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German Pages 148 Year 2018
Angela Nagle Die digitale Gegenrevolution (Übersetzt aus dem Englischen von Demian Niehaus)
X-Texte zu Kultur und Gesellschaft | Band 63
Angela Nagle (Dr.), geb. 1984, schreibt für die Zeitschriften The Atlantic, Jacobin und The Baff ler. Die LA Review of Books zählt sie zu »den wichtigsten Vertreter_innen einer neuen Generation linker Autor_innen und Denker_innen, die sich von intellektuellem Konformismus unabhängig erklärt haben«. Angela Nagle kommt aus Irland und lebt in New York.
Angela Nagle
Die digitale Gegenrevolution Online-Kulturkämpfe der Neuen Rechten von 4chan und Tumblr bis zur Alt-Right und Trump
© 2018 Angela Nagle Originally published in the UK by John Hunt Publishing Ltd (3, East Street, New Alresford, Hampshire, SO24 9EE, UK). Published in 2018 under licence from John Hunt Publishing Ltd. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Ini1110 / Photocase.de (bearbeitet) Übersetzung aus dem Englischen Übersetzung: Demian Niehaus, Nürnberg Lektorat: Philipp Hartmann, Leipzig Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4397-8 PDF-ISBN 978-3-8394-4397-2 EPUB-ISBN 978-3-7328-4397-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Einführung – Von der Hoffnung zu ›Harambe‹ | 7 Kapitel 1 – Die führerlose digitale Gegenrevolution | 19 Kapitel 2 – Die Politik der Transgression | 41 Kapitel 3 – Gramsci und die Alt-Light | 55 Kapitel 4 – Konservative Kulturkämpfe von Buchanan bis Yiannopoulos | 71 Kapitel 5 – Von Tumblr zu den Campus-Kriegen: Knappheit schaffen in der Tugend-Ökonomie | 87 Kapitel 6 – Eintritt in die Mannosphäre | 105 Kapitel 7 – Massen von Normalos | 123 Fazit – Nicht mehr witzig: Der Kulturkampf geht offline | 141
Einführung – Von der Hoffnung zu ›Harambe‹ Im US-Präsidentschaftswahlkampf 2008 und nach Barack Obamas Wahlerfolg war die Netz-Öffentlichkeit voll von dessen Botschaft der ›Hoffnung‹ und Liebeserklärungen an den ersten schwarzen Präsidenten, massenhaft gepostet von den Liberalen der Nation. Der Ton war leidenschaftlich und aufrichtig, das ek statische Gefühl, Teil einer positiven Massenbewegung zu sein, überall. Sein Vorgänger, der Südstaatler George W. Bush, war insbesondere den Gebildeteren peinlich gewesen; er hatte im Irak und in Afghanistan Kriege angezettelt, war regelmäßig in Fettnäpfchen getreten und hatte sich Grammatikfehler (sogenannte ›Bushismen‹) geleistet. Dieses Schamgefühl hatte sich beispielsweise in Büchern wie Michael Moores Stupid White Men niedergeschlagen. In krassem Gegensatz dazu war Obama wortgewandt, kultiviert, gebildet und weltoffen. Im Laufe des Medienspektakels seiner Wahl brach Oprah Winfrey in Tränen aus, Beyoncé sang und Massen junger Anhänger jubelten frenetisch. Hier und da tauten in dieser riesigen Welle der Hoffnung und positiven Stimmung sogar einige frostige Herzen auf, die eigentlich für Standpunkte deutlich links der Demokratischen Partei schlugen. Ein Traum schien wahr geworden. Im Wahlkampf von 2016 versuchte Hillary Clinton, sich derselben Erfolgsformel zu bedienen, indem sie in Ellen DeGeneres’ Talkshow tanzte, wiederum Beyoncé ins Boot holte, öffentlich ihre Schwäche für Chilisoße eingestand und mithilfe des Slogans I’m With Her feministische Prominente wie Lena Dunham anzog. Stattdessen jedoch wurde sie zur Zielscheibe für Gelächter
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und Gespött seitens breiter Gruppen der Netz-Öffentlichkeit jeglicher politischen Couleur. Als sie die neue rechte1 Bewegung der Internet-Ära in feierlichem Ton zu »Bedauernswerten«2 erklärte, brachen jene Online-Massen höhnisch in Feierstimmung aus, was sich in einer Flut von Memes3 niederschlug. Wie sind wir von jener Zeit der aufrichtigen, live in den etablierten Medien ausgestrahlten Hoffnung in die heutige Lage geraten? Dieses Buch behandelt diesen Zeitraum aus dem Blickwinkel der Internetkultur bzw. -subkulturen und verfolgt so die Online-Kulturkämpfe, die unterhalb der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle und des Radars der etablierten Medien um Themen wie Feminismus, Sexualität, Gender-Identität, Rassismus, Redefreiheit und politische Korrektheit wüten, zu ihren Anfängen zurück. Sie unterscheiden sich von den Kulturkämpfen der Sechziger und Neunziger, in denen typischerweise ältere Moral- und Kulturkonservative gegen eine die junge Generation erfassende Welle kultureller Säkularisierung und Liberalisierung kämpften. Der Online-Gegenbewegung, um die es hier geht, ist es gelungen, 1 | Die Begriffe »rechts« und »Rechte« (Engl. right) in dieser Übersetzung sind im angloamerikanischen Kontext zu verstehen und ließen sich in der deutschsprachigen politischen Landschaft am besten als »konservativ« einordnen. Engl. far right wird hier mit »rechtsaußen«, »äußere Rechte« oder »rechter Rand« übersetzt, white supremacist hingegen als »rechtsextrem«. Ebenso wird Engl. liberal mit Deutsch »liberal« übersetzt, auch wenn der Begriff im angloamerikanischen Sprachgebrauch eine deutlich ›linkere‹ Färbung hat als im deutschsprachigen Kontext und grob mit der politischen Zuordnung left übereinstimmt (Anm. d. Übers.). 2 | In einer Wahlkampfrede am 9. September 2016 sagte Clinton: »Grob verallgemeinernd könnte man die Hälfte von Trumps Anhänger_innen in den – so nenne ich es – ›Korb der Bedauernswerten‹ stecken. Oder? Sie sind rassistisch, sexistisch, homophob, ausländerfeindlich, islamophob – und so weiter und so fort!« (Anm. d. Übers.) 3 | Ein »Meme« ist ein lustiges, absurdes und/oder politisches Internetphänomen, etwa ein Bild mit Text, eine Animation, ein Video, ein Hashtag o.Ä., das darauf ausgelegt ist, massenhaft in sozialen Netzwerken geteilt zu werden (Anm. d. Übers.).
Einführung – Von der Hoffnung zu ›Harambe‹
eine seltsame Avantgarde aus jugendlichen Videospieler_innen, unter Pseudonymen Hakenkreuze postenden Anime-Liebhaber_ innen, ironischen South-Park-Konservativen4, antifeministischen Witzbolden, nerdigen Belästiger_innen und Meme-fabrizierenden Trollen5 zu mobilisieren, deren düsterer Humor und Liebe zur Transgression lediglich um ihrer selbst willen es schwierig machen einzuschätzen, welche politischen Ansichten sie ernsthaft vertreten und welche sie ›nur so aus Scheiß‹6 teilen. Wie obskur diese Gruppen auch sein mögen – was sie alle zusammenhält, ist die Liebe zum Spott. Dieser zielte auf die Ernsthaftigkeit und moralische Überheblichkeit eines liberalen intellektuellen Konformismus ab, der ihnen ausgelaugt schien und zu dem sie das liberale Establishment genauso zählten wie mehr oder weniger militante, in den schrulligsten Ecken von Tumblr und der Campus-Politik 7 beheimatete Aktivist_innen. In diesen Zeitraum fällt auch das endgültige Verschwinden des massenkulturellen Konsenses, der auf einer gesamtgesellschaftlichen Medienarena und einem allgemeingültigen Verständnis von Kultur und Öffentlichkeit beruhte. Der Triumph der Trump-Fans war auch ein Sieg über die etablierten Medien. Für diese hatten viele Durchschnittswähler_innen, genau wie die seltsamen, ironiegetränkten Internet-Subkulturen links wie 4 | Auch South Park Republican; von der US-Zeichentrickserie South Park beeinflusste politische Einstellung, die zu Wirtschaftsfragen klassische konservative Ansichten vertritt, kulturellen Themen wie LGBT+-Rechten jedoch tendenziell eher offen gegenübersteht (Anm. d. Übers.). 5 | Internetnutzer_innen, die absichtlich provozieren, Streit säen und Chaos anrichten (Anm. d. Übers.). 6 | Engl. for the lulz, leitet sich vom klassischen Internet-Ausdruck lol (kurz für laughing out loud, »in lautes Lachen ausbrechen«) ab. Die Übersetzung »nur so aus Scheiß« spiegelt allerdings den im Original enthaltenen Aspekt der Schadenfreude nicht wider (Anm. d. Übers.). 7 | An US-Universitäten beheimateter linker politischer Aktivismus, der hauptsächlich um Identitätsthemen wie Gender, Rassismus, Minderheitenschutz, vor Diskriminierung abgeschirmte Räume (safe spaces), TriggerWarnungen u.Ä. kreist (Anm. d. Übers.).
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rechts, die sich von ebenjenem verhassten Mainstream abzuheben versuchten, zu diesem Zeitpunkt bloß noch Verachtung übrig. Heute kann es der Karriere schaden, sich als gestriger Normalo 8 ohne Ahnung von Netzkultur oder als Mitglied des korrupten Medien-Establishments zu erkennen zu geben. Stattdessen erleben wir im Internet die Entstehung eines neuen, gegen die etablierten Medien gerichteten Selbstverständnisses, das sich in der Do-It-Yourself-Kultur von Memes und nutzergenerierten Inhalten ausdrückt und das die cyberutopischen Eifer_innen seit Jahren predigen – wobei sich diese sicher nicht hätten träumen lassen, dass dieses Selbstverständnis einmal die heutige Form annehmen würde. In Obamas erstem Wahlkampf hatten seine Anhänger in den sozialen Medien das so ikonenhafte wie amtlich wirkende, blau-rote Schablonenporträt des neuen Präsidenten mit dem Wort HOPE im unteren Bildteil, gemalt vom Künstler Shepard Fairey und abgesegnet von Obamas Wahlkampfteam, verbreitet. Im Trump-Wahlkampf dagegen ergoss eine respektlose Meme-Kultur ihre Werke über den verblüfften Mainstream, die Facebook-Gruppe Bernie’s Dank Meme Stash sowie das Reddit-Forum The Donald gaben für eine junge und frisch politisierte Generation den Ton des Wahlkampfes an. Die etablierten Medien versuchten verzweifelt, mit dem subkulturellen Insiderwitz-Stil Schritt zu halten, um beide im Entstehen begriffenen, von links bzw. rechts gegen das Establishment gerichteten Trends zu bedienen. Journalist_innen wie Manuel Castells und Beobachter_innen im Umfeld des Magazins Wired sprachen vom Kommen einer vernetzten Gesellschaft, in der alte hierarchische Modelle unserer Wirtschaft und Kultur von der Weisheit der Massen ersetzt wür-
8 | Engl. ›basic bitch‹ bzw. ›normie‹ sind Internet-Slang aus dem 4chan-Milieu und bezeichnen vermeintlich langweilige und konformistische Durchschnittsmenschen, die in nerdiger Internetkultur nicht firm sind, oft im Zusammenhang mit einer unkritischen Nutzung des Internets bzw. der sozialen Medien. Im Weiteren schlicht als »Normalo« übersetzt (Anm. d. Übers.).
Einführung – Von der Hoffnung zu ›Harambe‹
den, von Schwarmdenken, Graswurzel-Journalismus und nutzergenerierten Inhalten. Ihr Wunsch ging in Erfüllung, jedoch nicht ganz in Form ihrer utopischen Vision. Während die alten Medien im Sterben liegen, werden die Wächter_innen kultureller Wertvorstellungen und Etikette gestürzt. Dem früher von einer kleinen kreativen Klasse verwalteten Massengeschmack sind nun virale Online-Inhalte aus obskuren Quellen immer schon voraus, und die ehemals passiven Konsument_innen der Kulturindustrie werden zu konstant eingeloggten Internetnutzer_innen, die in Sekundenschnelle eigene Inhalte erzeugen können. 2016 könnte sich als das Jahr erweisen, in dem die Kontrolle der etablierten Medien über die große Politik sich in Luft auflöste. Tausende Memes über Trump und ›Pepe den Frosch‹ eroberten das Netz und ein ›starker Mann‹ mit der Attitüde eines Twitter-Trolls, der aus seiner Feindschaft zu den klassischen Medien wie auch den beiden großen US-Parteien keinen Hehl machte, zog ohne diese ins Weiße Haus ein. Ein frühes Signal dieses Bruchs in der Mainstream-Netzkultur war das virale Video Kony 2012. Die Entwicklung des vorherrschenden Duktus von Tugendhaftigkeit hin zu zynischer, schwer zu entschlüsselnder Ironie lässt sich recht gut nachzeichnen, wenn man Kony 2012 mit der Welle von ›Harambe‹-Memes im Jahr 2016 vergleicht. Das Video sollte die Kampagne Stop Kony bewerben, welche auf die Verhaftung des ugandischen Milizenführers Joseph Kony bis Ende 2012 abzielte. Der Film wurde über einhundert Millionen Mal angesehen und verbreitete sich so rasant, dass laut einer Umfrage in den Tagen nach der Veröffentlichung des Videos jeder zweite junge Erwachsene in den USA davon gehört hatte – wodurch die Webseite zusammenbrach. Time bezeichnete es das viralste Video aller Zeiten. Auf Facebook und Twitter teilte ein riesiges Publikum junger Westler_innen, die dem Treiben eines ugandischen Kriegsverbrechers zuvor ziemlich gleichgültig gegenübergestanden hatten, das Video, nebst eindringlichen, leidenschaftlichen Ausrufen, die wir heute zynisch als ›zur Schau gestellte Tugend‹ einordnen könnten. Dann aber hagelte es Kritik an Video und Kampagne. Ugander_innen, Beobachter_innen der Region und sogar das
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ugandische Staatsoberhaupt warfen dem Video krasse Vereinfachung, Ungenauigkeit im Umgang mit Fakten, emotionale Manipulation sowie slacktivism9 vor. Eine Filmvorführung in Uganda wurde von wütenden Menschenmengen ausgebuht, die fanden, der Film konzentriere sich übermäßig auf den US-amerikanischen Filmemacher und vernachlässige Konys Opfer. In demonstrativer Rechtschaffenheit stimmten westliche Kritiker_innen ein und stellten die moralische Unzulänglichkeit von Kony 2012 und dessen Mainstream-Unterstützer_innen heraus. Auf dem Höhepunkt der Verbreitung des Videos wurde schließlich der Macher des Films, Jason Russell, festgenommen und in die Psychiatrie eingewiesen, nachdem sein öffentlicher Zusammenbruch gefilmt und im Internet veröffentlicht worden war. Im Video, das sich wiederum wie ein Lauffeuer verbreitete, war zu sehen, wie er nackt am Straßenrand herumschrie, auf den Boden einschlug, masturbierte und Autos demolierte. Mit atemberaubender Geschwindigkeit hatte die ›Kony‹-Geschichte die mittlerweile wohlbekannte Entwicklung von Mainstream-Tugend über konkurrierendes ›Gutsein‹ hin zu Demütigung und Häme durchlaufen, welche zur üblichen Handlung der düsteren Netz-Schauspiele der folgenden Jahre werden sollte. Viele, die das Video im Geiste eines weltumspannenden guten Willens geteilt hatten, nahmen es beschämt wieder von ihrer Pinnwand. Gut gemeinte, leichthin geteilte Anteilnahme mit Feel-Good-Faktor hatte sich innerhalb weniger Tage zur finster sten Facette einer ursprünglicheren, vor-kommerzialisierten, anonymeren Netzkultur gewandelt – Schadenfreude, tiefer Zynismus und die mittlerweile unaufhaltsame Kraft zu Unterhaltungszwecken geteilter öffentlicher Demütigung. Nach zahllosen Wiederholungen des Kony-2012-Zyklus von Edelmut zu Blamage war 2016 der Geist eines tief nihilistischen Zynismus, der im Nachhinein alles ironisiert, an die Oberfläche
9 | Auch clicktivism; abwertende Bezeichnung für eine Form von Aktivismus, die sich auf das Teilen von Online-Petitionen oder das Beitreten zu einer Facebook-Gruppe beschränkt (Anm. d. Übers.)
Einführung – Von der Hoffnung zu ›Harambe‹
der etablierten Internetkultur aufgestiegen und ein absurder Insiderwitz-Humor vorherrschend geworden. Als in jenem Jahr im Zoo von Cincinatti ein Gorilla namens Harambe erschossen wurde, nachdem ein Kind in sein Gehege gefallen war, begannen im Netz die üblichen Zyklen öffentlicher Zurschaustellung von demonstrativ rechtschaffener Entrüstung. Zunächst beschuldigten entsetzte Nutzer_innen die Eltern des Kindes in emotionalem Ton, für den Tod des Gorillas verantwortlich zu sein, wobei einige sogar Petitionen starteten, um die Eltern wegen Verletzung der Sorgfaltspflicht zu verklagen. Dann aber nahm eine Art frivoler, ironiegetränkter Verspottung des social-media-Schauspiels selbst Überhand. Das ›Harambe‹-Meme war rasch zur perfekten Parodie der Rührseligkeit und der bizarren Prioritäten liberaler performativer Politik in der westlichen Welt sowie der oft damit einhergehenden Online-Massenhysterie geworden. Am selben Tag, als ein Post über den Vorfall die Titelseite der Reddit-Nachrichten erreichte, wurde auf Change.org eine Unterschriftenaktion gestartet, welche die Behörden aufrief, die Eltern des Kindes für den Tod Harambes verantwortlich zu machen. Hunderttausende unterzeichneten die Petition. Bald machten die meist ironisch verwendeten Hashtags #JusticeForHarambe und #RIPHarambe die Runde. Parodien von Popsongs mit Harambe im Text wurden aufgenommen und der Schlachtruf Dicks Out For Harambe (»Schwänze raus für Harambe«) war durch den Comedian Brandon Wardell schnell zu einem populären Ausdruck geworden. Harambe tauchte nun, in einer Reihe mit David Bowie und Prince, in ironisch-rührseligen Porträts von 2016 verstorbenen Prominenten auf. Ein amerikanischer Schüler im Gorillakostüm wurde gefilmt, wie er während des ersten American-Football-Matches seiner High School an der Seitenlinie entlang lief, wobei er einen Mitschüler so hinter sich her zog wie Harambe den kleinen Jungen, bevor er erschossen wurde. Der Zoo bat die Macher der Memes, keine ›Harambe‹-Hashtags mehr zu verwenden und sie nicht mehr mit Tweets und Nachrichten zu bombardieren. Die Memes waren spätestens in dem Moment in den etablierten Medien angekommen, als live im Fernsehen ein junger Mann zu
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sehen war, der vor dem Bundesparteitag der Demokraten stand und – in Anspielung auf 9/11-Verschwörungstheorien – ein Schild mit der Aufschrift Bush did Harambe hochhielt. Matt Christman vom Podcast Chapo Trap House, selbst Produkt ironiegetränkter Netzkultur, fasste es so nüchtern wie treffend zusammen, als er sagte: »Harambes Beliebtheit beweist, dass die Leute über Mord lachen wollen, dabei aber Gewissensbisse haben.« Christman hielt außerdem fest, dass die Harambe-Manie erst nach dem Massaker in einem Orlandoer Schwulenclub, dessen Täter sich zum Islamischen Staat bekannt hatte, richtig an Fahrt gewann. Auf hochgradig mediatisierte Tragödien mit pietätlosem Schabernack und Ironie zu reagieren, war seit Jahren die Hauptbeschäftigung von Online-Troll-Kulturen gewesen, doch vor ›Harambe‹ hatte kein Fall derartige Mengen von Menschen angezogen, die am Insiderwitz teilhaben wollten. ›Harambe‹ verbreitete sich rasant, weil es zu einer Zeit kam, als in den sozialen Medien eine gewisse Art humorloser, selbstgerechter Rührseligkeit bereits so aberwitzig präsent war, dass der einst anrüchige Stil ironisch-zynischer Spöttelei als Gegenkraft in etabliertere Netzkulturen Einzug hielt. So effektiv diese herrlich skurrile Parodie auch war und so freudig sie von Ironiker_innen links wie rechts aufgegriffen wurde, so wurde der entrückte Humor doch dadurch verkompliziert, dass er – wie in so vielen anderen ähnlichen Fällen – wirklich unheimlichen Machenschaften erlaubte, sich im Labyrinth der Ironie zu verbergen. Beispielsweise wurde Ghostbusters-Star Leslie Jones in den größtenteils anonymen Drohungen und Posts einer Hasskampange mit dem Gorilla verglichen. Das Trommelfeuer der Beleidigungen erfasste sie, nachdem Milo Yiannopoulos, der schwule englische Konservative und heutige Star der Alt-Light, eine Reihe von Beschimpfungen in ihre Richtung getweetet hatte, in denen es unter anderem hieß, sie sähe aus wie »ein schwarzer Kerl«. Im Zuge des Belästigungsfeldzugs, der über sie hereinbrach, nachdem sie in Milos Schusslinie geraten war, wurden unter anderem ihre Webseite gehackt und Nacktfotos von ihr online in Umlauf gebracht.
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In Anbetracht der Tatsache, dass das ›Harambe‹-Meme zum Liebling der Alt-Right10 -Belästiger_innen wurde, also bei jenen den größten Anklang fand, denen es um das Verhöhnen liberaler Werte ging, drängt sich die Frage auf, ob der Fall ›Harambe‹ nicht doch bloß klassischer Rassismus im Gewand hipper Internet-Satire war. Oder war er eine clevere Parodie der dümmlichen Hysterie und Pseudo-Politik liberaler Internetkultur? Wissen die an solchen Memes Beteiligten überhaupt noch, was sie antreibt und ob sie es selbst ernst meinen oder nicht? Könnte es sein, dass sie in ein und demselben Medienphänomen gleichzeitig ironische Parodist_innen und ernsthafte Akteur_innen darstellen? Ein Hacker, der unter seinem Twitter-Pseudonym @prom bekannt ist, verschaffte sich Zugriff auf den Account des Direktors des Cincinattier Zoos, Thane Maynard, und tweetete von dort aus #DicksOutForHarambe. Auf die Frage nach seinen Beweggründen sagte er der New York Daily News jedoch, er sei sich »nicht sicher«, warum er Maynards Konto gehackt hatte, und fügte hinzu: »Als die eigentliche Sache passiert ist, war ich schon irgendwie wütend auf den Typen, der ihn erschossen hat.« Dieses Labyrinth aus Ironie und Insiderwitzen, in dem die wirkliche Meinung der Akteur_innen kaum auszumachen ist, wurde zum Schauplatz der Online-Kulturkämpfe. Hier wurde Trump gewählt und hier erlangte das, was wir heute die Alt-Right nennen, Berühmtheit. Jedes skurrile Ereignis, jede neue Identität und jede bizarre subkulturelle Verhaltensweise, die das breitere Publikum vor Rätsel stellen, wenn sie es schließlich in die
10 | Kurz für Alternative Right; Sammelbegriff für diverse, untereinander lose vernetzte rechte bis rechtsextreme Gruppen und Ideologien in den USA. Den gemeinsamen Nenner bildet die Annahme, ›die Identität‹ der weißen US-amerikanischen Bevölkerung sei, wahlweise durch Einwanderung, Multikulturalismus, Islam, Juden, Feminismus, Minderheiten und soziale Gerechtigkeit fördernde Gesetzgebung sowie politische Korrektheit gefährdet und müsse verteidigt werden. Der Begriff datiert von 2008 und wird spätestens seit dem US-Präsidentschaftswahlkampf 2016 allgemein verwendet (Anm. d. Übers.).
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etablierten Medien schaffen, von otherkin11 zu ›Pepe‹-Memes, können als Antwort auf eine Antwort auf eine Antwort begriffen werden, jede ein wütendes Echo auf die Existenz der anderen. Trump’sche Meme-Macher intensivierten ihren Tabus und politische Korrektheit verletzenden Stil als Antwort auf gender-bending12 Tumblr-Nutzer_innen, die dann wiederum selbst sensibler wurden und vom Rassismus, vom Frauenhass und von der heteronormativen Unterdrückung der Welt außerhalb ihrer Online-Subkulturen noch überzeugter waren als zuvor. Zugleich sahen die ›Bedauernswerten‹, von den Trump-Trollen zur Alt-Right, in den Hillary-Getreuen – der militanten Identitätspolitik auf Tumblr und der intersektionalen, gegen Redefreiheit agitierenden Campus-Linken – den Beleg für ihre ebenso düstere Weltsicht einer rasant verfallenden abendländischen Zivilisation, wobei beide Seiten sich zusehends von jeglichem kulturellem Mainstream losmachten, mit dem ihre trostlosen Visionen mittlerweile kaum noch etwas zu tun haben. Die einst unbedeutende Aufschrei-Kultur der Linken, die der im universitären Milieu verwurzelten Tumblr-Identitätspolitik entsprungen war, erreichte zu dieser Zeit ihren Höhepunkt: Alles, von asiatischen Nudeln zu Shakespeare, war ›problematisch‹ und sogar die alltäglichsten Handlungen waren ›frauenfeindlich‹ und ›rassistisch‹. Während gesellschaftlich Verpöntes und antimoralische Ideologien in den düsteren Winkeln des anonymen Internets schwärten, wurden die de-anonymisierten sozialen Medien, wo junge Leute heute zumeist politisch sozialisiert werden, zu einem Panoptikum, in dem die Massen das Adlerauge einer ständig beleidigten Kultur öffentlichen Anprangerns fürchteten. Auf der Höhe seiner Macht konnte der gefürchtete Aufschrei, egal wie geringfügig das Vergehen oder wie positiv die ursprüngliche Absicht dahinter, einen Ruf, eine Karriere, sogar ein ganzes Leben ruinieren. Die heutigen Ausformungen der Online-Linken 11 | Online-Subkultur, die um Fabelwesen u.Ä. kreist; siehe auch Kapitel 5 (Anm. d. Übers.). 12 | Geschlechtergrenzen überschreitend bzw. verwischend (Anm. d. Übers.).
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und -Rechten sind zweifellos in dieser seltsamen, ultra-puritanischen Zeit entstanden. Jene undurchsichtigen Anfänge der Internet-Politik haben eine ganze Generation geprägt und die Wahrnehmung und selbst die Sprache breiterer Gesellschaftsschichten entscheidend beeinflusst. Der hysterische liberale Aufschrei bereitete den Nährboden für eine respektlos spöttelnde und political correctness verhöhnende Gegenbewegung, verkörpert durch charismatische Gestalten wie Milo. Nachdem man jahrelang den Teufel an die Wand gemalt hatte, indem man von zuckrigen Popstars zu Justin Trudeau jeden zum Rassisten und alle, die nicht zu Hillary standen, zu Sexist_innen erklärt hatte, erschien er tatsächlich – in Form der offen rassistisch-nationalistischen Alt-Right, die sich inmitten einer Online-Armee aus ironischen, in Insider-Witzen sprechenden Trollen verbarg. Als es soweit war, wusste einschließlich vieler Vertreter_innen ebendieser neuen extremen Netz-Rechten niemand mehr, wen man noch beim Wort nehmen konnte. Die Alt-Light13-Gestalten, die in dieser Zeit berühmt wurden, gründeten ihre Karrieren darauf, die Absurdität der Online-Identitätspolitik bzw. der Kultur leichtfertig geäußerter Frauenfeindlichkeits-, Rassimus-, Ableismus-, fatphobia- und Transphobie-Vorwürfe zu benennen. Offline konnte jedoch nur eine Seite den Einzug ihres Kandidaten ins Weiße Haus feiern – und nur eine Seite hat in ihrer Mitte Befürworter_innen der ›Rassentrennung‹, die pseudo-ironisch den Hitlergruß bemühen, und genuin hasserfüllte, mitunter mordende Frauenfeinde und Rassisten. Bevor die offen rassistische Alt-Right weithin bekannt wurde, hatte die gesellschaftlich etabliertere Alt-Light ihr zumeist geschmeichelt, indem sie glühende Kommentare auf Breitbart und anderswo veröffentlichte, Alt-Right-Sprecher_innen in ihre YouTube-Shows einlud und der Bewegung auf ihren social-media-Kanälen Raum gab. Nichtsdestotrotz revanchierte die Alt-Right sich nicht, als Milos Karriere plötzlich in sich zusammenstürzte, was meiner Ansicht nach einen Präzedenzfall für eine Zukunft 13 | Im kulturellen und medialen Mainstream verankerte Alt-Right-Sympathisant_innen (Anm. d. Übers.).
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darstellen könnte, in der die eher spielerisch Tabus brechende AltLight sich vor den Karren derer spannen lässt, die viel ernstere politische Ziele verfolgen. Sollte diese finstere, antisemitische, für ›Rassentrennung‹ eintretende Ideologie in den kommenden Jahren wachsen – und damit ihre Vision von der Zukunft, die notwendigerweise Gewalt beinhaltet –, so werden sich jene, die der Rechten zu Attraktivität verholfen haben, für ihr Handeln verantworten müssen. Dieses Buch will die Kulturkämpfe im Netz abbilden, die das Politikverständnis einer Generation geformt haben, um jene Online-Schlachten zu verstehen und festzuhalten, die andernfalls in Vergessenheit geraten könnten, wiewohl sie unsere Kultur und Ideen tief geprägt haben – von ihren undurchsichtigen Anfängen in winzigen Subkulturen bis hin zu ihrer späteren Präsenz in der breiten Öffentlichkeit und dem politischen Leben. Zeitgenössische Kulturkämpfe sollen hier in ihren historischen Kontext eingebettet und Wirkliches und Performance, Materielles und Abstraktes sowie Ironisches und Pseudo-Ironisches entwirrt werden – sofern das überhaupt noch möglich sein sollte.
Kapitel 1 – Die führerlose digitale Gegenrevolution Es lohnt sich durchaus, an die frühen 2010er Jahre zurückzudenken, als der Cyber-Utopismus seine größte Verbreitung seit den Neunzigern – vor dem Platzen der Dot-Com-Blase – erlebte. Diesmal erschien er als Reaktion auf politische Ereignisse rund um den Globus, vom Arabischen Frühling über die Occupy-Bewegung bis hin zu neuen, politisierten Hackerbewegungen. Anonymous, WikiLeaks und Massenproteste im öffentlichen Raum in Spanien und dem Nahen Osten genossen breite Berichterstattung und zogen eine Flut von Kommentaren und Analysen zu ihrer politischen Bedeutung nach sich. All diese Phänomene wurden dem Aufstieg der sozialen Medien zugeschrieben und als Beispiele für eine neue, führerlose digitale Revolution bezeichnet. Die Selbstüberschätzung und der überspitzte Ton hätten skeptisch stimmen müssen, doch die meisten Linken ließen sich von der allgemeinen Erregung erfassen, als in den sozialen und sodann in den etablierten Medien Bilder gewaltiger Menschenmengen auftauchten. Bücher, soziale Medien und zahllose schwärmerische Kolumnen und Blogs bejubelten die Ankunft der von Cyber-Utopist_innen des frühen Internets schon lang prophezeiten Umwälzung. Um ein typisches Beispiel für den seinerzeit vorherrschenden Ton herauszugreifen: Heather Brooke behauptet in ihrer Lobeshymne The Revolution Will be Digitized: Dispatches from the Information War, Technologie reiße »traditionelle gesellschaftliche Barrieren wie gesellschaftlichen Stand, Klasse, Macht, Wohlstand und Geografie« ein und ersetze sie durch »ein Ethos der Zusammenarbeit und Transparenz«. Das kanadische antikonsumistische Magazin
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Adbusters veröffentlichte einen viel geteilten Artikel von Manuel Castells mit dem Titel The Disgust Becomes a Network (»Die Empörung vernetzt sich«), als in Spanien und dem Rest der Welt per Internet organisierte, führerlose Protestcamps auftauchten. Er schrieb, die vernetzte Gesellschaft, ein Hauptthema seiner publizistischen Lauf bahn, habe eine radikal neue Form angenommen. Der BBC-Journalist Paul Mason verfasste Why It’s Kicking Off Everywhere, worin er die Umstürzler vom Tahrir-Platz, die iranische ›Twitter-Revolution‹ sowie die sich mithilfe zahlreicher Hashtags um die Welt verbreitenden ›Occupy Wall Street‹-Proteste dokumentierte. Dieser Eifer erstarb jedoch innerhalb weniger Jahre. Die ägyptische Revolution führte zur Herrschaft der Muslimbruderschaft, wodurch die Dinge letztlich schlimmer wurden. Islamisten wüteten auf den Straßen und Berichte von Vergewaltigungen auf jenem Platz, der kurz davor Schauplatz von soviel Hoffnung gewesen war, kamen ans Licht. Bald war die Militärdiktatur wiederhergestellt. Die Demonstrant_innen von Occupy Wall Street verblieben buchstäblich ziellos und wurden schließlich Camp für Camp von der Polizei aus dem öffentlichen Raum entfernt. Ende 2013 fand in der Ukraine eine Protestbewegung statt, die mit den gleichen Szenen einer romantisierten Macht des Volkes auf öffentlichen Plätzen begann. Diesmal jedoch wurde das Narrativ vom führerlosen Netzwerk, das nun schon ein bisschen weniger überzeugend wirkte, nicht mehr bemüht, nachdem die Proteste schnell von faschistischen Mobs übernommen worden waren. Viele Ereignisse, die als Teil der führerlosen digitalen Revolution betrachtet wurden, wie Occupy Wall Street und die öffentlichen Proteste in Spanien, wo Tausende die Puerta del Sol besetzten, machten sich die Guy-Fawkes-Maske als zentrales Symbol zu eigen. Die Tatsache, dass die Maske im Internet populär geworden war, sowie ihre politisch ambivalente Geschichte1 hätten Hinwei1 | Die Maske bildet das Gesicht von Guy Fawkes nach, einem katholischen englischen Offizier, der am 5. November 1605 ein Sprengstoff- Attentat auf König Jakob I. und das englische Parlament versuchte. Sie wurde von Anonymous benutzt und berühmt gemacht (Anm. d. Übers.).
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se darauf sein müssen, dass sich bereits eine ganz andere Spielart führerloser Online-Bewegung am Horizont zusammenbraute. Nach der Wahl Trumps war alle Welt brennend an der neuen rechten Online-Bewegung interessiert, deren ›memetische‹ Ästhetik Webseiten vom populären Subreddit The Donald bis zur Mainstream-Netzkultur infiltriert zu haben schien. Im Vorfeld der Wahl war ›Pepe der Frosch‹ das berühmteste gemeinsame visuelle Symbol. Der Name, den die Presse diesem Sammelsurium verschiedener rechtslastiger Netz-Phänomene von Milo über 4chan bis zu Neo-Nazi-Seiten gab, war ›Alt-Right‹. Wie Horden von Internet-Pedanten unverzüglich klarstellten, wurde diese Bezeichnung jedoch in den Kreisen, die sie bezeichnen sollte, lediglich für eine neue Welle offen die ›Rassentrennung‹ fordernder und rassenideologisch-nationalistischer Bewegungen und Subkulturen gebraucht. Für diese waren Sprecher wie Richard Spencer kennzeichnend, der einen weißen US-amerikanischen Ethno-Staat sowie ein an das römische Reich erinnerndes, pan-nationales weißes Imperium fordert. Zu den Medien der Bewegung zählen auch der Videoblog Red Ice des Schotten Millennial Woes, Seiten wie Radix und der Verlag Counter Currents. Im weiteren Dunstkreis der Alt-Right, die aus sich häufig gegenseitig bekämpfenden, sektiererischen Fraktionen besteht, gibt es eine ältere Generation von white supremacists2 , welche schon vor der Alt-Right aktiv war und aus deren Schriften die Bewegung ihre Inspiration bezieht. Hierzu gehören etwa Jared Taylor von der Webseite American Renaissance, der sich selbst als ›Rassen-Realist‹ bezeichnet, und Gestalten wie Kevin B. MacDonald, Redakteur des Occidental Observer, den die Anti-Defamation League zu den wichtigsten Stimmen des Antisemitismus unter rechten Intellektuellen zählt. Die Alt-Right befasst sich zumeist mit Themen wie dem Intelligenzquotienten, europäischer Demografie, dem Verfall der Kultur, ›Kultur-Marxismus‹,
2 | Etwa: »Verfechter_innen weißer Vorherrschaft«; Sammelbegriff für verschiedene offen rassistische Gruppierungen in den USA (Anm. d. Übers.).
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Anti-Egalitarismus und Islamisierung. Am wichtigsten ist ihr jedoch, wie der Name schon sagt, eine Alternative zum konservativen rechten Establishment zu schaffen. Dessen angeblich typisch christlichen, sanftmütig-passiven Anhängern wirft sie vor, sich selbst ›Hörner aufzusetzen‹, indem sie dem fremden, nicht-weißen Eindringling Zutritt zu Weib/Heimat/Rasse gewährten, und tut sie daher als cuckservatives3 ab. Dann ist da noch eine Reihe obskurerer rechtsgerichteter, antiegalitärer Strömungen wie das frühe Neoreaction Movement, kurz NRx, zu dem Denker und Blogger wie Mencius Moldbug und Nick Land gehören, Urheber der einflussreichen Begriffe »die Kathedrale« (›the Cathedral‹) und »dunkle Aufklärung« (›Dark Enlightenment‹). Der Begriff der Kathedrale bezeichnet ein allumfassendes System bzw. ein ›geistiges Gefängnis‹ und ähnelt damit stark dem Ideologieverständnis marxistischer Kritischer Theorie. Die ›dunkle Aufklärung‹ spielt, ausgehend von Fortschrittsmisstrauen und einer Ablehnung des liberalen Paradigmas, ironisch mit dem Gedankengut der Aufklärung. Von all diesen Denker_innen ist Land der größte Sonderling. Vormals stand er der linksgerichteten Schule der Akzelerationisten näher; als nach wie vor hochgradig eigenwilliger Denker lässt er sich kaum in eine Schublade stecken. Innerhalb der technologiefreundlichen Strömung der radikalen libertären Rechten waren Themen wie Bitcoin, die Besiedelung des Meeres (seasteading) – Peter Thiels Idee sah vor, einen separaten Staat vor der Küste der USA zu schaffen – sowie rechtslastige, elitäre Anwendungen des Transhumanismus beliebt. Allerdings hätte das, was wir heute die Alt-Right nennen, sicherlich keine Verbindung zum Mainstream und zur jungen Generation herstellen können, wenn es ausschließlich in Form langatmiger Traktate auf obskuren Blogs in Erscheinung getreten wäre. Erst die auf Satire-Bildern beruhende Kultur der respektlosen Meme-Fabriken 4chan und später 8chan mit ihrer
3 | In Anspielung auf Engl. to cuckold sb., »jdm. Hörner aufsetzen«, abgeleitet von cuckoo, »Kuckuck«, und conservative (Anm. d. Übers.).
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Grenzüberschreitung und ihren Hacker-Taktiken verliehen der Alt-Right ihre jugendliche Energie. Die in den Protesten von 2011 verwendete Guy-Fawkes-Maske spielte auf Anonymous an, welches seinen Namen, seine führerlose Anti-Prominenz-Ethik sowie seine Vernetzung dem chaotischen, anonymen Stil von 4chan entliehen hatte. Die Comic-Verfilmung V for Vendetta, aus der die Guy-Fawkes-Maske stammt, sowie das ›dunkle Zeitalter der Comics‹4 haben die ästhetischen Vorstellungen dieser Netz-Kultur geprägt. Während Beobachter_innen die Proteste der frühen 2010er Jahre für ihre Ablehnung der Rechts-Links-Spaltung priesen, erscheinen unkritische Lobeshymnen auf die politische Entwurzelung dieser vernetzten, führerlosen, Internet-zentrierten Politikvariante heute etwas weniger angebracht. Die Aktivitäten von Anonymous haben sich über die Jahre hinweg ohne erkennbares Muster im gesamten Spektrum zwischen links- und rechtslibertär bewegt, wobei von Justin-Bieber-Fans zu Feminist_innen, Faschist_innen und Cybersicherheits-Expert_innen jeder sein Fett weg bekam und ebenjene Art von voyeuristischer Selbstjustiz geübt wurde, für die typischerweise Leser_innen von Boulevardblättern verspottet werden. Um die scheinbar widersprüchliche Politik von 4chan und Anonymous sowie ihr Verhältnis zur Alt-Right zu verstehen, muss man sich mit der schrittweisen Rechtswende der chan-Kultur im Dunstkreis des Politik-Boards /pol/ befassen, im Gegensatz zum weniger offen politischen, aber allzeit extremen Board für Diverses namens /b/. Über AnonOps IRCs5 kommunizierende linke ›Moralschwuchteln‹ (moral fags) waren während der Hochphase von Anonymous’ öffentlicher Präsenz zwischen 2010 und 2012 einem hohen Maß an staatlicher Überwachung und Repression ausgesetzt. Die resultierende Abwesenheit des libertären, linksgerichteten Elements in der chan-Kultur schuf einen luftleeren 4 | Stilistische Veränderung in der Comic-Landschaft ab Mitte der 1980er Jahre, im Zuge derer Comics düsterer, brutaler und sexueller wurden (Anm. d. Übers.). 5 | Anonyme Chatforen (Anm. d. Übers.).
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Raum auf den Bilder-Boards, den die nach rechts gewandte Seite der Kultur mit ihren gekonnt gemachten, gegen political correctness agitierenden Schockerhumor-Memes füllen konnte. 4chan begann nach seiner Gründung durch den jugendlichen Chris Poole (auch bekannt als moot) mit Nutzer_innen, die japanische Anime teilten, wie schon auf dem Vorbild 2chan. Pooles wichtigste Inspiration für den Stil der Seite war ein Unterforum der nerdigen Unterhaltungsseite Something Awful namens Anime Death Tentacle Rape Whorehouse. Seit seiner Gründung 2003 wuchs 4chan bis 2011 auf etwa 750 Millionen Seitenaufrufe pro Monat an. Neue Nutzer wurden »Neuschwuchteln« (newfags) genannt, ältere »Altschwuchteln« (oldfags). Es wurde zu einem äußerst einflussreichen und kreativen Forum mit einer Reputation für Streiche, Memes und schockierende Bilder, die sich, ob man will oder nicht, ins Gedächtnis einbrennen. Die Kultur der Seite war nicht nur hochgradig und schockierend frauenfeindlich, sondern stand nerdiger ›Beta-Männlichkeit‹6 auch selbstironisch bis selbstzerfleischend gegenüber. Zu ihren popkulturellen Grundlagen zählten zum Beispiel Kriegsspiele und Filme wie Fight Club und Matrix. Man musste sich nicht registrieren oder einloggen, sodass Posts gemeinhin alle den Benutzernamen ›Anonymous‹ trugen. Diese Kultur der Anonymität förderte die Entstehung einer Umgebung, in der die Nutzer ihren finstersten Gedanken freien Lauf lassen konnten. Zwar waren bizarre Pornografie, Insider-Witze, nerdiger Jargon, blutrünstige Bilder, (selbst-)mörderische oder inzestuöse Gedanken, Rassismus und Frauenfeindlichkeit kennzeichnend für die Umgebung, welche dieses bizarre virtuelle Experiment hervorgebracht hatte; zumeist wurden hier jedoch einfach lustige Memes gepostet. Poole nannte 4chan eine ›Meme-Fabrik‹ und es hat fraglos zahllose Memes kreiert, die es in die etablierte Netzkultur geschafft haben. Die berühmtesten frühen Beispiel hierfür sind wohl LOLcats, ein auf Katzenbildern
6 | Siehe Kapitel 6 (Anm. d. Übers.).
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beruhendes image macro7, und rickrolling, scheinbar zu ernsthaften Inhalten führende Links, die den Nutzer zu einem Video von Rick Astleys Never Gonna Give You Up weiterleiten. Die Nutzer von 4chan/b/ agierten gemeinsam in Projekten wie der Wahl Chris Pooles zur Person des Jahres 2008 in der Online-Umfrage des Magazins Time und im kollektiven Cyber-Mobbing einer willkürlich ausgewählten Elfjährigen im Jahr 2010. Sie machten ihren Namen und ihre Adresse ausfindig, schikanierten sie und forderten sie zum Selbstmord auf, nachdem sie ein albernes Video gepostet hatte, in dem sie im Stil einer Gangsta-Rapperin sprach. Es überrascht kaum, dass es ihre Lage nicht verbesserte, als ihr Vater zur Verteidigung seiner Tochter ein Video postete, in dem er damit drohte, die »Cyber-Polizei« zu rufen – angesichts der allgemeinen emotionalen Unterentwicklung auf 4chan ist mangelhaftes Internetwissen dort immer legitimer Grund für jede Art von Grausamkeit. Auch im Rahmen weniger düsterer Streiche wie etwa ›Operation Birthday Boy‹ handelten sie kollektiv, als ein älterer Herr eine Online-Anzeige schaltete, wo es hieß: »Leute für Geburtstagsparty gesucht«. Gerührt vom Aufruf des einsamen Herrn fanden sie seinen Namen, seine Adresse sowie seine Telefonnummer heraus, schickten ihm hunderte Geburtstagskarten und bestellten Kuchen sowie Stripperinnen zu ihm. In der New York Times beschreibt Mattathias Schwartz 4chan/b/ folgendermaßen: Die anonymen Bewohner der anderen Boards auf 4chan – Reisen, Fitness und verschiedenen Porno-Genres gewidmet – bezeichnen die /b/-Bewohner als »/b/-tards 8 «. Legt man Verdorbenheit, Engstirnigkeit und traffic-gesteuerte Fluktuation als Maßstab an, ist die /b/-Kultur beispiellos. /b/ liest sich wie das Innere einer Schultoilette oder eine Art obszöne 7 | Typisches Format eines Meme-Bildes, wobei Text, meist weiß mit schwarzem Rand, in Großbuchstaben und in der Schriftart Impact, nah am oberen und unteren Rand über ein Bild (meist ein Foto) gelegt wird (Anm. d. Übers.). 8 | Wortspiel auf Grundlage von Engl. retard (»Vollidiot«) (Anm. d. Übers.).
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Telefonkonferenz oder ein Blog, auf dem es keine Posts und dafür nur Kommentare gibt, voller Jargon, den zu verstehen man zu alt ist.
Die Alt-Right-Vokabel ›kek‹ begann auf 4chan-Kommentarboards zum Mehrspieler-Videospiel World of Warcraft als Variante von ›lol‹, während der aus Matt Furies Netz-Comic Boy’s Club stammende Pepe the Frog den Inbegriff von Meme-basiertem Insiderwitz-Humor darstellt. Kek ist außerdem eine altägyptische Gottheit, die als froschköpfiger Mann dargestellt wird; ›the church of Kek‹ und ›praise Kek‹ verweisen auf die auf 4chan ironisch zitierte Kek-Religion. Einer der Faktoren, welche die häufig nihilistische und ironische chan-Kultur mit der breiteren Kultur des Alt-Right-Dunstkreises verknüpften, war ihr Widerstand gegen politische Korrektheit, Feminismus, Multikulturalismus usw., insbesondere gegen die Tatsache, dass diese in ihre unbekümmerte, anonyme, technologiefixierte Welt Einzug hielten. In den USA zielte ein früher Fall konzertierter Attacken gegen sich solcherart einmischende Frauen auf Kathy Sierra ab, Tech-Bloggerin und Journalistin. Sierra war Hauptreferentin bei South by Southwest Interactive9 gewesen, ihre Bücher waren Bestseller. Gegenwind kam auf, als sie einen Aufruf zur Moderation von Leserkommentaren unterstützte, was zu jener Zeit als Untergrabung der libertären Hacker-Ethik absoluter Freiheit im Netz betrachtet wurde, auch wenn es heutzutage Standard ist. Auf ihrem Blog erschienen Kommentare, in denen sie beleidigt und ihr massenhaft mit Vergewaltigung und Mord gedroht wurde – was Frauen wie Sierra mittlerweile routinemäßig erleben müssen. Persönliche Details über ihre Familie und Wohnadresse wurden im Netz gepostet und hasserfüllte Reaktionen, wie Photoshop-Bilder, die ihren Kopf in einer Schlinge steckend zeigen, eine Zielscheibe, deren Mitte ihr Kopf ist sowie ein gruseliges Bild, auf dem sie mit Damenunterwäsche geknebelt ist, machten die Runde. Diese personalisierte Gegenreaktion
9 | Jährlich stattfindende Netzkonferenz in Austin, Texas (Anm. d. Übers.).
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war so heftig, dass Sierra das Gefühl hatte, ihren Blog schließen und von Referenten-Engagements zurücktreten zu müssen. Als sie auf ihrem Blog erklärte, dass sie sich aus dem öffentlichen Leben zurückziehe, weil sie schreckliche Angst habe, dass ihre Stalker ihre Drohungen wahr machen könnten, hatte das eine weitere Flut von Geek-Hass gegen sie zur Folge. Andrew Auernheimer (aka weev), ein mittlerweile weithin bekannter Hacker und Troll, scheint tief in die Angriffe auf Sierra verstrickt gewesen zu sein. Offenbar hat er im Netz Falschinformationen verbreitet, denen zufolge sie unter häuslicher Gewalt leide sowie sich früher prostituiert habe. 2009 behauptete weev, er habe das System von Amazon gehackt und Bücher über Homosexualität unter »Pornografie« eingeordnet.10 Obwohl er früher zur Occupy-Bewegung gehört hat, postet er nun regelmäßig juden- und schwulenfeindliche Tiraden auf YouTube, trägt ein Hakenkreuz-Tattoo auf der Brust und war auch selbsternannter Präsident einer Troll-Initiative namens Gay Nigger Association of America. Diese zielte darauf ab, populäres Bloggen und andere Mainstream-Aktivitäten zu bekämpfen, die angeblich authentische Netzkultur zerstören. Sierra hat den Fortgang der Dinge so kommentiert: »Was mir passiert ist, verblasst im Vergleich dazu, was heute im Netz mit Frauen geschieht […]. Ich dachte, die Dinge würden besser werden. Hauptsächlich ist es einfach schlimmer geworden.« Online-Räume und Kommentarbereiche hatten bereits Jahre früher ein schockierendes Niveau an Frauenhass entwickelt. Eine frühe Diskussion über frauenfeindlichen Extremismus im Netz wurde entfacht, als Helen Lewis im New Statesman feministische Publizist_innen interviewte, die enthüllten, was ihnen widerfahren war. Die feministische Bloggerin und Aktivistin Cath Elliot schrieb:
10 | Vgl. https://www.theverge.com/2013/9/12/4693710/the-end-ofkindness-weev-and-the-cult-of-the-angry-young-man (zuletzt aufgerufen am 28.05.2018) (Anm. d. Aut.).
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Hätte ich versucht, darüber Buch zu führen, wie viele beleidigende Kommentare ich bekommen habe, seit ich 2007 begann, im Netz zu publizieren – ich hätte mittlerweile garantiert den Überblick verloren. Und mit ›beleidigend‹ meine ich keine Kommentare, die dem widersprechen, was ich schreibe – vergessen Sie nicht, dass ich aus der Gewerkschaftsszene komme und in einem Männergefängnis gearbeitet habe, ich bin also kein zartes Blümlein, das ein bisschen Geplänkel oder hitzige Debatten nicht aushält – nein, ich spreche von persönlicher, meist sexualisierter Beleidigung, die Sorte, die mich mittlerweile mehr als einmal dazu gebracht hat, mich zu fragen, ob sich meine Arbeit eigentlich lohnt. […] Ich las, dass ich offenbar zu hässlich sei, als dass mich irgendein Mann vergewaltigen wollte; oder ich konnte detaillierte Beschreibungen davon lesen, wie bestimmte Werkzeuge in eine oder mehrere meiner Körperöffnungen geschoben werden sollten.
Die feministische Bloggerin Dawn Foster schrieb: Den bisher schlimmsten Fall von Beleidigung im Netz musste ich erleben, als ich über die Auslieferung von Julian Assange bloggte. […] Anfangs war es schockierend: Innerhalb einer Woche bekam ich eine widerwärtige E-Mail, in der, als eine Art Warnung, meine Wohnadresse, Telefonnummer und Büroanschrift standen. Nachdem ich kurz darauf getweetet hatte, dass ich seit Stunden auf einen Nachtbus warte, antwortete jemand, er hoffe, ich würde an der Bushaltestelle vergewaltigt.
Die Publizistin Petra Davis, die zu Sex-Themen schreibt, berichtete später: Als man anfing, mir Briefe nach Hause zu schicken, meldete ich das der Polizei, doch diese riet mir lediglich aufzuhören, provokante Texte zu schreiben. Schließlich bekam ich eine E-Mail, die mich auf eine Webseite weiterleitete, wo meine Dienste als Sex-Arbeiterin beworben wurden, mit meiner Anschrift auf der Titelseite, über der stand: ›fickt sie bis sie schreit, Dreckshure, vergewaltigt mich die ganze Nacht lang schneidet mich auf‹, sowie Bilder von sexuell verstümmelten Frauen. Es war sehr seltsam, still vor meinem Bildschirm zu sitzen, im Wissen, dass die diesen Frauen angetane Gewalt als Lektion für mich gemeint war […]. Na-
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türlich dauerte es nicht lang, die Seite vom Netz zu nehmen, aber zum dem Zeitpunkt hatte ich das Ganze gründlich satt und ließ es mehr oder weniger ganz bleiben, aus irgendeiner Perspektive über Sex zu schreiben.
Von Bedeutung ist hier auch ein weiterer Bereich des breiteren Alt-Right-Milieus, der durchaus Strahlkraft besitzt – maskulinistische und neomaskulinistische, antifeministische Online-Subkulturen. Diese befassen sich typischerweise mit dem Niedergang westlicher Männlichkeit; einige verfechten Ideen wie etwa den Männer-Separatismus von Men Going Their Own Way (MGTOW), während andere eine aggressivere Spielart sozialdarwinistisch inspirierter ›Aufreißkunst‹ (pick-up artistry) vertreten, um das menschliche System ›auszutricksen‹. Allerdings hat erst der äußerste Rand des Alt-Right-Dunstkreises, der als Alt-Light bekannt wurde, diese neue diffuse und chaotische Ansammlung sich gegenseitig befruchtender Subkulturen wirklich bekannt gemacht und ihnen in den Mainstream verholfen. Die Alt-Light umfasst social-media-Promis wie Milo, Twitterund Blog-Stars wie Mike Cernovich, Autor des Männer-Leitfadens Gorilla Mindset, den früheren Vice-Redakteur Gavin McInnes und Heerscharen ›Pepe‹-Meme-produzierender Videospieler und Nonsens postender 4chan-Nutzer, die konservativem Gedankengut oder Politik zwar selten tief verbunden waren, jedoch deren ästhetische Vorstellungen teilten und von der gleichen Abneigung gegen politische Korrektheit angetrieben waren. Was wir heute die Alt-Right nennen, ist in Wirklichkeit diese Ansammlung vieler verschiedener Strömungen, die teilweise voneinander unabhängig entstanden sind, sich aber während der Kulturkämpfe der vergangenen Jahre unter der Flagge einer Reaktion gegen politische Korrektheit versammelt haben. Der mit 4chan assoziierte respektlose Troll-Stil erfreute sich als Reaktion auf die sich ausbreitende Identitätspolitik femininerer Netz-Orte wie Tumblr wachsender Beliebtheit. Dies schlug sich schließlich im ›echten Leben‹ nieder, als Campus-Politik immer stärker um diskriminierungsfreie ›Schutzräume‹ (safe spaces), Trigger-Warnungen, Gamergate und viele andere Auseinandersetzungen kreiste.
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Beim Vorhaben, die Geschichte der Gamergate-Kontroverse zu rekapitulieren – mitsamt Hasskampagnen, internen Meinungsverschiedenheiten und Brüchen, tendenziöser Berichterstattung sowie einem dauerhaft hohen Emotionsniveau, das eher an Reaktionen auf einen Völkermord als an Zank über Videospiele denken lässt –, kann einem wahrhaft übel werden. Zur Einführung folgt hier ein kurzer Abriss, der zweifellos keine der beteiligten Parteien glücklich stimmen wird. Im Vorfeld von Gamergate wurde die feministische Spiele-Kritikerin Anita Sarkeesian Opfer einer jahrelangen Hasskampagne ähnlich dem Fall Sierra, wobei sich diesmal jedoch Hunderttausende beteiligten und ein Ton vorherrschte, dessen Giftigkeit auf Außenstehende zutiefst unverständlich wirken musste. Ihr Vergehen bestand darin, in einer Reihe von YouTube-Videos in zugänglichem und ziemlich gesittetem Ton in die Grundkonzepte feministischer Medienkritik einzuführen. Der Grad von Sarkeesians Kritik, die sich, selbst Spielefan, für eine Reform und nicht etwa die Zensur von Videospielen aussprach, würde in der Literatur- oder Filmwissenschaft als ganz normal angesehen; ein solches Publikum ist das Debattieren sowie eine einigermaßen zivilisierte, erwachsene Art von Diskurs gewohnt, in der man einen alten Hollywood-Film als sexistisch bezeichnen kann, ohne seinen ästhetischen Wert in Zweifel zu ziehen, und wo man verschiedener Meinung sein kann, ohne gleich Vergewaltigungs- und Morddrohungen zu bemühen. In ihren Videos findet sich kein Aufruf, Videospiele zu zensieren oder zu verbieten. Ihre Kritik an der eindeutig rückschrittlichen Darstellung von Frauen in manchen Spielen ist nicht heftiger als das, was man bei Popkultur-Kritiker_innen wie Charlie Brooker oder Mark Kermode lesen kann. Für dieses unverzeihliche Verbrechen hat Sarkeesian Jahre persönlicher Beleidigungen ertragen müssen, die derart düster und verstörend sind, dass es einem die Sprache verschlägt. Zu typischen Online-Kommentaren zählten: »Ich vergewaltige dich und steck’ deinen Kopf auf einen Stock«, »Es wär’ witzig, wenn fünf Typen sie jetzt gerade vergewaltigen würden«, »Ich masturbiere wild zu deinem Gesicht« sowie der alte 4chan-StandardSpruch »Titten oder verpiss’ dich« (›Tits or get the fuck out‹). Ihre
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Wikipedia-Seite wurde mit pornografischen Bildern sowie Hasssprüchen verunstaltet. Es gab auch eine Kampagne, in der all ihre social-media-Konten als Spam, betrügerisch oder gar terroristisch gemeldet wurden. Man versuchte, ihre Webseite mithilfe eines ›distributed denial of service‹-Angriffs (DDOS)11 lahmzulegen sowie ihre E-Mails zu hacken. Pornografische Bilder, auf denen sie von Figuren aus Videospielen vergewaltigt wird, wurden erstellt; ein beleidigter männlicher Zocker kreierte sogar ein Spiel, in dem man auf Anitas Gesicht einprügeln kann, bis es blutig und lädiert ist und ihre Augen dunkel und angeschwollen sind. Sucht man Anita heute auf YouTube, findet man zahllose Hassvideos gegen sie, die wie besessen versuchen, ihre Karriere und ihren Ruf zu ruinieren. Dies gründete hauptsächlich darauf, dass sie eine Kickstarter-Kampagne führte, die gerade wegen der heftigen Schikane gegen ihre Person mehr Geld einbrachte als anfangs geplant. All dies geschah, man erinnere sich, um zu beweisen, dass Sexismus in der ›Videospielgemeinde‹ in keiner Weise ein Thema sei, wie sie unerhörterweise behauptet hatte. In der Usenet-Kultur beheimatete Taktiken wie DDoS und doxxing (die Veröffentlichung persönlicher Daten der Person, um Massenschikane möglich zu machen), deren 4chan sich bediente, standen im Mittelpunkt der Angriffe antifeministischer Zocker. Spiele, die auf das Gamergate-Publikum abzielten, ästhetisierten häufiger Krieg, Gewalt und Technologie, während in den Jahren, die Gamergate vorausgingen, der Markt für an Frauen gerichtete Spiele gewachsen war. Dies traf speziell auf Spiele wie Candy Crush zu, welche sich an Mädchen richteten, die noch nie von World of Warcraft gehört hatten – offenbar eine Beleidigung für jene, die sich für echte Spieler_innen hielten. Gamergate selbst kam ins Rollen, als Zoe Quinn ein Videospiel namens Depression Quest kreierte, das selbst einer Nicht-Spielerin wie mir als
11 | Dt. »verbreitete Dienstverweigerung«; bei einem solchen Angriff werden binnen kurzer Zeit Unmengen von Anfragen versandt, die den jeweiligen Dienst zum Absturz bringen (Anm. d. Übers.).
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grottenschlechtes Spiel aufstößt, inklusive all der Zerbrechlichkeit und Fetischisierung psychischer Erkrankung, welche den Netz-Feminismus der vergangenen Jahre auszeichnen. Es war ein Spiel – über Depression! –, das die perfekte Parodie all dessen gewesen wäre, was Gamergater an ›SJWs‹ (›Social Justice Warriors‹12) hassten. Nichtsdestoweniger bekam ihr grausiges Spiel positive Kritiken von politisch mit ihr sympathisierenden Journalist_innen aus der Indie-Game-Szene, was gewissermaßen die ganze Gamergate-Saga auslöste. Je nachdem, wen man fragt, war das entweder eine Auseinandersetzung über Ethik im Spielejournalismus oder eine Ausrede, um in die Zockerwelt eindringende Feminist_innen und Frauen anzugreifen. Lassen Sie mich zunächst klarstellen, wie ich zu Videospielen stehe. Erwachsene sollten meiner Meinung nach ihre seelischen Kräfte besser in anderer Weise nutzen, als sie in solche Spiele zu investieren. Und das gilt auch für feministisches Zocken, was mir ungefähr so attraktiv vorkommt wie feministische Pornos; mit anderen Worten, überhaupt nicht. Allerdings wird jeder mit einem Grundverständnis menschlichen Verhaltens nachvollziehen können, warum Quinns schlechtes Spiel, weitere Fälle angeblich tendenziöser Kritiken und das zweifellos ideologische Projekt, Teile der Spielewelt feminismusfreundlicher zu machen, die völlige Katastrophe nach sich zogen. Es folgte der möglicherweise größte flame war13 in der bisherigen Geschichte des Internets, eine Überreaktion im großen Stil, in deren Verlauf jeder jedem vorwarf, zu lügen und bösartige Absichten zu verfolgen. Quinns Ex-Freund Eron Gjoni postete in Foren, dass sie ihn betrogen habe, was eine Welle von Angriffen auf sie auslöste, in denen ihren Angaben zufolge neben Versuchen, ihre Accounts zu hacken, ihrer Familie und ihren Arbeitgeber_innen Rache-Pornos 12 | Kampfbegriff, der Menschen bezeichnet, die angeblich fanatisch soziale Gerechtigkeit predigen (Anm. d. Übers.). 13 | In der Internetsprache eine aus dem Ruder gelaufene Diskussion, deren Teilnehmer_innen sich heftig persönlich beleidigen (Anm. d. Übers.).
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zugeschickt wurden. Unnötig zu erwähnen, dass Quinn Vergewaltigungs- und Todesdrohungen erhielt sowie gedoxxt wurde. Eine Reihe feministischer Spieler_innen und Spielekritiker_innen wie Brianna Wu, Felicia Day und Jennifer Allaway, die sich ins Gemenge gemischt hatten, wurden ebenfalls angegriffen. In all diesen Fällen existieren zahllose konfligierende Schilderungen über das Ausmaß der Drohungen und Angriffe, doch selbst wenn man nur die unstrittigen berücksichtigt, kann man ohne Übertreibung von einem Niveau an Anfeindung sprechen, das in der Zeit vor dem Internet lediglich Kindermördern und dergleichen vorbehalten war. Dies uferte so aus, dass moot, Gründer von 4chan und Vorkämpfer des anonymen Internets, das Thema Gamergate von 4chan verbannte und die Seite letztlich sogar selbst verließ, worauf die Gamergater auf das gesetzlosere 8chan weiterzogen. Quinn stieß in einem 4chan-IRC namens burgersandfries auf Gespräche, in denen Nutzer, frauenfeindlich motiviert und in zutiefst frauenverachtender Sprache, einen Plan ausheckten, um Quinns Karriere zu ruinieren. Es gelang ihr, diese Gespräche aufzuzeichnen. Die Nutzer brachten darin ihren Hass und ihre Abscheu zum Ausdruck und frohlockten beim Gedanken daran, ihre Lauf bahn zunichte zu machen. Auch fantasierten sie darüber, wie sie vergewaltigt und umgebracht würde. Sie hofften, geballte Belästigung würde sie in den Selbstmord treiben, und lediglich die Vorstellung, 4chan könnte daraufhin schlechte Presse bekommen, überzeugte einige unter ihnen, dass dies vielleicht doch nichts Wünschenswertes wäre. Sie brachten gefälschte Nacktbilder von ihr in Umlauf und schickten Links zu diesen an Quinns Unterstützer_innen. Sie versuchten, Informationen über ihre Familie und Verwandtschaft auszugraben und jeden aufzuspüren, der mit ihr in Verbindung stand. Ein Nutzer fand ein Bild von Quinn als Dreizehnjährige und postete einen Link dazu. Ethik im Spielejournalismus lag ihnen offensichtlich dermaßen am Herzen, dass sie Quinn eine »eiternde Vagina voller Käse« zuschrieben, die groß genug sei, dass »12 Schwänze auf einmal hineinpassen« würden, und eine »Spur Fotzenschleim« hinterlasse, wohin auch immer Quinn gehe (dann wurde über ihren Geruch spekuliert).
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Jenn Frank, preisgekrönte freie Spielejournalistin, schrieb für den Londoner Guardian einen Artikel mit dem Titel How to attack a woman who works in video gaming, worin sie einen Blick auf die zu jener Zeit stattfindende Belästigung warf. Der Artikel skizziert Arten und Weisen, wie Trolle Frauen schädigen, die in dieser Männerdomäne arbeiten: Vor Kurzem hat jemand versucht, meine E-Mail- und Telefonkontakte zu hacken. Das hat mir den Atem verschlagen. Es ist beängstigend, all dies zu schreiben, und ich muss einräumen, dass ich insofern tatsächlich voreingenommen bin, als ich furchtbare Angst habe. Ich habe den größten Teil der vergangenen neun – nicht immer perfekten – Jahre in dieser Branche zugebracht und nie von mir behauptet, vollkommen zu sein. Meine Werte und meine Überzeugung, dass Beleidigung nicht ›normal‹, ›akzeptabel‹ oder ›erwartbar‹ sein darf, stehen im Widerspruch zu oh Gott, bitte, warum machen die das, was soll das, lass’ es nicht mich sein, lass’ es nicht mich sein. Meine unveränderte Liebe zu Videospielen, meine Kolleg_innen und meine Arbeit stehen in einem Interessenskonflikt zu meiner schrecklichen Angst.
Die Spielepublizistin Jennifer Hepler wurde ebenfalls Opfer von Angriffen, im Zuge deren ihr, wie sie sagt, hunderte Schmähnachrichten auf Twitter geschickt wurden. Darin wurde sie unter anderem als »übergewichtige Fotze« bezeichnet und bedroht. Feministische Zocker_innen beklagten sich, als die Publizistin Felicia Day von einem männlichen Spielejournalisten öffentlich als »Messe-Hostess« (booth babe14) abgekanzelt wurde. Die Spieleentwicklerin Patricia Hernandez machte auf 4chan aufmerksam, indem sie es als »Kathedrale der Frauenverachtung« bezeichnete. Die Webseite Encyclopedia Dramatica15 hat einen Dauereintrag
14 | Mehr oder weniger knapp bekleidete, möglichst attraktive Hostess, die bei Messen die Aufmerksamkeit auf einen Stand lenken soll (Anm. d. Übers.). 15 | Satirische ›Enzyklopädie‹ im Wiki-Stil zu Troll-Humor und nerdiger Internetkultur (Anm. d. Übers.).
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über die Memes, die 4chan, angeregt von ihrem Kommentar, erstellt hat, worin sie folgendermaßen beschrieben wird: Eine fette, illegal aus Mexiko rübergeschwommene 16 ›Spielejournalistin‹ mit Wurstfingern und einem Kinn wie Jay Leno, die für Kotaku arbeitet, einer Seite für Spiele-Tratsch, die dafür berüchtigt ist, Spieldesigner_innen zu erlauben, zwecks guter Kritiken und Medienpräsenz mit ihren Kolumnist_innen zu schlafen. Patricia ist als Lesbe und Feminazi bekannt und steht in Kotakus stolzer Tradition, indem sie zahllose Artikel darüber schreibt, wie verschiedene Spiele entweder Vergewaltigung verherrlichen oder ihre Spielerinnen buchstäblich vergewaltigen. Noch ein Hauptgeschäft von Kotaku, an dem sie sich beteiligt, ist Vetternwirtschaft, was auch erklärt, warum jeder zweite Artikel, den ihre Knubbelfinger produzieren, von ihrer Freundin handelt, bei der sie umsonst wohnt.
Ohne sich in Einzelheiten zu verlieren – und an diesem Punkt wäre es unmöglich, den verschiedenen Vorwürfen, wer alles wann gelogen hat, sowie den Kontroversen über den genauen Verlauf dieses Massenereignisses endgültig auf den Grund zu gehen – ist das Wichtige an diesem Aufruhr die Rolle, die er darin spielte, verschiedene Gruppen im Netz zu vereinen und die Taktiken der chan-Kultur auf die breitere Online-Rechte zu übertragen. Gamergate hat Spieler, rechtslastige chan-Kultur, Antifeminismus und die extreme Online-Rechte der etablierten Debatte viel näher zusammengebracht und weite Kreise junger Leute, zumeist männlich, politisiert. Alle möglichen Parteien waren involviert, von Kritikern politischer Korrektheit zu jenen, denen feministische Kultur-Kreuzzüge zu weit gingen. Letztere führten dazu, dass Leute wie Christina Hoff Sommers mit ins Boot geholt wurden, eine klassische Liberale, deren Video-Reihe The Factual Feminist darauf abzielte, fehlerhafte Statistiken innerhalb des Feminismus aufzudecken. Neben der höflichen, aufgeräumten
16 | Engl. wetback, wörtl. »Nassrücken«; in den USA ein gängiges Schimpfwort für illegal eingewanderte Mexikaner (da manche dabei den Rio Grande durchqueren) (Anm. d. Übers.).
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Sommers standen unpolitische Zocker_innen, South-Park-Konservative, 4chaner_innen, antifeministische Hardliner_innen und Jugendliche, die sich ohne den moralischen Ballast des Konservatismus auf den rechten politischen Rand zubewegten. So machte auch Milo Karriere, als er mithilfe von Gamergate über Nacht berühmt wurde – was am Ende desaströs enden sollte. Letztlich hatten die Gamergater_innen Recht mit der Beobachtung, dass eine wiederbelebte feministische Bewegung versuchte, die Kultur zu verändern; und dies – ihre geliebten Spiele – war die Front, die sie sich für den Gegenangriff aussuchten. Die Schlacht hat sich mittlerweile zwar zu anderen Themen hinbewegt, wobei zunehmend mehr auf dem Spiel steht; den Anstoß aber hat Gamergate gegeben. Hier wurden die Frontlinien für den Kulturkrieg einer jungen Netz-Generation gezogen. Die Kultur von 4chan, Anonymous usw. aus der Ära vor Gamergate, der Zeit von Occupy, hätte sich auch anders entwickeln können. Lange vor der Schlacht ›Geeks gegen Feminist_innen‹ hatte die libertäre Linke ihre eigene Hacker- und Computerfreak-freundliche, internetfixierte politische Tradition, die manche im frühen Anonymous-Milieu sichtlich inspirierte. Hakim Beys Idee einer zeitweiligen selbstverwalteten Zone gründete auf dem, was er »Piraten-Utopien« nannte. Ihm zufolge rutscht jeder Versuch, eine dauerhafte Kultur oder Politik zu schaffen, zwangsläufig in ein strukturiertes System ab, das die Kreativität der Einzelnen erstickt. Seine Sprache und Vorstellungen beeinflussten den Anarchismus und später auch Netz-Kulturen, denen es um illegales Herunterladen, Anonymität, Hacking und Experimente wie etwa Bitcoin ging. In dieser frühen Periode der Anonymous-Kultur sowie in Analysen etwa von Gabriella Coleman, die über radikalere horizontalistische Politik nachdenkt, lässt sich ein Widerhall von John Perry Barlows Manifest A Declaration of the Independence of Cyberspace vernehmen. Barlow war einer der Gründer der Electronic Frontier Foundation, einer Gruppe anarchistischer Hacker_innen und Verteidiger_innen eines Internets ohne staatliche Eingriffe, kapitalistische Kontrolle und Monopolisierung der Netzwelt. In einem der Rhetorik von 4chan und Anonymous (»Wir sind Unendlich Viele«) ähnlichen Ton warnten sie:
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Regierungen der industrialisierten Welt, ihr müden Giganten aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, der Heimat des Geistes. Im Namen der Zukunft bitte ich euch Gestrige, uns in Ruhe zu lassen. Ihr seid unter uns nicht willkommen. Wo wir uns versammeln, habt ihr keine Hoheitsgewalt.
Es kam aber anders. Die führerlose, anonyme Netzkultur ist nun typischerweise in außerordentlich düsterer Weise auf ›sabotierte‹ oder gescheiterte westliche Männlichkeit als alles erklärende Metapher fixiert, was sich auch im ›echten Leben‹ niedergeschlagen hat. Ein Post auf 4chan vom ersten Oktober 2015 lautete: Der erste unserer Art hat die Herzen Amerikas mit Furcht erfüllt. […] Dies ist erst der Anfang. Der Beta-Aufstand hat begonnen. Bald schon werden mehr von unseren Brüdern zu den Waffen greifen, um Märtyrer dieser Revolution zu werden.
Der dramatische und bewusst cineastische Ton kennzeichnet ein Auftreten, das postmodern-distanziert daherkommt und sich so vor bestimmten Deutungen schützt – sodass ein ›Normalo‹, der ihn wörtlich nähme, ausgelacht würde. In diesem Fall aber verwies es auf die reale Nachricht, dass im Umqua Community College in Roseburg, Oregon ein junger Mann namens Chris Harper-Mercer neun Kommilition_innen getötet sowie neun weitere verwundet und sich dann das Leben genommen hatte. In der Nacht vor dem Massaker erschien auf dem 4chan-Board /r9k/ ein Eintrag, der andere Nutzer_innen aus dem Nordwesten der USA warnte, sie sollten am Folgetag einen Bogen um die Schule machen. Der erste Kommentar lautete: »Geht der Beta-Aufstand also endlich los?«, während andere Nutzer_innen den anonymen Autor ermutigten und ihm Tipps zur Durchführung eines Massenmordes gaben. Im Jahr 2014 veröffentlichte ein anonymer 4chan-Nutzer nebst mehreren Fotos, die offensichtlich den nackten Leichnam einer erdrosselten Frau zeigten, ein Geständnis: So, es ist in Wirklichkeit also viel schwieriger, jemanden zu erwürgen, als es in den Filmen aussieht […]. Ihr Sohn wird gleich von der Schule
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heimkommen. Er wird sie finden und die Bullen rufen. Ich wollte die Bilder nur teilen, bevor sie mich finden. Ich habe mir ein Luftgewehr besorgt, das ziemlich realistisch aussieht. Wenn sie kommen, werde ich es ziehen und Selbstmord durch Polizei begehen. Ich versteh’s, wenn ihr das nicht glaubt. Guckt einfach die verdammten Nachrichten. Ich muss jetzt mein Handy loswerden.
Die Polizei gab später bekannt, dass die Frau auf dem Bild, Amber Lynn Coplin, tatsächlich Opfer eines Gewaltverbrechens geworden war. Ihr Freund David Michael Kalac wurde nach kurzer Verfolgungsjagd festgenommen und des Mordes angeklagt. Sollte Bedarf nach weiteren Belegen dafür bestehen, dass die political-correctness-feindliche Tabubruch-Kultur von 4chan nicht nur ›for the lulz‹ ist, so sei an den Mord an fünf Black-Lives-Matter-Demonstrant_innen in Minneapolis im November 2015 erinnert. Im Anschluss tauchte ein Video von zwei der Schützen auf, in dem sie in Sturmmaske zu einem Black-Lives-Matter-Protest fahren und in dem es hieß: »Wir wollten euch allen auf /pol/ bloß ’ne Vorwarnung geben […]. Bleibt weiß.« Es ist erst ein paar Jahre her, dass die linken Cyber-Utopisten behaupteten, »die Empörung« habe sich vernetzt, die etablierten alten Medien könnten die Politik nicht weiter kontrollieren und der neue öffentliche Raum würde zukünftig auf führerlosen, nutzergenerierten sozialen Medien beruhen. Dieses Netzwerk ist tatsächlich gekommen, doch es hat nicht der Linken, sondern der Rechten zur Macht verholfen. Jene Linken, die das spontane, Internet-basierte Netzwerk ohne Anführer_innen verherrlichten und alle anderen Formen der Politikgestaltung zu Schnee von gestern erklärten, bemerkten nicht, dass die führerlose Form uns in Wirklichkeit wenig über den philosophischen, moralischen oder begrifflichen Inhalt der jeweiligen Bewegung verrät. Im luftleeren Raum der ›Führungslosigkeit‹ konnte beinah alles gedeihen. Egal wie vernetzt, transgressiv, social-media-affin oder hierarchiefrei eine Bewegung auch ist – letztlich zählt, wie zu jedem anderen geschichtlichen Zeitpunkt auch, der Inhalt der Ideen, wie Evgeny Morozov bereits zu jener Zeit mahnte. Die Netz-Umgebung hat es Ideen und Bewegungen vom gesellschaftlichen Rand zweifels-
Kapitel 1 – Die führerlose digitale Gegenrevolution
ohne ermöglicht, rasant an Einfluss zu gewinnen. Während diese nach links tendierten, war es für politische Sympathisant_innen verlockend, darin eine verführerische Abkürzung hin zur Überwindung unseres ›Endes der Geschichte‹ zu sehen. Stattdessen müssen wir seither beobachten, dass dieses führerlose Gebilde so ziemlich jede Weltanschauung annehmen kann, sogar – so seltsam das auch scheint – die der äußersten Rechten.
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Kapitel 2 – Die Politik der Transgression
Transgression, das Überschreiten von kulturellen Regeln und Grenzen, wird seit den Sechzigern vom westlichen Sozialliberalismus als Tugend angesehen. In bell hooks’ Teaching to Transgress lässt sich nachlesen, wie diese heute angewandt wird. Die Tugend der Grenzüberschreitung sei in der Kunstkritik derart überhöht worden, schreibt Kieran Cashell, dass Kunstkritiker_innen sich heute vor eine Herausforderung gestellt sehen: »Entweder unterstützt du Transgression bedingungslos oder du verurteilst diese Entwicklung und riskierst damit, als konservativ verdächtigt und zum alten Eisen gezählt zu werden« – wie es dem großen Kunstkritiker Robert Hughes oft passiert ist. Gleichzeitig schreibt Cashell über den Wert, welcher der Grenzüberschreitung in der zeitgenössischen Kunst zugeschrieben wird: »Im Streben nach dem Irrationalen ist die Kunst negativ, nihilistisch und gemein geworden.« Der Literaturkritiker Anthony Julius bemerkte ebenfalls, es herrsche heute eine »unreflektierte Unterstützung des Transgressiven« vor. Wer behauptet, der neue Rechtsruck im Netz sei im Grunde dasselbe wie die altbekannte Rechte und damit der näheren Betrachtung oder Differenzierung unwürdig, liegt falsch. Auch wenn die neue Rechte sich in dieser wichtigen Frühphase ständig verändert, sagt ihre Fähigkeit, die grenzüberschreitende und nonkonformistische Ästhetik der Gegenkultur zu übernehmen, einiges über ihre Anziehungskraft und das liberale Establishment, von dem sie sich abgrenzt, aus. Sie hat mehr gemeinsam mit dem Achtundsechziger-Slogan ›Verbieten ist verboten!‹ als mit irgendetwas, was man gemeinhin mit der traditionalistischen Rechten verbinden würde. Anstatt sie als Teil anderer rechtsgerichteter Bewegungen – ob konservativ oder libertär – zu deuten, würde
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Die digitale Gegenrevolution
ich behaupten, dass das Auftreten der ›Pepe‹-Memes postenden Trolle und Netz-Transgressiven in einer Tradition steht, die sich von den Schriften des Marquis de Sade aus dem achtzehnten über die Pariser Avantgarde des neunzehnten Jahrhunderts und die rebellische Ablehnung feminisierter Konformität im Nachkriegsamerika bis zu Filmen der 1990er wie American Psycho und Fight Club, die Filmkritiker_innen male rampage films1 nennen, nachzeichnen lässt. Milos Lieblingswort, um das vereinende ›trollige‹ Lebensgefühl der neuen Welle der Online-Rechten zu beschreiben, ist ›transgressiv‹. Als der wenig überzeugende Konservative, der er ist, sagt er oft Dinge wie »Der beste Sex ist gefährlich, transgressiv, schmutzig« oder bezeichnet den Konservatismus als den »neuen Punk«, weil er »grenzüberschreitend und subversiv« sei und »Spaß macht«. Er bemüht regelmäßig den Vergleich von Punk und Alt-Right, wobei er den Begriff ganz offensichtlich im weitestmöglichen Wortsinn benutzt. Die Leichtigkeit, mit der sich dieses breitere Alt-Right- und Alt-Light-Milieu heute eines solchen transgressiven Stils bedient, zeigt, wie oberflächlich und historisch zufällig es war, dass man diesen mit der sozialistischen Linken verbunden hat. Der Gebrauch von Hakenkreuzen und andere Flirts mit Nazi-Ästhetik als Teil einer Performance haben gewiss Vorläufer_innen. Joy Division, deren Sänger Ian Curtis politisch rechts stand, benannten sich nach der ›Freudenabteilung‹, der Bezeichnung für deutsche Lagerbordelle im zweiten Weltkrieg. 1976 wurde Siouxsie Sioux in der Sex-Pistols-Entourage zusammengeschlagen, weil sie ihr Hakenkreuzarmband trug. Sie wollte zweifellos schockieren und anecken, doch kaum jemand würde darin ein ernsthaftes Bekenntnis zum Nationalsozialismus sehen. Man kann sich vorstellen, wie schwer im Großbritannien der Nachkriegszeit die Verehrung der im Kampf gegen die Nazis Gefallenen und das Leid der vielen britischen Bürger_innen wogen, die Bombardierungen und entbehrungsreiche Jahre hinter sich hatten. Das Armband lässt sich schlimmstenfalls als kindischer Ausdruck
1 | Etwa: »Filme über ausrastende Männer« (Anm. d. Übers.).
Kapitel 2 – Die Politik der Transgression
von Respektlosigkeit um ihrer selbst willen begreifen; bestenfalls kann man es als typisch avantgardistischen Tabubruch sowie als Mittelfinger an das Nachkriegsestablishment verstehen, welches die Heldenverehrung benutzte, um Widerspruch gegen das Land und die Queen zu ersticken. In einem Interview mit dem Magazin Esquire erklärt weev/ Auernheimer, der ein Hakenkreuztattoo auf der Brust trägt, dem Journalisten seine Motivation: Ich sitze mit Auernheimer und seinem Freund Jaime Cochrane in einem Restaurant. Cochrane ist ein leise sprechender Transgender-Troll von der Gruppe Rustle League, so genannt, weil ›es beim Trollen nun mal darum geht, den Leuten auf die Eier zu gehen‹ 2 . Sie erklären mir ihr Verständnis davon, was Trolle tun. ›Das ist kein Mobbing‹, sagt Cochrane. ›Das ist satirische Performance-Kunst.‹ Cybermobber_innen, die Jugendliche in den Selbstmord treiben, gingen zu weit. Trollen dagegen sei das noblere Geschäft dessen, was Cochrane ›aggressive Rhetorik‹ nennt, eine Tradition, die auf Sokrates, Jesus und den nordischen Schelmengott Loki zurückgehe. Auernheim vergleicht sich selbst mit Shakespeares Puck. Cochranes Vorbilder sind Lenny Bruce und Andy Kaufman. Sie sprechen von culture jamming, der Kunst, den Status quo zu stören, um die Menschen zum Nachdenken zu bewegen. Sie sprechen von Abbie Hoffman 3 .
Bezeichnenderweise ist es die Figur Patrick Batemans aus der Filmadaption von Bret Easton Ellis’ Roman American Psycho, die nebst Fight Club und Matrix zu den häufigsten filmischen Anspielungen zählt, die sich auf 4chan und später in den Alt-Right-, Alt-Light- und antifeministischen Foren finden lassen. Der Film erzählt die Geschichte eines narzisstischen und soziopathischen Serienmörders, der zwanghaft Pornos konsumiert, Prostituierten 2 | Engl. rustling people’s jimmies, wörtlich »den Leuten die Schokostreusel durcheinanderpusten«; Neuschöpfung des 4chan-Milieus (Anm. d. Übers.). 3 | Bekannter linker US-amerikanischer Aktivist, der sich häufig kreativer, theatralischer und transgressiver Methoden bediente (1936-1989) (Anm. d. Übers.).
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gegenüber sexuell gewalttätig wird, genüsslich Obdachlose umbringt und (im Roman) Frauen derart extrem sexuell foltert, dass es de Sade in Sachen Überschreitung sittlicher Grenzen Konkurrenz macht. Der Literaturkritiker Daniel Fuchs ordnet den Roman einer literarischen Tradition zu, die auf Henry Miller und Norman Mailer zurückgehe, welche sich von der Grenzüberschreitung und sexuellen Souveränität bei de Sade inspirieren ließen und sie als eine Form von Rebellion und Befreiung durch sexuelle Aggression und Gewalt umsetzten. Man beachte, dass die schockierende sexuelle Gewalt von American Psycho in den auf seine Veröffentlichung folgenden Diskussionen damit gerechtfertigt wurde, dass der Verfasser am Ende des Romans unklar lässt, ob die Geschehnisse nicht bloß die irren Fantasien der Hauptfigur gewesen sind. Genau wie im Stil der rechtsgerichteten chan-Kultur wird hier durch den Einsatz von Finten, Ironie und vielschichtiger metatextueller Selbstbezüglichkeit einer klaren Deutung bzw. einem eindeutigen Urteil ausgewichen. Der Kult des Sittenbrechers als Held wurzelt in der Romantik. Wie Simon Reynolds und Joy Press in Sex Revolts, ihrer Untersuchung rebellischer Nachkriegsmännlichkeit, ausführen, lebte dieser jedoch in den Gegenkulturen des zwanzigsten Jahrhunderts wieder auf. Norman Mailer etwa beschrieb den Psychopathen in seinem Essay The White Negro als edle, transgressive Gestalt. Der hipster (was damals etwas anderes bezeichnete als den Bartöl verwendenden Herren von heute) bediene sich in seiner Missachtung gesellschaftlicher Konventionen bei der Tradition des edlen Psychopathen, den Mailer als Symbol der Befreiung von sexuellen, gesellschaftlichen und moralischen Hemmungen verstand. Wie der Künstler räumt der Psychopath dem Es und seinen Wünschen Vorrang vor dem Über-Ich und sittlichen Grenzen ein. Dostojewskis Anti-Held Raskolnikow macht in Verbrechen und Strafe im Mord an einer »wertlosen« alten Frau sein Recht geltend, die Moral des gemeinen Volkes zu überwinden. Im Auftreten grenzüberschreitender, antimoralischer Kulturen wie 4chan, die später mit der Alt-Right verschmolzen, lässt sich ein Echo von Maurice Blanchots Diktum vernehmen: »Der größte Schmerz der andern ist in jedem Fall weniger wichtig als mein Vergnügen.«
Kapitel 2 – Die Politik der Transgression
Press und Reynolds führen in ihrer Analyse aus, wie von Einer flog über das Kuckucksnest über Michel Foucaults Wahnsinn und Gesellschaft bis zu R.D. Laings Phänomenologie der Erfahrung in diesem transgressiven Stil ›Wahnsinn‹ durchgehend als Nonkonformismus verstanden wird. Für de Sade, die Surrealisten und später die antirepressive Kulturpolitik der Sechziger, die zumeist mit R.D. Laing assoziiert wird, stellte der Wahnsinn eine Quelle der Kreativität, eine Ablehnung etablierter Normen und eine rebellische politische Handlung dar. Das Surreale wurde zum vorrationalen schöpferischen Ausdruck. Das Abwerfen des ÜberIch, das diese grenzüberschreitende, gegenkulturelle Tradition kennzeichnet, lässt sich ebenfalls auf Seiten wie 4chan und deren Kultur des Trollings und des tabulosen, antimoralischen Humors beobachten, den schockierte Außenstehende oft als ›gestört‹ oder ›wahnsinnig‹ beschreiben. Dieses Psychopathieverständnis und die Ablehnung auferlegter Moralvorstellungen ziehen sich wie rote Fäden durch Ethos und Ästhetik der rechten Troll-Kultur. In einer frühen Selbstbeschreibung schrieb ein 4chan/b/-Schwärmer: /b/ ist der Typ, der zum Krüppel vor ihm in der Schlange sagt, dass er sich ein bisschen beeilen soll. /b/ rennt als Erster zum Fenster, um den Autounfall draußen zu sehen. /b/ ist der, der deine Nummer an die Klowand im Einkaufszentrum geschrieben hat./b/ist ein mieser Schüler, der sich an seine junge, attraktive Englischlehrerin ranmacht. /b/ ist der Typ, der auf der Park Avenue rumhängt und immer versucht, dir was anzudrehen. /b/ ist der, der seine vollgewichsten Klamotten in die Kleidersammlung gegeben hat. [… /b/ ist ein heißer Inzesttraum, den du tagelang zu vergessen versuchen wirst. /b/ ist der einzige in deiner Clique, der sich seiner Sexualität so sicher ist, dass er jeden Quatsch erzählen kann. /b/ ist der Typ ohne erektile Dysfunktion, der trotzdem gerne Viagra ausprobieren will. /b/ ist der beste Freund, der auf dein erstes Date mitkommt und den ganzen Abend deine Annäherungsversuche blockiert 4 . Das anständige
4 | Umschreibung des äußerst bildhaften englischen Slang-Ausdrucks to cock-block, wörtl. »schwanzblockieren« (Anm. d. Übers.).
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Mädchen, das du rumkriegen willst, marschiert davon, /b/ lacht und bringt dich nach Hause, wenn du betrunken bist, und du wachst ein paar Stunden später neben mehreren Huren auf, die /b/ für dich engagiert hat. /b/ ist ein Freund, der dir ständig vorschlägt, gegenseitige Masturbation mit ihm auszuprobieren. /b/ ist der Typ, der die Selbstmord-Seelsorge anruft, um mit der Ratgeberin zu flirten. /b/ löscht die Festplatte restlos, wenn das nächste Mal jemand an die Tür klopft. /b/ ist der, der vor dem Eingang zum Schulhof ein benutztes Kondom liegengelassen hat. /b/ ist die Stimme in deinem Kopf, die sagt, dass es egal ist, wenn sie betrunken ist. /b/ ist der Freund, der die ganze Zeit nach den Titten deiner Mutter fragt. /b/ ist der einzige, der versteht, was zum Henker du erzählst. /b/ ist einer, der eine Hure bezahlen würde, damit sie sein Arschloch leckt, und nur dafür. /b/ ist der Onkel, der dich mehrmals angefasst hat. /b/ ist immer noch im Krankenhaus, nachdem er etwas ausprobiert hat, was er in einem Hentai gesehen hat. /b/ ist der Genuss, für den du dich schuldig fühlst, als du beim Masturbieren mit deinem Anus gespielt hast. /b/ ist wunderbar.
Ein Beispiel für den chan-Jargon ist der Ausdruck ›an hero‹. In ihrem Buch This Is Why We Can’t Have Nice Things erzählt Whitney Philips den Fall des Schülers Mitchell Henderson aus Minnesota nach. Nachdem Henderson sich erschossen hatte, hinterließ ein Klassenkamerad auf seiner MySpace-Gedenkseite eine Nachricht, in der stand, er sei »an hero«5 gewesen, »als er die Kugel wählte, als er uns alle zurückließ. Gott, wie sehr wir uns wünschen, wir könnten es zurücknehmen.« 4chan fand das wegen der Mischung aus aufrichtigem, verletzlichem Gefühl und falschem Artikel urkomisch. Auf der Gedenkseite fand sich auch ein Verweis auf Hendersons verlorenen iPod, was zu einem derart komplexen Witz ausartete, dass Hendersons MySpace-Seite gehackt wurde und jemand einen iPod auf Hendersons Grab legte, ein Foto machte und dieses auf 4chan postete. Sein Gesicht wurde in Aufnahmen sich drehender iPods und Hardcore-Porno-Szenen eingefügt und ein Video, in dem sein Tod nachgespielt
5 | Eigentlich a hero, »ein Held« (Anm. d. Übers.).
Kapitel 2 – Die Politik der Transgression
wird – wobei ein iPod zu Bruch geht –, auf YouTube veröffentlicht. Mitchells Vater bekam Scherzanrufe, in denen Anrufer Sachen sagten wie »Hi, ich habe Mitchells iPod« und »Hi, ich bin Mitchells Geist, die Haustür ist abgeschlossen. Kannst du runterkommen und mich reinlassen?«. Philips dokumentiert auch den Fall Chelsea King, einer US-amerikanischen Jugendlichen, die vergewaltigt und ermordet wurde. Nach Bekanntwerden ihres Todes füllten sich Facebook-Seiten, auf denen zuvor die Suche nach ihr organisiert worden war, mit Gedenk- und Trauerbotschaften. Zu diesem Zeitpunkt begann auch das Trollen, zum Teil auf 4chan orchestriert. Scherzseiten wie »Ich wette, diese Gurke kriegt mehr Fans als Chelsea King« wurden erstellt. So entspann sich aus der 4chan-Kultur ein meist als ›RIP-Trollen‹ bezeichnetes neues Genre. Die Faszination dieser Foren für den Selbstmord (›to an hero‹ war ihr neuer Ausdruck für »Selbstmord begehen«) zeigt sich oft in Form herzzerreißender Posts, in denen anonyme Nutzer_innen ihren Wunsch ausdrücken, sich das Leben zu nehmen, während man sich zugleich über Selbstmordopfer und Trauernde lustig macht. Forennutzer_innen wählen den wohl mitleidlosesten Ort, den man sich vorstellen kann, um anderen anonym von ihren Selbstmordfantasien zu erzählen – wo man ihnen, wahrscheinlich nur halb im Scherz, raten wird, sie in die Tat umzusetzen. So wenden sie sich gegen die ihrer Meinung nach rührselige Berichterstattung über Selbstmord in den etablierten Medien und veranstalten stattdessen ihre eigenen, düsteren Spektakel, in denen statt Mitleid Grausamkeit den Ton angibt. Und doch – da sowohl der Selbstmord als auch die offen zur Schau gestellte Kaltschnäuzigkeit gegenüber Opfern als Formen der Grenzüberschreitung wahrgenommen werden –, fanden beide einen Platz in dieser in sich seltsam einheitlichen Online-Welt. Welcher anderen Ideen und Stile bedient sich aber diese neue, grenzüberschreitende Rechte? Nietzsche, den die rechtslastige chan-Kultur – wissentlich oder nicht – herauf beschwört wie kaum einen anderen Denker, steht für die Überwindung einer als betäubend erlebten moralischen Ordnung und ein Bejahen des als »Wille zur Macht« verstandenen Lebens. Daher faszinierten seine Ideen so ziemlich
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jeden, von den Nazis bis zu Feminist_innen wie Lily Braun. Heute übt sein Antimoralismus auf die Alt-Right einen starken Reiz aus, weil ihre Ziele die Zurückweisung ebenjener christlichen Normen nötig machen, die Nietzsche als Sklavenmoral verstand. Freud dagegen charakterisierte die Grenzüberschreitung als antizivilisatorischen Impuls, als Teil des Antagonismus zwischen der Freiheit des instinktiven Willens und der durch die Zivilisation nötig gewordenen Verdrängung. Georges Bataille, möglicherweise wichtigster Theoretiker der Transgression, hatte sein Konzept der Souveränität von de Sade geerbt, wobei er besonderes Gewicht auf den Vorrang von Selbstbestimmung vor Gehorsam legt. Auch wenn die heutige rechte chan-Kultur sicherlich nicht Batailles Vorstellungen entspricht, so klingen die politisch austauschbaren Ideen und Stile dieser ästhetischen Grenzüberschreiter_innen doch in den Porno- und Schocker-Inhalten des frühen /b/ und in den antiliberalen Überschreitungen des späteren /pol/ an. Bataille verehrt die Überschreitung an sich, und wie de Sade sieht er nicht der Fortpflanzung dienlichen Sex als Ausdruck von Souveränität gegenüber Zweckrationalität, was er »Verausgabung ohne Rückhalt« nennt. Für ihn stellte zweckfreies exzessives Verhalten – was die zeitgenössische Meme-Kultur, in der ohne offensichtlichen persönlichen Nutzen enorme menschliche Kräfte aufgewandt werden, recht gut beschreibt – in seiner Ära der protestantischen Zweckrationalität ein Paradebeispiel der Transgression dar. Frühe Theoretiker_innen des Internets nutzten Marcel Mauss’ Begriff der ›Gabe‹ als zentrale Metapher für die nicht zweckgesteuerte Kultur des Teilens, die im und durch das Netz entstanden war. In Anlehnung daran könnte man jene Kultur, die sowohl ›Operation Birthday Boy‹ als auch ausgefeiltes ›RIP-Trollen‹ hervorgebracht hatte, als ›ungewollte Gabe‹ bezeichnen. In seinem Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen feiert der situationistische Denker Raoul Vaneigem Mauss’ Prinzip der Gabe, das ursprünglich Systeme gegenseitigen Beschenkens in vormodernen Gesellschaften beschrieb, für die Einsicht, dass nur die Reinheit unmotivierter Zerstörung oder ruinöser Großzügigkeit die Zweckrationalität überwinden könne. Die von den Situationisten vorgebrachte Kritik an der »Armut des Alltagslebens«, wie auch
Kapitel 2 – Die Politik der Transgression
Baudelaires »Oase des Grauens in einer Wüste der Langeweile«, drückte ein Gefühl aus, das den Romantikern und den heutigen Netzkulturen der Transgression gemein ist: dass Ennui, Langeweile und Trägheit eine extreme Grenzüberschreitung als Gegenkraft benötigen. Allerdings verließen diese Ideen oft die Sphäre der Abstraktion. Während die Situationisten eine bessere Welt im Herzen trugen, nahm die nihilistische Anwendung des transgressiven Stils bereits in der Gegenkultur der Sechziger Gestalt an. »Die Manson-Morde«, führen Reynolds und Press aus, »waren die logische Folge des Abwerfens von Gewissen und Bewusstsein, das makabre Aufblühen der Voodoo-Energien des Es.« Es gibt noch eine weitere Möglichkeit, Transgression zu denken: die Idee des Karnevalesken. In The Politics and Poetics of Transgression betrachten Peter Stallybrass und Allon White das Karnevaleske als eine Form radikaler Überschreitung von Hierarchie und Hegemonie: »Das Groteske operiert gern als Kritik einer vorherrschenden Ideologie, die bereits die Kriterien dafür festgelegt hat, was das Hohe und was das Niedere ist.« Genau so beschreibt sich 4chan seit Langem und so verstanden es seine frühen, ›progressiven‹ Fürsprecher_innen. Allerdings war die dominante Ideologie zu jener Zeit der kulturelle Liberalismus – das ›Niedere‹ bezeichnete also politisch inkorrekten schlechten Geschmack, Grobheit, Provokation, Beleidigung und Trollen. Ein früher Theoretiker des Karnevalesken war Michail Bachtin, dessen ideologisch flexible Definition so ähnlich klingt wie das, was manche Trolle heute über das Trollen sagen: Das Karnevalslachen ist zum ersten das Lachen des ganzen Volks […]. Zum zweiten ist es universal, d.h. auf alles und alle (auch auf die Teilnehmer am Karneval selbst) gerichtet, die ganze Welt erscheint komisch, wird in ihren lächerlichen Aspekten wahrgenommen und begriffen, in all ihrer heiteren Relativität. Drittens schließlich ist dieses Lachen ambivalent: es ist heiter, jubelnd und zugleich spöttisch […]. 6 6 | Deutsche Übersetzung entnommen aus Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt, übersetzt von Gabriele Leupold, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 60 (Anm. d. Übers.).
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Der Stil der Transgression ist auch auf der etablierten konservativen Rechten nicht ohne Vorgänger. Die Federation of Conservative Students in Großbritannien schockierte bekanntlich mit einem ›Hang Nelson Mandela‹-Poster und kritisierte die frühere britische Premierministerin Margaret Thatcher für ihr sanftes Vorgehen – möglicherweise eine frühe Version der cuckservative-Sticheleien. Der Studentenbund hatte auch libertär bzw. autoritär eingestellte Flügel, stellte aber in jedem Fall einen Bruch mit der Etikette der Burkeaner 7 dar, indem er den raueren Ton der Thatcher-Ära übernahm und sogar mit dem rechten Rand flirtete. Der reformlinke Publizist Christopher Lasch gebrauchte den als zivilisationsfeindlich verstandenen Freudschen Transgressionsbegriff in seiner Kritik des geistlosen Nihilismus und Narzissmus der amerikanischen Post-Sechziger-Konsumgesellschaft. Seit den Sechzigern und bis heute gilt jedoch die Norm, dass Kritiker_innen der Transgression im Allgemeinen auf der Rechten beheimatet sind. Daniel Bell, Theoretiker der postindustriellen Gesellschaft, lamentierte über das transgressive Ethos der Sechziger und warnte vor dessen »zwanghafter Beschäftigung mit Homosexualität, Transvestismus, Analverkehr, Sodomie und, am weitesten verbreitet, mit öffentlich gezeigtem Oralverkehr«. Der transgressive, respektlose Stil der Gegenkultur der Sechziger wies bereits all das auf, was die Rechte in späteren Kulturkämpfen hassen sollte. Konservative Antifeminist_innen wie Phyllis Schlafly und die Neokonservativen (neocons) des Magazins Com mentary beklagten diese ›widerständige Kultur‹ (adversary culture8) und warnten vor den zerstörerischen Impulsen des transgressiven Selbstverständnisses.
7 | Auf Edmund Burke (1729-1797) zurückgehende klassische und lange Zeit dominante Strömung des britischen Konservatismus (Anm. d. Übers.). 8 | Siehe Kapitel 4. Ließe sich auf Deutsch auch als »feindselige Kultur« oder »Gegenkultur« wiedergeben, wobei letzteres bereits die gängige Übersetzung für counter-culture ist (so auch in dieser Übersetzung). Grob gesagt beziehen counter-culture und adversary culture sich auf dasselbe
Kapitel 2 – Die Politik der Transgression
Die Beziehung zwischen Feminismus und der Kulturpolitik der Transgression ist noch komplizierter. Als in den Sechzigern die zweite Welle des Feminismus hervorbrach – wie in Betty Friedans Der Weiblichkeitswahn oder Die Selbstbefreiung der Frau dargestellt –, betrachtete die Rechte das als Teil der breiteren sexuellen Revolution und der Kultur der Grenzüberschreitung, welche die US-amerikanische Familie, sittliche Grenzen und die Tradition zerstören würden. In der Schlacht um den »Roe vs. Wade«-Prozess9 und in Phyllis Schlaflys Kampf gegen das Equal Rights Amendment10 positionierte der Feminismus sich klar gegen gängige Moralvorstellungen und kämpfte für die Befreiung des Es. Damit stand er ausdrücklich in der transgressiven Tradition de Sades. Manchen Feministinnen allerdings erschien das Es ihrer männlichen Mitstreiter ein wenig zu befreit. Als eine Art Kritik der Gegenkultur regte sich in feministischen Schriften Unmut über die mangelnde Balance der ›freien Liebe‹ sowie über die Heuchelei und Ungleichheit, die Frauen in den Anti-Kriegsund anderen Bewegungen der Sechziger und Siebziger erlebten. Die von der sexuellen Revolution hervorgebrachte Porno-Kultur sah sich in den Achtzigern heftiger Kritik seitens Feminist_innen wie Andrea Dworkin und Catharine MacKinnon ausgesetzt; bald agitierten manche Feminist_innen im Kampf gegen Pornos Seite an Seite mit Konservativen, die vormals den Feminismus als Kernstück der Verkommenheit der Sechziger gebrandmarkt hatten. Im Zuge der jüngsten Online-Kulturkämpfe und ihres Überschwappens auf Campus- und Protestpolitik versuchen Feminist_ innen, sich durch die Slutwalk-Bewegung sowie eine sex-positive, Phänomen, nehmen jedoch unterschiedliche Bewertungen vor (Anm. d. Übers.). 9 | 1973 gefällte Grundsatzentscheidung des Obersten Gerichtshofs der USA, der zufolge eine Frau bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Fötus lebensfähig ist, eine Schwangerschaft abbrechen darf (Anm. d. Übers.). 10 | Vorgeschlagener Verfassungszusatz, dem zufolge Frauen und Männer in den USA gleiche Rechte genießen sollten. Bis heute nicht von allen Bundesstaaten ratifiziert und daher wirkungslos (Anm. d. Übers.).
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pro-trans, pro-Sexarbeiter_innen und pro-kink11 eingestellte Kultur, wie sie typisch für Tumblr ist, das transgressive Element zu eigen zu machen. Wie auch die Rechten sind sie dabei jedoch auf das tiefgreifende philosophische Problem des ideologisch flexiblen, politisch austauschbaren, moralisch neutralen Wesens des transgressiven Stils gestoßen, der genauso im Zeichen des Frauenhasses wie der sexuellen Befreiung stehen kann. Wie wir bei Lasch lesen können, hat antimoralische Grenzüberschreitung für progressive Politik immer schon einen Pakt mit dem Teufel dargestellt, denn das Plädoyer für Gleichheit ist fundamental eine moralische Aussage. Die gleichermaßen verhasste wie verehrte Publizistin Camille Paglia führt aus, dass de Sades Darstellung des Bösen als etwas dem Menschen Angeborenes eine Satire der Rousseau’schen Tradition war, welcher auch der Feminismus entsprungen ist. In de Sades Werk finden sich bekanntlich sexuelle Gewalt und Verachtung für Familie und Fortpflanzung, denen er eine gewalttätige, transgressive Sexualität gegenüberstellt, die auf den Werten der Libertinage und der Souveränität des Einzelnen fußt. In Juliette lautet eine Regel der Sodalität der Freunde des Verbrechens: »Echte Libertinage verabscheut Fortpflanzung.« Paglia zufolge sind de Sades Entwertung des fruchtbaren weiblichen Körpers und seine Auseinandersetzung mit hetero- und homosexueller Sodomie, die er mit der chan-Kultur teilt, nicht lediglich das Produkt homosexueller Neigung, wie die Feministin Simone de Beauvoir behauptet, sondern ein »Protest gegen eine sich unerbittlich, überreichlich fortpflanzende Natur«. Die Autorin Susan Suleiman schreibt: Hinter Sade’schen Fantasien steht der tiefe Wunsch nach einer aktiven Zurückweisung der Mutter. Der Antinaturalismus des Sade’schen Helden geht Hand in Hand mit seinem Hass auf Mütter, die für die ›natürliche‹ Quelle des Lebens stehen.
11 | Sich für außerhalb des Mainstreams verortete Formen von Sexualität einsetzend (Anm. d. Übers.).
Kapitel 2 – Die Politik der Transgression
Dass die transgressiven Werte de Sades von einer frauenverachtenden Kultur aufgegriffen werden konnten und eine antifeministische, traditionellen Kirchgänger-Konservatismus ablehnende Netz-Bewegung prägten, sollte keine Überraschung darstellen. Das später von den Surrealisten übernommene Motto William Blakes »Morde eher ein Kind in der Wiege, als dass du unerfüllte Begierden hegst«, das Verständnis von Dominanz als sexueller ›Souveränität‹ sowie die ›Befreiung des Es von den Fesseln des Bewusstseins‹ gehen alle auf diese Tradition der Transgression zurück. Genau wie Nietzsche bei den Nazis Anklang fand, weil über ihn ein rechter Antimoralismus formuliert werden konnte, so wird genau dieses grenzüberschreitende Selbstverständnis momentan in der Online-Welt der Alt-Right benutzt, um die äußer ste Entmenschlichung von Frauen und ethnischen Minderheiten zu entschuldigen und zu rationalisieren. Die von ihnen hervorgebrachte Kultur der Transgression bewahrt ihr Gewissen davor, die potentiellen menschlichen Kosten ernstzunehmen, die folgen könnten, bräche man das seit dem zweiten Weltkrieg bestehende Tabu gegen ›Rassen‹-Politik. Das Sade’sche transgressive Element der Sechziger, das Konservative seit Jahrzehnten als Kern alles Verkommenen, Nihilistischen und Zersetzenden unserer Zeit verteufeln, wird durch die Entstehung dieser neuen Netz-Rechten nicht in Frage gestellt. Vielmehr stellt letztere die völlige Verwirklichung des antimoralischen, transgressiven Stils dar – dessen endgültige Abkopplung von jeglicher egalitären Weltsicht auf der Linken und jeder christlichen Moral auf der Rechten.
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Kapitel 3 – Gramsci und die Alt-Light
In einem vielzitierten Artikel auf Breitbart1 namens An Establishment Conservative’s Guide To The Alt-Right schrieben zwei rechte Hauptfiguren der Online-Kulturkriege mit glühender Feder über den harten Kern der Alt-Right. Dies waren Milo Yiannopoulos und Allum Bokhari. In einem ziemlich schmeichelhaften Porträt der amorphen Alt-Right verfolgten sie die intellektuellen Wurzeln der Bewegung zu einer Handvoll Schlüsseldenkern und -schulen zurück. Sie strichen Oswald Spengler heraus, der mit seinem 1918 erschienenen Der Untergang des Abendlandes den gesamten Diskurs eines angeblichen Zivilisationsverfalls prägte und einen nationalistischen, nicht-marxistischen Sozialismus und Autoritarismus predigte; H.L. Mencken, den tief elitistischen, aber unbestreitbar genialen US-amerikanischen Satiriker und Kulturkritiker, der den New Deal bekämpfte und von nietzscheanischer Warte aus Religion und repräsentative Demokratie kritisierte; Julius Evola, den italienischen Philosophen und Liebling der italienischen Faschisten, der traditionalistische und maskulinistische Werte vertrat und den modernen Mann in einem dunklen Zeitalter wähnte; Samuel Francis, den paläokonservativen2 US-amerikanischen Kolumnisten und Kritiker des prokapitalistischen
1 | 2007 gegründete Webseite, die als wichtigste Medienplattform der Alt-Right gilt; siehe unten (Anm. d. Übers.). 2 | Spielart des amerikanischen Konservatismus, die traditionelle konservative Werte hochhält, im Gegensatz etwa zu den neocons aber protektionistisch und nicht imperialistisch eingestellt ist. Ein bedeutender Vertreter ist Pat Buchanan, siehe Kapitel 4 (Anm. d. Übers.).
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Die digitale Gegenrevolution
Neokonservatismus; sowie zu guter Letzt die Neuen Rechten in Frankreich, die bezeichnenderweise zuweilen »rechte Gramscianer« genannt werden. Die französische Nouvelle Droite adaptierte die Theorien Antonio Gramscis, denen zufolge politische Veränderung auf kulturellen und gesellschaftlichen Wandel folgt. Andrew Breitbart prägte die Wendung, dass Politik immer »flussabwärts von der Kultur« stattfinde, die oft von Milo zitiert worden ist. Der Vorsitzende des rechtsextremen, einwanderungsfeindlichen Vlaams Blok in Belgien, Filip Dewinter, drückt es so aus: »Die ideologische Mehrheit ist wichtiger als die parlamentarische Mehrheit.« Vor 1968 ging die Rechte davon aus, dass ›normale Leute‹ immer noch grundsätzlich konservativ seien, was heute in der von modernen Establishment-Konservativen gern bemühten Rhetorik von der ›schweigenden Mehrheit‹ nachklingt. In gramscianischem Stil brach die Nouvelle Droite – ebenso wie heute die Alt-Right – mit dem Paradigma, man müsse die radikalen Eliten oder Avantgarden besiegen, um eine volkstümliche, traditionelle Ordnung wiederherzustellen. Vielmehr zog man Bilanz darüber, wie tiefgreifend die Sechziger breite Bevölkerungsschichten verändert hatten – und selbst hegemonial geworden waren. Wie Andrew Hartman es in seinem Buch über die Kulturkämpfe der Neunziger, The War for the Soul of America, umreißt, waren die Pariser Aufstände von 1968 und der Aufstieg der Neuen Linken für die demoralisierte Rechte Beweis genug, dass nun erst die gesamte Kultur zurückgewonnen werden müsse, bevor politischer Wandel stattfinden könnte. Das führte bei Teilen der Rechten zu einem Streben nach einer ›Metapolitik‹ sowie zu einer Ablehnung politischer Parteien und althergebrachter Formen von Aktivismus. Stattdessen begannen sie, ihre politischen Grundlagen zu überdenken und neue Möglichkeiten auszuloten, der Achtundsechziger-Ideologie des gesellschaftlichen Fortschritts zu begegnen. Die resultierende Nouvelle Droite in Frankreich teilt viele Themen mit der Alt-Right, wie den Multikulturalismus und den bevorstehenden Abstieg des Westens, und wie jene bedient sie sich bei Ideen aus dem gesamten politischen Spektrum. Bei-
Kapitel 3 – Gramsci und die Alt-Light
spielsweise äußert sie heftige Kritik am Kapitalismus, dem sie eine lokale, »organische Demokratie« entgegensetzt. Auf der kulturellen Ebene ist heute die Alt-Light bemerkenswert erfolgreich darin, Wandel einzuleiten. Sie war die jugendliche Brücke zwischen der Alt-Right und dem Trump-begeisterten Mainstream. Auch wenn die Taktiken der Online-Rechten mittlerweile auf dem Stand des digitalen Zeitalters sind, fällt es schwer, einen besseren Begriff als ›gramscianisch‹ zu finden, um ihre Strategien zu beschreiben. Es handelt sich schließlich um eine Bewegung, die beinah vollständig auf der Beeinflussung der Kultur beruht und die durch mediale und kulturelle Mittel – und nicht lediglich im Rahmen offizieller Politik – die Grenzen des Sagbaren verschieben will. Ihr Erfolg beruhte weitgehend darauf, die sterbenden Mainstream-Medien zu umgehen und aus dem Nichts eine eigene Netz-Kultur und eigene alternative Medien zu schaffen. Im Folgenden will ich nun einen näheren Blick auf diese sogenannte Alt-Light werfen, deren Mitglieder lange vor Trumps Sieg wichtige unabhängige Figuren in den sozialen Medien wurden. Sie prägten die Internetkultur und schließlich auch die Massenkultur. Wie haben sie das angestellt – und warum hat es funktioniert? Erstens sollte man sich einen Augenblick lang die schiere Menge akademischer und polemischer Texte vergegenwärtigen, die in den vergangenen Generationen aus mehr oder weniger linker Perspektive zu erklären versucht haben, warum das Projekt der revolutionären sozialistischen Linken nicht funktioniert und unpopulär bleibt. Dieses Problem liegt, explizit oder implizit, im Zentrum ganzer philosophischer, soziologischer oder kulturwissenschaftlicher Schulen, die sich mit der Kulturindustrie, der Macht der Medien, mit Diskurs, Narrativität, Normativität und Machtverhältnissen beschäftigen. Edward Hermans und Noam Chomskys These von der ›Konsensfabrik‹ beherrscht linke Rhetorik bis heute recht stark. Die Frankfurter Schule und die Situationisten gehören wie nach wie vor zum Kanon in akademischer politischer Theorie. Unter allen marxistischen bzw. marxoiden Strömungen ist die gramscianische heute die wohl einflussreichste, da sie in unserem Zeitalter medialer Vermittlung, nach dem
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Niedergang der alten Arbeiterbewegung, Medien und Kultur ins Zentrum politischer Analyse und Praxis rückt. Und doch war es der Kandidat der Rechten, Donald Trump, der Ende 2016 zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde – obwohl alle etablierten Nachrichtenagenturen, darunter konservative Medien von Fox News bis National Review, offen gegen ihn arbeiteten. Gestalten wie Milo, die man trotz ihres wachsenden Netz-Publikums bis kurz vor der Wahl als irrelevante Randfiguren abgetan hatte, kamen ins Spiel und stiegen zu Mainstream-Größen auf. Vergessen wir auch nicht, dass in den Obama-Jahren kulturliberale Millennials3 ihre eigenen neuen Medienportale gründeten, um das Vakuum zu füllen, welches der Bedeutungsverlust der etablierten Zeitungen und TV-Sender als allgemeine Arena für gesellschaftliche Debatten hinterlassen hatte. In dieser schönen neuen Welt von clicks und content erwuchs ihre mediale Alternative in Form von sentimentalen Wohlfühl-Webseiten wie Upworthy, deren Artikel in erster Linie Klicks, also Werbeeinnahmen, produzieren sollten4, sowie listicle5 -Seiten wie Buzzfeed. Andere liberale Seiten wie Everyday Feminism, Jezebel und Salon lieferten einen seltsamen Mix aus Ultra-Empfindlichkeit, Rührseligkeit und etwas, das man früher als radikal sozialkonstruktivistische Identitätspolitik bezeichnet hätte. Diese Seiten brachten Schlagzeilen, die sich nahezu wie Satiren ihrer selbst lesen: »8 Zeichen, dass deine Yoga-Praxis kulturell angeeignet ist«, »Männer können Feministen sein, aber das ist richtig harte Arbeit«, »19 der allergeilsten Antworten auf body-shaming6 « sowie viele weitere über toxische Männlichkeit, fat pride, genderneutrales Spielzeug oder Zwickmühlen ethisch und 3 | Auch ›Generation Y‹; die Generation der zwischen etwa 1980 und 2000 Geborenen (Anm. d. Übers.). 4 | Engl. click-bait, wörtlich »Klick-Köder« (Anm. d. Übers.). 5 | Aus Engl. list und article; ein Artikel, der im Grunde eine Aufzählung ist (Anm. d. Übers.). 6 | Das Herabwerten oder Beleidigen einer Person aufgrund ihrer körperlichen Erscheinung (Anm. d. Übers.).
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kulturell verantwortungsbewussten Konsums. Clickhole, ein Projekt von The Onion, entstand als zeitgemäße Satire-Seite, die mit albernen Titeln wie »10 Sachen, die Leute mit einer Spinne im Gesicht nicht mehr hören können« oder »Unser Land: gefährlich desensibilisiert gegenüber Gewalt in Chilisoßen-Namen« den liberalen click-bait-Stil brillant parodierte. So unfreiwillig komisch und anfällig für Satire Upworthy und Konsorten auch gewesen sein mögen – auf dem Höhepunkt ihrer Beliebtheit erntete jeder Upworthy-Artikel auf Facebook 75.000 ›Gefällt-mir‹-Klicks, während die Webseite etwa 87 Millionen Besucher pro Monat zählte. 2015 wurden die Artikel der liberalen listicle-Seite Buzzfeed öfter in den sozialen Medien geteilt als jene von BBC und Fox News zusammen. All diese Seiten waren liberal, auf Millennials ausgerichtet und offen propagandistisch. Die Alt-Right betrachtet diese, wie auch den Guardian, die BBC und CNN als Medien ›der Linken‹, die einen ›Kulturmarxismus‹ verbreiteten. Wann immer aber die reale Möglichkeit einer ökonomisch ›linken‹ politischen Kraft aufkam, reagierten gerade die liberalen Medien am boshaftesten und kritischsten. Die liberale, feministische Journalistin Joan Walsh nannte Bernie Sanders’ Unterstützer »Berniebot-Tastaturkrieger«, während Salon zu den Hauptverbreitern der ›Bernie Bro‹ 7 -Memes zählte, die Überschriften wie »Bernie Bros außer Kontrolle: Explosion frauenfeindlicher Wut…« und »Genau wie ein Bernie Bro: Sanders mobbt Clinton« trugen. Währenddessen veröffentlichte Vice, ein Magazin, dessen Marke auf einer ungemein flachen Kombination von geistloser Hipster-Ästhetik und pornografisch aufgeladener Grenzüberschreitung beruht, Artikel wie »So erkennt man einen brocialist8 «. Vor der Wahl brachte der Guardian einen Artikel mit dem unfreiwillig komischen, kultisch anmutenden Titel »Zeit, 7 | Unterstützer des linken Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders im Wahlkampf von 2016. Dem Stereotyp zufolge ein weißer, studentischer, engstirniger Mittelschichtsmann, der im Internet aggressiv, z.T. mit Hackermethoden, für Sanders warb (Anm. d. Übers.). 8 | Stereotypes Bild eines männlichen Linken, der zweifelhafte Einstellungen gegenüber Frauen hegt (Anm. d. Übers.).
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Hillary begeistert zu begrüßen – und sich der Testosteron-Linken entgegenzustellen«. Trotz überwältigender Anzeichen für Bernies Beliebtheit bei jungen Frauen ging man so lange mit dem Mythos vom Bernie Bro hausieren, bis er ins Reich der Netz-Wahrheiten einging. Schließlich schaltete sich auch das alte liberale Establishment ein, indem beispielsweise die Feministin Gloria Steinem behauptete, die vielen Bernie-Fans versuchten lediglich, ihre Kumpels zu beeindrucken. In Großbritannien ereignete sich ein beinahe identisches Phänomen, als das britische Medienestablishment, insbesondere der Guardian, sich mit seinem jugendlicheren Online-Nachwuchs verbündete und eine Schmutzkampagne gegen Jeremy Corbyn und seine Unterstützer lostrat, in der es hieß, sie verträten lediglich einen ruchlosen brocialism – trotz Corbyns schneeweißer Weste, was Frauenthemen anbelangt. Wo gab es in dieser Zeit auf der Linken echte Alternativen? Auf YouTube entstand The Young Turks, mit drei Millionen Abonnenten und typischerweise 100.000 bis 200.000 Video-Aufrufen eine der wenigen wirklich populären linken Talkshows. Der britische Labour-Unterstützer Owen Jones (der sich später gegen Corbyn wenden sollte) produzierte beliebte Interview-Videos. Weiter links stellt das Magazin Jacobin fraglos die Print-Erfolgsgeschichte dieser Periode und sicherlich das intellektuell interessanteste Medienprojekt dar. Das lag daran, dass es jenen, die die Hillary-Fraktion von links kritisierten, wie etwa Adolph Reed, Walter Benn Michaels, Amber A’Lee Frost, Connor Kilpatrick, Liza Featherstone und vielen anderen, ein Forum bot. Unvermeidlicherweise wurde auch der Jacobin angegriffen, weil er das Magazin der Wahl der Bros und ›der weißen Linken‹ sei, obwohl zwei seiner Schlüsselfiguren Kinder jamaikanischer bzw. trinidadischer Einwanderer sind und sein Logo auf die ›schwarzen Jakobiner‹9 anspielt. 9 | The Black Jacobins, 1938 veröffentlichtes Buch des US-amerikanischen Historikers C.L.R. James, das vom erfolgreichen haitianischen Sklavenaufstand gegen die französische Kolonialmacht 1791-1804 handelt (Anm. d. Übers.).
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2016 entstand mit dem Podcast Chapo Trap House eine Form linker Comedy, die darauf spezialisiert ist, sich über die bizarr sten Randgebiete der Online-Identitätspolitik der Rechten sowie, in geringerem Maße, der liberalen Linken lustig zu machen. In Großbritannien hat Novara Media eine relativ kleine Anhängerschaft, produziert aber kurze, scharfsinnige Videos aus einer multikulturellen Londoner Perspektive, in denen – und damit stellen sie auf der Linken eine Ausnahme dar – schwarzen und asiatischen Brit_innen eine Stimme gegeben wird. Current Affairs ist ebenfalls ein kleines, aber wichtiges linkes Print-Projekt, das die liberale Linke wie auch die Rechte kritisiert. Nun hatten allerdings nur wenige Linke in den Jahren vor Trumps Wahlerfolg und eigentlich in der gesamten Obama-Ära mitbekommen, dass die Alt-Light dabei war, im Netz ein vielschichtiges alternatives Medienimperium aufzubauen, das viele der oben genannten Medien in den Schatten stellen sollte. Dies reichte von rechtsextremen Bloggern in ihren dünn besiedelten Ecken des Internets bis hin zu charismatischen YouTube- und Twitter-Promis wie Steve Bannon, der durch den Auf bau von Breitbart zum Chefstrategen des US-Präsidenten wurde. YouTube-Vlogger_innen produzierten eine Flut populärer Kommentarvideos und Hitparaden ›peinlicher Social Justice Warriors‹, während Alt-Light-Promis wie Milo ihre Karriere auf das Aufdecken von Absurditäten der Tumblr-Identitätspolitik gründeten, die über Kanäle wie Buzzfeed sowie die Campuspolitik, deren Hauptthemen Redefreiheit und safe spaces waren, in den Mainstream vorgedrungen war. Währenddessen formierten Memes fabrizierende, ironischen Unsinn postende Jugendliche eine Reserve-Armee, die zu Anlässen wie Gamergate oder dann, wenn Akteur_innen wie Milo Rückendeckung brauchten, ganz einfach auf den Plan gerufen werden konnte. Mit massenhaft Memes voller schwarzem chan-Humor schwärmten sie aus, um die jeweiligen Widersacher_innen zu drangsalieren. Seit 2015 produziert das konservative Projekt The Rebel Media aus Kanada kostspielige YouTube-Videos. Dort sind einige große Namen vertreten, wie der frühere Vice-Redakteur Gavin McInnes sowie Lauren Southern, die sich darauf spezialisiert hat, bei
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Slutwalks und Uni-Protesten Vox Pops aufzunehmen, in denen sie Demonstrant_innen bloßstellt – was mich sehr an das von liberalen Medien in der Zeit der Tea-Party-Bewegung perfektionierte Genre erinnert, in dem die Befragten immer einen dämlichen Eindruck machten. Ezra Levant, früher beim konservativen Sender Sun News, leitete den Umzug ins Internet ein, um Kosten zu sparen und nicht an TV-Vorschriften gebunden zu sein. Um den YouTube-Kanal an den Start zu bringen, erbrachte eine Crowdfunding-Kampagne etwa 100.000 kanadische Dollar. Daraufhin wurde ein Bezahldienst lanciert, bei dem man für acht Dollar im Monat Zugriff auf alle produzierten YouTube-Shows erhält. Nach der Präsidentschaftswahl meldete The Rebel, man habe in einem Zeitraum von dreißig Tagen neunzehn Millionen Video-Ansichten verzeichnet. Durchschnittlich sahen den Angaben zufolge am Tag mehr als 600.000 Menschen Rebel-Videos. Diese Zahlen sind sogar eine niedrige Schätzung, wenn man bedenkt, dass Rebel-Material auch auf anderen YouTube-Kanälen hochgeladen wird. Gavin McInnes’ kostenpflichtige Show auf Rebel namens How’s It Goin’, Eh? vermengt Politik und Comedy. Seine gratis verfügbaren Sendungen beinhalten üblicherweise einen zehnminütigen Beitrag über aktuelle Entwicklungen im Kulturkampf. McInnes, der als Kind schottischer Eltern in England geboren wurde, hat in etwa die politischen Ansichten eines South-Park-Konservativen. Er begann seine kreativen Umtriebe als Teil der Punkband Anal Chinook und bezeichnet sich heute sowohl als marktliberalen Kapitalisten als auch als Anarchisten, wobei er in seinen moralkonservativen Ansichten eher wenig überzeugend oder zumindest hin- und hergerissen wirkt. Er plädiert für Porno-Enthaltsamkeit und die klassische Ehe, während er genau die Sorte vulgärer, sexueller Sprache bemüht, für die viele seiner konservativen Vorbilder seine Show in früheren Kulturkämpfen wohl gern verboten hätten. Seine Rolle als Redakteur bei Vice führte dazu, dass er als einer der »wichtigsten Architekten des Hipstertums« bekannt wurde. In der Folge machte er sich jedoch durch antifeministische Äußerungen auf der Rechten einen Namen, indem er etwa argumentierte, das Leben am modernen Arbeitsplatz habe
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Frauen tief unglücklich gemacht und die medial vorherrschende Ideologie bringe Frauen bei, sie sollten dick, alleinstehend und kinderlos sein. Nach der Veröffentlichung eines Essays mit dem Titel Transphobia is Perfectly Natural musste er als Künstlerischer Leiter bei Rooster, einer von ihm mitgegründeten Werbeagentur, zurücktreten. Der andere große Star auf Rebel, die mittlerweile unabhängig arbeitende Lauren Southern, erlangte Berühmtheit, als sie auf einem Slutwalk in Vancouver ein Schild hochhielt, auf dem »Es gibt keine Vergewaltigungskultur in der westlichen Welt« stand. Als telegene junge Blondine mit sarkastisch-missbilligendem Tonfall eignete sie sich perfekt für Vox Pops. Bei einem weiteren Protest rief Southern »Es gibt nur zwei Geschlechter!«, bevor eine Demonstrantin einen Behälter voller Urin über sie ausgoss. Southern war auch an der Aktion The Triggering beteiligt, in der antifeministische Twitter-Nutzer_innen absichtlich beleidigende Aussagen posteten, um ihr Recht auf freie Meinungsäußerung geltend zu machen. Während ich dies schreibe, hat eine weitergepostete Version ihrer Protest-Aufnahmen namens Social Justice Warriors Piss On Your Free Speech – Lauren Southern Attacked, die in meinen YouTube-Empfehlungen auftaucht, beinahe 500.000 Ansichten. Sie hat 235.000 Follower_innen auf Twitter und taucht bisweilen auf etablierten Nachrichtensendern wie Sky News auf, wo man ihr live den Ton abschnitt, als sie sagte: Ich weiß nicht, warum legale Einwanderung überhaupt noch existiert. Ich könnte einfach ein bisschen Selbstbräuner auftragen, mich in ein Schlauchboot setzen und an der Grenze von Sizilien oder am Strand von Sizilien aufkreuzen, mit einem Koran in der Hand, und würde als Immi grantin akzeptiert. Oder mit Rumba-Rasseln die Grenze überqueren und würde als Immigrantin akzeptiert.
Zu den Schlüsselakteuren im Kulturkampf der Trump’schen Rechten zählt Breitbart. Die konservative Webseite, zu der auch eine tägliche Radiosendung namens Breitbart News Daily gehört, wurde erst 2007 vom konservativen Publizisten Andrew Breitbart gegründet. Es ist die vielleicht größte Erfolgsgeschichte rechter
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alternativer Medien: Prominente wie Milo wurden hier bekannt, der Redakteur Steve Bannon stieg in die Top-Riege der US-Politik auf und vormals wenig bekannte Breitbart-Mitarbeiter nehmen heute an Besprechungen mit dem US-Präsidenten teil. Bannon selbst beschreibt die Seite als »Plattform für die Alt-Right«, auch wenn er damit zweifellos im weiten Sinne eine gegen das Establishment gerichtete Rechte meint, die mit europäischen Populisten und den Trumpianern gemeinsame Sache macht. Nach der Wahl veröffentlichte Buzzfeed die Mitschrift eines langen Interviews, das Steve Bannon 2004 dem Vatikan gab. Während Buzzfeed offensichtlich dachte, es handle sich bei dem Artikel um einen sicheren Hit, der Bannons Ruf ruinieren würde, erweckte dieser darin den Eindruck einer auf düstere Weise faszinierenden und, verglichen mit vielen listicle-Schreiberlingen auf Buzzfeed, ziemlich ernsthaften und eindrucksvollen Persönlichkeit. Er spricht von der »Krise des Kapitalismus«, der Säkularisierung, der Islamisierung des Abendlandes, der Unmoral von Vetternwirtschaft sowie der Zerstörung des jüdisch-christlichen Erbes des Westens. Anders als vielleicht von Buzzfeed intendiert zeigt das Interview einen Denker, der nicht weiter vom neokonservativen bzw. neoliberalen Establishment in den beiden großen Parteien der USA entfernt sein könnte; vielmehr tritt er hier als Anti-Establishment-Persönlichkeit mit ehrgeizigen Ideen in Erscheinung. Als Breitbart mit der antisemitischen, rechtsextremen AltRight flirtete, verlor man die mediale Schlüsselfigur Ben Shapiro. Er schrieb, unter Bannons Führung sei »Breitbart zu der Webseite für die Alt-Right geworden […]. Weißer Ethno-Nationalismus wird als legitime Antwort auf politische Korrektheit dargestellt und der Kommentarbereich wird langsam zu einer Jauchegrube für rechtsextreme Meme-Macher.« Dies entfachte einen antisemitischen Feldzug gegen Shapiro, zum dem, wie er deutlich zu verstehen gab, Milo die Pöbler_innen aktiv ermutigt hatte. Nach der Geburt seines zweiten Sohnes erhielt Shapiro Tweets und Kommentare, die beispielsweise seiner Familie wünschten, sie mögen »alle in die Öfen wandern«. Zu Milos vielen Sticheleien zählte das Foto eines schwarzen Babys, das er nach der Geburt
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von Shapiros Sohn mit den Worten tweetete: »Ich bete für Ben, der mit ansehen musste, wie sein Baby halb schwarz herauskam. Und schon größer als er!« – eine Anspielung auf Shapiros neuen Status als cuckservative. Cathy Young, US-Bürgerin mit russisch-jüdischem Hintergrund und libertäre Publizistin im Magazin Reason, war einst Weggefährtin von Milo gewesen und hatte beim Gamergate für die Zocker-Seite Stellung bezogen. Auch sie brach jedoch die Verbindung zu allen ab, die der Alt-Right zu nahe standen, als sie den ungehinderten Aufstieg der finsteren antisemitischen Elemente bemerkte, während ihre Mitstreiter_innen aus Angst um ihre aufstrebenden Karrieren nicht einschritten. Als sich Milo noch auf dem aufsteigenden Ast befand, war alle Welt an einer gewissen Jugendbewegung namens ›Alt-Right‹ interessiert, und als beide im BBC-Radio interviewt wurden, zürnte Milo angesichts der Prinzipienentscheidung Youngs. Seine Fans verspotteten und beleidigten sie, doch heute, da Milos Karriere in Trümmern liegt – was die Alt-Right mit Gleichgültigkeit und zum Teil sogar Schadenfreude zur Kenntnis nahm –, ist Young aus jener Zeit mit intakter Würde und als die weisere, prinzipientreuere und scharfsinnigere Kritikerin hervorgegangen. Milo war zweifelsohne der größte Star, der aus dem Aufstieg der Trump’schen Online-Rechten hervorgegangen ist. Der schwule Brite begann seine Karriere als junger, noch leichter als solcher zu erkennender Konservativer unter dem Pseudonym Milo Andreas Wagner. In einem frühen TV-Auftritt in der 10 O’clock Show in Großbritannien sprach ein junger, etwas schüchterner, braunhaariger Milo, gekleidet wie in einem Video der Band Belle and Sebastian, mit Boy George und dem Talkmaster David Mitchell über die Homo-Ehe. Er wurde als konservativer Katholik vorgestellt. In jener Phase hatte er sein Markenzeichen noch nicht so recht gefunden; man hätte unmöglich vorhersagen können, was für ein Star er einmal werden sollte. Später gründete er The Kernel, ein Online-Boulevard-Magazin zum Thema Technik, über das er sich als moderner Technik- und Kulturjournalist neu erfand. Zu allgemeinem Ruhm und Promi-Status brachte er es 2014, als er wohlwollend über Gamergate berichtete. Milo hat
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mehr als jeder andere dafür getan, dass die Alt-Right ein salonfähiges Gesicht bekam, indem er selbst über ihre schlimmsten faschistischen Ausformungen positiv berichtete – obwohl er selbst schwul und jüdischer Abstammung ist. Kurz vor dem Skandal, der seine Lauf bahn beendete, war er in Bill Mahers Show aufgetreten und hatte einen mit 250.000 Dollar dotierten Buchvertrag unterzeichnet. Sein wirkliche mediale Errungenschaft in Sachen rechts- gramscianische Taktik und Philosophie war seine Dangerous Faggot Tour. Verfolgte man den Livestream der Tournee, wurde man Zeuge, wie sich der Live-Kommentarbereich rasant mit Hakenkreuzen und Harambe-Anspielungen füllte. Diese Videos, in denen Milo Universitäten in den USA und Großbritannien besuchte und politische Korrektheit, den Feminismus, den Islam, Black Lives Matter und den westlichen Liberalismus allgemein kritisierte, wurden zumeist hunderttausendfach angesehen. Dadurch, dass er kontroverse Blogger_innen hofierte und studentische Aktivist_innen sich fortwährend dafür stark machten, dass er im Netz gesperrt werden sollte, wurde er zu einer Art Märtyrergestalt, der ergebene Massen »Milo! Milo! Milo!« zuriefen. Seine Sperrung auf Twitter half seiner Karriere in der gleichen Weise. Was ernsthafte, nicht-ironische Rechtsextreme in der Alt-Right anging, betonte er: »Es gibt einfach nicht sehr viele davon, niemand mag sie so richtig und es ist unwahrscheinlich, dass sie in der Alt-Right irgendetwas von Bedeutung erreichen.« Wenige Monate später war es scheinbar die Rechte selbst, die Milos Karriere beendete, nachdem jemand das jahrealte Video eines Interviews ausgegraben hatte, in dem er Päderastie verteidigte. Viele Breitbart-Leute drohten daraufhin mit ihrer Kündigung, sollte Milo nicht gefeuert werden. Die stramme Alt-Right, die seiner Ansicht nach nie über Einfluss verfügen würde, ist heute stärker und selbstbewusster denn je, während seine Karriere sich im freien Fall befindet. Nach den Enthüllungen tweetete Richard Spencer: »Milo ist am Ende. Hebt schon mal sein Grab aus.« Eine weitere maßgebliche Gestalt im Alt-Light-Milieu ist Mike Cernovich, der derzeit 222.000 Twitter-Follower_innen hat und zugängliche Leitfäden zu rechter Politik und männlicher Selbst-
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behauptung mit Titeln wie Gorilla Mindset und MAGA Mindset: Making YOU and America Great Again schreibt. Er entwickelte sein mediales Profil über Twitter, den Videodienst Periscope und seine Webseite Danger and Play, deren Name auf das berühmte Nietzsche-Zitat anspielt: »Zweierlei will der echte Mann: Gefahr und Spiel. Deshalb will er das Weib, als das gefährlichste Spielzeug.« In einem Porträt im Magazin New Yorker heißt es, er habe Danger and Play gegründet, nachdem seine Frau, mit der zusammen er Jura studierte, die Scheidung eingereicht habe. Nach dem Studium wurde seine Frau erfolgreiche Anwältin im Silicon Valley, während Cernovich erst neun Jahre nach Ende seines Studiums als Anwalt zugelassen wurde. Cernovich gab zu, dass seine Ex-Frau an der Börse Millionen verdiente und er im Rahmen der Scheidung »siebenstellige« Beträge von ihr erhalten habe, wodurch sich erklären lässt, dass er eine unabhängige Medienkarriere auf bauen konnte. Eine ebenso wichtige Rolle im Milieu spielt der Verschwörungstheoretiker Alex Jones, Gründer der Webseite Infowars, deren Motto lautet: »Es herrscht Krieg um deinen Geist!«. Die Alex Jones Show wird USA-weit im Radio sowie im Netz ausgestrahlt. Er wirft der US-Regierung vor, das Attentat von Oklahoma City, die Anschläge vom elften September sowie die Mondlandung inszeniert zu haben. Als eine Art rechtes Pendant zur antikapitalistischen, globalisierungskritischen Bewegung der Neunziger glaubte er, eine globale Elite habe sich zusammengetan, um eine neue Weltordnung zu schaffen. Das Southern Poverty Law Center beschreibt ihn als den »produktivsten Verschwörungstheoretiker im heutigen Amerika«. Auch wenn man leicht über seinen durchgedrehten Stil lachen kann (beispielsweise zerreißt er in einem Video sein Hemd), verzeichnet sein YouTube-Kanal doch Millionen Zuschauer_innen und dringt langsam in den Mainstream vor. Eine der wenigen strammen Alt-Right-Persönlichkeiten, die sich in Sachen Beliebtheit und Aufmerksamkeit vonseiten der etablierten Medien mit der Alt-Light messen können, ist Richard Spencer, auch wenn sein Aufstieg erst später und teilweise aufgrund des anfänglichen Erfolgs der Alt-Light einsetzte. Er hat den
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Terminus ›Alt-Right‹ geprägt und die dem Film Matrix entliehene Metapher der ›roten Pille‹ in der breiteren Trump’schen Rechten popularisiert. Spencer zufolge liegt eine menschliche ›Rasse‹ »irgendwo zwischen einer Sorte10 und einer eigenen Spezies«; auch vertritt er die Meinung, nicht-weiße Amerikaner_innen sollten im Rahmen einer »friedlichen ethnischen Säuberung« das Land verlassen. Er übte eine gewisse Faszination auf die Medien aus, als nach der Trump-Wahl ans Licht kam, wie hässlich und entsetzlich die Alt-Right tatsächlich war. Das lag zum Teil daran, dass er überraschend jung, wortgewandt und für einen Internet-Faschisten wohlgekleidet, gar ›adrett‹ war – das ist zwar ein bescheidenes Kompliment, doch er ist vom stereotypischen Geek sicherlich weit entfernt. Spencer ist überzeugt, die Alt-Right werde die etablierte, offizielle Politik der USA durch kulturelle Einflussnahme weiter unterwandern. Der erste Schritt solle die Deportation papierloser Einwander_innen unter Trumps Ägide sein, danach sei das Ziel »negative Migration« und schließlich ein weißer Ethno-Staat. Der linksliberalen Zeitschrift Mother Jones sagte er: »Der Konservatismus wird zu meinen Lebzeiten sterben und die Frage ist: Wer wird danach die Rechte definieren? Dieser Jemand will ich sein.« Spencer forschte zu Leo Strauss und schrieb seine Master-Arbeit über Adorno und Wagner, brach dann allerdings seine Promotion an der US-amerikanischen Duke University ab. Man spürt in seinen Schriften und Reden nach wie vor eine Sehnsucht nach einer intellektuelleren, europäischeren Spielart des Blut-und-Boden-Nationalismus; in einem Interview sagte er, er habe früher avantgardistischer Theaterregisseur werden wollen. Er spricht mit tiefer Verachtung über die Vulgarität republikanischer Wähler_innen, die Big Macs mampfen, die US-Konsumkultur lieben, für Bush gestimmt haben, einen Pick-Up besitzen und Kriege gut finden. Sein Schreibstil erweckt den Eindruck von jemandem, der OP-Handschuhe anzieht, bevor er das Haus verlässt.
10 | Engl. kind; bezeichnet z.B. eine Hunderasse (Anm. d. Übers.).
Kapitel 3 – Gramsci und die Alt-Light
Spencer hat für den American Conservative gearbeitet, ein gegen Krieg und gegen das Establishment ausgerichtetes konservatives Qualitätsmagazin, bis er wegen seiner extremen Ansichten gefeuert wurde und zu Taki’s Magazine wechselte, wo er den Begriff ›Alt-Right‹ regelmäßig benutzte. Nachdem Hillary in einer Wahlkampfrede über die Alt-Right gesprochen hatte, bekam Spencer endlich die Aufmerksamkeit der etablierten Medien, besonders vonseiten liberaler, zur Linken tendierender Publikationen wie Vice. In Trump sieht Spencer jemanden, der den Zusammenbruch des US-amerikanischen feministischen Liberalismus beschleunigen wird und bezeichnete ihn nach seinem Wahlerfolg als »Napoleon der heutigen Zeit«11. Als das National Policy Institute, Spencers Organisation, nach der Wahl zum ersten Mal auf Bundesebene zusammenkam, begrüßte Spencer die Menge von etwa dreihundert Menschen mit »Heil Trump, heil unserem Volk, Sieg heil!«, während einige Zuschauer den Hitlergruß machten. Interessanterweise entfachte diese offene Deklaration der AltRight-Trump-Allianz als faschistisches oder zumindest extrem rechtes und rassistisches Projekt den Ärger einiger Alt-Light-Persönlichkeiten wie Mike Cernovich, der Spencer und dessen Anhänger_innen vorwarf, von der Regierung kontrolliert zu werden – angeblich, um jegliche Opposition gegen den etablierten republikanischen Neokonservatismus als faschistisch zu diskreditieren. Cernovich brach damit die Alt-Right-Regel Don’t punch to the right12 , als Aufnahmen von Spencer und seinen Anhänger_ innen in den Medien wie eine Bombe einschlugen. Er putzte die gesamte Riege der weiß-nationalistischen Alt-Right herunter; den
11 | Engl. Napoleon of the current year; Anspielung auf den Alt-RightAusdruck the current year (»das laufende Jahr«), der die vermeintliche liberale Angewohnheit auf die Schippe nimmt, angeblich Unzeitgemäßes in der Form »Das kann man doch nicht ernst meinen! Wir haben schließlich 2017!« abzuwerten; siehe auch Kapitel 5 (Anm. d. Übers.). 12 | Dt. wörtl. »Schlag’ nicht nach rechts«, etwa: »Kritisiere keine rechten Mitstreiter_innen« (Anm. d. Übers.).
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bekannten Antisemiten David Duke beispielsweise bezeichnete er als »verkommenen Spielsüchtigen« und »Betrüger«. Es war der schiere Hass auf ihre Widersacher in den etablierten Medien und der politischen Mitte, der die ungleiche Gruppe junger, rechtsgerichteter social-media-Promis zusammenhielt. Nach Trumps Wahlerfolg und ihrer plötzlichen Mainstream-Medienpräsenz wurden die Brüche und Spannungen im breiteren Alt-Right-Dunstkreis jedoch beinahe augenblicklich deutlich. Das freilich ist ein wohlbekannter Ablauf in der Geschichte von Randbewegungen, die plötzlich Bekanntheit erlangen. Ihre gramscianische Strategie ist bislang erfolgreicher gewesen, als man es hätte voraussehen können, auch wenn der Erfolg in großen Teilen dem Durcheinander eines zerfallenden politischen und medialen Mainstreams geschuldet ist. Niemand kann bestreiten, dass die Alt-Right mit bemerkenswertem Erfolg ihre Ideen durch ihre eigenen alternativen und fast ausschließlich internetbasierten Medienkanäle verbreitet, ohne Unterstützung der klassischen Medien, des politischen Establishments oder anderer Institutionen. So scheint es, dass es die Rechten sind, die in diesen Kulturkämpfen linke Ideen – von Chomskys ›Konsensfabrik‹ zu Gramscis Theorie von Hegemonie und Gegenhegemonie – am stärksten beherzigt und strategisch angewandt haben.
Kapitel 4 – Konservative Kulturkämpfe von Buchanan bis Yiannopoulos Wo lässt sich der mainstreamtauglichste Flügel der Alt-Right – die Alt-Light – mit Blick auf ihre politischen Ideen und ihre Herangehensweisen geschichtlich einordnen? Während des US-Wahlkampfes von 2016 wiederholte Milo Yiannopoulos regelmäßig, er liebe »Daddy« (Donald Trump), weil dieser »der erste wirklich in der Kultur verankerte Kandidat seit Pat Buchanan« sei. Er gab in einem Bloomberg-Porträt zu, er schere sich eigentlich nicht um Politik – was er seither zu verschiedenen Gelegenheiten wiederholt hat –, vielmehr interessierten ihn die kulturellen Auseinandersetzungen, die sie formten. Mir hingegen scheint Politik im vergangenen halben Jahrhundert so sehr ausgehöhlt worden zu sein, dass sie heute auf wenig mehr denn Kultur basiert. Daraus folgt als logische Konsequenz das hässliche Schauspiel des Trump-Hillary-Wahlkampfes: Politik als Kulturkampf. Bloß hatten die Liberalen bis zu Trump und der Entstehung der neuen Netz-Rechten durchschlagende Siege eingefahren. In diesem Politikstil scheint es ganz und gar nebensächlich zu sein, was Politiker_innen tatsächlich tun; vielmehr zählt, welchem kulturellen Lager sie sich zurechnen. In der modernen Politik verzeiht man Liberalen, dass sie für Drohnenangriffe stimmen, solange sie für die Homo-Ehe sind, während die Rechte (etwa in den Reagan- und Thatcher-Jahren) für eine Politik Beifall erntete, die Familien und stabile Gemeinschaften ruinierte, solange man damit den Gewerkschaften eins auswischen konnte. Sowohl auf Yiannopoulos als auch auf seine liberalen Widersacher_innen im Netz, im Grunde zwei rivalisierende Flügel der heutigen Identitätspolitik, würde der Vorwurf, rein kulturelle Politik zu betreiben, nicht besonders abwertend wirken.
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Nichtsdestotrotz ist Yiannopoulos’ Vergleich interessant. Buchanan ist wohl am bekanntesten für seine Rede vor dem Bundesparteitag der Republikaner 1992, in der er einen »Krieg um die amerikanische Seele« verkündete. Mit seiner Beschwörung Buch anans zog Yiannopoulos Parallelen zwischen seinem eigenen Trump-inspirierten Online-Kulturkampf gegen politische Korrektheit und jenem der Neunziger. Buchanans Rede war selbst eine verspätete Reaktion auf den vorigen Kulturkampf der Sechziger und die verheerenden kulturellen Verluste, die Konservative in der Folge zu verzeichnen hatten. Indem er seinen eigenen, hochgradig mediatisierten Krieg gegen die neue Welle der Identitätspolitik, welche die angelsächsische Welt in den letzten Jahren überschwemmt hat, als die heutige Entsprechung zu Buchanans Kampf darstellte, wob Yiannopoulos sich selbst in eine größere historische Erzählung ein. In diesem Narrativ führen er und die neue Trump’sche Troll-Rechte einen weiteren großen Vorstoß an, der den Kulturkämpfen der Sechziger und Neunziger in nichts nachsteht, bloß dass man heute eine jugendlich-coole Netz-Subkultur auf seiner Seite hat. Ob seine Karriere das belastende Interview, in dem er Päderastie verteidigt, überlebt, wird sich zeigen; jedoch ist klar, dass er in den Kulturkämpfen, die jene Jahre vor der Trump-Wahl prägten, eine enorm wichtige Rolle gespielt hat. Wenn wir nun also seine Aussagen und die Reden, die er auf der Dangerous Faggot Tour gehalten hat, mit denen Buchanans vergleichen – wie viel haben diese zwei Kulturkämpfe wirklich gemeinsam? Buchanans Buch The Death of the West hat einen riesigen Einfluss auf die paläokonservativen Ideen ausgeübt, die jenen der markt- und modernisierungsfreundlichen neocons Konkurrenz machen. Er nennt den Neokonservatismus eine »globalistische, interventionistische Ideologie der offenen Grenzen«. In der Zeitschrift American Conservative nahmen er und Gleichgesinnte gegen den Irak-Krieg Stellung und brachten ihre Ablehnung von Internationalismus, freien Märkten und militärischen Interventionen zum Ausdruck. Lange vor Trumps Wahlsieg sprach Buchanan davon, dass die weiße Arbeiterklasse von Natur aus konservativ sei, sprach sich gegen die Globalisierung und neoliberale
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Handelsabkommen aus und propagierte einen weitreichenden Einwanderungsstopp. Während die Ursprünge der neocons im Materialismus der antisowjetischen Linken liegen, betonte Buchanan auch die nicht-materiellen Themen Patriotismus, Nation, Familie, Gemeinschaft und kulturelles Erbe. Mit Vorbehalten unterstützt er Trump: »Die Idee des wirtschaftlichen Nationalismus, das Ende des Globalismus, Amerika im Welthandel zur Priorität machen, die Grenze sichern, eine Nation, ein Volk – ich bin immer noch konservativer Republikaner, aber das ist die neue, größer gedachte Agenda.« Als er gefragt wurde, ob er sich der Alt-Right verbunden fühle, sagte er: »Die sind viel jünger, das sind im Grunde Typen in ihren Zwanzigern, Dreißigern. Ich kenne ein paar Leute, denen das zu viel wurde – die nicht auf Sieg Heil und diesen Kram stehen […]. Die Medien lieben dieses Zeug, sie bekommen nicht genug davon.« Der konservative Kulturkampf der Neunziger hatte versucht, die enormen Landgewinne der kulturellen Linken in puncto Abtreibung, Fördermaßnahmen zugunsten benachteiligter Gruppen (affirmative action), Kunst, Zensur, Evolution, familiäre Werte, Feminismus, Pornografie und westlicher Kanon zurückzudrängen. Buchanans Stil war angriffslustiger als das, was die meisten Republikaner sich zu sagen trauten, und seine brillant verfasste und vorgetragene Kulturkampf-Rede reihte sich in die Riege der wichtigsten Reden der US-Geschichte ein. Sie war eine Verteidigung sowohl Ronald Reagans als auch, da Buchanan selbst die Vorwahlen verloren hatte, George H.W. Bushs. In erster Linie handelte es sich jedoch um einen Aufruf zu einem breiteren Kulturkampf: »In diesem Land spielt sich ein Religionskrieg ab. Es ist ein kultureller Krieg, so entscheidend für die Nation, die wir sein wollen, wie es der Kalte Krieg war, denn in diesem Krieg geht es um die Seele Amerikas.« Der von Yiannopoulos verkörperte rechte Stil steht für die Verknüpfung der ironischen, respektlosen, Tabus zertrümmernden Kultur von 4chan mit der Politik der Rechten; auch wenn von seinen Ansichten, wie seine Gegner_innen aus dem harten Kern der Alt-Right ihm häufig vorwarfen, ohne das Trollen wenig mehr übrig bleibt als klassischer Liberalismus. Obwohl er sich selbst
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als Konservativen bezeichnet, stellen er, Trump, die rechtslastige chan-Kultur und die Alt-Right allesamt einen ziemlich dramatischen Abfall von jenem kirchentreuen, aufrechten, bodenständigen, die Familie hochhaltenden Konservatismus dar, den man im angloamerikanischen Raum für gewöhnlich mit diesem Wort verbindet. Als ein Hervorbrechen des Es, das die Fesseln politisch korrekter Sprache abgeworfen hat, steht die Online-Mentalität unflätigen Kommentarspalten-Trolls näher als Bibelstunden, sie ist mehr Fight Club als Familie, dem Marquis de Sade verwandter als Edmund Burke. Es ist behauptet worden, die Rechte habe den Kampf um die Wirtschaft, die Linke dagegen jenen um die Kultur gewonnen. Und wie der politische Philosoph Walter Benn Michaels ausführt, hat in der Frage nach dem ordnenden Prinzip der angloamerikanischen liberalen Linken, und ganz allgemein des gesellschaftlichen Diskurses, die Anerkennung von Identität über wirtschaftliche Gleichheit triumphiert. Darin stimme ich ihm voll und ganz zu, wobei ich hinzufügen würde, dass der jüngste Aufstieg der Online-Rechten ein Indiz für den Triumph der Identitätspolitik der Rechten sowie für die Zweckentfremdung (aber trotzdem den Triumph) des linken Achtundsechziger-Stils von Transgression und Gegenkultur darstellt. Liederlichkeit, Individualismus, bürgerliches Dandytum, Postmoderne, Ironie und letztendlich Nihilismus – all dies, was die Rechte einst der Linken vorgeworfen hatte, kennzeichnet nun die Bewegung, zu der Milo gehörte. Der Aufstieg von Milos 4chan-Rechten deutet genauso wenig ein Wiederaufleben des Konservatismus an, wie der Aufstieg von Tumblr-Identitätspolitik ein Indiz für das Wiederaufleben der sozialistischen oder materialistischen Linken ist. Wie Andrew Hartman in A War for the Soul of America schreibt, deutet die Beschwörung des untergehenden Sowjet-Kommunismus in Buchanans Rede an, dass nach dem Ende des kalten Kriegs der sowjetische äußere Feind zum bohemienhaften, transgressiven, toleranten inneren Feind geworden ist. Unter Reagans Ägide war der Sieg über die Sowjetunion gelungen, aber wichtiger war nun, so der Duktus der Rede, ein Sieg über die Folgen der
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Sechziger – das eingeschlossen, was Lionel Trilling die ›widerständige Kultur‹ innerhalb der westlichen Kultur nennt. Die Sechziger waren Konservativen wie Buchanan schmerzhaft als die Zeit in Erinnerung geblieben, da die Gegenkultur den Bohème-Stil der Beat Generation in den Mainstream trug und von Paris bis Kalifornien Studentenaufstände ausbrachen. Trillings Idee der ›widerständigen Kultur‹, welche die Rechte zu jener Zeit beschäftigte, bezeichnet eine politische oder intellektuelle Kultur, die auf die Gegnerschaft zur und Unterwanderung der existierenden Ordnung sowie auf die Zerschlagung des Alten aus ist, oft durch Respektlosigkeit und Grenzüberschreitung um ihrer selbst willen, später dann auch in der respektableren Welt der Universitäten. Auch wenn der Begriff heute die universitäre Übernahme im Nachgang der Sechziger bezeichnet, so hat er doch auffällige Ähnlichkeiten zu Beschreibungen von Yiannopoulos (er sei transgressiv und subversiv, sage es, ›wie es ist‹, decke Lügen auf usw.) – und das, obwohl er selbst die Universitäten als das Kernproblem des gegenwärtigen kulturellen Liberalismus identifiziert hat. Viele intellektuelle Schlüsselfiguren der Sechziger interessierten sich für eine Geisteshaltung, die später die respektlose, politisch inkorrekte Online-Rechte auszeichnen sollte: Nonkonformismus. In seinem Buch White Collar: The American Middle Classes stellte C. Wright Mills die Nachkriegs-USA als dystopischen eisernen Käfig des Konformismus dar. Seine Leser_innen erdachten in der Folge eine Alternative bzw. ein Gegenmittel – eine Gegenkultur aus Nonkonformismus, Individualismus und Rebellion. Ein weiterer enorm einflussreicher antikonformistischer Denker jener Zeit, Paul Goodman, vertrat Antiautoritarismus, experimentelle Psychologie und die Ablehnung gesellschaftlicher Einschränkungen und Tabus in Aufwachsen im Widerspruch: Über die Entfremdung der Jugend in der verwalteten Welt. Mit den ›Beats‹ war eine Antipathie gegen Pflicht, Arbeitsethik, die bürokratische Zwangsjacke, den ›mit der Firma verheirateten‹ Anzugträger, das Spießige aufgekommen, die mit der Anti-Kriegs- und Studentenbewegung zur Neuen Linken verschmolz. Auch ist bezeichnend, dass die US-Regierung sich im Rahmen des Kulturkampfes gegen den Kommunismus später selbst bei
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der gegenkulturellen Ästhetik des Anti-Konformismus bediente – was die ständigen ›Kulturmarxismus‹-Vorwürfe seitens der Trump’schen Netz-Rechten in Perspektive rücken sollte. Durch den Kongress für kulturelle Freiheit (CCF), eine insgeheim vom CIA finanzierte Kulturinitiative, nutzten die antikommunistischen Liberalen des Kalten Kriegs Nonkonformismus, künstlerischen Ausdruck und Individualismus, um der kollektivistischen, konformistischen, produktionsorientierten und restriktiven Sowjetunion etwas entgegenzusetzen, die nach wie vor den gleichförmigen, antiindividualistischen Prä-Sechziger-Kulturformen wie Armeechören, Marschkapellen, Orchestern und Ballett huldigte. Als Buchanan 1992 seine Rede hielt, war der Kalte Krieg vorbei; das wirtschaftliche Programm der westlichen demokratischen Linken hatte während der Reagan- und Thatcher-Jahre eine katastrophale Niederlage erlitten. In der US-amerikanischen Neuen Linken hatte sich mittlerweile das kulturelle Projekt der gesellschaftlichen und moralischen Freizügigkeit, der Transgression und des Nonkonformismus durchgesetzt. Wie sich herausstellte, koexistierte dieses recht behaglich mit dem rücksichtslosen marktwirtschaftlichen Programm der Rechten – eine Verschmelzung, die am vollständigsten in der Blair/Clinton-Ära zum Ausdruck kam, als eine nonkonformistische kulturelle Geste noch eine Vielzahl ökonomischer Sünden überdecken konnte. Die Online-Kulturkämpfe der letzten Zeit haben auf der Linken wie auf der Rechten viele Gräben wieder aufgerissen. Die AltRight erachtet heutige Anti-Trump-Konservative als cuckservatives. Die altmodische christliche Rechte wie auch die neocons sind der Alt-Right insofern verhasst, als sie es angeblich nicht schaffen, die Nation aggressiv genug zu beschützen – sie seien zu höflich, um Feminismus, Islamisierung, Masseneinwanderung und so weiter zu besiegen. Es besteht ein krasser Kontrast zwischen Milo verehrenden, vulgären ›Pepe‹-Verbreitern und Leuten wie dem konservativen britischen Kolumnisten Peter Hitchens, der über Trump Folgendes schrieb: »Dieser Hallodri, dieser Rüpel, dieser Grapscher, ein Mann, der seiner Gegenspielerin mit Gefängnis gedroht hat – der kann doch wohl kaum bald im Weißen Haus wohnen? […] Ich verabscheue Trump für seine Derbheit,
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seine Ungehobeltheit und seine Verachtung für Sitten, Tradition und Gesetz.« In dieser Hinsicht steht Trump den Werten Yiannopoulos’ und der rechten Online-Trolle näher als dem Konservatismus oder etwa dem Magazin National Review, gegründet von William F. Buckley, das sich gegen ihn ausgesprochen hat. Im Laufe des Wahlkampfes gaben sich Konservative aus verschiedensten Lagern unter dem Motto Never Trump als Trump-Gegner_innen zu erkennen. Um diese Grabenkämpfe zu verstehen, sollte man sich vergegenwärtigen, dass sich nach der US-Kulturrevolution der Sechziger nicht etwa die altmodischen Konservativen (deren gesamte Lebenseinstellung als hoffnungslos spießig und unmodern galt) der kulturellen Linken erfolgreich entgegenstellten, sondern die intellektuell und rhetorisch weit beschlageneren Neokonservativen. Im Magazin Partisan Review, ebenfalls ein Projekt des antikommunistischen CCF, findet sich ein Essay von Norman Podhoretz über »die ahnungslosen Bohemiens«. Darin beschreibt er »die Verehrung von Primitivismus und Spontaneität in der Beat-Generation«, in welcher sich eine Lust ausdrücke, »diese unbegreiflichen Leute auszurotten, die fähig sind, sich ernsthaft einer Frau, einer Arbeit, einer Sache hinzugeben«. Wie Hartman in seinem Buch beleuchtet, waren viele der frühen neocons jüdische Intellektuelle aus New York, die in den Dreißigern über das City College of New York (CCNY) in die Politik gekommen waren. Dies waren aufgeweckte, oft aus der Arbeiterklasse stammende jüdische Studierende, die als Trotzkisten begonnen und ihren Debattierstil im Alkoven Nummer 1 der CCNY-Cafeteria gelernt hatten, wo sie mit den Moskau-treuen kommunistischen Studierenden aus Alkoven Nummer 2 stritten. Im Zuge ihres späteren Rechtsrucks arbeiteten sie für die Magazine Commentary und Encounter, wobei letzteres der literarische Arm des CCF wurde. Dieser Zeitraum brachte Publizist_innen und Polemiker_innen wie Gertrude Himmelfarb und Irving Kristol hervor. Hartman schreibt ebenfalls, dass sie »geistige Gewohnheiten entwickelten, die nie verkümmerten«, selbst als sich nach rechts orientierten, wie etwa »schlagfertigen Geist, dramatische
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Deklarationen und Misstrauen gegenüber linker Dogmatik. Sie behielten ihren marxistischen Stil bei, Probleme in Bezug auf zugrunde liegende Ursachen, Eigenlogik und strukturellen Überbau zu diagnostizieren.« Ihre trotzkistische Vergangenheit gab ihnen die intuitive Fähigkeit, die Dogmatik der Linken auf eine Art zu kritisieren, die den etablierten Kirchgänger-Konservativen verschlossen blieb. In ähnlicher Weise ist Milos ›trollige‹ Rechte heute fähig, die neue Online-Identitätspolitik auf eine Art zu bekämpfen, die tatsächlichen Konservativen verschlossen bleibt. Sie begreifen den Wert von Transgression, Ausgefallenheit, Hipness und Gegenkultur oft besser als ihre linken Gegenspieler. Ob eine politische Bewegung als links oder rechts eingestuft wird, hängt im angelsächsischen Kulturkampf-Diskurs von einem politischen Kompass ab, der schon seit Längerem im Begriff ist, sich neu auszurichten, neu zu denken und neu zu begründen. Insbesondere Klassenpolitik und Sozialliberalismus haben nicht immer einwandfrei harmoniert, genauso wenig wie Sozialkonservatismus und freie Marktwirtschaft – bis die neocons an die Macht kamen und diese Formel perfektionierten. Wie Hartman uns erinnert, haben christliche Politiker_innen wie William Jennings Bryan Sorge um die Familie mit Kapitalismuskritik vereint, während vor den Sechzigern radikale Anhänger_innen des amerikanischen »Prärie-Populismus«1 sich gegen Konzernmonopole und Vetternwirtschaft organisierten. Eine große Zahl von Arbeiter_innen trat in Reaktion auf die Große Depression Gewerkschaften bei. Transgressive und kulturradikale Ideen waren für diese Linken der Arbeiterklasse weitestgehend irrelevant. In der Port-Huron-Erklärung von 1962, dem Manifest der Studentenvereinigung Students for a Democratic Society, findet sich eine ganz andere Art von Botschaft: »Wir sind Teil dieser Generation. Wir sind in zumindest bescheidener Bequemlichkeit groß geworden und momentan in Universitäten untergebracht. Wir blicken mit Unbehagen auf die Welt, die wir erben.« Im Präsidentschafts-
1 | Populäre Bewegung in einigen Staaten des amerikanischen Mittleren Westens Ende des 19. Jahrhunderts (Anm. d. Übers.).
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wahlkampf von 1972 weigerte sich der Gewerkschafts-Dachverband American Federation of Labor and Congress of Industrial Organizations, den demokratischen Kandidaten McGovern zu unterstützen, weil er sich in ihren Augen an die Identitätspolitik verkaufte. Dies lag an der New Politics der Partei, die Gruppenidentitäten in den politischen Vordergrund rücken und von der maßgeblichen Bedeutung der ökonomischen Ungleichheit wegführen sollte. Herbert Marcuse, Denker der Neuen Linken, stellte währenddessen die Frage, »ob eine Revolution denkbar ist, wo das dringende Bedürfnis nach Revolution nicht mehr vorliegt«. Ein solches sei »sehr verschieden von den dringenden Bedürfnissen nach Verbesserung der Arbeitsbedingungen, nach mehr Gütern, mehr Freizeit, Freiheit und Befriedigung im Bestehenden. Warum soll der Umsturz des Bestehenden eine Lebensnotwendigkeit für diejenigen sein, die innerhalb des Bestehenden ein eigenes Haus, Automobil, Fernsehgeräte, ausreichend Kleidung und Nahrung besitzen oder zumindest darauf hoffen können?« Marx hatte prophezeit, dass der Kapitalismus zur Verelendung führen würde, also sei das städtische Industrieproletariat dazu bestimmt, die revolutionäre Klasse zu stellen. In der Wohlstandsgesellschaft scheinen jedoch, so Marcuse, die beiden großen historischen Kräfte der modernen Welt, die Bourgeoisie und das Proletariat, »nicht mehr die Träger historischer Umgestaltung zu sein«. Viele, die diese Ansicht teilten, befanden, dass die Arbeiterklasse nicht mehr revolutionär, sondern vielmehr reaktionär und kulturkonservativ sei, während die identitären Bewegungen entlang der Trennlinien race, Gender und Sexualität radikaler wurden denn je. An den Universitäten führte der cultural turn zu einer radikalen Zäsur in der Forschung, wodurch die Kultur ins Zentrum der Gegenwartsdebatte rückte. Das bedeutete auch eine Verschiebung des Hauptaugenmerks hin zu ›Sinn‹ und weg von einer positivistischen Epistemologie, der es um objektive Wahrheit ging. Zeitweiligen Versuchen zum Trotz, die antipostmoderne Sprache echter Konservativer zu bemühen, sind Milo und seine 4chan-Troll-Fans in vieler Hinsicht der perfekte postmoderne Nachwuchs: Jede Aussage ist in Schichten von Pseudo-Ironie,
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Wortspielerei und mehrdeutigen kulturellen Anspielungen und Bezugnahmen gehüllt. Yiannopoulos’ Hauptgegner zu Zeiten seiner Beliebtheit in den USA war in erster Linie der Feminismus. So erregte er Aufmerksamkeit, als er auf Twitter ein Quiz erstellte, in dem er seine Follower_innen fragte, ob sie lieber (a) Feminismus oder (b) Krebs hätten. Später schrieb er sich das Motto Feminism is cancer auf die Fahnen, welches auch als T-Shirt-Kollektion erhältlich war. Er beschreibt Feminist_innen gerne als dick und, seine Lieblingsbeleidigung, »lesbianisch«. Hier würden Buchanan und er wohl auf einen gemeinsamen Nenner kommen, aber Buchanan und seine Mitstreiter hielten die Befreiung der Frau und die Befreiung der Schwulen für ein und dieselbe Seuche. Dieser doppelte Feind stach in Buchanans Rede als Maßstock des moralischen Niedergangs der US-Gesellschaft heraus. Da er Hillary Clinton anstatt als tief im Establishment verwurzelte Baby-Boomerin fälschlicherweise als Radikale einschätzte, griff er sie ebenso an wie Bill: Dies, Freunde, ist radikaler Feminismus. Das Programm, das Clinton & Clinton Amerika überstülpen würden – Abtreibung auf Nachfrage, ein echter Prüfstein für den Obersten Gerichtshof, Rechte für Homosexuelle, Diskriminierung gegen religiöse Schulen, Frauen in Kampfeinheiten – es stimmt schon, das ist Wandel. Aber das ist nicht der Wandel, den Amerika braucht. Das ist nicht der Wandel, den Amerika will. Und das ist nicht der Wandel, den wir in einer Nation zulassen können, die wir nach wie vor God’s country nennen.
Als die Aids-Krise einschlug, schrieb Buchanan: »Die armen Homosexuellen – sie haben der Natur den Krieg erklärt und jetzt übt die Natur grausam Vergeltung.« Der Stonewall-Aufstand 2 von 1969 und die darauf folgende Gründung der Gay Liberation Front hatten den Sex- und Geschlechterdiskurs in der westlichen Kultur tiefgreifend verändert, was Konservative tief bedauerten.
2 | Serie von gewalttätigen Zusammenstößen zwischen Homo- und Transsexuellen und der Polizei in New York (Anm. d. Übers.).
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Milo war Teil einer Bewegung gegen überbehütete Studierende; als Campusuniversitäten von ihrer Politik, sich in loco parentis für die Jungfräulichkeit ihrer Studierenden verantwortlich zu fühlen, Abstand nahmen, bedeutete dies eine riesige Niederlage für das konservative Establishment jener Zeit. Das Gutheißen von Homosexualität war Teil einer weitaus breiteren sexuellen Lockerung, die sowohl Milo als auch seine gender-fluiden Feinde auf Tumblr nach wie vor, wenn auch auf unterschiedliche Weisen, beeinflusst. 1966 berichtete Time über die Sexual Freedom League3, 1972 kam Alex Comforts illustrierter Bestseller Die Freude am Sex heraus. Norman O. Brown, Philosoph der sexuellen Revolution, behauptete, wir hätten uns, indem wir unseren Wunsch nach »polymorpher Perversität« verdrängten, fälschlicherweise für Freuds ›Zivilisation‹ entschieden. Auch wenn Milo schwule Männer feiern und gleichzeitig den Feminismus kleinreden will: Die Befreiung von Frauen und Schwulen spielt im Narrativ des Niedergangs westlicher Zivilisation eine große Rolle. Die Besessenheit, mit der die Alt-Right einen solchen proklamiert, folgt einer alten konservativen Denkrichtung, die sich bei Büchern wie Edward Gibbons The History of the Decline and Fall of the Roman Empire bediente, einem Werk aus dem achtzehnten Jahrhundert, das den Zusammenbruch Roms mit sexueller Dekadenz verknüpft. Das von Milo hoch verehrte Werk Camille Paglias befasst sich mit demselben Kausalzusammenhang zwischen Homosexualität, Promiskuität, gender fluidity und dem Niedergang von Zivilisationen. Ähnlich argumentierte die neocon Gertrude Himmelfarb, auf bauend auf ihren Forschungen zum viktorianischen Großbritannien, dass die westliche Zivilisation den Sturm der Moderne nur aufgrund ihrer viktorianischen Werte überstanden habe, welche in den Sechzigern unter der Schwulenbefreiung und der sexuellen Revolution zusammengebrochen seien.
3 | 1963 in New York gegründete Organisation, die sexuelle Freiheit und laxere Abtreibungs- und Zensurgesetze propagierte (Anm. d. Übers.).
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Yiannopoulos spielte in seinen Reden regelmäßig auf Parties und Alkohol, zuweilen auch auf Drogenkonsum an. Er hält kaum ein paar Sätze durch, ohne seine Homosexualität, Analsex-Witze und eine angebliche Vielzahl von schwarzen Liebhabern und Partnern zu erwähnen. In seinem Podcast witzelte er im Gespräch mit Alt-Right-Autorin Ann Coulter, ihm habe die Vorstellung gefallen, mit schwarzen Drogendealer-Liebhabern im Bett erwischt zu werden, als er sich gegen seine Eltern auflehnte. In einer seiner Campusreden verkleidete er sich burlesk als Sadomaso-Polizist – samt Penis-Requisiten –, um gegen Black Lives Matter zu protestieren. Als Antwort auf Kritik an seinen absichtlich grausamen Mobbing-Attacken tat er diese mit einem Achselzucken als Beispiele für das herrlich zickige Verhalten schwuler Männer ab. Auch 4chan ist eher ein Produkt der sexuellen Revolution als des Konservatismus. Von Anfang an wimmelte es dort nur so von bizarren hardcore-pornografischen Bildern und Gesprächen – schwul, hetero, transgender und alles dazwischen; insgesamt herrscht eine Kultur der genüsslichen Überschreitung aller sexualmoralischen Normen. Nach dem islamistischen Massaker in einem Schwulenclub in Orlando, Florida 2016 reiste Yiannopoulos dorthin, um zu einer trauernden Menge zu sprechen. Er nutzte den Moment nicht nur, um sich gegen die Einwanderung von Muslimen auszusprechen, sondern auch für Waffenbesitz – ein vielleicht strategisch gewähltes typisch US-amerikanisches Thema, das britischen Konservativen sonst recht egal ist. Die Causa pro Waffen gefällt natürlich der Rechten, aber Yiannopoulos bezieht sich hier auch auf ›Negroes with Guns‹, Robert F. Williams radikalen Ruf zu den Waffen, der die Black Panthers und andere schwarze militante Selbstverteidiger_innen prägte. Auch sagte Milo in seinem Podcast, dass es das ›Punkigste‹ überhaupt sei, zur Messe zu gehen, und wie langweilig es sei, dass Schwule als Teil der etablierten Gesellschaft akzeptiert würden. Im Online- und Campus-Kulturkrieg, den Yiannopoulos führte, betrachtete man Schwule nicht länger als Vorboten des Untergangs; vielmehr richtete der anklagende Finger sich auf Fe-
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minismus und Multikulturalismus. Yiannopoulos stellte Schwule ganz im Gegenteil mithilfe typisch rechter Ideen als Erlöser der Zivilisation dar. Auf seiner Campustournee behauptete er, Schwule seien genetisch vorherbestimmt, die leistungsstarken Beschützer des Westens gegen Feminismus und Islam zu sein. Viele Konservative, die jahrzehntelang die Schwulenbewegung bekämpft hatten, unterstützten mit einem Mal Milos theatralische Ungeheuerlichkeiten im Namen einer Einheitsfront gegen den gemeinsamen Feind. Als er schließlich seine Funktion erfüllt hatte – nämlich jungen Rebellen die Rechte schmackhaft zu machen –, erwiesen sich seine ungeheuerlichen Sex-Kommentare und sein geschmackloses Benehmen als zu große Belastung. Anders als Milo und dessen Anhänger_innen befürwortete Buchanan auch Zensur, besonders von Pornografie. In seiner Kulturkampf-Rede sagte er: »Wir stehen an Präsident Bushs Seite für das Recht von Städten und Gemeinden, die Kloake der Pornografie, die unsere Populärkultur so schrecklich verschmutzt, zu kontrollieren.« Man kann sich kaum etwas vorstellen, was weiter vom Redefreiheit-Absolutismus, den vulgären schwarzen Analsex-Witzen und der Verteidigung der Pöbelei gegen »die Mimosen« durch Yiannopoulos’ schrille Kunstfigur sowie von seinem kosmopolitischen, multikulturellen Hintergrund entfernt wäre. Er selbst räumt diese Unterschiede ein: Die Alt-Right ist für mich in erster Linie eine kulturelle Reaktion darauf, wie die progressive Linke Leuten den Mund verbietet und Sprachpolizei spielt, auf ihren Autoritarismus – auf den Schwitzkasten, in dem sie die Kultur hält. Es ist in erster Linie – wie Trump es ist und wie ich es bin – eine Reaktion gegen das, was die progressive Linke heute tut und die religiöse Rechte in den Neunzigern getan hat: überwachen, was man denken und sagen darf, wie man Meinungen ausdrücken kann.
In den Kulturkriegen, die Yiannopoulos beschwört, waren Buchanan und die Rechte tatsächlich die größten Anti-Redefreiheit-»Mimosen«. Zugleich führten Andrea Dworkin und Catharine Mac Kinnon die feministische Bewegung für Pornografie-Zensur an. Der Gegenschlag gegen den Feminismus in den Achtzigern und
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Neunzigern trug auch deshalb Früchte, weil es sich um eine Koalition mit den historisch dem Untergang geweihten Moralkonservativen handelte. Gemeinsam trat man gegen die wachsende sexuelle Freizügigkeit in der westlichen Kultur an. In seiner Show The Firing Line stimmte William F. Buckley Andrea Dworkin zu, dass Pornografie verboten werden müsse. Wenn man sich vorstellt, wo Milo sich im Kontext der berüchtigten Fernsehduelle aus dem Präsidentschaftswahlkampf von 1968, wo William F. Buckley mit Gore Vidal debattierte, politisch verorten würde, so stünde er wohl Vidal näher, dessen Libertinismus und spitzbübische schwule Redeweise Buckley so anwiderte. Die Alt-Right beschreibt sich selbst als Reaktion auf den etablierten US-Konservatismus, indem sie eine ›tiefe Kontinuität‹ zwischen der Buckley-Bewegung und den neocons postuliert. Auch hat Spencer die Linke zur Rechten und die Alt-Right zur »neuen Linken« erklärt sowie gesagt: »Wir sind die, die das Unmögliche denken. Wir sind die, die das Undenkbare denken.« Das Radix Journal etwa bedient sich bei der Idee der ›Vierten Politischen Theorie‹, wobei auf den russischen Theoretiker Aleksandr Dugin und den französischen Neuen Rechten Alain de Benoist Bezug genommen wird.4 Dies stelle eine völlig neue politische Ideologie dar, die liberale Demokratie, Marxismus und Faschismus zusammenbringe und überwinde. Auch Rechte wie Peter Brimelow und John Derbyshire, die sich von der konservativen Bewegung ausgeschlossen fühlen, gehören zur Alt-Right. Wie Kevin DeAnna in seinem einflussreichen Pro-Alt-Right-Essay The Alternative Right and the impossibility of conservatism erklärt, stellt sich diese in erster Linie gegen etablierten politischen Konservatismus. Anders als das burkeanisch-konservative Ethos, dem es um die Schaffung von Institutionen und das Bewahren von Traditionen ging, ist die Alt-Right weniger daran interessiert, Neues zu
4 | Vgl. Alexander Dugin: Die Vierte Politische Theorie, 2009 im russischen Original veröffentlicht. Der wichtigste Verlag für Alt-Right-Literatur, Arktos Media mit Sitz in Budapest, brachte 2012 bzw. 2013 Übersetzungen ins Englische und Deutsche heraus (Anm. d. Übers.).
Kapitel 4 – Konser vative Kulturkämpfe von Buchanan bis Yiannopoulos
schaffen, als vielmehr daran, Altes zu zerschlagen – insbesondere einige der liebsten Grundsätze des US-Konservatismus, etwa die Lehre von der Ausnahmerolle der USA. Dies ist die auf Alexis de Tocquevilles Über die Demokratie in Amerika zurückgehende Vorstellung, dass die Vereinigten Staaten auf einer Idee anstelle einer in ›Blut und Boden‹ verankerten nationalen Identität fußten. Blogeinträge wie America is not an idea von Vox Day oder Ideas Didn’t Build America auf The Right Stuff 5 sowie die vielen Texte zum ›Mythos Ideen-Nation‹ (›proposition nation myth‹) auf VDARE6 schlagen alle in die gleiche Kerbe. Letzten Endes gehörte Buchanan zu den paleocons, die Trump den Rücken stärkten, und damit zu den vielen, die Yiannopoulos und den Großteil dessen, wofür er stand, vormals verabscheut hatten, sich dann aber umentschieden und auf den fahrenden Zug aufsprangen – und damit nicht bloß auf Trump, sondern auch auf die respektlose Online-›Punk‹-Rechte setzten. Nachdem sie Buchanans konservativen Kulturkampf verloren hatten, rechneten sie sich aus, dass ihnen nur eine Chance blieb, zumindest mit einem Teil ihrer Ideen noch einmal Gehör zu finden: Diese bestand darin, einen Frauen begrapschenden, lüsternen, gottlosen Präsidentschaftskandidaten und eine Freigeistfigur wie Yiannopoulos und dessen Online-Heer rassistischer, vulgärer, Porno-verliebter Nihilisten zu unterstützen, die in vieler Hinsicht für all das stehen, was Menschen wie Buchanan normalerweise ablehnen – und aus strategischer Sicht lagen sie damit möglicherweise richtig. Der Aufstieg von Milo, Trump und der Alt-Right ist kein Indiz für eine Rückkehr des Konservatismus, sondern für die absolute Vorherrschaft der Kultur des Nonkonformismus, der Selbstdarstellung, der Transgression und der Respektlosigkeit als Selbstzweck – eine Ästhetik, die jenen nützt, die an nichts 5 | Von Mike Peinovich gegründeter rechtsextremer, antisemitischer Blog, auf dem z.B. der Podcast The Daily Shoah zu finden ist (Anm. d. Übers.). 6 | US-amerikanische Webseite, laut Selbstbeschreibung »Erster Nachrichtenkanal für patriotische Einwanderungsreform«, die US-Rechtsextremen sowie der Alt-Right nahesteht (Anm. d. Übers.).
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außer der Entfaltung des Individuums und des Es glauben, ob sie sich nun links oder rechts verorten. Die prinzipienfreie Idee der Gegenkultur ist nicht verschwunden; sie ist bloß zum neuen Stil der Rechten geworden.
Kapitel 5 – Von Tumblr zu den Campus-Kriegen: Knappheit schaffen in der Tugend-Ökonomie
Es gibt viele mögliche Erklärungen dafür, dass bei einer jüngeren Generation ein neues rechtes Lebensgefühl entstanden ist, das die Grenzen des Sagbaren weiter nach rechts verschoben hat, als irgendjemand es sich hätte vorstellen können. Eine lautet, dass sich diese Weltsicht, lange bevor sie an Universitäten, auf Twitter oder auf YouTube zur Oberfläche aufstieg, als Gegenentwurf zur neuen Identitätspolitik auf Portalen wie Tumblr entwickelte. Letztere versuchte, die Kultur nach links zu verschieben, indem sie die Rechte für bestimmte Aussagen brandmarkte, zugleich jedoch bei Themen wie race und Gender den Diskurs-Rahmen auf der Linken ausweitete, wodurch antimännliche, antiweiße, antiheterosexuelle und Anti-Cisgender-Rhetorik auf der kulturellen Linken zunehmend normal wurden. Die liberale Online-Kultur à la Tumblr war genauso erfolgreich darin, Randideen in den Mainstream zu verhelfen, wie es die heutige Netz-Rechte ist. Verglichen mit der schockierenden Pietätlosigkeit der chan-Kultur war sie ultra-sensibel, jedoch ebenso subkulturell und radikal. In der Folge der Trump-Wahl zeigten sich die Risse in der breiteren ›Linken‹ deutlicher denn je. Insbesondere die Animositäten und tieferen philosophischen Unterschiede zwischen der liberalen und der materialistischen Fraktion schlugen sich in Form von in beide Richtungen fliegenden Beleidigungen nieder. Beide Seiten waren verbittert, weil Hillary verloren hatte bzw. ›Bernie gewonnen hätte‹. Die Sozialisten wurden als brocialists und arrogante ›weiße Typen‹ abgestempelt; sie schlugen zurück, indem
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sie der moralisierenden, demonstrativ soziopolitisch engagierten (›woke‹) Tumblr-Identitätspolitik vorwarfen, die Linke kaputtgemacht zu haben. Neben brocialists und Berniebros bekam dieses Milieu auch den Namen Alt-Left. Es lohnt sich, diesen Bruch innerhalb ›der Linken‹ hier nachzuzeichnen und die Kultur linker Identitätspolitik im Netz näher zu beschreiben, die ebenso einflussreich, diffus, auf verschiedenen Plattformen beheimatet und ständig im Wandel begriffen ist wie ihr rechtes Pendant. Das Mainstream-Nachrichtenpublikum war verblüfft, als Facebook 2014 verkündete, es böte seinen Nutzern nunmehr über fünfzig Gender-Optionen zur Auswahl an. Um diese Zeit herum brachen auch die Campus-Kriege um safe spaces, Trigger-Warnungen, Redeverbote und Gender-Pronomen aus. Der social-media-Konzern nahm damit allerdings lediglich einen Impuls aus seit Jahren lebendigen Netz-Milieus und den damit verbundenen jugendpolitischen Subkulturen auf. Diese neue Kultur (die Rechten tauften sie ›SJWs‹ und ›Schneeflocken‹ – ich schlage ›Tumblr-Liberalismus‹ vor) befasste sich in der Hauptsache mit gender fluidity und der Schaffung einer sicheren Umgebung, wo Themen wie psychische Probleme, körperliche Behinderung, race, kulturelle Identität und ›Intersektionalität‹ (der mittlerweile standardmäßige akademische Begriff für die Anerkennung sich in verschiedenen Konstellationen kreuzender Marginalisierungen und Unterdrückungsmuster) erkundet werden konnten. Die Wurzeln dieses politischen Lebensgefühls liegen an den Universitäten und im Aktivist_innen-Milieu. Dass es im Mainstream ankam und Hillary Ausdrücke wie ›Check your privilege!‹ und ›Intersektionalität‹ verwendete, stellte den Höhepunkt jahrelanger Entwicklung auf Tumblr, in Fan-Kulturen, auf früheren Plattformen wie LiveJournal und in diversen sozialen Medien dar. Zur Entstehung dieses umfassenden politischen und ästhetischen Werte-Kosmos mit eigenem Vokabular und Stil – ganz und gar das Spiegelbild rechter 4chan-Kultur – lassen sich verschiedene Entwicklungsfäden zu einer Vielzahl von Online- und Offline-Quellen zurückverfolgen. Tumblr war aber zweifellos entscheidend. Hier erreichte die von Walter Benn Michaels kritisierte liberale Prioritätensetzung der »Anerkennung von Vielfalt vor
Kapitel 5 – Von Tumblr zu den Campus-Kriegen
ökonomischer Ungleichheit« ihre aberwitzigste Apotheose, nämlich eine auf die Details und Abstufungen sich rasch vermehrender Identitäten und die durch systemische kulturelle Vorurteile zugefügten emotionalen Wunden gründende Politik. Ihre Ziele waren symbolische repräsentative Vielfalt und Anerkennung, während sie vermeintlichen Aggressoren vorwarfen, ihre Identität ›auszulöschen‹, und Weiße/Heteros/Männer/Cis aufforderten, ›zuzuhören‹ und zu ›glauben‹. Insbesondere die konservative Presse bezeichnet die Akademiker-Millennials, die auf den Aufstieg der Online-Kultur folgten, gern als ›Generation Schneeflocke‹. Tumblr war ihre Vorhut. »Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es«, schrieb 1949 die französische Feministin und Philosophin Simone de Beauvoir. 1990 dachte Judith Butler dies in Das Unbehagen der Geschlechter um mehrere Schritte weiter – oder nahm es vielleicht wörtlicher. Sie argumentierte, die Kategorien Geschlecht, Gender und Sexualität würden zur Gänze durch die Wiederholung stilisierter und kultivierter leiblicher Handlungen kulturell konstruiert, wodurch der Anschein eines essentiellen, ontologischen ›Kern‹-Geschlechts entstehe. In den frühen 2010er Jahren hatte Tumblr Butlers Theorie in die Tat umgesetzt und eine umfassende subkulturelle Sprache inklusive typischen Slogans und einem eigenen Stil erschaffen. Die Kulturpolitik auf Tumblr kreiste um fluide Identitäten, insbesondere, wenn auch nicht ausschließlich, um Gender. Sie war der subkulturelle, digitale Ausdruck von Judith Butlers Ideen. Über Jahre füllte sich die Seite mit Geschichten junger Leute, die über das gänzlich sozial konstruierte Wesen von Gender und die möglicherweise grenzenlose Auswahl an Gendern diskutierten, mit denen eine Person sich identifizieren oder zwischen denen sie sich bewegen könne. Es folgen einige direkt von Tumblr zitierte Einträge aus der ständig wachsenden Liste von Geschlechtern, mittlerweile hunderte Einträge lang: Alexigender: zwischen mehr als einem Geschlecht fluide Genderidentität, doch die Person kann nicht sagen, was diese Gender sind.
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Ambigender: das Gefühl zweier Geschlechter zugleich, aber ohne Fluidität/Wechsel. In manchen Fällen bedeutungsgleich mit Bigender. Anxiegender: ein Geschlecht, das von Angst betroffen ist. Cadensgender: ein Geschlecht, das sich leicht von Musik beeinflussen lässt. Cassflux: wenn die Gleichgültigkeit gegenüber dem eigenen Geschlecht fluktuiert. Daimogender: ein Dämonen und dem Übernatürlichen stark verbundenes Geschlecht. Expecgender: ein Geschlecht, das sich ändert, je nachdem, in wessen Gesellschaft man sich befindet. Faegender: ein Geschlecht, das sich mit den Jahreszeiten, Sonnenwenden und Mondphasen ändert. Fissgender: ein Geschlecht, das in irgendeiner Weise geteilt ist, Bigender oder Demigender ähnlich. Genderale: ein Geschlecht, das schwierig zu beschreiben ist. Hauptsächlich mit Pflanzen, Kräutern und Flüssigkeiten verknüpft. Kingender: ein Geschlecht, das mit einer otherkin-Identität verknüpft ist. Levigender: ein leichtgewichtiges, oberflächliches Geschlecht, das man nicht stark spürt. Necrogender: ein Geschlecht, das einmal existiert hat, jetzt aber ›tot‹ oder nicht-existent ist. Omnigay: wie gender-fluid, wobei man sich zu anderen Geschlechtern je nach eigenem Geschlecht hingezogen fühlt, sodass die Person sich immer zu dem je eigenen Geschlecht hingezogen fühlt. Perigender: sich mit einem Geschlecht identifizieren, dies aber nicht als binäres Geschlecht oder Teil eines solchen. Polygenderflux: mehr als ein Geschlecht haben, dessen Intensität fluktuiert. Technogender: fühlt sich nur online bzw. beim Benutzen von Technologie mit seinem Geschlecht wohl, meist aufgrund von Sozialphobie (speziell für Menschen mit Angststörungen). Xoy: jemand, der sich in irgendeiner Weise als nonbinärer Junge fühlt. Xirl: jemand, der sich in irgendeiner Weise als nonbinäres Mädchen fühlt.
Diese Geschlechterorientierungen auf Tumblr sind einer anderen Online-Subkultur eng verwandt, auf die sie sich auch häufig
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direkt beziehen: otherkin. Hierbei handelt es sich um eine Subkultur von Menschen, die sich, der Wikipedia-Definition zufolge, »teilweise oder gänzlich nicht-menschlich« fühlen, als Fabelwesen, Gestalten aus Fantasy oder Populärkultur wie z.B. »Engel, Dämonen, Drachen, Elfen, Feen, Kobolde und Zeichentrickfiguren«. Manche behaupten, in der Lage zu sein, ihre »Astralform zu wechseln«, sich also als ein anderes Wesen zu fühlen, ohne sich physisch zu verändern. Freilich nehmen, wie in jeder Online-Kultur, viele Tumblr-Nutzer in selbstironischer Weise Bezug auf otherkin, beinah eher als bewusste, selbstreferentielle Performance der eigenen Zugehörigkeit zu einer geekigen Subkultur; dennoch sagt dies, als Extrembeispiel, etwas über das größere Thema fluider Identitäten aus, das diese Kultur durchzieht. Während Gender-Nonkonformismus nichts Neues ist und seit sexueller Revolution und Schwulenbewegung zweifellos immer mehr im Mainstream ankommt, tritt hier eine teils politische Internetkultur in Erscheinung, die einen unerwartet riesigen Einfluss ausübt. In anderen, ähnlichen Nischensubkulturen des gleichen Milieus, die von der entstehenden Online-Rechten immer als Beweise für den Niedergang des Westens angeführt wurden, finden sich etwa auch Erwachsene, die sich als Babies fühlen, und Nicht-Behinderte, die sich als behinderte Menschen wahrnehmen – bis zu dem Punkt, wo sie medizinische Hilfe in Anspruch nehmen wollen, um zu erblinden, sich amputieren oder anderweitig versehren zu lassen, sodass sie zu der behinderten Person werden, als die sie sich fühlen. Man mag die Motivationen hinter der Fixiertheit der Rechten auf relative Nischensubkulturen anzweifeln, doch die liberale Fixiertheit auf relative Nischenbereiche der neuen Internet-Rechten, die aus kleinen Online-Subkulturen entstanden ist, ist durchaus vergleichbar – das heißt, der Einfluss von Tumblr auf die Prägung bizarrer neuer politischer Vorstellungen ist wohl ebenso wichtig wie das, was aus der rechtslastigen chan-Kultur hervorgegangen ist. Der race-Forscher und Politikwissenschaftler Adolph Reed Jr. sagt häufig, Liberale glaubten nicht mehr an tatsächliche Politik, sondern nur noch daran, »von Leiden Zeugnis abzulegen«. Der Kult um Leiden, Schwäche und Verletzlichkeit ist mittlerweile ein
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Kernstück liberaler Identitätspolitik, wie sie etwa auf Tumblr praktiziert wird. Es ist in Kreisen, die sich intensiv mit Genderfluidität befassen, auch üblich, sich offen als Person mit Behinderungen und psychischen Problemen zu erkennen zu geben, die, eigenen Aussagen zufolge, zu äußerster Verletzlichkeit und Leid führen. Diese Behinderungen sind zum Teil psychologischen Ursprungs oder werden von der modernen Medizin nicht anerkannt. Ein Beispiel dafür findet sich in der spoonies-Identität, einer Selbstbezeichnung und Online-Subkultur, deren Mitglieder, meist junge Frauen, Schmuck in Löffelform und Löffel-Tattoos tragen sowie spoonie in ihre social-media-Biografien schreiben, um ihre Zugehörigkeit auszudrücken. Der Name Spoonies leitet sich von der sogenannten ›Löffeltheorie‹ (die in Wahrheit eine Metapher war) ab. Den Begriff prägte Christine Miserandino in ihrem Essay The Spoon Theory, den sie 2003 auf ihrem Blog ButYouDon’tLookSick.com veröffentlichte. Sie lässt darin ein Gespräch mit einer Freundin Revue passieren, die sie fragt, wie es sei, eine Krankheit ohne äußerlich sichtbare Symptome zu haben. Miserandino nimmt eine Handvoll Löffel vom Tisch und legt sie einen nach dem anderen weg. Jeder Löffel steht dabei für ein Ereignis oder eine Aktivität an einem typischen Tag; so zeigt sie, dass ihre Kräfte äußerst limitiert und, wie die jedes anderen Menschen, nicht unendlich sind. Während Menschen sich ohne Frage seit Jahrhunderten mit Behinderungen auseinandersetzen, wurde das spoonie-Phänomen zu einer Subkultur mit einem gewissen quasi-politischen Eifer, der alle Subkultur-Identitätspolitik-Milieus zu kennzeichnen scheint. Junge Frauen, sehr oft auch intersektionale Feministinnen und Radikale, gaben sich als spoonies zu erkennen und teilten gegen alle aus, die auf ihre unzureichend anerkannten, undiagnostizierten oder undiagnostizierbaren unsichtbaren Krankheiten nicht angemessen reagierten bzw. ihren anderen Identitäten nicht sensibel genug begegneten. Ein weiteres Kernmerkmal der neuen Identitätspolitik war Selbstgeißelung, insbesondere unter weißen, männlichen, heterosexuellen, cisgender- oder nichtbehinderten Mitgliedern der Subkulturen, die nur zu gerne ihre ›Privilegien checkten‹ – eine
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Phrase, die so sehr zu einem Teil Tumblr-liberaler Kultur wurde, dass die Rechte sie oft parodierte. Als diese Kultur des Privilegien-Prüfens es in den etablierten Diskurs geschafft hatte, twitterte der Anti-Gamergate-Kolumnist Arthur Chu: »Als Typ, dem der Feminismus am Herzen liegt, will ich manchmal alle Männer Arm in Arm nebeneinanderstellen & dann über eine Klippe laufen und das ganze Geschlecht ins Meer ziehen.« Am Morgen nach der Wahl Donald Trumps twitterte die Kolumnistin Laurie Penny: »Ich habe schon früher weiße Schuld empfunden. Heute ist das erste Mal, dass ich tatsächlich wahrhaftig entsetzt und voller Scham darüber bin, weiß zu sein.« Und doch – auch wenn sie sich verletzlich zeigten und sich selbst klein machten – haben sich Mitglieder dieser Subkulturen in der Sicherheit hinter ihrer Tastatur häufig genauso außerordentlich boshaft und aggressiv verhalten wie ihre ›Pepe‹-Gegenspieler. Jonathan Haidts berühmtes Essay im Atlantic, The Coddling of the American Mind, das die titelgebende »Verhätschelung des amerikanischen Geistes« als Wurzel der Etablierung dieser neuen Weltsicht an den Universitäten verortet, trug eine Diskussion über die »Generation Schneeflocke« in den Mainstream-Diskurs. Schon lange vorher schufen obskure Interneträume, Subkulturen und Identitäten eine Kultur der Fragilität und Opfermentalität, gemischt mit boshaften Gruppenattacken, Gruppen-shaming und Versuchen, den Ruf und das Leben anderer im gleichen politischen Milieu zu zerstören, was später cry-bullying getauft wurde. Während die Rechte ihre eigene Kritik dieser seltsamen Welt der Online-Identitätspolitik entwickelte, erschien das explosive Essay Exiting the Vampire Castle des marxistischen Publizisten Mark Fisher. Dieses erhitzte die Gemüter der Tumblr-Liberalen und der identitären, ›Privilegien checkenden‹ Linken noch weiter und zog derart bösartige Auseinandersetzungen und massenhafte öffentliche Bloßstellungen nach sich, dass es letztlich zu einer immer größeren Spaltung der jüngeren Generation der Linken in mehr oder weniger klassische Materialist_innen und die Anhänger_innen dieser puren Identitätspolitik führte. Fisher schrieb:
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Das ›linke‹ Twitter ist oft eine elende, entmutigende Zone. Anfang des Jahres gab es einige Twitter-Stürme, in denen bestimmte, sich zur Linken zählende Leute bloßgestellt und verurteilt wurden. Was diese Menschen gesagt hatten, war bisweilen kritikwürdig; die Art, in der sie persönlich verteufelt und verfolgt wurden, hat jedoch etwas Grausiges hinterlassen: den Gestank von schlechtem Gewissen und Sittenwächtertum, wie bei einer Hexenjagd. Der Grund, warum ich zu keinem dieser Anlässe meine Meinung gesagt habe, war – ich schäme mich, es einzugestehen – Angst. Die Mobber waren auf der anderen Seite des Schulhofs. Ich wollte ihre Aufmerksamkeit nicht auf mich lenken.
Genau das aber tat er. Die Flut an rachsüchtigen persönlichen Beleidigungen, die Fisher noch Jahre später erlebte, inklusive grundloser Vorwürfe von Frauenfeindlichkeit, Rassismus, Transphobie etc., wurde zur Standardreaktion auf jeden, der es wagte, an irgendeine zentrale Empfindlichkeit der Tumblr-Linken zu rühren, vielleicht insbesondere, wenn dies von einem linken Standpunkt aus geschah. Die seltsamste Eigenschaft dieser Kultur der Online-Bloßstellung war die Mischung aus performativer Verletzlichkeit, selbstgerechtem soziopolitischem Bewusstsein (›wokeness‹) und Schikane. Ihre Dynamik beschrieb Fisher hellsichtig als »getrieben von der Sehnsucht eines Priesters, zu exkommunizieren und zu verdammen, von der Sehnsucht eines Akademiker-Pedanten, der erste zu sein, der einen Fehler findet, und von der Sehnsucht eines Hipsters, zu den Coolen zu gehören«. Ich würde hinzufügen, dass hinter all dem eine einzige Triebkraft steckt: Es geht darum, in einer Umgebung, in der ›Gutsein‹ die Währung ist, welche die Karriere oder soziale Stellung eines Online-Nutzers befeuern oder besiegeln kann, Knappheit zu erzeugen. Die anonyme Unterwelt, aus der die rechten Troll-Kulturen hervorgegangen sind, waren die Gegenkraft dieses Milieus. Eins von zahllosen Beispielen für die Gleichzeitigkeit von Opferrolle und Gefühllosigkeit beginnt mit einer Nachricht von 2016: Ein Alligator hatte sich in einem Disney-Resort in Florida einen Zweijährigen geschnappt und ihn in eine Lagune gezogen. Trotz der Versuche seines Vaters, ihn zu retten, starb der Junge –
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für ein normales Mainstream-Publikum eine erschütternd traurige Geschichte. Eine Twitter-Nutzerin namens Brienne of Snarth mit mehr als 11.000 Follower_innen und einer einflussreichen Tumblr-Seite kritisierte den trauernden Vater des Kleinkinds für seine »weiße Privilegiertheit«. Indizien aus ihrem Online-Leben entsprachen allen Kennzeichen der Tumblr-Identitätspolitik. Wie viele der lautesten Ankläger_innen weißer Privilegien war auch sie selbst weiß. Sie schrieb: »Ich hab’ diese weiße Privilegiertheit mittlerweile so satt, dass ich nicht mal traurig bin, wenn ein 2j. von einem Alligator gefressen wird, weil sein Papa Schilder ignoriert hat« sowie »Du denkst wirklich, dass nichts irgendwelche Scheiß-Konsequenzen hat. Auf einem verdammten Schild stand, dass man in Florida nicht ins Wasser darf. SCHEISS DOCH AUF EIN SCHILD.« Das Publikum etablierter Medien war empört, als über den folgerichtigen Twitter-Sturm berichtet wurde, die AltRight und Alt-Light verbreiteten die Geschichte als Beweis für die Degeneration der modernen Linken, während viele Tumblr-Liberale sich Brienne zur Seite stellten. Auf Twitter, wo Nutzer_innen um Follower_innen wetteifern, können stagnierende Karrieren durch das korrekte Signalisieren von ›Gutsein‹ augenblicklich befeuert werden. In der Anfangszeit der Plattform merkten viele B-Prominente, dass sie hier eine größere Anhängerschaft erreichen konnten als durch traditionelle Medien. Zunächst bestand der direkteste und sicherste Weg zu social-media-Ruhm darin, anderen in selbstgerechtem oder abfälligem Ton Rassismus, Sexismus oder Homophobie vorzuwerfen. Es zeigte sich, dass öffentliche social-media-Plattformen etwas hatten, was zur Eitelkeit moralisch-rechtschaffener Politik und zur unwiderstehlichen Anziehungskraft der Kulturkämpfe passte und diese befeuerte. Bald jedoch war das Geheimnis gelüftet und alle wollten mitspielen. Die Währung ›Tugend‹, in der mancher sein kulturelles Kapital gescheffelt hatte, war von plötzlicher Entwertung bedroht. Mir scheint, dass darauf eine Kultur der Säuberung folgen musste, größtenteils auf Konkurrent_innen gerichtet, die ebenfalls um diese wertvolle Währung wetteiferten. Insofern zielten die Angriffe zunehmend auf andere Liberale und Linke mit scheinbar lupenreiner progressiver Vita ab anstatt auf
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Menschen, die sich tatsächlich rassistisch, sexistisch oder homophob äußerten. Nach dem Amoklauf von Orlando, in dem ein Mann, der sich zum Islamisten Abu Bakr al-Baghdadi bekannte, in einem Schwulen-Nachtclub das Feuer eröffnet hatte, eilten Millionen auf Twitter, um öffentlich ihre Trauer und Verzweiflung mitzuteilen. In diesem Moment massenhafter Solidarität mit der Schwulen-Community drehte der Knappheit erzeugende Säuberungsprozess über, um sicherzustellen, dass ›Gutsein‹ nicht zu günstig zu haben sei. Eine intersektionalistische Twitter-Berühmtheit erinnerte jene, die den Fall die schlimmste Massenerschießung in der Geschichte der USA genannt hatten, dass »Wounded Knee1 […] die schlimmste« war. Andere Tweeter_innen wetterten gegen den Gebrauch von ›Latina/o‹ anstelle von ›Latinx‹2 in der Berichterstattung, während wieder andere klarstellten, dass die psychische Erkrankung des Massenmörders und nicht etwa seine Loyalität zu IS und Kalifat der Grund für die Tat gewesen sei. Andere ließen sich das letzte Wort nicht nehmen und tweeteten erzürnt zurück, es sei Ableismus, dem Amokläufer eine psychische Erkrankung zuzuschreiben. Bei einer Mahnwache mit hunderten Teilnehmer_innen schrie eine junge Frau die Menge an: »Hier sind so viele Weiße. Das war kein Witz […]. Für wen seid ihr wirklich hier?« Diese Dynamik, die im Dunkel der Online-Subkultur begonnen hatte, floss später in die Campus-Kriege um Redefreiheit, Trigger-Warnungen, den westlichen Kanon und safe spaces ein. Vielerorts mussten Trigger-Warnungen vorangestellt werden, um den unerwartet hohen Zahlen junger Frauen zu begegnen, die, obwohl sie nie im Krieg gewesen waren, angaben, an posttraumatischer Belastungsstörung zu leiden. Sie behaupteten, von allem 1 | Im Massaker von Wounded Knee wurden im Jahr 1890 je nach Angaben zwischen 150 und 300 wehrlose amerikanische Ureinwohner_innen von US-Soldaten getötet (Anm. d. Übers.). 2 | Im Spanischen verbreitete Form des Genderns, in der anstelle der Endungen -a und -o die Endung -x gebraucht wird, vergleichbar dem deutschen Tiefstrich oder Sternchen (Anm. d. Übers.).
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›getriggert‹ zu werden, was irgendwie belastend war, von großen Werken der Literaturgeschichte bis zu ziemlich gewöhnlichen nichtliberalen Meinungen, etwa dass es nur zwei Geschlechter gebe. Auf dem Höhepunkt all dessen wurde Germaine Greer als Rednerin zum Thema Women & Power: The Lessons of the 20th Century an der Universität Cardiff in Wales angekündigt. Die Frauenbeauftragte der Studentenvertretung, Rachael Melhuish, warnte, Greers Anwesenheit wäre »schädlich«, und behauptete in ihrer Unterschriftaktion für die Absage der Veranstaltung: Greer hat wieder und wieder ihre frauenfeindlichen Ansichten gegenüber Transfrauen zur Schau gestellt, indem sie z.B. kontinuierlich falsche Pronomen für Transfrauen verwendet und die Existenz von Transphobie gänzlich leugnet […]. Universitäten sollten den Stimmen der Verletzlichsten auf ihrem Campus Vorrang geben, anstatt Sprecher_innen einzuladen, die bestrebt sind, diese noch weiter zu marginalisieren. Wir halten die Universität Cardiff an, diese Veranstaltung abzusagen. 3
Die Unterschriftenaktion wurde von über 2.000 Menschen unterschrieben; Greer war über Nacht von einer führenden Veteranin, die ihr ganzes Leben für die Befreiung der Frau gearbeitet hatte, zu einer verbotenen und toxischen ›TERF‹ (›Trans-Exclusionary Radical Feminist‹) geworden, deren Name durch den Schmutz gezogen wurde. Was diese neue Generation von Campus-Feminist_innen anging, hätte Greer genauso gut rechtsextrem sein können. Greer hatte seit fünfzehn Jahren keine Kommentare über Transgenderismus mehr veröffentlicht, was »nicht mein Thema« war, wie sie später gegenüber Newsnight angab. Als Antwort auf die Kontroverse biederte der Vizedekan der Universität Cardiff sich bei jenen an, die Greer angegriffen hatten, indem er betonte, die Universität dulde »in keiner Weise diskriminierende
3 | Vgl. http://www.abc.net.au/news/2015-10-27/lehmann-greer-andthe-no-platforming-scourge/6887576 (zuletzt aufgerufen am 28.05. 2018) (Anm. d. Aut.).
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Kommentare« und arbeite »hart daran, eine positive und inklusive Umgebung für LGBT+-Menschen zu schaffen«. Aus Unzufriedenheit mit den bisherigen Attacken auf Greer verfasste Payton Quinn, die sich als ›nonbinär‹ sowie als ›trans-feministische Aktivistin und ganzheitliches ätherisches Wesen‹ bezeichnet, unter dem Titel Entitled to Free Speech but not above the Law (etwa: »Redefreiheit ja, aber niemand steht über dem Gesetz«) einen zornigen offenen Brief, in dem sie andeutete, Greer habe sich strafrechtlicher Vergehen schuldig gemacht. Bis dato war es undenkbar gewesen, dass auch Peter Tatchell, lebenslanger Schwulenaktivist, der viele Male in der ganzen Welt sein Leben für Schwulenrechte riskiert hat, sich im Zentrum der nächsten Runde der Vorwürfe wiederfinden würde. Fran Cowling, LGBTQI+-Repräsentantin der Nationalen Studentenvertretung Großbritanniens, sagte, sie würde keine Bühne mit einem Mann teilen, dem sie vorwarf, rassistisch, islamophob und sogar »transphob« auffällig geworden zu sein. Cowling lehnte eine Einladung zu einem Vortrag ab, falls Tatchell teilnähme. In den E-Mails führte sie Tatchells Unterzeichnung eines offenen Briefs im Observer im Vorjahr an, der sich für Redefreiheit und gegen die Praxis mancher Universitäten aussprach, bestimmten Personen keine Bühne zu bieten (›No Platform‹). Als das Debakel später öffentliche Aufmerksamkeit erregte, ging die Anti-Tatchell-Seite noch einen Schritt weiter und behauptete, dass die negative Aufmerksamkeit ihnen schade und dass sich Tatchell in seiner Haltung pro Redefreiheit sogar von der rechten Presse unterstützen lasse. Einige behaupteten sogar, er habe die Angriffe auf sich selbst inszeniert. 2015 wurde die iranische Sozialistin und Feministin Maryam Namazie eingeladen, an der Goldsmiths-Universität in London einen Vortrag zu halten. Aufgrund ihres militanten Säkularismus und ihres offenen Abfalls vom islamischen Glauben – eines Stils also, der westlichen Linken nicht geheuer ist – stellte sich eine Kontroverse ein: Die islamische Studentenvereinigung der Universität sprach sich gegen ihre Anwesenheit auf dem Campus aus. Als sie trotzdem ihre Rede hielt, saß eine Gruppe Männer aus der Vereinigung in der ersten Reihe und versuchte, sie ein-
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zuschüchtern. Sie riefen dazwischen, gestikulierten aggressiv, schalteten den Projektor und die Lichter aus; für einen Großteil der Rede musste Namazie schreien, um gehört zu werden. Videoaufnahmen des Vortrags zeigen ein Ausmaß der Einschüchterung, das undenkbar wäre, wenn Namazie oder die Islamisten weiße Westler_innen wären; nichtsdestotrotz erhielt sie nicht nur keine Solidaritätsbekundungen von ihren westlichen Genoss_innen, sondern wurde vielmehr auch von ihnen anlässlich des Vorfalls verurteilt und angegriffen. Die feministische Studentenvereinigung der Universität reagierte mit Unterstützung für die islamische Vereinigung und Kritik an Namazie, die LGBT-Vereinigung drückte in einer Erklärung ebenfalls ihre Unterstützung der islamischen Vereinigung aus. Um zu den Leuten, denen die liberalen Studierenden auf Kosten Namazies den Rücken stärkten, etwas Kontext zu liefern: Der Präsident der Goldsmiths Islamic Society, Muhammed Patel, war Anhänger des Hasspredigers Haitham al-Haddad, der in einem Artikel namens Standing up against Homosexuality and LGBTs schreibt: »Um die Geißel der Homosexualität zu bekämpfen, hat Allah bestimmt, dass wir gegen sie unsere Stimme erheben und mit anderen in Rechtschaffenheit und Gottesbewusstsein zusammenarbeiten sollen.« Neben dieser Serie von Angriffen auf diese und andere Veteran_innen der Neuen Linken nahmen nun einige Rechte ihre Rolle als Opfer solcher Kampagnen bereitwillig an – ein Stil, den Milo perfektionierte. Ein bemerkenswerter Unterschied besteht jedoch darin, dass Rechte mit blitzenden Klingen, Linke dagegen oft verblüfft, eingeschüchtert oder apologetisch und in einigen Fällen sogar mit dem Rückzug von der Linken reagierten. Ich denke oft, dass der nach der ›Tumblrisierung‹ linker Politik erfolgte brain drain der Linken einen Schaden zugefügt hat, der sich noch als langlebig erweisen wird. In Kanada wurde Dr. Jordan Peterson zum Helden der AltLight, nachdem er sich dem Gesetz zur Einführung alternativer Pronomen an Universitäten – ›ze‹ oder ›zir‹ als Alternativen zu den alten Hüten she oder he – verweigert hatte. Er erschien auf einer gegen ihn gerichteten Protestveranstaltung, um zu den
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Versammelten zu sprechen, und wurde von einer White-NoiseMaschine übertönt sowie von Menschen in der Menge angeschrien. Er sagt auch, das Schloss seiner Bürotür sei zugeklebt gewesen; die Universität habe seinem Recht auf akademische und Redefreiheit zwar plattitüdenhaft den Rücken gestärkt, ihn aber zugleich gewarnt, er könnte sich juristischen Ärger mit dem Menschenrechtskodex von Ontario einhandeln. Die Universität erhielt eine Welle von Beschwerden vonseiten Studierender und Angestellter, die seine Kritik an den neuen Pronomen-Regeln als »nicht hinnehmbar, emotional belastend und schmerzhaft« empfanden. Im März 2015 veröffentlichte Laura Kipnis ein Essay im Chronicle of Higher Education, in dem sie die Stimmung »sexueller Paranoia« an Universitäten kritisierte, sexuelle Beziehungen zwischen Professor_innen und Studierenden verteidigte und Trigger-Warnungen kritisierte. Eine Gruppe Studierender protestierte und forderte die Universitätsverwaltung auf, sich erneut klar für die Richtlinien auszusprechen, die Kipnis kritisiert hatte, wobei sie in Anspielung auf Emma Sulkowicz’ Protestaktion gegen Vergewaltigung auf dem Campus an der Columbia-Universität eine Matratze trugen. Unter Verweis auf die Richtlinien der Universität reichten zwei Studierende Beschwerde gegen Kipnis ein, mit der Begründung, ihr – mittlerweile zu einem Buch erweiterter – Artikel schrecke Studierende davor ab, sexuelles Fehlverhalten zu melden. Kipnis wehrte sich öffentlich gegen die Vorwürfe und wurde schließlich entlastet. Dies sind lediglich einige ausgewählte Fälle in einer gefühlt endlosen Reihe universitärer Kulturkämpfe um die Themen Sexualität, Gender und Identität, die aufkamen, nachdem eine gewisse Art von Identitätspolitik im Internet genährt worden war. Wie verhalten sich diese jedoch zu früheren Campus-Kriegen? William F. Buckley gründete die National Review als »Gegen-Establishment« zum universitären Milieu und hat bekanntlich gesagt: »Ich würde die Regierung der Vereinigten Staaten eher den ersten 400 Menschen im Bostoner Telefonbuch anvertrauen als dem Lehrkörper der Universität von Harvard.« 1983 sagte Robert Simonds, Sprecher der National Association of Christian Educators,
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ein »großer Krieg« wüte um das Thema Bildung. Walter Lippmann schrieb: »Die Schule ist der Ort, wo das Kind zur Religion und zum Patriotismus seiner Eltern hin- oder von diesen weggeführt wird.« Und in der Tat wurden die Auswirkungen des ›langen Marsches durch die Institutionen‹ spürbar. Lehramtsstudierende mussten Bücher wie Paulo Freires Pädagogik der Unterdrückten lesen und es wurden bedeutende Kulturkämpfe um das Einsickern von Feminismus und Multikulturalismus in Bildung und die breitere Kultur geführt. Phyllis Schlaflys Buch Child Abuse in the Classroom zum selben Thema prägte das konservative Misstrauen gegenüber liberaler Indoktrinierung an öffentlichen Schulen. Wie Hartman schreibt, spielten sich an Hochschulen und Universitäten Debatten darüber ab, ob etwa Frantz Fanon statt John Locke auf den Leselisten der Universität Stanford stehen sollte, die sich im Wall Street Journal und in Büchern wie Der Niedergang des amerikanischen Geistes von Allan Bloom, Illiberal Education von Dinesh D’Souza und Tenured Radicals: How Politics Has Corrupted Our Higher Education von Roger Kimball fortsetzten. Heute spielen sich die gleichen Debatten an den Universitäten ab, etwa in der ›Decolonize Our Minds‹-Bewegung und der ›Rhodes Must Fall‹-Kampagne, dem erfolgreichen Versuch, Druck auf die Universität von Kapstadt auszuüben, eine Statue des Kolonalisten Cecil Rhodes entfernen zu lassen. Mitglieder der Kampagne gaben später an, »der Fall von ›Rhodes‹« sei »ein Symbol für den unaufhaltsamen Fall weißer Überlegenheit und Privilegiertheit auf unserem Campus« gewesen. 1988 hielten Studierende eine Massenkundgebung zum Stanforder Studiengang Western Civilization ab, die einen riesigen Kulturkampf zum als eurozentrisch kritisierten Kanon entfachte. Der Druck der Kampagne resultierte in der Entscheidung der Universität, den Lehrplan anzupassen. Für die Untergrabung des westlichen Kanons war der Relativismus von Denkern wie dem Literaturtheoretiker Stanley Fish wesentlich, der die Vorstellung angriff, ein Text und ein literarischer Kanon könnten objektiven, zeitlosen Wert haben: »Die einzige Möglichkeit, ein literarisches Werk zu interpretieren, besteht darin, dass wir den Standpunkt
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kennen, von dem aus wir den Akt der Interpretation vornehmen.« Die mit lauter Gleichgesinnten besetzte Anglistik-Fakultät der Duke-Universität wurde als Fish tank bekannt. Hier propagierte man auch französische Philosophie, in der das Postulieren allgemeingültiger Wahrheiten als den Interessen der Mächtigen dienlich dargestellt wurde. Camille Paglia schrieb später: »Französische Philosophie ist wie diese Lernkassetten, die einen über Nacht zum Immobilienmillionär machen sollen. Machtgewinn durch Angriff auf die Macht! Rufen Sie jetzt diese Nummer in Paris an!« Allan Bloom, wie auch Paglias Doktorvater Harold Bloom, vertrat die Vorstellung, dass Ästhetik und Geschmack im Dienst von Wahrheit und Schönheit stehen müssten, und war der Meinung, relativistisches Denken führe geradewegs in den Nihilismus. Er schrieb: Stanforder Studierende sollen mit kurzlebigen Ideologien indoktriniert werden. Ihnen soll beigebracht werden, dass es keinen intellektuellen Widerstand gegen die eigene Zeit und ihre Passionen geben kann. […] Diese totale Kapitulation vor der Gegenwart und dieser Verzicht auf die Suche nach Maßstäben, anhand deren man sie beurteilen könnte, sind die Definition des Niedergangs des amerikanischen Geistes und ich könnte mir keine atemberauberendere Bestätigung meiner These wünschen.
Diese Kritik an liberalem Gegenwartskult hat die Alt-Right kurz und bündig in der Vokabel the current year (»das laufende Jahr«) zusammengefasst – ein sarkastischer Verweis auf die liberale Auffassung, man könne bestimmte Meinungen nicht mehr vertreten, ›wir haben schließlich 2017!‹. Todd Gitlin, eine Schlüsselfigur der Berkeleyer Neuen Linken, tat sich in jener Runde der Campus-Kriege als interner Kritiker der Linken hervor, als er sagte, die Linke »rückt auf die Anglistik-Fakultäten vor, während die Rechte das Weiße Haus übernimmt«. Er befand, dass Forderungen nach Gleichheit auf einem Universalismus gründen sollten und dass akademische, relativistische Auffassungen von Identität, die heute in der Tumblr-Welt wuchernder Identitäten ihre logische Konklusion erreicht hätten, das »nahende Ende der Gleichheit« darstellten. Parallel auch zu
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den negativen Auswirkungen der Internet-Kulturkämpfe und der heutigen Campus- und Identitätskriege meldete Gitlin seine Kritik der Identitätspolitik an, als die Students for a Democratic Society an inneren Gräbenkämpfen um universelle Ziele und Identitätspolitik zerbrachen. Er argumentierte, der Relativismus der Radikalen würde das »Ende gemeinsamer Träume« mit sich führen: »Dem Gerede von Identität liegt eine Identitätspolitik zugrunde, die eine Haltung, eine Tradition, eine tiefe Wahrheit oder einen Lebensstil aus den Tatsachen Geburt, Physiognomie, nationalstaatliche Herkunft, Geschlecht oder körperliche Behinderung ableiten will.« Als er befand, ein »Großteil der universitären Linken« strahle »eine bittere Intoleranz« aus, so hätte das auch wörtlich von Jordan Peterson oder vielen anderen, die heute weiter rechts stehen, kommen können. 1996 dachte Alan Sokal, Physikprofessor an der Universität von New York und dem University College London, sich einen berühmten Streich aus, der bis heute die akademische Welt heimsucht. Er reichte einen Artikel bei der Zeitschrift für postmoderne Kulturwissenschaften Social Text ein, zu deren Herausgebern damalige Stars wie Fredric Jameson und Andrew Ross zählten. Sokal hatte den Artikel, Transgressing the Boundaries: Towards a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity, absichtlich »großzügig mit Unfug gespickt«; er argumentierte darin, die Schwerkraft sei ein soziales Konstrukt. Nachdem der Artikel zur Veröffentlichung angenommen worden war, enthüllte Sokal, dass er eine »Persiflage aus linkem Jargon, kriecherischen Querverweisen, pompösen Zitaten und völligem Unsinn« war. Heute setzt sich dieser Kampf um die Universitäten fort, von Milos Tournee bis zum Twitter-Konto Real Peer Review, das Titel und Zusammenfassungen absurder Fachartikel, meist aus kultur- und literaturwissenschaftlichen Zeitschriften, samt lustigen Zitaten veröffentlicht. Die Themen reichen von feministischen Analysen von Gletschern bis zu ›dicken Männlichkeiten‹. Interessanterweise – auch für den heutigen Kontext – fand nach der Sokal-Affäre eine Konferenz zum Umgang mit dem Aufkommen eines sogenannten ›linken Konservatismus‹ statt, mit Judith Butler als Hauptrednerin. Dazu wurden auch sich als links
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einordnende Akteur_innen wie Sokal und seine Anhänger_innen gezählt, unter ihnen auch Barbara Ehrenreich, eine idiosynkratische und intellektuell unabhängige Linke, die in Büchern wie Arbeit poor: Unterwegs in der Dienstleistungsgesellschaft zugänglich über Armut und das Leben der Arbeiterklasse schreibt. Der Begriff ›konservativ‹ zielte hier natürlich darauf ab, bestimmte Menschen und ein bestimmtes Gedankengut – und jene, die möglicherweise privat mit diesen sympathisieren – aus dem seriösen Fachdiskurs auszuschließen. Heute sind wir wieder Zeug_innen eines sehr ähnlichen Kulturkampfes. Müsste man eine intellektuelle Persönlichkeit nennen, deren Ideen die Tumblr-Linke am meisten geprägt haben, wäre das zweifelsohne Judith Butler; jene auf der Linken, die dieser identitätsorientierten kulturellen Linken kritisch gegenüberstehen, würden sich nach wie vor eher Gitlin und Ehrenreich zuordnen. Die Alt-Light sieht Paglia als Heilsbringerin, Christina Hoff Sommers brachte ihr Werk einer jüngeren Generation nahe. Die genuin konservative Rechte Schlaflys ist währenddessen die einzige hier beschriebene Kraft, die wirklich tot ist, seit die Neue Rechte Grenzen überschreitet und Regeln bricht, wie die Neue Linke es einst tat. Und doch: In einigen Bereichen, wie dem Widerstand gegen Feminismus und ›Kulturmarxismus‹, dem Kanon, dem Westen und so weiter, scheint die Alt-Right das Erbe der ›alten‹ Konservativen fortzuführen.
Kapitel 6 – Eintritt in die Mannosphäre
Während der Feminismus in den vergangenen Jahren im Internet gewachsen und gediehen ist, kann man dasselbe auch von antifeministischen und maskulinistischen Ansichten sagen, die sich wiederum vor dem Hintergrund immer radikalerer liberaler Genderpolitik und zunehmend akzeptierter antimännlicher Rhetorik entwickelte, welche von obskuren feministischen Online-Räumen in den Mainstream gelangt sind. Die Metapher der ›roten Pille‹, die im Zentrum der Alt-Right-Rhetorik steht, ist ebenfalls wesentlich für diese antifeministischen, maskulinistischen Polit-Subkulturen, die mit unterschiedlichen Schichten der Online-Rechten in regem Austausch stehen. Die zahlreichen Internetseiten, Subkulturen und Selbstbilder, die zu dieser antifeministischen Internetbewegung gehören, sind in solchem Maße aus dem Boden geschossen und gewachsen, dass dies zweifellos als ›digitale Revolution‹ verzeichnet worden wäre, wenn es sich um andere kulturelle und politische Milieus gehandelt hätte. Diese Subkulturen, zwischen denen oft Animositäten bestehen und die sich tatsächlich in einigen wichtigen politischen und philosophischen Fragen voneinander unterscheiden, sind von manchen Beobachter_innen kollektiv als ›die Mannosphäre‹ (›the manosphere‹) bezeichnet worden. Der Begriff kann für alles Mögliche stehen – von progressiven Aktivist_innen, die sich mit realen Männerthemen wie Gesundheits- und Vorsorgeproblemen, Ungleichheit in sozialen Institutionen und Selbstmord befassen, bis zu den ekligeren Ecken des Internets voller Hass und Ressentiments, deren Frauenfeindlichkeit ziemlich schaurige Ausmaße erreicht. Bevor ich näher auf die Mannosphäre und damit auf einen weiteren Aspekt der Kulturkämpfe eingehe, der zumeist ebenso
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hitzige wie fruchtlose Debatten auslöst, möchte ich betonen, dass ich mit den ebenfalls in der Männerrechtsbewegung präsenten, wahrhaft egalitären Absichten, die auf Fairness abzielen, überhaupt kein Problem habe. Alle sollten ein Recht auf faire und gleiche Behandlung vor Gericht haben. Die schleichende schulische Leistungsschwäche von Jungen, die hohen Selbstmordraten bei Männern und die allgemeine Kultur, verächtlich über Männer zu sprechen, verdienen allesamt Kritik und machen Reformen nötig. Die Männerrechtler liegen richtig, wenn sie vorbringen, dass viele Vertreter_innen des Feminismus – eine Bewegung, der ich selbst angehöre – diesen Themen oft intolerant und dogmatisch gegenüberstehen. Und doch ist es, beobachtet man diese Bereiche des Internets, unmöglich, die um sich greifende hasserfüllte Frauenfeindlichkeit und Bitterkeit, das Verschwörungsdenken und den allgemeinen widerlichen Beigeschmack, der sie durchzieht, zu leugnen. Es muss also betont werden, dass meine Beschreibungen in diesem Kapitel, wie jene von den schlimmsten Seiten von Tumblr-Liberalismus, 4chan und anderen, nicht repräsentativ für ›die Männerbewegung‹ an sich sind, sondern für ihre finstere Schattenseite, die sich im Internet entfaltet hat. Diese Spezies von in Foren hausenden Besessenen wäre erschüttert zu erfahren, dass die ursprüngliche Männerbewegung, dem Männlichkeitsforscher Michael Kimmel zufolge, als Kritik an althergebrachten Geschlechterrollen aus und mit dem Feminismus und der Bewegung für sexuelle Befreiung erwachsen ist. Als die zweite Welle des Feminismus im Zuge ihrer um Vergewaltigung und häusliche Gewalt kreisenden Rhetorik Männer als Ganzes kritisierte und ihnen zunehmend feindselig gegenüberstand, bewegte sich die Männerbewegung vom Feminismus weg. Als die Frage danach, wie Männer ihre gesellschaftliche Rolle erleben, Denker_innen und Fraktionen in radikal unterschiedliche Richtungen trug, kam es zu Spaltungen. In den Neunzigern hatte sich das Hauptinteresse der Männerbewegung auf Institutionen hin verengt, in denen Männer ausgeschlossen oder diskriminiert wurden. Über die Spanne ihrer Entwicklung hat die Männerbewegung unterschiedliche Formen angenommen. In Großbritannien gab es
Kapitel 6 – Eintritt in die Mannosphäre
progressive Gruppen wie Men Against Sexism und das New Men’s Movement, welche die charmanten Alt-Right-Antifeminist_innen von heute sicherlich beide als ›manginas‹1 abstempeln würden. Unter dem Banner ›Männerbewegung‹ hat es in den USA Gruppen mit vielfältigen Orientierungen gegeben, von christlichen Männergruppen wie den Promise Keepers zur mythopoetischen Bewegung des Dichters Robert Bly, welche nach einer männlichen Authentizität suchte, die im Leben in der ›verweiblichten‹ und vereinzelten modernen Gesellschaft verloren gegangen sei. Wie die Journalistin Susan Faludi beschreibt, hat sich, besonders in den USA, die heutige, tendenziell antifeministische Spielart der Männerbewegung in den Neunzigern als ›Gegenreaktion‹ auf die zweite Welle des Feminismus herausgebildet. Die Kritik an der restriktiven traditionellen Geschlechterrolle des Mannes machte einer Verherrlichung von Männlichkeit Platz, während der Feminismus zum politischen Feindbild wurde. Zu dieser Welle der Männerpolitik, die offener antifeministisch orientiert war, zählte die National Coalition of Free Men, die von Büchern wie Warren Farrells Mythos Männermacht und Neil Lyndons No More Sex War: The Failures of Feminism beeinflusst war. Sie leugneten die Vorstellung männlicher Privilegiertheit und konzentrierten sich auf Diskriminierung von Vätern und Gewalt gegen Männer. Doch sogar die militantesten antifeministischen Männerrechtsaktivisten aus der Zeit vor dem Internet erscheinen heute als vollkommen zahm und vernünftig, verglichen mit dem Antifeminismus, der in den 2010er Jahren im Netz entstanden ist. Unter dem Deckmantel der Anonymität brach eine unverhohlen hasserfüllte und offener rechtsgerichtete Kultur hervor, die den negativsten feministischen Karikaturen von Männerrechtsaktivismus entsprach – wütend, chauvinistisch und voller Hass. Das Reddit-Subforum The Red Pill spielt bis heute eine wesentliche Rolle für die Entwicklung und das Wiederaufleben
1 | Maskulinistischer Kampfbegriff aus Engl. man und vagina; bezeichnet feministische Männer, die angeblich ihre eigene Männlichkeit verabscheuen und sich von Frauen ausnutzen lassen (Anm. d. Übers.).
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solcher antifeministischen Umtriebe im Internet. Zur gleichen Zeit, als jene Antifeminist_innen das Bild von der ›roten Pille‹ bemühten, um ihr Erwachen aus dem wonnigen Geistesgefängnis des Liberalismus in die ungeschönte Realität gesellschaftlichen Männerhasses zu beschreiben, griff der rechte Rand der Alt-Right den Begriff auf, um sein äquivalentes völkisches Erwachen zu beschreiben. Auf AlternativeRight.com gehörten ›die rote Pille‹ bzw. ›die rote Pille verabreicht bekommen‹ (›being red pilled‹) zu den zentralen Metaphern und beliebtesten Ausdrücken. Auf The Red Pill diskutierten Männer über falsche Vergewaltigungsvorwürfe, Gewalt von Frauen gegen Männer, kulturelle Männerfeindlichkeit, ›die Vergötterung von Weibern‹2 und wie man sie vermeiden kann sowie das ›Game‹. Mit Letzterem sind die Rendezvous-Ratschläge von ›Aufreißkünstlern‹ (pick-up artists) gemeint, die auf Neil Strauss’ Buch Die perfekte Masche: Bekenntnisse eines Aufreißers (Originaltitel: The Game3) von 2005 zurückgehen. Schaut man heute zurück, wirkt Strauss’ Buch ziemlich milde und harmlos, jedenfalls verglichen mit den heutigen Foren rund um die Aufreißkunst, die sich meist wie eine finstere darwinistische Anleitung dazu lesen, wie man die verabscheute weibliche Beute listig zur Kapitulation bringt. Diskussionen über diese Themen auf diversen Reddit- und anderen Foren in der antifeministischen Mannosphäre sind ein unermüdlicher Strom von sexueller Frustration, Sorge über evolutionären Rang und schäumendem Frauenhass voller Beschreibungen von Frauen als ›wertlose Fotzen‹ und ›aufmerksamkeitsgeile Huren‹, die ›Schwanzkarussell fahren‹, und so weiter. Ein dominantes und durchgängiges Thema in der Forenkultur der Mannosphäre stellt die Vorstellung von Beta- und Alpha-Männern dar. Man liest, Frauen würden Alpha-Männer bevorzugen und Beta-Männer – in den Begrifflichkeiten der schlichten und grausamen Hierarchie, die hier jede menschliche Interaktion erklärt: rangniedrige Männer – entweder zynisch benutzen oder 2 | Engl. ›pedestalling pussy‹, wörtlich »die Möse aufs Podest erheben« (Anm. d. Übers.). 3 | Neben »Spiel« bedeutet Engl. game auch »Beute« (Anm. d. Übers.).
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völlig ignorieren. Manche folgen der Aufreißkunst von Bloggern wie Roosh V, um vom ›netten Kerl‹ zum sexuell erfolgreichen ›Alpha-Mann‹ aufzusteigen. Roosh (mit vollem Namen Daryush Valizadeh) begann als Aufreißkünstler und beschrieb sich später selbst als Neo-Maskulinist, wobei er mit der Alt-Right flirtete, die genau wie er der Überzeugung ist, der Feminismus sei ein wesentlicher Grund für den Niedergang der Zivilisation. Er verfasste eine positive Buchbesprechung für Die Kultur der Kritik: Eine evolutionäre Analyse jüdischer Einflüsse auf intellektuelle und politische Bewegungen des 20. Jahrhunderts von Alt-Right-Autor Kevin MacDonald, die er The Damaging Effects of Jewish Intellectualism and Activism on Western Culture betitelte. Bekannt wurde er allerdings erst mit einer Buchserie namens Bang, welche die oben beschriebenen aggressiven, manipulativen, sozialdarwinistisch gefärbten Methoden, Frauen zum Sex zu überreden, verbreitet. Darin reist er in verschiedene Länder, notiert strategische Überlegungen und berät dann seine Anhängerschaft. In den E-Books und Blogeinträgen spricht er – ganz der Romantiker – vom »erbarmungslos optimierten Prozess«, der »es mir ermöglichte«, in zahlreiche Frauen »meinen Penis reinzustecken«. Seine Webseite Return of Kings zählt unter den frauenfeindlichen Seiten der Mannosphäre zu den berüchtigteren. Roosh V identifiziert sich nicht mit auf Gleichbehandlung hinarbeitendem Männerrechtsaktivismus oder der MGTOW-Bewegung, die er ›sexuelle Versager‹ und ›verbitterte Jungfrauen‹ nennt. Return of Kings bringt Überschriften wie »Die Biologie sagt: Sozialhilfeempfänger sollten sterben«, »Arbeite nicht für eine Chefin« und »5 Gründe, mit einem Mädchen mit Essstörung zusammen zu sein«. Er sagt, er würde Frauen aus politischen Gründen nicht oral befriedigen. Er beschwert sich über Frauen in Dänemark und behauptet, sein mangelnder sexueller Erfolg bei ihnen liege am starken Wohlfahrtsstaat und der dortigen feministischen Kultur. In einem Interview sagte er, er ziehe Osteuropa vor, weil die Frauen dort »traditioneller« seien. Trumps Wahlsieg sah er als Sieg für seine Bewegung: »Ich freue mich überschwänglich, dass wir jetzt einen Präsidenten haben, der Frauen genau wie wir auf einer Skala von eins bis zehn
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bewertet und sie nach ihrer Erscheinung und weiblicher Attitüde beurteilt.« Und: »Vielleicht müssen wir einen Bewertungsaspekt einbauen namens ›Würde Trump sie vögeln?‹, um auf die Wichtigkeit von weiblichen Schönheitsidealen hinzuweisen, die Einsatz und Klasse statt Faulheit und Vulgarität kultivieren.« Roosh V zog mit einem Blog-Post internationale Aufmerksamkeit auf sich, den er How To Stop Rape betitelte. Darin schreibt er: Wenn Vergewaltigung meinem Vorschlag folgend legal wird, wird ein Mädchen ihren Körper auf die gleiche Weise beschützen wie ihre Geldbörse oder ihr Smartphone. Wenn Vergewaltigung legal wird, wird ein Mädchen sich in keinen eingeschränkten Geisteszustand begeben, in dem sie sich nicht dagegen wehren kann, von einem Mann, dessen sie sich nicht sicher ist, in ein Schlafzimmer gezogen zu werden – sie wird schreien, rufen oder um sich treten, während noch Leute dabei sind. Wenn Vergewaltigung legal wird, wird sie sich nie ohne Begleitung mit einem Mann treffen, mit dem sie nicht schlafen will. Nachdem dieses Gesetz einige Monate im ganzen Land beworben worden ist, wird Vergewaltigung am Tag seines Inkrafttretens praktisch beseitigt sein.
Er behauptet, der Beitrag sei »Satire« gewesen. Wie er als Satire fungieren sollte, bleibt unklar, aber es ist nicht völlig unplausibel, dass es sich um eine Art Versuch handelte, einen satirischen oder vielsagenden Ton anzuschlagen, der einfach nicht so recht funktionierte. In erster Linie lag das daran, dass Rooshs eigene Ansichten den satirisch beschriebenen einfach zu ähnlich sind, als dass man sie als bewusst absurd erkannt hätte. Ein typisches Beispiel für seinen Stil ist folgendes Zitat: »Ich halte jedes Mädchen, das ich treffe, erstmal für eine schmutzige Hure, bis man mir das Gegenteil beweist.« Sagen wir einfach, in Sachen Satire war das nicht gerade Jonathan Swift. Als Reaktion auf den Beitrag wurde auf Change.org eine Unterschriftenaktion gestartet, die dazu aufrief, Roosh V die Einreise nach Kanada zu verweigern. Sie sammelte über 38.000 Unterschriften. Verglichen mit Aufreißkunst und der Kulturpolitik von Reddit steht A Voice for Men einem älteren Stil von Männerrechtspolitik näher. Bei der von Paul Elam gegründeten und betriebenen
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Seite handelt es sich möglicherweise um die aktuell wichtigste Webseite der Männerrechtsbewegung. Um einen Eindruck vom Ton der Seite zu vermitteln: Zum Zeitpunkt der Niederschrift wurden auf der Startseite zwei Bücher beworben. Bei dem einen handelt es sich um Memoirs of a Misogynist: An Erotic Novel for Men, bei dem anderen um The Seduction of Anita Sarkeesian. Das Cover des letzteren schmückt eine krakelige Comic-Zeichnung von Anita, die Hände im Schritt, samt der Beschreibung: »Wenn Sie Anita hassen, warum ihr nicht auf die Nerven gehen, indem Sie ein Exemplar erwerben?« Zu den Beiträgen auf der Seite zählen 13 Gründe, warum Frauen über Vergewaltigungen lügen und Alle Frauen sind Pädophile und sonst nichts – eine Anspielung auf das Marilyn-French-Zitat »Alle Männer sind Vergewaltiger und sonst nichts« von 1977. Die Webseite liest sich oft wie ein Katalog der allerschlimmsten rhetorischen Exzesse in der Geschichte des Feminismus, allerdings mit umgedrehten Geschlechtern. 2011 richtete Elam die doxxing-Seite RegisterHer.com ein, die persönliche Daten von Frauen veröffentlicht, die der Seite zufolge »unschuldigen Personen bedeutenden Schaden zugefügt haben, indem sie sich entweder selbst Verbrechen wie Vergewaltigung, Körperverletzung, sexueller Belästigung von Kindern und Mord schuldig gemacht oder anderen fälschlicherweise diese Verbrechen vorgeworfen haben.« Diese Form der Selbstjustiz findet auf beiden Seiten der Kulturkämpfe weite Verbreitung und zeitigt ernste Konsequenzen in der echten Welt: Frauen werden belästigt, gestalkt, ihr Ruf ruiniert, Beziehungen zerstört, Arbeitsverhältnisse beendet. Einerseits werden Frauen aufgelistet, die tatsächlich Verbrechen begangen und dafür Gefängnisstrafen abgesessen haben, andererseits stehen aber auch freigesprochene Frauen auf der Liste; außerdem werden weibliche Vergewaltigungsopfer, deren Strafverfahren nicht in einem vollen Schuldspruch endeten, als »Verleumderin/Falschaussage« geführt.4
4 | Zu RegisterHer.com sowie zur Person Paul Elams vgl. https://rational wiki.org/w/index.php?title=Paul_Elam&oldid=1636594 (zuletzt aufgerufen am 28.05.2018) (Anm. d. Aut.).
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In einem wenig schmeichelhaften Porträt auf Buzzfeed berichten Elams Ex-Frau und Tochter, dass er seine zwei Familien beide verlassen habe und es ihm nur gelungen sei, A Voice for Men zu seiner Hauptbeschäftigung zu machen, weil Frauen ihn zeitlebens finanziell unterstützt hätten. Er verglich die Behandlung von Vätern durch das Familienrecht mit der historischen ›Rassentrennung‹: »Väter werden gezwungen, Unterhalt zu zahlen, als wäre es Schutzgeld an die Mafia.« Auch warf er dem Artikel zufolge seiner ersten Ehefrau vor, sie habe eine Vergewaltigung verschwiegen; dadurch habe er versucht, seinen Elternstatus zu verlieren, um keinen Unterhalt zahlen zu müssen. Obwohl sein Vater gewalttätig und übergriffig war, sagt Elam, er habe schon früh verstanden, dass diese Welt »den Frauen gehört«. Früher bloggte er unter dem Namen The Happy Misogynist (»Der fröhliche Frauenfeind«). 2011 tauchten die persönlichen Daten der feministischen Autorin Jessica Valenti auf Register Her auf, woraufhin Elam im Radio sagte: »Wir werden über sie herfallen wie Ron Jeremy5 über ein zugedröhntes Sexpüppchen.« Valenti sagt, sie sei derart mit Drohungen und Belästigung überschwemmt worden, dass sie das FBI einschaltete und ihr Haus mied, bis die Sache sich beruhigt hatte. In einem Post schrieb Elam: All diese politisch korrekten Forderungen, man müsse überempfindlich sein und betonen, dass nichts Vergewaltigung rechtfertigen oder entschuldigen kann, ändern nichts an der Tatsache, dass es eine Menge Frauen gibt, die verprügelt und durchgevögelt werden, weil sie dumm (und oft hochnäsig) genug sind, mit der Entsprechung eines über ihren leeren narzisstischen Köpfchen leuchtenden Neonschilds, auf dem ICH BIN EINE DUMME, HINTERHÄLTIGE SCHLAMPE – BIT TE VERGEWALTIGE MICH steht, [durchs] Leben zu gehen.
Für Außenseiter_innen scheint das antifeministische Internet völlig kohärent zu sein, doch es gibt dort genauso viele Graben-
5 | Bekannter US-amerikanischer Pornodarsteller (Anm. d. Übers.).
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kämpfe wie in jeder politischen Subkultur. Während der Online-Kulturkämpfe zählten zu den wichtigen Webseiten der Mannosphäre PhilosophyOfRape auf Reddit, wo man Themen wie ›korrektive Vergewaltigung von Feministinnen‹ finden konnte, The Counter-Feminist, Love-shy.com, /r/ mensrights, The Anti-Feminist, SlutHate.com und /r/ incel (für den unfreiwillig zölibatären6 Beta-Mann). In antifeministischen und pick-up-artist-Foren kommen Bitten um Ratschläge oft von selbsternannten ›netten Kerlen‹, deren Kommentare über Frauen den Verdacht erwecken, dass es ihnen ein wenig an ehrlicher Selbsteinschätzung mangelt. Es gibt auch Hassforen für jene, die die Aufreißkunst als Schwindel kritisieren, der die Verantwortung zu sehr auf Männer lege: Diese müssten ihre Körper stählen und das ›Spiel‹ lernen, nur um ›dumme Schlampen‹ zu beeindrucken – womit die betreffenden Forennutzer anscheinend immer Frauen meinen, auf die sie sauer sind, weil sie sie eben nicht ranlassen. Daneben gibt es die expliziteren Webseiten im Grenzbereich zur Alt-Right, wo die antifeministische und die race-orientierte Sphäre sich treffen, zum Beispiel Cheateau Heartiste, ein von James C. Weidmann (aka Roissy in DC) betriebener Männerrechtsaktivismus- und Aufreißkunst-Blog, der evolutionäre Psychologie, Antifeminismus und weiße Vormachtstellung (white advocacy) vermengt. Im Blog heißt es, die wirtschaftliche Freiheit der Frau führe zum Zusammenbruch der Zivilisation. Weidmann zufolge wird die weiße Zivilisation durch ›Rassenmischung‹, Einwanderung und die niedrigen Geburtenraten weißer Frauen – die er dem Feminismus anlastet – zerstört. Dieser Niedergang könne nur durch die Deportation von Minderheiten und die Wiedereinführung des Patriarchats rückgängig gemacht werden. Der antifeministische Blogger Vox Day identifiziert sich mit der Alt-Right und unterstützte früh die reaktionäre Seite des Gamergate. Eins seiner Bücher heißt SJWs Always Lie: Taking Down the Thought Police. Wie die gesamte antifeministische Alt-Right glaubt er, der westliche Feminismus stelle eine Bedrohung der
6 | Engl. involuntarily celibate, daher der Name incel (Anm. d. Übers.).
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Zivilisation dar. Beispielsweise ist er der Meinung, der Begriff ›Vergewaltigung in der Ehe‹ sei »nicht bloß ein Widerspruch in sich, er ist ein Angriff auf der Institution der Ehe, auf die Idee objektiver Gesetze und in der Tat auf die Grundlage der menschlichen Zivilisation selbst«. Eine weitere wichtige Figur an der Schnittstelle von Männerrechtsaktivismus und Alt-Right ist der selbsterklärte ›Androphile‹ Jack Donovan, der für Alternative Right.com geschrieben hat. Bei der Bewegung Men Going Their Own Way (MGTOW) handelt es sich um eine heteromännliche Seperatistengruppe, deren Mitglieder sich, nun ja, ›entschieden‹ haben, aus Protest gegen eine vom Feminismus zerstörte Kultur romantische Beziehungen mit Frauen zu meiden und sich stattdessen auf individuelle Leistung und Unabhängigkeit von Frauen zu konzentrieren. Die Rhetorik lässt anklingen, dass sie in erster Linie strafen und sich rächen wollen – Ratschläge sind zumeist gepfeffert mit Verweisen auf eine ›Schlampe‹, die den Mann betrügt, verlässt, aus Geldgier ausnutzt und so weiter. Sie lassen sich darüber aus, dass Frauen angeblich in ihren Zwanzigern ›das Schwanzkarussell reiten‹ und mit Anfang dreißig bemerken, dass ihr ›Aktienkurs‹ in der Dating-Szene zu fallen beginnt. Wie die Alt-Right auch sind sie überzeugt, dass der Feminismus die westliche Zivilisation kaputtgemacht hat usw. usf. und dass Frauen ihnen entweder Kinder eines anderen Mannes unterjubeln wollen, absichtlich schwanger werden, um sie in der Falle zu haben, oder sie fälschlich der Vergewaltigung bezichtigen. In so ziemlich jedem YouTube-Video über Männerthemen finden sich MGTOW-Anhänger in der Kommentarspalte, die Frauen als wert- und hirnlos sowie von biologischen Impulsen gesteuert darstellen und zum Boykott der Ehe aufrufen. MGTOW hat vier Stufen; Anhänger signalisieren gerne, wie weit sie schon fortgeschritten sind und seit wann sie dazugehören. Stufe 0 ist der Zeitpunkt, da das Mitglied ›die rote Pille schluckt‹ und den Feminismus ablehnt. Auf Stufe 1 verweigern MGTOWer sich Langzeitbeziehungen, auf Stufe 2 Kurzzeitbeziehungen und OneNight-Stands, Stufe 3 setzt wirtschaftliche Loslösung von Frauen voraus und Stufe 4 bedeutet gesellschaftliche Loslösung, womit
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der Mann den Kontakt zur gesamten, vom Feminismus vergifteten Gesellschaft meidet. In ihren Foren verfechten manche One-Night-Stands, andere geben an, sich ausschließlich selbst zu befriedigen oder Prostitution in Anspruch zu nehmen – je nach ihrer Stufe. Ein Artikel von Milo auf Breitbart über den ›Sexodus‹ half, MGTOW berühmt zu machen. Darin schrieb er ermutigend über die Flucht der Männer vor Frauen, Liebe, Sex und Ehe als Konsequenz eines allgegenwärtigen Feminismus – ein Thema, über das er seine Meinung öfter zu ändern scheint: Mal sagt er, der Feminismus sei überall, mal, dass dieser aufgrund seiner Männerfeindlichkeit bei Frauen äußerst unbeliebt sei. Man sollte MGTOW allerdings nicht mit anderen militant antifeministischen Bewegungen gleichsetzen. Ein Artikel auf Return of Kings namens Virgins Going Their Own Way beschreibt MGTOW als den »schleichenden Kult des männlichen Versagertums«, was zu einiger interner Kabbelei im antifeministischen Netz führte. An vielen YouTube-Videos über MGTOW – meist unter Pseudonym und ohne Bild des Sprechers veröffentlicht – fällt die roboterhafte Stimme auf, beinahe wie die eines Nachrichtensprechers. Wenig überzeugend soll hier scheinbare Ultra-Rationalität überdecken, was wie eine ganze Menge Bitterkeit und Verletztheit aufgrund von Zurückweisung wirkt. Die amüsanteste von allen ist sicherlich die Bewegung Proud Boys, die eine Fred Perry tragende Skinhead-Punk-Ästhetik pflegt und die Doktrin No Wanks (»Kein Wichsen«) verbreiten möchte. Ihrem Gründer Gavin McInnes zufolge stehen sie für folgende Überzeugungen: »minimaler Staat, maximale Freiheit, gegen politische Korrektheit, gegen race-Schuldgefühle, für das Recht auf Schusswaffen, gegen den Drogenkrieg, für geschlossene Grenzen, gegen Masturbation, Unternehmer hochachten, Hausfrauen hochachten«. McInnes vergleicht das mit der Hardcore-Szene der Achtziger, »wo es nicht wirklich einen Chef gab«. Die Szene produziert ihre Logos, Tattoos und Bilderwelt auf Punk-inspirierte, führerlose Weise. Ähnlich wie Burschenschaften verfügt sie über ein halb ironisches System von Einführungsritualen und ein Stufensystem. Die erste Stufe von Proud Boy
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setzt lediglich voraus, dass man sich zu einem solchen erklärt. Um auf die zweite Stufe aufzusteigen, muss man die Maxime No Wanks (sie benutzen das Hashtag #NoWanks) befolgen, darf also höchstens einmal im Monat Pornografie konsumieren bzw. masturbieren. Außerdem muss man eine Tracht Prügel durchstehen, bis man fünf Sorten Frühstücksflocken genannt hat. Für die dritte Stufe ist ein Tattoo, das Loyalität zu Proud Boys und No Wanks ausdrückt, Pflicht. Masturbation und Pornografie sind wesentliche Bestandteile der Proud-Boys-Philosophie (die wie bei Vice einerseits irgendwie augenzwinkernd-ironisch wirkt, andererseits irgendwie auch nicht). McInnes sagt, »Gen-X 7-Typen, das macht euch schwächer und dämlicher und fauler. Und Millennials, naja, es bringt euch soweit, dass ihr euch nicht mal ansatzweise für eine Beziehung interessiert.« Stattdessen ermutigt er junge Männer, »Backsteine runterzuschmeißen« (›throw down bricks‹), was heißen soll, dass man im echten Leben auf Frauen zugeht. Zur Denkweise hinter Proud Boys zählen einige allgemeine Niedergangsnarrative, die auch bei der Alt-Right beliebt sind, insbesondere jenes vom Untergang des Westens und dem Verfall, der auf den Aufstieg von Liberalismus und Feminismus gefolgt ist: »Mit all den liberalen Konzepten haben wir die Tradition ausgelöscht und sie durch etwas Schlimmeres ersetzt.« Ein frustrierender Widerspruch und eine Heuchelei, auf die man in vielen dieser Online-Räume stößt, bestehen darin, dass diese Männer die Vorteile der Tradition wollen, ohne jedoch die notwendigen Einschränkungen und Pflichten in Kauf zu nehmen. Sie wollen gleichzeitig das Beste der sexuellen Revolution (sexuellen Erfolg bei permanent aufgedonnerten, gewachsten, an Pornostars erinnernden Frauen, die zu allem bereit sind) ohne die dazugehörigen Unwägbarkeiten einer Gesellschaft, in der Frauen sexuelle Entscheidungsfähigkeit und Freiheit besitzen. Roosh V zum Beispiel beschwert sich über die Unsittlichkeit von »Flittchen«, schreibt jedoch selbst eine ganze Buchserie namens Bang
7 | Kurz für Generation X, die etwa zwischen den frühen 1960ern und frühen 1980ern geborene Generation (Anm. d. Übers.).
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(»bumsen«) über Gelegenheitssex mit wildfremden Frauen, die er noch dazu absolut nicht ausstehen zu können scheint. Die Proud Boys – so lächerlich es sich anfühlen mag, auch nur ihren Namen auszusprechen – bemühen sich dagegen um ein einigermaßen schlüssiges moralisches System. Sie möchten zu einer traditionelleren Lebensweise zurückkehren, nehmen aber auch einen konservativen Standpunkt zu Pornografie und Masturbation ein und behaupten, »die Hausfrau zu ehren«. Nicht unbedingt empfehlenswert, aber möglicherweise hegt die Bewegung wenigstens theoretisch weniger offen Hass auf Frauen als andere in der Mannosphäre. Und doch war McInnes einmal der hedonistische Party- Hipster par excellence und weitgehend alleinverantwortlich für den Stil der Vice. In seiner Show sind weibliche Pornostars zu Gast und er bewertet Frauen auf einer Skala von null bis zehn. Dieser eklatante Widerspruch zieht sich beim Thema Frauen durch die gesamte Alt-Right. Seit Jahren ist der wichtigste Raum für die Gestaltung der Alt-Right- und Alt-Light-Ästhetik 4chan, wo es dermaßen von verstörender und bewusst entmenschlichender Pornografie wimmelt, dass man ein moralisches und emotionales Wrack sein muss, um sich nicht angeekelt abzuwenden (und stattdessen idiotisch zu kichern, wie das 4chan-Publikum es zu tun scheint). Zu guter Letzt, und am interessanten, ist da noch F. Roger Devlin, Alt-Right-Autor, white nationalist, Männerrechtsaktivist und Antifeminist, der von MGTOW-Anhängern und einer Reihe rechter Antifeministen gelesen wird. Man könnte sagen, dass er versucht, eine ernsthaftere antifeministische Politik theoretisch zu fundieren. Devlin ist Redakteur des Occidental Quarterly: Western Perspectives on Man, Politics and Culture und schreibt auch für VDARE. Sein Essay Sexual Utopia in Power stellt sich gegen »die heutige sexuelle Dystopie mit ihrer lockeren Moral und ihren durcheinandergeratenen sexuellen Rollen«. Er erkundet »Hypergamie (sich hochschlafen), Narzissmus, Untreue, Täuschung und Masochismus der Frau«. Auch wird argumentiert, »der Zusammenbruch der Monogamie« resultiere in »Promiskuität für wenige, Einsamkeit für die Mehrheit«.
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Mit diesem letzten Punkt stößt er meiner Meinung nach zur wesentlichen Triebfeder hinter dieser Sorte reaktionärer Sexualpolitik, möglicherweise sogar zum maßgeblichen persönlichen Beweggrund hinter dem krassen Rechtsruck bei jungen Männern vor. Die sexuelle Revolution, die den Niedergang der lebenslangen Ehe einleitete, hat Männern wie Frauen eine große Freiheit von den Fesseln liebloser Ehe und selbstloser Pflichterfüllung der Familie gegenüber beschert. Doch diese endlose Adoleszenz hat auch zu steigenden Zahlen Kinderloser und einer steilen sexuellen Hierarchie geführt. Der Niedergang der Monogamie hat sexuelle Muster hervorgebracht, die für eine Elite von Männern eine größere sexuelle Wahlfreiheit bedeuten, für eine beträchtliche männliche Bevölkerungsschicht am unteren Ende der Hackordnung jedoch zunehmend weniger Sex. Deren Angst und Wut über ihren niedrigen Status sind exakt die Gründe für die harte Rhetorik, mit der sie die Durchsetzung von politischer Hierarchie gegenüber Frauen und Nicht-Weißen fordern. Der Schmerz ständiger Zurückweisung schwärt in diesen Foren und erlaubt diesen Männern, sich als Meister der grausamen natürlichen Hierarchien zu fühlen, die ihnen so viel Demütigung zugefügt haben. Diese psychologische Kompensation ist nichts Neues. Nietzsches Fetisch für männliche Körperkraft, Hierarchie und Willensstärke, die seine Nazi-Anhänger_innen an seinen Schriften reizten, stehen in ähnlich kläglicher Weise in krassem Gegensatz zu seinem körperlichen Zustand – Kurzsichtigkeit, Nervenschwäche, chronisch schlechter Gesundheitszustand, Verdauungsstörungen und natürlich die bittere Zurückweisung durch Frauen. Sexlose und von Frauen missachtete junge Männer füllen Räume wie das incel-Subforum für unfreiwillige Singles auf Reddit, wo sie Rat suchen und ihre sexuelle Frustration zum Ausdruck bringen. Als ich dies schreibe, lautet der neueste Post auf /r/incel: »Ich habe vier Stunden damit verbracht, in meinem Zimmer an die Wand zu starren. Was Normalos Sinnkrise nennen, ist für den incel einfach… das Leben.« Aus genau diesem Single-Milieu speist sich die race-hierarchische Politik der Alt-Right – freilich nicht ausschließlich daraus, doch die ständige Wiederkehr des Themas spricht Bände. Die frustrierten jungen Männer sehen
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sich zunächst sozialdarwinistischem Denken über das Anlocken einer Partnerin im Namen des ›Game‹ ausgesetzt, dann – wenn das nicht funktioniert – der frauenfeindlichen Rhetorik vom bösartigen, narzisstischen Wesen der Frau. Wer sich die Kommentarspalten irgendeines der unzähligen antifeministischen YouTube-Videos ansieht, wird rasch auf Rhetorik stoßen, die Frauen als wertlose, dumme, dicke, faule, oberflächliche, hysterische und nicht vertrauenswürdige Flittchen darstellt, die mit Gewalt bestraft werden müssen. Aufgrund der vielen Querverbindungen von Mannosphäre und Alt-Right ist es diesen Männern mittlerweile unmöglich, nicht irgendwann mit diesen Ideen in Kontakt zu kommen. Und ihre Wut über ihren niedrigen Rang in der sexuellen Hackordnung kann sich stellenweise auf extreme Weise Luft verschaffen. Der ›jungfräuliche Killer‹ Elliot Rodger trug die Gewaltfantasien dieser Foren ins wirkliche Leben. Mit dem Plan, die Frauen dort zu massakrieren, fuhr er zum Haus einer Studentinnenverbindung auf dem Campus der University of California in Santa Barbara (UCSB). Als er sich keinen Zutritt zum Haus verschaffen konnte, schoss er wahllos auf Passanten, wodurch er letztlich hauptsächlich Männer tötete. Die Polizei fand ihn tot mit einer Schusswunde am Kopf in seinem Auto. Rodger hatte ein letztes Video auf YouTube hochgeladen, betitelt Elliot Rodger’s Retribution (»Elliot Rodgers Vergeltung«). Darin beschreibt er sein Verlangen, Frauen dafür zu bestrafen, dass sie ihn zurückgewiesen haben: Nun, das hier ist mein letztes Video, es ist also so weit gekommen. Morgen ist der Tag der Vergeltung, der Tag, an dem ich Rache an der Menschheit übe, an euch allen […]. Ich bin seit zweieinhalb Jahren auf dem College, sogar mehr, und ich bin immer noch Jungfrau. Das alles ist echte Folter gewesen […]. Ich weiß nicht, warum ihr Mädchen nicht auf mich steht, aber ich werde euch dafür bestrafen […]. Ich bin der perfekte Typ und doch schmeißt ihr euch an diese widerlichen Männer ran anstelle von mir, dem höchsten Gentleman.
Der Begriff ›höchster Gentleman‹ (›supreme gentleman‹) kursiert seither als Witz im antifeministischen Netz und Rodger ist zum
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komischen Archetypen des wütenden Beta-Mannes geworden. Rodger hinterließ ebenfalls ein langes autobiografisches Manuskript mit dem Titel My Twisted World (»Meine verdrehte Welt«). Darin beschreibt er seine sexuelle Frustration, seinen Hass auf Frauen, die seinen Wunsch nach sexuellen Beziehungen immer wieder vereitelt hätten, seine bittere Abscheu sexuell erfolgreichen Männern gegenüber, die er auch ›Rohlinge‹ und ›Tiere‹ nennt, und seine Verachtung für Paare unterschiedlicher Hautfarbe, in denen eine weiße Frau mit einem Mann zusammen ist, den Rodger als ihm selbst genetisch unterlegen betrachtet. Er erwähnt einen ›Krieg gegen die Frauen‹: Die Zweite Phase wird am Tag Der Vergeltung selbst stattfinden, kurz vor dem Höhepunkt, dem Massaker […]. Mein Krieg gegen die Frauen […]. Ich werde auf genau die Mädchen losgehen, die für alles stehen, was ich am weiblichen Geschlecht hasse: die heißeste Studentinnenverbindung der UCSB.
Als der Amoklauf bekannt wurde, postete ein Nutzer ein Foto von Rodger auf 4chan und schrieb: »Elliot Rodger, der höchste Gentleman, war Teil von /b/. Diskutiert drüber.« Eine Antwort lautete: »Der Typ war ziemlich gutaussehend. Er muss der größte Beta aller Zeiten gewesen sein, wenn er keine ins Bett bekommen hat.« Jemand anders schrieb: »In seinem Manifest steht ›Ich vergesse nicht, ich vergebe nicht‹8 und ›ungeküsste Jungfrau‹ usw., er war /b/tard.« Nach dem Amoklauf wurde ein Journalist von einem Nutzer des Reddit-Forums PUAhate, das Rodger regelmäßig besuchte, angeschrieben. Er erklärte, die Gemeinschaft werde fälschlicherweise »als Ort dargestellt, wo verbitterte Männer rumsaßen und über ihren Hass auf Frauen redeten«. Wie allen anderen, die zu beschreiben versuchen, wie unfassbar hasserfüllt diese Orte sein
8 | Im Manifest der Anonymous-Bewegung von 2011, auf das Rodger anspielt, heißt es: »Wir sind Anonym./Wir sind Unendlich Viele./Wir Vergessen nicht./Wir Vergeben nicht./Erwartet uns.« (Anm. d. Übers.)
Kapitel 6 – Eintritt in die Mannosphäre
können, wurde dem Reporter versichert, das Forum sei »eher heiter als brutal«. Der Journalist bemerkt auch, dass das Foren-Pseudonym des Nutzers kurz nach dem Amoklauf ElliotRodgerIsAGod lautete.
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Kapitel 7 – Massen von Normalos
Im Nachgang der Trump-Wahl war von Guardian bis Financial Times eine Sorte von verständnisvollen Analysen zu lesen, die in Trumps Wahlsieg die Ansichten ›gewöhnlicher Leute‹, die sich ›abgehängt‹ fühlten, gespiegelt sahen. Thomas Frank zählt zu jenen, die am eindringlichsten Kritik am verachtenswerten liberalen Elitismus übten: Wir können uns einfach nicht eingestehen, dass wir Liberalen eine Mitschuld an der Entstehung der antiliberalen, populistischen Gegenbewegung tragen, an der Frustration von Millionen Menschen der Arbeiterklasse, an ihren kaputten Städten und ihrem Leben in der Abwärtsspirale. Viel einfacher, sie für ihre verdorbenen rassistischen Seelen niederzumachen, unsere Augen vor der offensichtlichen Wirklichkeit zu verschließen, von welcher der Trumpismus lediglich ein roher und hässlicher Ausdruck ist: dass der Neoliberalismus restlos gescheitert ist.
Auch wenn der Vorwurf, dass politische Korrektheit gewöhnliche Menschen der Politik entfremde, in rechter Rhetorik bis dahin des Öfteren aufgetaucht war, war der plötzliche Wandel von subkulturellem Elitismus zu proletarischer Aufrichtigkeit oder sogar einem Hauch von noblesse oblige doch bemerkenswert und klang, als hätte die Rechte schon die ganze Zeit Thomas Franks Argumentation bemüht. In Wirklichkeit hatte sie die ganze Zeit misanthropisch, wirtschaftlich elitistisch und antiegalitär argumentiert und eine ›natürliche Hierarchie‹ verfochten. Wie ich 2017 in einem Beitrag im Baffler angemerkt habe, hatte Ann Coulter schon lange auf die Elitenfurcht der hysterischen und leicht steuerbaren Masse gesetzt. In ihrem Buch Demonic: How the
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Liberal Mob is Endangering America bezieht sie sich auf Gustave LeBon, den Lieblingsmassentheoretiker der Misanthropen. Ihre Beschreibung von sich übermäßig vermehrenden, das Land zum Bersten bringenden Einwanderer-Schwärmen ist eine direkte Fortsetzung dieses Themas, das sich in elitären Zirkeln seit Anbeginn der industrialisierten, urbanisierten Massengesellschaft gehalten hat, wobei es zunächst um das anwachsende heimische Proletariat, später um Einwanderungswellen ging. Bevor mit Bekanntwerden der Wahlergebnisse das Narrativ von den ›gewöhnlichen Leuten‹ plötzlich bei der Internet-Rechten allgegenwärtig war, konnte man Milo noch in einem T-Shirt mit der Aufschrift Stop Being Poor auf Fotoshootings sehen, einem Zitat der Erbin Paris Hilton, einem seiner Idole. Nachdem der Wahlausgang klar geworden war, hielt er Vorträge über die weiße Arbeiterklasse. Die harte Alt-Right hatte den Glauben des konservativen Establishments, die Massen seien ihre naturgemäß traditionalistischen Verbündeten, ebenfalls verworfen. Stattdessen hatte sie argumentiert, die große Mehrheit der Gesellschaft sei von liberal-feministischem Multikulturalismus angesteckt und indoktriniert und folglich kaum noch zu retten. Es war nicht länger ›fünf vor zwölf‹, wie die immigrationskritische Rechte lange behauptet hatte, sondern weit nach Mitternacht. Während die Trumpianer sich aktuell in Windeseile daran machen, die Geschichte umzuschreiben, sollte man nicht vergessen, dass hinter dem ›populistischen‹ Präsidenten die Rhetorik seiner jungen rechtsextremen Online-Vorhut lange von einem außerordentlichen subkulturellen Snobismus gegenüber Masse und Massenkultur geprägt war. Der amerikanische Autor David Auerbach erklärt, dass ein typisches Merkmal dessen, was er ›A-culture‹ oder anonyme chan-Kultur nennt, »die ständige Feuertaufe von n00bs1 durch Jargon und komplexe Verhaltensregeln und elitäres technisches Wissen« ist, welche »die Außengrenzen der Subkultur überwacht, um sie vor Vermassung abzuschotten«. Gabriella Coleman
1 | Kurz für newbies, »Neulinge«; Internetslang (Anm. d. Übers.).
Kapitel 7 – Massen von Normalos
schreibt, dass »Trollen in dem Moment aus dem Boden schoss und explodierte, als das Internet von nicht technologieaffinen Leuten bevölkert wurde«, und weiter, dass »Trolle anstreben, die ans Ufer des Internets gespülten Massen daran zu erinnern, dass es eine Klasse von Geeks gibt, die, wie ihr Name anzeigt, dem Internet Kummer, Hölle, Elend bereiten werden«. Auch wenn Colemans Beschreibung mehr als nur ein wenig Bewunderung und unterschwellig zustimmendes Nicken enthält, scheint sie mir zum Kern der Abscheulichkeit und Menschenfeindlichkeit vorzudringen, die der gesamten Kultur um die chans herum immer schon zu eigen gewesen ist – nicht trotz, sondern gerade wegen ihres gegenkulturellen Stils und Wertesystems. Dass sie letztlich so zur Gänze mit der Alt-Right verschmolz, leuchtet daher ganz und gar ein. Der Hakenkreuz-Tattoos tragende Nazi-Hacker und Troll weev, über den Coleman immer schmeichelhaft geschrieben hat, führt seine Ansichten über die Masse in einem Interview folgendermaßen aus: Trollen ist im Grunde Internet-Eugenik. Ich will alle aus dem Netz raushaben. Blogger_innen sind Schmutz. Sie müssen vernichtet werden. Bloggen gibt einem Haufen Volltrotteln die Illusion von Partizipation. […] Wir müssen diese Menschen in den Ofen werfen. […] Wir steuern auf eine malthusische Krise zu. Planktonbestände fallen. Bienen sterben. Es gibt Tortilla-Aufstände in Mexiko, die höchsten Weizenpreise seit mehr als 30 Jahren. […] Die Frage, auf die wir eine Antwort finden müssen, ist: Wie bringen wir vier der sechs Milliarden Menschen auf der Welt auf die gerechteste Art und Weise um?
Die Misanthropie und Angst vor der Vermehrung niederer Schichten zählt zu den dominantesten Eigenschaften des Alt-Right-Diskurses, vom unflätigen Chaos der chan-Kultur bis zur ernsthafteren, stärker ausgearbeiteten Theorie der eigentlichen Alt-Right. Das aber ist nichts Neues. Der Literaturkritiker John Carey, der sich mit malthusischen, eugenischen und anderen elitären Vorurteilen gegen die entstehende Massengesellschaft und -kultur befasst hat, erklärt, dass die Zahl der Armen in Europa sich im
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neunzehnten Jahrhundert verdreifachte, während die Industrialisierung mehr und mehr Arbeiter_innen in urbane Kulturräume drängte, die zuvor den Eliten vorbehalten waren. H.G. Wells verzweifelte ob des »zügellosen Schwarms neuer Geburten« und nannte diesen »die maßgebliche Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts«, ein Empfinden, das weev beinahe hundert Jahre später teilt. Was Yeats die »Ausbreitung demokratischer Geschmacklosigkeit« nannte, veränderte zusammen mit der Massenalphabetisierung bald den Charakter der Kluft zwischen der Elite und der rasch anwachsenden Masse. Dieser Diskurs scheint heute vom neuen rechten Rand im Netz gelenkt zu werden, jedoch in subkulturellem Anti-MainstreamStil, der Akademikern und Progressiven reizvoll erscheint, weil sie diesen gegenkulturellen Elitismus aus ihren eigenen politischen Kreisen kennen. In den Online-Räumen, wo rechtes Trollen und ein Großteil des aktuellen Antifeminismus entstehen, finden wir eine Art Hybridform dieser Wertvorstellungen – eine Mischung aus nietzscheanisch-misanthropischer Weltsicht einerseits und einer eher gegenkulturell gefärbten, Fight-Club-inspirierten Perspektive andererseits. Nietzsche, für alle Flügel der Alt-Right der bei Weitem wichtigste Denker, warnte, dass eine »Kriegserklärung der höheren Menschen an die Masse […] nöthig« sei, damit über »die Überflüssigen« geherrscht werden könne. Zu Anfang berichteten etablierte konservative Medien einhellig in moralisierendem und verteufelndem Ton über Internet-Trolle aus der chan-Welt. Der standardmäßige Reflex progressiver Akademiker_innen – implizit pro-Gegenkultur und pro-Transgression – war weniger kritisch; vielmehr grenzte er an ein Zelebrieren. Die Darstellung von 4chan auf Fox News als »Internet-Hassmaschine« und von Trollen allgemein als antisozialer, unflätiger Gruppe von Menschenfeinden, die noch bei ihren Müttern wohnen usw., machte sich über die Panik ob der Anarchie in der Online-Welt lustig, während sie diese zugleich verstärkte. Andere etablierte Nachrichtenmedien berichteten über Cybermobbing, DDoS-Angriffe und das Trollen von Facebook-Gedenkseiten. Die Autorin Whitney Phillips war ambivalenter und
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beschrieb die Kulturpolitik des Trollens etwas wohlwollender. Ihr zufolge war die extreme Grausamkeit der Trolle zum Teil der Politik Facebooks sowie dem »kodierten Solipsismus« des sozialen Netzwerks selbst anzulasten. Während sie die sehr realen Auswirkungen ihrer Handlungen auf die Opfer anerkannte, befand Phillips, die Trolle von 4chan/b/ »schwelgen in Gegenhegemonie« und »untergraben Narrative der etablierten Medien« sowie das »geistlose Theater des modernen 24-Stunden-Nachrichtenzyklus«. Sie las die wenig schmeichelhafte Beschreibung der 4chan-Trolle durch Fox News als einen Versuch, »die Abneigung des Publikums« gegen jene zu »maximieren« und sagte: »Mainstream-Medien-Kanäle zielen darauf ab, einen bestimmten gegenhegemonialen kulturellen Freiraum zu neutralisieren.« Noch 2014, als 4chan voll von außerordentlich rassistischen und frauenfeindlichen Inhalten war, schrieb auch Gabrielle Coleman in äußerst freundlichem Ton über die Hackerkulturen, die daraus entstanden waren: Was als Netzwerk von Trollen anfing, ist, zum größten Teil, zu einer Kraft für das Gute in der Welt geworden. Die Entstehung von Anonymous an einem der schäbigsten Orte des Internets ist eine Geschichte von Wundern, Hoffnung und spielerischen Illusionen. Ist es wirklich möglich, dass diese Ideale von Kollektivität und Gruppengefühl, geschmiedet im höllischen, furchterregenden Feuer des Trollens, ihre Ursprünge transzendieren konnten? Hat die Kloake von 4chan wirklich eine der momentan politisch aktivsten, moralisch faszinierendsten und subversiv hervorstechendsten Aktivist_innengruppen herauskristallisiert? Einigermaßen überraschenderweise: ja.
Schon Jahre, bevor die 4chan-Trollkultur zu einer maßgeblichen Triebkraft hinter Ästhetik und Humor der Alt-Right wurde, strotzte sie nur so vor Rassismus, Frauenhass, Entmenschlichung, verstörender Pornografie und Nihilismus. Selbst wenn man das komplexe und wechselhafte Wesen der chan-Kultur berücksichtigt, ist es zweifellos schwierig, sich auch nur einen Hauch von Billigung aus dem akademischen Umfeld vorzustellen, handelte es sich hier um gewöhnliche, proletarische Rechtsextreme wie Tommy
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Robinson – obwohl dessen Ansichten weitaus milder sind als das, was seit Jahren typisch für 4chan und Trolle wie weev ist. Die völlig leeren und prinzipienfreien Ideen gegenkultureller Grenzüberschreitung haben ein Vakuum erzeugt, das heute von allem gefüllt werden darf, was Geringschätzung für Mainstream-Werte und -Geschmack signalisiert. Dies hat es möglich gemacht, dass eine Kultur, die mittlerweile in ihrer ganzen Schrecklichkeit bloßgestellt worden ist, von Progressiven als gegenhegemonische Kraft romantisiert wurde. Meiner Ansicht nach zeigt sich hier, dass sowohl die rechte chan-Kultur als auch extrem politisch korrekte akademische Kreise empfänglich waren für die gegenkulturellen Kodes, in denen sich eine Verachtung für alles Etablierte ausdrückte. 2016 schrieb ich in einem Essay namens The New Man of 4chan über den rassistischen und frauenfeindlichen Massenmörder Chris Harper Mercer, dessen Amoklauf neun Menschen das Leben kostete und neun weitere verletzte. In einer 4chan-Diskussion, die er offenbar begonnen hatte, schrieb ein Nutzer: »Du musst auf jeden Fall Molotows dabeihaben. Das ist eine total einfache und schmerzhafte Art, viele Normalos umzubringen.«2 Jemand anders schrieb, dass der Amokläufer auf »Chads und Stacys« Jagd machen sollte, was auf ein 4chan-Meme über Normalos anspielt. ›Chad Thundercock‹ und sein weiblicher Gegenpart ›Stacey‹ sind die Verkörperungen dieses Memes. Zur theoretischen Beschäftigung mit diesen Online-Kulturen bietet sich eine kritische Methode an, die aus dem Studium von Musik-Subkulturen stammt. ›Chad und Stacey‹ erinnern an die feminineren, aber ebenso verpönten ›Sharon und Tracey‹ in einer Studie der Kulturkritikerin Sarah Thornton über ›subkulturelles Kapital‹ in Pop-Subkulturen. In ihrem Buch über Clubkulturen schreibt sie:
2 | Das Originalzitat ist in fehlerhaftem Englisch verfasst: »Make sure you got molotovs. It is really easy and painfully way to kill many normies.« (Anm. d. Übers.)
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Wenn Mädchen aus dem Hipness-Spiel aussteigen, verteidigen sie ihren Geschmack oft mit Sprüchen wie »Es ist Müll, aber ich steh’ drauf«. Damit bestätigen sie die subkulturelle Hierarchie und akzeptieren ihren niedrigen Rang darin. Wenn sie sich andererseits diesem Defätismus verweigern, achten Clubberinnen und Raverinnen meist darauf, sich von der degradierten Popkultur von ›Sharon und Tracey‹ zu distanzieren; sie lehnen einen feminisierten Mainstream entschieden ab und verteufeln ihn.
Thornton kritisiert die sogenannte Birminghamer Schule in den Subkultur-Studien, in deren Analysen Subkulturen häufig als radikal, transgressiv und gegenhegemonisch dargestellt wurden. Sie argumentiert, diese orthodoxen Forscher_innen seien »subkulturellen Ideologien gegenüber bislang nicht kritisch genug gewesen, erstens, weil sie zu sehr mit der Infragestellung und Zerpflückung herrschender Ideologie beschäftigt waren, und zweitens, weil ihre Überzeugungen meist mit den Antimassengesellschaftsdiskursen der Jugendkulturen, die sie studieren, übereingestimmt haben« [Hervorhebung A.N.]. Während sogar Kritiker_innen der Alt-Right und der rechten chan-Kultur sich dabei ertappten, wie sie Jargon, subkulturelle Nischen-Anspielungen und Insiderwitze zu verstehen und verwenden versuchten, bediente Thornton sich bei Pierre Bourdieus soziologischem Konzept des ›kulturellen Kapitals‹, um in ihrer Theorie das sogenannte ›subkulturelle Kapital‹ als maßgeblichen Beweggrund hinter den Clubkulturen der Neunziger zu erklären. Elitäres subkulturelles Wissen oder Hipness, so Thornton, war eine Form kulturellen Kapitals, durch welches Mitgliedern der Subkultur Einlass gewährt wird. Bei Bourdieu heißt es, »der tief verwurzelte ›Zweck‹ von Slang-Vokabular« sei »zuallererst die Durchsetzung einer aristokratischen Abgrenzung«. Während man sich kulturelles Kapital einst verdiente, indem man weltgewandt und kultiviert war, bekommen heute diejenigen subkulturelles Kapital, die ›wissen, was abgeht‹ und obskuren Slang sowie die Besonderheiten der jeweiligen Subkultur benutzen, um sich von etablierter Kultur und Massengesellschaft abzusetzen. Thornton zufolge spielen die Medien in diesem System eine Schlüsselrolle, denn durch sie legt die Subkultur fest, was in
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oder aus der Mode ist und was viel oder wenig subkulturelles Kapital liefert. Wie viele Online-Kulturen auch überwacht die Clubkultur die Außengrenzen ihrer Subkultur, indem sie unentwegt neu klassifiziert, was als hip gilt. Der Hass auf das oberflächliche, eitle, ahnungslose Mädchen mit Mainstreamgeschmack, das versucht, sich in eine Geek-Subkultur einzuschleichen, ist zum wesentlichen Bestandteil ebensolcher Subkulturen geworden. Ein typischer Topos in verschiedenen nerdigen Alt-Right-Subkulturen ist jener vom Mädchen, das dazugehören will, es jedoch nicht schafft, die entsprechenden Zugehörigkeitsmarker – etwa korrekten Slang und detailliertes elitäres Wissen – zu verwenden. Der gesamte Diskurs um ›Normalos‹, die den gegenkulturellen Stil der amoralischen Subkultur ›nicht kapieren‹, lässt mich an die rivalisierenden Musik-Subkulturen meiner Jugendtage zurückdenken – bloß dass es sich hier um erwachsene Männer und ernstere politische Themen handelt. Richard Spencer wirft jenen, denen es nicht gelingt, den neuen, alten race-Separatismus ›abgefahren‹ und ›cool‹ zu finden, regelmäßig vor, »Normalos« zu sein. Im Interview mit der New York Times sagte Mike Cernovich, Hillary Clintons Rede »war das Dämlichste, was sie hätte machen können«, und fügte hinzu: »Ihr social-media-Beraterteam besteht aus vierundzwanzigjährigen Normalos, die sich von uns getriggert fühlen […].« Wenn wir einen Punkt erreicht haben, wo Faschist_innen anderen moralisch überlegen sein können, weil sie als avantgardistisch, gegenkulturell oder transgressiv gelten, sollten wir den Wert dieser abgestandenen und überholten gegenkulturellen Ideale möglicherweise ernsthaft überdenken. In einigen Angriffen auf ›zunehmend feminisierte‹ Mainstream-Online-Plattformen lassen sich auch Echos von Nietzsche vernehmen. Der Musikkritiker Robin James schreibt: »Wenn Nietzsche den Massen weibliche Eigenschaften zuschreibt, ist das immer an seine ästhetische Vision des Künstler-Philosophen-Helden geknüpft, des leidenden Einzelkämpfers, welcher der modernen Demokratie und ihrer uneigentlichen Kultur in unversöhnlicher Gegnerschaft gegenübersteht.« Und John Carey behauptet: »Nietzsches Sicht auf die Masse wurde von den meisten Gründern
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moderner europäischer Kultur geteilt oder vorweggenommen.« Der Online-Ausdruck »Es gibt im Internet keine Mädchen« erschien schon früh in 4chans ›Internetregeln‹. Das ist nicht buchstäblich, sondern vielmehr dahingehend zu lesen, dass die Gegenden des Netzes, in denen es wenige oder keine Frauen gibt, ›das Internet‹ – also das authentische Internet – ausmachen. Über Frauen wird in einer Weise gesprochen, die ihre Abwesenheit voraussetzt, und Nutzer scheinen den anonymen Raum als einen Ort zu behandeln, wo man vor einem implizit männlichen Publikum seinem Groll gegen Frauen Luft machen konnte. Cumdumpster3, ein Slang-Begriff, der lange im antifeministischen Internet beliebt war, hat seine Wurzeln in Angriffen auf als aufmerksamkeitsgeil und eitel wahrgenommene Frauen, die männerdominierte Geek-Räume betreten. Wie der Forscher Vyshali Manivannan dokumentiert, entspringt der verbreitete Gebrauch des Begriffs auf 4chan einem berüchtigten Zwischenfall von 2008: Eine 4chanerin, die sich als ›femanon‹4 vorstellte, postete ein Foto von sich in Dessous, höchstwahrscheinlich ein Fake. Die Frau bat um Rat zu einer kürzlichen Trennung und fragte, ob sie wohl leicht verheiratete Männer verführen könnte. Wie Manivannan ausführt, brach ihr Verhalten dermaßen mit subkulturellen Gepflogenheiten, dass Nutzer_innen den Post bearbeiteten, aus ›femanon‹ ›cumdumpster‹ machten und ihr ein Interesse an Exkrementen andichteten. Der Thread war zeitweise auf der Startseite von /b/ fixiert; ein Nutzer nannte ihn das Äquivalent zu einem »menschlichen Kopf auf einem Spieß«, eine klare Aussage über Inklusion und Exklusion. Eine weitere nerdige Online-Subkultur, die nach rechts gerückt ist und viel mit der heutigen Alt-Right gemeinsam hat – auch wenn sie mittlerweile an Einfluss verloren hat – ist der New Atheism. Er zählt zu den Vorgängern der Alt-Light und basiert
3 | Aus cum, »Wichse«, und dumpster, »Müllcontainer«; etwa: »Spermaloch« (Anm. d. Übers.). 4 | Weibliches Mitglied von Anonymous (Anm. d. Übers.).
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auf einem an Christopher Hitchens5 erinnernden Stil, wo heftig gegen ›irrationale‹ und religiöse Menschen ausgeteilt wird. Die zahlreichen heutigen ›Milo OWNS stupid feminist‹-Videos6 sind den vor einigen Jahren weitverbreiteten New-Atheism-Videos mit Titeln wie HITCHSLAP. Hitchens OWNS stupid Christian woman stilistisch sehr ähnlich. Auch durchströmt die Subkultur derselbe nietzscheanische, mainstreamfeindliche, nonkonformistische Geist. Die ›neue Atheistin‹ Rebecca Watson gründete den Blog Skepchick und betrieb gemeinsam mit anderen den Podcast The Skeptics’ Guide to the Universe. 2011 stand Watson im Zentrum einer Welle von Beleidigungen in der Atheist_innen- und Skeptiker_innen-Community im Netz, die heute als #elevatorgate bekannt ist. Sie hatte einen Blogeintrag namens Reddit makes me hate atheists geschrieben, in dem es um junge Frauen ging, die in der atheistischen Online-Gemeinschaft verhöhnt worden waren, als sie versuchten, sich in den größtenteils männlichen Foren in Diskussionen einzubringen. Im Juni 2011 sprach sie auf einer Konferenz, wo auch Richard Dawkins zugegen war. Sie berichtet folgendermaßen vom Ereignis, das zu #elevatorgate führte: Ich sprach sprach über meine Erfahrungen als atheistische Aktivistin im Internet und über die Reaktionen, die ich als Frau bekomme, etwa Vergewaltigungsdrohungen und andere sexuelle Kommentare. Das Publikum war aufgeschlossen und im Anschluss saß ich stundenlang in der Hotelbar und sprach mit anderen reflektierten Atheist_innen über Gender, Objektifizierung und Frauenfeindlichkeit. Um etwa vier Uhr morgens kündigte ich an, ich sei erschöpft und würde zu Bett gehen, um für einen weiteren Tag mit Vorträgen vorbereitet zu sein. Als ich den Aufzug betrat, löste sich ein Mann, mit dem ich mich noch nicht direkt unterhalten hatte, von der Gruppe und gesellte sich zu mir. Als die Türen schlossen, sagte er zu mir: »Bitte nehmen Sie mir das nicht übel, aber ich finde Sie sehr interessant. 5 | Vehement atheistischer und religionskritischer britisch-amerikanischer Autor (1949-2011) (Anm. d. Übers.). 6 | Das in der Internetsprache beliebte Engl. to own lässt sich etwa als »plattmachen« übersetzen (Anm. d. Übers.).
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Würden Sie gern auf einen Kaffee in mein Hotelzimmer kommen?« Ich lehnte höflich ab und verließ den Aufzug, als er mein Stockwerk erreichte.
Später nahm sie in einem Vlog auf diesen Zwischenfall Bezug. Daraufhin wurden die Kommentarspalten ihrer YouTube-Videos mit hässlichen sexualisierten Beleidigungen und Drohungen überschwemmt sowie ihre Wikipedia-Seite verwüstet. Außerdem hätten »ein paar Personen« ihr »hunderte Nachrichten geschrieben, in denen sie versprechen, mich niemals wieder in Ruhe zu lassen«. Die Hasspost wurde noch heftiger, nachdem Richard Dawkins selbst sich eingebracht und darüber lustig gemacht hatte, dass westliche Feminist_innen sich über derart triviale Dinge wie einen Annäherungsversuch im Aufzug aufregten, wo in der muslimischen Welt doch viel größeres Leiden geschehe. Unter ihrem Namen wurden Twitter-Konten erstellt und benutzt, um ihren Freund_innen und anderen belastende Nachrichten zu schicken. Wie sie berichtet, wurden über sie ganze Blogs erstellt, die vergangene Fehltritte katalogisierten und versuchten, irgendetwas Verfängliches aus ihrer Vergangenheit auszugraben. Nur eine Woche, nachdem Dawkins sich eingebracht hatte, sollte Watson auf einer Konferenz sprechen, und ein Mann tweetete ihr, dass er teilnehmen und sich, falls er sie im Aufzug träfe, auf sie stürzen würde. Andere Frauen in der atheistischen Blogger_innen-Community, verhasst, weil sie diesen männlichen Raum mit ihrer femininen Kultur zerstört hätten, berichten über ähnliches Verhalten. Watsons Co-Bloggerin Amy Davis Roth musste umziehen, nachdem ihre Adresse in einem dem Hass auf feministische Atheist_innen gewidmeten Forum namens Slime Pit (»Schleimgrube«) gepostet worden war. Dahinter stand derselbe Mann, der auf A Voice for Men einen zutiefst verletzenden Beitrag über sie veröffentlicht hatte. Die feministische, skeptische Bloggerin Greta Christina schreibt: »Wenn ich meinen Mund öffne, um über irgendetwas Kontroverseres zu sprechen als ›Pan Galactic Gargle Blaster‹-Rezepte oder Sechs Weitere Atheisten, Die Total Klasse Sind, kann ich mich auf einen Schwall von Hass, Beleidigungen, Demütigungen, Mord- und Vergewaltigungsdrohungen und
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mehr einstellen.« Ähnlich äußerte sich die Skeptikerin Jennifer McCreight zu ihrem Entschluss, nicht mehr zu bloggen und keine öffentlichen Vorträge mehr zu halten: »Ich wache jeden Morgen zu beleidigenden Kommentaren, Tweets und E-Mails auf, in denen steht, dass ich ein Flittchen, zimperlich, hässlich, fett, ein Feminazi, behindert, eine Schlampe und eine Fotze bin (um nur einige zu nennen) […]. Ich halte es einfach nicht mehr aus.« Auf das Forum r/atheism auf Reddit geht ein Meme zurück, das zeigen soll, dass Frauen angeblich fotobasierte soziale Medien nutzen, um ihre Eitelkeit zu befriedigen, was Männer hingegen nicht täten. Zu sehen ist die Comicfigur eines männlichen Nutzers, der dem Publikum einen Backstein zeigt, während die Nutzerin, die ebenfalls einen Backstein hält, in einem gestellten und schmeichelhaften Foto ihrer selbst erscheint. In diesem Cartoon-Bild heuchelt die Frau bloß Interesse am betreffenden Gegenstand, um ein Foto von sich zu machen, während der Mann einfach den Gegenstand vorzeigt. Dieses Bild tauchte auf r/atheism auf, dokumentiert von Feminist_innen, die der atheistischen Online-Kultur kritisch gegenüberstehen, als ein fünfzehn Jahre altes Mädchen unter dem Pseudonym Lunam einen Thread namens What My Super Religious Mother Got Me For Christmas postete. Darin verlinkte sie ein Foto von sich, wie sie Carl Sagans Der Drache in meiner Garage oder Die Kunst der Wissenschaft, Unsinn zu entlarven in die Kamera hält. Der erste Kommentar zum Bild lautete »Mach dich auf was gefasst, die Komplimente kommen«, was die Unaufhaltsamkeit der nun folgenden Schmeicheleien anzeigen sollte. Es folgte eine lange Diskussion, in der Nutzer ihr Alter besprachen und Witze darüber machten, dass sie sie entführen und anal vergewaltigen würden. »Entspann’ deinen Anus, so tut es weniger weh«, schrieb ein Kommentator. »Blut ist Mutter Erdes Gleitmittel«, witzelte ein anderer. Lunam antwortete schließlich folgendermaßen auf diese Kommentare: »Dieses Gefühl7, wenn man weiß, dass
7 | Engl. dat feel; Grundlage vieler englisch- und deutschsprachiger Memes (Anm. d. Übers.).
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man in der atheistischen/wissenschaftlichen/was-auch-immer- Gemeinschaft niemals ernst genommen werden wird, weil man ein Mädchen ist.« Die erste kritische Antwort lautete: »Na ja, wenn du Sachen sagst wie ›dieses Gefühl‹…« Dies gehört zu einem breiteren Trend in männerdominierten nerdigen Online-Subkulturen, dem zufolge Frauen als eine Bedrohung der Trendigkeit der Subkultur wahrgenommen werden. Durch sie, so die Befürchtung, dringen die moralischen und verhaltensmäßigen Restriktionen und die Inauthentizität der Mainstream-Plattformen ins Reich der Subkultur vor. Ein frühes Beispiel für das antiweibliche Geek-Genre ist das ›Idiot Nerd Girl‹-Meme, welches etwa im Mai 2010 auftauchte.8 Es zeigt das Foto einer Jugendlichen mit dickrandiger Brille, auf deren Handfläche das Wort nerd geschrieben steht. Am oberen Bildrand steht jeweils eine Anspielung auf die ›Geek-Kultur‹, während unten ein Mangel an subkulturellem Wissen suggeriert wird. Die Kombinationen lauten dann etwa »Selbsternannter ›Nerd‹/Was ist World of Warcraft?« oder »Ich liebe Zurück in die Zukunft!/Was zum Teufel ist ein Gigawatt?«. Die ›aufmerksamkeitsgeilen camwhores‹ (»Kamerahuren«) und ›cumdumpsters‹ bekommen in solchen selbsternannten transgressiven und gegenkulturellen Foren oft zu hören, der Fehler liege bei ihnen und sie ›kapierten‹ die subkulturellen Gepflogenheiten nicht. Angeblich legen sie weibliche Eitelkeit an den Tag, die der chan-Kultur verhasst ist, weil sie das maßgebliche Kennzeichen weiter Teile der etablierten sozialen Medien und der Mainstream-Online-Kultur sei. Netzwerke wie Instagram und Facebook gründen auf persönlicher Identität und Fotos. Gegen diese massenkompatiblen und ›verweiblichten‹ Netzwerke versuchen die Subkulturen aggressiv, ihre Grenzen zu verteidigen. Auch das ist nichts Neues. In Bezugnahme auf John Osbournes Theaterstück Blick zurück im Zorn sowie den Film …denn sie wissen nicht, was sie tun, als ähnlich gegenderte Angriffe auf den
8 | Vgl. http://knowyourmeme.com/memes/idiot-nerd-girl (zuletzt aufgerufen am 28.05.2018) (Anm. d. Aut.).
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Kleingeist der Gesellschaftsordnung der Nachkriegsjahre, schreiben Joy Press und Simon Reynolds: »Durch den Rebellendiskurs der Fünfziger spukt die Figur der Matriarchin als Hauptorganisatorin des Konformismus.« In Einer flog über das Kuckucksnest warnt der rebellische Häftling Harding vor der bösen Schwester Ratched: »Wir sind hier die Opfer einer Matriarchie, mein Freund […].« Konformismus ist in dieser Bildersprache weiblich, der Aufstand männlich. Dass Misanthropie und Misogynie – der Hass auf das fruchtbare, domestizierende Weibliche – in der Welt der Alt-Right zusammenfinden, ist ebenfalls nichts Neues. In The Sex Revolts schreiben Reynolds und Press, dass Frauen in der rebellischen Fantasie sowohl als Opfer wie auch als Täterinnen eines »kastrierenden Konformismus« auftreten. Diese Verknüpfung wird im Konzept des momism (»Mama-ismus«) in Philip Wylies Generation of Vipers von 1942 besonders klar, einer Polemik gegen die Degeneration der von Materialismus und seichter, verweiblichter Populär- und Konsumkultur verschlungenen amerikanischen Gesellschaft. Wie die antifeministischen Online-Kulturen der ›roten Pille‹ erklärte auch die männliche Rebellenkultur der Fünfziger und Sechziger die Falle von Ehe und Häuslichkeit zum Feindbild und ließ Frauen regelmäßig die Rolle der konterrevolutionären Vollstreckerinnen des vorstädtischen Kleingeistes spielen. Die negative Verknüpfung von Weiblichkeit und Massenkultur reicht noch weiter in die Vergangenheit. Der Literaturkritiker Andreas Huyssen verfolgt sie bis zu Madame Bovary zurück. Geschrieben zu einer Zeit, als die Väter der Moderne einer Ästhetik verbunden waren, »die auf der restlosen Zurückweisung von Emma Bovarys Lieblingslektüre basierte«, präsentiert der Roman das wenig schmeichelhafte Porträt einer Frau mit von romantischen Romanen benebeltem Verstand. Huyssen sieht das Andere dieser Zeit als Frau. In der Ära der ersten großen Frauenbewegung, so führt er aus, sei der Feind vor den Toren einer männerdominierten Elite weiblich gewesen: Es fällt tatsächlich ins Auge, dass der politische, psychologische und ästhetische Diskurs um die Jahrhundertwende durchgehend und zwang-
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haft Massenkultur und Masse als feminin gendert, während Hochkultur, ob traditionell oder modern, eindeutig das privilegierte Reich männlicher Aktivitäten bleibt.
Ich möchte noch einmal auf Fight Club zu sprechen kommen. Von den ursprünglich fünfzig ›Internetregeln‹ von 4chan, darunter »Titten oder verpiss’ dich« und »Es gibt keine Mädchen im Internet«, lauteten die ersten zwei »Du sprichst nicht über /b/« und »Du sprichst NICHT über /b/«, was die ersten beiden Regeln des Fight Club nachahmt, die da lauten: »Du sprichst nicht über den Fight Club.« Tyler Durden, die eine Hauptfigur des Films, verkörpert eine rebellische Männlichkeit, die sich gegen die kastrierende Gleichförmigkeit der Konsumkultur und die postindustrielle, verweiblichte Schüchternheit der Bürojob-Welt auflehnt. Edward Norton spielt den konformistischen, seiner Männlichkeit beraubten, von Konsumdenken gelenkten Beta-Mann, während sein Quasi-Alter-Ego Durden den gegenkulturellen ›Alpha‹ darstellt, der sowohl vom Bedürfnis nach Frauen als auch von deren Kontrolle frei ist. Die pinke Seife, die er verkauft, besteht aus dem Fett von Frauen, die sich einer Fettabsaugung unterzogen haben, sodass er »reichen Weibern ihre eigenen fetten Ärsche« zurückverkauft, was Rebellion gegen Konsumdenken mit Verachtung für weibliche Eitelkeit und dem Zerschlagen von Konformismus verschmilzt – wohl das zentrale Thema der MGTOW-Kultur. Auch wird so eine rebellische Männlichkeit konstruiert, die als antikonformistisches ›Gegengift‹ sowohl althergebrachte als auch profeministische neue Männerrollen zurückweist. Durdens antikonformistischer, anarchischer Stil klingt in der Rhetorik weiter Teile der Alt-Right an. Im Film versucht er, die konformistische Drohne aus ihrem Schlummer zu wecken und ihr, also sich selbst, die ›rote Pille‹ zu verabreichen. Man hört sowohl die rebellische Männlichkeit der Gegenkultur der Sechziger als auch die Männlichkeitsvorstellungen der AltRight, wenn Durden Mainstream-Männer folgendermaßen beschreibt:
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Eine ganze Generation […] schuftet als Schreibtisch-Sklaven. Durch die Werbung sind wir heiß auf Klamotten und Autos. Machen Jobs, die wir hassen, kaufen dann Scheiße, die wir nicht brauchen. Wir sind die Zweitgeborenen der Geschichte, Leute – Männer ohne Zweck, ohne Ziel. Wir haben keinen großen Krieg, keine große Depression. Unser großer Krieg ist ein spiritueller. Unsere große Depression ist unser Leben. Wir wurden durch das Fernsehen aufgezogen in dem Glauben, dass wir alle irgendwann mal Millionäre werden, Filmgötter, Rockstars. Werden wir aber nicht! Und das wird uns langsam klar. Und wir sind kurz, ganz kurz vorm Ausrasten.
Dies ist mittlerweile exakt der rhetorische Ton und Stil der MGTOW-Bewegung und allgemein der antifeministischen Manno sphäre, in welcher der abwesende Vater häufig die Grundlage für weitere Anschuldigungen gegen Frauen liefert. Auch das Kuckuck-Thema findet sich in Fight Club. Als er auf der Toilette sitzt und sich einen IKEA-Katalog ansieht, berichtet der Erzähler Jack: »Wie so viele andere war ich zu einem Sklaven des IKEA-Nestbautriebes geworden.« Durden fragt ihn später: »Wieso wissen Leute wie du und ich, was ein Plaid ist?« Wie die Online-Rechte auch bringt der Film maskulinistische und antifeministische Politik, rebellische Existenzangst und eine Ablehnung des domestizierenden, femininen Einflusses von Frauen zusammen. Im diskursiven Stil der neuen, ›punkigen‹, transgressiven Online-Rechten ist ›Nestbau‹ auch mit Beschwichtigung und Betäubung verknüpft, während Grenzüberschreitung, Pornografie und Gewaltdarstellungen in Online-Hasskampagnen gegen Frauen, die in männerdominierte Räume eindringen, als Gegenkraft Gebrauch finden. Das Popkultur-Klischee des amerikanischen High-SchoolFilms, das alte Archetypen adaptierte, stellte eine zwischenmenschliche Welt dar, in der die schlimmsten Sexisten immer die Sport-Asse mit viel Muskelmasse, aber wenig Hirn sind. Doch mittlerweile, da die Online-Welt uns einen Einblick ins Innenleben anderer erlaubt, besteht eine der überraschenden Erkenntnisse darin, dass gerade der streberische, selbsternannte nette Typ, der das Mädchen seiner Träume nie hat bekommen können, der
Kapitel 7 – Massen von Normalos
um einiges boshaftere und rassistischere Frauenfeind und über die Maßen neidisch auf das Glück anderer ist. In ähnlicher Weise hat sich die Vorstellung vom inhärenten Wert bestimmter ästhetischer Prinzipien, die seit den Sechzigern die westliche Popkultur dominieren – Transgression, Subversion und Gegenkultur –, als bestimmendes Merkmal einer netzbasierten äußersten Rechten herausgestellt, die einerseits voll von der Engstirnigkeit der Rechten steckt, durch ihren nietzscheanischen Antimoralismus jedoch von allen durch christliche Moral vorgeschriebenen Restriktionen befreit ist. Sie steckt voller selbstgerechter Verachtung für alles Etablierte, Konformistische, Normale. Anstatt kläglich zu versuchen, die Sprache dieser neuen Rechten zu sprechen und ›die Trolle zu trollen‹ oder ihre Online-Kultur nachzuahmen, sollten wir die Gelegenheit nutzen und entschieden zurückzuweisen, was sie uns offenbart – etwas, was viel tiefer geht, als es zunächst den Anschein hat. Die Alt-Right redet oft über das Geistesgefängnis des Liberalismus und bringt ihr Streben nach dem wahrhaft Radikalen, Grenzüberschreitenden und Ausgefallenen zum Ausdruck. Ein halbes Jahrhundert nach den Rolling Stones, nachdem Siouxsie Sioux und Joy Division mit faschistischer Ästhetik geflirtet haben, nach Piss Christ, nach Fight Club, in einer Zeit, da vom Fanclub des Präsidenten bis zu McDonald’s alle verzweifelt versuchen, cool und avantgardistisch zu wirken, könnte es an der Zeit sein, die noch immer sehr jungen, sehr modernen Werte und das gesamte Paradigma der Gegenkultur zu beerdigen und etwas Neues zu schaffen.
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Fazit – Nicht mehr witzig: Der Kulturkampf geht offline Im Zeitraum, der in diesem Buch untersucht wurde, stach Mark Fisher als eine der wenigen Stimmen jenseits der Rechten heraus, die sich gegen die durchgeknallte antiintellektuelle Kultur der Gruppenhysterie aussprach, welche die kulturelle Linke in den Jahren vor dem reaktionären Aufstieg der neuen Online-Rechtsextremen erfasst hatte. Als im Januar 2017 bekannt wurde, dass Fisher Selbstmord begangen hatte, antwortete das Online-Milieu, das ihn seit Jahren verleumdet und beschmutzt hatte, so, wie man es erwarten würde – mit Schadenfreude. Stavvers (aka Another Angry Woman), eine einflussreiche Twitter-Gestalt und jemand, den die Alt-Right Social Justice Warrior nennen würde, hatte auf Twitter schon sarkastisch ›Vampirschloss‹ als Ortsangabe eingetragen und reagierte auf die Todesnachricht, indem sie Folgendes tweetete: »Nur weil Mark Fisher tot ist, heißt das noch lange nicht, dass er mit ›sauertöpfischen Identitären‹ Recht hatte. Wenn bloß der linke Frauenhass mit ihm sterben würde.« Und danach: »*wirft sich Vampirumhang über, fliegt raus in die Nacht*.« Diese Antwort ist ein ziemlich typisches Beispiel für ebenjene sauertöpfischen Identitären, die im Laufe dieser boshaften Kulturkämpfe zweifellos massenhaft junge Menschen zur Rechten hin getrieben haben. Der beste linke Kritiker dieser linken Seuche war gerade gestorben – und auf seinem Grab tanzte eine Frau, die es einmal in einem Blogeintrag als feministischen Akt bezeichnet hatte, mit eigener vaginaler Hefe Brot zu backen. Es steht außer Frage, dass die peinliche und toxische Online-Politik, die diese so destruktiv und unmenschlich handelnde
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Fraktion der Linken kennzeichnet, die Linke zur Lachnummer einer ganzen Generation gemacht hat. Jahrelange Online-Hassund Schmutzkampagnen sowie Säuberungsaktionen gegen andere – auch und insbesondere gegen andersdenkende oder freigeistige Linke – haben unerhörten Schaden angerichtet. Man kann diese antiintellektuelle, gegen freie Rede und freies Denken gerichtete Online-Bewegung, die Politik durch Neurosen ersetzt hat, nicht von den Szenen aus dem echten Leben trennen, von denen Millionen online Zeugen geworden sind: Universitäten, wo es etwas Spannendes, Lustiges und Mutiges darstellte, rechts zu sein, zum ersten Mal seit – nun ja, vielleicht zum ersten Mal überhaupt. Als Milo die gegen ihn Protestierenden auf seiner Tournee unzählige Male aufforderte, mit ihm zu diskutieren, wusste er, dass sie das nicht bloß nicht tun würden, sondern es auch nicht konnten. Sie kommen aus der intellektuell völlig stillgelegten Welt von Tumblr und Trigger-Warnungen, wo Widerspruch ausgemerzt wird – einer Welt, wo sie lediglich gelernt haben, Jargon zu rezitieren. Die Online-Rechte ist im Gegenzug noch ekliger geworden, wobei viele so weit nach Rechts geschwenkt sind, wie es noch vor wenigen Jahren unvorstellbar gewesen wäre – bis hin zu Verschwörungstheorien über Juden und Ähnlichem. Überall, wo man auch nur die sanfteste Version der Online-Rechte findet, in Foren, in YouTube-Kommentaren, auf Twitter, wird man nun auch auf eine Flut übelster rassistischer Beleidigungen und boshafter Kommentare voller Gewaltfantasien über Frauen und ethnische Minderheiten stoßen. Unvermeidbar folgen antisemitische Theorien und entmenschlichende Beleidigungen wie ›rapugees‹1 . Selbst Konservative bekommen langsam Wind davon, welche Unmenschlichkeit die Kulturkämpfe auf der Rechten entfacht haben. Als beispielsweise David French vom National Review es wagte, Trump zu kritisieren, griff ihn erst Milo an, dann kamen die Kampfhunde der Alt-Right. Er schreibt:
1 | Aus Engl. rape und refugee, etwa: »Asyl-Vergewaltiger« (Anm. d. Übers.).
Fazit – Nicht mehr wit zig: Der Kulturkampf geht offline
Es ist in keiner Weise bestätigend oder befriedigend, wenn deine wunderschöne junge Tochter niglet 2 genannt wird. Es ist in keiner Weise bestätigend oder befriedigend, wenn Mann für Mann für Mann in expliziten Worten damit prahlt, mit deiner Frau geschlafen zu haben. Es ist äußerst beunruhigend, wenn Anrufe unterbrochen werden, Bilder von Morden auf deinem Bildschirm erscheinen und man Droh-E-Mails bekommt. Es ist ernüchternd, mit deinen jugendlichen Kindern auf den Bauernhof zu fahren, um dafür zu sorgen, dass beide gut mit Handfeuerwaffen umgehen können, falls ein Eindringling kommt, wenn sie allein zu Hause sind. Das Elend wird noch verschlimmert, wenn lang jährige Freund_innen und Mitstreiter_innen meine Erfahrungen und die Erfahrungen meiner Kollegen als den normalen Preis dafür abtun, sich öffentlich einzubringen. Das sind sie nicht. Ich schreibe jetzt seit über zehn Jahren für den National Review und bin seit über zwanzig tief in die emotionalsten Schlachten der amerikanischen Kulturkämpfe involviert. So etwas hatte ich vorher noch nie erlebt.
Verschiedene Journalist_innen und Bürger_innen beschreiben mit einer grausigen Fülle an Details die Angriffe und Drohungen gegen jene, die Kritik an Trump oder Akteur_innen der Trump’schen Online-Rechten üben, insbesondere, falls die Person weiblich, schwarz oder jüdisch ist, aber auch, wenn sie als ›cuckservative‹ wahrgenommen wird. Mittlerweile sind sie fähig, Tausende der besessensten, verwirrtesten und wütendsten Menschen im Internet auf alle zu hetzen, die es wagen, sich gegen den Präsidenten oder seine prominenten Alt-Light- oder Alt-Right-Fans auszusprechen. Auch wenn die etablierten Medien nach wie vor recht eindeutig kontra Trump eingestellt sind, wäre es naiv zu glauben, dass all dies in den kommenden Jahren nicht zu einem Abkühlen kritischen Denkens und kritischer Rede führen wird, da immer weniger sich deren Konsequenzen antun wollen. Im Februar 2017, vor dem spektakulären Zusammenbruch seiner Karriere, hatte Milo geplant, die Schlussrede seiner
2 | Rassistische Bezeichnung für ein afroamerikanisches Kind (Anm. d. Übers.).
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Tournee auf dem Campus der University of California, Berkeley zu halten, seit 1964 Heimat der linken Bewegung für Redefreiheit. Es ist bereits oft angemerkt worden, welche Ironie in den Berkeley-Unruhen liegt – die historische Umkehrung, dass die Linke nun den Campus zensiert, um ihn von der Rechten zu säubern –, doch ebenso bedeutsam ist es, dass dies an dem Abend geschah, der als Finale von Milos Tournee geplant war. An diesem Abend, am Ende einer ein Jahr währenden Tournee, während derer die amerikanische Campus-Linke spektakulär daran gescheitert war, ihn auf der Ebene der Ideen herauszufordern, entschied man sich, den Aufstand zu proben. Wie beim Meme, in dem der heute berühmte Richard Spencer geschlagen wird, hatte man den Eindruck, die Demonstration kurzlebiger Schlagkraft verschaffe eine zeitweilige Erleichterung vom ungewohnten Gefühl, ständig zu verlieren. Auf Twitter verbreiteten sich rasch Videoaufnahmen aus der Krawallnacht, auf denen zu sehen ist, wie einer jungen Yiannopoulos-Anhängerin Pfefferspray ins Gesicht gesprüht, eine weitere junge Frau mit einer Fahnenstange auf den Kopf geschlagen und ein am Boden liegender Mann von mehreren Menschen verprügelt wird, während eine Stimme »Macht ihn alle!« schreit. Die Glaswände im Erdgeschoss des Gebäudes wurden zertrümmert, es wurde Feuer gelegt und Yiannopoulos, der seine Rede absagte, wurde evakuiert. An diesem Abend war die Rechte Opfer der Gewalt, doch an einem anderen wurde ein Anti-Milo-Demonstrant angeschossen. Milos Tournee brachte die tiefe intellektuelle Fäule im aktuellen kulturellen Progressivismus zum Vorschein, der sich als völlig unfähig erwiesen hat, mit der Herausforderung der Rechten umzugehen. Der heutige Tumblr-Liberalismus und der rein identitäre, selbstbezogene Progressivismus, wie sie in Online-Subkulturen aufgekommen und dann an den Universitäten groß geworden sind, haben ein Problem: Die Idee, man könne Menschen durch Ideen für etwas gewinnen, scheint diesen tragisch betäubten Schatten der großen linken Bewegungen – etwa jener, die 1964 an Universitäten wie Berkeley ihren Anfang nahm – nur noch ängstlich und wütend zu machen. Milo mag
Fazit – Nicht mehr wit zig: Der Kulturkampf geht offline
besiegt sein, doch dieser Sieg wurde nicht in einem Kampf der Ideen errungen. Die Online-Kulturkämpfe der vergangenen Jahre sind hässlicher geworden, als wir es uns je hätten vorstellen können, und es sieht nicht danach aus, als gäbe es einen einfachen Weg heraus aus dem angerichteten Chaos. Wie weit entfernt scheinen plötzlich die utopischen Tage der führerlosen digitalen Revolution, als Progressive noch frohlockten, dass »die Empörung sich vernetzt« – was sich dann plötzlich ins echte Leben ergoss. Mittlerweile ist man nur noch geneigt zu hoffen, dass die Netzwelt den schwärenden Bodensatz entmenschlichender reaktionärer Politik, der vor wenigen, kurzen Jahren noch undenkbar war, sich aber heute dem Mainstream annähert, eindämmen kann, anstatt ihn weiter zu stärken.
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