap. 4) werden die Ergebnisse aus beiden Teilen der Untersuchung zusammengeführt. Dieses Resümee soll Antworten auf die eingangs formulierte Frage nach transnationalen Merkmalen des Städtebaus im „Aufbau"-Jahrzehnt geben: Welche Konzeptionen von Stadt(umbau) waren grenzüberschreitend handlungsleitend? Inwiefern hat sich die Volksrepublik China der 50er Jahre auf dem Gebiet von Stadtplanung und Städtebau in das „internationale System der Moderne" integriert? Das Kapitel schließt mit einem Überblick über aktuelle Wahrnehmungen der 50er Jahre und einem Ausblick auf gegenwärtige Verschiebungen in der „Aufbau"-Semantik weltweit.
95
Ein Unterfangen, bei dem aufgrund der gegenwärtigen Material- und Forschungssituation inner- und außerhalb Chinas erwartungsgemäß noch viele Fragen offen sind. Generell besteht ein großer Nachholbedarf, was die Untersuchung von „Anleihen" jenseits/mittels des sowjetischen Modells angeht.
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1. Einleitung
Die Transkription chinesischer Schriftzeichen erfolgt einheitlich in Hanyu pinyin, jedoch unter Auslassung der Tonzeichen. Russische Namen und Begriffe werden in der wissenschaftlichen Transkription wiedergegeben. Eine deutsche Übersetzung chinesischer und russischer Termini wird bei der ersten Nennung im Text vorgenommen; fur die Aufschlüsselung der verwendeten Abkürzungen gilt dies ebenfalls. Sie können im weiteren über das Abkürzungsverzeichnis im Anhang ermittelt werden.
2. „Stadt im Aufbau": Topos und Leitbild der 50er Jahre
„Jetzt beginnt die Periode ,νοη der Stadt aufs Land, von der Stadt aus das Land anleiten'. Der Schwerpunkt der Parteiarbeit verlagert sich vom Land auf die Stadt. [...] Gleichzeitig müssen wir unverzüglich mit unserem Aufbauwerk beginnen und allmählich lernen, die Städte zu verwalten, dort die Produktion wiederherstellen und entwickeln. [...] Erst wenn die Produktion in den Städten wiederhergestellt ist und sich entwickelt, wenn sich Konsumentenstädte in Produktionsstädte verwandeln, kann sich die Volksmacht festigen. Andere Arbeitsgebiete in den Städten [...] kreisen alle um die eine zentrale Aufgabe - Aufbau der Produktion - und dienen ihr."1 Wer städtebauliche Konzepte fiir die Anfangsphase der Volksrepublik China im Hinblick auf ihre gesellschaftspolitischen Implikationen untersucht, wird unweigerlich auf dieses Zitat M a o Zedongs v o m März 1949 stoßen. Schließlich, so scheint es, war das Diktum von der Umgestaltung der „Konsumenten"- in „Produktionsstädte" Leitsatz allen städtischen Bauens während des ersten Jahrzehnts der Volksrepublik. 2 D i e hier verwendete Formulierung ist aber auch noch in anderer Hinsicht programmatisch. Sie läßt bereits erkennen, daß Stadtplanung und Städtebau in den Gründungsjahren der chinesischen Volksrepublik feste Bestandteile eines übergeordneten Diskurses waren, der seinen zeitgenössischen Ausdruck im Begriff des „Aufbaus" (jianshe) fand. Der Städtebau, von der architektonischen Gestaltung bis zur regionalen Planung, wurde in der Folge wirtschaftsstrategischer Erwägungen als materielle Artikulationsform des „Aufbaus" behandelt. Zugleich war offiziell die Rede von der Notwendigkeit eines politisch-ideologischen, geistigen und kulturel-
1 Mao Zedong -ÌJÌ^· & : Zai Zhongguo gongchandang di qi jie zhongyang weiyuanhui di er ci quanti huiyi shang de baogao ¡ñ 4r [Bericht auf der zweiten Plenartagung des 7. ZK der KPCh], 5.3.1949, in: Mao Zedong xuanji, Bd. 4, S. 1362-1377, hier S. 1365f [S. 383-399, hier S. 386ff]. In der offiziellen deutschen Übersetzung der Ausgewählten Werke, auf die die Seitenzahlen in den eckigen Klammern verweisen, wird shengchan jianshe í / 1 IÍH mit der Gleichsetzung „Produktion und Aufbau" wiedergegeben; grammatisch und inhaltlich korrekter ist die Ubersetzung „Aufbau der Produktion" (oder: „Produktionsaufbau"). Die oben zitierte Passage wurde im genauen Wortlaut auch in das Zentrum des Abschlußberichts der Plenartagung gestellt. Vgl. Zhongguo gongchandang di qi jie zhongyang weiyuanhui di er ci quanti huiyi gongbao + S ^ « f c - t Ä + efe^fi [Bekanntmachung des 2. Plenums des 7. ZK der KPCh], 23.3.1949, in: ZGZYWJXJ, Bd. 18, S. 194-197, hier S. 195. 2 „Nachdem die KP ihren Arbeitsschwerpunkt vom Land auf die Städte verlegt hat, ist dies die Generallinie jeglicher Arbeit und ein äußerst wichtiges Dokument." So lautet der einleitende Kommentar zum zitierten Redeabschnitt Mao Zedongs in einer zeitgenössischen Dokumentensammlung, publiziert unter dem Namen von Liu Shaoqi M')' Xinminzhuzhuyi chengshi zhengce πή ¡Í.M. [Die neudemokratische Stadtpolitik], Hongkong 1949, S. 3f.
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2. „Stadt im Aufbau"
len „Aufbaus". Jianshe ist für das erste Jahrzehnt der Volkrepublik zu einem Ideologem geworden, das überall in Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft seine Spuren hinterlassen hat. Erst sehr viel später haben die Redefiguren „Entwicklung" (fazhan), „Erschließung" (kaifa) und „Modernisierung" (.xiandaihua) Teilfunktionen von jianshe übernommen. 3 Wie in der Einleitung bereits umrissen wurde, ist die semantische Aufladung des „Aufbau"-Begriffs im Kontext der 50er Jahre kein chinesisches Spezifikum, sondern als ein grenzüberschreitendes Phänomen zu beobachten: Der „Aufbau" entwickelt sich in vielen Ländern Europas zu einem der zentralen Topoi der Nachkriegszeit. Wenn es infolge der Kriegszerstörungen dabei zunächst um grundlegende Existenzsicherung, um die Bewohnbarkeit von Städten und die Wiederherstellung von Infrastrukturen ging, transportierte der „Aufbau"-Begriff jedoch zugleich auch immer Bedeutungselemente jenseits der vorzeigbaren Resultate in Stein, Stahl, Beton und Konsumgütern. Mit den Wohnungsbauprogrammen, mit der (Wieder-)Errichtung von Industrieanlagen, großräumigen Verkehrsnetzen und städtischer Infrastruktur erfuhr der „Aufbau" auf beiden Seiten des beginnenden „Kalten Krieges" eine ideologische Verankerung im politischen und gesellschaftlichen Leben. Besonders der „Aufbau der Städte" kündete dabei weithin sichtbar von der vermeintlichen Überlegenheit, Legitimität und Prosperität des jeweiligen Systems. Zu beobachten ist dabei ein Drehtüreffekt: Das wissenschaftlich-technische Vokabular des Planens und Bauens fand Eingang in die gesellschaftspolitischen Diskurse, während die Begriffe der Tagespolitik auf die Planersprache zurückwirkten. Diese zeittypische Verschränkung der Reden und Praktiken des „Aufbaus" mit Stadtbaukonzepten in „West" und „Ost" soll in den nachfolgenden Kapiteln in historischer Perspektive untersucht werden. Beginnend mit einem Überblick über die Herausbildung international anerkannter städtebaulicher „Leitbilder" seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wird ihre Indienstnahme für den „Aufbau" der 50er Jahre sowohl in nicht-sozialistischen wie sozialistischen Systemen nachgezeichnet. Die meisten der hier skizzierten Strukturmodelle für den Bau einer „besseren Stadt" gehörten zu jenem Zeitpunkt längst zum Wissensrepertoire dessen, was gemeinhin als „moderner Städtebau" bezeichnet wird. Dieses Fachwissen im syn- und diachronen Kontext seiner wechselnden sozio-politischen Ordnungsvorstellungen, Menschenbilder und Gesellschaftsauffassungen zu zeigen, bildet den Ausgangspunkt für die Einordnung des chinesischen „Aufbau"-Diskurses in die globalen Zusammenhänge der Nachkriegszeit. Was davon im einzelnen für den städtischen „Aufbau" im Neuen China relevant war, wird in Kapitel 3 ausfuhrlich untersucht. Im vorliegenden Teil der Arbeit wird auf die diversen Vergleichsaspekte und Verbindungslinien zunächst nur hingewiesen.
3
Siehe dazu das Vorwort von Johannes Küchler in Robert Kaltenbrunner: Minhang, o. Seitenzählung; und die Ausführungen in Kapitel 4.2 dieser Arbeit.
2.1 Moderner Städtebau in Westeuropa
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Insgesamt soll durch die Zusammenschau von Städtebau und Ordnungskonzepten eine Dimension des internationalen „Aufbau"-Geschehens beleuchtet werden, die über die materiellen Ergebnisse des Bauens hinausgreift. Es geht um die Interaktion zwischen den Versuchen einer staatlichen Durchdringung von Gesellschaft und dem Anspruch der Fachleute auf die Gestaltung von Mensch und Umwelt in der Moderne. Die exemplarische Gegenüberstellung von „Aufbau West" versus „Aufbau Ost" - im vorliegenden Kapitel am Beispiel des geteilten Deutschlands der Nachkriegszeit - soll zeigen, welche strukturellen Gemeinsamkeiten die jeweiligen Leitbilder des „Aufbaus" diesbezüglich aufweisen, von welchen Paralleldiskursen sie eingerahmt sind und worin sich das Phänomen des städtischen „Aufbaus" in demokratisch verfaßten und autoritären Systemen unterscheidet. In der Zwischenbilanz, mit der Kapitel 2 abschließt, werden die Grundlinien von Abgrenzung und Transfer zusammengefaßt, die dabei zu beobachten sind. Die länder- und systemübergreifende Perspektive soll dazu beitragen, Stadt- und „Aufbau"-Visionen des Neuen China im Spannungsfeld der konkurrierenden Moderne-Entwürfe der 50er Jahre zu sehen, d.h. sie weder von vornherein als chinesischen „Sonderweg" zu exotisieren, noch als Produkt sowjetischer Kolonisierung abzutun.
2.1 „Versöhnung der Gegensätze": Moderner Städtebau in Westeuropa An den Versuch, das „Aufbau"-Phänomen der 50er Jahre faßbar zu machen, ist die Frage geknüpft, in welchem Verhältnis die sogenannte „Nachkriegsmoderne" der 50er Jahre zu den Entwicklungen der vorausgangenen Jahrzehnte stand. Woher bezog sie ihre Ideen, Konzepte und Leitbilder? In städtebaulicher Hinsicht verhalfen die immensen Kriegszerstörungen paradoxerweise vielen der Ideen erstmals zu baulicher Umsetzung, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die Theoriediskussionen beherrscht hatten - und das in der Folge nicht nur in Europa.4 Im mainstream der Forschung blieb dabei 4
„Der Zweite Weltkrieg veränderte die Dimension der Katastrophen gewaltig [...]. Dieses Mal lag ganz Europa in Trümmern, ebenso weite Teile Asiens und Nordafrikas. Für die Architekten aber, die unaufhörlich die Gesundheitsschädlichkeit und Irrationalität der bestehenden Städte angeprangert hatten, war es eine unverhoffte Chance. [...] Die moderne Wunschvorstellung von einer totalen ,Flächenbefreiung' konnte auf eine tabula rasa projiziert werden, welche wunderbarerweise vom Bombenteppich leergefegt worden war und so den Einzug der Klarheit und der Regelmäßigkeit einläutete." Jean-Louis Cohen: Urbane Architektur und die Krise der modernen Metropole, in: Russell Ferguson (Hrsg.): Am Ende des Jahrhunderts. 100 Jahre gebaute Visionen, Ostfildern-Ruit 1999, S. 229-274, hier S. 25Iff. Zu den „Wiederaufbauplanungen in Europa" siehe auch Durth/Gutschow: Träume in Trümmern, S. 285-329. Bekannt geworden ist in diesem Zusammenhang die von Winston Churchill in einer Rundfunkrede vom März 1944 geprägte Formel: „a disaster, but an oppor-
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2. „Stadt im Aufbau"
über lange Strecken systematisch ausgeblendet, daß die Zäsuren der politischen Geschichte für den Städtebau der verschiedenen Länder in konzeptioneller und personeller Hinsicht immer nur begrenzte Gültigkeit besaßen. So wurden zum Beispiel dem in der Bundesrepublik Deutschland gepflegten Bild, nach dem der „Wiederaufbau" der Städte nach 1945 unmittelbar an „moderne", „demokratische" Planungskonzepte aus der „guten Zeit" vor dem Nationalsozialismus angeknüpft habe, erst relativ spät Risse zugefugt.5 Ähnlichen Mechanismen der Verleugnung folgten ältere Darstellungen aus der und über die VR China. Sie ließen den modernen chinesischen Städtebau ohnehin erst mit dem Jahr der Staatsgründung beginnen. Architektur und Planung aus der Zeit vor 1949 wurden nur sehr eingeschränkt thematisiert, Bezüge zum chinesischen Baugeschehen „nach der Befreiung" so gut wie nicht aufgezeigt. Generell legt die Feststellung von Kontinuitäten im fachlichen und personellen Bereich über politische Zäsuren hinweg auch ein Fortbestehen von gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen, Stadt- und Menschenbildern nahe. Im Städtebau der 50er Jahre wurde von den Akteuren auf verschiedene Weise versucht, solche Verbindungslinien unkenntlich zu machen. Zum gängigsten Instrumentarium in Ost und West gehörte die Anpassung der Fachsprachen an das jeweils sanktionierte Referenzsystem. Ebenso häufig wurden bestimmte historische Kontinuitäten hervorgehoben oder der inhaltliche Vergleich zu parallelen Entwicklungen im internationalen Kontext gesucht, um die eigenen Wissensbestände als „objektiv richtig", als politisch „neutral" oder konform und als wissenschaftlich „allgemein anerkannt" zu legitimieren.6
tunity"; vgl. die Hinweise darauf bei Gert Kahler. Reisen bildet. Der Blick nach außen, in: Ingeborg Flagge (Hrsg.): Geschichte des Wohnens, Bd. 5. 1945 bis heute. Aufbau, Neubau, Umbau, Stuttgart 1999, S. 949-1036, hier S. 969; und Werner Durth: Von der Auflösung der Städte zur Architektur des Wiederaufbaus, in: Gabi Dolff-Bonekämper/Hiltrud Kier (Hrsg.): Städtebau und Staatsbau im 20. Jahrhundert, München/Berlin 1996, S. 17-38, hier S. 26. 5 Siehe z.B. Klaus von Beyme: Der Wiederaufbau. Architektur und Städtebaupolitik in beiden deutschen Staaten, München 1987, S. 114; zu personellen Kontinuitäten s. ebd. Kap.3, zu konzeptionellen Kap. 4. Vertieft wurde diese Auseinandersetzung noch mit der Untersuchung der Wiederaufbauplanungen für Westdeutschland (1940-1950) durch Durth/Gutschow, Träume in Trümmern. Kondensiert finden sich die Ergebnisse dieser ausfuhrlichen Studie auch in den späteren Beiträgen von Werner Durth wieder, siehe z.B. ders.: Utopia im Niemandsland, in: Hermann Glaser/Lutz von PufendorßMichael Schöneich (Hrsg.): So viel Anfang war nie. Deutsche Städte 1945-1949, Berlin 1989, S. 214-223, hier S. 220223; Vom Uberleben. Zwischen Totalem Krieg und Währungsreform, in: Ingeborg Flagge (Hrsg.): Geschichte des Wohnens, Bd. 5. 1945 bis heute. Aufbau, Neubau, Umbau, Stuttgart 1999, S. 17-79, bes. S. 17-37; siehe außerdem Düwel/Gutschow, Städtebau in Deutschland, S. 131f. 6 Für den deutschen Kontext wurde das u.a. am Beispiel des Übergangs von der nationalsozialistischen „Siedlungszelle" zur neighbourhood unit diskutiert. Vgl. dazu von Beyme: Der Wiederaufbau, S. 75f; Durth!Gutschow, Träume in Trümmern, S. 193-196; 215f; vgl. außerdem Abschnitt 2.3.2 dieser Arbeit. In welchen Ausprägungen die oben beschriebenen Reaktionsmuster in den Gründungjahren der Volksrepublik China auftreten, wird in Kapitel 3.3.3 dargestellt; zu den Ausdeutungen und Umbenennungen des Konzepts der neighbourhood unit im China der 50er Jahre siehe insbesondere Abschnitt 3.3.4.
2.1 Moderner Städtebau in Westeuropa
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Aus diesen vielschichtigen Prozessen der Neuausrichtung, vor allem aber aus der Suggestion eines grundsätzlichen „Neuanfangs", hat der „Aufbau" in den verschiedenen Ländern einen Großteil seiner Dynamik gewonnen. Die „Aufbau"-Kulturen der 50er Jahre speisen sich damit nicht zuletzt aus dem beständigen Widerspruch zwischen der Auffassung einer von kulturellen, sozio-politischen Kontexten „ablösbaren" Technik einerseits und den bewußten Anpassungen an neue politische und ökonomische Umstände andererseits.7 Der Städtebau, formulierte Gerd Albers 1975, sei „im wesentlichen aus den Wurzeln des Bauwesens erwachsen [...] - aus der Architektur und dem städtischen Ingenieurbau. Gewiß gab es schon im 19. Jahrhundert Überlagerungen mit sozialpolitischen und ökonomischen Zielen und Motiven, aber eine Verbindung zur Denkweise nichttechnischer Disziplinen ist erst in den letzten Jahrzehnten hergestellt worden." Weiter führte er aus: „[...] für viele bleiben die geschichtlichen Wurzeln der eigenen Planungs- und Gestaltungsprinzipien gerade für die besonders wichtige Periode der unmittelbaren Vergangenheit - der letzten fünfzig Jahre etwa - weitgehend im Dunklen. Das bedeutet, daß die Grundauffassung des Architekten von seinem gegenwärtigen Tun meist nicht durch eine geschichtliche Betrachtungsweise beeinflußt wird, wie das bei geisteswissenschaftlichen Disziplinen die Regel ist."8
Retrospektiv läßt sich hinzufugen, daß die von Albers auch für den Städtebau geforderte Auseinandersetzung mit der (zeit)historischen Entwicklung des disziplinaren Selbstverständnisses erst seit den 1990er Jahren auf einer breiteren Basis eingelöst wird.9 Gerade das, was heute gemeinhin als Fundament und Anfangsphase des modernen Städtebaus in Europa gilt, bildete sich (stärker als je zuvor) in ausgesprochener Bezugnahme auf sozio-ökonomische Erwägungen heraus: als Reaktion auf die fortschreitende Industrialisierung, das damit einhergehende Wachstum der Städte und die vielfaltigen Auswirkungen auf das städtische Gefüge.10 Wenn dies auch unbestreitbar einen der gemeinsamen Nenner moderner
7 Für den westdeutschen Kontext dazu Hartmut Frank·. Gebaute Demokratie? Anmerkungen zur Architektur der Bundesrepublik Deutschland 1949-1989, in: Institut für Auslandsbeziehungen e.V. Stuttgart (Hrsg.): Zwei deutsche Architekturen 1949-1989, Ostfildern-Ruit 2004, S. 12-25, hier bes. S. 12-21. 8 Alberst Martin: Entwicklungslinien im Städtebau, S. 10. 9 Wobei Albers selbst einer der Akteure ist, die sich dafür immer wieder eingesetzt haben. Siehe z.B. den Beitrag: Über den Wandel im Planungsverständnis, S. 45-55. 10 Den Ausgangspunkt für die Entwicklung des modernen städtebaulichen Instrumentariums sah Giorgio Piccinato in erster Linie in der Verwaltung der Grundrente. Für ihn waren die städtebaulichen Überlegungen am Ende des 19. Jahrhunderts, die sich im Instrument des (Bebauungs-)Plans bündelten, „ein reifer Ausdruck aller bis dahin gemachten Erfahrungen: Das Hauptziel, das alle weiteren Absichten bedingt und rechtfertigt, bildet die Maximierung und gleichmäßige Verteilung des aus dem Wertzuwachs des Grund und Bodens resultierenden Reichtums." Ders.: Städtebau in Deutschland 1871-1914. Genese einer wissenschaftlichen Disziplin, Braunschweig 1983, S. 15f, 79.
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2. „Stadt im Aufbau"
städtebaulicher Projekte bildet, so gilt hier ebenso wie für andere Bereiche, daß es die eine Moderne nicht gegeben hat. Von der Prämisse des industriebezogenen Städtebaus ausgehend haben sich Stadtstrukturmodelle und korrespondierende Planungskonzepte seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert aber zunehmend internationalisiert und in fortwährenden wechselseitigen Bezugnahmen zu den Leitbildern des „Aufbaus" der 50er Jahre weiterentwickelt."
2.1.1 Konzeptualisierungen von Stadt an der Wende zum 20. Jahrhundert Mit der paradigmatischen Forderung nach „Licht, Luft und Sonne" laufen zur Jahrhundertwende sowohl politisch-administrative, ökonomische als auch soziale Interessen in der vielzitierten „Großstadtkritik" zusammen. Europäische Städte erscheinen als Konzentrationspunkte von industriell-technischer Macht und sozialem Elend zugleich. Dieses ambivalente Bild wird durch die gesellschaftlichen Ideale und Normen des ausgehenden 19. Jahrhunderts auch moralisch unterlegt. Konfrontiert mit den Auswirkungen der technischen Innovationsschübe der „Gründerzeit" in Europa werden städtebauliche Projekte dezidiert als Instrumente gesellschaftlicher Lenkung und Umgestaltung aufgefaßt. Während die Regierungen der europäischen Länder zunächst weniger mit staatlichen Baumaßnahmen als mit der Einführung von Zonierungssystemen auf die zunehmende bauliche Verdichtung und das rasante Städtewachstum reagieren, wird in den zeitgenössischen Kritiken insbesondere der Wohnungsbau - bis dahin weitgehend von privater Hand finanziert und unter maximaler Ausnutzung des Bodens organisiert - zum Ausgangspunkt fur gesamtgesellschaftliche Reformkonzepte. Der in den Industriestädten anzutreffenden Wohnungsnot im Arbeitermilieu, den überfüllten „Mietskasernen", den fehlenden sanitären Einrichtungen und den häufig auftretenden Epidemien, dem Alkoholismus und der Prostitution stehen die Ängste und Ideale des Bürgertums gegenüber: Bürgerliche Sozialreformer erheben die Kleinfamilie im eigenen Heim zum Modell einer „gesunden" Lebensführung in medizinischer und moralischer Hinsicht. Dieser Lebensentwurf ist nicht allein auf den Erhalt einer als „bedroht" wahrgenommenen Gesellschaftsordnung ausgerichtet, sondern durchaus auch darauf, die Leistungsfähigkeit der Bevölkerung zu erhalten. Denn obwohl die Großstadt in der Sprache der Zeit mit unzähligen Körper-Analogien als krankmachender Moloch, als Brutstätte für Seuchen und moralische Verkommenheit pathologisiert wird, fehlt es gleichzeitig nicht an Versuchen, die Städte und ihre Bewohner durch die Entwicklung bautechnischer und hygienischer Normen physisch und psychisch „gesunden" zu lassen. Zu den effizienzsteigernden Maßnahmen gehörten die Bauordnungen mit ihren
" Vgl. Cohen: Urbane Architektur, S. 229.
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Richtwerten für Frischluft, Licht und Temperatur von Arbeitsstätten genauso wie der Bau abgeschlossener Klein(st)wohnungen.12 Die zeitgenössischen Kommentatoren verhehlten keineswegs, daß die baulichen Neuerungen nicht allein humanitären Beweggründen geschuldet waren, sondern als wirtschafts- und gesellschaftspolitische Instrumente aufgefaßt wurden. Die neuentstehenden städtischen Strukturen waren darauf ausgelegt, der Kleinfamilie Vorschub zu leisten. Im Zuge dessen wurden andere Gemeinschafts- und Lebensformen als „Keimzellen" für sozialen Protest und politische Radikalisierung kriminalisiert.13 Hatten zunächst die Pläne, die Eugène Haussmann für Paris und James Hobrecht für Berlin entwarfen, Modellcharakter für den europäischen Kontinent, wenn es um die „rationale" Neuordnung ungeplanter, „chaotischer" Großstadtstrukturen ging, begann sich in den Folgejahren ein neues Verständnis von Städtebau abzuzeichnen. Gegen die vorwiegend militärische und hygienischtechnische Ausdeutung von Stadtplanung und Städtebau während der vorangegangenen Jahrzehnte gerichtet, bildete sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Auffassung heraus, die stärker deren ästhetische und soziale Potentiale in den Vordergrund stellte.14 Im zeitgenössischen Schrifttum, allen voran in Camillo Sittes Der StädteBau nach seinen künstlerischen Grundsätzen von 1889, werden Stadtplanung und Städtebau nun als Mittel zur Harmonisierung gesellschaftlicher Verwerfungen dargestellt.15 Unter dem vielbenutzten Begriff der „Versöhnung" sollen 12 „Von nicht geringerer Bedeutung als für den Körper und seine Gesundheit ist aber die Beschaffenheit eines Hauses für das geistig-sittliche Leben seiner Bewohner. [...] Während so ein reinliches, heimisches und überhaupt wohlgeordnetes Hauswesen einen günstigen Einfluß auf die Sitten, auf den Gemüthszustand der Bewohner äußert, und alle Glieder der Familie noch weiter zu einem reinlichen, nüchternen Wesen ermuntert, wird umgekehrt eine finstere, dumpfe Wohnung voll von Schmutz und Unrath gerade das Gegenteil bewirken." Friedrich Oesterlen 1851, zitiert nach Marianne Rodenstein: „Mehr Licht, mehr Luft". Gesundheitskonzepte im Städtebau seit 1750, Frankfurt/New York 1988, S. 119; zur Verquickung von Hygiene-, Gesundheits- und Moralvorstellungen siehe ebd., S. 118-121; zu Bauordnungen und hygienischen Mindeststandards im späten 19. Jh. vgl. auch Piccinato: Städtebau, S. 104-111 ; zur Geschichte städtischer Versorgungstechnik siehe außerdem Wolfgang König: Die Stadt als Maschine, in: Wolfgang KönigfWo\fhard Weber: Propyläen-Technikgeschichte, Bd. 4. Netzwerke, Stahl und Strom 1840-1914, Berlin 1990, S. 303-313. 13 Vgl. Martin Wentz: Aus dem 19. ins 21. Jahrhundert. Der moderne Städtebau und die Stadt der Zukunft, in: FR, 29.10.2001, S. 6. 14 Geschichte und Strahlkraft dieser Planungen fur Paris und Berlin hat zuletzt die Ausstellung „Die Eroberung der Straße" (15.6.-3.9.2006, Schirn Kunsthalle Frankfurt) anschaulich gemacht. Vgl. die begleitende Publikation von Karin Sagner-Düchting (Hrsg.): Die Eroberung der Straße. Von Monet bis Grosz, München 2006. Zu den Handbüchern, Periodika, Fachkongressen und -ausstellungen im Städtebau während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts siehe den Überblick bei Piccinato: Städtebau, S. 45-49; und seine Analyse dieser theoretischen Grundlagen ebd., S. 50-64. 15 Vgl. Rodenstein: Gesundheitskonzepte, S. 121; zur Kontextualisierung des Lehrwerks von Camillo Sitte (1843-1903) siehe DüwellGutschow: Städtebau in Deutschland, S. 18f; und Thilo Hilpert: Der Historismus und die Ästhetik der Moderne. Eine Einführung, in: ders. (Hrsg.): Le Corbusiers „Charta von Athen". Texte und Dokumente. Kritische Neuausgabe, Braunschweig 1984, S. 9-79, hier S. 21-32.
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soziale Gegensätze aufgelöst, Technik, Kunst, Industrie und Natur in Einklang gebracht werden. Paradigmatisch findet sich dieser Bedeutungswandel auch bei Joseph Stiibben (1845-1936) beschrieben: „Der Städtebau ist nicht bloß die Gesamtheit derjenigen Bauanlagen, welche der städtischen Bevölkerung den Wohnungsbau und den Verkehr, so wie dem Gemeinwesen die Errichtung der öffentlichen Gebäude ermöglichen; [...] er ist zugleich eine umfassende, fürsorgende Tätigkeit für das körperliche und geistige Wohlbefinden der Bürgerschaft; er ist die Wiege, das Kleid, der Schmuck der Stadt. Einem sehr großen Teile der Bevölkerung wird erst durch das, was wir Städtebau nennen, ein großer Teil der äußeren Annehmlichkeiten zugeführt; seine Schöpfungen sind für die Armen ebenso wie fur die Reichen. Wir erblicken im Städebau eine Betätigung der ausgleichenden Gerechtigkeit, eine Mitwirkung an der Beseitigung sozialer Mißstände und somit eine einflußreiche Mitarbeit an der sozialen Beruhigung und Wohlfahrt."16
Auch die ursprünglich administrativ motivierte Zielsetzung, durch städtebauliche Planung eine fur den Staat „überschaubare" Ordnung herzustellen, wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert unter Berufung auf neue hygienische und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse zu einem grundlegenden gesellschaftlichen Bedürfnis ausgedeutet. Im Konzert mit der konservativen Kulturkritik, die sich in Klagen über den Verfall der Institution Familie und traditioneller Werte durch die Lebenssituation in den Großstädten erging, erhielt das Planungsideal der „Überschaubarkeit" eine neue Qualität: Die Untergliederung der Stadt in „überschaubare Einheiten" sollte den „entfremdeten" Großstadtbewohnern (der unteren sozialen Schichten) ein neues Heimatgefuhl vermitteln und auf diese Weise gegen die angeprangerten Mißstände wirken.17 Dabei wurde die Stadt im öffentlichen und fachlichen Diskurs immer häufiger als „Organismus" beschrieben. Die Sehnsucht nach einer Aussöhnung der durch die Modernisierung hervorgerufenen Friktionen, allem voran die Vorstellung, das Verhältnis von Technik und Natur abzugleichen, bildete das Leitmotiv zeitgenössischer Zukunftsvisionen.18 Sowohl die Vertreter des heraufziehenden Modernismus als auch die zahlenmäßig weitaus größere Gruppe konservativer Architekten und Planer „kleideten" ihre Entwürfe in eine gemeinsame Sprache biologi(sti)scher Analogien und Metaphern, um die wech16 Joseph Stiibben: Der Städtebau, Darmstadt 1890; zitiert nach Diiwel/Gutschow, Städtebau in Deutschland, S. 18f; eine Kurzbiographie und Bibliographie zu Joseph Stübben findet sich in Piccinato: Städtebau, S. 196ff. 17 „In die Verdammung der Großstadt ist ein politisches Urteil eingegangen, das mit der Großstadt die sozialen Folgeerscheinungen der Industrialisierung negieren möchte. Der rückwärts gewandte Blick auf die Geschichte, in der es die industrielle Großstadt nicht gab, sieht agrarisch-feudale und ständische Verhältnisse in verklärendem Licht. Die Auflösung dieser Verhältnisse habe zum Verlust wertvoller Bindungen für das Individuum geführt [...]. In der Anonymität der Großstadt droht dem Individuum die Gefahr der Vereinsamung", schreibt Heide Berndt in ihrer Darstellung der Stereotypen eines „organischen" Städtebaus; dies.: Gesellschaftsbild, S. 24f. 18 „Als wichtigste Neuerung zu Beginn des Jahrhunderts muß der Aspekt der , Versöhnung' gelten, der den Städtebauer in den folgenden Jahrzehnten nicht selten auch als Missionar erscheinen läßt." Diiwel/Gutschow, Städtebau in Deutschland, S. 19.
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selseitige Durchdringung von Stadt- und Lebensreform zu versinnbildlichen.19 Das „Organische" im Städtebau wird in der Ideenvielfalt des frühen 20. Jahrhunderts zur verbreitetsten Artikulationsfigur dieses universalen Harmonisierungsanspruchs - ganz gleich, ob er als Rückbezug auf ein idealisiertes vorindustrielles Städtebild oder als perfektionierte urbane Maschinenwelt daherkommt.20
2.1.2 Sozialreform und Großstadtfieber, 1900-1945 Die anhaltende Kritik an den Mißständen in den Großstädten Europas mündete zur Jahrhundertwende in eine Reihe von Gegenbewegungen. Bei aller Verschiedenheit der Ansätze ist den daraus hervorgegangenen Planungsmodellen und Stadtvisionen ein Perspektivenwechsel gemeinsam, der sich in enger Verknüpfung mit den gesellschaftspolitischen Reform- und Erneuerungsbestrebungen der Zeit vollzog: weg von der Fluchtlinienplanung der staatlichen Vermessungstechniker hin zu den Prioritäten des Wohnens und des Verkehrs. Für die konzeptionellen Entwicklungen im Städtebau des 20. Jahrhunderts erwiesen sich damit vor allem zwei Grundvorstellungen als ausschlaggebend. Hier bildeten der Mensch und seine „natürlichen" Bedürfnisse den Ausgangspunkt, dort die technischen Möglichkeiten und die Dynamik des Maschinenzeitalters. Das heute wohl bekannteste Gegenmodell zur industriellen Großstadt des 19. Jahrhunderts konzipierte der britische Parlamentsstenograph Ebenezer Howard mit der Gartenstadt-Idee, die er erstmals im Jahr 1898 unter dem Titel Tomorrow: A Peaceful Path to Real Reform veröffentlichte.21 Howards Entwürfe sahen nach eigenen Worten vor, „alle Vorzüge des aktiven und energiegeladenen Stadtlebens mit der Schönheit und dem Genuß der Natur zu verbinden", und zwar in Form wirtschaftlich, administrativ und kulturell unabhängiger Garten" Zur reziproken Durchdringung naturwissenschaftlicher und sozio-politischer Diskurse und der Möglichkeit, neue Erkenntnisprozesse durch den Transfer von Metaphern in Gang zu setzen vgl. den Sammelband von Sabine Maasen!Everett Mendelsohn!?eter Weingart (Hrsg.): Biology as Society, Society as Biology. Metaphors, Dordrecht 1995. 20 Diese universelle Verwendung „organischer" Metaphorik ist von Heide Berndt und Kevin Lynch nicht berücksichtigt worden. Bernd setzt den „organischen Städtebau" mit Konservatismus und Rückwärtsgewandtheit gleich, Lynch beschreibt die Konstrukte von der „Stadt als Maschine" und der „Stadt als Körper", ohne auf die Verbindungen und Schattierungen zwischen diesen Wahrnehmungsmustern einzugehen. Beides stellt jedoch eine Verkürzung dar, wie im folgenden noch ausgeführt wird. Vgl. Kevin Lynch: A Theory of Good City Form, Cambridge 1981, S. 73-98 und Berndt: Gesellschaftsbild, S. 32ff. 21 Ebenezer Howard: To-morrow. A Peaceful Path to Real Reform, London 1898. Der Titel der 2. Auflage, die im Jahr 1902 publiziert wurde, lautete Garden Cities of To-morrow. Als Gartenstädte in Sicht erschien 1907 eine deutsche Übersetzung des Buchs; auf dieser ersten Übertragung ins Deutsche beruht auch die von Julius Posener herausgegebene Ausgabe: Ebenezer Howard: Gartenstädte von morgen. Das Buch und seine Geschichte, Berlin/Frankfurt a.M. 1968.
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Städte, deren Lage und Größe sowohl die Erreichbarkeit der Großstadt als auch des ländlichen Umlands für ihre Bewohner gewährleisten sollte. Wichtigste Voraussetzung seines Konzepts war die freie Verfügbarkeit der Gemeinde über Grund und Boden. Denn wie viele seiner Zeitgenossen führte Howard das Grundübel der hochverdichteten, sich immer weiter ausdehnenden Großstädte auf die Bodenspekulation zurück. Die neue Siedlungsform der Gartenstädte sollte demgegenüber als Symbiose von Stadt und Land verstanden werden: großzügig durchgrünt, mit ausgewiesenen Industrie- und Geschäftszonen und von einem Ring landwirtschaftlicher Betriebe umgeben.22 Howards Text selbst zeichnet sich dabei in erster Linie durch den sozialreformerischen Impetus aus. Weder bemühte sein Verfasser im Übermaß die Bildsprache des Organischen, noch machte er dezidierte Vorgaben zur achitektonischen Ausgestaltung seiner Ideen. Nur wenn man die Realisierung der ersten britischen Gartenstädte berücksichtigt, läßt sich deshalb nachvollziehen, warum das Gartenstadt-Modell in der internationalen Wahrnehmung häufig auf eine „Planung des Pittoresken" (Kostof) reduziert worden ist: In der ersten von Parker und Unwin 1902 realisierten Gartenstadt Letchworth nördlich von London verbargen die Architekten sowohl die Fabrikgebäude als auch die Wohnhäuser hinter der Fassade viktorianischer Cottages entlang gewundener Straßenzüge.23 Auf diese augenfällige Rückwärtsgewandtheit rekurrierte die sowjetische Kritik der 1930er Jahre, die Howards Entwurf als „kapitalistisch-kleinbürgerliches" Konzept ablehnte und dieses Urteil (verquickt mit Polemiken gegen die „unwirtschaftliche" amerikanische neighbourhood unit) nach dem Zweiten Weltkrieg auch in die „Volksdemokratien" exportierte. Das Neue China war davon nicht ausgenommen, wie die dortigen Diskussionen um städtische Wohngebietsplanungen aus der Mitte der 50er Jahre zeigen (3.3.4). Zwischen den Extrema von Ablehnung und Akzeptanz prägte das Gartenstadt-Konzept in den unterschiedlichsten Varianten die Planungsdebatten des 20. Jahrhunderts und blieb im Verlauf der Zeit weder an die ursprünglichen sozialen Zielsetzungen Howards noch an historisierende Architekturformen gebunden. Abgesehen von den Gartenstadtgesellschaften, die nach der Jahrhundertwende in einer Reihe von europäischen Ländern mit dem Ziel gegründet worden waren, neue Städte und Lebensformen 24 zu etablieren, zeigte sich der Einfluß der Gartenstadt-Idee in der Folgezeit aber am häufigsten in den
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Zur Entstehungsgeschichte, zur internationalen Rezeption und zu den weiteren Ausdeutungen des Gartenstadt-Modells siehe u.a. Kostof: Gesicht der Stadt, S. 76-82; Halt Cities of Tomorrow, S. 87-135; sowie Durth/Gutschow: Träume in Trümmern, S. 166-171. 23 Vgl. Kostof. Gesicht der Stadt, S. 76f; Hall: Cities of Tomorrow, S. 93ff; Dietmar Reinborn: Städtebau im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1996, S. 46-54. 24 Düwel und Gutschow schreiben zur ersten deutschen Gartenstadt Hellerau bei Dresden: „Charakteristisch für diese Bewegung war das Bestreben, die menschliche Existenz durch Entwicklung und praktische Umsetzung eines veränderten kulturellen Wertesystems zu erneuern. In der Gartenstadt Hellerau kamen erstmals in Deutschland Lebensreform und Stadtreform zu einem Kunstwerk zusammen." Dies.: Städtebau in Deutschland, S. 47.
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Entwürfen zur Neugliederung und Erweiterung bestehender Städte. Durch die selektive Anwendung der Gartenstadt-Prämissen auf die vorhandenen Großstädte, ihre Untergliederung in „überschaubare Einheiten", erschien selbst eine weitere Industrialisierung und Technisierung der Welt in „gesunde" Bahnen gelenkt werden zu können. Diese Vision teilten konservativ wie progressiv eingestellte Akteure gleichermaßen. „Denn", so resümiert Werner Durth, „das Konzept der Gartenstadt ließ unterschiedliche Deutungen und politische Absichten zu, erschöpfte sich nicht in einem schlichten ,Zurück zur Natur'." 25 Dem wäre hinzuzufügen, daß die anhaltende Attraktivität des Gartenstadt-Paradigmas darauf zurückzuführen ist, daß es eine Lösung der Grundkonflikte der Moderne in Aussicht stellt, ohne jedoch auf die Instrumentarien der Moderne zu verzichten: Die Gartenstadt versprach die Harmonisierung von Stadt und Land, von Mensch und Technik, von Industrie und Natur, von Masse und Individuum mittels einer modernen „organischen" Planung, die den Idealen der Überschaubarkeit und Beheimatung verpflichtet war. Das Denkmuster des „Organischen" ist es auch, das die frühen städtebaulichen Reformvorschläge mit den nachfolgenden Entwicklungstendenzen im Städtebau verbindet. Von ähnlichen Voraussetzungen wie Ebenezer Howard ging auch der französische Architekt Tony Garnier aus, als er zwischen 1901 und 1904 das Modell einer idealen Industriestadt für 35000 Einwohner entwarf, in der technischer Fortschritt und soziale Reformen zu friedlicher Koexistenz finden sollten: In seinen Zeichnungen und Beschreibungen der Cité Industrielle besitzt die städtische Gemeinschaft - wie auch bei Howard - die Verfügungsgewalt über den Boden. Die wirtschaftliche Basis der Stadt bilden ein Stahlwerk und seine Infrastrukturen; ein nahegelegener Staudamm mit Elektrizitätswerk sichert die Autarkie der städtischen Gemeinschaft. Garnier nahm eine explizite Trennung der städtischen Funktionen (Industriestadt - Wohnstadt) vor. Besondere Aufmerksamkeit erfuhr bei ihm die Versorgungsinfrastruktur. Die Ausstattung der Wohnstadt mit sozialen und kulturellen Einrichtungen, die Durchgrünung der Stadt und das Einfamilienhaus als vorherrschender Wohnungstyp verweisen auf Gartenstadtelemente. Neu aber ist laut Durth, daß hier erstmals „ein modernes Industriewerk als Basis planmäßiger Stadtentwicklung in systematischen Bezug zu öffentlichen Bauten und Wohnsiedlungen gebracht wird"26 - ein Planungsgedanke, der fünf Jahrzehnte später den Städtebau des Neuen China dominieren wird. Das äußere Erscheinungsbild der von Garnier entworfenen Stadt spiegelt die Bezugnahme auf die Industrie ebenfalls wider: Alle Gebäude, von den Industrieanlagen bis zum Wohnhaus, sollen aus Eisenbeton
25 Werner Durth: Städtebau und Weltanschauung, in: Rosmarie Beier (Hrsg.): Aufbau West - Aufbau Ost. Die Planstädte Wolfsburg und Eisenhüttenstadt in der Nachkriegszeit, Ostfildern-Ruit 1997, S. 35-49, hier S. 35. Kostof hatte dies bereits 1992 formuliert: „Die Beliebtheit der Gartenstadt als Planungsprinzip beruhte darauf, daß sie ohne weiteres jeder Ideologie angepaßt werden konnte." Kostof. Gesicht der Stadt, S. 78. 26 Durth: Städtbau und Weltanschauung, S. 36.
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gefertigt werden. Traditionellen Baustilen will Garnier die „Klarheit" des damals noch neuen Baustoffs entgegensetzen. 27 Von den Möglichkeiten neuer Materialien, Techniken und Formen lassen sich zur selben Zeit auch die italienischen Architekten Antonio Sant'Elia und Mario Chiattone leiten. Ihre futuristischen Stadtutopien stehen jedoch im diametralen Kontrast zu Garniers und Howards Modellen. Nicht soziale Beweggründe bilden den Bezugspunkt ihrer Darstellungen, sondern die mit dem modernen Verkehr und seiner Dynamik verbundenen Großarchitekturen: Auf Bahnhöfen, Flughäfen und Brücken liegt der Fokus der Entwürfe. Ihre Città Nuova präsentiert sich als hochtechnisierte Welt, als „Stadt-Maschine", die bereits die Dimensionen der damals existierenden Industriestädte überwunden zu haben scheint. In seinen zum „Manifest der futuristischen Architektur" ausgedeuteten Erläuterungen schrieb Sant'Elia 1914: „Wir müssen die futuristische Stadt erfinden und erbauen - sie muß einer großen lärmenden Werft gleichen und in allen ihren Teilen flink, beweglich, dynamisch sein; das futuristische Haus muß wie eine riesige Maschine sein. [...] Das Haus aus Beton, aus Glas und Eisen, ohne Malerei und ohne Verzierung, reich allein durch die Schönheit seiner Linien und Formen [...], soll sich über dem Geheul eines lärmenden Abgrunds erheben: der Straße, die sich nicht mehr wie eine Fußmatte vor der Portierloge ausbreitet, sondern sich um einige Stockwerke unter der Erdoberfläche senkt; diese Stockwerke nehmen den städtischen Verkehr auf und sind miteinander durch Metallstege und durch Rolltreppen mit hoher Geschwindigkeit verbunden. [,..]"28
Das Bild, das Sant'Elia hier von der Stadt zeichnet, gleicht dem eines industriellen Unternehmens. Andere Vorstellungen, die im selben Zeitraum von einer „Auflösung der Städte"29 künden, haben darin keinen Platz, Mensch und Natur bleiben weitgehend ausgeblendet. Der Gedanke einer „Stadtlandschaft" 30 , wie man ihn bei Howard und Garnier findet, wird von den Futuristen durch die Vision einer perfektionierten technischen Welt ersetzt. Doch gerade an diesem Punkt gibt sich die gedankliche Schnittstelle der Konzepte zu erkennen: Hier zeigt sich, daß letztendlich auch die funktionalistischen Stadtvisionen des Futurismus von den Ideen eines „organischen" Städtebaus ausgehen; allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, daß dabei nicht mehr die „Aussöhnung" mit der Natur angestrebt wird, sondern ihr Ersatz durch eine moderne - und das heißt in diesem Kontext immer: effizient funktionierende
27 Vgl. Achim Wendschuh (Hrsg.): Von der futuristischen zur funktionellen Stadt. Planen und Bauen in Europa 1913-1933, Berlin 1978, S. 2/4; zu Eisenbeton als neuem Baumaterial siehe Wolfgang König: Stahl und Beton als Grundlage neuen Bauens, in: Wolfgang Äowg/Wolfhard Weber. Propyläen-Technikgeschichte, Bd. 4. Netzwerke, Stahl und Strom 1840-1914, Berlin 1990, S. 290-302. 28 Zitiert nach Ulrich Conrads (Hrsg.): Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1975, S. 32f. 29 Bruno Taut: Die Auflösung der Städte oder Die Erde eine gute Wohnung, Hagen 1920. 30 Zum Begriff der „Stadtlandschaft" siehe DiiwellGutschow: Städtebau in Deutschland, S. 122ff und Abschnitt 2.3.2 dieser Arbeit.
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- Technik. Die Idee des „Organischen" hat in diesen Entwürfen eine noch höhere Abstraktionsebene erreicht. Das äußert sich nicht zuletzt darin, daß die durchrationalisierte, funktionale Welt der „Stadt"- und „Wohnmaschinen" mit denselben ^örperanalogien belegt wird, wie zuvor die vermeintlich naturnahe, „organische Stadt".31 Beide Denkmuster, sowohl das der „Versöhnung" als auch das von „Vernichtung und Ersatz", können einerseits als Reaktion auf die vielfältigen „Herausforderungen" der industriellen Modernisierungsprozesse gedeutet werden; andererseits treiben wiederum sie selbst diese Prozesse voran. Sie konstituieren die Pole, zwischen denen das Spannungsfeld moderner Technikdiskurse ensteht, zwischen denen auch die städtebaulichen Leitbilder der Zeit zu verorten sind. Die Entwürfe der Cité Industrielle und der Città Nuova enthalten, wie im folgenden noch zu sehen sein wird, bereits viele der Grundgedanken, die nach dem ersten Weltkrieg den internationalen Planungsdiskussionen zu Siedlungsbau, Hochhausentwürfen und Verkehrsstadtkonzepten Richtung geben.32 Formiert sich während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein „neues Verständnis" von Städtebau (das Piccinato auf den Faktor der Bodenverwaltung zur Gewinnmaximierung eindampft), werden die zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts in der Forschung als eine Verdichtungsphase der vorhandenen Konzeptionen beschrieben. Die zentralen städtebaulichen Themen dieser Zeit sind der beständige „Kampf der „Ordnung" gegen das „Chaos", hinter dem der Glaube an eine allumfassende, vorausschauende Planbarkeit der Stadt und der städtischen Gesellschaft steht.33 Die zeitgenössischen Texte zeigen auch, daß sich Städtebauer, Planer und Architekten nicht allein in der Rolle der „ordnenden Hand" sehen, die „chirurgische Eingriffe" im „kranken Stadtgewebe" vornimmt, sondern verstärkt als Lebensreformer, die den Anspruch vertreten, ihre baulichen Entwürfen seien zugleich ganzheitliche Kon-
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Insofern ist den Beobachtungen von Annette Geiger, Stefanie Hennecke und Christian Kempf zuzustimmen, die sich dagegen wenden, „den als rational-utilitaristisch geltenden Funktionalismus und seine entsprechend analytisch-geometrische Formensprache als unorganisch von jenen weich fließenden Rundungen zu unterscheiden, die gemeinhin mit dem Begriff der organischen Form assoziiert werden. Denn die Programmatik des Begriffs umfaßt stets beides [...]. Insofern arbeitet auch das funktionalistische Denken bevorzugt mit organischen Metaphern, die in dieser Lesart für die ökonomische Effizienz der Natur stehen. Von einer strengen Trennung der technisch-rationalen und der organisch-irrationalen Gestaltung sollte man in der Moderne also absehen, da beide Diskurse aus denselben Vorbildern schöpfen." GeigerlHenneckelKempf. Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Spielarten des Organischen in Architektur, Design und Kunst, Berlin 2005, S. 9-18, hier S. 10; siehe außerdem Richard Sennetf. Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation, Berlin 1995. 32 Vgl. Albers: Entwicklung der Stadtplanung in Europa, S. 152f. 33 Siehe dazu die Übersicht bei Albers: Wandel im Planungsverständnis, S. 48f, 53; außerdem Diiwel/Gutschow: Städtebau in Deutschland, S. 22f, 50, 76; und Durth: Städtebau und Weltanschauung, S. 36: „der Planer als Demiurg, der vom Reißbrett her das Glück der Massen lenkt".
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zepte für eine bessere Welt34 - sei es aus der Perspektive des revolutionären Neuerers heraus oder aus der des rückwärtsgewandten Restaurateurs. Das zu diesen Denkmustern korrespondierende Spektrum von städtebaulichen Leitbildern35 sieht auf der einen Seite eine ganz „neue Stadt" mit einer deutlichen Trennung der als „städtische Funktionen" definierten Bereiche Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Verkehr vor. Mit Blick auf die USA wirken zudem die Maßstäbe rationaler Produktionsweisen und des modernen Industriemanagements auf Architektur und Stadtplanung ein.36 Walter Gropius beispielsweise schrieb 1927: „Das Wohnhaus ist ein betriebstechnischer Organismus, dessen Einheit sich aus vielen Einzelfunktionen organisch zusammensetzt. Während der Ingenieur seit langem bewußt fur die Fabrik und das Erzeugnis, das aus ihr hervorgeht, die knappste Lösung sucht, die mit möglichst geringem Aufwand an mechanischer und menschlicher Arbeitskraft, an Zeit, Material und Geld ein Maximum an Leistung ergibt, beginnt die Bauwirtschaft erst seit kurzem ihren Kurs auf ein gleiches Ziel für den Bau von Wohnhäusern zu richten."37
Der Fordismus wird in diesen Jahren zum Sinnbild zeitgemäßer Lebensgestaltung, zum Credo des wahrhaft Modernen. Zeugnis davon legen Ludwig Hilberseimers Entwürfe für eine „vertikale Stadt" ebenso ab, wie Martin Wagners frühe Verkehrsstadt-Konzepte für Berlin38 oder Le Corbusiers Vorstellungen einer Cité contemporaine. Die in all diesen Entwürfen anvisierte radikale Umgestaltung der Großstadtkerne tritt jedoch bald stärker hinter einem anderen Bild zurück. Im weiteren Verlauf der 1920er Jahre wurde die Stadt zunehmend als ein aus überschaubaren Siedlungseinheiten zusammengesetztes, funktional gegliedertes, „organisches Ganzes" wahrgenommen, dessen inneres Gefüge es zu verbessern galt. Als ein probates Mittel dazu wurde der Siedlungsbau am Stadtrand erachtet, der in vielen europäischen Ländern nach dem ersten Weltkrieg erstmals von gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften getra-
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„Der missionarische Eifer sollte in den kommenden Jahrzehnten zu den Grundzügen der Profession von Städteplanern gehören; meistens waren sie der Ansicht, mit ihren Entwürfen soziale Mißstände therapieren zu können. Der Städtebauer als Chirurg, der mit scharfen Schnitten das kranke Gewebe entfernt, war für das Handeln und Selbstverständnis der Städtebauer bis in die sechziger des 20. Jahrhunderts eine akzeptierte Metapher." DüwellGutschow: Städtebau in Deutschland, S. 53. 35 Siehe zum folgenden Abschnitt auch die Übersichtsdarstellung von Albers: Entwicklung der Stadtplanung in Europa, S. 39. 36 Ein anschauliches Beispiel dafür sind die Thesen, die Hannes Meyer (1889-1954) im Jahr 1928 unter dem Titel „bauen" veröffentlicht und die er mit dem Satz abschließt: „bauen ist nur organisation: soziale, technische, ökonomische, psychische organisation." Zitiert nach Conrads: Programme und Manifeste, S. 1 lOf. 37 Walter Gropius: Systematische Vorarbeit für rationellen Wohnungsbau, in: bauhaus 2, 1927, zitiert nach Reinborn: Städtebau, S. 121. 38 Vgl. Düwel/Gutschow: Städtebau in Deutschland, S. 73: Für Martin Wagner (1885-1957) war die moderne Stadt wie eine moderne Fabrik zu organisieren; nicht nur das ökonomische Vokabular, sondern auch die Organisationsprinzipien wollte er auf den Städtebau übertragen wissen.
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gen wurde.39 Hier entwickelte sich international ein Experimentierfeld für die Suche nach dem optimalen Verhältnis von Industrie(arbeit) und Wohnen. An die Stelle der geschlossenen Blockrandbebauung mit ihren dunklen Hinterhöfen - ein Feindbild, das trotz seiner europäischen Spezifik später auch im Neuen China als Inbegriff der „kapitalistischen Stadt" immer wieder heraufbeschworen wird - tritt die Zeilenbauweise als Grundelement des modernen Massenwohnungsbaus. Zeitgenössische Planer wie Ernst May propagierten die „Zeile" als Inbegriff von Demokratie, Rationalität und „amerikanischer" Effizienz, ermöglichte sie doch durch ideale Sonnenausrichtung, Normierung, Standardisierung und Fertigbauweise die industrielle Massenproduktion identischer Wohneinheiten.40 Darüber hinaus repräsentierten die nüchtern gestalteten Zeilenbauten par excellence den Egalitätsansspruch, den die Vertreter des Neuen Bauens formulierten: das gleiche Quantum an Licht, Luft und Grün für alle Stadtbewohner. Das Bemühen um ein Neues Bauen, um neue Wohnverhältnisse und neue Städte wurde sowohl von seinen Befürwortern wie auch seinen Widersachern mit den entsprechenden politischen Schlagworten zu einem Parallelschauplatz der Arbeiterbewegung stilisiert. Daß die zur „neuen Ära des Bauens" fur neue Menschen ausgerufene „Bewegung" immense publizistische Beachtung erfuhr, kann leicht darüber hinwegtäuschen, daß das Neue Bauen selbst in seiner Zeit keineswegs die von ihm beanspruchte Universalgeltung besaß. Vielmehr stellte es im gesamteuropäischen Kontext eher eine Ausnahme im mainstream traditionsgebundener Auffassungen von Ästhetik und Gesellschaft dar. Ein nicht geringer Teil des städtischen Siedlungsbaus folgte gestalterischen Idealen, die auf der anderen Seite des zeitgenössischen Leitbild-Spektrums positioniert waren.41 Eine qualitative Änderung in den städtebaulichen Diskussionen läßt sich seit den späten 1920er Jahren wahrnehmen, als die weithin akzeptierte Vorstellung von der Stadt als einem Organismus zunehmend nationalistisch unterlegt wurde. Griff man einerseits mit aufgelockerter Bebauung, Durchgrünung und Anpassung der neuen Stadtrandsiedlungen an die „natürlichen Bedingungen" grundlegende Elemente der Reformbewegung auf, suchte man andererseits auf architektonischem Gebiet verstärkt „nationale" Bauformen zu etablieren. Tradierte Sehgewohnheiten und das „menschliche Maß" sollten den gesellschaft-
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Zum gemeinnützigen Wohnungsbau der Zwischenkriegszeit siehe Reinhorn: Städtebau, S. 90ff. Einen Überblick über die Siedlungsbauprojekte der 1920er und 1930er Jahre in Deutschland gibt die Dokumentation des Deutschen Nationalkomitee fflr Denkmalschutz (Hrsg.): Siedlungen der 20er Jahre, Bonn 1999; und Reinborn: Städtebau, S. 101-135; zur zeitgenössischen „Verabsolutierung" der „Zeile als ideale Wohnform" vgl. ebd., S. 13 Iff. 41 Bei Wendschuh wird dies an den Ergebnissen internationaler Architektur- und Städtebauwettbewerbe aufgezeigt; vgl. ders.: Planen und Bauen in Europa, S. 2/22. Düwel und Gutschow verweisen auf die jeweiligen Anteile am Gesamtvolumen des Siedlungsbaus während der Weimarer Republik; vgl. dies.: Städtebau in Deutschland, S. 84—89.
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liehen „Auswüchsen" der Moderne - der „Vermassung", der Anonymität, der sozialen Entfremdung und dem unterstellten Kultur- und Heimatverlust durch das Großstadtleben - entgegenwirken. Während dies im wesentlichen eine Fortsetzung der internationalen Debatten seit der Jahrhundertwende darstellt, wurde der Städtebau aber nun noch stärker als zuvor zum Gegenstand politischer Identifikationen und Indienstnahmen. Das linke politische Spektrum vereinnahmte als selbsternannter Exponent von Modernität und Fortschritt die städtebauliche Moderne und das Neue Bauen für sich. Vehement polemisierte die politische Konservative dagegen und setzte auf tradierte Bauformen, ohne jedoch auf moderne Siedlungskonzepte und industrielle Fertigungsweisen zu verzichten. Die hier einsetzende, bewußte Konstruktion politischer Zugehörigkeiten von Planungskonzepten und ihren Fürsprechern hat die historiographische Auseinandersetzung mit der Geschichte von Stadtplanung und Städtebau im 20. Jahrhundert nachhaltig geprägt.42 Die dem Modernismus verpflichteten Siedlungsbauten und „Trabanten" der Stadterweiterungen werden bis heute als pars pro toto für den Städtebau und die Architektur der 1920er Jahre in Europa gehandelt. Daß diese Sicht angesichts des tatsächlichen Bauvolumens zu korrigieren ist, findet nur selten Erwähnung.43 Gerade für Deutschland hatte aber die damit etablierte historiographische Trennlinie entscheidende Bedeutung: Schließlich schienen die städtbaulichen Enwürfe des Nationalsozialismus, die lange auf das Bild einer monumentalen, an klassizistische Vorbilder anknüpfenden Repräsentationsarchitektur reduziert wurden, vor diesem Hintergrund keine unmittelbaren historische Bezüge zur Zwischenkriegszeit aufzuweisen. 44 Dabei sind keine direkten Zäsuren im Gedankengut der Planer festzustellen, die sich erst mit der Etablierung der autoritären Regime in Europa vollzogen hätten, wohl aber eine bewußte Anpassung bestehender Planungskonzepte an die herrschenden politischen Verhält-
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Insofern verdeckt die vereinfachende Gleichsetzung von Gartenstadt mit Tradition/ Nationalismus gegenüber dem Neuen Bauen mit Moderne/ Demokratie, wie sie in der Forschung nicht selten vorgenommen wird, die Konvergenzen und Verflechtungen dieser Konzepte und fallt auf die zeitgenössischen Polarisierungen herein. Eine Polarität zwischen dem konservativem und dem fortschrittlichen Planungsdenken, respektive zwischen Gartenstadtbewegung und Neuem Bauen konstruiert z.B. auch Reinborn: Städtebau, S. 64. 43 Ein Trend, den die aktuelle Aufnahme von sechs Siedlungen der Berliner Moderne auf die Welterbeliste der UNESCO (7. Juli 2008) noch verstärken dürfte, wie sich bereits in der Pressemitteilung der deutschen UNESCO-Kommission andeutet: http://www.unesco.de/ ua20-2008.html (19.08.2208). Zu diesem Thema sei noch einmal auf Anm. 41 und 42 dieses Abschnitts rückverwiesen. 44 Siehe Werner Durth: Utopie der Gemeinschaft. Überlegungen zur Neugestaltung deutscher Städte 1900-1950, in: Romana Sc/me/cfer/Wilfried Wang (Hrsg.): Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 2000. Macht und Monument, Ostfildern-Ruit 1998, S. 134-161, hierS. 151.
2.1 Moderner Städtebau in Westeuropa
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nisse, 45 w i e u.a. die Ausführungen des Bremer Architekten Wilhelm Wortmann zur Idee der „Stadtlandschaft" zeigen: „Die Aufgabe heißt, die in der Stadt gegebene Häufung von Menschen und Arbeitstätten so zu gestalten, daß die gegen die Stadt erhobenen Vorwürfe entkräftet werden; das Leben des Städters muß wieder gesund und lebenswert werden. Der Gedanke der Stadtlandschaft will diese Forderung erfüllen. [...] Die Stadtlandschaft will einen neuen zellenförmigen Aufbau der Stadt in bewußter Anlehnung an die politische Gliederung unseres Volkes, im Gedanken der Volksgemeinschaft und in lebendiger Beziehung zur Landschaft. In der Siedlungszelle steht der Mensch wieder in einem fur ihn erfuhlbaren Zusammenhang mit dem Ganzen."46 Weder ist der hier verwendete Begriff der „Stadtlandschaft" neu, noch die Idee der „Beheimatung" des modernen M e n s c h e n in „überschaubaren" Siedlungseinheiten, die im nationalsozialistischen Kontext als „Siedlungszelle" bezeichnet wurden. 4 7 A u c h in Gottlieb Feders Die Neue Stadt, dem städtebaulichen Standardwerk des Nationalsozialismus (das bis in die 50er Jahre hinein in Benutzung blieb), 48 begegnet man dieser eigentümlichen Mischung aus vorindustriellen Heimatidealen und der Assimilation modern(st)er Technik und der Planungsideen der Moderne wieder. D i e propagandistische ModernismusFeindlichkeit, derer sich die autoritären R e g i m e in Europa bedienten, steht im deutlichen Gegensatz zu ihrer Politik und Planungspraxis. Entwürfe für neue Industriestädte und die bereits seit Anfang der 1940er Jahre erarbeiteten Konzepte fur den „Wiederaufbau" nach dem Krieg folgten ausnahmslos den „modernen" Prinzipien der Normierung, Rationalisierung und Standardisierung des Baus. 4 9 Allerdings geschah dies j e w e i l s unter spezifischen ideologischen
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Zur Darstellung von Stadtplanung und Städtebau als „unpolitische" Tätigkeiten siehe Düwel/Gutschow: Städtebau in Deutschland, S. 13lf. 46 Wilhelm Wortmann: Der Gedanke der Stadtlandschaft, in: Raumforschung und Raumordnung 1,1941; zitiert nach DurthlGutschow. Träume in Trümmern, S. 192. Als der Sache des Städtebaus verpflichteter, vermeintlich „unpolitischer" Technokrat war Wortmann nach 1945 an westdeutschen Wiederaufbauplanungen beteiligt und bekleidete von 1956-1965 das Amt des Ordinarius für Städtebau, Wohnungswesen und Landesplanung an der TH Hannover. Weitere biographische Angaben in Marita Gleiss (Red.): 1945. Krieg-Zerstörung-Aufbau. Architektur und Stadtplanung 1940-1960, Berlin 1995, S. 380. 47 Zum Konzept der „Siedlungszelle" vgl. DurthlGutschow: Träume in Trümmern, S. 178ff. 48 Gottfried Feder: Die neue Stadt. Versuch der Begründung einer neuen Stadtplanungskunst aus der sozialen Struktur der Bevölkerung, Berlin 1939; Feder war seit 1934 Reichskommissar für das Wohnungwesen. Siehe dazu auch Manfred Walz: Gegenbilder zur Großstadt. Von den nationalsozialistischen Versuchen zur Auflösung der Stadt bis zu den Wiederaufbauphasen nach 1945, in: Stadtbauwelt 65, 1980, S. 59-68, hier S. 65ff. 49 Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Karriere des Gropius-Schülers und Verfassers der Bauentwurfslehre (1936) Ernst Neufert (1900-1986) im Nationalsozialismus. Siehe Wolfgang Voigt: „Triumph der Gleichform und des Zusammenpassens". Ernst Neufert und die Normung in der Architektur, in: Winfried Nerdinger (Hrsg.): Bauhaus-Moderne im Nationalsozialismus. Zwischen Anbiederung und Verfolgung, München 1993, S. 179-193; weiterführend dazu Roger Griffin: Modernism and Fascism. The Sense of a Beginning under Mussolini and Hitler, Basingstoke/New York 2007; Winfried Nerdinger: Modernisierung, Bauhaus, Nationalsozialismus, in: ders. (Hrsg.): Bauhaus-Moderne im Nationalsozialismus. Zwischen Anbiederung und Verfolgung, München 1993, S. 9-23; außerdem Hans-Joachim
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Vorzeichen: Der „Aufbau der Städte" sollte Abbild der politischen Ordnung des Landes sein, der politisch organisierte „Volkskörper" sollte sich mit dem entsprechend strukturierten „Stadtkörper" zu einem „organischen Ganzen" fugen.50 Nicht nur im Fall Deutschlands bleibt diese während der 1940er Jahre besonders ausgeprägte Vorstellung einer Verzahnung von Staat, Gesellschaft und Stadt zu einem übergeordneten, organischen Gebilde bis weit in die Nachkriegszeit hinein dominant; sie prägt auch maßgeblich den chinesischen „Aufbau"-Diskurs der 50er Jahre. Der zentrale Kontroll- und Gestaltungsanspruch, der im Nationalsozialismus vor allem ein Instrument der „Rassenhygiene" und der gezielten Sozialmontage darstellte51, war charakteristisch für die autoritären Regime der Zeit, jedoch nicht ausschließlich auf sie begrenzt. Albers beschreibt in seiner vergleichenden Darstellung fur die 1930er Jahre in Europa eine allgemeine Zunahme zentralisierter, staatlicher Kontrolle über Wirtschaft und Gesellschaft, die sich in Raumplanungsaktivitäten und Städtebau äußerten. Ursachen dafür sieht Albers zum einen in der allmählichen Verankerung der Stadtplanung in der Gesetzgebung der verschiedenen europäischen Länder, zum anderen in den dirigistischen Politiken als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise. Ansätze, wie sie im amerikanischen New Deal oder von der „Barlow Commission" in Großbritannien vertreten wurden, forderten dezidiert, die räumliche Entwicklung und den Städtebau der jeweiligen Länder in einem nationalen Plan festzuschreiben.52 Auf die zeitgenössische Planerschaft übten die zentralistisch-autoritären Politik-Ansätze der 1930er Jahre große Anziehungskraft aus. Sie suggerierten im Rahmen eines gesamtstaatlichen Gestaltungsideals die Möglichkeit, umfassende Projekte des Stadtumbaus zu realisieren.53 Der Wunsch, durch die Braun·. Das Haus als Maschine, in: Hans-Joachim Braun/Waher Kaiser: Propyläen-Technikgeschichte, Bd. 5. Energiewirtschaft, Automatisierung, Information seit 1914, Berlin 1992, S. 61-70. 50 „Nun galt die .Milieu- und Zellenbildung' der Großstadt nicht mehr als Schreckgespenst, denn die befriedete und in Ortsgruppen geordnete Volksgemeinschaft bildete vielmehr selbst die Zellen eines geordneten Körpers der Partei." Diiwel/Gutschow. Städtebau in Deutschland, S. 97; zur „Uberlagerung der zuvor politisch gegeneinander ausgespielten Leitbilder" in Architektur und Städtbau des Nationalsozialismus siehe Durth: Utopie der Gemeinschaft, S. 149ff. 51 Vgl. Walz: Gegenbilder zur Großstadt. 52 Vgl. Albers: Stadtplanung in Europa, S. 62f, 198f; außerdem Zutz: Wege grüner Moderne; zu den ökonomischen Zielsetzungen der „Barlow Commission" vgl. Kühler: Reisen bildet, S. 968. Eingehender beschäftigt sich damit Schivelbusch: Entfernte Verwandtschaft. 53 Zygmunt Bauman: Moderne und Macht. Die Geschichte einer gescheiterten Romanze, in: Romana Schneiderl Wilfried Wang (Hrsg.): Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 2000. Macht und Monument, Ostfildern-Ruit 1998, S. 13-31, hier S. 23f, 29; thematisiert auch bei Durth: Utopie der Gemeinschaft, S. 146ff. Hier ließen sich zahlreiche Parallelen zum aktuellen Engagement ausländischer Architekten und Planer in der VR China ziehen. Die Frage „Wie viel Moral braucht die Architektur?" ist jüngst wieder im Zusammenhang mit den Protesten gegen die chinesische Tibet-Politik und der massiven ausländischen Beteiligung an Repräsentationsbauten für die Volksrepublik China gestellt worden. Vgl. Hanno
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Machtfülle eines autoritären „Bauherren" gleichsam „aus der Sicht des Staates"54 heraus agieren zu können, schien sich fur eine Reihe von Planern zunächst durch das „Aufbaugeschehen" in der jungen Sowjetunion zu erfüllen. Während des ersten sowjetischen Fünfjahrplans (1928-1932) waren zahlreiche ausländische Architekten - unter anderem Hannes Meyer (Schweiz), Mart Stam (Niederlande), Ernst May und Erich Mendelssohn (Deutschland), um nur einige der bekanntesten Namen zu nennen - an der Konzeption und dem Bau neuer Städte, Fabriken und Werkssiedlungen beteiligt, wobei die Kooperation mit den sowjetischen Auftraggebern schlußendlich im Eklat endete. Zeitgenössische Darstellungen berichten über Materialmangel, bürokratische Willkür und vor allem über enttäuschte Hoffnungen: Statt daß sich dem Modernismus verpflichtete Stadtkonzeptionen fur den neuen „Sowjetmenschen" durchsetzen ließen, tendierten die politischen Entscheidungsträger zu Tradiertem. Die Zeilenbauten Ernst Mays fur Magnitogorsk oder radikale Konzepte zur Veränderung bestehender Stadtgrundrisse, wie sie sowohl May als auch Le Corbusier im Wettbewerb für die Umgestaltung von Moskau 1932 vorlegten, fanden keine Akzeptanz.55 Bereits gegen Ende des Fünfjahrplans begannen sich die Diskussionen über eine neue Architektur und neue Städtebaukonzepte für die sowjetische Gesellschaft mit der politischen Stigmatisierung des Modernismus zu verengen.56 Als einen deutlichen Hinweis auf diese Entwicklung deutet Simone Hain die kurzfristige Verlegung der vierten Zusammenkunft der Congrès Internationaux d'Architecture Moderne (CIAM). Für Juni 1933 in Moskau geplant, wurde sie auf ein Kreuzfahrtschiff mit der Route Marseille· Athen verlegt. Die Ergebnisse des von sehr kontroversen Diskussionen geprägten Treffens - erst 1943 in Paris unter dem Titel „Charte d'Athène" publiziert - wurden zum Leit- und Feindbild des Nachkriegs-„Aufbaus".57 Es erscheint grotesk und bezeichnend zugleich, daß Le Corbusier, der Urheber dieser „harmonisierten Fassung" des CIAM-Tagungsberichts58, für die Umsetzung seiner Ideen - „die Planung des kollektiven Glücks, das er in einer hygienischen, technisch einwandfrei ausgerüsteten und künstlerisch qualitätvoll gestalteten Wohnzelle im Grünen verkörpert sah, die für jeden erschwinglich Rauterberg: Wie viel Moral braucht die Architektur?, in: Die Zeit 14, 27.3.2008, S. 53. 54 Seeing like a State lautet der Titel mit dem James Scott seine vergleichende Studie zu den Mechanismen und dem letztendlichen Scheitern eines high modernism überschrieben hat. 55 Vgl. Simone Hain: Die andere „Charta". Städtebau auf dem Prüfstand der Politik, in: Kursbuch 112, Juni 1993, S. 47-62, hier S. 48f; zu Le Corbusiers „Réponse à Moscou" und die sowjetischen Reaktionen siehe Vittorio Lampugnani: Visionen und Kahlschläge. Le Corbusiers Städtebau 1920-1940", in: Kursbuch 112, Juni 1993, S. 10-28, hier S. 16, 21f. 56 Genauer wird dieser Konflikt noch unter Abschnitt 2.2.2 dargestellt. 57 Siehe die kommentierte deutsche Neuausgabe der „Charta" von Thilo Hilpert (Hrsg.): Le Corbusiers „Charta von Athen". Texte und Dokumente. Kritische Neuausgabe, Braunschweig 1984. 58 Siehe Hain: Die andere Charta, S. 50; vgl. außerdem das Manuskript zur Sendung des Deutschland Radio Berlin zum 60. Jahrestag der Veröffentlichung der „Charte dAthène" von Robert Bramer: Abriss für den Wiederaufbau. LeCorbusier und der moderne Städtebau, 13.10.2003 (http://www.dradio.de:8080/dlr/sendungen/merkmal/l82363).
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2. „Stadt im Aufbau"
sein sollte"59 - zeitlebens nach einer durchsetzungsfahigen staatlichen Autorität suchte. Zu finden meinte er sie zu Beginn der 1930er Jahre besonders in vier Ländern: dem faschistischen Italien, dem nationalsozialistischen Deutschland, unter dem Vichy-Regime in Frankreich und, wie schon erwähnt, in der Sowjetunion unter Stalin. Entsprechende Projekte in diesen Ländern folgten mit Ausnahme Deutschlands.60 Am Beispiel Le Corbusiers, der in der Forschung bis heute als Gallionsfigur moderner Stadtplanung und Architektur zitiert wird, lassen sich die systemübergreifenden Kontinuitäten im Planungsdenken der Zwischenkriegsjahre besonders deutlich machen. Gemeinsam war der (selbsternannten) Avantgarde der Architekten und Planer, die Welt in „organischen" (und das heißt in diesem Konext: vermeintlich naturgegebenen und damit gleichsam verbindlichen) Mustern zu denken. Des weiteren einte sie, durch eine (zentral)staatlich vorgegebene, egalitäre und „rationale" Planung des Lebensumfelds der Bevölkerung einen neuen, besseren Menschentypus heranziehen zu wollen, um die Menschheit, wie Lampugnani es formuliert hat, in einen Zustand „kollektiven Glücks" zu überfuhren. Teile der Architekten- und Planerschaft stellten sich unter diesen Voraussetzungen als vermeintlich neutrale Techniker in den Dienst derselben Diktaturen, die im Verlauf der 1930er Jahre nicht wenige ihrer Fachkollegen in die Emigration zwangen.61 Diese Ambivalenz moderner Stadtplanung hat Zygmunt Bauman treffend als die Geschichte einer „gescheiterten Romanze" zwischen „Moderne und Macht" beschrieben.62 Ihre Charakteristika blieben weit über die unmittelbaren Nachkriegsjahre hinaus wirkungsmächtig und bestimmten Struktur und Gestalt des „Aufbaus" der 50er Jahre in West und Ost mit.63 59
Lampugnani: Visionen und Kahlschläge, S. 21. Zu Le Corbusiers „Begegnungen mit der Autorität" siehe nochmals Lampugnani: Visionen und Kahlschläge, S. 20-25; und Albers: Stadtplanung in Europa, S. 52. Zygmunt Bauman schrieb dazu: „Wie um die überparteiliche Natur der Aufgabe räumlicher Modernisierung sowie das Fehlen jeglicher Verbindung zwischen ihren Prinzipien und politischen Ideologien zu demonstrieren, bot Le Corbusier seine Dienste mit gleichem Eifer und gleicher Skrupellosigkeit den kommunistischen Herrschern in Rußland und den faschistischen Herrschern des Vichy-Frankreich an." Bauman'. Moderne und Macht, S. 21. Ähnlich äußert sich Jean-Louis Cohen über Le Corbusiers ambivalentes Verhältnis zum tschechoslowakischen Schuhfabrikanten Tomás Bat'a: „Beinahe sechs Jahrzehnte lang ist Le Corbusier beharrlich auf der Suche nach dem idealen Auftraggeber, den er wahlweise unter Politikern und Industriellen glaubt finden zu können." Cohen: „Unser Kunde ist unser Herr". Le Corbusier trifft Bat'a, in: Winfried Nerdinger (Hrsg.): Zlin - Modellstadt der Moderne, Berlin 2009, S. 112-135, hierS. 112. 61 Vgl. dazu die Beiträge in Winfried Nerdinger (Hrsg.): Bauhaus-Moderne im Nationalsozialismus. Zwischen Anbiederung und Verfolgung, München 1993; siehe auch Durth: Utopie der Gemeinschaft, S. 146ff; sowie ders.: Städtebau und Weltanschauung, S. 37. 62 Zum „vorprogrammierten" Scheitern dieser „Affare mit der Macht" siehe abermals die Darstellung von Bauman: Moderne und Macht, S. 29f. 63 Ein exemplarisches Beispiel dafür ist der Karriereverlauf des Bauhaus-Schülers Richard Paulick, der 1933 nach Shanghai emigrierte, zu Beginn der 50er Jahre in die DDR ging und dort an den Prestigeplanungen des Regimes beteiligt war; weiterführende Literatur dazu unter Abschnitt 3.3.1, Anm. 243. 60
2.2 Das schönere Gesicht der Moderne?
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2.2 Das schönere Gesicht der Moderne? Städtebau in der Sowjetunion In den Vorstellungswelten sowjetischer Planer und Sozialtheoretiker fand der gesellschaftliche und ökonomische „Aufbau" der Sowjetunion seine bauliche Entsprechung im Projekt der „sozialistischen Stadt". Dieses komplexe Ansinnen, den sprachlichen Gepflogenheiten der Zeit folgend bald unter dem Kürzel socgorod (socialisticeskij gorod)64 verschlagwortet, drückte sich in einer Vielzahl von idealen Stadtentwürfen aus. So unterschiedlich die Bilder von der neuerbauten oder umgestalteten „Stadt der Zukunft"65 dabei auch waren, sie sollten nicht nur den revolutionierten Produktionsverhältnissen Rechnung tragen, sondern die Kultur des Neuen Menschen sowohl generieren als auch repräsentieren können. Bezeichnenderweise sind es gerade die politischen Entscheidungsträger, Wirtschafts- und Kulturfunktionäre der jungen Sowjetunion, die sich als „Architekten einer neuen Gesellschaft" inszenierten und auch als solche in die Geschichte eingegangen sind.66 (Abb. 4-5) Letztendlich waren sie dabei jedoch auf die Hilfe von Ingenieuren, Architekten und Planern angewiesen, die ihre Ideen visualisieren und in die bauliche Praxis überfuhren konnten. Denn die Topoi von „Aufbau" (stroitel'stvo) und „Umgestaltung" (preobrazovanie) bezogen sich auf die geistige und körperliche Verfaßtheit des Menschen ebenso wie auf seine Umwelt. Raum- und Gesellschaftsordnung sind auch dieser Vorstellung nach untrennbar verknüpft. Allerdings verschwimmt im „Aufbau"-Diskurs der frühen Sowjetunion, was für wen maßgebender Faktor sein sollte: Die Umgebung für den Menschen oder der Mensch für die Umgebung. Dieses oszillierende Kulturverständnis ist für die Entwicklung der sowjetischen Städtebau-Programmatik nicht ohne Auswirkungen geblieben. 64
Vgl. die gleichnamige Publikation von Nikolai Aleksandrovich Miliutin: Sotsgorod. The Problem of Building Socialist Cities, Cambridge, Mass. 1974 [sowj. Originalausgabe 1930]. Zum „Wandel des städtebaulichen Leitbilds in der Sowjetunion" siehe auch die zusammenfassende Darstellung von Thomas M. Bohrt: Minsk - Musterstadt des Sozialismus. Stadtplanung und Urbanisierung in der Sowjetunion nach 1945, Köln 2008, S. 31-54. 65 Leonid Sabsovic: Gorod buduäöego i organizacija socialistiöeskogo byta [Die Stadt der Zukunft und die Organisation der sozialistischen Lebensweise], 1929, zitiert nach Christian Schädlich: Zeittafel zur Architektur der sowjetischen Avantgarde, in: Institut fur Auslandsbeziehungen Stuttgart (Hrsg.): Avantgarde II 1924-1937. Sowjetische Architektur, Ostfildern-Ruit 1993, S. 256-269, hier S. 264. 66 Zum imperialen Gestus dieses Images, der Herrschaft über den geographischen Raum und die Idee einer Zivilisierungsmission gegenüber der „rückständigen Bevölkerung", siehe Sheila Fitzpatrick: Everyday Stalinism: Ordinary Life in Extraordinary Times. Soviet Russia in the 1930s, New York 1999, S. 68; ähnlich Monica Rüthers'. Öffentlicher Raum und gesellschaftliche Utopie. Stadtplanung, Kommunikation und Inszenierung von Macht in der Sowjetunion am Beispiel Moskaus zwischen 1917 und 1964, in: Gábor T. Rittersporn/Malte RolflJan C. Behrends (Hrsg.): Sphären von Öffentlichkeit in Gesellschaften sowjetischen Typs. Zwischen parteistaatlicher Selbstinszenierung und kirchlichen Gegenwelten, Frankfurt a.M. 2003, S. 65-96, hier S. 65f.
Abbildung 5: „Ruhm dem großen Stalin - dem Architekten des Kommunismus ", Moskau ¡952
2.2 Das schönere Gesicht der Moderne?
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An Entwürfen fur neue Stadt- und Siedlungsformen hat es in den Folgejahren der Oktoberrevolution bekanntlich nicht gemangelt. Mit dem politischideologischen Anspruch, eine gerechtere, möglichst egalitäre Gesellschaftsordnung zu realisieren, geht der Aufbruch Sowjetrußlands in eine innovative architektonische und städtebauliche Moderne einher. Während in Westeuropa Bemühungen um neue Städte und ein Neues Bauen nach dem 1. Weltkrieg explizit an die internationalen Reformdebatten des ausgehenden 19. Jahrhunderts anknüpfen, haben sich die russischen Vertreter der Avantgarde nicht selten als Visionäre des wahrhaft Neuen dargestellt: Die „historisch beispiellose" Tat der proletarischen Revolution in Rußland ermöglichte und erforderte ihrem Verständnis nach ebenso beispiellose räumliche Konzeptionen für die künftige klassenlose Gesellschaft. Daß der Betrachtungszeitraum des vorliegenden Kapitels mit der politischen Zäsur von 1917 einsetzt, soll derartige Selbststilisierungen nicht unterstützen oder suggerieren, daß es in Stadtplanung und Städtebau der jungen Sowjetunion keine Kontinuitäten zur vorrevolutionären Zeit gegeben hätte.67 Gegenstand der Untersuchung ist hier jedoch die Überzeugung der selbsternannten Kulturdesigner 68 , Ansichten einer gänzlich neuen Welt vermitteln zu können - einer Welt, die mit den überkommenen Strukturen der Gesellschaft des Zarenreichs und dem bügerlich-kapitalistischen System des „Westens" nichts mehr gemein haben sollte. Die Idee einer tabula rasa, auf die - durchaus im wörtlichen Sinne - erste Grundsteine fur den „Aufbau" einer neuen Zivilisation gelegt werden würden, hat auf die internationale Fachgemeinde von Architekten und Planern große Faszination ausgeübt. Zunächst galt die junge Sowjetunion vielen westeuropäischen Vertretern des Modernismus als das Land, in dem die Realisierung moderner Architektur- und Siedlungsformen in greifbarer Nähe lag. Entsprechend enthusiastische Darstellungen durchziehen die anfanglichen Berichte des ausländischen Expertenstabs in der Sowjetunion. 69 Auch aus der Ferne verfolgte die europäische und amerikanische Fachwelt aufmerksam (und nicht selten 67
Die vielfaltigen Bezüge der Avantgarde zum vorrevolutionären „kulturellen Erbe" werden aufgezeigt in William C. Brumfield (Hrsg.): Reshaping Russian Architecture. Western Technology, Utopian Dreams, Cambridge 1990; und in den Beiträgen des Ausstellungskatalogs des Institut für Auslandsbeziehungen Stuttgart (Hrsg.): Avantgarde I 1900-1923. Russisch-sowjetische Architektur, Stuttgart 1991. 68 Stefan Plaggenborg hat den Begriff „Kulturplaner" als Oberbegriff für die sozial und professionell heterogene Gruppe derer verwendet, die nach 1917 mit Entwürfen für eine „neue Kultur" befasst waren. Vgl. ders.: Revolutionskultur, S. 1-20. 69 Eine bezeichnende zeitgenössische Einschätzung des „Planungspotentials" von Moskau aus dem Jahr 1936 zitiert Timothy Colton nach dem Bericht eines britischen Beobachters: „The [government of Moscow] has an opportunity unrivalled in the history of the world to reconstruct Moscow on the best town-planning lines. It has two overwhelming advantages compared with a capitalist democracy. The first advantage is socialism: the government owns the whole of the land and buildings; [...]. The second advantage is the one-party system, which makes the [city] notable for its ability to concentrate the whole energies of the government in whatever direction it wishes, and its power to secure not only the acqiescence
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2. „Stadt im Aufbau"
kritisch) das sowjetische Baugeschehen, wovon eine Fülle von Artikeln in der zeitgenössischen Fachpresse zeugt.70 Seither wurden im Verlauf des 20. Jahrhunderts auf der Suche nach alternativen Stadt- (und damit auch implizit: Lebens-) Modellen immer wieder Schlaglichter auf die Entwürfe der russischen Avantgarde der 1920er Jahre geworfen. Die Tatsache, daß deren städtebauliche Vorstellungen - ähnlich wie die ihrer westeuropäischen Kollegen - keineswegs auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens beruhten oder durchgängig in Einklang mit der offiziellen politischen Programmatik Sowjetrußlands und der Sowjetunion standen, fiel dabei nicht weiter ins Gewicht. Diese selektive Wahrnehmung mag mit ein Grund dafür sein, warum die etablierte sozialhistorische Zäsur am Ende der 1920er Jahre auch noch lange die kulturgeschichtliche Perspektive auf die Themen Architektur und Städtebau bestimmt hat. Das erste Jahrzehnt der Sowjetunion erstrahlt im Licht innovativer Kulturbewegungen und offiziell sanktionierter Experimente, während der Beginn der „Stalin-Ära" mit Blick auf das Zusammenspiel von Bürokratisierung, Normierung und Gewalt oft kategorisch als das „Ende der Utopien" eingestuft wurde.71 Erst im Zusammenhang mit der Stalinismus-Forschung der 1990er Jahre ist verstärkt die Frage nach den räumlichen Gestaltungsansprüchen des Regimes zum Thema gemacht worden. Ein Teil der Publikationen, wie der 1994 erschienene Begleitband zur Ausstellung Tyrannei des Schönen. Architektur der Stalinzeit, hat die Betrachtung der sowjetischen Architektur und Stadtplanung unter Stalin noch auf ihren zentral diktierten „ideologischen Gehalt" reduziert.72 Zu einer differenzierteren Sichtweise gelangte dagegen Stephen Kotkin Mitte der 1990er Jahre mit seiner Fallstudie über Magnitogorsk, in der er die sozio-kulturellen Mechanismen vom „Aufbau des Sozialismus in einem Land" am Beispiel einer der prominentesten sowjetischen „Instant-Städte" der of the public to its plan [...], but the active, and even enthusiastic, cooperation of the public." Nach Timothy J. Coltoti: Moscow. Governing the Socialist Metropolis, Cambridge 1995, S.4f. 70 Überblicksartig bei Anatole Kopp: Foreign Architects in the Soviet Union during the first two Five-Year Plans, in: William C. Brumfield (Hrsg.): Reshaping Russian Architecture. Western Technology, Utopian Dreams, Cambridge 1990, S. 176-214, hier S. 178ff; siehe außerdem Christian Schädlich·. Die Architektur der sowjetischen Avantgarde im Spiegel der deutschen Fachpresse, in: Institut für Auslandsbeziehungen Stuttgart (Hrsg.): Avantgarde II 1924-1937. Sowjetische Architektur, Ostfildern-Ruit 1993, S. 106-116. 71 So Richard Stiles: Revolutionary Dreams. Utopian Vision and Experimental Life in the Russian Revolution, New York 1989. Er blendet hier die Koexistenz von revolutionärem Elan und der verbreiteten Anwendung von Gewalt und Zwang für die 20er Jahre einfach aus. „Broad-minded", „tolerant" und „egalitarian" waren seiner Meinung nach die positiven Charakteristika der sowjetischen Anfangsphase, die mit der Verengung auf die zentral verordnete, „administrative Utopie" Stalins - den Fünfjahrplan - untergingen. Ähnlich auch bei Bliznakov: Realization of Utopia, S. 158. 72 „Stalin war vor allem ein besonders begnadeter Künstler der Platzanweisungen. Und die stalinistische Architektur wollte ebenfalls jedem historisch entstandenen ästhetischen Stil seinen Platz im Ganzen zeigen, wodurch sie zu einer gebauten Ideologie wurde." Boris Groys: Die gebaute Ideologie, in: Peter Noever (Hrsg.): Tyrannei des Schönen. Architektur der Stalin-Zeit, München 1994, S. 15-21, hier S. 17.
2.2 Das schönere Gesicht der Moderne?
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1930er Jahre untersuchte.73 Der Untertitel Stalinism as a Civilization steht zudem exemplarisch für den Paradigmenwechsel, der sich seit den 1980er Jahren nach und nach in der Osteuropa-Forschung vollzogen hat. Eine zunehmend kulturhistorische Ausrichtung hat die vormalige Fixierung der Geschichtswissenschaft auf politische, soziale und ökonomische Zusammenhänge aufgebrochen und ergänzt. Daß der Stalinismus nicht mehr ausschließlich als eine „Revolution von oben" und als Umkehr der Entwicklungen der 1920er Jahre betrachtet wird, sondern als ein System, das auf spezifische Weise von den verschiedenen Gesellschaftsschichten in der Sowjetunion, also „von unten", mitgetragen wurde, ist ein wichtiges Ergebnis dieses Prozesses.74 Ähnliches hatte bereits der russische Historiker Vladimir Paperny Ende der 1970er Jahre in seiner Analyse der Bau- und Planungskonzepte der Stalinzeit darzulegen versucht. Ob man dem theoretischen Erklärungsmodell eines zyklischen Wechsels von „Kultur I" und „Kultur II" zustimmen muß, steht auf einem anderen Blatt.75 Für die Fragestellung dieser Arbeit sind aber vor allem die neueren Forschungsansätze zu erwähnen, die darum bemüht sind, die gesellschaftlichen und kulturellen Phänomene der Stalinzeit in neu vermessenen Zeiträumen und transnationalen Zusammenhängen zu betrachten. Im Gegensatz zu den Systemvergleichen vergangener Jahrzehnte, die häufig auf Binnenvergleiche zwischen den als „totalitär" kategorisierten Staaten reduziert waren, liegen inzwischen Untersuchungen vor, die ausgehend von der Formierung gesellschaftspolitischer und kultureller Diskurse und Praktiken der „Stalin-Ära" Parallelen und Unterschiede zu (z.T. gleichlautenden) Konzepten in anderen Gesellschaften herausgearbeitet haben.76 Vergleichende Studien zu Urbanisierung, Städtebau und Architektur beschränken sich aber zum Teil noch heute auf die „blockinterne" Perspektive.77 Sie gehen in der Regel von einem sowjetischen Kolonialismus aus und betonen die Austauschbarkeit der „sozialistischen" Baukonzepte von Berlin bis Beijing, ohne die jeweils spezifischen Wechselwirkungen mit nicht-sozialistischen Ländern zu berücksichtigen.78 Die gemeinsame Sprache des „Aufbaus", 73
Stephen Kotkin: Magnetic Mountain. Stalinism as a Civilization, Berkeley 1995. „Stalinism was not just a political system, let alone the rule of an individual. It was a set of values, a social identity, a way of life", so eine der Grundthesen Kotkins : Magnetic Mountain, S. 23. 75 Die englische Übersetzung seines Buchs ist erst mehr als zwei Jahrzehnte später erschienen: Vladimir Paperny: Architecture in the Age of Stalin. Culture Two, Cambridge 2002; siehe dazu auch die Erläuterungen von Boris Groys: Zur „Kultur 2" von Vladimir Paperny, in: Peter Noever (Hrsg.): Tyrannei des Schönen. Architektur der Stalin-Zeit, München 1994, S. 37. 76 Vgl. dazu u.a. die Beiträge in Wolfgang Emmerich/Carl Wege (Hrsg.): Der Technikdiskurs in der Hitler-Stalin-Ära, Stuttgart 1995; und Schivelbusch: Entfernte Verwandtschaft. 77 Seinerzeit wegbereitend war hier der Sammelband von Richard Antony FrenchfF.E. Ian Hamilton (Hrsg.): The Socialist City. Spatial Structure and Urban Policy, Chichester 1979. 78 So z.B. Greg Castillo: Cities of the Stalinist Empire, in: Nezar AlSayyad (Hrsg.): Forms of Dominance. On the Architecture of the Colonial Enterprise, Aldershot 1992, S. 261-287; 74
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2. „Stadt im Aufbau"
in die während der frühen 50er Jahre nicht allein die „nachholende Stalinisierung" der „Volksdemokratien" Ost- und Mitteleuropas und der VR China gekleidet war, ist als analytischer Zugang zur Städtebaugeschichte des vergangenen Jahrhunderts dabei bisher nicht berücksichtigt worden. Bevor auf diesem Weg ein Befund über Bezugnahmen und Transferlinien im Städtebau der 50er Jahre erstellt werden kann, sollen die beiden folgenden Abschnitte noch einmal einen Eindruck von den Stadt- und Gesellschaftsvorstellungen vermitteln, die in der Sowjetunion von den frühen 1920er Jahren bis zum Ende der „Stalin-Ära" kursierten. Mit dieser Überblicksdarstellung wird aufgezeigt, wie problematisch es ist, die Stadtkonzepte für die Neuen Menschen der Sowjetunion und die Inhalte des sowjetischen „Aufbaus" mit eindeutigen politisch-ideologischen Etikettierungen zu versehen. Diese Ambivalenzen gilt es zu berücksichtigen, wenn es im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit um die Frage nach dem Verhältnis zwischen offiziell propagierten Vorbildern und verdeckten Referenzgrößen fur den chinesischen, Aufbau" geht.
2.2.1 Auf der Suche nach „sozialistischen Siedlungsformen ": Städtbauliche Konzepte der 1920er und 1930er Jahre
„Into Siberian taiga, the Kirgiz steppe, everywhere, the automobile will penetrate. [...] By 1932 we shall have 138 airplanes. It will then be possible to fly from Moscow to Vladivostok and Tashkent, from Novosibirsk to Berlin. Every future city will be a workers' village [...] factories and unions of factories will not be brought together in one center as at present: they will be distributed throughout the entire country according to a rational plan. [...] Socialism is no longer a myth, a fantasy of the mind. We ourselves are building it."79
Diese kurze Textpassage aus einem sowjetischen Kinderbuch von 1932 läßt sich als Quintessenz der Erwartungen lesen, die sich zwischen Oktoberrevolution und dem Ende des Ersten Fünfjahrplans auf die „Städte der Zukunft" gerichtet haben: Eine Welt modernster Technologie überzieht das gesamte Territorium der Sowjetunion. Riesige Distanzen schnurren durch den massenhaften Einsatz von Automobilen und Flugzeugen zusammen. Die Städte neuen Typs, hier als „Arbeiterdörfer" bezeichnet, sind zusammen mit den Industriebetrieben gleichmäßig über das Land verteilt.80 Die Realisierung des umfassenden stellenweise zeigt sich diese Tendenz auch bei Aman: Architecture und Ideology in Eastern Europe. 79 M. Ilyn: The Story of the Five-Year-Plan, Moskau 1932, zitiert nach Bliznakov. Realization of Utopia, S. 145f. 80 Der chinesische Ausdruck „Arbeiterdorf' (gongren xincun Χ λ ί ί # ) bezeichnet in den frühen 50er Jahren keine kompletten Städte, sondern neue, in sich geschlossene Wohngebiete, die zumeist einer bestimmten Arbeitseinheit (danwei) zugeordnet waren. Die Konzeptualisierung von Städten als Industriesiedlungen, wie sie im obigen Zitat anklingt, läßt sich jedoch auch mit dem gongren xincun-Begriff in Verbindung bringen. Vgl. dazu die Abschnitte 3.2.2 und 3.3.4.
2.2 Das schönere Gesicht der Moderne?
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„Bauprojekts" Sozialismus ist durch eine flächendeckende Industrialisierung und Urbanisierung vorgezeichnet. Und die „Stadt der Zukunft" rückt mit der Einbettung in dieses von Vernunft und Ordnung durchdrungene SozialismusBild aus dem Reich der Utopie, dem „Nirgend-Ort", in den Bereich des Möglichen.81 Fahndet man nach den Ursprüngen solcher Bilder, bilden die Revolution, die technischen Innovationen und die Rückständigkeit die Koordinaten, die den Verlauf frühsowjetischer Debatten um eine neue Kultur maßgeblich bestimmen. Vorstellungen von Neuen Menschen, neuen mentalen Verfaßtheiten, neuen Lebensweisen und neu gestalteten Lebensräumen sind in diesen Diskussionen untrennbar miteinander verwoben und bedingen sich wechselseitig. Sozialtheoretiker, Ökonomen, Künstler, Mediziner, Architekten und Ingenieure bringen gleichermaßen ihre Zukunftsentwürfe in die Debatten ein. Ihr gemeinsamer Grundtenor ist die Überwindimg der „Rückständigkeit" auf allen Ebenen des Daseins: Ausgelöst durch das Moment der Revolution, die zu Beginn der 1920er Jahre noch als Auftakt zur Weltrevolution gefeiert wurde, sollten die Bürger Sowjetrußlands umgehend in den Genuß der fortschrittlichsten Technologien ihrer Zeit kommen. Das Verschmelzen von kommunistischer Ideologie und technischem Fortschritt, so das verbreitete Credo, würde eine Transformation des menschlichen Lebens insgesamt bewirken.82 In den utopisch anmutenden Stadt- und Architekturkonzeptionen aus den frühen 1920er Jahren erscheint die stürmische Entwicklung von Wissenschaft, Technik und Industrie im Sozialismus bereits als fait accompli. Ihre Urheber erschufen mit ihren Entwürfen Symbole jenes neuen sozio-politischen Systems, das eine Welt der Fülle und des Glücks fiir jedermann in greifbare Nähe rückte - Vorstellungen, die von Seiten der Parteiführung durch entsprechende Propaganda genährt wurden. 83 Die grundlegenden Rahmenbedingungen für solche Zukunftsbilder definierten die Bolschewiki unmittelbar im Zuge der Oktoberrevolution. Im Frühjahr 1918 ergingen Dekrete zur Verstaatlichung des Bodens und zur Abschaffung des Privateigentums in den Städten. Damit war erstmals eine der zentralen Forderungen des internationalen Reformstädtebaus auf einer gesamtstaatlichen Ebene erfüllt. Für die Städte Sowjetrußlands, so die Wahrnehmung im In- und Ausland, schienen sich Chancen auf eine umfassende Neugestaltung zu eröffnen. 81
Zur visuellen Ausgestaltung vergleichbarer Szenarien im chinesischen „Aufbau"-Diskurs siehe die Bildbeispiele in Abschnitt 3.1.2. 82 Vgl. dazu auch die Darstellung von Klaus Gestwa: Technik als Kultur der Zukunft. Der Kult um die „Stalinschen Großbauten des Kommunismus", in: Geschichte und Gesellschaft 30/1, 2004, S. 37-73, hier S. 40: „Die marxistische Ideologie sah in ihrer Moskauer Lesart die gesellschaftliche Entwicklungsstufe (Produktionsverhältnisse) an ein bestimmtes Niveau der technisch-industriellen Entwicklung (Produktivkräfte) gebunden. Erfolge in Wissenschaft und Technik garantierten demnach sozialen Fortschritt und lösten bestehende gesellschaftliche Widersprüche auf." 83 Vgl. hierzu Bliznakov. Realization of Utopia, S. 146f.
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2. „Stadt im Aufbau"
In den Revolutionsjahren vollzog sich ein allmählicher Wandel im Verhältnis von Stadt, Staat und Gesellschaft, auch wenn zunächst noch wenige bauliche Resultate davon zeugten. Die Stadt, von der staatlichen Obrigkeit vormals als destabilisierender Faktor für die öffentliche Ordnung wahrgenommen, wurde durch das politische Programm der Bolschewiki rehabilitiert.84 Urbanisierung war darin mit ökonomischem und sozialem Fortschritt konnotiert, und die Stadt wurde zu einer Festung der neuen Ordnung (gegenüber dem rückständigen Dorf) stilisiert.85 Unbedingt zu erwähnen ist, daß es dabei jedoch nicht um ein abstraktes Ideal von Urbanität ging: Im Zentrum der von den Bolschewiki diskutierten Urbanisierung standen die Industrialisierung und der technische „Fortschritt". Entsprechend wurden Städtebau und Urbanisierung nahezu ausschließlich in industriellen Termini gedacht. Dieses Stadtverständnis, von dem bereits die Entwürfe Tony Garniers zur Jahrhundertwende zeugen, findet sich zeitversetzt und in übersteigerter Form schließlich auch im „Aufbau"-Diskurs der 50er Jahre in der Volksrepublik China wieder. Am plakativsten zeigt sich am vielzitierten Diktum Lenins („Kommunismus = Sowjetmacht + Elektrifizierung des ganzen Landes"), wie zentral der urbanindustrielle Entwicklungsprozess für das ideologische Gerüst des neuen Staates war. Auf dem 8. Parteikongress der KPdSU vom 22.-29. Dezember 1920 wurde ein umfassendes Programm zum industriellen Aufbau der Sowjetunion verabschiedet. Den Ausgangspunkt dazu bildete der „Staatsplan zur Elektrifizierung Rußlands" (GOÊLRO: Gosudarstvennyjplan èlektrifikacii Rossii), der die Errichtung von 30 Elektrizitätswerken samt dazugehörigen Wohnsiedlungen für die beschäftigten Arbeiter vorsah.86 Die Elektrifizierung eröffnete aus Sicht der sowjetischen Kulturplaner nicht anders als zwei Jahrzehnte zuvor in westeuropäischen Kontexten - ganz neue Zukunftsperspektiven. 87 Solche technischen „Quantensprünge" schienen zu bestätigten, daß der Übergang zum Sozialismus schon recht bald vollzogen 84
„The new Soviet government inherited cities whose form and fabric were much shaped by essentially pre-urban cultural values, values which reflected little commitment to the city as a place." James H. Bater: The Soviet city. Continuity and change in privilege and place, in: John Agnewl'John MercerlDavid Sopher (Hrsg.): The City in Cultural Context, Boston 1984, S. 134-162, hier S. 139. Seinen Angaben zufolge lag der Anteil der städtischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung der Sowjetunion noch 1926 bei nur ca. 18%. Siehe dazu auch die neuere Überblicksdarstellung von Manfred Hildermeier: Die russische Stadt - Subtyp europäischer Entwicklungen?, in: Friedrich LengerlKlaus Tenfelde (Hrsg.): Die europäische Stadt im 20. Jahrhundert. Wahrnehmung - Entwicklung - Erosion, Köln/Weimar/Wien 2006, S. 45-60. 85 Vgl. Baier. The Soviet city, S. 139; ebenso Kotkin: Magnetic Mountain, S. 18ff: Er verdeutlicht hier die Bezüge zu den Ideen der Aufklärung, in denen die Stadt als vornehmste Schöpfung der menschlichen Zivilisation dargestellt wird. 86 Vgl. Bliznakov: Realization of Utopia, S. 149f. 87 Auch die Metaphorik der „Aufklärung" durch Elektrifizierung, geme symbolisiert durch die Glühbirne, bildet eine Konstante in den Modernisierungsdiskursen von Westeuropa bis nach China. Siehe dazu Beate Binder. Elektrifizierung als Vision. Zur Symbolgeschichte einer Technik im Alltag, Tübingen 1999; und Abschnitt 3.4.2 dieser Arbeit.
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werden könnte - eine Erwartung, die auch der Suche nach entsprechenden Lebensformen Nahrung gab. Wie lebte der Neue Mensch? Wodurch sollte sich seine Lebensumwelt auszeichnen? Welcher Typ von Stadt oder Siedlung konnte den Anforderungen der neuen Gesellschaft gerecht werden? Aus der Fülle der Visionen von einer „lichten Zukunft", die während der frühen zwanziger Jahre in visueller, literarischer oder theoretischer Form geäußert wurden, sollen hier nur Grundtendenzen nachgezeichnet werden. Sie materialisierten sich schließlich nicht zuletzt in den städtebaulichen Entwürfen und Experimenten der Zeit. Innerhalb der akademischen und publizistischen Auseinandersetzungen um eine allgemeingültige Konzeption der „sozialistischen Siedlungsweise" lassen sich laut dem Architekturhistoriker Chan-Magomedov bis in die frühen 1930er Jahre zwei Phasen erkennen.88 In erster Linie unterschieden sich diese zwei Diskussionszeiträume allerdings durch den Wechsel der politisch-ökonomischen Rahmenvorgaben. Im Kern ging es schlußendlich beide Male um die bereits genannten Grundfragen: um das Verhältnis zur Großstadt, um die Möglichkeiten zur Aufhebung des Stadt-Land-Gegensatzes (und damit implizit um eine Überwindung der „Rückständigkeit") sowie um die „rationale Gestaltung" einer neuen Lebensweise. Im Mittelpunkt dieser Debatten standen die Konzeptionen für neue Typen von Wohnhäusern. Bereits kurz nach der Revolution versuchten spontan entstandene Kommunehaus-Projekte in Moskau einen Vorgeschmack auf das Leben in einer klassenlosen Gesellschaft und das Ethos des Kollektiven zu geben.89 Hier wurde im Kern das vorweggenommen, was später im Zeichen von GOÈLRO und Neuer Ökonomischer Politik (NÉP: Novaja èkonomiceskaja politika, 1921-28) umgesetzt werden sollte. Ein Teil der „Kulturplaner" sah nicht länger den Individualhaushalt als gesellschaftliche Grundeinheit an, sondern das Kollektiv. Entsprechend verfügten die mehrgeschossigen „Sektions-" und Kommunehäuser, die seit Mitte der 1920er Jahre entworfen wurden, über abgeschlossene Wohneinheiten, aus denen bestimmte Haushaltsfunktionen in gemeinschaftliche und kommunale Versorgungseinrichtungen ausgegliedert waren.90 Die ideologische Befürwortung dieser dem Kollektivismus verpflichteten Wohntypen, die im Laufe der Zeit durch Großküchen, Großwäschereien, Badeanstalten, Sport-, Freizeitund Bildungseinrichtungen komplettiert werden sollten, erhielt durch die technischen Innovationen der Zeit zusätzliche Legitimation: Die Errungenschaften der Elektrifizierung, rationalisierter Bauweisen und Standardisierungen trugen in den zeitgenössischen Beschreibungen nicht selten den Glorienschein einer
88 Zu den folgenden Ausführungen siehe Selim Chan-Magomedov: Gartenstädte und Probleme des Arbeiterwohnungsbaus, in: Institut für Auslandsbeziehungen Stuttgart (Hrsg.): Avantgarde I 1900-1923. Russisch-sowjetische Architektur, Stuttgart 1991, S. 96-107. 89 Siehe dazu Coltoti: Moscow, S. 222f. 90 Vgl. die Planungsskizzen zu Sektions- und Kommunehaus in: Institut für Auslandsbeziehungen Stuttgart (Hrsg.): Avantgarde II, S. 152-163.
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„gesetzmäßigen Entwicklung" hin zum Sozialismus. Die ideologische Überhöhung des Kommunehaus-Modells war allerdings auch schlicht aus der Situation des Mangels heraus geboren, wie Sheila Fitzpatrick beschreibt: „The term ,communal' has an ideological ring, summoning up an image of collective socialist living. But the reality was very different [...]. For a brief period during the Cultural Revolution at the late 1920s and early 1930s, radical architects favored communal apartments for ideological reasons and built new workers' housing with shared kitchens and bathrooms. [...] Except in the new industrial cities like Magnitogorsk, however, most communal apartments of the 1930s were converted from old single-family apartments [...] and the main reason for conversion was practical: housing shortage."91
Parallel dazu existierten Vorstellungen, die dem internationalen Reformstädtebau seit der Jahrhundertwende verbunden waren. Namentlich das Gartenstadt-Konzept, das in Rußland bereits im Jahrzehnt vor der Revolution fur die Konzeption und den Bau neuer Stadtrandsiedlungen herangezogen wurde, genoß während der ersten Jahre nach der Revolution „als soziales Programm fur die sozialistische Siedlung der Zukunft" in unterschiedlicher Auslegung große Popularität.92 „Die alte Stadt mußte zusammen mit der alten politischen und wirtschaftlichen Gesellschaftsordnung absterben. An ihrer Stelle müssen neue Städte errichtet werden, die der Gesellschaftsordnung würdig sind, in deren Epoche sie entstanden. Solche Städte werden die Arbeiter-Gartenstädte sein",
schrieb beispielsweise der Journalist P. Kozanyj im Juni 1922, wenige Tage vor Gründung der sowjetischen „Gesellschaft für Gartenstädte", in der Proveía.93 Mit dem Gartenstadtmodell, so seine Verfechter, war die ersehnte Überwindung des Stadt-Land-Konflikts in Sicht. Sowohl die alten, „ungesunden", kapitalistisch geprägten Großstädte als auch das „rückständige Dorf' sollten auf Dauer von kleineren, „gesunden" und sozialverträglichen „Agrostädten" abgelöst werden und auf diese Weise eine Verbindung zwischen Industrie und Landwirtschaft herbeiführen.94 Konzeptuelle Kritik am Gartenstadtmodell wurde aber in Bezug auf den darin favorisierten Wohnungstyp des Einfamilienhauses laut, den die meisten Gartenstadt-Befürworter als idealen Ort fur die physische und psychische Regeneration der Arbeiter ansahen. Ihre Gegner konterten, daß damit wesentliche Grundsätze der neuen Ordnung untergraben würden:
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Fitzpatrick. Everyday Stalinism, S. 47. Vgl. Coltoti·. Moscow, S. 221; und Chan-Magomedov: Gartenstädte, S. 97. 93 Zitiert nach Chan-Magomedov: Gartenstädte, S. 100. 94 Eine zentrale Rolle spielt die Naturnähe in der hygienischen und sozialen Begründung dieses Planungsmusters. Nikolaij Semaskov, der dem Büro der sowjetischen GartenstadtGesellschaft vorstand, war bezeichnenderweise zugleich Leiter des Volkskommissariats fur Gesundheit. Er fertigte 1925 auch eine russische Übersetzung von Camillo Sittes StädtebauHandbuch Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen (1889) an.
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„Der Gedanke des Baus von Einfamilienhäusern, der von der Gesellschaft für Gartenstädte propagiert wird [...], kann aufgrund seiner reaktionären Wurzel und deutlich ausgedrückten kleinbürgerlichen Ideologie Schaden anrichten und den Pozeß der sozialistischen Entwicklung des Landes bremsen."95
Ungeachtet der publizistischen Schärfe gestalteten sich die inhaltlichen Trennungslinien zwischen den Vertretern der verschiedenen Stadtbaumodelle dennoch alles andere als starr. Personelle Querverbindungen und konzeptionelle Überschneidungen waren an der Tagesordnung. Vor allem aber stand hinter beiden Positionen der Anspruch, die räumlichen und gestalterischen Voraussetzungen für eine neue „Kultur" und „Lebensweise" der Sowjetbürger zu schaffen, die die politischen Umwälzungen seit 1917 ergänzen und vervollständigen würden. Im Grundtenor sind die hier vorgebrachten Argumente deckungsgleich mit den Szenarien, die sich etwa zur selben Zeit zwischen den Anhängern der Lebensreformbewegung und den Vertretern des Neuen Bauens und des rationalen Städtebaus vor einem anders gearteten gesellschaftspolitischen Hintergrund in Westeuropa abspielen. Ähnlich ist auch der Fokus der realisierten Bauprojekte in dieser Zeit gelagert. Im Vordergrund standen während der ersten Hälfte der 1920er Jahre die pragmatischen Bemühungen, die Mißstände in den bestehenden Städten abzumildern, d.h. vor allem durch den Bau neuer Wohnquartiere in den Stadtrandbezirken von Leningrad und Moskau.96 Umfassender nahmen sich demgegenüber nur die Planungen zur repräsentativen „Umgestaltung" nicht-russischer Republikhaupstädte an der Peripherie der Sowjetunion aus.97 Die Suche nach der idealen „sozialistischen Siedlungsform" konzentrierte sich zunächst auf die neuen Arbeitersiedlungen, die im Zusammenhang mit den Industrieanlagen der NÈP entstanden. Aber die „Realisierung der Utopie" kam im Städtebau, wie Milka Bliznakov anschaulich macht, nicht ohne westliche Technologie aus. Nach den zerstörten Hoffnungen auf eine bevorstehende Weltrevolution verlegte sich die sowjetische Führung unter Stalin ab Mitte der 1920er Jahre programmatisch auf den „Aufbau des Sozialismus in einem Land". Der Zweiteilung der Welt, ein imperialistischer Block mit den USA und 95
Dies prangerte die einflußreiche Bauarbeiter-Gewerkschaft an, der von staatlicher Seite das Statut der „Gesellschaft fur Gartenstädte" zur Begutachtung vorgelegt worden war. Ihre Sprecher schlugen stattdessen die Gründung einer „Gesellschaft zur Förderung des rationalen Städtebaus" vor. Zitiert nach Chan-Magomedov: Gartenstädte, S. 101; demgegenüber werden zu Beginn der 1930er Jahre die „bürgerlichen" Attribute der „Komfortwohnung", d.h. Küche, Bad und Zentralheizung, apodiktisch zum Inbegriff sowjetischer Fortschrittlichkeit und als positives Gegenbild zu den Lebensumständen der Arbeiter in den kapitalistischen Ländern Westeuropas aufgebaut. Vgl. dazu Lazar Kaganowitsch: Die sozialistische Rekonstruktion Moskaus und anderer Städte der UdSSR, Hamburg 1931, S. 35f. 96 Vgl. dazu auch Diana Zitzmann'. Neuer Mensch - Neues Wohnen? Leningrader Avantgarde-Architektur 1929-1931, in: Alexandra Gersiner/Barbara KönczöllJanina Nentwig (Hrsg.): Der Neue Mensch. Utopien, Leitbilder und Reformkonzepte zwischen den Weltkriegen, Frankfurt a.M. 2006, S. 155-170. 97 Mehr dazu bei Castillo·. Cities of the Stalinist Empire, S. 261-287.
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Großbritannien an der Spitze, die das anti-imperialistische Lager unter Führung der Sowjetunion „einkreisten" und bedrohten, so erläuterte Stalin vor dem 14. Parteikongress im Dezember 1925, könne dauerhaft nur durch eine tiefgreifende ökonomische Transformation begegnet werden. Der (von industriellen Importen abhängige) Agrarstaat müsse sich mit erhöhtem Tempo zum autarken Industrieland entwickeln, ein Prozeß, dem das „internationale Kapital" nicht einfach zusehe, sondern den es auf jede erdenkliche Art zu sabotieren suche.98 Paradox mußte daher anmuten, daß zur Überwindung der ökonomischen „Rückständigkeit" des Landes - das Generalthema dieser „Aufbau"-Phase der Sowjetunion - ein gezielter Technologietransfer aus den als feindlich stigmatisierten, kapitalistischen Weltregionen eingeläutet wurde. Das Spektrum der Maßnahmen reichte vom Abonnement westlicher Fachzeitschriften über die Entsendung sowjetischer Studiendelegationen in die Industrieländer bis hin zur direkten Beauftragung ausländischer Firmen mit sowjetischen Bauprojekten und der Anwerbung ausländischer Fachleute zur Arbeit in der Sowjetunion. Nicht von ungefähr erreichte während der NÈP auch der sowjetische Amerikanismus seinen Höhepunkt. Im Zentrum des Interesses stand das amerikanische Ingenieurwesen, sowohl in technischer Hinsicht, als auch unter dem Aspekt einer effizienteren „Lebensführung": Analysen zur Baustruktur der Golden Gate Bridge, der New Yorker Wolkenkratzer, zu Fabrikanlagen oder Kanalund Bewässerungssystemen, um nur einige Beispiele zu nennen, erschienen nach 1922 in einer Reihe von Übersetzungen." Als Grundlagen fur den technischen und ökonomischen Fortschritt Amerikas - einem Image, dem seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert weltweit mit einer Mischung aus Faszination und Mißtrauen begegnet wurde - waren die rationalisierten Produktionsmethoden identifiziert worden. Taylorismus und Fordismus nahmen in der Sowjetunion der 1920er Jahre vorübergehend den Charakter einer ideologisch kompatiblen Weltanschauung an und prägten, wie schon das Eingangszitat gezeigt hat, die Vorstellungen von der künftigen Lebensweise der Sowjetmenschen. Amerikanisches Tempo in Kombination mit „bolschewistischem Geist", so lautete die Idealvorstellung eines Imports „des Besten aus westlicher Wissenschaft und Technologie" losgelöst von seinen unliebsamen politischen und kulturellen Kontexten.100 Das selektive „Lernen von Amerika" wird im Zuge des ersten Fünfjahrplans sogar noch verstärkt. In Architektur und Stadtplanung lobte die 98
„To transform our country from an agrarian one into an industrial one capable with its own powers of producing essential machinery - that is the essence, the basis of our general line." Stalin am 23.12.1925, zitiert nach Kotkin: Magnetic Mountain, S. 29; zur Übertragung der „Einkreisungs-Hysterie" auf die Innenpolitik und den daraus resultierenden Charakteristika der sowjetischen Industrialisierung während der 1930er Jahre vgl. Abschnitt 2.2.2. 99 Siehe dazu Bliznakov: Realization of Utopia, S. 151-154. 100 „But the acquisition of the modem technology from the capitalists was promoted as temporary and, moreover, undertaken on terms that assured the country's sovereignity. What was therefore a compulsary arrangement could be interpreted [...] as a clever ploy to have the capitalists' participate in the sowing of their own demise." Kotkin: Magnetic Mountain, S. 31.
2.2 Das schönere Gesicht der Moderne?
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sowjetische Führung zwischen 1928 und 1931/32 internationale Wettbewerbe aus, zu denen namhafte Vertreter des Modernismus ihre Beiträge einreichten. Neben amerikanischen Architekten und Ingenieuren waren es vor allem Deutsche, die sich am städtebaulichen „Aufbau des Sozialismus" in der Sowjetunion beteiligten. Bruno Taut beispielsweise gehörte zu denjenigen, die die Sowjetunion zum „Land des Neuen Bauens" erkoren hatten: ein Land, in dem die langgehegten Ideale des (ästhetischen) Modernismus, die Forderungen nach „Einfachheit, Klarheit und Logik", ihre konsequente bauliche Umsetzung finden würden. Die Vergesellschaftung des Bodens, die „Macht in den Händen der Arbeiterschaft" bildeten nicht nur seiner Einschätzung nach die Basis fur eine ungehinderte Entfaltung moderner städtebaulicher Leitbilder. Die Liste illustrer und weniger bekannter Namen ist lang und nicht immer ist heute noch klar zuzuordnen, wer an welchen Projekten beteiligt war.101 Aber gerade daran zeigt sich, daß die Arbeit der ausländischen Experten, Techniker, Ingenieure und Planer weitreichendere Dimensionen für die Sowjetunion hatte. Ihre Bedeutung mißt sich nicht (allein) an ihren jeweiligen Einzelleistungen für spezifische Industrie- und Wohnbauten, sondern vielmehr an der Tatsache, daß die von ihnen entworfenen Konstruktionen und Bautypen auf Massenfertigung ausgelegt waren. Auch nachdem die ausländischen Experten im Verlauf der 1930er Jahre die Sowjetunion verlassen hatten, konnten ihre Entwürfe beliebig reproduziert werden. Ihre Pläne, Konstruktionszeichnungen und Erläuterungen hatten sie in sowjetischem Besitz zurücklassen müssen. Sie bildeten das technische Fundament für die Verwirklichung von Sozialismus und Kommunismus. Die Gegenseite zu plagiieren wurde zum Grundprinzip des sowjetischen „Aufbaus".102 Zunächst aber verhieß die Veröffentlichung des ersten Fünfjahrplans im Frühjahr 1929 ein rasches und „planmäßiges" Erreichen langgehegter Träume. Flankiert war der wirtschaftspolitische Kurswechsel von einschneidenden Veränderungen auf gesellschaftlicher und kultureller Ebene.103 Ausgehend von den Vorgaben für eine forcierte Industrialisierung waren die sowjetischen Ingenieure, Planer und Architekten nun erstmals vor die praktische Aufgabe gestellt, über hundert gänzlich neue Städte zu projektieren. In vielen Fällen wird der Entstehungskontext dieser Städte schon aus der Namensgebung ersichtlich. Avtostroij bei Niznij Novgorod, Traktorstroij bei Charkov, 101 Stellvertretend seien hier nur einige der bekanntesten Namen genannt: Hannes Meyer, bis dato Leiter des Bauhauses in Dessau, geht 1930 mit einigen seiner Studenten als „Rotfront-Brigade" in die Sowjetunion. Im Gefolge von Ernst May, Stadtbaurat und Visionär des „Neuen Frankfurt", siedeln Hans Schmidt, Mart Stam, Gustav Hassenpflug, Walter Schüttte und Grete Schütte-Lihotzsky ebenfalls 1930 nach Moskau über und werden vor allem mit der Planung von Wohnsiedlungen fur neue Industriestädte betraut, allen voran fur Magnitogorsk. Genauer dazu Kopp·. Foreign Architects in the Soviet Union, S. 176ff. 102 Wie Bliznakov darlegt; vgl. dies.: Realization of Utopia, S. 158f. 103 Vgl. die Beiträge in Sheila Fitzpatrick (Hrsg.): Cultural Revolution in Russia. 1928— 1931, Bloomington 1984; zu den Kontexten des ersten Fünfjahrplans siehe auch Kotkin: Magnetic Mountain, S. 29fF.
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2. „Stadt im Aufbau"
die Staudamm-Stadt Dnepropetrovsk und das Stahlkombinat Magnitogorsk in den Ausläufern des Urals standen in erster Linie für die Produktion und für eine an die Produktion geknüpfte, neue Lebensweise. Dementsprechend stellte die „Produktion" auch den Fixpunkt für die Planung und die Gestaltung der dazugehörigen Städte dar. Nicht von ungefähr kam es in dieser Zeit zu einem zweiten publizistisch ausgetragenen Höhepunkt in der Kontroverse um die angemessene Konzeption einer „sozialistischen Siedlungsweise".104 Erneut wurde gefragt, was die Charakteristika der „sozialistischen Stadt" ausmachte. Was unterschied sie, deren industrielle „Herzstücke" größtenteils auf die Entwürfe ausländischer, Ingenieure zurückgingen, von den Industriestädten des Kapitalismus? In der Forschung werden die städtebaulichen Diskussionen der Jahre 1929-1930 vielfach auf die theoretischen Positionen des Ökonomen Leonid Sabsovic gegenüber denen des Sozialtheoretikers Michail Ochitovic unter den Schlagworten von „Urbanismus" und „Desurbanismus" reduziert. Zurecht haben bereits diverse Autoren angemerkt, wie irreführend und unzutreffend diese begriffliche Polarisierung ist, die in erster Linie aus der zeitgenössischen Publizistik übernommen wurde.105 Denn legt man dem Adjektiv „urban" die Definition von „großstädtisch" und „zentrumsfixiert" zugrunde, wird deutlich, daß sowohl die Konzeption gleichmäßig verteilter Kleinstädte (Sabsovic) als auch die Idee linearer Stadtbänder (Ochitovic) eine, wie Frederick Starr es formuliert hat, „antiurbane Vision der Zukunft" darstellte.1M Beides stand in bemerkenswertem Kontrast zur offiziellen sowjetischen „Aufbau"-Programmatik des ersten Fünfjahrplans. Zwar sollte auch der Wirtschaftsplan eine räumliche Umverteilung der Produktion beim Ausbau der Schwerindustrie herbeiführen, aber der Primat der Produktion wies der Schaffung großer, urban-industrieller Zentren eindeutige Priorität zu - eine Priorität, die dem Ideal einer „Auflösung der Großstadt" entgegenstand.107 Den Debatten um die „richtige" Konzeption 104 „As it was, a subjective fact - the Cultural Revolution within Stalin's great break - took the urban debate to a full roil in 1929-1930. In no field was millenarianism more rampant than in city planning. At one anothers throat over particulars, all involved shared a passion for reifying in local communities the state socialist values being pursued in the five-year plan for the national economy." Colton: Moscow, S. 238ff. Die von Colton hier unterstellte Übereinstimmung der „sozialistischen Werte" zwischen den Architekten, den Planern und dem Staat trifft sicher nur in Teilen zu. 105 Siehe ζ. B. Frederick Starr: Visionary Town Planning During the Cultural Revolution, in: Fitzpatrick (Hrsg.), Cultural Revolution in Russia. 1928-1931, Bloomington 1984, S. 207240; und Selim Chan-Magomedov. Schöpferische Konzeptionen und soziale Probleme in der Architektur der sowjetischen Avantgarde, in: Institut für Auslandsbeziehungen Stuttgart (Hrsg.): Avantgarde II 1924-1937. Sowjetische Architektur, Ostfildern-Ruit 1993, S. 10-33, 20f. Chan-Magomedov bevorzugt es deshalb, von einer „kompakten" und einer „linearen Siedlungsweise" zu sprechen. loe Vgl Starr. Visionary Town Planning, S. 210. 107 Lorenz Erren hat hervorgehoben, daß ,,[d]ie neuen Stadtideen [...] in der Öffentlichkeit und im Ausland großes Interesse" fanden und nicht selten als offizielle sowjetische Baudoktrin vorgeführt wurden. Zurückzuführen sei dies unter anderem auch auf die Positionen, die prominente Theoretiker wie Miljutin, Sabsovic und Ochitoviò zeitweise in den Institutionen des sowjetischen Bauwesens bekleideten. Vgl. Lorenz Erren: Die großen Industriebauten
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2.2 Das schönere Gesicht der Moderne?
einer sozialistischen Siedlungsweise gebot schließlich die sowjetische Führung Einhalt. Gleichsam „per Dekret" wurden alle Städte aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Sowjetunion und der dort herrschenden Produktionsverhältnisse als „sozialistisch" klassifiziert, wie Lazar Kaganovic, einer der Chefideologen der Partei, in seiner Rede vor dem Plenum des Zentralkomitees der KPdSU im Juni 1931 bekanntgab.108 Gleichzeitig war dies von seiten eines Parteisprechers die erste explizite Befürwortung der industriebasierten Großstadt, wobei diese Orientierung bereits in den ökonomischen Vorgaben seit 1929 zunehmend deutlicher wurde. Die „sozialistischen Städte", und das hieß: die neuen Zentren der Schwerindustrie, nicht dezentral angelegte Band- oder Kleinstädte, sollten im Verlauf der 1930er Jahre gegenüber dem „kleinbürgerlichen Dorf' (Stalin) die Führungsrolle übernehmen. Sie würden die Sowjetunion - ihrem Selbstverständnis nach der in politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht fortschrittlichste Staat der Welt - innerhalb kürzester Zeit auch auf wissenschaftlich-technischem Gebiet auf die „Höhe der Zeit" katapultieren.109 Diesen Alleinvertretungsanspruch einer besseren Moderne durch die Gesellschaftssysteme des Sozialismus und Kommunismus hat Zygmunt Bauman wie folgt zusammengefaßt: „Socialism found nothing wrong with the project of modernity. All that was wrong was the outcome of the capitalist distortion.[...] Between socialism and modernity there was no quarrel of principle. Throughout its history, socialism was modernity's most vigorous and gallant champion. It also claimed to be its only true champion. [...] Capitalism was an unnecessary deflection from the path of Reason. Communism was a straight road to its kingdom. Communism, Lenin would say, is Soviet power together with the electrification of the whole country': that is, modern technology and modern industry under a power conscious of its purpose in advance and leaving nothing to chance. Communism was modernity in its most determined mood and most decisive posture; modernity streamlined, purified of the last shred of the chaotic, the irrational, the spontaneous, the unpredictable."110
2.2.2 Typisierte Ewigkeit: Die „sozialistische der Stalinzeit, 1932-1954
Stadt"
„In Bestehendes wird massiv eingegriffen, alte Stadtkerne werden besetzt und umgestaltet, und neue Städte und Industriezentren geschaffen, wo einst Steppe war. Es gilt, die Umgestaltung der gesamten Gesellschaft als neue Bauaufgabe zu begreifen und für den ,neuen sowjetischen Menschen' eine Architektur des siegreichen Proletariats' in einem neuen Maßstab zu schaffen. Dieser globale Anspruch spiegelt sich sowohl in den
des ersten Fünfjahrplans und das Scheitern der „Sozialistischen Stadt", in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 50/4, 2002, S. 577-596, S. 577f. 108 Kaganowitsch: Die sozialistische Rekonstruktion Moskaus, S. 98f. 109 Vgl. ebd.; siehe außerdem Starr: Visionary Town Planning, S. 237f. 110 Bauman·. Modernity and Ambivalence, S. 264-267.
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Themen, die den Architekten von der Partei vorgegeben werden und die alle Lebensbereiche umfassen, als auch in dem utopischen Pathos, das alle Bauten numehr trägt. [...] Allen Großprojekten der Stalin-Ära gemeinsam aber ist, daß sie sich als prototypenhafte Demonstration stalinistischer Ideologie begreifen, als Manifestation eines glorifizierten Alltags und als festlich-freudige Inszenierung der Zukunft."1"
Mit der Frage, von welchen Akteuren der Wandel in der sowjetischen Kulturlandschaft der späten 1920er und frühen 1930er Jahre ausging und wie er zu verstehen sei, hatte einst Vladimir Paperay seine Untersuchung zur Architektur der Stalinzeit eröffnet. Er artikulierte damit sein Unbehagen an der damals gültigen Historiographie der „Epoche" des Sozialistischen Realismus, die der kommunistischen Partei, der Person Stalins und seinen Getreuen oder abstrakten „politischen Kräften" die alleinige Urheberschaft für die Veränderungen zuwies.112 Was aber hat die „neue Version der sozialistischen Utopie"113 so schwer fassbar gemacht? Worin unterschied sie sich von den vorhergegangenen Visionen einer „sozialistischen Umgestaltung" der Städte? Wer verlieh ihr Konturen und wer füllte sie inhaltlich aus?" 4 Wenn laut Peter Noever die „Umgestaltung der gesamten Gesellschaft" zu Beginn der Stalin-Ära „als neue Bauaufgabe" propagiert wurde, impliziert er damit das Vorliegen eines konkreten ideologischen Bauplans, der sich dem Betrachter der zeitgenössischen Bauprojekte leicht erschließen müßte. In gewissem Sinn liegt diese Position auf einer Linie mit den damaligen Ansprüchen der sowjetischen Führung: Einerseits sollten Architektur und Stadtplanung die Gesellschaft zu politisch-administrativen Zwecken gliedern und für deh Staat „lesbar" machen, andererseits die neue soziale und politische Ordnung für alle sichtbar repräsentieren. Dagegen ist einzuwenden, daß die vermeintlich neutrale „Lesbarkeit" der gebauten Umwelt in jedem Fall eine gute Kenntnis der vorherrschenden sozio-kulturellen Wertmaßstäbe voraussetzt. Paperny hat in diesem Zusammenhang von cultural literacy gesprochen. Ohne Kenntnis der zugrundeliegenden „Baupläne", d.h. der sozialen, ökonomischen und politischen Parameter, waren und sind die baulichen Entwürfe und Resultate der Stalin-Zeit kaum zu verstehen. In seinem Resümee über die Wahrnehmung 111 Peter Noever. Zum Thema. Architektur zwischen „Tyrannei der Unterdrückung" und „Tyrannei des Schönen", in: ders. (Hrsg.): Tyrannei des Schönen. Architektur der StalinZeit, München 1994, S. 1 lf, hier S. 12. 112 Als charakteristisch für solche Darstellungen nennt er die sprachlichen Ausweichmanöver (vorwiegend Passiv-Konstruktionen) der Historiker. Vgl. Paperny: Culture Two, S. xv-xx. 113 So die Formulierung von Andrej Ikonnikov: Architektur und Utopie, in: Peter Noever (Hrsg.): Tyrannei des Schönen. Architektur der Stalin-Zeit, München 1994, S. 28-36, hier S. 31. 114 Siehe dazu BodenschatzIPost (Hrsg.): Städtebau im Schatten Stalins. In der Gesamtbewertung des „architektonischen Umbruchs" werden jedoch auch hier wenig neue Erkenntnisse formuliert, vielmehr bietet dieser reich bebilderte und um zeitgenössische Dokumente ergänzte Sammelband eine übersichtliche Zusammenfassung des gegenwärtigen Forschungsstands.
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des Verhältnisses von Ideologie und Architektur in Osteuropa schreibt Anders Âman diesbezüglich: „Die Form kann nicht allein und aus eigener Kraft Träger von Ideen sein. Die Ideen können nicht aus der Form entstehen. Sie werden ihr von außen zugefugt, durch verbale Formulierungen und durch die praktische Funktion. Sie werden vom Bauherrn durch ihre Ansprüche bestimmt. Ohne die Stütze von Sprache und Funktion gibt es keinen Ideengehalt. [...] Auch wenn wir mit Hilfe von Ideologien eine ideologische Mitteilung in die Architektur hineinlesen, stützen wir uns in letzter Linie auf verbale Formulierungen.""5
Für die sowjetischen Zeitgenossen, so das Erklärungsmuster Papernys, machte sich der „Große Bruch" (velikij perelom) zu Beginn der 1930er Jahre daher nicht zuletzt im Wandel der kulturellen Lese- und Artikulationsfahigkeit" 6 bemerkbar. Nach seiner Auffassung waren für den „Bruch" nicht allein die Entscheidungen eines „allmächtigen" Stalin ausschlaggebend, sondern hier prallten zwei unterschiedliche „Kulturen" aufeinander, deren Vertreter zwar (noch) dieselbe Sprache benutzten, aber grundlegend Verschiedenes damit zum Ausdruck brachten.117 Für den sowjetischen Architektur- und Städtebaubetrieb wird dieser Zusammenprall von Denkwelten üblicherweise in den Gegensatzpaaren von Modernismus versus Neoklassizismus oder Avantgarde versus Sozialistischem Realismus thematisiert. Das erfaßt die Problematik jedoch nur an der Oberfläche. Waren die 1930er Jahre „das Ende der Moderne" in der Sowjetunion oder doch ihre konsequente Fortsetzung? Eine Revision der Revolution oder ihre Erneuerung? Die Perspektive auf den Stalinismus als zentral gesteuerte, gewaltsame „Umkehr" des Bisherigen läßt vor allem eines außer acht: Die Sichtweise derjenigen, die unter dem System gelebt und an ihm partizipiert haben. Für nicht unwesentliche Teile der Bevölkerung, so die Ergebnisse neuerer Mikrostudien, hielt der Stalinismus positive Identifikationsmuster bereit: Die Chance am „Aufbau" teilzuhaben ermöglichte eine Dauermobilisierung der Menschen. Zudem konnte der erste Fünfjahrplan der Sowjetunion als wissenschaftlich fundierte Garantie für materiellen Wohlstand, Glück, und sozialen Aufstieg dargestellt werden, wie Steven Kotkin beschreibt: 115 Âman: Die osteuropäische Architektur, S. 150; allgemeiner hatte der Stadthistoriker Spiro Kostof diesen Gedanken bereits einige Jahre zuvor formuliert: „Im Gegensatz zu der [...] verbreiteten Auffassung, daß Architektur und Stadtformen Kultur lesbar machen, bin ich der Überzeugung, daß diese Relation ausschließlich umgekehrt funktioniert: Je mehr wir über Kulturen und Gesellschaftsstrukturen in verschiedenen Epochen der Geschichte und Teile der Welt wissen, desto eher können wir Architektur entziffern.[...] Die äußere Gestalt einer Stadt bleibt neutral, solange sie nicht mit ihren spezifischen kulturellen Intentionen in Verbindung gebracht wird." Ders.: Das Gesicht der Stadt, S. lOf; ein Beispiel dafür, daß diese Erkenntnis häufig ausgeblendet worden ist, gibt die Schrift von Josef Umlauf. Vom Wesen der Stadt und der Stadtplanung, Düsseldorf 1951, S. 14: „Im Bilde der Stadt, ja schon im Grundriß allein, kann man lesen wie in einem geschichtlichen Dokument [...]". 116 Die von Kotkin geprägte Wendung „speaking Bolshevik" ist in diesem Zusammenhang schon zu einem feststehenden Begriff in der Osteuropa-Forschung geworden. Vgl. das gleichnamige Kapitel in Kotkin: Magnetic Mountain, S. 198-237. 117 Vgl. Paperny: Culture Two, S. xxv, lOf.
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„[M]uch of its propaganda appeal derived from a corresponding commitment to development, the acclaimed universal goal of civilization, and a grounding in science, the supreme language of modernity. [...] Soviet industrialization could be ,Utopian', in other words, precisely because it was scientific'." 118
Durch den Fünfjahrplan und vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise gelang es der Sowjetunion damit, sich nach innen und nach außen als modernes, progressives und dem Kapitalismus überlegenes System zu präsentieren.119 Der Plan stellte in Aussicht, daß im Verbund mit den „Großprojekten des Kommunismus" eine neue, wissenschaftlich perfektionierte Sowjet-Zivilisation entstehen würde. Die Standorte der geplanten Schwerindustrie, mit deren Errichtung sich die Sowjetunion ihre eigene Grundstoffindustrie schaffen wollte, wurden deshalb zugleich als Geburtsstätten der neuen Gesellschaft imaginiert. Hier würden modernste Technologien und der Marxismus-Leninismus, „the ultimate science of society" (Kotkin), ihre katalytische Wechselwirkung entfalten. Das international prominenteste dieser „Großprojekte" war der Bau des Stahlkombinats von Magnitogorsk in den südlichen Ausläufern des Ural zu Beginn der 1930er Jahre. Im Verbund mit dem Stahlwerk sollte die erste von Grund auf geplante „sozialistische Stadt" der Sowjetunion entstehen, eine neue, moderne Arbeiterstadt inmitten der Waldsteppe. Ihre positiven Charakteristika waren in erster Linie über die Ablehnung dessen definiert, was sich unter den Zeitgenossen als Bild der kapitalistischen Stadt verfestigt hatte. Dem Image von Enge, Dunkelheit, Schmutz und Elend wurde das Wunschbild einer wissenschaftlich fundierten und einheitlichen Stadtplanung entgegengehalten. Die künftige „Stadt des Sozialismus" war dementsprechend mit breiten, lichtdurchfluteten Straßenzügen, großzügigen (Arbeiter-) Wohnanlagen und gesundem Grün konnotiert, blieb ansonsten aber vage. Davon abgesehen, daß die Umgebung und die Art des Wohnens in den neuen sowjetischen Städten Gesundheit und das „kommunistische Ethos" ihrer Bewohner befördern sollten, wurden die „sozialistischen Städte" von den Bolschewiki fast ausschließlich in ihrer Funktion als Standorte der neuen Industriekomplexe begriffen.120 118
Kotkin·. Magnetic Mountain, S. 30. Zur zeitgenössischen Rezeption und Wirkung des ersten sowjetischen Fünfjahrplans im Ausland siehe u.a. Kotkin: Magnetic Mountain, S. 5; Dirk van Laak: Zwischen „organisch" und „organisatorisch": „Planung" als Leitkategorie zwischen Weimar und Bonn, in: Burkhard D/efö/Helmut Gabel/Ulrich Tiedau (Hrsg.): Griff nach dem Westen. Die „Westforschung" der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (1919-1960), Münster/New York 2003, S. 67-90, hier S. 77; Schivelbusch: Entfernte Verwandtschaft, S. 129ff; Huang Lingjun 30-40 niandai Zhongguo sixiangjie de ,jihua jingji" sichao 3 0 - 4 0 4 " f t + S ' Ii;!' (The ideological trend towards a planned economy in Chinese intellectual circles, 1930s-l 940s), JDSYJ116/2,2000, S. 150176; Griffin·. Modernism and Fascism, S. 327f; zur amerikanischen Wahrnehmung der sozialen und ökonomischen Transformationsprozesse in Rußland zwischen 1870 und 1940 siehe David C. Engerman: Modernization from the Other Shore. American Intellectuals and the Romance of Russian Development, Cambridge, Mass. 2003. 119
120 „How was it possible to plan for a city without planning for the people necessary to make it function? At bottom the Bolsheviks understood the city as a place to settle their factory and
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Diese Prioritätensetzung bestimmte um zwei Jahrzehnte zeitversetzt ebenso die Stadtwahrnehmungen und die städtebaulichen Vorgaben im chinesischen „Aufbau". Nach sowjetischem Muster wurde die chinesische Stadtplanung programmatisch als Appendix der staatlichen Wirtschaftsplanung verankert, städtebauliche Maßnahmen waren stets in Relation zum „Aufbau der Produktion" zu sehen, wie im zweiten Teil dieser Arbeit noch ausfuhrlich dargestellt wird. Zurück zu der in vieler Hinsicht exemplarischen Planungsgeschichte von Magnitogorsk: Von den Projekten, die um die Jahreswende 1929/30 bei den verschiedenen Wettbewerben für den Bau der Stadt eingereicht wurden, konnte schlußendlich keines gänzlich zum Zuge kommen.' 21 Die ursprüngliche Aufgabenstellung einer parallelen Entwicklung von Werk und Stadt - einer Stadt für 40.000 Einwohner - war bereits zum Zeitpunkt der Auslobung des Wettbewerbs ad absurdum gefuhrt. Eine weitaus größere Anzahl von Menschen war längst in den Bau des Stahlwerkes involviert und lebte in provisorischen Zeltstädten und Barackensiedlungen, die entgegen aller Voraussagen über Jahre hinweg zum Alltag von Magnitogorsk gehören würden. Als Ernst May und seine Mitarbeiterinnen auf Einladung der sowjetischen Regierung Mitte 1930 offiziell ihre Planungsarbeit für die neue Stadt im Ural aufnahmen, wurden sie mit der Tatsache konfrontiert, daß sich bestimmte Teile dieser Stadt bereits ganz „unplanmässig" im Bau befanden. Es waren die Arbeiter des Stahlwerkes, die mit ihren baulichen Improvisationen die Charakteristika von Magnitogorsk vorbestimmt hatten. Hinzu kamen die topographischen Gegebenheiten an Ort und Stelle, die Mays ursprüngliche Idee einer Bandstadt undurchführbar machten.122 Noch schwerer wog jedoch die Tatsache, daß der Städtebau ohne eine entwickelte Bauindustrie betrieben werden mußte und jegliche „Planung" zwischen lokaler und zentraler Bürokratie aufgerieben wurde. Die Baugeschichte von Magnitogorsk macht die frühen Klagen Mays, die Wohnviertel der Stadt verkämen zum bloßen „Anhängsel der Industrie", durchaus nachvollziehbar. Noch bis in die ersten Nachkriegsjahre hinein beherrschten - mit Ausnahme der lokalen high-society-Bezirke Kirov und Berezka - „temporäre" Barackensiedlungen das Bild der ersten „sozialistischen Stadt" der Sowjetunion. 123
the factory's skilled workers. In all the dozens of pamphlets written about Magnitogorsk during the 1930s, there was never one issued that was devoted exclusively to the city. Discussion of the city, if it was included at all, came as the last chapter, after each of the industrial shops had been enumerated." Kotkin: Magnetic Mountain, S. 123. 121 Eine Übersicht über die Wettbewerbsbeiträge gibt Kotkin: Magnetic Mountain, S. 108ff; außerdem Bodenschatz/Post (Hrsg.): Städtebau im Schatten Stalins, S. 43-57. 122 Zum Schicksal des Bandstadt-Entwurfs Mays für Magnitogorsk und seinen nachfolgenden Varianten für das rechte bzw. linke Ufer des Ural-Flusses siehe die ausfuhrliche Darstellung bei Kotkin: Magnetic Mountain, S. 109-123; vgl. außerdem BodenschatzIPost (Hrsg.): Städtebau im Schatten Stalins, S. 57-63. 123 Zur schwierigen Lebenssituation in den sowjetischen Städten zu Beginn der 1930er Jahre siehe Fitzpatrick: Everyday Stalinism, S. 46-50; zu Kriminalität, infrastrukturellen Mängeln, fehlender Kanalisationssysteme und Problemen der Elektrifizierung vgl. ebd., S. 50-
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Dieselbe „kolossale Improvisation"124 kennzeichnete die Lebenssituation in den übrigen sowjetischen „Planstädten" der 1930er Jahre.125 Ungeachtet dessen boten die „neuen Städte" des Landes fur ihre Bewohner dennoch Identifikationsmöglichkeiten mit dem „sozialistischen Aufbau" und Projektionsflächen fur zukünftiges „Glück".126 Die Vision, eine neue Welt zu erbauen und die konkreten Erfahrungen des „Aufbaus" haben ungeachtet aller offenkundigen Widersprüche Optimismus und Pioniergeist geweckt. Extrem widrige Lebensumstände, soziale Ungleichheiten, das Aushandeln von Handlungsspielräumen und Privilegien waren im Bewußtsein der Bevölkerung als Phänomene einer Gegenwart verankert, die nur Durchgangsstation zum „wirklichen Leben" sein sollte.127 In der Forschung werden die Großbaustellen deshalb als „Mikrokosmen" behandelt, in denen die grundlegenden Strukturen der sowjetischen Gesellschaft wie durch eine Lupe vergrößert erscheinen. Nach dieser Lesart wäre es falsch, die Attraktivität dieser Städte allein einer ausgeklügelten, zentral gesteuerten Propaganda zuschreiben zu wollen, zumal Vertreter der Zentralregierung sich nicht minder schockiert über das Auseinanderklaffen von Anspruch und Realität in den auserkorenen Städten zeigten. Die Kehrtwende der sowjetischen Städtebaupolitik, wie sie 1931 in der Rede von Kaganovic zum Ausdruck kommt, sieht Lorenz Erren daher nicht in erster Linie als ideologisch motiviert, sondern als verspätete Reaktion der Regierung auf unübersehbar gewordene „Sachzwänge".128 In einer Reihe damit steht auch die Geschichte der Rekonstruktion Moskaus.129 Auf dem bereits erwähnten Juni-Plenum des Zentralkomitees im Jahr 1931 wurde im Verbund mit dem Bau der Metro, dem Palast der Sowjets und dem Moskva-Volga-Kanal eine umfassende Umgestaltung der sowjetischen Hauptstadt in Aussicht gestellt.130 Moskau war zugleich Sonderfall und Modell 54. Erren stellt fest, daß die städtebaulichen Visionen aus der ersten Hälfte der 1920er Jahre zu Beginn der 1930er Jahre auf das Vorbild der „Musterbaracke" geschrumpft worden seien, ohne auf den Begriff der „sozialistischen Stadt" verzichten zu müssen. Siehe ders.: Scheitern der „Sozialistischen Stadt", S. 585f, 592. 124 So die Formulierung Kolkins: Magnetic Mountain, S. 16. 125 Einblicke in die Zustände auf den damaligen Großbaustellen gibt die Darstellung von Gestwa: Technik als Kultur der Zukunft, S. 37-73. 126 Man sei versucht, so Fitzpatrick, die Visionen einer neuen Lebensweise und Gesellschaft als simples Täuschungsmanöver des sowjetischen Regimes zu verstehen, zumal die „utopische Rhetorik" entsprechend eingesetzt wurde; damit bleibe aber die Lebenswelt der 1930er Jahre ausgeblendet. Vgl. dies.: Everyday Stalinism, S. 67; siehe auch Kotkin: Magnetic Mountain, S. 17f. 127 Daß im offiziellen Sprachgebrauch die allgegenwärtigen Baracken und Notunterkünfte als „provisorische Bauten" bezeichnet wurden, wertet Erren als ein weiteres Indiz dafür: „Diese Unterscheidung beider Zustände schützte die Hoffnung auf die bessere Zukunft vor den Eindrücken der Gegenwart." Ders.: Scheitern der „Sozialistischen Stadt", S. 583. 128 Vgl. ebd., S. 580f. 129 Colton betrachtet Moskau in seiner Monographie exemplarisch als „Spiegel des gesamten sowjetischen Systems". Vgl. Colton: Moscow, S. 2f. 130 „Über die städtische Wirtschaft Moskaus und die Entwicklung der städtischen Wirtschaft in der UdSSR", Resolution des ZK d. KPdSU Juni 1931, in: Kaganowitsch: Die Sozialist!-
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des sowjetischen Städtebaus während der Stalin-Zeit und diese Doppelrolle, bisweilen auch Dualität, spielte sich auf mehreren Ebenen ab. Als „sozialistische Metropole" der Sowjetunion war Moskau Sonderfall: Indem es während des ersten Fünfjahrplans mit „Aufbau"-Projekten und Ressourcen übersät wurde, sollte es dem Anspruch entgegenwachsen, die würdige Hauptstadt eines „Landes aus Metall" (Kotkin) zu sein. Es waren die sozialen und ökonomischen Folgen dieser Politik, die Moskau wiederum zum expliziten Modell für den „sozialistischen Aufbau" machten.131 Wenn auch den Bemühungen um „sozialistische Siedlungskonzepte" im allgemeinen und den radikalen Entwürfen für ein Neues Moskau im besonderen auf dem Juni-Plenum definitive Absagen erteilt worden waren, sind wesentliche Elemente der früheren Planungsvisionen im ersten Generalplan für die Rekonstruktion der Stadt wiederzufinden. Die grundsätzliche Ablehnung des als „kapitalistisch" etikettierten Gartenstadt-Konzepts hinderte Kaganovic z.B. auch nicht daran, dieselben Begrifflichkeiten zu verwenden und zu fordern: „Wir können und müssen Moskau in eine vorbildliche saubere Stadt, in eine Gartenstadt verwandeln."132 Die ambivalente Vision der (Haupt-)Stadt - und in größerem Maßstab auch des ganzen Landes - als „Garten" ist eine Konstante moderner „Aufbau"-Diskurse bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein.133 Ein Zehnjahres-Panorama der zukünftigen Hauptstadtentwicklung eröffnete die von Molotov und Stalin unterzeichnete Resolution „Über den Generalplan für die Rekonstruktion der Stadt Moskau" vom 10. Juli 1935. Bis 1945 sollte Moskau demnach zu einer Stadt von fünf Millionen Einwohnern anwachsen, die Ausdehnung des Stadtgebiets sich mehr als verdoppeln. Das Prinzip einer konsequenten Funktionstrennung, das dem Plan zugrunde lag, reservierte den Südwesten, Nordwesten und Osten der Stadt für Wohngebiete. Hier sollten 15 Millionen Quadratmeter neuer Wohnraum entstehen und dem konsequenten Abwärtstrend in der Wohnungsversorgung der Hauptstadt Einhalt gebieten. Industrielle Expansionsgebiete waren vor allem im Südwesten vorgesehen, gesundheitsschädigende Industriebetriebe sollten gänzlich aus der Stadt ausge-
sche Rekonstruktion Moskaus, Hamburg 1931, S. 126-146; zur Durchführung der genannten drei Großprojekte vgl. Coltort: Moscow, S. 254-260. 131 Unter der Überschrift „Vom alten Moskau zum neuen Moskau" positionierte Kaganovic Moskau als Modell fur den Städtebau in der gesamten Sowjetunion: „Die Moskauer Kommunalwirtschaft muß mustergültig werden. Ich glaube, daß Moskau zu einem Laboratorium werden muß, wohin die Leute aus allen Städten unserer Union kommen, um sich die Erfahrungen des Aufbaus zunutze zu machen. Die Moskauer Kommunalwirtschaft muß vorbildlich, muß zu einer Schule werden, wir können das von unserer Hauptstadt verlangen." Kaganowitsch: Die sozialistische Rekonstruktion Moskaus, S. 14, 24. 132 Kaganowitsch: Die sozialistische Rekonstruktion Moskaus, S. 54. 133 Für die politische Ikonographie des Neuen China bleiben die Metaphern des Gartens und des Gärtnerns bis weit in die 1970er Jahren hinein wirkungsmächtig. Vgl. dazu die Bildanalyse in Abschnitt 3.1.2 sowie die Zusammenfassung der Diskursmerkmale von jianshe unter Abschnitt 3.4.2.
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2. „Stadt im Aufbau"
lagert werden. Umgeben war das Moskau des 1935er Generalplans von einem 10 km breiten Wald- und Grüngürtel, der neben hygienischen Aufgaben auch Freizeit- und Erholungsfunktion übernehmen sollte. Zwar wurde das radial-konzentrische Straßensystem des „kapitalistischen Moskau" beibehalten, aber durch neue Radialen und Magistralen ergänzt. Die Besetzung des alten Zentrums Kitajgorod durch Monumentalbauten der „neuen Ordnung", die Schaffung und Erweiterung von öffentlichen Plätzen und die Verbreiterung der Straßen waren flankiert von Vorgaben zur Verbesserung der sozialen und technischen Infrastruktur der Stadt. Eine dergestalt vorgezeichnete „Offensive gegen das alte Moskau", wie die zeitgenössischen Presse das Geschehen betitelte, ließ im Verlauf der 1930er Jahre zwei „Gesichter" der Hauptstadt entstehen, was Timothy Colton eindrücklich beschrieben hat.134 Einerseits das Moskau der „Paläste": Arbeiter-Wohnpaläste, palastartige Metro-Stationen, Kulturpaläste, Sportpaläste und der niemals gebaute „Palast der Sowjets" markierten ober- und unterirdisch entlang der Magistralen und zentralen Plätze das repräsentative Zentrum der Stadt. Andererseits befand sich hinter der monumentalen Fassadenarchitektur eine Stadt, die laut Colton mit ihren infrastrukturellen Mängeln, den Konsumgüter-Engpässen, der notorischen Wohnungsnot und der allgegenwärtigen Improvisation ebenso paradigmatisch für den sowjetischen Alltag dieser Zeit war wie das neuerbaute Magnitogorsk: „Contrary to some stereotypes of Stalinism, this state-engineered revolution was itself improvised, and poorly so. Even as architects entertained visions of a bounteous tomorrow, Moscow's fabric was being tugged to the tearing point by the combination of unregulated population increase and willful neglect of social infrastructure and services."135
Dieses andere „Gesicht der Stadt" war also weit entfernt von den offiziellen Darstellungen einer allumfassenden, wissenschaftlichen und technisch avancierten Planung.136 Dennoch traf die sowjetische „Rhetorik des Plans" genau den Ton der internationalen Sprache der Moderne. Kurz nachdem der Generalplan für die sowjetische Hauptstadt veröffentlicht worden war, hatte Bucharin bereits in verheißungsvollen Worten prophezeit, daß die von Stalin - dem „Ar134 Zur Tilgung des alten Moskau, seiner historischer Bausubstanz, besonders im Kontext anti-religiöser Kampagnen siehe Colton: Moscow, S. 260-270, 280. 135 Coltoti·. Moscow, S. 246f; zum Moskau der Gegensätze siehe außerdem 325-351. 136 Für dieses Mißverhältnis von Anspruch und Wirklichkeit wurden offiziell anti-sowjetische Kräfte verantwortlich gemacht: „Während wir in der Industrie bereits die neueste Technik anwenden und eine Durchführung der Grundsätze der Individualleitung, der Arbeitsdisziplin, des sozialistischen Wettbewerbs, des Stoßbrigadenwesens beobachten können, befindet sich all das - wie wir offen zugeben müssen - in der städtischen Wirtschaft erst im Anfangsstadium. [...] In der Kommunalwirtschaft konnten sich die Schädlinge länger halten als in der Industrie. [...] Wir konnten in der Moskauer Kommunalwirtschaft eine Schädlingsorganisation aufdecken, die sich die Aufgabe gestellt hatte, die Kommunalwirtschaft zum Ruin zu bringen. Die Schädlinge hemmen den Aufbau [...]." Kaganowitsch: Die sozialistische Rekonstruktion Moskaus, S. 23.
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chitekten der neuen Welt" - inspirierte Umgestaltung Moskaus Leitbildfunktion erlangen würde: Moskau sei „a n e w M e c c a to which fighters for the happiness o f mankind will stream from all ends o f the world". 137 Verstärkt durch das Wissen um die Möglichkeit, in der Sowjetunion komplette Städte zentral planen und (um)gestalten zu können, löste der Generalplan von 1935 tatsächlich weltweite Beachtung und Bewunderung aus - und dies längst nicht nur unter Sympathisanten des „sowjetischen Experiments", w i e dem Schriftsteller Lion Feuchtwanger. A u s seinen Aufzeichnungen Moskau 1937 sei hier eine längere Passage zitiert, die von einer kindlich-naiven Technikfaszination zeugt: „Vielleicht gewinnt man auf keine Art einen schnelleren, tieferen Einblick in das Wesen der Sowjet-Union als durch die Besichtigung jenes Modells auf der Bauausstellung, welches das zukünftige Moskau zeigt. [...] Man steht auf einer kleinen Estrade vor dem gigantischen Modell, welches dieses Moskau des Jahres 1945 darstellt [...]. Das Modell ist elektrifiziert, und immer neue blaue, grüne, rote elektrische Linien zeigen den Lauf der Straßen, der Untergrundbahnen, der Autowege, zeigen, wie planmäßig Wohnwesen und Verkehr der großen Stadt konstruiert sein werden. Die mächtigen Diagonalen, welche die Stadt zerteilen, die Ringstraßen, die sie zergliedern, die Boulevards, die Radialstraßen, die Haupt- und Nebenwege, Bürohäuser und Wohnblocks, Industriegebäude und Parks, Schulen, Regierungsgebäude, Krankenhäuser, Bildungs- und Vergnügungsstätten, die Anlage und Verteilung all dessen ist mit geometrischer Vernunft geregelt. Noch niemals ist eine Millionenstadt so von Grund auf nach Gesetzen der Zweckmäßigkeit und der Schönheit erbaut worden wie dieses neue Moskau. [...] Für das zukünftige Moskau fallen alle diese Hemmnisse [der Stadtplanung in kapitalistischen Ländern] fort. Die Planung ist nicht behindert dadurch, daß sie sich bereits vorhandenem Schlechten anpassen muß, vielmehr ist alles von Anfang an Sinn, Zweck, Plan, Vernunft."138 A u s heutiger Perspektive m a g es zunächst paradox erscheinen, daß westlichen Zeitgenossen ein dergestalt projektiertes Moskau in planerischer Hinsicht (nicht unbedingt in ästhetischer 139 ) als ultimative Verkörperung des Modernen galt, als Inbegriff einer „geometrischen Vernunft". Aber gerade dies ist eines der Beispiele dafür, „daß der Monumentalismus-Neoklassizismus in den dreißiger Jahren ein nicht weniger internationaler Stil' war w i e der 1932 [...] in international Style' umgetaufte Modernismus." Nur hatte es die Historiographie der Nachkriegszeit mit ihrer (in vieler Hinsicht äußerst bequemen) Gleichsetzung von städtebaulicher Monumentalität und totalitären Systemen geschafft, die systemübergreifende Vergleichsperspektive auf Jahrzehnte zu verstellen. 140 137
Izvestija, 14. Juli 1935; engl. Übersetzung zitiert nach Colton: Moscow, S. 280. Lion Feuchtwanger. Moskau 1937. Ein Reisebericht für meine Freunde, Amsterdam 1937, S. 30-34. 139 Selbst der ansonsten überschwengliche Feuchtwanger schränkte ein, daß ihm der architektonische „Eklektizismus und Klassizismus" der neuen Architektur nichts sage, die „Einzelleistungen [...] nicht besser und nicht schlechter als anderswo" seien und „schöpferisch revolutionäre" Bauten die Ausnahme bildeten. Vgl. ders.: Moskau, S. 30f. 140 So Schivelbusch: Entfernte Verwandtschaft, S. 8ff; ähnlich äußert sich auch Hartmut Frank: Gebaute Demokratie?, S. 13: „Die Propaganda des Dritten Reiches hatte den Eindruck erzeugt, es handele sich hierbei [den neoklassizistischen Projekten Speers für Berlin und Nürnberg] um die genuin nationalsozialistische Architektur - und zwar im offenkundi138
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Maßstäbe setzte der Moskau-Plan von 1935 zweifellos - zunächst für die „sozialistischen" Umgestaltungen der Städte auf sowjetischem Territorium, später grenzüberschreitend innerhalb der sowjetischen Hemisphäre. Als überragendes Charakteristikum des vom rekonstruierten Moskau abgeleiteten (Ideal-)Bilds einer „sozialistischen Stadt" ist in erster Linie das repräsentative, an barocke Planungen erinnernde Stadtzentrum identifiziert worden, dessen zentrale Plätze und Prachtstraßen von der Herrlichkeit und Machtentfaltung des Staates künden. Nurmehr ein Jahrzehnt später sollte genau dieses Leitbild in der (aufgedrängten) Übernahme und Anpassung durch den Städtebau der „Volksdemokratien" zum Ausdruck monumentaler Rückwärtsgewandtheit gerinnen. Den Hintergrund für beide Wahrnehmungen - für Moskau als Modell und fìir Moskau als Anachronismus - bildete eine Gemengelage aus universalen Idealen der internationalen Moderne und den politischen Kategorisierungen der Zwischen- und Nachkriegszeit, die im nachfolgenden Kapitel eingehender untersucht werden.
2.3 Zwischen „Aufbau West" und „Aufbau Ost": Die 50er Jahre im deutschen Städtebau Die Frage, welche Leitbilder und Ordnungsvorstellungen Maßstäbe für die Umgestaltungen der europäischen Städte in der Nachkriegszeit gesetzt haben, bildete den Ausgangspunkt für den vorliegenden Teil der Arbeit. Erste Anworten sind der Darstellung der beiden vorangegangenen Kapitel bereits implizit. Denn was sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als dominante Entwicklungslinien im Städtebau141 herauskristallisiert hatte, fand in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts seine Fort- und Umsetzung, in einem Umfang und zum Teil auch in einer Radikalität, die erst durch die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs ermöglicht worden war: „Der Aufbau der Städte, darin waren sich die maßgeblichen Kommunalpolitiker, Architekten und Stadtplaner einig, durfte nicht bloßer Wiederaufbau auf altem Stadtgrundriß und Parzellengefüge sein, sondern sollte den seit der Jahrhundertwende erhobenen Forderungen nach mehr Licht, Luft und Sonne im Städtebau entgegenkommen."142
gen Widerspruch zu ihrer quantitativen Bedeutung fur die reale Bautätigkeit dieser Jahre und ohne Beachtung des Baugeschehens anderer Länder, insbesondere der USA, Frankreichs und der Sowjetunion. Nun meinte man, ein entscheidender Schritt zum Aufbau einer demokratischen Gesellschaft sei schon getan, wenn man das Monumentale und Neoklassizistische meide und sich künftig an der ,guten Vergangenheit' der 1920er Jahre orientiere." 141 Siehe die gleichnamige Publikation von Gerd Albers und Klaus Martin. 142 Durth: Vom Überleben, S. 24.
2.3 Zwischen „Aufbau West" und „Aufbau Ost"
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In der Tendenz haben die zeitgenössischen Planer und Architekten die kriegsbedingten Stadtzerstörungen in Europa deshalb als Chance für eine grundlegende gesellschaftliche Neugestaltung darzustellen versucht, als „heilsame" Katharsis 143 , aus der mit dem städtebaulichen auch ein geistiger Neuanfang hervorgehen würde. 144 Sie stießen mit ihren Visionen allerdings nicht nur auf praktische Hürden, sondern vor allem auch auf heftige emotionale Widerstände, w i e der Architekt A l f o n s Leitl ein Jahr nach Kriegsende für den deutschen Kontext beschrieb: „Seit fünfzig Jahren fuhren Städtebauer, Wohnungs- und Sozialreformer, Männer der Volksgesundheit einen aufopferungsvollen Kampf gegen die städtebauliche Erbschaft des 19. Jahrhunderts, gegen die Auswucherungen und Verzerrungen unserer Städte. Heute wäre in fürchterlicher Einmaligkeit Gelegenheit nicht nur zu kleinen mühsamen Korrekturen, sondern zu einer grundsätzlichen Neuordnung. [...] Wäre heute nicht das Bild der Stadt als wohlgegliedertes, lebensfähiges und lebenerfülltes Gefüge neu zu entwerfen mit allen geistigen, sozialen, gesundheitlichen und künstlerischen Folgerungen? Statt dessen kann es geschehen, daß einem gewissenhaften Städtebauer [...] eine Welle der Empörung entgegenschlägt, weil er den konsequenten Vorschlag macht, den alten, völlig vernichteten Kern einer Stadt nicht mehr aufzubauen, sondern an günstigerer Stelle eine neue Stadt zu errichten."145 Erste Maßnahmen, um „aus dem Krieg den Frieden bauen" 146 zu können, waren in den meisten europäischen Staaten bereits in den letzen Kriegsjahren eingeleitet worden. D i e städtebaulichen Konturen der 50er Jahre entstanden damit schon weit vor dem Ende der militärischen Kämpfe. Der Grad, bis zu dem sie dann im Verlauf der Nachkriegsjahre realisiert wurden, ist v o n Land zu Land
143 Vgl. dazu Ulrich Panile·. Leiblichkeit als Versöhnung. Beiträge zu einer organischen Kultur in der „Stunde Null", in: Annette Ge/ger/Stephanie Hennecke/Chnstm Kempf (Hrsg.): Spielarten des Organischen in Architektur, Design und Kunst, Berlin 2005, S. 130-147, hier S. 136f. 144 Den Nexus zwischen geistiger Befreiung bzw. Erneuerung und dem Wiederaufbau der Städte betonten die Unterzeichner des vom Deutschen Werkbund initiierten „Nachkriegsaufrufs", der im Januar 1947 publiziert wurde. Abgedruckt in Conrads: Programme und Manifeste, S. 141. Vgl. dazu auch Frank'. Gebaute Demokratie?, S. 12: „Das Credo lautete: Die Architektur [...] leiste den Wiederaufbau einer neuen Gesellschaft und schaffe ihr räumliche Gestalt und Ausdruck." 145 Zitiert nach Hermann Glaser. Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1. Zwischen Kapitulation und Währungsreform 1945-1948, München 1985, S. 83; vgl. dazu außerdem Diiwel/Gulschow: Städtebau in Deutschland, S. 145f; und Elizabeth A.T. Smith: Ein neuer Blick auf die Architektur und ihre Geschichte am Ende des Jahrhunderts, in: Russell Ferguson (Hrsg.): Am Ende des Jahrhunderts. 100 Jahre Gebaute Visionen, Ostfildern-Ruit 1999, S. 22-100, hier S. 63f. Tilman Harlander weist ausdrücklich daraufhin, daß die Orientierung an den noch vorhandenen Versorgungsinfrastrukturen (des Tiefbaus) eine entscheidende Weichenstellung für die Umsetzung der Wiederaufbaupläne bedeutete. Vgl. ders.: Wohnen und Stadtentwicklung in der Bundesrepublik, in: Ingeborg Flagge (Hrsg.): Geschichte des Wohnens, Bd.5. 1945 bis heute, Stuttgart 1999, S. 233^*16, hier S. 237. 146 „Building Peace out of War" war der Title einer Broschüre über anvisierte Wiederaufbaumaßnahmen, die 1944 in London herausgegeben wurde; zitiert und paraphrasiert in Liesbrock (Hrsg.): Neue Stadt, S. 67.
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2. „Stadt im Aufbau"
unterschiedlich, sie stellten aber in jedem Fall konzeptionelle Parameter für den „ A u f b a u " dar.147 Der „Aufbau" oder „Wiederaufbau" sollte nicht nur eine rasche Wiederherstellung der Bewohnbarkeit von Städten leisten.148 Mit beiden Begriffen war darüber hinaus auch die Wiederherstellung vertrauter Stadtsilhouetten konnotiert: Die Beseitigung der Trümmerlandschaften hatte neben der materiellen immense immaterielle Bedeutung angesichts der physischen und psychischen Verheerungen des Krieges in Europa. Klaus von Beyme hat das Auslöschen der Städte im Luftkrieg in diesem Zusammenhang als eine Vernichtung der „optischen Identität" der jeweiligen Länder beschrieben.149 Die Städtebaukonzepte, die nach dem Krieg zur Anwendung kamen, sind aber nicht nur in dieser Hinsicht als integrale Bestandteile der gesamtgesellschaftlichen „Aufbau"-DisAbbildung 6: Korridorstraße der historikurse der 50er Jahre zu begreifen. schen Stadt kontrastiert mit der „RaumBereits in den anfänglichen DeStadt", Walter Schwagenscheidt 1949 batten um die zukünftigen Formen des „Aufbaus" läßt sich ein internationaler Grundkonsens ausmachen, der auf etablierte Leitbilder der 1930er und 1940er Jahre zurückgreift: Die Stadt erscheint darin als „wohlgegliedertes Gefuge". Eine nach „organischen" Kriterien geplante, von Grün durchzogene, „gesunde" „Stadtlandschaft" tritt an die Stelle der längst diskreditierten 147 Einen Überblick über die „Wiederaufbauplanungen in Europa" geben Durth/Gutschow: Träume in Trümmern, S. 285-325; zu den Planungen der sowjetischen Wiederaufbaukommission fur die Zeit nach dem Krieg siehe Durth/Düwel/Gutschow: Architektur und Städtebau der DDR, Bd. 2, S. 55f. 148 Eine Gleichsetzung von „Aufbau" bzw. „Wiederaufbau" mit dem Wohnungsbau erfolgt in Günther Schulz·. Wiederaufbau in Deutschland. Die Wohnungsbaupolitik in den Westzonen und der Bundesrepublik von 1945-1957, Düsseldorf 1994, siehe erläuternd dazu S. 184f. 149 Siehe von Beyme·. Der Wiederaufbau, S. 10, 13ff. Aus der umgekehrten Perspektive stehen die Photographien der ausgebombten Städte bis heute sinnbildhaft für den Luftkrieg in Europa.
2.3 Zwischen „Aufbau West" und „Aufbau Ost"
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Mietskasernenstadt mit ihren (im Krieg so verhängnisvollen) Hinterhöfen und Korridorstraßen.150 (Abb. 6) Davon ausgehend hat die historische Forschung die in „Nachbarschaftseinheiten" „gegliederte und aufgelockerte Stadt" verallgemeinernd zum städtebaulichen Ideal der 50er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts erklärt.151 Als Korrektiv zu dieser sehr monolithischen Darstellung sei angemerkt, daß parallel dazu das Gegenbild der „kompakten Stadt" weiterhin Popularität genoß, und diese Sympathie nicht allein auf den sowjetischen Einflußbereich begrenzt war.152 Außer Frage steht, daß die nach 1945 einsetzende politische Blockbildung mitsamt den von ihr reklamierten Gesellschaftssystemen, Modernisierungsstrategien und Ideologien den Städtebau als tragendes Element des „Aufbaus" alles andere als unberührt gelassen hat. Allerdings wird wie zur Hochzeit des Kalten Krieges auch heute noch manches Mal schablonenhaft von einer klar bestimmbaren Zweiteilung städtebaulicher Leitbilder ausgegangen, die zur politisch-ideologischen „Aufteilung" der Welt korrespondierte. Demnach konnte in der „westlichen Welt", dem Einftußbereich der USA zugeordnet, die „Charta von Athen" nach dem Krieg ungehindert ihre Wirkungsmacht als „Grundvokabular des modernen Städtebaus" entfalten. Gegenpol war die „sowjetisierte" östliche Hemisphäre, in der als vermeintlich anachronistisches Kontrastprogramm die „sozialistische Stadt" nach historisierendem Moskauer Vorbild von 1935 Verbindlichkeit zu haben schien. Planungshistorische Überblicke stellen diese Parallelentwicklung - wenn sie denn überhaupt als solche thematisiert wird - in ein Spannungsfeld von Option und Zwang, von demokratischem Städtebau und sowjetischer Kolonisierung.153 Inwieweit das Postulat einer Polarisierung von Planungskonzepten fur die Anfangsphasen des Ost-West-Konflikts zutreffend ist, wird im folgenden am deutsch-deutschen Beispiel konkretisiert. Im Kontext von „Amerikanisierung" (bzw. „Westernisierung") und „Sowjetisierung" können die Reden und Praktiken des „Aufbaus" im „Frontstaat" Deutschland stellvertretend für interna-
150 Vgl. bei Walz die Auflistung der Werke, die lange vor Kriegsende die „Auflösung der Großstadt" unter dem Leitbild der „organischen Stadt" vertraten; ders.: Gegenbilder, S. 65ff; zum Luftschutz als „heimlicher" Faktor für den Städtebau der Nachkriegszeit siehe Harlander. Wohnen und Stadtentwicklung, S. 243f; zu den Schnittmengen der verschiedenen städtebaulichen Leitbilder im europäischen Wiederaufbau vgl. ebd., S. 240f; zu beiden Aspekten siehe außerdem Dirk Schubert: „Seizing the Moment". Planungen und Realitäten sozialräumlicher Transformationsprozesse in Hamburg und London zwischen 1940 und 1960, in: Friedrich Lenger/Klaus Tenfelde (Hrsg.): Die europäische Stadt im 20. Jahrhundert. Wahrnehmung - Entwicklung - Erosion, Köln/Weimar/Wien 2006, S. 343-371, hier S. 354ff. 151 So u.a. in Liesbrock (Hrsg.): Neue Stadt, S. 93ff; differenzierter von Beyme\ Der Wiederaufbau, S. 71-75. 152 Vgl. dazu den Diskussionsbeitrag von Wolfgang Sonne: Kultur der Urbanität. Die dichte Stadt im 20. Jahrhundert, unter: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/ type=diskussionen&id=775 (02.06.2006); thematisiert auch bei Albers/Wékel: Stadtplanung, S. 34-39.
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2. „Stadt im Aufbau"
tionale Parallelphänomene ausgewertet werden.154 Abgrenzungen, Bezugnahmen und Transferprozesse zwischen den „Aiifbau"-Kulturen in Ost und West geben zunächst Aufschluß über die spezifisch deutsche Situation, haben vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Referenzsysteme aber auch exemplarischen Charakter. Sie lassen Rückschlüsse darauf zu, welchen Stellenwert das Konzept des „Aufbaus" im internationalen Kontext der 50er Jahre besaß und inwieweit es als eine systemübergreifende Konstante dieser Zeit verstanden werden kann. Den zeitgenössischen Begriff des „Aufbaus" als Interpretationsrahmen fur die Erkundung der Zusammenhänge zwischen städtebaulichen Leitbildern und gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen der 50er Jahre zu setzen, beinhaltet, seine jeweiligen Bedeutungskontexte und Wirkungsweisen so weit wie möglich auszuleuchten, also Parallelen und Unterschiede in der Verwendung des Begriffs, im Anlagern von neuen Bedeutungsfeldern und in der visuellen Ausgestaltung der „Aufbau"-Konzepte zu untersuchen. Hier besteht noch erheblicher Forschungsbedarf, sowohl für den europäischen wie für den außereuropäischen Bereich. Insofern soll der vorliegende Teil der Arbeit zugleich ein Anstoß zu einer umfassenderen Beschäftigung mit dem „Aufbau"-Phänomen der Nachkriegszeit sein. Unter den oben genannten Aspekten ist auch der deutsche „Aufbau"-Begriff bislang wenig reflektiert worden.155 Diese Auslassung erstaunt umso mehr, als seit der Wiedervereinigung Deutschlands im Jahr 1989 vermehrt Arbeiten erschienen sind, die den Städtebau und die Architektur der 50er Jahre unter den Schlagworten von „Aufbau" und „Wiederaufbau" im Spannungsfeld der Systemgegensätze einzuordnen versuchen. Neben verschiedenen zeitgenössischen Materialien werden in den zwei nachfolgenden Abschnitten deshalb auch diese Studien auf ihre Version des Verhältnisses von „Aufbau" und Städtebau innerhalb des deutsch-deutschen Kontextes hin untersucht. Mit Kapitel 2.4 schließt sich daran eine zusammenfassende Analyse der „Aufbau"-Kulturen der 50er Jahre an. Welche diskursiven Grundmuster werden in Ost und West erkennbar? Welche Transferlinien und Abgrenzungen bilden sich in den städtebaulichen Leitbildern des „Aufbaus" ab? Im Ergebnis bietet diese Zwischenbilanz eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten für 154 Diese historiographischen Muster werden detailliert dargestellt (und hinterfragt) bei Aman·. Osteuropäische Architektur, S. 139-146. Die „sowjetische Kolonisierung" durch Städtebau untersucht Castillo: Cities of the Stalinist Empire, S. 261-287. 154 „There is no better case study of this Cold War ,battle of the styles' [socialist realism versus International Style modernism] than divided Germany, severed by the geopolitical fault line separating two rival civilizations." Castillo: Design Pedagogy Enters the Cold War. The Reeducation of Eleven West German Architects, in: Journal of Architectural Education 57, 2004, S. 10-18, hier S. 10. Von besonderem Vorteil ist dabei auch, daß die vielschichtigen Brechungen durch Übertragung des „Aufbau"-Vokabulars in andere Sprachen hierbei vorerst noch nicht berücksichtigt werden müssen. 155 Mit Ausnahme von Andreas Schätzke: Zwischen Bauhaus und Stalinallee. Architekturdiskussion im östlichen Deutschland 1945-1955, Braunschweig 1991, S. 23f.
2.3 Zwischen „Aufbau West" und „Aufbau Ost"
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die Darstellung und Analyse der unter jianshe subsumierten Modernisierungsprozesse in der VR China.
2.3.1 „Aufoau " als Leitbild: Zur Semantik eines geteilten Begriffs Wenn im westlichen Nachkriegsdeutschland von „Wiederaufbau", „Willen zum Aufbau" oder „Aufbaukultur" die Rede ist und die „Aufbaugeneration" nur wenige Jahre später bereits historisierend vom „Aufbauwunder" im „Aufbaujahrzehnt" spricht, klingen in diesen Komposita verschiedene Aspekte gleichzeitig an. Beide Begriffe, sowohl „Aufbau" als auch „Wiederaufbau", kündeten einerseits vom Wunsch eines Aufbruchs in eine neue Zeit, in eine neue Gesellschaft und in eine historisch unbelastete, vielversprechende Zukunft, die die klägliche Gegenwart überstrahlte. In hochglanzbroschierten Darstellungen der Städte „im Aufbau" 156 , in den zahlreichen Plänen, Ausstellungen und Baustellen für neue Wohnquartiere, Versorgungsinfrastrukturen und Industrieanlagen fanden „Aufbau" und „Wiederaufbau" andererseits ihren sinnlich erfahrbaren, materiellen Ausdruck, der einen scharfen Kontrast zu den allgegenwärtigen Trümmerlandschaften und Entbehrungen der damaligen Zeit bildete. (Abb. 7-8) Beide Aspekte standen nicht unverbunden nebeneinander, sondern spiegelten die Hoffnungen wider, „sich aus der trostlosen Gegenwart in eine bessere Zukunft hineinarbeiten" 157 zu können. Gleichgültig, welche Formen die unterschiedlichen Fachleute dabei für den „Aufbau der Städte" favorisierten, sie sahen ihre Tätigkeit zugleich als einen „planmäßigen" Akt der „geistigen Erneuerung" der deutschen Gesellschaft an. So wie für viele unter ihnen „der sichtbare Einsturz nur Ausdruck der geistigen Zerrüttung" war, formulierten sie es als ihre Aufgabe, „die neue sichtbare Welt unseres Lebens und unserer Arbeit zu bauen".158 Lexikalisch sind die Vielschichtigkeit und Signalfunktion der damaligen „Aufbau"-Semantik allerdings weder zeitnah noch retrospektiv erfaßt worden. Vielmehr ist zu beobachten, daß ihre gesellschaftspolitischen Komponenten umgekehrt proportional zu den jüngsten Aktualisierungen von „Aufbau" im Kontext globaler militärischer Interventionen auf der normativen Ebene so156
Einen Eindruck davon erhält man durch die zahlreichen Beispiele, die im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek für den Erscheinungszeitraum 1946-1960 unter den Suchbegriffen „Stadt" und „Aufbau" erfaßt sind. Die Titel zeigen, daß „Aufbau" und „Wiederaufbau" als Synonyma verstanden wurden und man sie auch nicht ausschließlich dem einen oder anderen deutschen Staat zuordnete. In zeitlicher Hinsicht ist festzustellen, daß das öffentliche Bilanzieren des „(Wieder-)Aufbaus" deutscher Städte gegen Ende der 50er Jahre abnahm und zu Beginn der 1960er Jahre, von wenigen Ausnahmen abgesehen, schließlich ganz aufhörte. 157 Zitiert nach Glaser. Kulturgeschichte Bd.l, S. 77. 158 Vgl. den bereits erwähnten „Nachkriegsaufruf' in Conrads: Programme und Manifeste, S. 140f.
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2. „Stadt im Aufbau"
^-WOHNUNGSBAU ßmbH. 300
gar immer seltener thematisiert werden. 1 5 9 D i e einschlägigen Wörterbücher der deutschen Sprache unterscheiden in ihren Definitionen von „Aufbau" (und dem Verb „aufbauen") grundsätzlich z w e i Aspekte: In der ersten Bedeutung 159 In der aktuellen Auflage der Brockhaus-Enzyklopädie, gut 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, kommt das Stichwort „Wiederaufbau" als selbständiger Eintrag z.B. nicht mehr vor. „Aufbau" ist ausschließlich als Eigenname der 1934 in New York gegründeten deutschsprachigen Wochenzeitschrift des German-Jewish-Club indiziert, die sich seit 1939 zum kulturpolitischen Wochenblatt für deutsche Emigranten entwickelte. Siehe Brockhaus Enzyklopädie, 21. Aufl., Bd. 2 (ANAU-AUSV), S. 677; zur Geschichte der Zeitschrift Aufiau vgl. auch den Bericht von Else Buschheuer: Das zweite Zuhause. Der „Aufbau", die deutsche Emigranten-Zeitung aus New York, wird 70, in: Der Tagesspiegel, 26.2.2004.
2.3 Zwischen „Aufbau West" und „Aufbau Ost"
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bezieht sich „Aufbau" auf die Errichtung materieller Strukturen, sowohl temporären als auch permanenten. Im Zusammenhang mit dem Errichten von Bauwerken wird unter „Aufbau" nicht nur der Neubau, sondern ebenso häufig die Wiedererrichtung von Zerstörtem gefaßt. Die schöpferische Komponente von ,,Aufbau" wird dagegen mit der zweiten Grundbedeutung des Begriffs in Verbindung gebracht: Schaffung, Organisation und Gestaltung werden stärker mit der immateriellen Seite des „Aufbaus" identifiziert, d.h. vor allem mit Institutionen oder abstrakten (wirtschaftlichen, politischen, kulturellen etc.) Vorgängen. Zum Tragen kommt dabei zum einen die Idee, daß durch den „Aufbau" die Teile von etwas zu einem Ganzen zusammengefugt werden; zum anderen scheint hier eine zeitliche Komponente des Begriffs durch, denn ,.Aufbau" beschreibe nichts Statisches, sondern dynamische, zumeist länger andauernde Prozesse: Häufig ist die Rede davon, etwas befinde sich „im Aufbau".160 Beide Grundbedeutungen von „Aufbau" klingen wiederum in der Zusammensetzung von „Aufbauarbeit" an, die lexikalisch als „(friedliche, schöpferische) Arbeit des Aufbauens" oder als „Arbeit des [Wiederaufbaus" umschrieben wird.161 Nicht reflektiert wird in den Definitionen, daß „Aufbau" im Verhältnis zum letztgenannten Begriff des „FFiWeraufbaus" sowohl in der Funktion eines Synonyms als auch in der eines Antonyms auftreten kann. Das ist offenbar davon abhängig, wie stark im Redekontext die restaurative Komponente, etwas wieder in seinem ursprünglichen Zustand herzustellen, gegenüber der Schaffung von etwas gänzlich Neuem betont wird. Wahrigs Wörterbuch der deutschen Sprache umschreibt den Begriff „Aufbau" z.B. in erster Bedeutung mit der „Wiedererrichtung von Zerstörtem" und fügt als Beispiel „den neuen Aufbau der zerbombten Stadt" an. Analog dazu ist die Verbform „aufbauen" als „wieder aufbauen" erklärt: „Der Stadtkern ist nach alten Plänen wieder aufgebaut worden" oder „eine Stadt wieder aufbauen" sind die dazugehörigen Verwendungsbeispiele.162 Auch die zeitgenössischen Nachschlagewerke der 50er Jahre haben keine klare Differenzierung von „Aufbau" und „Wiederaufbau" vorgenommen. In der Nachkriegsauflage des Großen Brockhaus, die zwischen 1952 und 1957 erschien, ist der Begriif „Aufbau" nur in Form von Komposita auffindbar. Zum Stichwort „Wiederaufbau" existierte zu diesem Zeitpunkt noch kein eigener Eintrag. In der 17. Auflage der Enzyklopädie (1967-1974) wird „Wiederaufbau" dagegen eindeutig der europäischen Nachkriegszeit als ein allgemeiner „Grundbegriff" zugeordnet. „Wiederaufbau" findet sich hier als Reaktion al160 Vgl. die Einträge in: Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Bd.l (ABim), Mannheim 1993, S. 275f; Duden. Das Bedeutungswörterbuch, Mannheim 2002, S. 121; Renate Wahrig-Burfeind (Hrsg.): Deutsches Wörterbuch, Gütersloh 2005, S. 201. 161 Als separates Stichwort aufgeführt in Wahrig-Burfeind (Hrsg.): Deutsches Wörterbuch, S. 201; und in Duden. Das große Wörterbuch, Bd.l, S. 275. 162 Renate Wahrig-Burfeind (Hrsg.): Wörterbuch der deutschen Sprache, München 1999, S. 96f.
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1er Opfer des Zweiten Weltkriegs auf „die schweren Zerstörungen" und die „Demontagen der Siegermächte" dargestellt, w o b e i qualitative Unterschiede hinsichtlich der Erfolge des „Wiederaufbaus" in Ost und West explizit mit der j e w e i l i g e n „Blockzugehörigkeit" in Verbindung gebracht werden: „[...] im engeren Sinn die Wiedererrichtung von zerstörten Bauwerken, allgemeiner die Wiederherstellung zerstörter materieller Güter und Einrichtungen aller Art. - Der zweite Weltkrieg hatte in vielen Ländern Europas schwere Zerstörungen hinterlassen; zu den Verlusten an Menschen kam die Vernichtung oder Beschädigung von Gebäuden, Verkehrswegen, industriellen Anlagen und Maschinen, deren Wirkung nach 1945 durch Demontagen der Siegemächte noch verschärft wurde. Die Aufgabe des Wiederaufbaus], beherrschte das erste Nachkriegsjahrzehnt. In Westeuropa konnte sie (auch durch die Hilfe der Verein. Staaten) schneller gelöst werden als im Ostblock." Zur Reichweite des „Wiederaufbaus" heißt es dort weiter: „Der Wiederaufbau], der zerbombten Städte stellte der Stadt- und Verkehrsplanung neue Aufgaben; auch die Denkmalpflege erhielt ein niemals zuvor so ausgedehntes Betätigungsfeld. Das kulturelle Leben der Nachkriegszeit entfaltete sich mit dem Wiederaufbau], des Presse-, Rundfunk- und Verlagswesens, der Theater und Museen. [,..]"163 Hier deutet sich zwar an, daß im zeitgenössischen „(Wieder-)Aufbau"-Begriff zentrale gesellschafts- und kulturpolitische Aspekte aufgehoben waren, aber weiterfuhrende H i n w e i s e auf die Entwicklung des Begriffs zu einem deutschdeutschen Ideologem der 50er Jahre existieren auf der normativen Ebene nicht. 164 Demgegenüber ist aus kulturhistorischer Perspektive festzustellen, daß sich die verschiedenen Facetten des „Aufbaus" mit den Staatsgründungen des Jahres 1949 zu Chiffren für einen Neubeginn unter entgegengesetzten politischideologischen und ökonomischen Vorzeichen entwickeln. Eingebettet in die globale Szenerie des Kalten Kriegs erlangen die Städte „im Aufbau" in beiden deutschen Teilstaaten große Symbolkraft. Sie stehen sichtbar für einen Neuanfang, für Prosperität, für Modernisierung und damit nicht zuletzt für die Gewißheit, auf der „richtigen Seite der Geschichte" zu stehen.
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Der Große Brockhaus, 17. Aufl., Bd. 20 (WAM-ZZ), 1974, S. 303. Vgl. dazu auch das Stichwort „Aufbau" in Manfred W. Hellmann (Hrsg.): Wörter und Wortgebrauch in Ost und West. Ein rechnergestütztes Korpus-Wörterbuch zu Zeitungstexten aus beiden deutschen Staaten. Die Welt und Neues Deutschland 1949-1974, Bd. 1, Tübingen 1992, S. 94ff. Aus dieser vergleichenden Zeitungsanalyse geht die Bedeutung der „Aufbau"-Semantik für die Anfangsjahre der BRD nicht hervor. Die Untersuchungsergebnisse reduzieren den „Aufbau"-Begriff auf die Bedeutung als „vorwiegende Bezeichnung in wirtschaftlichen Zusammenhängen". Demgegenüber wird fur den DDR-Sprachgebrauch ein viel breiteres Bedeutungsspektrum konstatiert. „Aufbau" sei „neben Entwicklung eines der fìir die propagandistische Selbstdarstellung wichtigsten Substantive in unterschiedlichen, vor allem aber in gesellschaftlich-politischen und wirtschaftlichen Zusammenhängen." Die weiteren Ausführungen in diesem Abschnitt zeigen jedoch, daß dies gleichermaßen für den zeitgenössischen Sprachgebrauch in der BRD galt. 164
2.3 Zwischen „Aufbau West" und „Aufbau Ost"
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Diese zeitgenössischen Prägungen sind auch dann nicht wegzudenken, wenn in neueren Untersuchungen zur Geschichte der Nachkriegszeit von „Aufbau" und „Wiederaufbau" die Rede ist. Eine wachsende Anzahl von Untersuchungen zum deutschen „Aufbaujahrzehnt" in West und Ost einschließlich der darin ausgewerteten Materialien zeigt (zumindest implizit), wie vielschichtig das zeitgenössische Verständnis von „Aufbau" war.165 Dennoch wird der Begriff des „Aufbaus" von den Autoren, die ihn - zum Teil sehr plakativ - einsetzen, nur selten oder gar nicht thematisiert. Das beginnt bereits mit den an den „Aufbau" geknüpften Zeitverständnissen. Für Winfried Nerdinger reichte die „Aufbauzeit" lediglich von 1945 bis 1950.166 Andere Autoren konstatieren wiederum, daß für den Westen Deutschlands in quantitativer und qualitativer Hinsicht überhaupt erst seit der Währungsreform im Jahr 1948 und dem Beginn der amerikanischen „Aufbauhilfen" von einem „(Wieder-)Aufbau" zu sprechen sei.167 Zum Teil werden „(Wieder-)Aufbau" und „Wirtschaftswunder" dabei als chronologische Abschnitte in einer historischen Sequenz verstanden, zum Teil aber auch in zeitlicher Überlagerung dargestellt. Grundsätzlich gilt der Mehrheit der Forschenden die staatliche Teilung Deutschlands als Ausgangspunkt fur die Entstehung zweier distinkter deutscher „Aufbau"-Kulturen. Festzustellen ist außerdem, daß die Forschung den Begriff „Aufbau" - offenbar in Anlehnung an die zeitgenössische Politsprache vom „Aufbau des Sozialismus" - in den 1980er und 1990er Jahren zunächst noch häufiger mit Bezug auf die DDR verwendete, während man über die westdeutsche Nachkriegsgeschichte bis hin zur Wiedervereinigung vorzugsweise als „Wiederaufbau" sprach. Jost Hermands Kulturgeschichte der Bundesrepublik aus dem Jahr 1986 ist mit Kultur im Wiederauflau betitelt. Klaus von Beyme publizierte im darauffolgenden Jahr unter dem Titel Der Wiederaufoau hingegen eine vergleichende Studie zu Architektur und Städtebaupolitik in beiden deutschen Staaten, was aber vorerst die Ausnahme blieb. Auch nach der deutschen Wiedervereinigung wurde in der Regel eine differenzierende Perspektive beibehalten. 1993 erschien beispielsweise der von Axel Schildt und Arnold Sywottek herausgegebene Sammelband Modernisierung und Wiederau/bau zur Geschichte der westdeutschen Gesellschaft in den 50er Jahren, 1994 eine Untersuchung zur Wohnungsbaupolitik in den Westzonen und der Bundesrepublik von Günther Schulz unter dem Haupttitel Wiederaufbau in Deutschland.m Zum „Aufbau"
165 Eine regelrechte „Entdeckung der 50er Jahre" hat Axel Schildt bereits für das Themenspektrum der zeitgeschichtlichen Forschung in der ersten Hälfte der 1990er Jahre konstatiert. Vgl. ders.: Moderne Zeiten, S. 16-21. 166 Winfried Nerdinger. Aufbauzeit. Planen und Bauen München 1945-1950, München 1984. 167 Vgl. Harlander. Wohnen und Stadtentwicklung, S. 235f; detaillierter bei Schuh: Wiederaufbau, S. 153-166; auch Glaser. Kulturgeschichte Bd.l, S. 85. 168 Jost Hermand: Kultur im Wiederaufbau. Die Bundesrepublik Deutschland 1945-1965, München 1986; Axel Schildt!Arnold Sywottek (Hrsg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993.
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2. „Stadt im Aufbau"
oder „Wiederaufbau" in der DDR wurde seit dem Ende ihrer staatlichen Existenz vorwiegend in komparativer Perspektive geforscht.169 Exemplarisch dafür sind die Beiträge im Katalog Außau West - Aufoau Ost zur gleichnamigen Ausstellung über die Geschichte der Planstädte Wolfsburg und Eisenhüttenstadt, auf die im Folgeabschnitt noch detaillierter eingegangen wird.170 Die in Titeln und Einleitungen zunächst apostrophierte Trennung von „Aufbau" und „Wiederaufbau" verschwimmt in den eigentlichen Ausführungen mehrheitlich jedoch schnell wieder, und beide Begriffe werden im Verlauf der Darstellungen synonym gefuhrt.171 Das ist bei einem aktuelleren Beispiel ebenfalls gut zu beobachten. Die Ausstellung, die das Westfälische Industriemuseum über den Jahreswechsel 2005/2006 zur Geschichte der Flüchtlinge und Vertriebenen in den westdeutschen Besatzungszonen gezeigt hat, wurde unter dem Titel Aufbau West als „eine Geschichte der Ankunft, der Mitwirkung am Wiederaufbau [in den nordrhein-westfalischen Industrien] und der Mitgestaltung der neuen Heimat" dargestellt. Auch hier wurden zentrale Facetten des Begriffs „Aufbau" thematisiert, ohne daß die Kuratoren ihn als zeitgenössische Signalvokabel der 50er Jahre erläutert hätten.172 Der Architekt Hugo Häring hatte den „Aufbau" 1948 als „das meistgebrauchte Wort unserer Zeit" bezeichnet.173 Daß es ungeachtet dessen bereits im zeitgenössischen Sprachgebrauch der Nachkriegszeit auch bewußte Versuche einer Differenzierung zwischen „ A u f - und „Wiederaufbau" gab, hat Klaus von Beyme aufgezeigt. Er beschreibt für Architektur und Städtebau, daß „Wiederaufbau" im Sinne von „Restauration", „Konservatismus" und „Tradition" gegenüber „Aufbau" als „Erneuerung" und „Modernisierung" politische Stellungnahmen in den deutsch-deutschen „Aufbauphasen" implizieren konnte und von den jeweiligen Protagonisten entsprechend eingesetzt wurde.174 In 169 Als Überblick dazu siehe Andreas Hohn: Forschungen zur Geschichte der Stadtplanung in der DDR. Aspekte ihrer Methodologie, ihres Erkenntnisinteresses und ihrer Methoden, in: Holger Barth (Hrsg.): Projekt Sozialistische Stadt. Beiträge zur Bau- und Planungsgeschichte der DDR, 1998, S. 25-36. 170 Siehe Rosmarie Beier (Hrsg.): Aufbau West - Aufbau Ost. Die Planstädte Wolfsburg und Eisenhüttenstadt in der Nachkriegszeit, Ostfildern-Ruit 1997. 171 Von Beyme zum Beispiel setzte sich über die gängige Zuordnung der Begriffe hinweg, indem er in seiner Studie über „Aufbaumodelle in der Bundesrepublik" und den „Wiederaufbau in der DDR" schrieb. Ders.: Der Wiederaufbau, S. 173, 274. 172 Stattdessen wird eine Verbindung vom „Aufbau West" der Nachkriegszeit zum „Aufbau Ost" der Nachwendezeit hergestellt und das Thema - entgegen des erklärten Ausstellungskonzepts - für tagespolitische Anliegen instrumentalisiert. Vgl. dazu die Grußworte und Beiträge in Dagmar Kift (Hrsg.): Aufbau West. Neubeginn zwischen Vertreibung und Wirtschaftswunder, Essen 2005, S. 5, 10, 18, 20. 173 Zitiert nach Schätzke: Zwischen Bauhaus und Stalinallee, S. 23. 174 Vgl. von Beyme·. Der Wiederaufbau, S. 173ÍT: „Aufbau als taktischer Konzessionsbegriff'. Diese zeitgenössische Unterscheidung übernehmen Düwel und Gutschow, indem sie die „kontroversen Planungen" der Jahre von 1945 bis 1949 mit „Aufbau versus Wiederaufbau" übertiteln. Zusammengefaßt sind darunter Fallbeispiele des deutschen Nachkriegsstädtebaus, wobei auf die polarisierten „Aufbau"-Begrifflichkeiten des Titels in den jeweiligen Ausführungen nicht mehr eingegangen wird; vgl. dies.: Städtebau in Deutschland, S. 149-
2.3 Zwischen
„Aufbau
West" und „Aufbau Ost"
85
diesem Sinn hat Werner Durth „Aufbau" als Dachbegriff und „Neubau" contra „Wiederaufbau" als politisch positionierende Untergliederungen verwendet.175 Günther Schulz thematisiert unterschiedliche Bedeutungsebenen und Instrumentalisierungen des Begriffs „Wiederaufbau" in der Nachkriegszeit, will ihn für seine Untersuchung der westdeutschen Wohnungsbaupolitik aber verstanden wissen als „Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit eines Systems im allgemeinen, ohne die Einzelheiten zu präjudizieren".176 Joachim Palutzki deutet in seinem Rückblick auf die Architektur in der DDR zunächst noch eine zeitgenössische Unterscheidung von „Wiederaufbau" und „Neuaufbau" an, verwendet die Begriffe dann nachfolgend aber wieder als Synonyma von „Aufbau" ohne auf die historischen Bedeutungszuschreibungen einzugehen, wie sie u.a. Lothar Bolz als DDR-Minister für Aufbau im Frühjahr 1950 in einer Rede auf der Deutschen Bautagung darlegte.177 Es sei, so Bolz hier, „im Grunde nicht richtig, von einem .Wiederaufbau' zu sprechen", denn das impliziere die Restauration eines Systems, das zur Zerstörung Deutschlands geführt habe: „Es ist kein Zufall, daß das Ministerium nicht etwa Ministerium für Wiederaufbau heißt, sondern Ministerium für Aufbau. Das bedeutet, daß wir unserem Wiederaufbau überhaupt nur dann Dauer und also einen Sinn geben können, wenn wir ihn als Aufbau eines Neuen betrachten und betreiben."'78
Wie im Folgeabschnitt konkretisiert wird, blieb der von Bolz eingeforderte „Aufbau eines Neuen" in der DDR mindestens ebenso stark restaurativen Tendenzen verhaftet wie der „Wiederaufbau" in der Bundesrepublik. Die auch fur den Westen Deutschlands typische Vermischung von gegensätzlichen Momenten der Modernisierung und des Rückwärtsgewandten „im Alltag des N i e der'· und Neuaufbaus" hat Axel Schildt anhand einer Reisebeschreibung aus dem Jahr 1953 veranschaulicht:
161. Günther Schulz schildert, daß die synonyme Verwendung der Begriffe bereits ein zeitgenössisches Phänomen (in der Bundesrepublik) war; vgl. Schulz·. Wiederaufbau, S. 184f. 175 Vgl. Durth'. Utopia im Niemandsland, S. 214. Etwas ausführlicher wird auf den „Streit um Begriffe" in den unmittelbaren Nachkriegsjahren bei Durth/Gutschow: Träume in Trümmern, S. 278f, eingegangen. Die Darstellung der zeitgenössischen Auseinandersetzungen um „Aufbau" versus „Wiederaufbau" bleibt hier aber rein deskriptiv, die Autoren erklären die Diskussionen mit dem Jahr 1948 schließlich sogar schlicht für beendet: „1948 hatte die Auseinandersetzung um Begriffe im Zeichen der kommenden Baukonjunktur an Brisanz verloren. Die nach 1949 erlassenen Aufbaugesetze legen die zu gebrauchenden Begriffe fest, und im Übrigen gab es genug zu bauen; das mochte dann jeder nennen, wie er wollte." Die nachfolgenden Ausführungen dieser Arbeit zeigen jedoch, daß die Kontroversen mit zunehmender Bautätigkeit keineswegs einfach verebbten, sondern im Zeichen der staatlichen Teilung Deutschlands erneut aktualisiert und noch über lange Zeit weitergeführt wurden. 176 Vgl. Schulz: Wiederaufbau, S. 19f. 177 Vgl. Palutzki: Architektur in der DDR, S. 7f, 1 lf. 118 Lothar Bolz: Programm des Aufbaus, 8.3.1950, in: ders.: Von Deutschem Bauen, Berlin 1951, S. 15-27, hier S. 16.
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2. „Stadt im Aufbau"
„Das Wort,wieder' wurde zum Leitmotiv deutschen Lebens, sein Ziel die Wiederkunft des Zerstörten, ein Ziel, geboren aus dem Heimweh nach der verlorenen guten alten Zeit [...]. Der Aufbau eines neuen Deutschland heißt,Wiederaufbau'. Ja, es wurde auch wiederaufgebaut, was vorher gar nicht dagewesen war. Neues gab sich als ganz Altes aus [,..]."179
Ungeachtet aller sprachlichen Abgrenzungsversuche der Zeitgenossen trugen beide deutsche Staaten das Etikett des „Aufbaus" ganz inflationär in Gesetzen, Institutionen, Verbänden, Ausstellungen und zahlreichen Bildpublikationen vor sich her.180 Etliche Tätigkeitsberichte und Populärdarstellungen westdeutscher Stadtverwaltungen waren in der ersten Hälfte der 50er Jahre mit Titeln überschrieben, die sich aus dem jeweiligen Stadtnamen und dem Zusatz „im Aufbau" zusammensetzten.181 In Kassel zum Beispiel fand 1946 die Ausstellung „Kassel baut a u f statt, in Stralsund wurde 1950 im Rahmen einer Ausstellung der „5 Jahre Aufbau" seit Kriegsende gedacht.182 Der 1945 begründete Aufbau-Verlag entwickelte sich zum größten belletristischen Verlag der DDR.183 Im selben Jahr und ebenfalls unter dem Namen Außau erschien die kulturpolitische Monatszeitschrift des Kulturbundes der DDR, in der auch die materielle Seite des „Aufbaus" - Architektur und Städtebau - immer wieder zur Diskussion stand.184 Auf beiden Seiten wurden auf der Grundlage von „Aufbaugesetzen" „Aufbaupläne" fur ausgewiesene „Aufbaugebiete" erstellt, die nicht nur im wirtschaftlichen Sinne einen „geordneten Wiederaufbau" von Städten und Gemeinden ermöglichen, sondern auch eine „umfassende Gesundung des Städtebaus einleiten und sichern" sollten, wie im Großen Brockhaus aus dem Jahr 1952 nachzulesen ist.185 In den westlichen Besatzungszonen wurden dazu zwischen
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Norbert Mühlen, Amerikakorrespondent der Zeitschrift Der Monat, zitiert nach Schildt: Moderne Zeiten, S. 22f. 180 Insofern ist der Darstellung von Schätzke nur bedingt zuzustimmen, wenn er davon spricht, daß „Aufbau" „nicht nur, aber in besonderem Maße in der sowjetisch besetzten Zone" zu einem Schlagwort der Parteien und Institutionen wurde. Vgl. ders.: Zwischen Bauhaus und Stalinallee, S. 23f. Für die westlichen Besatzungszonen und für die Bundesrepublik läßt sich ähnliches konstatieren, wie die nachfolgenden Beispiele zeigen. 181 Exemplarisch seien hierzu nur zwei Titel genannt: Statistischen Amt der Stadt Aachen (Hrsg.): Aachen im Aufbau. Verwaltungsbericht der Stadt Aachen, Aachen 1951-1953; Mannheim im Aufbau. Ein Bildband über den Wiederaufbau einer zerstörten Stadt, Mannheim 1955. 182 Zur Ausstellung in Kassel siehe Folckert Lüken-Isberner: Kassel. Neue Stadt auf altem Grund, in: von Beyme u.a. (Hrsg.): Neue Städte aus Ruinen. Deutscher Städtebau der Nachkriegszeit, München 1992, S. 251-266, hier S. 256ff. Zur Ausstellung in Stralsung erschien die dazugehörige Publikation Rat der Stadt Stralsund (Hrsg.): 5 Jahre Aufbau. Stralsund, Stralsund 1950. 183 Zu den formativen Jahren des Verlags siehe die Untersuchung von Carsten Wurm·. Der frühe Aufbau-Verlag, 1945-1961. Konzepte und Kontroversen, Wiesbaden 1996. Eine Selbstdarstellung der Verlagsgeschichte findet man außerdem unter www. aufbau-verlag. de/index.php4?page=52&& ( 13.09.2008). 184 Vgl. Hellmann (Hrsg.): Wörter und Wortgebrauch in Ost und West, S. 94. 185 Der Große Brockhaus, 16. Aufl., Bd. 1 (Α-BEO), Wiesbaden 1952, S. 488.
2.3 Zwischen „Aufbau West" und „Aufbau Ost"
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1948 und 1950 die „Aufbaugesetze der Länder" erlassen. 186 In der D D R trat am 6. September 1950 das „Aufbaugesetz" in Kraft, das für designierte „Aufbaustädte" in hierarchischer Abstufung eine planmäßige Entwicklung zu Industriestandorten vorsah. 187 Während in den westlichen Besatzungszonen und der späteren Bundesrepublik die Landesministerien für Arbeit, Soziales und Wiederaufbau 1 8 8 ihre Arbeit aufnahmen und unter anderem mit der Förderung von „Aufbauwohnungen" 1 8 9 und der Vergabe von „Aufbaudarlehen" an Vertriebene und Kriegssachgeschädigte 1 9 0 der Wohnungsnot zu begegnen versuchten, entstand in der D D R das Ministerium für Aufbau unter Leitung v o n Lothar Bolz. 1 9 1 A u f den Baustellen der D D R leisteten „Aufbauhelfer" im Rahmen des „Nationalen Aufbauprogramms" ( 1 9 5 2 ) ihren Beitrag zum „Neuaufbau aus eigener Kraft". 192 Solche „freiwillige Arbeit" wurde in sogenannten „Aufbaustunden" oder -schichten verrichtet und mit Auszeichnungen w i e der „Aufbaunadel" gefördert. A u c h der Erlös aus der „Aufbaulotterie" der D D R sollte dem „ A u f b a u des Staates" zugute kommen. 1 9 3 (Abb. 9 - 1 0 ) D i e hier aufgeführten Beispiele machen deutlich, daß der „Aufbau" in beiden deutschen Staaten kein wertneutrales Konzept zur Behebung von Kriegs186 Mit Ausnahme von Bayern, Berlin und Bremen; vgl. Der Große Brockhaus, 16. Aufl., Bd. 1, S. 487f; zu den verschiedenen Konzepten der Alliierten und der politischen Parteien fur eine Bodenreform und zur Entstehung der „Aufbaugesetze" der Länder siehe Schulz: Wiederaufbau, S. 118-132. 187 Gesetz über den Aufbau der Städte in der DDR und in der Hauptstadt Deutschlands, Berlin (Aufbaugesetz), in: Lothar Bolz: Von Deutschem Bauen. Reden und Aufsätze, Berlin 1951, S. 91-97. 188 In der Bundesrepublik wurde in den Koalitionsverhandlungen vom Herbst 1949 auch um die Einrichtung (und Bennenung) eines Bundesministeriums für Wiederaufbau bzw. Wohnungsbau gerungen. Laut Schulz fiel die Entscheidung, das neue Ministerium „Wohnungsbau-" und nicht „Aufbau-" oder „Wiederaufbauministerium" zu nennen, dabei erst in letzter Minute. Der Kompetenzbereich des neuen Ministeriums erstreckte sich über den Wohnungsbau hinaus auch auf den Städtebau und die Raumordnung, was anfanglich aufgrund der großen Wohnungsnot in den Städten aber in den Hintergrund trat. Vgl. Schulz: Wiederaufbau, S. 184f. 189 Vgl. die Bedeutungsverschiebung in: Der Große Brockhaus, 16. Aufl., Bd. 1, 1952, S. 488: „Schlichtwohnungen, die später zu normalen Wohnungen umgebaut werden sollen"; gegenüber Der Große Brockhaus, 17. Aufl., Bd. 2, 1967, S. 56: „vorübergehend gebaute Notwohnung (Schlichtwohnung)"; dazu außerdem Schulz: Wiederaufbau, S. 270f. 190 „Leistungen aus dem Lastenausgleich [...] zum Wiederaufbau zerstörten oder verlorenen Grundbesitzes oder zum Ersatzbau, zum Bau eines Familienheimes oder einer sonstigen Wohnung [...]." Hanns Frommhold (Zst. u. Bearb.): Bauwörterbuch: Begriffsbestimmungen aus dem Bauwesen, Düsseldorf 1978, S. 17. 191 Vgl. Bolz: Programm des Aufbaus, S. 16. Simone Hain schrieb dazu: „Bolz spielt eine Schlüsselrolle unter der regierenden Elite der frühen DDR [...]. In Moskau geschult und - vermutlich - instruiert hieß in seiner Lesart sein Ressort ,Ministerium für Aufbau (des Sozialismus)' [...]." Dies.: Reise nach Moskau. Erste Betrachtungen zur politischen Struktur des städtebaulichen Leitbildwandels des Jahres 1950 in der DDR, in: Wissenschaftliche Zeitschrift 39/1-2, 1993, S. 5-14, hier S. 6f. 192 Vgl. Durth: Utopie der Gemeinschaft, S. 155. 193 Zu diesen Komposita siehe die Einträge in: Duden. Das große Wörterbuch, Bd.l, S. 276.
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2. „Stadt im Aufbau"
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mimm-r RJ [Rückblick auf 50 Jahre. Die Stadtpla: éj t S nung im Neuen China], Beijing 1999, S. 136-141; die erste Fassung dieses Artikels erschien bereits 1991 in der Zeitschrift Chengshi guihua. 254 Dong Jianhong/Zj Dehua: Chengshi guihua de zuji, S. 92. In Dou Yides biographischem Abriß zu Liang Sicheng wird die Sowjetunion nicht einmal mehr als Referenzgröße der chinesischen 50er Jahre-Architektur erwähnt, siehe Dou Yide: Liang Sicheng, S. 120/123f. Dies war auch Grundtenor des Interviews mit Dong Jianhong (03.04.02, Shanghai). Eine Gegendarstellung, die am Bild eines flächendeckenden „Lernens von der Sowjetunion" festhält, findet sich in den Erinnerungen von Zhao Shixiu: Liangge „chuntian" de huiyi, S. 15-18. 255 Die Zusammenhänge zwischen der strukturellen Umgestaltung des Hochschulwesens, der sixiang gaizeo-Bewegung, den auf Bürokratie bzw. privates Unternehmertum abzielenden sanfan- / ww/an-Kampagnen und der chinesischen Beteiligung am Koreakrieg hat Suzanne Pepper wie folgt zusammengefaßt: „Thought reform thus unfolded as a companion in the intellectual realm of a fast accelerating socioeconomic revolution at home and open hostilities abroad." Suzanne Pepper. Radicalism and Education Reform in 20th Century China. The Search for an Ideal Development Model, Cambridge 1996, S. 166; zu den Etappen der 253
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3. Neue Städte fur die Neue Gesellschaft
Bereits wenige Monate nach Gründung der Volksrepublik hatte man wesentliche Parameter für die künftige inhaltliche und organisatorische Neuausrichtung des chinesischen Wissenschaftsbetriebs festgelegt. Wie Zhou Enlai auf der Ersten Nationalen Konferenz zur Hochschulbildung vom Juni 1950 in seinem Redebeitrag ausführte, sollte sich das „neudemokratische Bildungswesen" des Neuen China in den folgenden Punkten vom überlieferten System der Republikzeit abheben: ,,[D]ie neudemokratische Bildung ist eine nationale, wissenschaftliche Bildung der Massen"256, postulierte Zhou unter Bezugnahme auf das „Gemeinsame Programm", das bis 1954 die vorläufige Verfassung der Volksrepublik darstellte. - Das Prinzip der „Massen" bedeute „dem Volk zu dienen" und sei im „Zeitalter des Volkes" die „natürliche" Grundausrichtung des neuen Bildungswesens. Aktuell setze sich das „Volk" aus Arbeitern, Bauern, Kleinbürgern und der nationalen Bourgeoisie zusammen, wobei die „Allianz der Arbeiter und Bauern" (gongnong lianmeng) das Fundament des Staates darstelle. Daher, so Zhou, müsse zuallererst der Basis der neuen Gesellschaft, d.h. den Arbeitern und Bauern, der Zugang zu den Hochschulen ermöglicht werden, um - und das ist die zentrale Aussage dieses Passus - mittelfristig einen neuen Typus von Intellektuellen (xinxing zhishifenzi) heranzuziehen. - Der Forderung, daß die Inhalte der künftigen Hochschulbildung „wissenschaftlich" zu sein hätten, lag wiederum ein spezifisch marxistisches Wissenschaftsverständnis zugrunde, wie Zhou Enlai weiter ausführte: „Wissenschaft ist aus der Praxis abgeleitetes systematisches Wissen, ist objektive Wahrheit." Zwar sei die Behauptung falsch, daß es im China der Vergangenheit in diesem Sinne keine Wissenschaft gegeben hätte. Aber man sei vormals nicht immer in der Lage gewesen, die objektiven Gesetzmäßigkeiten natürlicher Phänomene und gesellschaftlicher Entwicklungen zu erfassen. Die Verankerung entsprechender wissenschaftlicher Theorien rücke nun „schrittweise und planmässig" (you buzhou you jihua) in den Mittelpunkt des Bildungswesens. - Bei der Vermittlung von Wissen sei überdies immer auf die nationalen Spezifika der Vermittlungswege zu achten. Die chinesische Hochschulbildung
sixiang ga/zao-Kampagne siehe ebd., S. 169-174. Einen Überblick über das KampagnenKomglomerat der frühen 50er Jahre gibt Kenneth Lieberthal·. Governing China. From Revolution Through Reform, New York 2004, S. 9Iff; weitere Hinweise in Douglas A. Stiffler. Der Widerstand gegen die Sowjetisierung der Universitäten und die Umstrukturierung der Hochschulen in China (1949-1952), in: John ConnellyÍMich&á Griittner (Hrsg.): Zwischen Autonomie und Anpassung. Universitäten in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, Paderborn 2003, S. 199-227. 256 minzu de, kexue de, dazhong de jiaoyu . , ; siehe Zhou Enlai Zai quanguo gaodeng j iaoyu huiyi shang de j ianghua - i i ^ S í l j í F á i l í - á - i A - k . [Rede auf der nationalen Konferenz zum Hochschulwesen], in: JGYLWXXB, Bd. 1, S. 269-275, hier S. 269.
3.3 Leitbilder und Bauprojekte
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müsse sich durchgängig „nationaler Formen" (minzu de xingshi) bedienen, die den Rezipienten vertraut und eingängig seien.257 Für den Hochschulsektor konkretisierte der damalige Bildungsminister Ma Xulun (1884-1970) diese drei Kernpunkte des neudemokratischen Bildungswesens. Oberstes Ziel war demnach die rasche Ausbildung von spezialisierten ,Aufbau-Fachkräften" (jianshe rencai) „gemäß den Erfordernissen des nationalen Aufbaus", worin sich das Prinzip „dem Volk zu dienen" am direktesten verkörpere. Begleitet sein sollte das von einer entsprechenden Reform der Hochschuladministration, des Fächerspektrums und der jeweiligen Curricula. Mit der Forderung nach einer Ausrichtung der Bildungsinhalte auf die „Bedürfnisse des Aufbaus", insbesondere des industriellen und wirtschaftlichen Sektors, wurde dem Ausbau naturwissenschaftlicher und technischer Fachrichtungen Priorität eingeräumt. Dies, so stellte man bereits 1950 in Aussicht, würde künftig die Förderung „praxisbezogener" Fachhochschultypen gegenüber „allgemeinbildenden" Universitäten sowie die Etablierung neuer Forschungsinstitutionen nach sich ziehen. Ein einheitliches Gesamtkonzept zur Umstrukturierung des gesamten chinesischen Bildungswesens wurde bei dieser Gelegenheit jedoch noch nicht vorgelegt.258 Indes kündigte sich hier aber schon an, daß die Zusage, künftig verstärkt Studierende aus der Arbeiter- und Bauernschaft rekrutieren zu wollen, mit Plänen für eine landesweite ideologische Umerziehung des Lehrpersonals der Hochschulen verbunden war: „Wir müssen aus den Reihen der Werktätigen heraus innerhalb einiger Jahre auf jeden Fall eine große Zahl von Intellektuellen neuen Typs heranziehen. Diese Intellektuellen neuen Typs heranzubilden dient keineswegs der Ausschaltung der vorhandenen Intellektuellen; vielmehr soll parallel zur Integration und Umerziehung der vorhandenen Intellektuellen der Anteil frischen Bluts erhöht werden."259
Wenn auch über die erwünschten Qualitäten der künftigen Eliten anfänglich kaum konkretere Aussagen gemacht worden sind, bestand doch Konsens darüber, daß auf lange Sicht ein Kader neuer technischer Fachleute entstehen sollte. Welche Konsequenzen die im Sommer 1950 veröffentlichten Rahmenvorgaben zur Umgestaltung des Hochschulsystems schlußendlich für den Umgang mit den „alten" Bildungseliten hatten, kristallisierte sich erst im Verlauf der
257
Zhou Enlai: Gaodeng jiaoyu, S. 270f. Die Forderung nach „nationalen Formen" des Unterrichts bezieht sich hier nicht zuletzt auf die Verwendung von chinesischsprachigen Lehrmaterialien und von Chinesisch als Unterrichtssprache. Die von Zhou verwendeten Formulierungen entsprechen den Ausführungen Mao Zedongs zur Kultur der Neuen Demokratie. Vgl. Mao Zedong: Xinminzhuzhuyi lun [Über die Neue Demokratie], in: Mao Zedong xuanji, Bd. 2, S. 623-670, hier S. 666ff [395^49, 444ff). 258 Ma Xulun, in: RMRB, 14.6.1950, zit. nach Richard A. Hartnett: The Saga of Chinese Higher Education From the Tongzhi Restauration to Tiananmen Square. Revolution and Reform, Lewiston 1998, S. 187-189. 259 Zhou Enlai: Gaodeng jiaoyu, S. 270.
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3. Neue Städte für die Neue Gesellschaft
kommenden Jahre heraus. Vorerst war noch die R e d e davon, alle gesellschaftlichen Kräfte „unter der Führung der Partei" fur den „Aufbau" zu sammeln und zu nutzen. 260 D a s galt insbesondere fur die „aufbaurelevanten" Bereiche von Wirtschaft, Wissenschaft und Technik, eine D e v i s e , die M a o Zedong bereits vor Staatsgründung ausgegeben hatte: „Der nationalen Bourgeoisie kommt im gegenwärtigen Stadium sehr große Bedeutung zu. [...] Um der Unterdrückung durch die Imperialisten zu begegnen und die rückständige Wirtschaft auf ein höheres Niveau zu bringen, muß China alle Faktoren des Kapitalismus in Stadt und Land ausnutzen [...], müssen wir uns mit der nationalen Bourgeoisie für einen gemeinsamen Kampf zusammenschließen. Unsere gegenwärtige Politik besteht darin, den Kapitalismus zu regulieren, aber nicht, ihn zu liquidieren. [...] Vor uns steht die entscheidende Aufgabe des wirtschaftlichen Aufbaus. [...] Die Imperialisten rechnen damit, daß wir mit der Wirtschaft nicht zurechtkommen werden. Sie schauen von außen zu und warten auf unser Versagen. Wir müssen die Schwierigkeiten überwinden und das beherrschen lernen, was wir noch nicht wissen. Wir müssen von allen Fachleuten - wer es auch sein mag - lernen, die Wirtschaft zu handhaben. Wir müssen bei ihnen in die Lehre gehen und von ihnen respektvoll und gewissenhaft lernen. [...] Anfangs kamen auch manche sowjetischen Kommunisten mit der Wirtschaft nicht ganz zurecht [...]. Aber die Kommunistische Partei der Sowjetunion hat gesiegt, unter der Führung Lenins und Stalins konnte sie nicht nur die Revolution durchführen, sondern auch den Aufbau meistern. Sie hat einen großen, glänzenden sozialistischen Staat aufgebaut. Die Kommunistische Partei der Sowjetunion ist unser bester Lehrer, wir müssen von ihr lernen."261 A u f die historische Wahrnehmung der frühen Volksrepublik haben diese Schlußsätze aus der Rede z u m 28. Jahrestag der Gründung der KPCh v o m 30. Juni 1949 - besser bekannt unter dem Titel „Über die demokratische Diktatur des Volkes" - enormen Einfluß gehabt. Mit B e z u g auf das hier programmatisch verkündete „Lernen v o n der Sowjetunion" figurieren die Jahre von 1949/50 bis 1956/57 in der westlichsprachigen Forschungsliteratur fast ausnahmslos als „die sowjetische Phase" der V R China, nicht zuletzt auch hinsichtlich des chinesischen Hochschulwesens. 2 6 2 Angesichts der weiteren Ausführungen Maos, daß ein „Bündnis mit der Sowjetunion" für den chinesischen „Aufbau" zwingend sei, scheint die Beweislast zugunsten eines positiv besetzten, exklusiven „Lernens v o n der Sowjetunion" und der „radikalen Transformation des Hochschulwesens" entlang eines „Soviet blueprint" (Hartnett) zunächst erdrückend zu sein. Vor dem Hintergrund der offiziellen politischen Grundausrichtung des yibiandao ist es daher kaum verwunderlich, wenn Hartnett für die
260
Diese Rhetorik wird zwar auch in den folgenden Jahren noch beibehalten, tritt aber mit zunehmender Konsolidierung der KPCh hinter der Forderung nach neuen, ideologisch zuverlässigen Eliten zurück. Im eingangs zitierten Text von 1952 ist der Aspekt der Indienstnahme der alten Fachkräfte längst nicht mehr so prominent. 261 Mao Zedong: Lun renmin minzhu zhuanzheng, 1416-1418 [449-451], 262 Vgl. z.B. die Gliederung, die in Band 14 der Cambridge History of China vorgenommen wird. Die Jahre 1949-1957 sind darin mit „Emulating the Soviet Model" überschrieben. Zur Geschichte des chinesischen Bildungs- und Hochschulsystems im 20. Jahrhundert siehe die oben bereits zitierten Untersuchungen von Hartnett und Pepper.
3.3 Leitbilder und Bauprojekte
211
Frühphase der Volksrepublik dieses historiographisch wohletablierte Bild aufgreift.263 Im Vergleich zum „immensen Umfang und der Unmittelbarkeit des sowjetischen Einflusses auf die Bildungsinfrastruktur Chinas" habe sich der Einfluß der früheren Bezugsgrößen Japan, Westeuropa und USA verschwindend gering ausgenommen, konstatiert Hartnett: „[...] Sovietization [...] of higher education seemed so pervasive by the end of the first decade as to warrant the conclusion that complete copying had taken place."264 Dürfte die These von einer „totalen Sowjetisierung"265 der Volksrepublik in ihrer Absolutheit schon an sich zweifelhaft sein, gibt es in neueren Darstellungen zur Entwicklung des chinesischen Wissenschaftsbetriebs seit 1949 bereits diverse Hinweise darauf, daß die politischen Maßgaben xuexi Sulian und yibiandao im zeitgenössischen Kontext deutlich ambivalenter aufgenommen wurden, als es die Geschichtsschreibung in Ost und West bislang zu vermitteln wußte. Luo Shixu hat in seiner vornehmlich anekdotenhaften Darstellung zum Wirken sowjetischer Experten an Universitäten und Forschungseinrichtungen in China einerseits ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die vordergründig enthusiastische Aneignung „sowjetischer Erfahrungen" oft nicht mehr als ein politisches Lippenbekenntnis der Hochschuldozenten war. Demnach führten die fachlichen Vorprägungen der Akteure zu einem selektiveren Umgang mit dem sowjetischen Fachwissen, als es die offizielle Lesart der Zeit „öffentlich" zuließ. Andererseits stehen wiederkehrende Zweifel an der damals propagierten generellen „Überlegenheit" der sowjetischen Wissenschaften und das „blinde Nacheifern sowjetischer Erfahrungen" in den von Luo zitierten Erinnerungen 263
„From the moment of its birth, the People's Republic of China looked to the Soviet Union as an ,elder brother' for ideological guidance and for its advanced experience in economic and cultural development. [...] Emulation of the Soviet Union would become a national policy during the early years of the People's Republic of China." Hartnett·. Saga, S. 191. 264 Hartnett: Saga, S. 222f. Pepper sieht in den verschiedenen Phasen des „Lernens von der SU" eine Parallele zur Haltung chinesischer Intellektueller gegenüber „westlichem Wissen" während der Republikzeit, nämlich die Kontinuität eines Reaktionszyklus von enthusiastischer Aufnahme und ernüchterter Ablehnung. „Russians replaced departing Americans and Europeans", lautet daher ihre Synthese des „Leitbildwechsels". Vgl. dies.: Radicalism and Education Reform, S. 157f. Damit ist die Vielschichtigkeit dieses Prozesses allerdings nicht berücksichtigt. 265 Im Unterschied zu dem in China geprägten Terminus der „totalen Verwestlichung" (quanpan xihua Ü i - f t ) , der während der Republikzeit sowohl negativ wie positiv konnotiert sein konnte, wurde die Orientierung an der Sowjetunion von chinesischer Seite nie mit dem entsprechenden Gegenbegriff belegt. Erst aus der Rückschau der 1990er Jahre wird der Slogan „Lernen von der Sowjetunion" mit den Adjektiven „total" (quanpan £ · & ) oder „auf ganzer Linie" (quanmian ^ Λ ) verbunden. Zou Denong spricht im Hinblick auf chinesische Architekturtheorien der 50er Jahre z.B. von einem „flächendeckenden Import" (quanpan yinjin · £ & 31 ï ê ) aus der Sowjetunion. Siehe Zou Denong: Yi ge chongman xiwang de xumu — Prelude Full of Hope, in: Zou Denong % Û fc/Dou Yide (Hrsg.): Zhongguo jianzhu wushi nian. 1949-1999 t S JÎÎ/L-5-+^/Fifty Years of Chinese Architecture, Beijing 1999, S., 6-12, hier S. 8. Auch der Begriff der „Sowjetisierung" selbst ist lexikalisch zu keiner Zeit nachweisbar. Zur Verwendung von Westernisierung, Amerikanisierung und Sowjetisierung im europäischen Kontext des Kalten Kriegs siehe Kap. 2.3 dieser Arbeit.
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3. Neue Städte für die Neue Gesellschaft
der Zeitgenossen extrem dicht beieinander - offenbar in Abhängigkeit zu den persönlichen Erlebnissen mit sowjetischen Lehrkräften und Spezialisten. 2 6 6 Massiver wurden die intellektuellen und akademischen Kreise der Volksrepublik von der bildungs- und kulturpolitischen Neuausrichtung auf die „fortschrittlichen Erfahrungen der Sowjetunion" durch die Kampagne zur ideologischen Umerziehung im September 1951 erfaßt. In einem Beitrag aus d e m Ideologieorgan Xuexi v o m N o v e m b e r desselben Jahres führte der stellvertretende Bildungsminister Qian Junrui aus, w e l c h e n „Phänomenen" die Kampagne entgegenwirken sollte: ,,[I]n den vergangenen zwei Jahren, insbesondere seit die Kampagne , Widerstand gegen die USA, Unterstützung fur Korea' zur landesweiten Entfaltung gekommen ist, hat sich das politische Niveau der Schullehrer allgemein erhöht, USA-Sympathie, USA-Verehrung und USA-Furcht haben sich bereits extrem abgeschwächt. Aber wir können nicht leugnen, daß unter den Dozenten vieler chinesischer Hochschulen weiterhin reaktionäre, bürgerliche Denkweisen europäisch-amerikanischer Prägung vorherrschen, insbesondere die Verehrung der amerikanischen Bourgeoisie. Sie vergöttern bis heute hartnäckig die Lebensweisen der anglo-amerikanischen Bougeoisie, besonders den sogenannten ,American way of life': sie beneiden den amerikanischen , Wohlstand' (und sehen dabei nicht die Not der amerikanischen Werktätigen), die politische Freiheit' (und wollen nicht glauben, daß Truman gerade eine faschistische Politik betreibt, die dem Volk alle legitimen Rechte entzieht) und die amerikanische Zivilisation' (sie sehnen sich nach der Degeneriertheit der anglo-amerikanischen Bourgeoisie und übersehen dabei, daß die breite Masse der anglo-amerikanischen Werktätigen in einer jämmerlichen Kulturlosigkeit versinkt). Sie bewundern die anglo-amerikanische Wissenschaft und Technik so sehr, daß es fast schon an Aberglauben grenzt, wohingegen sie für die fortschrittliche Wissenschaft und Technik der Sowjetunion nur verachtende Blicke übrig haben, ganz zu schweigen davon, daß sie gegenüber der Schöpferkraft und dem Erfindungsgeist des chinesischen Volkes irgendein Verständnis oder Vertrauen entwickelt hätten. Dieses Denken [...] ist der gefahrlichste Feind unserer Ideologie einer nationalen, wissenschaftlichen Massenkultur sowie des neudemokratischen Kulturverständnisses."267 In ihrem weiteren Verlauf nahm die im N a m e n der Hochschulreform lancierte „Umgestaltung" solcher „reaktionären D e n k w e i s e n " immer stärker die Form einer gezielten, quotierten Säuberungsaktion an, bei der eine große Anzahl von Menschen aufgrund ideologischer Bezichtigungen liquidiert wurde, Selbstmord beging oder einen sozialen Tod starb. 268 D i e offizielle Billigung von physischer
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Sehr wahrscheinlich ist, daß in solchen Rückblicken eine Vermischung von kollektiven und individuellen Erinnerungen stattfindet. Vgl. Luo Shixu: Sulian zhuanjia zai Zhongguo, S. 302-325: „Gaoxiao ,yimiandao"' mtë. ' — ä)#I ' [Yimiandao an den Hochschulen]. Es fehlt nach wie vor an Untersuchungen, wie sich die offizielle „Sowjetorientierung" auf die einzelnen akademischen Bereiche ausgewirkt hat. 267 Qian Junrui Gaodeng jiaoyu gaige de guanjian rlj-^tfcli s i i [Kernpunkte der Hochschulreform], in: Xuexi 5/1, November 1951, S. lOf, hier S. 10. 268 So wurden im Mai 1952 vom ZK der KPCh prozentuale Richtwerte zirkuliert, nach denen bei der ideologischen Umerziehung der Hochschullehrerschaft landesweit vorgegangen werden sollte. Demnach waren 60-70% des Lehrkörpers einer Hochschule nach einmaliger Selbstkritik als „umerzogen" einzustufen, 15-20% erst nach „angemessener Kritik", ca. 13% erst nach wiederholten Kritik-/Selbstkritik-Sitzungen; circa 2% der Belegschaft würde sich als „nicht umerziehbar" erweisen und von ihren Posten entfernt werden. Siehe die entsprechenden Vorgaben in: Zhonggong zhongyang guanyu zai gaodeng xuexiao zhong pipan
3.3 Leitbilder und Bauprojekte
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und psychischer Gewalt als Katharsis, als Voraussetzung für die „Geburt eines Neuen China" (Xin Zhongguo de dansheng)269 und schlußendlich auch Neuer Menschen kommt sprachlich wohl an keiner Stelle klarer zum Ausdruck als in den dazugehörigen Begriffen von xinao und xizao - von „Gehirnwäsche" und „Reinigung".270 Beide Begriffe bezeichneten seinerzeit bestimmte Praktiken der „ideologischen Umerziehung" und wurden synonym fur die sixiang gaizao-Kampagae verwendet. Wie Yu Fengzheng in seiner 2001 erschienenen Monographie zur Umgestaltung der chinesischen Gesellschaft zwischen 1949 und 1957 eindrücklich wiedergibt, wurden die quasi-religiösen Bezüge des Umgestaltungs-Idioms auch für die Praxis handlungsanleitend: Xizao im Sinne einer geistig-moralischen Läuterung hieß an den Hochschulen, daß sich jeweils das gesamte Personal - in Abhängigkeit von beruflicher Position, Reputation und Schwere der ideologischen „Fehler" - vor Kollegen, Angestellten und Studierenden einer öffentlichen Kritik und Selbstkritik zu unterziehen hatte, um sich vom „Schmutz" (wugou) kapitalistischer Denkweisen rein zu waschen.271 Über den Erfolg dieses „Reinigungsprozesses" hatten am Ende die „Massen" zu befinden, die auf den jeweiligen Kritikversammlungen zugegen waren. Nicht wenige Lehrkräfte mußten sich als Zielscheibe des von der KPCh organisierten „Volkszorns" (minfen) mehrmals Veranstaltungen dieser Art unterziehen, bevor ihnen das erlösende Urteil „bestanden" (guoguan) zuteil wurde. Yu Fengzheng zeigt anhand der Aufzeichnungen von persönlichen Erinnerungen, daß Betroffene das metaphorische „Bad in der Masse" noch heute in den Termini einer mentalen und körperlichen (!) Läuterung beschreiben. Neben den Anklängen an die religiösen Momente von Beichte und Absolution
zichan jieji sixiang he qingli „zhongceng" de zhishi + -f & jttï'i f f 1 Ri-fe S S í " >'t a " ψ M" W S Ψ [Weisung des ZK der KPCh an den Hochschulen kapitalistische Denkweisen zu kritisieren und die „mittlere Ebene" zu überprüfen], 2.5.1952, in: JGYLZYWXXB, Bd. 3, S. 174-178, hier S. 175. 269 Eine gängige Metapher, die sich u.a. im Titel einer zeitgenössischen Darstellung der Revolution wiederfindet: Liao Gailong kfk: Xin Zhongguo shi zenyang dansheng de Μ Ψ S Α [ W i e das Neue China geboren wurde], Shanghai 1952. 270 Zur westlichen Verwendung des in China selbst geprägten Terminus xinao vgl. Pepper: Radicalism and Education Reform, S. 166f. Bei Pepper - wie auch in vielen anderen Darstellungen zur Hochschulreform - wird der Aspekt physischer Gewalt nicht eigens thematisiert. Eine Ausnahme ist Marie-Luise Näth, die in ihrer Einführung Zahlen zu Hinrichtungen und Verfolgungen im Zuge des Kampagnen-Konglomerats von sanfan, wufan und sixiang gaizao yundong nennt: Näth (Hrsg.): Communist China in Retrospect, S. 21; siehe dazu ebenfalls die Darstellung von Yu Fengzheng "Ï" Gaizao. 1949-1957 nian de zhishifenzi a t i è : 1 9 4 9 - [ U m e r z i e h u n g . Intellektuelle zwischen 1949 und 1957], Zhengzhou 2001, S. 208-214; zu den Denkmustern und den Mechanismen der Verfolgung sogenannter „Feinde" siehe die Analyse von Cheng-Chih Wang: Words Kill. Calling for the Destruction of „Class Enemies" in China, 1949-1953, New York/London 2002. 271 Vgl. Zhonggong zhongyang guanyu xuanchuan wenjiao bumen ying wu liwai de jinxing „sanfan" yundong de zhishi f "-Ξ-Ä" M1Ä ^ [Weisung des ZK der KPCh zur ausnahmslosen Durchführung der sanfan-Kampagne in den Propaganda-, Kultur- und Bildungsorganen], 22.1.1952, in: JGYLZYWXXB, Bd. 3, S. 48ff, hier S. 49; Yu Fengzheng: Gaizao, S. 208.
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3. Neue Städte fur die Neue Gesellschaft
bzw. an die Taufe als Symbol der Aufnahme in die Gemeinschaft der Gläubigen, läßt sich in der zeitgenössischen Reinigungs-Metaphorik zugleich eine weitere Komponente ausmachen: Hier werden politisch „unzuverlässige" soziale Gruppen als „verunreinigende" „Fremdkörper" konzeptualisiert. Gegen die vermeintliche Bedrohung von innen werden die „Abwehrmechanismen" der „gesunden" Anteile der chinesischen Gesellschaft gelenkt.272 Bei einem Großteil der Bildungseliten, die bei Staatsgründung mit einigem Enthusiasmus in den Dienst des Neuen China getreten waren, resultierten die gewaltsamen und psychisch zermürbenden Formen der Umerziehungs-Kampagne allerdings schlichtweg in Unverständnis, Verbitterung und - soweit eben möglich - Verweigerungsstrategien.273 Wenn auch in den Parteidirektiven zwischen 1951 und 1952 mehrfach davon die Rede ist, daß ein hoher Prozentsatz des Hochschulpersonals nach einmaliger Selbstkritik bereits als „geläutert" zu gelten habe, entwickelte sich die Kampagne in der Praxis für viele der Beteiligten dennoch alles andere als harmlos.274 Ein Indikator dafür ist nicht zuletzt die hohe Selbstmordrate unter den Hochschuldozenten.275 Insofern wird der offizielle Umgang mit den Bildungseliten während der Gründungsphase der Volksrepublik von der aktuellen chinesischen Forschung immer häufiger auch in Kontinuität zu den Ereignissen der Kulturrevolution mehr als ein Jahrzehnt später gesehen.276 Im Verbund mit dem ursprünglichen Ziel der Reinigungskampagne, „reaktionäre Relikte auf ideologischer, politischer und organisatorischer Ebene aus den Bildungseinrichtungen zu beseitigen, damit alle chinesischen Schulen nach und nach revolutionäre Reinheit [geming de chunjiexing] erreichen
272
Allgemeiner bearbeitet hat diesen Aspekt Philipp Sarasirr. Infizierte Körper, kontaminierte Sprachen. Metaphern als Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte, in: ders.: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt a. M. 2003, S. 191-230. Ausgehend von einem Überblick über die aktuellen kulturhistorischen Theoriediskussionen zur Wirkungsweise von Metaphern beschreibt Sarasin für den europäischen Kontext, wie politische Metaphern zwischen 1870 und 1930 in die Bakteriologie Aufnahme gefunden und von dort auf die politischen Diskurse der Zeit zurückwirkt haben. 273 Zu den unterschiedlichen Erfahrungen und Strategien von xizao vgl. die zitierten Erinnerungen bei Yu Fengzheng: Gaizao, S. 212f. 274 So auch die Einschätzung von Yu Fengzheng: Gaizao, S. 210: .„Reinigung' und ,Lossprechung' waren in der Kampagnenpraxis natürlich nicht so entspannt und maßvoll wie in den Dokumenten beschrieben." 275 Die Weisung, weiteren Selbstmorden im Zuge der san/ün-Kampagne an den Hochschulen vorzubeugen, findet sich in: Zhonggong zhongyang guanyu zai gaodeng xuexiao zhong jinxing „sanfan" yundong de zhishi Ψ # Ψ & - f ¿ . ti • + ä - f r " -Ξ-&" Φ [Weisung des ZK der KPCh zur Durchführung der sa«/àn-Kampagne an den Hochschulen], 13.3.1952, in: JGYLZYWXXB, Bd. 3, S. 117-120, hier S. 120. 276 Diese Position vertreten u.a. Yu Fengzheng: Gaizao, S. 214; und Luo Shixu: Sulian zhuanjia zai Zhongguo, S. 365. Hier wird mit Verweis auf die zahlreichen Beispiele von Selbstverleugnung innerhalb der wissenschaftlich-technischen Eliten formuliert, daß die Ursprünge der Kulturrevolution in den frühen 50er Jahren zu suchen seien. Der Hinweis auf eine mögliche Kontinuitätslinie zwischen der Kampagnenabfolge von 1950-1953 und der Kulturrevolution findet sich auch bei Kaple\ Red Factory, S. 114.
3.3 Leitbilder und Bauprojekte
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und bewahren" 277 konnten, stand schließlich auch die administrative „Bereinigung" „irrationaler Elemente" aus der bestehenden Hochschulorganisation. 2 7 8 D i e zeitgenössische Präsentation dieses Aspekts von gaizao unterscheidet sich in Argumentation und Stilistik deutlich von den Texten zur „ideologischen Umerziehung". Hier war man in sachlich-pragmatischem Ton vor allem darum bemüht, die schon vorgenommenen und noch ausstehenden administrativen und fachlichen Umstrukturierungsmaßnahmen in den Fortschrittskontext des „nationalen Aufbaus" zu stellen und die wissenschaftliche Überlegenheit der „anderen Moderne" - respektive des sowjetischen Modells - gegenüber den einstigen Referenzgrößen der Republikzeit hervorzuheben. „Dadurch, daß im Neuen China das Volk die politische Macht in den Händen hält, eröffnet sich für den nationalen Aufbau eine Perspektive unbegrenzter Entwicklung. Daher muß die Hochschulbildung gut auf die Erfordernisse der verschiedenen Bereiche des nationalen Aufbaus abgestimmt sein und eine große Zahl von Fachkräften ausbilden, die den AufbauAnforderungen entsprechen. [...] Das neue System unterscheidet sich nicht nur dem Wesen nach vom alten System, sondern weist eine Überlegenheit auf, die das alte System nicht hatte und nicht haben konnte. Die Umsetzung des neuen Systems repräsentiert die Entwicklung des Aufbaus im Neuen China und symbolisiert einen neuen Sieg des chinesischen Volkes auf der Ebene der Bildungsreform."279 Auskunft über die zeitgenössischen Ordnungsvorstellungen, die von offizieller Seite hinter der Reorganisation des Hochschulsystems standen, geben die Attribute, mit denen das angestrebte „neue System" beschrieben wurde: Im Gegensatz zu den allgemeinbildenden (yilanzi) Institutionen der Vergangenheit sollten die Hochschulen neuen Typs geplant, rationell und bedarfsorientiert ausbilden. 280 Konzentration (von aufbaurelevanten Fächern, Ressourcen 277
Zhonggong zhongyang guanyu zai xuexiao zhong jinxing sixiang gaizao he zuzhi qingli gongzuo de zhishi de tongzhi [Bekanntmachung der Weisung des ZK der KPCh zur Durchführung der ideologischen Umerziehung und zur Organisation der Überprüfung an den Schulen], 30.11.1951; zitiert nach Yu Fengzheng: Gaizao, S. 205f. 278 Dazu gehörte die Unterscheidung von drei verschiedenen Hochschultypen (Universitäten, Fachhochschulen, auf einen Fachbereich spezialisierte Institutionen), die Zusammenlegung und Auflösung von Hochschulen nach fachspezifischen Kriterien und eine entsprechende landesweite Umverteilung des vorhandenen Lehrpersonals. Ferner wurden Curricula revidiert und „gemäß den Erfordernissen des Aufbaus" insbesondere um naturwissenschaftlich-technische Fachbereiche ergänzt. Vgl. die Ausführungen von Zeng Zhaoyu "f 38#T: Gaodeng xuexiao de „zhuanye" shezhi wenti rti íF Γ i t J it ϊ . í°] á® [Die Frage der Einrichtung von „Fächern" an den Hochschulen], RMJY 9,1952, in: XHYB 36/10, 198-201, 199. Einen Überblick über die einzelnen Etappen bei der Umstrukturierung des Hochschulssektors gibt Pepper: Radicalism and Education Reform, S. 174-179. 279 Zeng Zhaoyu: Gaodeng xuexiao, S. 201. 280 Die chinesische Bezeichnung yilanzi trägt in diesem Zusamenhang eindeutig negative Züge und kann durch den deutschen Begriff „allgemeinbildend" nicht adäquat wiedergegeben werden. Abschätzig gesprochen wird hier von einer breiten, unspezifischen Allgemeinbildung, dem Heranziehen von „Universalgenies" (tongcai von dem sich die künftige Ausbildung von „Fachkräften" {zhuanmen rencai f Π λ ί ) durch Zielgerichtetheit, Spezialisierung und Standardisierung der Lehrpläne abheben soll. Vgl. die Darstellung bei Zeng Zhaoyu: Gaodeng xuexiao, S. 198; und den RMRB-Leitartikel zu diesem Thema: Zuo hao yuanxi tiaozheng gongzuo, youxiao de peiyang guojia jianshe ganbu
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3. Neue Städte für die Neue Gesellschaft
und Lehrkräften an ausgewählten ,,Schwerpunkt"-Hochschulen), Spezialisierung (von Institutionen und Studierenden auf eingegrenzte Fachgebiete) und Standardisierung (von Lehrplänen und Wissensbeständen) waren die erklärten Reformziele, um mit einer systematischen Anhebung des „wissenschaftlichtechnischen Niveaus" den raschen „Aufbau" einer modernen Industrie in China zu sichern. Die neue chinesische Hochschule, so ließe sich als Resümee der damaligen Vorstellungen formulieren, würde planmässig festgelegte Quoten von gleichbleibend qualifiziertem, sofort einsetzbarem „Aufbaupersonal" „produzieren". Mit Verweis auf das sowjetische Vorbild wurden die restrukturierten tertiären Bildungseinrichtungen des Neuen China gleichsam im Fabrikmaßstab organisiert: Der „Ausstoß" von Absolventen der Hochschulen sollte zur Bewältigung der bevorstehenden „Aufbau"-Aufgaben eingesetzt werden. Es ist daher auch kaum verwunderlich, wenn innerhalb solcher Szenarien der Ingenieur oder die Ingenieurin als Hauptakteure angesprochen wurden.281 Das „Lernen von der Sowjetunion", in diesem Fall die Aneignung sowjetischer Hochschulstrukturen und ihre Übertragung auf den chinesischen Kontext, wurde offiziell zum integralen Bestandteil, wenn nicht sogar zur Basis des gesamten Reformunterfangens erklärt. Die Renmin ribao ließ diesebezüglich verlauten: „Bei der gegenwärtigen Reform des Hochschulwesens müssen wir eingehend die fortschrittlichen Erfahrungen der Sowjetunion studieren. Im wesentlichen können wir die sowjetischen Lehrpläne und Lehrmaterialien der jeweiligen Fächer benutzen. S;e sind wahrhaft wissenschaftlich und eng an der Praxis orientiert. Was das Problem der Anpassung an die chinesischen Realitäten betrifft, so können wir uns später im Zuge der Lehrpraxis um Lösungen bemühen."282
Der Leitartikel forderte weiterhin eine möglichst umfassende Übersetzung der damals aktuellen sowjetischen Hochschulcurricula und -Lehrbücher ins Chinesische. Über diesen Weg sollten neue technische Studiengänge ihren Weg nach China finden. In diesem Zusammenhang stand für die chinesischen Hochschuldozenten das Erlernen der jeweiligen russischen Fachsprachen auf der Agenda der „Readjustierung" an oberster Stelle.283 • t A i & t Z f r & t . & i i l - t f · [Die Ausrichtung des Hochschulsystems erfolgreich zuende fuhren, effektiv Kader für den nationalen Aufbau ausbilden], RMRB, 24.9.1952, in: XHYB 36/10, 1952, S. 197f. 281 Zeng Zhaoyu: Gaodeng xuexiao, S. 199. Seine Darstellung orientiert sich weitgehend an der Rede des sowjetischen Experten Fomin: Fumin iä R [Fomin]: Sulian gaodeng jiaoyu de gaige [Die Reform der sowjetischen Hochschulbildung], RMJY 9, 1952, in: XHYB 36/10, 1952, S. 201 f. 282 Zuo hao yuanxi tiaozheng, S. 197. 283 Vgl. Qian Weichang 4% -tfc : Women you xinxin de xuexizhe Sulian fH -S" \% Afe # 3 Mt [Wir lernen voller Zuversicht von der Sowjetunion], in: ZGQN 134/7, 1954, S. 22f. 284 Diese Beobachtung unterstützt die These Suzanne Peppers, daß die zeitlich unterschiedlichen Phasen des Wissenstransfers nach China im 19. und 20. Jahrhundert einen jeweils vergleichbaren Zyklus von Enthusiasmus, Ernüchterung und Ablehnung erkennen lassen. Vgl. dies.: Radicalism and Education Reform, S. 157-163.
3.3 Leitbilder und Bauprojekte
217
Xuexi Sulian wird in den zeitgenössischen Aussagen rund um den Wissenschaftssektor als ein monolithisches Übernahmeprojekt präsentiert, als „conscious copying" (Price), auch wenn die spezifischen Übernahmetechniken im Herbst 1952 noch ungeklärt zu sein schienen. Zur kritischen Frage, wie das sowjetische Wissen fur den chinesischen Kontext am besten zu adaptieren (und damit schlußendlich nutzbar zu machen) war, wurden vorerst keine Anweisungen fixiert. Genausowenig wurde öffentlich thematisiert, daß das „sowjetische System" der frühen 50er Jahre eingebettet in die Strukturen der chinesischen Volksrepublik andere Wirkungen zeigen könnte, als ursprünglich geplant. Im Gegenteil, interne Einwände gegen die offizielle Übernahmestrategie mit Verweis auf die entwicklungsbedingten Unterschiede zwischen beiden Ländern wurden von vornherein als reaktionäres Zweifeln stigmatisiert.284 Vermitteln die zeitgenössischen Texte damit das Bild einer bewußten „Selbstsowjetisierung" der Volksrepublik, wird im historischen Rückblick nun immer stärker auf die Grenzen dieses Unterfangens hingewiesen. Unangefochten steht das Schlagwort yuanxi tiaozheng bis heute synonym für xuexi Sulian im Hochschulsektor. Diese gedankliche Verkettung haben alle Fachleute, die für die vorliegende Untersuchung als Zeitzeugen zur Entwicklung der chinesischen Stadtplanung in den 50er Jahren befragt wurden, reproduziert. Bemerkenswert ist, daß zugleich aber die Mehrzahl von ihnen den eigenen Fachbereich vom „Generalverdacht" einer Sowjetisierung ausgenommen wissen wollte. In den Erinnerungen der Stadtplaner und Studierenden von damals überwiegt heute die Überzeugung, „nicht vollständig auf die Sowjetunion gehört" zu haben (bu shi wanquan ting Sulian de hua). Das wiederum heißt nicht, daß die Interviewpartner die repressiven Auswirkungen der Politik des yibiandao auf die Stadtplanung gänzlich unter den Tisch gekehrt hätten. Xuexi Sulian habe auch bedeutet, so die einhellige Darstellung, daß offene Diskussionen der sowjetischen Planungskonzepte oder gar direkte Kritik an den unter sowjetischer Beteiligung entstandenen Entwürfen für die chinesischen „Aiifbau"-Städte in der ersten Hälfte der 50er Jahre nicht möglich gewesen seien. Nur auf subtileren Wegen habe man in einzelnen Fällen davon abweichende Vorstellungen zur Durchsetzung bringen können.285 Dennoch sehen die Zeitzeugen das „Lernen von der Sowjetunion" aus heutiger Sicht keineswegs unter rein negativen Vorzeichen. Hier wird in der Regel das Argument reaktiviert, daß angesichts der internationalen politischen Konstellationen - insbesondere während des Korea-Kriegs - das Bündnis mit der Sowjetunion für die Volksrepublik die einzige Möglichkeit zu ökonomischem Wiederaufbau und industrieller Entwicklung dargestellt habe.286 Der Leitsatz 285
Interviews mit Li Dehua (04.04.2002, Shanghai) und Dong Jianhong (03.04.2002, Shanghai); siehe dazu auch die Ausführungen unter Abschnitt 3.3.2 dieser Arbeit. 286 Interview mit Zhang Jinggan fcfff-'rk (25.03.2002, Beijing). Dieses Argumentationsmuster liegt z.B. auch einem Beitrag über die chinesische Abkehr vom sowjetischen „Aufbaumodell" zugrunde. Vgl. Wang Zhen i J t : 50 niandai zhongqi woguo dui Sulian jianshe
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3. Neue Städte für die Neue Gesellschaft
xuexi Sulian sei von den damals noch in der Ausbildung befindlichen Akteuren naiv-enthusiastisch aufgenommen, unter den Älteren aber erst durch den Einsatz von physischer Gewalt und psychischem Druck durchgesetzt worden. 2 8 7 Zu bedenken gaben einige der Interviewpartner auch, daß die auslandserfahrenen chinesischen Fachleute auf der Basis des bereits vorhandenen Wissens über Stadtplanung und Städtebau das „fortschrittliche Wissen der Sowjetunion" erstens ohnehin nur selektiv und zweitens mit regional großen Diskrepanzen übernommen hätten. In diesem Zusammenhang ist charakteristisch, w i e Li D e hua und D o n g Jianhong das Entstehen des Fachs Stadtplanung an der Tongji Universität beschrieben haben: „Während der damaligen Bildungsreform wurde besonders betont, daß alles von der Sowjetunion gelernt werden sollte, aber in dem seinerzeit verfügbaren sowjetischen Verzeichnis von Fächern aus Bauwesen und Architektur gab es das Fach Stadtplanung gar nicht, nur das Fach ,Städtebau und Kommunalwirtschaft' [gorodskoe stroitel'stvo i chozjajstvo] kam dem inhaltlich sehr nahe, daher benutzte man Bezeichnung und Lehrplan dieses Faches. Die übersetzte Fachbezeichnung lautete ,Großstadtplanung und Kommunalwirtschaft' [dushijihua yu jingying] (was später in .Städtebau und Kommunalwirtschaft' umbenannt wurde), aber an der ursprünglichen Intention, die Stadtplanung als Fach zu etablieren, änderte sich nichts. Am ursprünglichen sowjetischen Lehrplan wurden lediglich einige Korrekturen [xiugai] vorgenommen, unter anderem weitete man die Einfuhrungskurse in Planung aus, so daß der Stadtplanungsunterricht sich auf drei Semester erhöhte. Außerdem wurden die beiden Kurse Detailplanung und Generalplanung eingerichtet, Anzahl und Dauer der Architektur-Lehrveranstaltungen sowie der Anteil des Projektierungsunterrichts erhöht und einige Baupraktika aus dem ursprünglichen Lehrplan in Praktika zu Untersuchungen zum Zustand der Städte und in Praktika zur Planungspraxis umgewandelt."288 D i e „Übernahme" der sowjetischen Lehrpläne haben D o n g und Li lediglich als ein w i l l k o m m e n e s Mittel dargestellt, mit dem sich schon lang gehegte eigene Vorstellungen realisieren ließen. 289 D i e sowjetischen Curricula wurden demnach w i e ein Mantel benutzt, um den bereits bestehenden Wissenskorpus fur Stadtplanung in politisch akzeptablere Formen zu kleiden. Ein solches Vorgehen war genau das, w a s Mitte der 50er Jahre in einer zeitgenössischen Zwischenbilanz zu den Erfolgen des „Lernens von der Sowjetunion" als Vorwurf
moshi de tupo + [Die Überwindung des sowjetischen Aufbaumodells in China Mitte der 50er Jahre], in: DDZGSYJ 6/2, 1995, S. 15-24, hier S. 15; zur Einbindung der Volksrepublik China in das ökonomische System des „Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe" siehe Kirby: China's Internationalization, S. 884ff; und Lowell Dittmer: Sino-Soviet Normalization and Its International Implications, 1945-1990, Seattle 1992, S. 17-25, 166ff. 287 Interviews mit Chen Baorong (21.11.2000, Beijing) und Zou Deci (16.11.2000, Beijing). 288 Dong Jianhong/L¡ Dehua: Chengshi guihua de zuji, S. 92. Das in dieser Passage verwendete Substantiv xiugai beinhaltet immer die Bedeutungsebene von „terbesserung". 289 Zugleich bewegt sich die Schilderung im Argumentationsrahmen der Redefigur „Rückständigkeit", selbst wenn der Begriff an sich nicht genannt wird: Eigentlich sollte Fortschrittliches von der Sowjetunion gelernt werden; was aber tun, wenn China bereits über fortschrittlichere Strukturen als die Sowjetunion verfügte? Hier wird dem sowjetischen Vorbild auf sehr subtile Weise „Rückständigkeit" attestiert.
3.3 Leitbilder und Bauprojekte
219
gegen die „alten" akademischen Eliten erhoben wurde: Viele Wissenschaftler „würden am liebsten nur die Anteile aus der sowjetischen Wissenschaft lernen, die ihren eigenen Ansichten entsprechen" oder mit den Inhalten der „anglo-amerikanischen Lehrmaterialien identisch" sind, kritisierte 1954 ein Bildungsfunktionär der Qinghua Universität in der April-Ausgabe der Zeitschrift Zhongguo qingnian.290
3.3.2 Nur „zu einer Seite geneigt"? Wege des Wissenstransfers In seiner Untersuchung zu den sowjetischen Einflüssen auf das chinesische Bildungssystem der Volksrepublik hat Ronald Price konstatiert, daß das „Lernen von der Sowjetunion" im chinesischen Kontext der frühen 50er Jahre sehr unterschiedliche Dimensionen und Funktionen besaß. Erstens, so seine These, sei es beim „Lernen von der Sowjetunion" nicht allein um die Vermittlung bestimmter Bildungsinhalte und wissenschaftlich-technischer Kenntnisse gegangen, sondern ebenso darum, einen Kanon von „moralisch-politischen Verhaltensweisen" zu internalisieren. Zweitens ließe sich zwar eine direkte Orientierung Chinas an der Sowjetunion entlang der Imitation institutioneller Strukturen oder über den Transfer von „kulturellen Objekten" (Bücher, Lehrpläne, technische Dokumente etc.) während der 50er Jahre nachvollziehen. Aber, so die dritte Beobachtung, man könne ausgehend von offiziellen chinesischen Aussagen über die gezielte Anleihe bei sowjetischen Vorbildern wiederum nicht zwangsläufig auch auf einen tatsächlich erfolgten Transfer schließen. Oft habe der schlichte Verweis auf sowjetische Vorbilder „genuin chinesischen" Entscheidungen innerhalb Chinas größere Legitimation verschafft. Price kommt in seiner Studie zu dem Ergebnis, daß xuexi Sulian als politisch-ideologische Losung eine extrem dehnbare Hülle gewesen sei, unter der Interessen unterschiedlichster Herkunft zusammengefaßt werden konnten.291 Geht man von dieser Prämisse aus, stellt sich erneut die Frage, wie in der Volksrepublik von der Sowjetunion gelernt werden sollte und auf welcher Basis dieses „Lernen" stattfinden konnte. Wie sollten die „fortschrittlichen Erfahrungen" des sowjetischen Bündnispartners zu den chinesischen Rezipienten gelangen? Was galt aus Sicht der damaligen chinesischen Führung als nachahmenswert? Im folgenden wird versucht zu rekonstruieren, aus welchen 290
Qian Weichang: Xuexizhe Sulian, S. 23. „It should also be clear that the process of borrowing has been less uncritical and wholesale than has often been asserted both inside and outside China. In judging claims one should remember that alleged borrowing may simply be a justification for doing what on other grounds someone wanted to do anyway. Even more important, the same form can hide a variety of contents. [...] an institution modelled on Soviet lines, staffed by Chinese, may function rather differently." Ronald F. Price: Convergence or Copying. China and the Soviet Union, in: Ruth Hayhoe/Maxiaxme Bastid (Hrsg.): China's Education and the Industrialized World. Studies in Cultural Transfer, Armonk 1987, S. 158-183, hier S. 183; siehe dazu neuerdings auch die Beiträge in BernsteinILi (Hrsg.): China leams from the Soviet Union. 291
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3. Neue Städte für die Neue Gesellschaft
Komponenten sich der Kanon von xuexi Sulian für den chinesischen Städtebau der 50er Jahre zusammengesetzt hat. Dabei werden schwerpunktmäßig zwei Formen des Transfers untersucht: zum einen die Vermittlung von Fachwissen über Printmedien, zum anderen die Wissensvermittlung über direkte Kontakte und Interaktion mit sowjetischen Experten in China. Deborah Kaple, die sich mehrfach mit der Transferproblematik zwischen der Sowjetunion und der Volksrepublik China auseinandergesetzt hat, stellt in ihrer Monographie Dream of a Red Factory die These auf, daß fur den anfanglichen „Aufbau" der Volksrepublik der sowjetische Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg Pate gestanden habe - ein Modell, das an die Herrschaftsmethoden der 1930er Jahre anknüpfte und über das die politische Kultur eines, wie Kaple es formuliert, high Stalinism für China adaptiert wurde.292 Welche Interpretation dieses Modells dabei in der Volksrepublik Gestalt annahm, wurde laut Kaple nicht allein von den Intentionen der chinesischen Führung sondern gerade auch durch die Beschaffenheit der Transfermedien maßgeblich mitbestimmt. Sollte nach chinesischer Vorstellung fur eine schnelle „sozialistische Industrialisierung" ihres Landes nur das „Beste aus dem sowjetischen System" Verwendung finden, setzte sich nach Kaples Befund die chinesische Wissensgrundlage über das „sozialistische Paradies" (shehuizhuyi de leyuan)293 der Werktätigen anfangs hingegen vornehmlich aus Propagandamaterialien zusammen. Das, was die Sowjetunion fur China in Übersetzung bereithielt, feierte sprachlich und visuell in leuchtenden Farben die Erfolge des vierten Fünfjahrplans der Sowjetunion (1946-1950). Kaple erinnert daran, daß bis heute unerforscht ist, wie dieses Wiederaufbaumodell von den Entscheidungsträgern in China aufgenommen wurde und ob man solche Beschreibungen tatsächlich für eine authentische Wiedergabe der sowjetischen Verhältnisse hielt.294 Welche Aspekte des sowjetischen Systems der KPCh zur Übernahme geeignet erschienen, läßt sich indessen genauer umreißen, wenn man die Publikationslandschaft der jungen Volksrepublik betrachtet. Kaple wiederum hat hier eine deutliche Diskrepanz zwischen dem, was von sowjetischer Seite an chinesischsprachigen Publikationen produziert und dem, was in China aus dem Russischen übersetzt wurde, beobachtet. Bestand nach ihren Angaben die vielgepriesene sowjetische Unterstützung für China zwischen 1949 und 1953 hauptsächlich in der Übersetzung von allgemeinen Werken zum Themenkreis des „Übergangs zum Sozialismus", wurde wenig später in der Volksrepublik selbst eine regelrechte Übersetzungskampagne gestartet, um konkretere Orientierungsmuster und anwendungsbezogenes Wissen fur den „ A u f b a u " zu erhalten. Übersetzt wurden demnach alle Publikationen, derer man in China
292
Kaple: Red Factory, S. 4 - 7 . So die Worte eines sowjetischen Jugendlichen, wiedergegeben in Qian Gufeng Sidalin pailai de ren Λ. [Die Leute, die Stalin geschickt hat], Shanghai 1953, S. 2. 294 Kaple: Red Factory, S. 9f. 293
3.3 Leitbilder und Bauprojekte
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habhaft werden konnte, von wissenschaftlicher Fachliteratur, technischen Abhandlungen und Konstruktionsplänen bis hin zu Handbüchern fur Verwaltung, Organisation und Management.295 Bei der Verbreitung dieses Wissens innerhalb der Volksrepublik spielten seit Mitte der 50er Jahre Fachzeitschriften eine prominente Rolle. Demgegenüber fand eine direkte Interaktion mit dem neuen Bündnispartner zunächst offenbar in wesentlich geringerem Umfang statt, als weithin angenommen wird. War die chinesische Aneignung „westlicher Wissenschaften" seit der Jahrhundertwende zunehmend über direkte Kontakte verlaufen - zu nennen sind hier in erster Linie das Auslandsstudium sowie die Präsenz ausländischer Bildungsinstitutionen und Unternehmen im republikzeitlichen China - läßt sich für die Anfangsjahre der Volkrepublik im Hinblick auf die seit 1949/50 diktierte „Ausrichtung an der Sowjetunion" zunächst weder in qualitativer noch in quantitativer Hinsicht Vergleichbares feststellen. Bisher liegen fur den hier bearbeiteten Untersuchungszeitraum keine verläßlichen Angaben über die Anzahl chinesischer Studierender oder chinesischer Arbeiter-Delegationen in der Sowjetunion vor.296 Zwar hob der Planungsfunktionär Lan Tian in seinem Festbeitrag zum 40. Jahrestag der Oktoberrevolution in der Zeitschrift Chengshijianshe hervor, daß mit Beginn des ersten Fünfjahrplans chinesische Studierende und Praktikanten im Fachbereich Stadtplanung auch in der Sowjetunion ausgebildet würden (und tatsächlich erschien zeitgleich in der Jianzhu xuebao der Erfahrungsbericht über einen solchen Studienaufenthalt)297,
295
Eine Auflistung der von sowjetischer Seite fur die Volksrepublik übersetzten Werke (1949-1955) findet sich bei Kaple: Red Factory, S. 13-18. Eine Übersetzungsinitiative für städtebauliche Referenzmaterialien aus der Sowjetunion kündigte das Bauministerium auf dem Ersten Nationalen Städtebaukongress im Juni 1954 an. Vgl. Sun Jingwen: Ji nian lai chengshijianshe gongzuo, S. 280. 296 Das bestätigen auch die Beiträge von Izabella Goikhman: Soviet-Chinese Academic Interactions in the 1950s. Questioning the „Impact-Response" Approach, in: Thomas P. Bernste/WHua-Yu Li (Hrsg.): China Learns from the Soviet Union, 1949-Present, Lanham 2010, S. 275-302, hier S. 282f; und Elizabeth McGuire: Between Revolutions. Chinese Students in Soviet Institutes, 1948-1966, in: Thomas P. BernsieiniHua-Yu Li (Hrsg.): China Learns from the Soviet Union, 1949-Present, Lanham 2010, S. 359-389, hier S. 361f. Da in anderen aktuellen Darstellungen weiterhin vorgegeben wird, die Konturen der sowjetisch-chinesischen Interaktion seien „hinlänglich bekannt", sind diese blinden Flecken der Forschung in absehbarer Zeit wahrscheinlich auch nicht zu beseitigen. Symptomatisch ist, daß diesbezügliche Behauptungen von William Kirby gänzlich ohne Belege auskommen. Siehe Kirby: China's Internationalization, S. 884f. 297 Lan Tian: Xiang Sulian xuexi, S. 9: „Durch die tatkräftige Anleitung und Hilfe der sowjetischen Experten haben wir bereits [...] in großem Umfang neue Kräfte für die Stadtplanung unseres Landes gestählt und herangezogen. Unvollständigen statistischen Angaben zufolge, verfügt unser Land derzeit über mehr als 3000 Beschäftigte in der Stadtplanung, ungefähr 1500 davon sind technische Fachleute. Während des ersten Fünfjahrplans hat die Sowjetunion eingewilligt, daß China Auslandsstudenten und Praktikanten in die Sowjetunion entsendet, um Stadtplanung zu studieren, und hat somit noch mehr technische Fachkräfte für unser Land ausgebildet bzw. ist gerade dabei, sie auszubilden." Ergänzend dazu Li Cai Φ : Wo zai Sulian xuexi de tihui λί [Meine Eindrücke vom Studium in der Sowjetunion], in: JZXB 10, 1957, S. 8f.
222
3. Neue Städte für die Neue Gesellschaft
andere Aussagen lassen j e d o c h darauf schließen, daß das Austauschvolumen auf der akademischen w i e auf der betrieblichen Ebene fur die erste Hälfte der 50er Jahre noch sehr gering g e w e s e n sein muß. 298 Aber auch der umgekehrte Weg wurde nach neueren Erkenntnissen eher zögerlich beschritten. Kaple zufolge gab es bis 1953 nur w e n i g e sowjetische Experten und Berater als direkte Vermittlungsinstanzen des „sowjetischen M o dells" in China. 299 Mit einiger Berechtigung ließe sich daher fragen, w i e es unter solchen Voraussetzungen überhaupt möglich war, „von der Sowjetunion zu lernen". Wenn den chinesischen Fachleuten selbst in schriftlicher Form nur spärliche Informationen über die „sowjetischen Erfahrungen" in den diversen Disziplinen des „Aufbaus" zugänglich waren, muß sich der politische Auftrag des yibiandao in den Anfangsjahren der Volksrepublik entweder als sehr schwierig oder aber als sehr interpretierbar erwiesen haben. Einen Eindruck davon mag die Rückschau des Stadtplaners D o n g Jianhong auf die folgende Begebenheit vermitteln:
298
Dieser Eindruck wurde für den Fachbereich Stadtplanung durch verschiedene Zeitzeugenaussagen bestätigt. Demnach gab es während der ersten Hälfte der 50er Jahre an der Tongji Universität - für Architektur und Bauwesen immerhin eine der Schwerpunktuniversitäten Chinas - weder Dozenten noch Studierende, die das „sowjetische Modell" aus eigener Anschauung kannten. Interview mit Zou Deci (11.04.2002, Beijing). Derselbe Grundtenor geht auch aus den Interviews mit Chen Baorong (21.11.2000/ 13.03.2002, Beijing) und Dong Jianhong (03.04.2002, Shanghai) hervor. Laut zeitgenössischen Gesprächsprotokollen betonte Zhou Enlai in Gesprächen mit dem sowjetischen Botschafter Rosöin im Sommer 1951 zwar die Notwendigkeit, möglichst viele chinesische Studierende zum Auslandsstudium in die Sowjetunion zu entsenden, um dem Mangel an technischen Fachkräften in China zu beheben. Zugleich schränkte er jedoch ein, daß dies aufgrund der Kriegshandlungen in Korea nur schwer zu bewerkstelligen sei. Vgl. die Wiedergabe der Protokolle bei Shen Zhihua: Zai Hua Sulian zhuanjia, S. 27. Zwei Jahre später wurde in der sino-sowjetischen Vereinbarung zur Aufbauhilfe dagegen unter Punkt 9 festgelegt, jährlich bis zu 1000 „chinesische Arbeiter, Ingenieure und Techniker" (Zhongguo gongren he gongchengjishu renyuan Ψ H Χ § ) zum Praktikum in sowjetische Betriebe zu schicken. Siehe dazu: Sulian zhengfu yuanzhu Zhongguo zhengfu fazhan Zhongguo guomin jingji de xieding h t S S [Abkommen über die sowjetische Unterstützung der chinesischen Regierung bei der Entwicklung der chinesischen Volkswirtschaft], 15.5.1953, in: DDWX 5, 1999, S. 6-9, hier S. 8. Eine frühere (unbelegte) Behauptung von Jonathan Spence, daß circa 1000 chinesische Wissenschaftler und rund 37 000 Studierende während der 50er Jahre in der Sowjetunion ausgebildet worden seien, kann sich allenfalls auf die zweite Hälfte des Jahrzehnts beziehen. Vgl. ders.: The China Helpers. Westem Advisers in China 1620-1960, London 1969, S. 282f. 299 Detaillierter geht darauf Shen Zhihua ein, der von einer Gesamtzahl von über 1000 Experten während dieser Zeit spricht, die meistens auf der Grundlage persönlicher Absprachen zwischen hochrangigen Funktionären beider Seiten nach China entsandt wurden. Eine organisiertere Form der Entsendung, ein regelrechtes „Expertenprogramm" für die VR China läßt sich anhand von Archivmaterialien erst seit 1953/54 nachweisen, wie Kaple und Shen übereinstimmend aufzeigen. Vgl. Shen Zhihua: Zai Hua Sulian zhuanjia, S. 27-30; und Kaple: Soviet Advisors in China. Demgegenüber stellt Kirby die Tatsache, daß es von Beginn an einen Transfer von Experten gab, über die Frage der quantitativen Ausmaße dieser Form von „Aufbauhilfe". Vgl. ders.: China's Internationalization, S. 880.
3.3 Leitbilder und Bauprojekte
223
„Anfang 1953 brachte Cheng Shifu vom Planungbüro der Aufbaukommission der Stadt Shanghai ein übersetztes Manuskript über Planung in der ehemaligen Sowjetunion aus Beijing mit, es war LevCenkos „Technische und ökonomische Normen für die Stadtplanung". Nachdem Jin [Jingchang] davon erfahren hatte, lieh er es sich aus, aber Cheng überließ ihm das Manuskript nur für einen Tag und eine Nacht mit der Auflage, es in Beijing wieder abzugeben." D o n g beschreibt weiter, w i e das besagte Manuskript unter enormem Zeitdruck handschriftlich kopiert wurde. N o c h im Nachtzug nach Beijing arbeitete eine Gruppe v o n Dozenten und Studierenden der Tongji Universität g e m e i n s a m an der Abschrift der Texte und Konstruktionszeichnungen. Für sie wurde das Manuskript laut D o n g zu einer regelrechten „Planungsbibel" ( g u i h u a Hans hu): „Viele der neuen Begriffe und Konzepte, die wir später in der Stadtplanung benutzten, stammten aus diesem eigenhändig abgeschriebenen Band, wie „Grundbevölkerung", „Dienstleistungsbevölkerung", „zu versorgende Bevölkerung", sowie Normen für die Klassifizierung öffentlicher Gebäude und für Umsiedlungen, Detailplanungen, Bauentwürfe, Wohngebietsplanungen [xiaoqu guihua] und vieles mehr."300 D o n g reflektiert in seinen Erinnerungen allerdings nicht genauer, auf welcher bereits vorhandenen Wissensbasis er und seine Kollegen die sowjetischen Planungsansätze rezipierten. Unklar bleibt, ob in der Folge lediglich sprachliche Anpassungen vorgenommen wurden oder eine klare inhaltliche Umorientierung stattfand. Aufschlußreicher wären dazu möglicherweise, die v o n Jin Jingchang 1954 an der Tongji Universität veröffentlichten Lehrmaterialien für das Fach Stadtplanung. 301 Inwieweit seine Kompilierung eine fein abgestimmte Mixtur „westlicher" und „sowjetischer" Wissensbestände darstellt, inwieweit die sowjetischen Begriffe und Konzepte möglicherweise nur als äußeres Etikett dienten, bliebe an einem Beispiel w i e diesem im Detail zu überprüfen. 302
300
Dong Jianhong: Jijian jiyi youxin de wangshi, S. 665. An der Abschrift beteiligt waren Jin Jingchang, Li Dehua, Dong Jianhong und Deng Shuping. Das genannte Werk von Levcenko erschien in der VR China unter: Liefiiqinke ifî [J.P. Levcenko]: Chengshi guihua. Jishu jingji zhi zhibiao ji jisuan : i t ^ i í i f r ^ í e ^ A i f f í - (Die Stadtplanung. Technisch-wirtschaftliche Richtzahlen und Berechnungen), Beijing 1954 [Chin. Erstausgabe: Shidai, 1953]. Es gehörte offenbar zu den sowjetischen Handbüchern, die in entsprechender Übersetzung als städtebauliches Rüstzeug in alle „Bruderländer" exportiert wurden. Vgl. dazu Diiwel/Gutschow: Städtebau in Deutschland, S. 23, Anm. 26: J.P. Lewtschenko: Die Stadtplanung. Technisch-wirtschaftliche Richtzahlen und Berechnungen, Berlin (Ost) 1953. 301 Veröffentlicht unter dem Titel Chengshi guihua gailun ¿ ί , ΐ ÄSlUft-fe [Einführung in die Stadtplanung], Shanghai 1954. Das Lehrbuch war mir bedauerlicherweise nicht zugänglich. 302 Etwas deutlicher wird diesbezüglich Wu Liangyong H: È 4 Ì (1922-), der seine Begegnung mit sowjetischen Städtebautheorien aus der Rückschau wie folgt beschreibt: Nachdem er 1950 vom Auslandsstudium in den USA nach China zurückgekehrt war, sei er bald mit dem „Lernen von der Sowjetunion" konfrontiert worden. Seine erste Begeisterung über das in sich geschlossene Planungssystem der Sowjetunion (gegenüber der widersprüchlichen Vielfalt westlicher Städtebautheorien) sei aber angesichts der dogmatischen Anwendung dieser Lehrsätze rasch einer Ernüchterung gewichen. Hier klingt auch an, daß das sowjetische Planungswissen sich inhaltlich nicht wesentlich vom anglo-amerikanischen Fachwissen
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3. Neue Städte fur die Neue Gesellschaft
Das von Dong Jianhong gezeichnete Bild anfanglicher „Ressourcenknappheit" bestätigt auch ein Querschnitt durch die fachspezifischen Publikationen der 50er Jahre.303 Unklar bleibt, ob die damalige Informationspolitik einem faktischen Mangel entsprang oder von einem der beiden Länder gesteuert war. Die frühesten städtebaulichen Veröffentlichungen, die explizit auf sowjetisches Fachwissen zurückgreifen, erschienen in der Volksrepublik als gedruckte Fassung jedenfalls nicht vor 1953.304 Hinzu kommt, daß über den Radius ihrer damaligen Verbreitung und Rezeption keine gesicherten Erkenntnisse vorliegen. Das liegt nicht zuletzt daran, daß Übersetzungen von Büchern und Artikeln aus der Sowjetunion oder anderen „Volksdemokratien" in der Regel als Publikationen für den internen Gebrauch (neibu) klassifiziert und somit (vermutlich) nur einem ausgewählten Kreis von Institutionen und Akteuren in China zugänglich waren. Zumeist wurden in diesen Materialien fachliche Grundlagen erläutert, ohne in irgendeiner Weise auf politisch-ideologische Zuordnungen der dargestellten Wissensbestände einzugehen: von technischen Anleitungen für den städtischen Tiefbau über Richtlinien für den Bau von Industrieanlagen samt Versorgungseinrichtungen und Wohneinheiten bis hin zu Einfuhrungen in das moderne Bevölkerungs- und Stadtmanagement nach sowjetischem Muster. Zur letzgenannten Kategorie gehört auch die von Dong erwähnte „Planungsbibel" Levcenkos. Auffällig ist auch, daß es bis zur Mitte der 50er Jahre kaum Darstellungen gab, die bereits im Titel verkündeten, für China über „die fortschrittlichen Erfahrungen" des sowjetischen Städtebaus oder der sowjetischen Architektur berichten zu wollen. Selbst Beiträge, die die „sowjetischen Erfolge" in Industrieentwicklung, Stadtplanung und Siedlungsbau mit Konstruktionszeichnungen und Photographien zu vermitteln halfen, machten anfanglich nur einen Bruchteil der zeitgenössischen Veröffentlichungen aus.305 Sowjetische Lehrunterschied. Nach eigener Aussage hat sich Wu Liangyong in der Lehre (an der Qinghua Universität) deshalb von Anfang an um eine Synthese beider „Systeme" bemüht. Vgl. Wu Liangyong: Guanyu chengshi guihuajiaoxue ji jiaocai bianxie de diandi tihui & Φ
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(Thinking on teaching and teaching books of urban planning),
in: CSGH 30/7, 2006, S. 68ff, hier S. 68. Soweit das zum gegenwärtigen Zeitpunkt nachvollziehbar ist. Die folgenden Beobachtungen basieren auf Recherchen, die in den historischen Bibliotheksbeständen der Architekturfakultät an der Qinghua Universität in den Jahren 2000, 2002 und 2005 durchgeführt wurden. Sie können insofern als exemplarisch gelten, da die Qinghua seit 1952 systematisch zur ranghöchsten technischen Universität der Volksrepublik ausgebaut und mit entsprechenden Ressourcen ausgestattet wurde. 304 „[...] systematische Einführungen in die sowjetischen Erfahrungen auf dem Gebiet des Städtebaus gab es in dieser Zeit noch sehr selten;" Li Hongduo Baiwanzhuang zhuzhaiqu he Guomian yichang shenghuoqu diaocha W ^ / t í Í ^ E L í 3 S È: [Untersuchung über das Wohnviertel Baiwanzhuang und die Wohnbereiche der Baumwollfabrik Nr.l], in: JZXB 6,1956, S. 19-28, hier S. 21. Die Darstellung bezieht sich auf die ersten drei bis vier Jahre nach Gründung der Volksrepublik (d.h. bis 1952/53). 305 Diese Sparte wurde dann seit 1954 mit Erscheinen der ersten chinesischen Zeitschriften für Bauwesen, Stadtplanung und Architektur stärker bedient. Vgl. dazu auch die Erläuterungen unter Abschnitt 1.3. 303
3.3 Leitbilder und Bauprojekte
225
und Handbücher, die zwischen 1953 und 1955 in chinesischer Übersetzung erschienen, wurden weder gestalterisch noch inhaltlich als „Wissensimporte" besonders hervorgehoben, wie man vor dem Hintergrund der allgegenwärtigen Parole von xuexi Sulian hätte erwarten können.306 Äußerlich unterscheiden sich diese Publikationen nicht von anderen chinesischen Printmedien der Zeit.307 Das kann sich als irreführend erweisen, wenn eine chinesische Institution als Herausgeber solcher Übersetzungen auftritt. So enthalten beispielsweise die einzelnen Bände der „Schriftensammlung zum Städtebau" {Chengshi jianshe wenji) kaum Materialien, die aus Städtebaudiskussionen innerhalb der Volksrepublik hervorgegangen sind. Zwar wurde diese Reihe vom chinesischen Ministerium fur Bauwesen herausgegeben, aber die Inhaltsverzeichnisse zeigen, daß es sich bei den hier versammelten Texten hauptsächlich um Übersetzungen aus dem sozialistischen Ausland handelt.308 Generell gehen die meisten dieser „Wissensimporte" über eine (möglichst genaue) sprachliche Übertragung der ursprünglichen Vorlagen nicht hinaus. Eine Einbettung in den nationalen Verwendungskontext findet von Seiten der chinesischen Herausgeber - abgesehen von allgemein einleitenden Floskeln zum „Aufbau" des Landes - in der Regel nicht statt. Das auf Februar 1955 datierte und seitdem unveränderte Vorwort des Ministeriums für Bauwesen beschreibt die Zielsetzung der „Schriftensammlung" folgendermaßen: 1. Die Entwicklung des industriellen Aufbaus erfordere einen breitangelegten Auf- und Umbau der chinesischen Städte. Mit den Übersetzungen wolle das Ministerium fur Bauwesen eigens den „in der Arbeit des städtischen Aufbaus Tätigen" {chengshi jianshe gongzuozhe) die nötigen Referenzmaterialien an die Hand geben. 2. Zum größten Teil handele es sich dabei um Übersetzungen sowjetischer Texte aus der Zeit vor und nach der Allunionskonferenz der sowjetischen 306
Siehe dazu die nachfolgende Auswahl von Titeln: Axiefukefu Pi üi # T ^ i [OäCepkov]: Gongye jianzhu [Der Industriebau], Beijing 1954; Sulian chengshi jianshebu chengshi guihuaju I^H^tà,^ M] (Hrsg.): Chengshi dixia wangdao. Bushe yu celiang ΐ ΐ Α Τ f8] i t : tfìtH ^ - l i [Das städtische Tiefbaunetz. Anlage und Vermessung], Shanghai 1953; Shasi ï^'ftr [Sass]: Zhuzhai jianzhu ·ί± Î î È Î f c [Der Wohnungsbau], Beijing 1956; Kelielikeñi ^HS-^k [Koren'ko\]/Chalisiman i ä # r f . [Zal'cmanj/ Gelibie'erge fría[Gel'berg] (Hrsg.): 2 - 5 ceng zhuzhai biaozhun sheji 2 - 5 fe [Typenprojektierungen fur 2 - 5 geschossige Wohnhäuser], Beijing 1956; Alieshen FT ψ[Me$'m]/Malinqinke -Sj^^fc^T [Marinòenko]/Keliesinigefit [Kolecnikov]: Xuexiao jianzhu Φ fait vi [Der Schulbau], Beijing 1955; Aoxipofu JiJröÜ^: [Osipovj: Jianzhuxue [Baulehre], Beijing 1954. 307 Vgl. z.B. das Lehrbuch von Wu Zhongwei Fangwu jianzhuxue ^ J L Î È J £ # [Der Hausbau], Shanghai 1951 mit der 1953 im selben Verlag erschienen Übersetzung des
oben aufgeführten Chengshi dixia wangdao. 308
Wobei allerdings nicht immer die Ursprünge der abgedruckten Materialien angegeben werden. In der Reihe wurden 1955 in Beijing folgende Sammelbände publiziert: Jianzhu gongchengchubanshebianjibu (Hrsg.): Chengshi jianshe wenti [Fragen des Städtebaus]; Gongye jianzhu de guihua sheji wenti ü ^ i j ^ Ä , S'J -iSHt Ή Ii [Probleme der Planung von Industriebauten]; Shehuizhuyi chengshi jianshe " ê - i - i l ^ l i ' É - i â : [Sozialistischer Städtebau],
226
3. Neue Städte für die Neue Gesellschaft
Baufachleute im November 1954. Berücksichtigt worden seien zudem relevante Materialien aus den osteuropäischen Volksdemokratien, Berichte sowjetischer Experten in China, sowie chinesische Dokumente und „Erfahrungsberichte" zum Städtebau in der Volksrepublik. 3. Die nun zentral herausgegebene „Schriftensamlung zum Städtebau" basiere teilweise auf Materialien, die bereits vom Finanzkomitee des Nordostbüros unter demselben Namen publiziert worden waren. Ergänzt worden sei dieses Korpus um weitere Übersetzungen, die von verschiedenen Ministerien der Zentralregierung zu städtebaulichen Themen angefertigt wurden. 4. Sprachliche Fehler seien auf den breiten Einzugsbereich der Texte zurückzufuhren sowie der Tatsache geschuldet, die Materialien dem Fachpublikum schnellstmöglich zur Verfügung stellen zu wollen. Um eine Vereinheitlichung der Fachbegriffe habe man sich bei der Endredaktion jedoch bemüht.309 Das Nebeneinander von eigenen und fremden Beiträgen in den verschiedenen Bänden der Reihe suggeriert auf den ersten Blick die Idee einer transnationalen „sozialistischen" Grundvorstellung von Planen und Bauen. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, daß durch die Abfolge der Texte politische Hierarchiemuster genauestens reproduziert werden. Übersetzungen aus der Sowjetunion nehmen gegenüber Beiträgen aus den übrigen „Volksdemokratien" grundsätzlich eine Vorrangstellung ein, entweder bereits rein quantitativ oder auch qualitativ, beispielsweise durch eine herausgehobene Position in der Gliederung.310 Die Eröffiiungsbeiträge eines Bandes sind dagegen normalerweise Abdrucke chinesischer Leitartikel oder Parteidokumente. Sie haben vor allem didaktische Funktion, indem sie die Leser dazu anleiten, die nachfolgenden „ausländischen Erfahrungen" in die „korrekten" nationalen Bezüge zu setzen. Ungeachtet der gleichbleibend exponierten Stellung sowjetischer Wissensbestände ist für die zweite Hälfte der 50er Jahre dennoch zu beobachten, daß die weiter westlich gelegenen Länder der sozialistischen Hemisphäre zunehmend in den Fokus der chinesischen Außenorientierung rücken.3" Bereits während der Übersetzungskonjunktur der Jahre 1954/55 wurden Publikationen zu städtebaulichen Themen aus der DDR und aus Polen ins Chinesische übertragen. Im Sozialistischen Städtebau aus dem Jahr 1955 wurde ein Panoptikum internationaler Stadtentwicklung und Planungsprogrammatik im Sozialismus für die chinesische Fachgemeinde nach den oben beschriebenen Hierarchie309
Paraphrasiert nach: Bianzhe de hua [Vorwort des Herausgebers], in: Jianzhu gongcheng chubanshe bianjibu J t & i i i . ifc Jfcìiiè (Hrsg.): Shehui zhuyi chengshi jianshe, S. 5. 310 Daß diese Hierarchiemuster sich nicht auf die Ebene von Texten beschränkt haben, sondern zu den Alltagserfahrungen von Ausländern im China der 50er Jahre gehörten, geht aus den Erfahrungsberichten hervor, die Luise Näth in Communist China in Retrospect zusammengestellt hat. 311 Vgl. dazu auch Frederick C. Teiwes : Establishment and consolidation of the new regime, in: Roderick MacFarquhar/John K. Fairbank (Hrsg.): The Cambridge History of China, vol. 14, Cambridge 1987, S. 51-143, hierS. 129.
3.3 Leitbilder und Bauprojekte
227
mustern editiert. Drei Leitartikel der Tageszeitung Renmin ribao zu stadtpolitischen Richtlinien der damaligen Volksrepublik machen den ersten Teil des Bandes aus, der zweite Teil greift das Thema der „Umgestaltung Moskaus und anderer Städte der Sowjetunion" auf und bringt in diesem Zusammenhang eine Übersetzung der Rede von Kaganovic über „sozialistische Städte" aus dem Sommer 1931.312 Dem schließen sich verschiedene Beiträge zum Nachkriegsstädtebau in Mittel- und Osteuropa an. Hier finden sich u.a. eine Darstellung der Wiederaufbauplanung Warschaus, eine Ulbricht-Rede zum ersten Fünfjahrplan der DDR, sowie verschiedene Selbstdarstellungen zu Städtebau und Architektur in Ungarn und Rumänien.313 Auffällig an dieser Zusammenstellung von Referenztexten ist aber nicht allein die Überlagerung von geographischen Räumen, sondern vor allem von unterschiedlichen Zeitebenen - ein Charakteristikum, das auch die anderen Bände der Reihe auszeichnet. Wie vom Ministerium fur Bauwesen im Vorwort angekündigt werden hier besonders die sowjetischen 1930er Jahre des „Großen Bruchs" aktualisiert und mit den diversen „sozialistischen" Umgestaltungs- und (Wieder)Aufbauprogrammen seit den späten 1940er Jahren in eine Reihe gestellt.314 Daß auf diese Weise bewußt oder unbewußt Zerrbilder von der sozialistischen Außenwelt Chinas produziert wurden, zeigt eindrücklich das Beispiel der „16 Grundsätze des Städtebaus", die man in der DDR im Jahr 1950 formuliert hatte. Als in der Volksrepublik China fünf Jahre später, im Dezember 1955, die dazugehörige Erläuterung des ersten DDR-Aufbauministers Lothar Bolz in Übersetzung publiziert wurde, hatte man sich im östlichen Deutschland von diesem städtebaulichen Leitbild stalinistischer Prägung bereits wieder abgewandt.315 Wieviel die chinesischen Fachleute von dieser Entwicklung wußten und ob sie die „16 Grundsätze" (als vermeintliches „Gegenprogramm" zur „Charta von Athen") in ihrer Tragweite für die Ost-West-Dichotomie des 312
Diese Kaganovic-Rede wurde in der Osteuropa-Historiographie lange als Wendepunkt der sowjetischen Städtebaupolitik dargestellt, als Ende des „Laboratoriums der Moderne" und als Anfang einer gestalterischen Unifizierung unter den Vorzeichen des „sozialistischen Realismus". Siehe dazu noch einmal die Ausführungen in Kap. 2.2; überblicksartig auch bei Bohn: Minsk, S. 32ff. 3.3 Vgl. Jianzhu gongcheng chubanshe bianjibu â f c & i f ê t Η Ν ί ή ί ^ ^ ^ (Hrsg.): Shehuizhuyi chengshi jianshe. 3.4 Die Aktualisierung der sowjetischen 1930er Jahre läßt sich auch an den Beiträgen in der chinesischen Zeitschrift Jianzhu yicong [Übersetzungssammlung für das Bauwesen] ablesen. Dem Vorwort der Erstausgabe nach sollte mit dieser Zeitschrift neuestes sowjetisches Fachwissen schneller an die chinesischen Rezipienten weitergeleitet werden. Offizielle Aufgabe war es, die großen Zeitverzögerungen, die sich aus der Übersetzung von sowjetischen Fachmonographien ins Chinesische ergaben, aufzufangen. Dennoch wird man auch hier mit dem Nebeneinander von dreißiger und fünfziger Jahren konfrontiert. Vgl. Fakanci & [Editorial zur Erstausgabe], in: JZYC 1, Juli 1954, S. 1. 315 Zur Geschichte der „16 Grundsätze" und zum städtebaulichen Leitbildwechsel in der DDR zur Mitte der 50er Jahre siehe Kapitel 2.3 dieser Arbeit. Der genannte Beitrag erschien 1955 unter dem Titel „Minzhu Deguo jianshe buzhang Bo'erci boshi dui chengshi guihua jiben yuanze de shuoming". Es handelt sich hierbei um eine Übersetzung der Ausführungen von Lothar Bolz, „Die 16 Grundsätze des Städtebaus" von 1951.
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3. Neue Städte für die Neue Gesellschaft
50er-Jahre-,Aufbaus" wahrgenommen haben, läßt sich heute schwerlich beantworten.316 Angesichts der zeitlichen Verschiebungen stellt sich die Frage, ob hinter den damaligen Übersetzungs- und Publikationsverfahren überhaupt eine spezifische Strategie stand. Angaben dazu, wie die chinesische Seite an die ausländischen „Aufbau"-Materialien gelangte, liegen so gut wie keine vor. Kann man davon ausgehen, daß die Auswahl dessen, was in China veröffentlicht wurde, mehr oder weniger vom Zufall bestimmt war? Weitgehend unklar ist auch, welchen Instanzen es oblag, darüber zu entscheiden.317 Formuliert wurde lediglich die allgemeine Zielsetzung, daß die neuen Handreichungen „sozialistischen" Ursprungs flächendeckend die ältere Fachliteratur chinesischer und europäisch-amerikanischer Herkunft ersetzen sollten. Ob der angestrebte Wechsel der Referenzsysteme in der Praxis aber durchgängig den Erfolg hatte, den man ihm von offizieller Seite zuschrieb, muß mit einem Fragezeichen versehen werden.318 Möglicherweise ging es, wie Rowe und Kuan andeuten, beim damaligen Wissenstransfer auch um ein politisches Signal der Bündnistreue in Richtung Sowjetunion. War dies der Preis fur die ökonomische Unterstützung durch die Sowjetunion, frei nach der Devise: „Der Sowjetunion danken - von der Sowjetunion lernen"?319 Oder war die Übersetzung von Fachpublikationen aus den „sozialistischen Brüderländern" das einzige „Fenster zur Welt", nachdem direkte wissenschaftliche Kontakte mit anderen Weltregionen nahezu unmöglich geworden waren? Selbst aktuelle Studien zur Frühgeschichte der Volksrepublik geben darüber wenig Auskunft.320 Hier zeigt sich erneut, wie sehr die Untersuchung von Transferprozessen, die sich in den 316 Die in der Zeit des Kalten Kriegs generierten Wahrnehmungsmuster, die den DDR-Städtebau mit den „ 16 Grundsätzen" und den Städtebau Westeuropas mit der „Charta von Athen" konnotiert haben, sind erst in jüngerer Zeit von der Forschung hinterfragt und korrigiert worden (s. dazu Kapitel 2.3). In den verschiedenen Zeitzeugeninterviews, die ich in den Jahren 2000 und 2002 führen konnte, hat das Stichwort der „Sechzehn Grundsätze" keine erkennbare Reaktion oder Erinnerung bei meinen chinesischen Gesprächspartnern hervorgerufen. Auch gezielte Nachfragen nach den „Grundsätzen" haben diesen Eindruck bestätigt. 317 Offenbar zumindest teilweise den damit befaßten Ministerien, wie im vorliegenden Fall dem Jiangongbu. Vgl. den entsprechenden Hinweis bei Sun Jingwen: Ji nian lai chengshi jianshe gongzuo, S. 280. 318 Laut Zou Deci und Chen Baorong wurde das Fach Stadtplanung in den frühen 50er Jahren auf der Basis einer Mischung aus westlichen und sowjetischen Lehrmaterialien unterrichtet. Im Zuge von Hochschulreform und „geistiger Umgestaltung" stießen englischsprachige Lehrmaterialien bei den Studierenden jedoch zunehmend auf Ablehnung. Sie übermäßig verwendet zu haben, war einer der gängigen Vorwürfe, mit denen Studierende während der „Reinigungskampagne" ihre Lehrkräfte denunzierten. Interview Zou Deci (16.11.2000, Beijing); Chen Baorong (26.05.2005, Beijing). 319 Zhang Tie & : Sulian zenmeyang bangzhu Zhongguo j ianshe Ä # Ί* S ^ H [Wie die Sowjetunion China beim Aufbau hilft], Beijing 1954, S. 46. Vgl. Rowe/Kuan, Essence and Form, S. 92-95: „To satisfy Russian urging, if not demands, that their model be followed, the governmental center of the new captital in Beijing was located on Tiananmen Square [...]." (S. 95) 320 Auch in Brown/Pickowicz (Hrsg.): Dilemmas of Victory, finden sich dazu keine weiterführenden Hinweise.
3.3 Leitbilder und Bauprojekte
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1940er und 50er Jahren zwischen China und dem Ausland abspielten, noch am Anfang steht. Das wiederum ist nicht zuletzt auch der prekären Materiallage fur diese Zeit geschuldet.321 Nachweislich wurden aber die verfügbaren Übersetzungen von sowjetischen Normvorgaben bezüglich Arbeiten, Wohnen, Erholung und Verkehr zunächst als neues Basiswissen für den chinesischen „Aufbau" präsentiert. In der Regel ist jede dieser Publikationen mit einer kurzen Inhaltsangabe (neirong tiyao) der chinesischen Herausgeber versehen. Aus ihnen geht hervor, welchem Kreis von Fachleuten die übersetzte Publikation zugedacht war (wechselweise Bauingenieure, Architekten, Städteplaner, Hochschullehrer oder Studierende), und was sie dazu prädestinierte. Gelobt wurden in diesen Skizzen vor allem Anschaulichkeit, Detailreichtum und Ausführlichkeit der in den Werken kompilierten „Erfahrungen", „Beschreibungen" oder „Beurteilungen". Die Herausgeber bewerteten die dargestellten (städte-)baulichen Methoden, Techniken, Prinzipien und Normen durchweg mit Adjektiven wie „systematisch", „konkret", „praktisch", „anschaulich" oder „auf neuestem Stand" - Kriterien, die offenbar dafür ausschlaggebend waren, die jeweilige Publikation zu „Referenzmaterialien" (cankao ziliao), „Grundwissen" (Jiben zhishi) oder zu „Handbüchern" (shouce) ihres Fachbereichs zu erheben. Die neirong tiyao sind für den heutigen Leser eine konzentrierte Ansammlung von Hinweisen darauf, an welcher Art von Wissen die chinesische Seite interessiert war, welche Kenntnisse sie erwerben und unter ihren Fachkräften popularisieren wollte: Hier ging es um leicht verständliche, praxisbezogene technische Handreichungen, die für den eigenen „Aufbau" sofort anwendbar waren.322 Ohne auf ideologische Prämissen einzugehen wird in den neirong tiyao das Anliegen formuliert, innerhalb kürzester Zeit die systematische Aneignung von moderner Technik und neuem Fachwissen unter chinesischen Fachleuten voranzutreiben. Die allgegenwärtige Parole „Von der Sowjetunion lernen" wurde immer stärker dahingehend 321
Wie ich unter Abschnitt 1.3 beschrieben habe, ist selbst anerkannten chinesischen Wissenschaftlerinnen der Zugang zu den Archivalien des Bauminsteriums verwehrt geblieben. Verschiedene Anläufe, die zeitgeschichtliche Dimension der chinesischen Bau- und Planungspraxis auszuleuchten, sind dadurch entweder gänzlich zum Stillstand gekommen oder wurden auf die Wiedergabe der bekannten historiographischen Darstellungen zurückgeworfen. Interview mit Chen Baorong (26.05.2005, Beijing). Obwohl ihr Projekt, Lehrmaterialien für die Stadtplanungsgeschichte der VR China zu kompilieren unter der persönlichen Schirmherrschaft des einflußreichen Leiters der Qinghua-Architekturfakultät, Wu Liangyong, stand, wurde die Professorin mit dem Argument zurückgewiesen, man bearbeite diesen Sektor bereits ministeriumsintern und werde entsprechende Materialien veröffentlichen. Die Publikation steht bis heute aus. Ein weiteres Beispiel für den Umgang mit der historischen Dimension der modernen chinesischen Stadtplanung ist auch der Sammelband Modern Urban Housing, der 2001 in englischer Übersetzung bei Prestel erschienen ist, während sich für die chinesische Ursprungsversion laut einem der Mitherausgeber über Jahre hinweg kein Verlag finden ließ. Besagter Band konnte schließlich erst im Jahr 2005 beim Verlag der Qinghua Universität erscheinen. 322 Vgl. die Formulierung von Qian Weichang: Xuexizhe Sulian, S. 23. Zu einer ähnlichen Schlußfolgerung war Deborah Kaple im Rahmen ihrer Untersuchung zum chinesischen Industriemanagement der 50er Jahre gelangt. Vgl. dies.: Red Factory, S. 18.
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3. Neue Städte für die Neue Gesellschaft
ausgedeutet, „nicht nur die Theorien von Marx, Engels, Lenin und Stalin [zu] studieren, sondern auch die fortschrittliche Wissenschaft und Technik der Sowjetunion." 323 „Chinas Weg zur Industrialisierung" definierte, wie das Studium der „sowjetischen Erfahrungen" „korrekt" durchzuführen war.324 Vergeblich sucht man in solchen Kontexten nach weiteren Begründungen für die Übernahme von Know-how aus dem sozialistischen Ausland. Indem die KPCh unablässig darauf rekurrierte, mit Hilfe neuester naturwissenschaftlicher Erkenntnisse ein Neues China errichten zu können und für die materielle wie geistige Zivilisation Chinas einen unerhörten Aufschwung prognostizierte, machte sie „Wissenschaftlichkeit" zur Ideologie. Entwicklungsszenarien dieser Art sind nicht allein aus frühsowjetischen Kontexten bekannt. Im ostentativen „Pragmatismus" der zeitgenössischen chinesischen Texte kommt es zur Wiederbegegnung mit dem modernen Axiom, daß neue wissenschaftliche Erkenntnisse implantiert in das „korrekte", „überlegene" weltanschauliche System zwangsläufig einen „nie dagewesenen Fortschritt" generieren würden.325 Der immanente Rückbezug auf die Technikdiskurse der Zwischenkriegszeit macht die chinesische Argumentation in den 50er Jahren aber noch lange nicht zu einem Anachronismus. Wie im ersten Teil dieser Arbeit gezeigt wurde, war das Faszinosum technischer und sozialer Machbarkeiten ungeachtet der Erfahrungen von Terror, Genozid und Krieg während des globalen „Aufbaujahrzehnts" in Ost und West nahezu ungebrochen. Mit der Technik- und Planungseuphorie war nach wie vor die Idee verbunden, man könne die Basis für die ersehnten gesellschaftlichen Veränderungen ohne „Nebenwirkungen" von einem Kontext in den anderen transferieren.326 Das zeigt sich auch darin, daß die Folgen von Transferprozessen in den chinesischen Äußerungen der frühen 50er Jahre zunächst gar nicht thematisiert werden. Bis 1954/55 bleibt aus der Planungsdiskussion ausgeblendet, daß die Umsetzung der „fortschrittlichen Techniken" aus dem (sozialistischen) Ausland zugleich immer eine Anpassung an die chinesischen Verhältnisse bedeutete und in diesem neuen Umfeld aller political correctness zum Trotz möglicherweise unerwünschte Ergebnisse zeitigen konnte. Erst seit Mitte der 50er Jahre begann man in der Volksrepublik davon zu sprechen, daß die importier323
Mao Zedong zitiert nach der Erstausgabe der Zeitschrift JZYC: Fakanci, in: JZYC 1, Juli 1954, S. 1. 324 Mao Zedong: Rede auf der erweiterten 1. Tagung der Obersten Staatskonferenz - Zur Frage der richtigen Behandlung von Widersprüchen im Volke, 27.2.1957, in: ders.: Texte. Schriften, Dokumente, Reden und Gespräche, Bd. 2, München 1979, S. 128-174/406-426, hierS. 171ff/425f. 325 Siehe dazu noch einmal die Untersuchung von Griffin: Modernism and Fascism und Kapitel 2.2 dieser Arbeit. 326 Daß die Anfange der europäischen „Nachkriegs"-Planungen bereits in den frühen vierziger Jahren zu suchen sind und die Ordnungsvorstellungen ihrer Entstehungszeit weitergetragen haben, wurde im ersten Teil der Arbeit (Kap. 2.1) ausführlich dargestellt. Zu zeitgenössischen Vorstellungen von den Möglichkeiten eines Techniktransfers siehe außerdem die Beiträge in Emmerich!Wege: Technikdiskurs.
3.3 Leitbilder und Bauprojekte
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ten „Aufbau"-Standards aus der Sowjetunion der „tatsächlichen chinesischen Situation" angepaßt werden müßten.327 Die daraufhin einsetzende Debatte um „überhöhte Normen" sollte dem bisher angeblich praktizierten „blinden" (mangmu de) Nacheifern des sowjetischen Modells ein Ende bereiten.328 Mao Zedong formulierte dazu im Frühjahr 1957, welches die richtige Einstellung zum „Lernen" sei: „Beim Lernen gibt es nun zwei verschiedene Einstellungen. Die eine ist dogmatisch, sie will alles übernehmen, ob es nun für die Verhältnisse unseres Landes geeignet ist oder nicht. Diese Einstellung ist falsch. Die andere besteht darin, beim Studium den Geist anzustrengen und das zu erlernen, was den Verhältnissen unseres Landes entspricht, das heißt, alle Erfahrungen auszuwerten, die für uns nützlich sind. Eine solche Einstellung ist es, die wir nötig haben."329
„Wenn wir weiterhin aktiv und richtig von der Sowjetunion lernen", resümierte der Planungsfunktionär Lan Tian im November desselben Jahres die Weisung Maos fur seinen Aufgabenbereich, „wird die Sache des Städtebaus unter der Führung der Partei in unserem Land mit Sicherheit eine noch größere Entwicklung erfahren." 330 Allein die kritischere Beurteilung dessen, was man wie aus der Sowjetunion übernehmen wollte, als frühe Anzeichen eines beginnenden chinesisch-sowjetischen Zerwürfnisses zu werten, greift zu kurz.331 Zunächst vollzieht sich hier vor allem eine Akzentverschiebung. Begegnet man in der zweiten Hälfte der 50er Jahre einerseits einer stärkeren Betonung nationaler Spezifika, wurde andererseits zugleich der offizielle Referenzrahmen des chinesischen ,Aufbaus" erweitert. Wie oben bereits erwähnt, wurden nun auch die „Aufbauleistungen" anderer sozialistischer Länder verstärkt ins Visier genommen. Diese Tendenz läßt sich nicht nur quantitativ an der Zunahme von Darstellungen zum Bauwesen Polens, Ungarns und der DDR festmachen, sondern auch an qualitativen Details. Die Übersetzungszeitschrift Jianzhu yicong, die Mitte 1954 ausdrücklich als Organ zur Verbreitung sowjetischer Technik (als direktester Ausdruck von xuexi Suliari) begründet worden war, verlieh ihrer anfanglichen Zielsetzung im Dezember 1955 eine neue Ausrichtung. In der Selbstdarstellung der Zeitschrift hieß es nun, das Anliegen von Jianzhu yicong sei es, der 327
Vgl. dazu die Ausführungen in: Wan Li buzhang 1956 nian 4 yue 11 ri zai chengshi guihua xunlianban de jianghua, S. 6f: „Die Lebensgewohnheiten unseres Volkes sind anders
als die in der Sowjetunion." (woguo renmin de shenghuo xiguan he Sulian bu tong ti S Kf^Jhi-'ih >S 'ff Is)); allgemeiner dazu Teiwes: Establishment and consolidation, S. 122-129. 328 „Überhöhte Normen" im Bauwesen wurden vor allem für den sogenannten „unproduktiven" Sektor festgestellt, insbesondere für den Wohnungsbau. Siehe dazu im weiteren auch Abschnitt 3.4.1. 329 Mao Zedong: Über die richtige Behandlung von Widersprüchen im Volke, S. 173f/426. 330 Lan Tian: Xiang Sulian xuexi, S. 9. 331 Dagegen spricht auch, daß unter den Publikationen im Bau- und Planungswesen der Volksrepublik bis in die 1960er Jahre hinein (übersetzte) sowjetische Handbücher dominieren.
232
3. Neue Städte für die Neue Gesellschaft
chinesischen Fachgemeinde „speziell ausländische, insbesondere sowjetische Zeitschriftenartikel zum industriellen und öffentlichen Bauen" vorzustellen.332 Das Adjektiv „ausländisch" (guowai) darf in diesem Zusammenhang nicht mißverstanden werden: Es funktionierte lediglich als Abstufung zwischen der Sowjetunion und den weiter westlich gelegenen „Volksdemokratien".333 Die kapitalistische Welt hatte in dieser zeitspezifischen Konzeption von „Ausland" noch keinen Platz, wie das Spektrum der übersetzten Artikel deutlich macht. Erst um das Jahr 1958 herum erweitert sich der Einzugsbereich des Begriffs guowai fur Städtebau und Architektur erkennbar. Das wird unter anderem durch das Erscheinen der Zeitschrift Guowai jianzhu wenzhai markiert, deren erster Jahresindex eine - wenngleich willkürlich anmutende - Mischung von internationalen Beiträgen zum Städtebau präsentiert. Mehrheitlich handelt es sich dabei um Auszüge aus westeuropäischen und nordamerikanischen Periodika, erst an zweiter und dritter Stelle stehen Beiträge ost(mittel)europäischer Länder einschließlich der Sowjetunion.334 Allerdings ist zu beachten, daß man es hier mit einer mehrfachen Brechung zu tun hat: Die Beiträge, die Guowai jianzhu wenzhai auffuhrt, sind in der Regel Übersetzungen aus dem Russischen. Es handelt sich also um Texte, die von sowjetischer Seite aus dem westlichen Ausland und den „Brüderländern" für den eigenen Wissensbedarf übersetzt worden waren. Möglicherweise wurden Darstellungen des „kapitalistischen" Städtebaus auf diesem Weg „sozialistisch vorverdaut" und zunächst in einen politisch korrekten Deutungsrahmen gebracht, bevor man sie an China weitergegeben hat.335 Ähnliches läßt sich für die Fachbuchsparte nachweisen. Auch hier erfolgte die „Internationalisierung" des städtebaulichen Bezugrahmens im Rückgriff auf russische Übersetzungen. Der so vermittelte „Blick über den Tellerrand" reichte bis nach Großbritannien, nach Frankreich, in die Niederlande und in die USA.336 332
Jianjie f! fr [Kurzeinführung], in: JZYC 12, 1955, S. 4. William Kirby spricht im Zusammenhang mit der Eingliederung der Volkrepublik in das Projekt einer „sozialistischen Weltökonomie" von einer „Internationalisierung" des Landes. Vgl. ders.: China's Internationalization. 334 Genauer: Aufgeführt sind 44 Abstracts aus bzw. über Großbritannien, 23 aus der Bundesrepublik Deutschland, 21 aus den USA, 13 aus Frankreich, 11 aus Schweden und Dänemark, 8 aus Kanada und 7 aus der Schweiz gegenüber 5 Einträgen aus Bulgarien, 7 aus der DDR, 13 aus der Sowjetunion. Vgl. 1958 nian „Guowai jianzhu wenzhai" zong mulu, chengshi jianshe lei, 1-200 hao. Eine qualitative Analyse kann im Rahmen dieser Arbeit nicht durchgeführt werden; es sei aber auf das Beispiel der Orientierung an Warschau und Rotterdam verwiesen, das im nachfolgenden Abschnitt detailliert behandelt wird. 335 Zu ermitteln, wie hoch der Übereinstimmungsgrad mit den jeweiligen Originaltexten ist, bleibt weiteren Untersuchungen zur Transferproblematik vorbehalten. 336 Siehe z.B. Qinghua daxue tumu jianzhuxi chengxiang guihua jiaoyanzu ^ λ. # i JfcÄ&ifc ¿ (Hrsg.): Zhuzhaiqu guihua [Wohnviertelplanung], Beijing 1962. Dieses Handbuch stellt einige der international bekanntesten Siedlungsbauprojekte der damaligen Zeit vor: VR China (Xizhaosi, Xing/ucun, Baiwanzhuang, Caoyang xincun), Sowjetunion (Moskau, Öeljabinsk), Polen (Warschau), DDR (Hoyerswerda), Frankreich (Paris, Bordeaux), Niederlande (Rotterdam), USA (Harvard), Großbritannien (Acroydon), Schweiz (Bern) und Schweden (Kertorp, Vestertorp). Zusammengetragen wurden die 333
3.3 Leitbilder und Bauprojekte
233
Wenn die chinesische Seite auch versuchte, auf diesem ( U m ) W e g „alles Nützliche für den eigenen Aufbau" aufzunehmen 3 3 7 , gestand sie der Sowjetunion somit letztendlich doch die Definitionsmacht darüber zu, w e l c h e s Wissen sich China aus den nicht-sozialistischen Ländern aneignete und aus w e l c h e n Bildern sich die Diskurse über den kapitalistischen Städtebau in der Volksrepublik zusammensetzten. 3 3 8 Li Fuchun betonte 1953 in seinem Bericht über die Vereinbarungen zur sowjetischen Wirtschaftshilfe noch einmal die Notwendigkeit, von der Sowjetunion zu lernen, er schickte aber auch vorweg: „Das heißt natürlich nicht, daß wir nicht mehr von anderen Ländern und Menschen lernen, nein, denn der Vorsitzende Mao hat uns gelehrt, von allen Fachleuten zu lernen. Danach sollten wir vorgehen. Aber der Vorsitzende Mao hat uns auch gelehrt, in erster Linie von der Sowjetunion zu lernen."339 D i e s e Formulierung aktualisierte M a o Zedong 1957 als Teil seiner R e d e „Über die richtige Behandlung der Widersprüche im Volk": „Um unser Land in ein Industrieland zu verwandeln, müssen wir ernsthaft die fortgeschrittenen Erfahrungen der Sowjetunion studieren. Die Sowjetunion baut den Sozialismus schon seit 40 Jahren auf, und ihre Erfahrungen sind für uns sehr wertvoll. [...] Es ist vollkommen richtig, daß wir aus den positiven Erfahrungen aller Länder, ob sozialistisch oder kapitalistisch, lernen müssen; das steht fest. Doch in der Hauptsache müssen wir eher von der Sowjetunion lernen."340
Beispiele offensichtlich aus der oben genannten Zeitschrift Guowaijianzhu wenzhai. Weitere Titel sind: Faguo de zhuzhai jianshe ä S ¿Kj-fi ^ j J ì S ; [Der französische Wohnungsbau], Beijing 1957; Yiwannuqfu fâ-Tî fé Λ. [Ivanov]: Yingguo shizheng jianshe de ruogan wenti  ¡ S r f l i l t i í t Ú é - f - W Z S [Einige Probleme des britischen Städtebaus], Beijing 1958 [engl. Original: London 1954; russ. Übersetzung: Moskau 1 9 5 6 A o f u x i a n g j i n ^ [Ovsjankin] (Hrsg.): Yingguo jianzhu jingyan S lì.ìÀ.ìi Jk$TÏÏ> ñ 7 . Zitiert nach: Beijing de jianzhushi relie taolun „yanjie jian fang" wenti «Mif-fe " " Γ-Ίί! [Lebhafte Diskussionen der Architekten in Beijing über die Frage der „Straßenrandbebauung" ], in: JZXB 1, 1957, S. 54ff, hier S. 54. 433 Das schlägt sich zum Teil auch noch in aktuellen Beiträgen nieder, wie z.B. in der Darstellung von Lu Duanfang: Chinese Urban Form.
265
3.3 Leitbilder und Bauprojekte
Bauvorhaben/Baubeginn
Bericht
Name
Ort
Jahr
in JZXB
Caoyang xincun Baiwanzhuang
Shanghai
1951
2, 1956
Beijing
1953
Huaqiao xincun
Guangzhou
1954
6, 1956 2, 1957
Xingfucun
Beijing
1956
3, 1957
Xizhaosi
Beijing
1957
1, 1958
Abbildung 70: Modellhafte Bauvorhaben der 50er Jahre
schaftspolitischen Ordnungsvorstellungen dabei zu distinkten Merkmalen des chinesischen „Aufbaus" erklärt werden. Alle hier verwendeten Fallbeispiele sind Mitte der 50er Jahre im offiziellen chinesischen Fachorgan Jianzhu xuebao ausfuhrlich diskutiert worden (Abb. 70). Durch die Gegenüberstellung der jeweiligen Beiträge lassen sich zum einen Veränderungen und Leibildverschiebungen in der chinesischen Planung mitverfolgen, zum anderen wird aber auch ersichtlich, welche Kontinuitäten den städtebaulichen Diskurs der Volksrepublik bis zum Ende des ersten Fünfjahrplans prägen. Aus der Analyse ausgeklammert bleibt das staatliche Kontroll- und Organisationsinstrument der danwei in seinen sozialräumlichen Dimensionen: Die zeitgenössischen Fachpublikationen thematisieren die Arbeitseinheit als städtebauliches Problem des chinesischen „Aufbaus" allenfalls indirekt.434 Die Darstellung dieses Abschnitts ist in zwei Teile untergliedert. Zunächst werden die Wohnviertel Caoyang xincun (Shanghai 1951), Baiwanzhuang (Beijing 1953), Huaqiao xincun (Guangzhou 1954/55), Xingfucun (Beijing 1956) und Xizhaosi (Beijing 1957/58) in der chronologischen Reihenfolge ihrer Entstehung überblicksartig mit Daten und Plänen vorgestellt. Bei der nachfolgenden Analyse der zeitgenössischen Diskussionen steht die Frage nach den Grundmustern der Argumentationsfuhrung im Vordergrund. Die Jahre von 1956 bis 1958 haben sich als eine Verdichtungsphase der fachlichen Auseinandersetzung mit Strukturmodellen für den städtischen Wohnungsbau in China erwiesen. In der Jianzhu xuebao werden die genannten Wohnviertel während dieser Zeit nicht nur in Form von Einzelbeiträgen besprochen. Ihre Entwürfe sind zugleich auch immer wieder Gegenstand von Diskussionsforen zu bestimmten städtebaulichen Teilaspekten.435 Berücksichtigt man auch ande434
Obwohl sich die danwei im Verlauf der 50er Jahre zum entscheidenden Strukturelement in der sozialräumlichen Gliederung chinesischer Städte entwickelt und damit unmittelbar auch in den Arbeitsbereich der Stadtplaner und Architekten fällt. Weiterfuhrend dazu Bray. Social Space; vgl. außerdem die Beiträge in Xiaobo /.¿¿/Elizabeth Perry (Hrsg.): Danwei. The changing Chinese workplace in historical and comparative perspective, Armonk/London 1997. 435 Die behandelten Fallbeispiele sind in den Städten Beijing, Shanghai und Guangzhou situ-
266
3. Neue Städte für die Neue Gesellschaft
Caoyang xincun Shanghai, heutiger Stadbezirk Putuo Baubeginn: 1951 Einwohner: 1952 Wohnraum für 1002 Haushalte; langfristig fur 30.000 Menschen projektiert; „fortschrittliche Arbeiter" Wohnbebauung: zwei- bis dreigeschossige Gebäude in Zeilen (hanglieshi), Süd-Südwest-Exposition Infrastruktur: Kindergärten, Schulen, Ambulanz, Geschäfte, Bank, Post
3.3 Leitbilder und Bauprojekte
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Baiwanzhuang jiefang Beijing, westlicher Stadtbezirk Erbaut: 1953 Einwohner: 7846 (1956); projektiert fur 10 000 Einwohner; Funktionäre Wohnbebauung: dreigeschossige achsensymmetrische Blockbebauung (shuang zhoubianshi); Hofbauten um eine zentrale Grünfläche gruppiert Infrastruktur: Kinderkrippen, Grundschule, Geschäfte
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3. Neue Städte für die Neue Gesellschaft
Guangzhou, Bezirk Yuexiu Erbaut: Entwurf 1954, Baubeginn 1. Bauabschnitt Mai 1955 Einwohner: 1. Bauabschnitt 200 Wohnhäuser; Auslandschinesen (huaqiao) Wohnbebauung: mehrheitlich zwei- bis dreigeschossige Einzelhäuser mit Garten (duyuanshi/tingyuanshi) und einige Apartmenthäuser (Jiti gongyu); Baugruppen in freier Anordnung {ziyoushi)\ Süd-Südost-Exposition Infrastruktur: Kindergarten, Grundschule, Geschäfte, Post, Sparkasse, Ambulanz, Restaurant, Festhalle, Sportplatz
3.3 Leitbilder und Bauprojekte
269
Astiti
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I
Xingfucun jiefang Beijing, Bezirk Chongwen Baubeginn: keine Angaben, ca. 1956/57 Einwohner: keine Angaben; Wohnhäuser für umgesiedelte Einwohner aus den Innenstadtgebieten (zhouzhuanfang)·, einfache Funktionäre und Stadtbewohner (yiban ganbu, putong shimin) Wohnbebauung: drei- bis viergeschossige Laubenganghäuser (wailangshi zhuzhai) zu Höfen (yuanluo) gruppiert; Mischanordnung (hunheshi buzhi) Infrastruktur: Kindergärten, Grundschule, Geschäfte, Post, Bank, Ambulanz, Restaurant
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3. Neue Städte für die Neue Gesellschaft
Beijing, Bezirk Chongwen Baubeginn: 1958 Einwohner: bei Planungsbeginn im Jahr 1957 3086 Haushalte (= 12266 Einwohner); langfristig ausgelegt für 16700 Einwohner Wohnbebauung: vorwiegend viergeschossige, symmetrisch angeordnete Hofbebauung (yuanluoshi); für den östlichen Abschnitt sechs- bis achtgeschossige Wohnbauten geplant Infrastruktur: Kindergärten, Grund- und Mittelschulen, Geschäfte, Kaufhaus, Post, Ambulanz, Restaurant, Park, Sportplatz
3.3 Leitbilder und Bauprojekte
271
re publizistische Reaktionen auf die neuen Wohnviertel und folgt dem Verlauf der fachlichen Auseinandersetzung über das Jahr 1958 hinaus, wird deutlich, wie sehr Caoyang xincun, Baiwanzhuang, Huaqiao xincun, Xingfucun und Xizhaosi - ungeachtet der ständig wechselnden politischen Werturteile - zu einem festen Bestandteil im Bilderkanon der chinesischen „Aufbau"-Historiographie geworden sind.436 Als Repräsentanten chinesischer „Aufbauerfolge" in Szene gesetzt, entfaltet sich anhand ihrer Darstellung das Panorama eines komplexen semantischen Zusammenspiels von Bautätigkeit und gesellschaftlich-politischer Erneuerung, das charakterisch für die Nachkriegsmoderne(n) der 50er Jahre ist. Einen ersten Einblick in die Mechanismen solcher Inszenierungen gewährt ein Bericht der Zeitschrift Xin Zhongguo funii vom September 1952. Darin wird das Wechselverhältnis zwischen der „befreienden" Produktivität der Arbeiterinnen und der Fürsorge des Staates in Gestalt neuer Wohnungen betont: „Im Neuen China ist die Arbeiterklasse Herr im eigenen Haus. Sie entfaltet großen Enthusiasmus und Schöpfergeist, sie gibt alles für die Produktion, sie erzeugt Kapital für den Staat. Und die Volksregierung kümmert sich intensiv um ihre Lebensbedingungen: Sie baut überall im großen Maßstab Arbeiterwohnungen und arbeitet aktiv an einer Lösung der Arbeiterwohnungsfrage." 437
Zur Veranschaulichung portraitiert der Bericht eine junge Arbeiterfamilie, die seit kurzem im Wohnverhältnissen lebt, die sich vom damaligen chinesischen Durchschnitt deutlich abheben: Caoyang xincun, das erste großflächige Wohnquartier, das nach 1949 in Shanghai entsteht, ist in mehrfacher Hinsicht ein Ausnahmeprojekt - einschließlich der Tatsache, daß in diesem Viertel ausschließlich „fortschrittliche Arbeiterinnen" (xianjin gongren) mit ihren Angeiert. Während diese Auswahl einerseits keinen repräsentativen Eindruck von den städtebaulichen Aktivitäten jenseits der großen Zentren der Volksrepublik vermittelt, ist andererseits die Modellfunktion der hier untersuchten Mustersiedlungen nicht zu unterschätzen. Ursprünglich war für diesen Abschnitt vorgesehen, die Wohnfolgeeinrichtungen für die industriellen Schwerpunktstädte des 1. Fünfjahrplans miteinzubeziehen. Das Vorhaben ist jedoch an der Verfügbarkeit entsprechender Materialien gescheitert. Wie Prof. Chen Baorong mir im Interview schilderte, mußten sie und ihre Kolleginnen unter strikter Geheimhaltung an den Wohngebietsplanungen arbeiten (13.03.2002, Beijing); bis zum Abschluß dieser Untersuchung waren die Unterlagen offiziell nicht zugänglich. 436 Eine solche Kanonisierung zeichnete sich bereits zum Ende der 50er Jahre ab. Vgl. dazu u.a. die Abbildungen und Darstellungen in Jianzhu gongchengbu jianzhu liaoxue yanjiuyuan (Hrsg.): Jianzhu shi nian. Zhonghua Renmin Gongeheguo jianguo shi nian zhounian jinian 1949-1959 í t á H " - ^ : + ISîÈS M ^ - î t ï h [10 Jahre Bauen. Zum zehnten Jahrestag der Gründung der VR China], Beijing 1959; „Chengxiang guihua" jiaocai xuanbian xiaozu " $ ÄÜ'J " φ ÖL (Hrsg.): Chengxiang guihua Η Φ íSLS'J [Städtische und ländliche Planung], 2 Bde, Beijing 1961; und Qinghua daxue tumu jianzhuxi chengxiang guihua jiaoyanzu '/fr Φ À. Φ ì ^ - J t ì l $ Η £ Μ, 1 & (Hrsg.): Zhuzhaiqu guihua i i ^ E Ä L S l I [Wohnviertelplanung], Beijing 1962. 437 Rui Ying J t ^ : Caoyang xincun de yi ge gongren jiating de shenghuo ψ ib M i t ^ — Ί - Χ Α ^ ^ ί ί ΐ [Das Leben einer Arbeiterfamilie in Caoyang xincun], in: XZGFN 9, 1952, S. 18f, hierS. 18.
272
3. Neue Städte für die Neue Gesellschaft
hörigen untergebracht sind. Die chinesische Regierung ist zu Beginn der 50er Jahre mit einem eklatanten Mangel an städtischem Wohnraum konfrontiert. Sie ist entgegen der eigenen Ansprüche zu diesem Zeitpunkt gerade nicht in der Lage, „überall im großen Maßstab Arbeiterwohnungen" zu bauen, die dem Modernitätsideal entsprechen, das Xin Zhongguo funii ihren Leserinnen vorfuhrt. Die staatliche „Sorge für den Menschen" in Gestalt von Komfort-Wohnungen erreicht zunächst nur das „fortschrittlichste", mit anderen Worten nur das wirtschaftlich produktivste Segment der chinesischen Arbeiterschaft. Die reich bebilderte Familienreportage wird durch den „Augenzeugenbericht" einer neuen Bewohnerin von Caoyang xincun ergänzt. Darin schildert die fünfzigjährige Textilarbeiterin Li Ada, wie ihr die neue Wohnung zuteil wurde, welche besonderen Qualitäten die Einrichtungen in Caoyang xincun gegenüber ihren bisherigen Lebensumständen aufweisen und wie sich ihr Leben insgesamt durch den Umzug zum Besseren gewendet hat. „Heute wohne ich nun in diesem neugebauten westlichen Haus [yangfang]. Hier ist es hell, geräumig und trocken. Durch die Südausrichtung ist es im Winter warm, im Sommer kühl; die Küche ist eine Küche, der Toilettenraum ein Toilettenraum und draußen vor dem Haus gibt es sogar Blumen und Bäume. Selbst in meinen Träumen hatte ich mir nicht vorgestellt, daß ich einmal so leben würde!"438
Die Eindrücke ihres neuen Alltagslebens artikuliert die Sprecherin in formelhaften Wendungen, die sich als wiederkehrende Bestandteile des zeitgenössischen „Aufbau"-Idioms identifizieren lassen: Das überragende Grundmotiv des verwendeten Erzählschemas ist der Vergleich zwischen Gestern und Heute. Synonyme für die Vergangenheit sind „schlechte Wohnungen", „unerträgliche Enge", Dunkelheit, Feuchtigkeit und Schmutz. All dies bündelt sich im Begriff der (Stroh-)Hütte (caopeng), in deren einzigem Raum sich ehemals das komplette Leben der Bewohner (penghu) abgespielt hat. Davon hebt sich die Gegenwart mit ihrem modernen Gegenbild - dem Haus im westlichen Stil - deutlich ab. Es ist „hell, geräumig und trocken", die einzelnen Lebensbereiche und Funktionen finden ihre Entsprechung in der räumlichen Aufteilung der Wohnung, die damit zum Ort der Erholung wird: „Jeden Tag, wenn ich von der Arbeit nach Hause komme, wir uns zum Abendessen an das südliche Fenster setzen und eine kühle Brise hereinweht, ist die ganze Erschöpfung des Tages plötzlich wie weggeblasen."
Die rekreative Funktion der privaten Wohnung wird durch das kollektiv genutzte Wohnumfeld noch gesteigert. Grünanlagen laden zu gemeinsamen Freizeitaktivitäten im Freien ein. Photos zeigen die Bewohner beim Spaziergang auf den autofreien Wegen innerhalb der Siedlung und beim abendlichen Kartenspiel im Grünen. 438
Li Ada Φ Ρ Τ λ : Wo banjin le Caoyang xincun yang xincun gezogen], in: XZGFN 9, 1952, S. 19.
7 ttâMff
[Ich bin nach Cao-
3.3 Leitbilder und Bauprojekte
273
„Daß wir, die das ganze Leben in Strohhütten gewohnt haben, nun in einem westlichen Haus leben können, wer hätte das für möglich gehalten? Das alles haben uns der Vorsitzende Mao und die Partei zuteil werden lassen. [...] Ende Juni [1952] sind wir mit der ganzen Familie nach Caoyang xincun gezogen. Vorher, als von der Fabrik aus eine Besichtigung hierher organisiert worden war, dachte ich: Unsere Arbeiterklasse ist wirklich zu neuem Leben erstanden. Obwohl wir damals noch nicht wußten, wer hier wohnen würde, war es trotzdem eine Sache, die bei allen Freude ausgelöst hat. [...] Nur drei Jahre nach der Befreiung hat sich unser Leben um ich weiß nicht wieviel verbessert! Man braucht sich weder um Nahrung noch Unterkunft Sorgen zu machen!"
Die kausale Verknüpfung zwischen staatlicher Fürsorge und wirtschaftlicher Produktivität verläuft dabei in zwei Richtungen: Zum einen können die „Errungenschaften des Aufbaus" nur bei modellhafter Arbeitsleistung in Anspruch genommen werden; der Topos dui ren de guanhuai wird zum Leistungsanreiz ausgedeutet. Zum anderen wirken die neuen Wohnverhältnisse, so ein Grundtenor der Darstellung, auf die physische und die mentale Verfaßtheit der Menschen zurück. Die Wohnung und das Wohnviertel gehören nach dieser Lesart zu den Räumen, in denen sich die „schrittweise Umgestaltung" des Einzelnen und der Gesellschaft vollzieht: „Heute hat sich nicht nur der politische Stellenwert von uns Arbeitern enorm erhöht, und auch das Leben stark verändert, sondern auch meine Auffassungsgabe ist viel besser geworden und ich arbeite mit größerem Schwung. [...] künftig werde ich mich noch stärker der Produktion widmen und meinen Kopf anstrengen, um noch mehr Kapital für den Staat zu schaffen und damit dem Vorsitzenden Mao und der Partei [ihre Fürsorge] zu vergelten."439
Mit welchen Strukturmodellen die Akteure des chinesischen Städtebaus versucht haben, den gesellschaftlichen Gestaltungsansprüchen des neuen Staates zu entsprechen, wird an den folgenden Beispielen untersucht. Die Wohnquartiere der Volksrepublik China entstanden in der Regel als Stadterweiterungsprojekte an den Rändern der bestehenden Kernstädte, entweder in kommunaler Trägerschaft oder aber als Teil von neuerrichteten Industriekomplexen. Obwohl die Debatten, welches Modell städtischer Gliederung sich fur China am besten eignete, während des gesamten Aufbaujahrzehnts anhielten, bildete sich im Kontext der Auseinandersetzung mit modernen Stadtplanungsansätzen ein Grundkonsens hinsichtlich des Wohnungsbaus heraus: Der Bau von neuen Wohneinheiten sollte räumlich konzentriert vor sich gehen. Statt nur einzelne Wohngebäude zu errichten, die über das ganze Stadtgebiet 439
Li Ada: Wo banjin le, S. 19. Winfried Nerdinger spricht mit Blick auf die verschiedenen sozialen Einrichtungen, die in europäischen Fabrikstädten unter großem propagandistischen Aufwand zur Produktionssteigerung eingeführt wurden, von einer „Camouflage der Ausbeutung" durch die Fabrikherren. Vgl. Nerdinger: Zlin. Sozial gelackte Modernität-Architektur und Leben im Gleichschritt, in: ders. (Hrsg.): Zlin - Modellstadt der Moderne, Berlin 2009, S. 16-22, hier S. 20. Im Fall der „neuen Arbeiterdörfer" in den Städten der Volksrepublik China lassen sich vergleichbare paternalistische Elemente beobachten. Die Bewohner von Caoyang xincun stellen ihr Leben zwar nicht mehr in den Dienst eines einzelnen Unternehmers, aber sie erfüllen als Gegenleistung für die allumfassende Fürsorge des Staates dessen Kapitalinteressen und unterwerfen sich dazu einem rigiden Arbeitsregime.
274
3. Neue Städte für die Neue Gesellschaft Abbildung 71: Nachbarschaftseinheit Zhenwumiao
„verstreut" lagen, sollten großflächige Wohngebiete entstehen und mit grundlegenden Versorgungseinrichtungen erschlossen werden.440 Vor diesem Hintergrund ist es wenig erstaunlich, daß die frühen Entwürfe für den Generalplan von Beijing auch eine chinesisch(sprachig)e Definition der neighbourhood unit enthalten, die weitgehend dem Konzept des amerikanischen Stadtplaners Clarence A. Perry (1872-1944) aus dem Jahr 1929441 entspricht: „Moderne Wohngebiete gehen häufig von der Nachbarschaft als Grundlage aus und obwohl es eine Reihe von Abweichungen gibt, folgen sie im großen und ganzen einem gemeinsamen Grundsatz: Jede Nachbarschaft besteht aus circa 5000 Einwohnern. Schnellstraßen für den Durchgangsverkehr umgeben sie von außen, dürfen aber nicht durch sie hindurch führen. Innerhalb der Nachbarschaft bilden Grundschule, Kultureinrichtungen und Versorgungseinrichtungen des alltäglichen Bedarfs das Nachbarschaftszentrum, um das ringsum Wohngebäude errichtet sind. Von jeder einzelnen Wohnung zum Nachbarschaftszentrum besteht ungefähr dieselbe Entfernung, die man bequem hin- und zurücklaufen kann. Da alle Fahrzeuge, die nicht die Nachbarschaft selbst als Ziel haben, auf den umliegenden Hauptstraßen fahren, ist der Verkehrsdurchfluß auf den Straßen innerhalb der Nachbarschaft äußerst gering, so daß Sicherheit für die Fußgänger und Ruhe für die Anwohner normalerweise gewährleistet sind. Die Verkehrsverbindung zwischen den einzelnen Nachbarschaften kann von Bussen auf den Hauptstraßen übernommen werden, deren Haltestellen in jeder Nachbarschaftseinheit an jeweils geeigneten Orten eingerichtet werden."442
In der chinesischen Hauptstadt wurde nach dem Nachbarschafts-Konzept, wie es hier beschrieben ist, offiziell allerdings nur in einem Fall vorgegangen.443 (Abb. 71) 440
Vgl. Li Hongduo Baiwanzhuang zhuzhaiqu he Guomian yichang shenghuoqu diaocha r i ' Ä E Ü i [Untersuchung über das Wohnviertel Baiwanzhuang und die Wohnbereiche der Baumwollfabrik Nr.l], in: JZXB 6, 1956, S. 19-28, hierS. 19. 441 Einen Überblick über die Entstehung und die amerikanisch-europäische Rezeptionsgeschichte des Nachbarschaft-Konzepts gibt Lu Duanfang: Chinese Urban Form, S. 21-24. Vgl. dazu außerdem Kapitel 2.1 und 2.3 dieser Arbeit. 442 Zitiert nach Beijing jianshe shishu bianji weiyuanhui (Hrsg.): Jianguo yilai de Beijing chengshi jianshe ziliao, Bd.5/2, S. 266f. 443 1951 entstand an der Fuxingmenwai dajie im Bereich Zhenwumiao ein erstes zusammenhängendes Wohnviertel, das nach Darstellung Zhang Jinggans jedoch nicht über ausreichende Versorgungseinrichtungen verfügte, um dem Nachbarschaftskonzept gerecht zu werden.
3.3 Leitbilder und Bauprojekte Caoyang
275
xincun
In Shanghai entstand mit Caoyang xincun j e d o c h ungefähr zeitgleich ein Wohnviertel, bei dem das Prinzip der Nachbarschaftseinheit vollständiger zur A n w e n d u n g kam. Wang Dingzeng, der für die Projektierung des ersten Bauabschnitts mitverantwortlich war, schrieb 1956 in einem Beitrag über „Die Planung der Wohnsiedlung Caoyang xincun in Shanghai": 444 „Es läßt sich nicht abstreiten, daß die Gesamtplanung der neuen Siedlung [xincun] dem Gedanken der neighbourhood unit [Unii danwei] folgt [...]: die Gesamtfläche der neuen Siedlung beträgt 94, 63 ha und hat einen Radius von ca. 0.6 km; vom Rand bis in das Zentrum läuft man zu Fuß in ungefähr 7-8 Minuten, im Zentrum wurden verschiedene öffentlichen Gebäude errichtet, wie die Genossenschaft, das Postamt, die Bank und das Kulturhaus. In den Randgebieten der Siedlung sind kleine Märkte und Filialen der Genossenschaft verteilt, um den Bewohnern den Einkauf von alltäglichen Bedarfsartikeln in der Nähe ihrer Wohnung zu ermöglichen. Die Grundschulen und Kindergärten sind nicht innerhalb der Wohneinheiten errichtet worden, sondern in eigenen Arealen gleichmäßig über die Siedlung verteilt, so daß die Kinder für den Schulweg nicht mehr als 10 Gehminuten benötigen. Auf diese Weise kommt es nicht zu Ruhestörungen in den Wohneinheiten und die Schulen haben zugleich genügend Raum für Aktivitäten im Freien. Die Bevölkerung der neuen Siedlung ist größer als die einer normalen Nachbarschaftseinheit, insofern entspricht sie eigentlich schon den Ausmaßen eines kleinen Wohnviertels \yi ge xiao zhuzhaiqu de guimo], Dies ist unter Berücksichtigung des Unterhalts bestimmter öffentlicher Gebäude und der wirtschaftlichen Situation der Bewohner ausgearbeitet worden."445 Was war geschehen, daß Wang sorgfaltig darum bemüht war, die vorhandenen B e z ü g e dieser „neuen Arbeitersiedlung" (gongren xincun) zum Modell der Nachbarschaftseinheit so weit w i e möglich abzuschwächen, ohne dabei die Konzeption des Wohnviertels grundsätzlich in Frage zu stellen? Antworten darauf erschließen sich aus der Argumentation, die Wang Dingzeng zur Evaluierung und Rehabilitierung von Caoyang xincun aufbaut. Einleitend benutzt er das zeittypische Motiv des Vergleichs z w i s c h e n gestern und heute: In der Vergangenheit sei die Stadtentwicklung Shanghais anormal (fixing) verlaufen, die Werktätigen lebten in „unerträglich engen B e helfsbauten und Strohhütten" ( y o n g j i bukan de jianwu he penghu), die eine B e -
Vgl. Zhang J i n g g a n B e i j i n g guihuajianshe wushi nian [Beijing. 50 Jahre Planung und Aufbau], Beijing 2001, S. 126f. Im Rückgriff auf seine Darstellung schreibt Lu Duanfang: Chinese Urban Form, S. 31 : „The neighbourhood unit idea was adopted in Beijing's master plans [...], and several residential districts were built according to the schema." [Hervorh. d. Verf.] Angesichts der oben geschilderten Materiallage wirkt diese Aussage verzerrend, zumal auch Lu Duanfang nur das Zhenwumiao- Wohnviertel als Beispiel für die Umsetzung des Konzepts in Beijing anführen kann. 444 Seine persönliche Beteiligung an der Planung von Caoyang xincun erwähnt der an der Illinois University ausgebildete Wang Dingzeng hier nicht. Im Gegenteil, er übernimmt in seiner Darstellung die Rolle des unbeteiligten, „objektiven" Berichterstatters, allenfalls benutzt er das kollektive „wir" (women -SJ']). Vgl. Wang Dingzeng: Shanghai Caoyang xincun, S. 1, 13,15. Auf seine Mitarbeit verweist z.B. Chai Xixian: You jin ji yuan, yuan jin jiehe, S. 198; außerdem Lu Duanfang: Chinese Urban Form, S. 29f. 445 Wang Dingzeng: Shanghai Caoyang xincun, S. 2.
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3. Neue Städte für die Neue Gesellschaft
drohung für Sicherheit und Gesundheit darstellten. „Seit der Staatsgründung" (jianguo yilai) hätten sich diese Zustände jedoch grundlegend geändert. Unter der Leitlinie „der Produktion und den Werktätigen zu dienen" materialisiere sich die staatliche „Sorge für den Menschen" seit 1951 im „massenhaften Bau von Arbeiterwohnungen" (dapi xingjian gongren zhuzhai) in Shanghai. Caoyang xincun, als „vollständig ausgestattetes Wohngebiet für die Arbeiterklasse", präsentiert Wang Dingzeng als eine Pionierleistung innerhalb dieses staatlichen Gesamtprojekts.446 Der nachfolgende Hauptteil seiner Darstellung ist thematisch untergliedert. In fünf Abschnitten erörtert Wang die Einzelaspekte der Planung des Viertels, von der Wahl des Baugrunds im Verhältnis zur Gesamtplanung für die Stadt Shanghai bis hin zu den Grünanlagen. Dabei strukturiert er seine Beschreibungen durch Zitate anerkannter Referenzgrößen. Was sowjetische Planer und Funktionäre zu den Aufgabenbereichen der Wohngebietsplanung im allgemeinen geäußert haben, inwiefern diese Ansätze in Caoyang xincun verwirklicht worden seien und welche Reaktionen das Wohnviertel bei verschiedenen anderen ausländischen Fachleuten hervorgerufen hat, nimmt Wang Dingzeng als Ausgangspunkt für eine argumentative Gratwanderung: Er macht den Versuch, Caoyang xincun zwar nach den damals gültigen Maßgaben des „Aufbaus" zu kritisieren, zugleich aber die Konzeption des Viertels als konform mit den akzeptierten Grundprinzipien des sozialistischen Städtebaus darzustellen. Daß ihm dies auch in Teilbereichen gelingt, hängt zum einen mit den Umwertungen zusammen, die im Verlauf des Jahres 1956 in der Planungsdiskussion vorgenommen werden. Zum anderen macht seine Darstellung unfreiwillig deutlich, welch nahe Verwandtschaft zwischen den ideologisch polarisierten Schemata der damaligen Wohngebietsplanung bestanden. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang, welche Aussagen Wang Dingzeng als Maßstab für die Beurteilung Caoyang xincuns heranzieht. Mit seinem ersten Zitat nimmt er zunächst auf die Resolution der „Allsowjetischen Konferenz der Baufachleute" aus dem Jahr 1954 Bezug, auf der man explizit von den Paradigmen des stalinistischen Städtebaus abgerückt war und sich im Zuge dessen um neue Abgrenzungen zur „kapitalistischen Stadt" bemühen mußte. Die Kernaussage dieser Zitatstelle macht sich am Begriff der „Auflockerung" (fensanxing) des "städtischen Aufbaus" fest, die als „unwirtschaftlich" (bu jingji) abgelehnt wurde. Dem stellt Wang zwei weitere Äußerungen zur Seite: Bereits eine polnische Delegation von Stadtplanern und Architekten hatte während eines Aufenthalts in Shanghai (1955) die chinesischen Kollegen auf die Notwendigkeit einer kompakten Siedlungsweise zur besseren Ausnutzung von öffentlichen Einrichtungen in der Kernstadt hingewiesen, was Wang
446
Wang Dingzeng: Shanghai Caoyang xincun, S. 1.
3.3 Leitbilder und Bauprojekte
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nun noch mit einer Textpassage aus einem sowjetischen Fachbuch theoretisch untermauert. Zur Anlage von städtischen Wohngebieten zitiert er daraus folgendes: „Die gesamten Erfahrungen des sowjetischen Städtebaus beweisen: Eine der Hauptaufgaben für die Planer in Städten mit entwickelter Industrie ist es, die Wohngebiete korrekt festzulegen. Sie dürfen nicht zu weit von der Industrie entfernt sein, aber gleichzeitig sollen sie noch eine organische Verbindung zur Stadt aufweisen und so in die Stadt integriert sein, daß sie zu unverzichtbaren Bestandteilen der Stadt werden."447
Eines der gravierendsten Mankos sei es, schlußfolgert Wang vor diesem Hintergrund, daß Caoyang xincun bislang nicht gut an das Stadtzentrum Shanghais angebunden sei. Gleichzeitig weist er jedoch daraufhin, daß sich dieser Mangel im Zuge künftiger Stadterweiterungen durchaus noch beheben lasse.448 Größeren Raum nimmt die Evaluierung der Gliederung und der Bebauungsformen in der Darstellung Wangs ein. Die in Xin Zhongguo funü 1952 noch als äußerst vorbildlich dargestellte Gestaltung des Wohnumfelds von Caoyang xincun ist zwischenzeitlich mit zwei städtebaulichen Leitbildern identifiziert worden, die im blockinternen Kontext des sozialistischen Städtebaus wenig positiv konnotiert sind. Dazu gehört erstens das Konzept der neighbourhood unit selbst. Wenn Wang Dingzeng im Folgeabschnitt die Ablehnung der „kapitalistischen" Nachbarschaftseinheit als eines der Grundprinzipien des stalinistischen Städtebaus umschreibt, hebt er damit allerdings letztendlich stärker die Ähnlichkeiten als die Kontraste beider Planungsansätze hervor und führt die von ihm zitierte sowjetische Definition ad absurdum. Was das „reaktionäre Wesen der sogenannten ,Nachbarschaftseinheit'" (suowei ,linli danwei' de fandong benzhi) gegenüber dem sowjetischen „Superblock" (da jiefang) ausmacht, bleibt damit völlig unklar. Der „Superblock" garantiere, so die sowjetische Formulierung von 1931, „die Befriedigung der Lebensbedürfnisse aller Bewohner" und sei zugleich ein äußerst ökonomisches Modell des städtischen Wohnungbaus. An diesem Anspruch, die Grundversorgung der städtischen Bevölkerung im Rahmen von Wohnquartieren zu organisieren, läßt sich jedoch kein Widerspruch zu den Leitgedanken Caoyang xincuns festmachen. Wang Dingzeng hebt in seinem Kommentar dagegen die Wirtschaftlichkeit als Unterscheidungsmerkmal hervor: Der „Superblock" sei im Vergleich zur „neuen Siedlung" das ökonomischere System: „Auf diese Weise kann man fur den Staat Aufbaukapital sparen", lautet das schlichte Fazit, mit dem Wang eine Orientierung am Maßstab des „Superblocks" fur künftige chinesische Wohngebietsplanungen empfiehlt und zugleich indirekt die Anlage von Caoyang xincun rehabilitiert: Trotz der Affinitäten zur Nachbarschaftseinheit erfülle das
447
Nach Lun Sulian jianzhu yishu de xianshizhuyi jichu [Über die sowjetische Baukunst und ihre realistische Basis] zitiert von Wang Dingzeng: Shanghai Caoyang xincun, S. lf. 448 Wang Dingzeng: Shanghai Caoyang xincun, S. 4.
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3. Neue Städte für die Neue Gesellschaft
Quartier aufgrund seiner wirtschaftlich rationaleren Ausführung schon einige wesentliche Kriterien des „Superblock"-Systems.449 Dieselbe Argumentationsstrategie verfolgt Wang hinsichtlich des zweiten Vorwurfs, Caoyang xincun sei eine Variante des „kapitalistischen" Gartenstadtmodells. Zitiert wird zunächst die Stellungnahme eines sowjetischen Experten zur Umgestaltung Shanghais, in der ein unmißverständliches Votum für die „kompakte Stadt" abgegeben wird. Diejenigen, die sich „auf die Pfade der kleinbürgerlichen Theorien des Utopisten Howard" begeben hätten und unabhängige Gartenstädte konzipieren wollten, dächten unwirtschaftlich, heißt es dort. Für den Umbau Shanghais, so wird der chinesischen Seite anempfohlen, komme nur eine Erweiterung des eigentlichen Stadtgebiets in Frage. An diesem Punkt setzt Wang Dingzeng seine Verteidigung des Wohnviertels an. Die chinesischen Planer hätten Caoyang xincun, das in der Nähe des Stadtgebiets situiert sei, „subjektiv" als Stadterweiterung und niemals als unabhängige Gartenstadt konzipiert; daß der britische Architekt Skinner (Sijina) das Wohnviertel nach einer Besichtigung im Jahr 1953 dennoch fälschlicherweise dem „Typus der ,Gartenstadt'" (,huayuan chengshi' leixing) zugeordnet habe, erklärt Wang aus dem besonderen Erscheinungsbild Caoyang xincuns, das sich aus der geringen Bebauungsdichte, der Niedrigbauweise und der Berücksichtigung der topographischen Besonderheiten des Gebiets ergebe.450 Zwar sei der Wohnungsbau in Shanghai seit 1949 insgesamt zu wenig konzentriert vor sich gegangen und habe daher kaum zur Umgestaltung der alten Stadt beigetragen. Caoyang xincun für sich genommen habe aber durch seine umfassenden öffentlichen Einrichtungen und den Ausbau des städtischen Verkehrsnetzes nach wie vor gute Chancen, künftig mit dem Stadtgebiet zu einer „organischen Einheit" (youji de zongti) zu verschmelzen. Dennoch zeige die Anlage von Caoyang xincun, „daß wir damals nicht ausreichend von den fortschrittlichen sowjetischen Erfahrungen gelernt, die Empfehlungen der Experten nicht durchdrungen und uns mit Stadtplanung nicht intensiv genug beschäftigt haben; das hat mehr oder weniger dazu geführt, daß beim Aufbau blindlings vorgegangen wurde."451
Ambivalent bleibt die vermeintlich selbstkritische Darstellung Wang Dingzengs auch in Bezug auf die Anordnung und Gestaltung des Zentrums, der Straßen und der Wohnbebauung des Quartiers. Einerseits bemängelt Wang unter Berufung auf sowjetische Expertenmeinungen, daß die architektonische Uneinheitlichkeit der öffentlichen Gebäude, die geringe Bauhöhe sowie die Farbgestaltung das Zentrum und die Hauptstraßen (als zentrale Achsen) nicht 449
Wang Dingzeng: Shanghai Caoyang xincun, S. 2. Wang Dingzeng: Shanghai Caoyang xincun, S. 3f: Er hat hier offenbar die britischen Gartenstädte Letchworth und Welwyn vor Augen, deren Bebauung aus freistehenden Einfamilienhäusern im Cottage-Stil bestand. 451 Wang Dingzeng: Shanghai Caoyang xincun, S. 4. 450
3.3 Leitbilder und Bauprojekte
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so hervortreten ließen, wie es den Grundideen der kompakten Stadt entspreche. Andererseits unterstreicht er, daß gerade die Anpassung des Straßennetzes an die naturräumlichen Gegebenheiten - und damit die Anlage gewundener statt gerader Wege - von den Fachleuten der polnischen Delegation gutgeheißen worden sei: „[...] in einem Gebiet wie Shanghai, das von so vielen Flußläufen durchzogen wird, das Planungsmuster gerader, rechteckiger Straßenblöcke [fangzheng de jiefang] anzuwenden, wäre nicht gut mit der Topographie in Einklang zu bringen, daher ist die Planung des Straßensystems von Caoyang xincun dennoch vergleichsweise gelungen."452
Demgegenüber erzeuge die starre Anordnung der Wohnhäuser in Zeilen allerdings „ein Gefühl von Monotonie und Rigidität", wenn auch die einheitliche Süd-Südostexposition der Gebäude den klimatischen Besonderheiten Shanghais entspreche. Unter ästhetischen Gesichtspunkten empfehle sich für künftige Wohnviertel daher eine bessere Mischung von offener Bauweise und Blockbebauung. Wie stark Wang seine Begrifflichkeit der sowjetischen Kritik am Neuen Bauen und am fiinktionalistischen Städtebau entlehnt, zeigt das von ihm verwendete Pravda-Zitat aus der zweiten Hälfte der 1930er Jahre. Die Zeilenbauweise wird darin zum Symbol „linker Abweichung" erklärt, die schmucklosen Bauten als „kastenartige Gebäude im Lagerstil" beschrieben, die Reduktion von Straßen auf ihre Funktion als „Verkehrsadern" abgelehnt.453 Es geht stattdessen um die Inszenierung von Raum durch die Mittel der kompakten Stadt, u.a. durch eine geschlossene, repräsentative Randbebauung entlang der Hauptverkehrsstraßen, die als Sichtachsen auf das städtische Zentrum (bzw. in kleinerer Dimensionierung auf die Stadtteil- oder Siedlungszentren) zufuhren.454 Ein darauf abgestimmtes Netz von öffentlichem Grün soll die baulichen Effekte unterstützen: Begrünung sei nicht allein unter hygienischen Gesichtspunkten von Bedeutung, sondern ein integraler Bestandteil der Baukunst, der das „Gesicht der neuen Siedlung" (xincun de mianmao) verschönern könne.455 452
Wang Dingzeng: Shanghai Caoyang xincun, S. 12. Vgl. dazu auch Sun Jingwen: Jinian lai chengshi jianshe gongzuo, S. 274f: „In den letzten Jahren wurden außerdem einige kastenartige, permanente Hochhäuser entworfen, das zählt auch nicht als ,Schöpfung'. Die Bedeutung permanenter, hoher Gebäude für die Schönheit der Stadt ist groß, daher sollte man stärker auf ihre ideologischen und künstlerischen Eigenschaften achten. Sowohl beim ,Lagerstil' als auch bei der ,Kastenbauweise' kann von künstlerischer Form keine Rede sein. Unter den alten chinesischen Bauwerken gibt es viele hervoragende Ergebnisse, aber jene Niedrigbauten, die von Hand in Ziegel-Holz-Konstruktion errichtet werden, entsprechen nicht mehr einer sozialistischen Stadt mit fortschrittlichem Gesellschaftssystem und hochentwickelten Produktivkräften." 454 Wang Dingzeng: Shanghai Caoyang xincun, S. 13. 455 Hier wird aber nicht nur die dekorative Funktion betont, sondern auch der rekreative und gemeinschaftsbildende Aspekt angesprochen. Vgl. Wang Dingzeng: Shanghai Caoyang xincun, S. 14. Vom „Wechsel der Referenzsysteme" kündet überdies die Kritik, daß kein Sportplatz angelegt wurde; Sport und Leibeserziehung besaßen als Teil der gesellschaftlichen Umgestaltung einen besonderen Stellenwert in der Sowjetunion. Für die 1920er Jahre 453
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3. Neue Städte für die Neue Gesellschaft
Aus keinem der anderen Diskussionsbeiträge dieser Zeit tritt der Wechsel der städtebaulichen Referenzsysteme so deutlich hervor wie aus dieser Darstellung Wang Dingzengs. Und kaum ein anderer Beitrag macht die Prozeßhaftigkeit und auch die Unvollständigkeit dieses Leitbildwechsels so gut sichtbar. Hier geht es nicht einfach nur um den Übergang von „kapitalistischen" zu „sozialistischen" Prämissen des Städtebaus (bzw. um deren sprachliche Aktualisierung innerhalb des sanktionierten Deutungskontextes). Die Besonderheit der Argumentation besteht vielmehr darin, Gegensätzliches und Ungleichzeitiges zu synthetisieren. Die erste Ebene dieser Synthese betrifft die Ungleichzeitigkeiten in den Anleihen beim sowjetischen Städtebau. Auf die städtebaulichen Grundsätze der Stalinzeit rekurriert Wang Dingzeng genauso wie auf ihr „Gegenprogramm", das seit 1954/55 unter dem Slogan „Besser, schneller und billiger bauen" in die „Volksdemokratien" Osteuropas diffundierte und zu den in Abschnitt 2.3.2 und 3.3.3 erwähnten Neuorientierungen im Bauwesen gefuhrt hat. Auf einer zweiten Ebene kommt das Verhältnis von sowjetischen (= „sozialistischen") und nicht-sowjetischen (= „kapitalistischen") Stadtplanungskonzepten hinzu. Nominell als unvereinbare Gegensätze postuliert, macht Wang Dingzeng am Beispiel von Caoyang xincun die vielfaltigen Überschneidungen von beiderseits akzeptierten Leitvorstellungen - gerade in Bezug auf die optimale Organisation städtischen Lebens und ihre Lenkung durch den Städtebau - sichtbar. Im Resultat ordnet Wang Dingzeng den Entwurf von Caoyang xincun damit in ein Konglomerat aus städtebaulichen Leitbildern unterschiedlicher Zeiten und Systeme ein. Die Notwendigkeit, „von der Sowjetunion zu lernen", die zwar auch Wang immer wieder betont, verliert durch seine ambivalente Darstellung von xuexi Sulian ihre hegemoniale Bedeutung. Entsprechend bezieht sich sein abschließendes Fazit stärker auf ein allgemeines Grundverständnis moderner Planung und läßt die üblichen Loyalitätsbekundungen weitgehend aus: „Der Wohnungsbau ist eine der wichtigen Aufgaben innerhalb des künftigen Städtebaus Chinas, daher haben alle Erfahrungen, egal ob gute oder schlechte, [...] für die Planer einen gewissen Informationswert. Die Planer sollten beim Bau von Wohngebieten nicht meinen, ihre Aufgabe nach der Bauausführung für beendet erklären zu können. [...] es ist für die Planer unerläßlich, daß sie die vielfältigen Alltagsprobleme der Werktätigen von Grund auf verstehen und aus den Erfahrungen des Aufbaus lernen, damit es ihnen noch besser gelingt, für das Wohl der Arbeiter schöne sozialistische Städte zu schaffen."456
siehe dazu Plaggenborg: Revolutionskultur, S. 63ff; für die Zeit bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs Mike O 'Mahony : Sport in the USSR. Physical Culture - Visual Culture, London 2006. 456
Wang Dingzeng: Shanghai Caoyang xincun, S. 15.
3.3 Leitbilder und Bauprojekte
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Abbildung 72: Detailplan der Wohnquartiere des Automobilwerks Nr. 1 in Changchun
Baiwanzhuang Auf den ersten Blick erscheint das 1953 im westlichen Stadtteil Beijings entstandene Wohnquartier Baiwanzhuang ein ausgesprochenes Gegenmodell zu Caoyang xincun zu sein (s. S. 266/267). An die Stelle einer flexiblen Bebauungsform, die sich an der lokalen Topographie orientiert, tritt - so die Wirkung aus der Vogelperspektive - die geometrische Schablone einer barocken Gartenanlage. Baiwanzhuang entspricht mit seiner streng symmetrischen Anordnung von Gebäuden und Verkehrswegen, dem zentralen Platz, der Block(rand)bebauung und der dadurch erzeugten Hofbildung einem Großteil der Forderungen, die seit 1952 unter der Ägide sowjetischer Planungsexperten als Leitbilder eines neuen chinesischen Städte- und Wohnungsbaus propagiert wurden.457 Dennoch ist Baiwanzhuang in der chinesischen Hauptstadt selbst ohne Nachahmung geblieben. In anderen Städten entstanden vergleichbar strukturierte Quartiere in der Regel nur als Wohnfolgeeinrichtungen neuer Industriebetriebe (Abb. 72).458 Baiwanzhuang und Caoyang xincun sind seit ihrer Realisierung immer wieder stellvertretend als gegensätzliche Konzepte des chinesischen ,Aufbaus" 457
Sowjetische Vergleichspläne, die diesem Ordnungsideal entsprachen, sind u.a. abgedruckt in „Chengxiang guihua" jiaocai xuanbian xiaozu" (Hrsg.): Chengxiang guihua, Bd. 2, S. 5ff. 458 Vgl. z.B. die ausführliche Darstellung der Wohngebietsplanungen fur Changchun in: Fu dongbei mou changjuzhuqu xiangxi guihua sheji de neirong jieshao Wf & i t & r Mrfe E i f ή .g-^Hä [Zusätzliche Erläuterungen zu den Inhalten der Detailplanung für eine bestimmte Werkssiedlung im Nordosten], in: JZXB 2, 1955, S. 25-39.
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3. Neue Städte für die Neue Gesellschaft
historisiert worden.459 Das Jahr 1956 stellt in diesem Prozeß wechselnder Werturteile einen Einschnitt und Wendepunkt dar. Erste Anzeichen dafür treten bereits in der ambivalenten Argumentation Wang Dingzengs zutage. Sie gewinnen an Deutlichkeit, wenn man die Ergebnisse einer Evaluation hinzunimmt, die im Sommer 1956 von Li Hongduo, einem Mitglied des Büros fur Stadtplanungsverwaltung Beijing (Beijing Chengshi guihua guanliju), zu Baiwanzhuang veröffentlicht wurden.460 Nicht anders als Wang Dingzeng beginnt auch Li Hongduo seinen Bericht mit dem zeitgenössischen Topos der staatlichen „Sorge für den Menschen", die sich darin äußere, daß Partei und Regierung für die Hauptstadtbewohner „nach der Befreiung" eine große Anzahl von Wohnungen hätten bauen lassen. Dabei sei in den letzten Jahren ein entscheidender Fortschritt erzielt worden: Habe man anfangs über das ganze Stadtgebiet verstreut nur Einzelbauten errichtet, werde Wohnungsbau inzwischen „gruppen- oder flächenweise" (cheng zu huo cheng pian) betrieben und durch Versorgungseinrichtungen ergänzt. In diesem Entwicklungskontinuum piaziert Li Hongduo Baiwanzhuang an vorderster Front. Baiwanzhuang gehöre zu den ersten Wohngebieten in Beijing, die nach dem Prinzip von juzhu jiefang konzipiert worden seien. Da man beim künftigen Wohnungsbau ebenfalls nach diesem Organisationsmodell integrierter Wohnviertel (wanzheng jiefang de xingshi) vorgehen werde, habe sich die Wohnviertelplanung {jiefang guihua) zu einer der Kernfragen der Stadtplanung entwickelt.46' Diesem positiven Auftakt läßt Li Hongduo auf der Sachebene eine detaillierte Beschreibung der geographischen Lage, der Einwohnerschaft, der Bebauungsstrukur, der Wohnsituation und der infrastrukturellen Ausstattung des Wohnviertels folgen. Die abschließende Präsentation der Untersuchungsergebnisse konzentriert sich auf vier Aspekte: Der erste Punkt betrifft die Lage des Wohnquartiers innerhalb des städtischen Gesamtgefüges. Aufgrund der Entfernung zum Stadtzentrum von Beijing und der mangelnden Anbindung an die anderen Wohngebiete der Stadt seien fur Baiwanzhuang große Investitionen in Versorgungseinrichtungen und Infrastruktur notwendig gewesen, ohne daß dadurch eine vollständige Deckung des alltäglichen Bedarfs der Bewohner erreicht worden sei. Li Hongduo kommt daher zu dem Schluß:
459
So auch bei Lu Duanfang, die in ihrer Geschichte der neighbourhood unit in China zwar Caoyang xincun als Vorläufer späterer Wohngebietsplanungen der Volksrepublik einordnet, Baiwanzhuang aber als sowjetischen Gegenentwurf und nicht als einen weiteren Strang innerhalb dieses Entwicklungsprozesses auffaßt. Vgl. dies.: Chinese Urban Form, S. 35. 460 Neben Baiwanzhuang wurde im November 1955 auch die ungefähr zeitgleich entstandene Werkssiedlung der Baumwollfabrik Nr. 1 in Beijing inspiziert. Der Bericht faßt die Ergebnisse beider Untersuchungen zusammen. Vgl. Li Hongduo: Baiwanzhuang, S. 19-28. 461 Vgl. Li Hongduo: Baiwanzhuang, S. 19.
3.3 Leitbilder und Bauprojekte
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Abbildung 73: Modell Baiwanzhuang - isolierte Einheit im Stadtgebiet
„[...] obwohl man einige wichtige Bereiche wie den Grundschul- und Kindergartenbesuch oder die Lebensmittelversorgung durch den zusätzlichen Bau von öffentlichen Gebäuden in der Siedlung abdecken kann, sind die Lebensbedürfnisse dennoch so komplex, daß es faktisch unmöglich ist, innerhalb einer (einzigen) Siedlung alle Probleme zu lösen."462
Der zweite Punkt seiner Kritik betrifft das Verhältnis von bebauten und unbebauten Flächen innerhalb des Quartiers. Im Fall Baiwanzhuangs habe sich die Anlage einer großen öffentlichen Grünfläche im Zentrum negativ auf die Qualität der umliegenden Wohneinheiten ausgewirkt. Die Wohnhäuser selbst ständen so dicht gedrängt, daß für viele Wohnungen die Licht- und Schallverhältnisse extrem ungünstig seien. Ein dritter Aspekt führt den erstgenannten Kritikpunkt weiter aus. Li Hongduo bemängelt besonders, daß Baiwanzhuang als „isolierte Einheit" (guli de zhengti) konzipiert worden sei. Die Abgeschlossenheit gegenüber dem umgebenden Stadtgebiet, der Eindruck von „vorne und hinten, innen und außen" (qian hou nei war, Abb. 73), werde durch die Konzentration der Versorgungseinrichtungen im Zentrum des Viertels noch verstärkt.463 Im vierten und letzten Punkt steht die Qualität des neu geschaffenen Wohnraums in der Kritik: Es gebe gemessen am aktuellen Bedarf einen zu großen Anteil von Unterkünften für Alleinstehende, die zum Zeitpunkt der Untersuchung bereits teilweise eine Umnutzung als Büros erfahren hätten.464 In einem weiteren Abschnitt wird die Qualität der Versorgungseinrichtungen dargelegt, bevor Li Hongduo aus den aufgeführten Kritikpunkten sechs Verbesserungsvorschläge für künftige Planungen ableitet: 1. Staatliche Normvorgaben seien mit der spezifischen Situation des jeweiligen Planungsobjekts zu „verknüpfen" (jiehe). Erst diese Anpassung garantiere eine Planung auf "rationaler" Grundlage. 2. Wohnsiedlungen sollen integrale Teile der Stadt als ganzer sein (chengshi zhengti zhong de yi bufen) und einen organischen Bezug (youji lianxi) zu 462
Li Hongduo: Baiwanzhuang, S. 21 f. Li Hongduo: Baiwanzhuang, S. 22. Zu nei und wai: Das hier zugrundeliegende Bild der Stadt als ein Gebilde, dessen Grundeinheiten über Infrastruktur und Versorgungseinrichtungen „organisch" miteinander verbunden sein sollten, korrespondiert in keiner Weise zur später üblichen sozialräumlichen Gliederung (oder besser gesagt: Fragmentierung) der chinesischen Städte nach dem danwei- System. 464 Li Hongduo: Baiwanzhuang, S. 21-24. 463
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3. Neue Städte für die Neue Gesellschaft
ihrer Umgebung aufweisen. Geschäfte seien daher nicht im Zentrum zu konzentrieren, sondern zugänglich für alle Nutzer entlang der Straßen anzuordnen, die das Viertel nach außen begrenzen. 3. Die Struktur des Wohnquartiers solle eine „rationale Funktionstrennung" (heli de gongneng fenqu) aufweisen. Dazu gehöre neben einer „rationalen Verteilung der Wohngebäude" auch, „relativ große Flächen" auszusparen und als öffentliche Grünanlagen auszuweisen. 4. Büro- und Wohnheimgebäude seien von Wohneinheiten für Familien räumlich zu trennen. 5. In allen neuerbauten und bestehenden Wohngebieten sollen regelmäßig soziale und technische Erhebungen durchgeführt werden und „zu Erfahrungen im Wohnsiedlungsbau zusammengefaßt werden" (zongjie jiefang sheji de jingyan). 6. Die Versorgungseinrichtungen eines Quartiers sollen einer zentralen Verwaltung unterstehen, um die Überschneidung von Kompetenzbereichen zu vermeiden.465 Unter formalen Gesichtspunkten entspricht die Darstellung Li Hongduos dem dreigliedrigen Erzählschema des „Aufbaus", wie es auch bei Wang Dingzeng zu beobachten war: In seiner Einleitung konstatiert Li die Erfolge, die „nach der Befreiung" (jiefang hou) auf dem Sektor des Wohnungsbaus in Beijing erzielt wurden. Im Hauptteil nimmt er eine fachlich begründete Evaluierung und Kritik bestimmter Teilbereiche der Planung vor. Sprachlich überwiegen in diesem Abschnitt die negativen Formulierungen. Die dergestalt präsentierten „Erfahrungen" werden im Schlußteil ins Positive gewendet und zu Lehren kondensiert (zongjie jingyan), um als Orientierungsmuster für zukünftiges Handeln zu dienen. Aus den dabei formulierten Handreichungen erschließt sich allerdings kein neues Modell städtischer Gliederung. Vielmehr basieren die Ausführungen Li Hongduos auf der traditionellen Vorstellung von der Stadt als einem „Organismus", dessen einzelne Bestandteile nur durch ein „organisches" Zusammenwirken das reibungslose Funktionieren des „Stadtkörpers" als ganzem garantieren. Im Prinzip äußern Li Hongduo und Wang Dingzeng damit dieselbe Kritik: In beiden Fällen wird die unzureichende Integration des jeweiligen Wohngebiets in das Gesamtgefüge der Stadt bemängelt. Die Formulierung dieser Kritik unterscheidet sich jedoch erheblich. Besonders auffällig ist, daß es Li Hongduo gänzlich vermeidet, auf die städtebaulichen Bezugssysteme einzugehen. Weder bringt er das Modell Baiwanzhuang gegenüber dem „kapitalistischen" Nachbarschaftskonzept in Stellung, noch thematisiert er, daß diese spezifische Form von (shuang)zhoubianshi jiefang eine Anleihe beim sowjetischen „Superblock" darstellt. Die „fortschrittlichen sowjetischen Erfahrungen" bleiben
465
Li Hongduo: Baiwanzhuang, S. 25.
3.3 Leitbilder und Bauprojekte
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als Leitbild unerwähnt, die Entwicklung des Wohnungsbaus vom Bau einzelner Gebäude hin zu „integrierten Wohnsiedlungen" präsentiert Li als einen innerchinesischen Erkenntnisprozeß. Auf die Debatte um angemessene Bebauungsformen, die während der ersten Hälfte des Jahres 1956 in der Jianzhu xuebao stattfindet, geht Li Hongduo somit allenfalls indirekt ein. Dabei spielt gerade sein Untersuchungsgegenstand in diesem Zusammenhang eine prominente Rolle: Baiwanzhuang verliert mit der (ideologischen) Rehabilitierung der Zeilenbauweise seine nationale Modellfunktion. Einer der Diskussionsteilnehmer skizziert diese Entwicklung folgendermaßen: „In der Vergangenheit gab es eine Kontroverse über die Frage der Anordnung von Wohngebäuden. Vereinfacht gesagt: Nimmt man die Blockbauweise [zhoubianshi] oder die Zeilenbauweise [hanglie-shi]? Als Ergebnis der Auseinandersetzung (kein offizielles Urteil) wurde die Zeilenbauweise schließlich verworfen. Das damalige Hauptargument lautete: Die Zeilenbauweise sei zu rigide und eintönig, sie sehe wie ein Militärlager oder sogar wie ein Gefängnis aus und sei sehr unschön. Des weiteren wurden Schwierigkeiten bei der Anlage von öffentlichen Versorgungsgebäuden und die Bodenverschwendung angeführt. Die Blockbauweise habe dagegen gerade in diesen Bereichen Vorteile. In den letzten Jahren wurde die Form der Blockbauweise in einem solchen Umfang angewendet, daß sie beinahe im ganzen Land nach demselben Schema zu finden ist. Ausgehend von den Resultaten im realen Leben sind nach zwei, drei Jahren Aufbaupraxis Zweifel angebracht, ob man diese Form der Anordnung so flächendeckend ausführen sollte. Besonders seit der Kritik an Ästhetizismus und Formalismus, haben sich diese Zweifel noch verstärkt."466
Als einer der Vorzüge des Zeilenbaus wurde nun die Flexibilität dieser Bebauungsform hervorgehoben. Während die zhoubianshi jiefang einen relativ ebenen, rechteckigen Baugrund erforderte (andernfalls machten aufwendige Planierungsarbeiten das Konzept äußerst kostspielig), könnte mit der freien Anordnung von Zeilenbauten besser auf die spezifischen klimatischen und topographischen Bedingungen einer Region reagiert werden. Besonnung, Belüftung und Berücksichtigung der naturräumlichen Gegebenheiten sind die Argumente, mit denen die Diskussionsteilnehmer zunächst auf das ökonomische, dann aber durchaus auch auf das ästhetische Potential des Zeilenbaus hinweisen. Als konkretes Beispiel fur eine vorbildliche Nutzung dieser Potentiale erfahrt Caoyang xincun in dem Maß eine Aufwertung, wie Baiwanzhuang kritisiert wird.467 Dabei kommt es teilweise sogar zum direkten Austausch der jeweiligen Attribute: Monotonie, Rigidität und Verschwendung, Begriffe, die seit 1952/53 zum Darstellungskanon der (Wohngebiete in) Zeilenbauweise gehörten, werden seit 1956 in abgeschwächter Form mit dem Bebauungsmuster 466
Ji Ping ί&ψ: Guanyujuzhu jianzhu buzhi fang'an de taolun ^ f M l i l t i i t f [Zur Diskussion über die Form der Anordnung von Wohngebäuden], in: JZXB 2,1956, S. 103-108, hierS. 103. 467 Vgl. dazu Text und Abbildungen bei Wang Hua >£·#: Guanyu juzhuqu guihua sheji xingshi de taolun Ä f " ^HÉE^U'J-íHHií [Zur Diskussion über die Form der Planung von Wohngebieten], in: JZXB 5, 1956, S. 51-57, hier S. 51f.
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3. Neue Städte für die Neue Gesellschaft
der {shuang)zhoubianshijiefang neu verknüpft. So bemerkt ein Absolvent der Qinghua Universität, der in der Jianzhu xuebao eine Musterplanung fur ein neues Arbeiterwohnquartier in Luoyang vorlegt, daß die in seinen Entwürfen verwendete Blockbebauung „die mit dem Grundsatz praktisch, ökonomisch und nach Möglichkeit schön' erhobenen Forderungen nicht vollständig erfüllen kann [...]." Die Gebäude in Ost-West-Exposition seien unter dem Aspekt der räumlichen Gestaltung zwar gelungen, unter klimatischen dagegen nicht: „[...] gerade weil es in Luoyang sehr heiß wird, sind Zimmer nach Westen im Sommer zu wenig komfortabel, daher entspricht eine solche Wohnviertelplanung nicht ganz der Sorge fur den Menschen."468
In derselben Ausgabe der Zeitschrift wird an anderer Stelle konstatiert, die Blockbauweise verbreite im Vergleich zur „heiter und abwechslungsreich" {qingsong he duoyanghud) gestalteten Zeilenbauweise häufig eine übermäßig ernste und geordnete Atmosphäre. Mit anderen Worten: die zhoubianshi-Bebauung wurde im gebauten Resultat von den Nutzern als rigide und eintönig empfunden; nicht von ungefähr ist der Begriff yanzheng („ernst und ordentlich"), mit dem der Autor diesen Eindruck sprachlich zu vermitteln sucht, lexikalisch in erster Linie militärisch belegt.469 Das Ideal, durch geometrisch angelegte Bebauungsformen gegen das „Chaos" naturräumlicher Gegebenheiten eine ordnende, einheitliche Ästhetik zu setzen, tritt seit Mitte der 50er Jahre stärker hinter der Vorstellung einer schönen „natürlichen Umwelt" (ziran huanjing) zurück. Der Anspruch, als Planer dabei „rational gestaltend" einzugreifen bleibt freilich bestehen: „Die Liebe zur natürlichen Umgebung ist eine natürliche Veranlagung des Menschen und besonders den Einwohnern der großen Städte ist die natürliche Umwelt ein dringendes Bedürfnis. Die Besonderheiten der vorhandenen Topographie zu nutzen, um den Bewohnern der neuen Wohngebiete zu dienen und ein schönes Lebensumfeld zu schaffen, muß man insofern als eine Grundforderung der Planungsarbeit bezeichnen."4™ 468 Chang Youshi % : Jiefangji zhuzhai biaozhun sheji -Sri?Ä{± ^ t e / Ü - ö H t [Musterbaupläne fur ein Wohnviertel und seine Wohnhäuser], in: JZXB 2, 1956, S. 113-120, hier S. 114. 469 Ji Ping: Juzhu jianzhu buzhi de taolun, S. 107. Zum Eintrag yanzheng gibt Das neue chinesisch-deutsche Wörterbuch folgendes Verwendungsbeispiel: „Die Truppen stehen sauber in Reih und Glied ausgerichtet." Siehe Xin Han De cidian, S. 931. Die tendenziell negative Einschätzung der zhoubianshi jiefang - mit Baiwanzhuang als einem Beispiel besonders typischer Ausprägung - hat sich bis heute erhalten. Allerdings werden vor allem die Nachteile hinsichtlich der Besonnung und Belüftung aufgeführt. Vgl. dazu Beijing jianshe shishu bianji weiyuanhui (Hrsg.): Jianguo yilai de Beijing chengshi jianshe ziliao, Bd. 5/2, S. 270; und Qinghua daxue tumu jianzhuxi chengxiang guihua jiaoyanzu (Hrsg.): Zhuzhaiqu guihua, S. 6. Unter ästhetischen Gesichtspunkten hat die geometrisierende Art der Raumgestaltung dagegen noch Ende der 1980er Jahre vielfach Zuspruch gefunden. Vgl. dazu den Überlick von Wu Sheng * Ä : Chengjiu, wenti he qishi. Beijing zhuzhai jianshe sishi nian de huigu yu zhanwang i&M. ftQfrM·*: Τ 4 & . Ê . [Erfolge, Probleme und Anregungen. 40 Jahre Wohnungsbau in Beijing. Rückblick und Perspektiven], in: CSGH 5, 1989, S. 13-18, hier S. 13. 470 Wang Hua: Guanyu juzhuqu, S. 51.
3.3 Leitbilder und Bauprojekte
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Im Zusammenhang mit dieser veränderten Sichtweise auf die „natürliche Umwelt" wurde während der „Hundert Blumen-Kampagne" der Vorwurf erhoben, daß die gesamte Volksrepublik China während der Anfangsjahre des ersten Fünfjahrplans mit dem Wohngebietstyp der zhoubianshi jiefang überzogen worden sei, ohne Rücksicht auf regionale Spezifika zu nehmen.471 Nachweisbar ist demgegenüber aber auch, daß es für den genannten Zeitraum in verschiedenen Landesteilen der Volksrepublik durchaus eine größere Bandbreite von Bebauungsformen für neue Wohngebiete gegeben hat, als es die Diskussionsbeiträge von 1956 in ihrer Zuspitzung zeigen. Denn nicht nur im von Flußläufen durchzogenen Jiangnan-Gebiet, sondern auch in gebirgigeren Regionen (als Beijing) war das Konzept eines rechteckigen, möglichst quadratisch angelegten Wohnviertels in achsensymmetrischer Blockbauweise nur mit hohem technischem Aufwand oder überhaupt nicht zu realisieren.472
Huaqiao xincun Daß in solchen Fällen auch vor dem „Wendejahr" 1956 andere Wege beschritten werden konnten - nicht zuletzt mit dem Verweis auf die Ergebnisse der sowjetischen Allunionskonferenz der Baufachleute und die damit einhergehende Kritik an architektonischen Interpretationen der „nationalen Form" (minzu xingshi), zeigt das Beispiel der Siedlung Huaqiao xincun in Guangzhou473 - ein Wohngebiet, das nach seiner Fertigstellung „das schönste Gartenwohngebiet [huayuan zhuzhaiqu] der Stadt Guangzhou" sein sollte, wie die Renmin ribao im November 1955 enthusiastisch vermerkte.474 Realisiert wurde dieses Wohnviertel, das explizit für chinesische Remigranten aus Übersee, Hong Kong und Macao errichtet wurde, vornehmlich auf der Grundlage privater Investitionen der huaqiao.415 Die besonderen Umstände seiner Entstehung werden in einem Bericht der Jianzhu xuebao aus dem Jahr 471
Ji Ping: Juzhu jianzhu buzhi de taolun, S. 103. Ein Beitrag, der die verschiedenen Argumente dieser Diskussion zusammenfaßt und nebeneinanderstellt, ist Beijing de jianzhushi relie taolun ,yanjie jian fang' wenti, S. 54ff. 472 Vgl. Wang Hua: Guanyu juzhuqu, S. 51. 473 Unmittelbare Auswirkungen hatte angeblich das Bekanntwerden der Resolution der Allunionskonferenz in China auf die architektonischen Ausdrucksformen, die für Huaqiao xincun zur Anwendung kamen. Die daraufhin einsetzende Kritik an Formalismus und fiiguzhuyi habe dazu geführt, daß auf die „nationale Form" mit „roten Mauern und grünen Dachziegeln" (hongqiang liiwa zugunsten von Flachdachbauten verzichtet wurde. Vgl. Zhu Pu ^ f h : Guangzhou Huaqiao xincun Γ i1'] ψ Ί ϋ - Μ Η [Huaqiao xincun in Guangzhou], in: JZXB 2, 1957, S. 17-37, hier S. 25. 474 Siehe Wu Erxiang Je Í '/ê % — ), lautete denn auch die entlarvende Abwandlung des offiziellen „Aufbau"-Slogans; dazu überblicksartig Zhang iie/Wang Tao: Shehuizhuyi jihua jingji shiqi de zhuzhai fazhan, S. 105.
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3. Neue Städte für die Neue Gesellschaft
einer industrialisierten und urbanisierten Volksrepublik herüberspähen. Fabrikschornsteine und Hochhäuser - die Embleme der Prosperität - säumen die Küste des chinesischen Festlands und sind vom Strahlenkranz der aufgehenden Sonne umgeben, deren Licht die gegnerische Seite blendet. 586 (Abb. 85) Grundsätzlich sind es nicht allein die großflächigen Propaganda-Plakate, die die Ikonen des Neuen China zeigen. Hochspannungsleitungen, Staudämme, Hochöfen, Baukräne und Lastwagen fugen sich auch in den unzähligen kleinen Vignetten der zeitgenössischen Periodika (die nicht unbedingt mit dem Bauwesen befaßt sein mußten) subtil zu Miniaturen des „Aufbaus" zusammen. (Abb. 86-87) Ebenso lassen die Titelbilder der Zeitschriften und Buchpublikationen dieser Zeit Rückschlüsse auf vorherrschende Stadtvorstellungen zu. Die Umschlagillustration zum 1949 erschienenen Sammelband „Die neudemokratische Stadtpolitik" präsentiert ausschließlich Fabrikschornsteine, nicht etwa eine ideale Stadtansicht. (Abb. 88) Fünf Jahre später werden die Ausführungen Cao Yanxings zum Verhältnis von Industrialisierung und Städtebau mit einer visionären Titelzeichnung versehen: 1954 fuhren auf beiden Seiten des Tian'anmen moderne Hochspannungsleitungen über die Verbotene Stadt hinweg (s. Abb. 53) so wie auch der Ausblick auf „Die kommunistische Gesellschaft" das Herannahen einer industrialisierten, technisierten und urbanisierten Welt verheißt. (Abb. 89) Die bildliche Ausgestaltung der vermeintlich zwangsläufigen Relation von Industrialisierung, Produktion und gesellschaftlichem „Aufbau" im Comic wurde bereits am Beispiel der lianhuanhua-Version von „Vorwärts, Väterland!" erörtert (s. 3.1.2). Besonders prägnant sind hier die populärwissenschaftlichen, reich illustrierten Darstellungen des ersten Fünfjahrplans. Für das Ausland wurde beispielsweise 1956 eine englischsprachige Darstellung bei der Foreign Language Press verlegt, die darum bemüht war, die chinesischen Planziele in großflächigen, vereinfachenden Statistiken, Photographien und Diagrammen zu visualisieren. 587 Eine vergleichbar aufbereitete Publikation für die chinesische Leserschaft ist das oben erwähnte Woguo diyi ge wunian jihua.588 Hier wurden die Kernaussagen der Texte ebenfalls in leicht verständliche Skizzen und Diagramme übertragen, die einen klaren Alltagsbezug haben. (Abb. 90) Gerade im Zusammenhang mit solchen didaktischen Text-Bild-Darstellungen ist ein weiteres Zeichensystem von zentraler Bedeutung: die „Sprache" der 586 Meiguo diguozhuyi qin Hua shi hua J t ü ' í ' I S Í - i L f l l i r í . á [Der US-Imperialismus in China. Eine Geschichte in Bildern], in: ZGGRHK 6/3, 1951, S. 14f, Bild 24. 587 First Five-Year Plan for Development of the National Economy of the People's Republic of China in 1953-1957 (Illustrated), Peking 1956. 588 Obwohl der Band 1955 im Format eines lianhuanhua-Heñcheas erschien, handelt es sich dabei nicht um einen Comic im eigentlichen Sinn, sondern um eine sprachlich und visuell stark vereinfachende, propagandistische Erläuterung zum ersten Fünfjahrplan. Die Publikationsgattung solcher tongsu tujieben ì i f é H richtete sich aber ebensowenig wie die damaligen lianhuanhua ausschließlich an ein jugendliches Publikum, sondern war ein gängiges Kommunikationsmedium in der noch stark von Analphabetismus geprägten Volkrepublik.
3.4 Das Bild der Stadt im „Aufbau"-Diskurs
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Abbildung 85-87: Blick auf die moderne Silhouette des chinesischen Festlandes - Zeichnung von 1950 (o.), Propagandaplakat und Vignette der 50er Jahre (r. und u.)
Abbildung 88-89: Visionäre Titelbilder - „Die neudemokratische Stadtpolitik" 1949 und „Die kommunistische Gesellschaft" 1951
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3. Neue Städte für die Neue Gesellschaft
Abbildung 90-91: Populäre Visualisierungen des „Aujbaus " (o. und l.) Abbildung 92-94: Durch Sparsamkeit (u.l.) zum Konsum (u.r. und gegenüberliegende Seite) - Embleme eines glücklichen Lebens in der Zukunft 1955
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3.4 Das Bild der Stadt im „Aufbau"-Diskurs
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Zahlen und Statistiken. Für sie kam im westdeutschen Sprachgebrauch während der Zeit des Kalten Kriegs der Terminus „Tonnenideologie" auf. „Tonnenideologie" verrät bereits, was von den stets statistisch untermauerten (und damit im Gewand der „Wissenschaftlichkeit" präsentierten) „Erfolgen des sozialistischen Aufbaus" im „Westen" gehalten wurde: Mit der Ausrichtung auf Planziffern erhielt Quantität zwangsläufig Vorrang vor Qualität. Man unterstellte (ge)schön(t)e Zahlen, die - das gehörte schließlich zum Standardwissen über die Gegenseite - in keiner Weise mit der häßlichen Wirklichkeit in den jeweiligen Ländern des „sozialistischen Blocks" korrespondierten. Diese Art der Betrachtung karikiert die inflationäre Verwendung von Zahlen, ohne auf die komplexen Wirkungen des Zahlenidioms im „Aufbau"-Kontext der 50er Jahre allgemein einzugehen.589 Zunächst waren Zahlen ein Mittel der Verwissenschaftlichung alltäglicher Sachverhalte. Sie wurden eingesetzt, um die wissenschaftliche Fundierung und somit die „objektive" Legitimität einer Aussage zu unterstreichen. Hier äußert sich - in manchen Fällen tatsächlich bis ins Groteske übersteigert - der moderne Anspruch,, Aufbauleistungen" zu quantifizieren und damit meß- und vergleichbar zu machen. Das wiederum ist eng mit der Wahrnehmung verbunden, sich in einem dauerhaften Wettbewerb zu befinden, angefangen auf der 585
So auch noch in der Überblicksdarstellung von Hildermeier. Die russische Stadt, S. 58.
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3. Neue Städte fur die Neue Gesellschaft
betrieblichen Ebene in Gestalt von sogenannten „Arbeitswettkämpfen" (laodong jingsai)590 bis hin zu nationalen politischen Leitlinien, die zum Ein- und Überholen der kapitalistischen Länder aufriefen. Des weiteren funktionierte die Sprache der Zahlen auch als eine - weniger visionäre als pragmatische - Form der Visualisierung. In den 50er Jahren standen visuelle Medien nur begrenzt zur Verfügung, zugleich konnten aber große Teile der chinesischen Bevölkerung weder lesen noch schreiben. Hier waren quantitative Vergleiche unerläßlich, um die „Aufbauerfolge" faßbar zu machen, die „unter der Führung der KPCh" erzielt wurden. Die Breite und Länge von neuen Straßen, die Höhe von modernen Gebäuden, der Komfort und die Schönheit öffentlicher Einrichtungen, all das mußte möglichst in „Maßeinheiten" damaliger Lebenswelten umschrieben werden, die sich jeder auszumalen vermochte. Im Zusammenhang damit funktionierte die Quantifizierung auch als pars pro toto: Im Vergleich mit der „alten Gesellschaft" oder mit dem kapitalistischen Ausland wurden jegliche Zahlenangaben, so unbedeutend sie für sich genommen auch erscheinen mochten, zum Gradmesser des nationalen „Aufbaus" aufaddiert und suggerierten in ihrer Masse eine konkrete Vision von der besseren Zukunft im Neuen China (Abb. 91-92): „In meinen Augen und meiner Vorstellung nach ist keine Zahl trocken oder langweilig, sondern jede ist voller Leben, weil sie für die großartigen Aufbauerfolge [weida jianshe de chengjiu] des Vaterlands steht. Ich merke an diesen Zahlen eindrücklich, daß sich das Vaterland in rasantem Tempo zum Sozialismus entwickelt, und wie strahlend hell die Zukunft unseres Vaterlands sein wird; ich erkenne aus diesen Zahlen außerdem die große Bedeutung meiner eigenen Arbeit: Sie ist ein Bestandteil der Sache des Sozialismus in unserem Vaterland, daher wird auch meine eigene Zukunft glänzend sein!"5"
Folgt man dieser Perspektive wird die „Sprache der Zahlen" zu einer ernstzunehmenden Größe. Denn ungeachtet der Frage, ob die jeweiligen Ziffern im Sinne eines abstrahierenden Abbilds der Wirklichkeit „richtig" oder „falsch" waren, repräsentieren sie eine wichtige Dimension der zeitgenössischen Lebenswirklichkeit. Sie machen sichtbar, in welchen Parametern die chinesische Idealgesellschaft der Zukunft gedacht werden konnte und vermitteln einen 590 Siehe hier z.B. den Aufruf von Wang Mengzhong Ü . t - : Shenru kaizhan laodong jingsai, baozheng quanmian wancheng shigong renwu M-^-iY^.^ih'k.^t· 3-it [Den Arbeitswettkampf gründlich zur Entfaltung bringen, die vollständige Erfüllung der Bauaufgaben garantieren], in: JZ 15, 1955, S. 8ff. 591 Zhu Zheng ' i t i : Geren de qiantu shi he zuguo de qiantu fenbukai de ^ A & i j i f i ä Ä i 0 TW [Die Zukunft des Einzelnen ist von der Zukunft des Vaterlands nicht zu trennen], in: ZGQN 4, S. 22; daß in diesem Leserbrief die Wendung „in meinen Augen und meiner Vorstellung nach" (zai wo de yan zhong he xin zhong 6-j BjL ψ .ü «f ) j m Kontext von Zahlen benutzt wird, könnte eine Anspielung auf den feststehenden Ausdruck xinzhongyou shu & + % 4k sein. Denn lexikalisch wird der wörtlichen Übersetzung „Zahlen im Kopf haben" die idiomatische Übertragung in „über etwas im Bilde sein" oder „ein klares Bild von etwas vor Augen haben" zur Seite gestellt. Vgl. Xin Han De cidian, S. 900. Beides fügt sich paßgenau in den hier diskutierten Kontext von Zukunftsbildern ein.
3.4 Das Bild der Stadt im „Aufbau"-Diskurs
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Eindruck davon, welche Erwartungen an ein künftiges „glückliches Leben" gerichtet waren (Abb. 93-94). Parallel zu solchen positiv kodierten, verheißungsvollen Zukunftsbildern wurde der Primat der Produktion aber auch immer in Gegenbegriffen artikuliert. In wiederkehrenden Abständen ist er unter dem Schlagwort der „Verschwendung" (langfei) oder als Kritik an einer unzulänglichen „wirtschaftlichen Betrachtungsweise" (quefa jingji guandian) der „Aufbau"-Funktionäre diskursbestimmend gewesen. Dies wiederum war fur eine Serie von Massenkampagnen handlungsanleitend, angefangen bei der „Drei-Anti-Bewegung" (sanfan yundong) im Jahr 1952, über die „Kampagne der Rigorosen Sparsamkeit" (lixing jieyue yundong) von 1955 bis hin zu einer erneuten Aktualisierung des Themas auf dem VIII. Parteitag der KPCh im Jahr 1956 und der „Kampagne für Produktionssteigerung und Sparsamkeit" (zengchan jieyue yundong), die im Februar 1957 begann. Von Anfang an war hier die Kritik an „Verschwendung" mit der positiven Forderung verknüpft, die Produktion zu erhöhen.592 Auch wenn die genannten politischen Kampagnen zunächst auf ein bestimmtes soziales Segment und Thema zugeschnitten waren, wirkten sie in der Regel weit darüber hinaus. Die „Bekämpfung der Verschwendung" (fan langfei) entwickelte sich im Verlauf des „Aufbau"-Jahrzehnts zu einem Topos, der die gesamte Gesellschaft durchdrang. Li Fuchun spricht 1955 davon, „daß der vom Zentralkomitee und dem Vorsitzenden Mao erteilte Auftrag, ,die Produktion bei rigoroser Sparsamkeit zu steigern' nicht die alleinige Aufgabe eines Ministeriums oder eines bestimmten Zeitabschnitts ist, sondern die allgemeine, langfristige und stete politische Aufgabe der gesamten Bevölkerung." Einfachheit (pusu) statt Extravaganz (puzhang) sollte das Image des Neuen China prägen.593 Damit war das Konglomerat aus Sparsamkeit und Produkti592
„Die rigorose Sparsamkeit ist keine negative Maßnahme, sondern eine positive Richtlinie, um die sozialistische Industrialisierung des Landes zu beschleunigen. Daher sollten sich alle Ministerien und Regionen parallel zum strikten Sparen darum bemühen, die Produktion zu erhöhen." Zhonggong zhongyang guanyu lixing jieyue de jueding + + 4t • f ñ i f f f i í é i k f c . [Entscheidung des ZK der KPCh zur rigorosen Sparsamkeit], 4.7.1955, in: JGYLZYWXXB, Bd. 6, 1993, S. 285ff, hier S. 287; vgl. dazu auch Li Fuchun: Lixing jieyue, S. 66, 73; sowie den Leitartikel Zhankai quanmian jieyue yundong Μ.ΐϊ-έΌΐ'Ψ ífyié ih [Eine Kampagne der allseitigen Sparsamkeit entwickeln], in: RMRB, 14.5.1955, in: JZ 6, 1955, S. 3ff, hier S. 3f. Zur Aktualisierung von lixing jieyue im Jahr 1956 vgl. u.a. Mao Zedong: Zai Zhongguo gongchandang di ba jie zhongyang weiyuanhui di er ci quanti huiyi shang de jianghua S + S + f i — - t ^ - f t t e [Rede auf der zweiten Plenartagung des VIII Zentralkomitees der KPCh], 15.11.1956, in: Mao Zedong xuanji, Bd. 5, S. 313-329 [374-394], hier S. 317 [378f]; zur zengchan yVeyae-Kampagne siehe Zhonggong zhongyang guanyu yi jiu wu qi nian kaizhan zengchan jieyue yundong de zhishi — A - i - t J f - f ì r J k X S f V f t ì è f t f ì f t ^ [Weisung des ZK der KPCh, im Jahr 1957 die Kampagne fur Produktionssteigerung und Sparsamkeit zur Entfaltung zu bringen], 8.2.1957, in: JGYLZYWXXB, Bd. 10, S. 26-42. 593 Li Fuchun: Lixing jieyue, S. 54, 64. Li Fuchun war zum Zeitpunkt dieser Rede Vorsitzender der Nationalen Planungskommission (Guojia jiwei). Dieselbe Formulierung wurde daraufhin im Juli 1955 als Parteidirektive zirkuliert. Siehe Zhonggong zhongyang guanyu
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3. Neue Städte für die Neue Gesellschaft
onssteigerung nicht nur eine vorübergehende wirtschaftspolitische Auflage fur die entbehrungsreiche Zeit des „Aufbaus", sondern wurde bis auf weiteres zur Normalität erklärt: „Um die Kampagne allseitiger Sparsamkeit zu entwickeln, müssen wir die Phänomene der Verschwendung, die gegenwärtig in allen Bereichen auftreten, entschieden bekämpfen. [...] Dies ist die dauerhafte Aufgabe für den langen Zeitraum, in dem unser Volk die sozialistische Gesellschaft bis hin zur kommunistischen Gesellschaft aufbaut.'" 94
Das schloß mit ein, Abweichungen von dieser Norm als „Straftat gegenüber Staat und Volk" {dui guojia dui renmin de fanzui xingwei) zu kriminalisieren.595 Mao Zedong kam 1956 ausführlicher auf das Thema lixingjieyue zurück. Seiner Darstellung nach löste die Sparsamkeit einen der Grundwidersprüche, mit denen er das Neue China konfrontiert sah: „Wir wollen einen Aufbau großen Ausmaßes in Angriff nehmen, aber unser Land ist noch sehr arm - hierin liegt ein Widerspruch. Eine Methode zur Lösung dieses Widerspruchs ist, allseitig und laufend strenge Sparsamkeit zu üben. [...] Wir müssen dafür sorgen, daß alle Kader und das ganz Volk ständig daran denken: Unser Land ist einerseits ein großes sozialistisches, andererseits aber ein wirtschaftlich rückständiges, armes Land [...]. Um China reich und stark zu machen, bedarf es einiger Jahrzehnte harten Kampfes, in denen auch der Kurs, den Staat mit Fleiß und Genügsamkeit aufzubauen, verfolgt werden muß. Das kommt in strenger Sparsamkeit sowie der Bekämpfung von Verschwendung zum Ausdruck." 5 ' 6
Dieser Wahrnehmung nach bedrohten die Phänomene der „Verschwendung", der „Willkür" und der „Planlosigkeit" die neue Ordnung in ihrem Gründungsversprechen, auf schnellstem Weg ein Neues China „aufzubauen", das die kapitalistische Moderne überrunden und hinter sich lassen würde. Auf der zeitgenössischen Werteskala standen daher Attribute wie „ökonomisch", „planmäßig", „geordnet", „rational" und „wissenschaftlich" an oberster Stelle. Aus einer solchen Perspektive heraus galt es im Umkehrschluß all das zu bekämpfen, was über den Rahmen des propagierten Ordnungsideals hinausreichte und somit automatisch in die Kategorie des „Chaotischen", „Irrationalen" und schließlich auch im ästhetischen Sinne „Häßlichen" fiel. Das Bemühen um den Ausbau einer modernen chinesischen Stadtplanung in den 50er Jahren ist zugleich Ausdruck und Instrument dieses Denkens. Die Praktiken der Kategorisierung, vom Stadttyp über die funktionale Unterscheidung von innerstädti-
lixing jieyue de jueding, S. 287; vgl. auch Ching Chung-Hwa: More saving means quicker building, S. 3. 594 Zhankai quanmian jieyue yundong, S. 3. 595 Zhankai quanmian jieyue yundong, S. 4f; „nach Belieben staatliche Ressourcen zu verschwenden" ist im produktivistischen Denken der damaligen Zeit ein schwerwiegendes ideologisches Vergehen, das auf eine „mangelnde wirtschaftliche Betrachtungsweise" hinweist. 596 Mao Zedong: Zur Frage der richtigen Behandlung von Widersprüchen im Volke, S. 170f/425 („11. Über Sparsamkeit").
3.4 Das Bild der Stadt im
„Aufbau"-Diskurs
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sehen Gebieten bis hin zur Differenzierung von Straßentypen 597 gehört zu seinen anschaulichsten Beispielen. Nur durch ein „planvolles und schrittweises Vorgehen beim Aufbau", so die Leitlinie der offiziellen Stadt(planungs)politik, sei - z u m Nutzen der Produktion - ein reibungsloses Funktionieren der „Stadt als ganzer" möglich. 5 9 8 „Die Richtlinie für den Städtebau lautet der Produktion und den Werktätigen zu dienen. Für alle neugebauten oder erweiterten Städte müssen die zuständigen Stadtplanungsorgane bei der Ausarbeitung der Stadtplanung den Forderungen der volkswirtschaftlichen Entwicklung und den Grundsätzen des sozialistischen Städtebaus entsprechend planmäßig und organisiert vorgehen. Die Zonierung der Stadt spielt in der Stadtplanung eine wichtige Rolle; im Einklang mit den oben genannten Grundsätzen und Richtlinien [...] wird die Stadt in Stadtzentrum, Wohngebiete, Industriegebiete, Grüngürtel, Verkehrszonen sowie Gebiete zur speziellen Nutzung untergliedert, so daß eine rationale Verteilung und Koordination entsteht, die sich positiv auf die sozialistische Industrialisierung des Landes und auf die schrittweise Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensstandards der Werktätigen auswirkt, und im Städtebau die Überlegenheit des neuen Gesellschaftssystems und den Wagemut der Nation verkörpert."599 Vergleichbar mit ähnlichen Projekten in den „Volksdemokratien" Osteuropas gerieten auch im chinesischen Städtebau die anfanglichen Entwürfe fur regelrechte „Arbeiterwohnpaläste" bereits nach kurzer Zeit in die Kritik (Abb. 9 5 96). Sie machten schlichteren Baukonzepten Platz, deren Funktionalität und Wirtschaftlichkeit dann auch unter ästhetischen Gesichtspunkten entsprechend positiv ausgedeutet wurden. 6 0 0 D i e Möglichkeit, „schön" zu bauen, nach w i e vor im Sinne monumentaler Gebäude mit dekorativen Fassaden, blieb auf w e nige zentrale Repräsentationsbauten beschränkt. Insofern kam man seit Mitte der 50er Jahre ungeachtet aller offiziellen Polemik dem „internationalen Stil" der kapitalistischen Moderne wieder näher - zumindest einer Minimalversion hinsichtlich Gestaltung und Ausführung. 6 0 1 Für das N e u e China wurde ein eigener Baustil eingefordert, der die „hervorragenden nationalen Traditionen"
597
Siehe Zhang Lie fóZ'X: Chengshi guihua zhong de jiedao (kuandu) ji chengshi jiaotong wenti ¿¡4 ΐ + i t ( t i ) - δ . Α ϋ , ΐ ί ϋ Ή Ι Ι [Die Straße(nbreite) in der Stadtplanung und das Problem des städtischen Verkehrs], in: Zhongguo jianzhu xuehui Ί* S ^ &L # •έ- (Hrsg.): Zhongguo jianzhu xuehui xueshu lunwenji + ^ Ϋ ύ ί Μ ζ [Sammlung wissenschaftlicher Beiträge der chinesischen Gesellschaft für Architektur], Beijing 1957, S. 24-39, hier S. 26. 598 Definitionsartig zusammengefaßt in Wan Li 7} 3-·. Chengshi jianshe gongzuo zhong de ji ge wenti ^ í & S ' J i ' f t ' t Φ / Ι ^ Η - 5 ] ^ [Einige Probleme in der Stadtplanungsarbeit], 11.4.1956, in: WLLCSJS, S. 21-30, hier S. 21 f. 599 Zhonghua renmin gongheguo jianzhu gongehengbu + ^ S i i i i ß (Hrsg.): Jianzhu sheji guifan [Bauentwurfsnormen], Beijing 1955, S. 11. 600 Vgl. dazu Li Fuchun: Lixing jieyue, S. 64. 601 Exemplarisch dafür ist die Satellitenstadt Minhang bei Shanghai (Abb. 78). Vgl. dazu die gleichnamige Untersuchung von Robert Kaltenbrunner. Als „zwei Umwege" (Hang ci wanlu Λ
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