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German Pages 268 Year 1983
RICHARD MOTSCH
Vom rechtsgenügenden Beweis
Schriften zum Prozessrecht Band 79
Vom rechtsgenügenden Beweis Zur Entscheidung von Zivilsachen nach Wahrscheinlichkeit unter besonderer Berücksichtigung der Abstammungsfeststellung
Von
Dr. Richard Motsch
DUNCKER &
HUMBLOT /
BERLIN
Als Habilitationsschrift auf Empfehlung des Fachbereichs Rechtswissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Motsch, Richard:
Vom rechtsgenügenden Beweis: zur Entscheidung von Zivilsachen nach Wahrscheinlichkeit unter bes. Berücks. d. Abstammungsfeststellung I von Richard Motsch. Berlin: Duncker und Humblot, 1983. (Schriften zum Prozessrecht ; Bd. 79) ISBN 3-428-05439-3 NE:GT
Alle Rechte vorbehalten & Humblot, BerUn 41 Gedruckt 1983 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., BerUn 61 Printed in Germany ISBN 3 428 05439 3
© 1983 Duncker
M.l. M. MeChthild MotsCh geborene von Freydorj zugeeignet
Danksagungen Dank eines Stipendiums des British Council konnte ich mich während eines Forschungsaufenthalts an der London School of Economics und am Institute of Advanced Legal Studies in London in das englische Beweisrecht einarbeiten und den Grund für die nachstehende Abhandlung legen. Dr. Olive M. Stone, Reader in Law, vermittelte mir wertvolle Gespräche mit Prof. Rupert Cross und Colin Tapper, All Souls Reader in Law, beide Oxford. Es war Prof. Jürgen Rödig (1942-1975), der mich entscheidend in dem Vorhaben bestärkte, das Thema zu einer Habilitationsschrift auszubauen. Nach seinem jähen Tod beriet mich Prof. Eberhard Wieser, auf dessen Vorschlag hin der Fachbereich Rechtswissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen im Wintersemester 1981/82 die Arbeit annahm. Ein wirkungsvoller Ansporn war für mich das entgegenkommende Interesse, das Prof. Gerhard Kegel an der Sache nahm. Prof. G. Schewe vermittelte einen intensiven Gedankenaustausch über serostatistische Fragen mit Prof. Konrad Hummel, Freiburg i. Br.; er ver anlaß te mich, den Abschnitt "Entscheidungsgrenze in Abstammungssachen" (3.3) größtenteils neu zu fassen. Schon in einem frühen Stadium hatte sich LZBVizepräsident Helmut Homp, Kiel, der Mühe unterzogen, eine Rohfassung mit kritischen Anmerkungen zu versehen. Frau Hertha Esch hat aus philologischer Sicht nicht wenige Verbesserungen angeregt. Die Schreibarbeiten und Korrekturen haben mit sorgfältigem Können und Geduld Frau Annegret Elberskirch, Frau Anita Heinrichs und Frau Gisela WiZZems sowie Herr Werner Zschornack besorgt. Schließlich wäre die Veröffentlichung nicht ohne die Kompetenz des Duncker & Humblot Verlags, Berlin, und die großzügige Druckbeihilfe der Deutschen Forschungsgemeinschaft möglich gewesen. Den Genannten und allen Nichtgenannten, die zum Ganzen beigetragen haben, danke ich herzlichst. Bann, im August 1983 R.M.
tJbersicht Paragraph Seite Einleitung
01, 02
17
10-19
21
20-29
93
Beweismaß in Abstammungssachen nach neuerer deutscher und englischer Gesetzgebung und Rechtsprechung ..
30-39
164
Schlußbemerkungen
40,41
247
1. Teil
Erneuerung des rechts genügenden Beweises im Lichte des skandinavischen und englischen Rechts ................. 2. Teil
Rechtsgenügender Beweis in der Entwicklung der Wahrscheinlichkeitslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Teil
Literaturverzeichnis
256
Inhaltsverzeichnis Einleitung
17
§ 01 Fragestellung
17
§ 02 Gang der Untersuchung ........................................
19
Erster Teil
Erneuerung des reebtsgenügenden Beweises im Liebte des skandinavisclhen und englischen Rechts 1.1. Deutsche Beweislehre § 10 Vollbeweis, Beweislast und Beweis des ersten Anscheins
1. Vollbeweis im Sinne der Wahrheitsüberzeugungstheorie und
21
Beweislastentscheidung ...................................... 2. Vollbeweis in Gestalt des Beweises des ersten Anscheins? .... 3. Entscheidung nach Wahrscheinlichkeit ........................
21 23 24
§ 11 Wahrscheinlichkeit und freie Beweiswürdigung ..................
24
O. überblick 1. Die "Trias" von Entscheidungsalternativen in der preußischen
24
Allgemeinen Gerichtsordnung von 1793 ...................... 2. übergang von der gemeinrechtlichen Beweistheorie zur freien Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Kritik an der herrschenden Meinung ist nicht neu ........ 4. § 286 ZPO schreibt nicht die Wahrheitsüberzeugung, sondern die überwiegende Wahrscheinlichkeit als Entscheidungsgrenze in Zivilsachen vor ...........................................
25 26 29 34
1.2. Erneuerung der Beweislehre in Skandinavien
übersicht
37
§ 12 Grundlegung durch Torstein Eckhoff ............................
38
1. Verteilung des Zweifelsrisikos statt Zuordnung der Beweislast
38 40 42
2. Zur Monographie von Eckhoff ............................... 3. Prinzipien der Verteilung des Zweifelsrisikos ................ § 13 Wahrscheinlichkeitskalkül bei Per OIof Bolding .................
44
1. Tatsachenfeststellung als Meßvorgang .;......................
44
12
Inhaltsverzeichnis 2. überwiegensprinzip ........................................ . 3. Prinzipien der Beweislastzuordnung ......................... .
48 49
§ 14 Schwedisches Beweisrecht nach Per Olof Ekelöf ............ . .... .
50
1. Grundgedanken 2. Präzisierung des Beweislastpunktes ......................... . 3. überwiegensprinzip (= übergewichtsprinzip) ................ .
50 53 54
1.3. Unterscheidung zweier Beweisstandards im englischen Beweisrecht § 15 Allgemeiner
(zivilrechtlicher) und besonderer (strafrechtlicher) Standard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wahrscheinlichkeit in früheren Entscheidungen .............. 2. Differenzierung zwischen zivilrechtlichem und strafrechtlichem Standard .................................................... 3. Der zivilrechtliche als der allgemeine Standard.. . . . . . . . . . . . . .
56 56 57 60
§ 16 Differenzierung der Entscheidungsgrenze im einzelnen ..........
62
1. Wahrheitsbeweis durch Abwägung der Wahrscheinlichkeiten.
62 64 66 68
2. Lord Denning in Bater v. B. ................................. 3. Bemerkungen hierzu .................................... . ... 4. Weitere richterliche Äußerungen zum Beweisstandard 1.4. Erneuerung der deutschen Beweislehre § 17 Hemmschuhe der Erneuerung und ihre Beseitigung ..............
1. Unerträglich hohes Irrtumsrisiko bei der Entscheidung nach
Wahrscheinlichkeit? .......................................... 2. Ist das Erfordernis der Wahrheitsüberzeugung als Garant für eine hinreichende Aufklärung der Tatsachen unentbehrlich? .. 3. Vom Trennungsdogma zur Rechtsfindung als einheitlichem Entscheidungsvorgang ........................................ 4. Das Richteramt unterscheidet sich durch den Entscheidungszwang vom Erkenntnisstreben des Forschers .................
72 72 73 77 80
§ 18 Die Entscheidungsgrenze der minimalen Schadenserwartung ist r 82 e = 1 + r····················································· 1. Zur Abwägung des Für und Wider in Zweifelsfällen ......... . 2. Minimierung der Schadenserwartung ....................... . 3. In der Praxis sind nur Tendenzaussagen möglich ........... . 4. Liegt ein unzulässiges Argumentieren-vom-Ergebnis-her vor?
82
§ 19 Wahrscheinlichkeit und Beweisführungslast aus prozessualer Sicht
88
1. Allgemeine Betrachtungen .................................. . 2. Wahrscheinlichkeit als Kriterium der Beweisführungslast ... . 3. Prinzipien der Beweislastzuweisung ......................... .
88 89 90
83 85 87
Inhaltsverzeichnis
13
Zweiter Teil
Rechtsgenügender Beweis In der Entwicklung der Wahrscheinlichkeitslehre 2.1. Wahrscheinlichkeit und rechtsgenügender Beweis bei den Klassikern § 20 Wahrscheinlichkeitslehre als praktische Handlungslehre bei Jakob
Bernoulli und Leibniz ..........................................
93
1. Ars conjectandi des Jakob Bernoulli .........................
93
2. Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf aposteriori ermittelte Häufigkeiten ...................................... 3. Briefwechsel zwischen J. Bernoulli und Leibniz
97 98
§ 21 Wahrscheinlichkeitslehre
als Wissenschaft des Richters bei Voltaire ........................................................ 101
§ 22 Der Aufklärer
Condorcet und sein entscheidungstheoretischer Ansatz.......................................................... 103 1. Allgemeines ................................................. 2. überblick über seinen Gedankengang ........................ 3. Berücksichtigung der Irrtumsfolgen ..........................
103 105 108
§ 23 Entscheidungsgrenze bei Condorcet .............................
109
1. "Gewähr" statt "moralische Gewißheit" ......................
109 110 112
2. Pragmatische Bestimmung der Entscheidungsgrenze .......... 3. Zum Gesichtspunkt der Entscheidungsreife ...................
§ 24 Bestimmung der Entscheidungsgrenze unter Abwägung der Irr-
tumsfolgen bei Condorcet .......................................
114
1. Fragestellung
114
2. ÄqUivalent zur Formel e = 1 : r . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
116
3. Schlußbetrachtungen
120
§ 25 Entscheidungsgrenze in Strafsachen und psychologische Fehler-
quellen nach Laplace .......................................... .
123
1. Entscheidungsgrenze in Strafsachen ......................... .
123 125 128
2. Psychologische Fehlerquellen ............................... . 3. Wahrscheinlichkeit als Erkenntnisform § 26 Analyse des rechtsgenügenden Beweises und der französischen
Justizstatistik durch Poisson ................................... .
129
1. überblick und Ergebnisse ................................... .
129 132 136
2. Grundgedanken ............................................ . 3. Zusammenfassung und Nachlese ............................ .
14
Inhaltsverzeichnis 2.2. Wahrscheinlichkeit und konkreter Fall in heutiger Sicht
§ 27 Häufigkeitstheorie nach Richard von Mises und Einschluß des
konkreten Falles in die engste Wahrscheinlichkeitsklasse ........
140
1. Häufigkeitstheorie
140 143 144
........................................... 2. Wahrscheinlichkeit und Einzelfall ............................ 3. Grundoperationen der Wahrscheinlichkeitsrechnung .......... § 28 Wahrscheinlichkeitskalkül und gerichtliche Tatsachenfeststellung
bei V. C. Ball ...................................................
148
1. Allgemeines
148
................................................. 2. Beispiele für die Leistungsfähigkeit des Wahrscheinlichkeitskalküls ...................................................... 3. Folgerungen für den rechtsgenügenden Beweis ............... § 29 Bayes'sche Formel und erste Bemerkungen zur Vaterschaftswahrscheinlichkeit (Näheres §§ 38, 39) ................................ 1. Bayes'sche Formel im Lichte der Häufigkeitstheorie ..........
2. Bildung des Mittelwertes .............................. . .....
149 154 157 157 162
Dritter Teil
Beweismaß in Abstammungssachen nach neuerer deutscher und engliScher Gesetzgebung und Rechtsprechung 3.1. Ausgangslage und Reformgesetzgebungen § 30 Zum Hintergrund der Reformen ................................
164
1. Ausgangslage im deutschen und englischen Recht ............ 2. Gleichstellung aller Kinder .......................... . . . .....
164 166
§ 31 Beweismaß für Abstammungssachen in den Reformgesetzen von
1969 ............................................................
169
1. Vorbemerkung 2. Wortlaut und Vorgeschichte der Neuregelungen von 1969 ..... 3. überlegungen der englischen Reformer ......................
169 170 176
3.2. Analyse und Vergleich einiger höchstrichterlicher Entscheidungen § 32 Grundsatzurteil des IV. Zivilsenats des BGH zu § 1600
0
BGB
1. Bericht und Kritik an der Entscheidung des konkreten Falles 2. Kritik an den allgemeinen Richtlinien dieser Entscheidung. ..
179 179 183
§ 33 Grundsatzurteil des House of Lords zur Zulässigkeit und zum
Beweiswert des serologischen Gutachtens im Abstammungsstreit 187 1. Bericht .............................. . .......................
187
Inhaltsverzeichnis
15
2. Spezielle Fragestellung ........................... . .......... 3. Begründungen der Lordrichter ............................... 4. Lord Reid zum Beweiswert eines serologischen Gutachtens. . ..
189 190 194
§ 34 Vergleich der beiden Grundsatzurteile in ihrer Auswirkung auf
nachgeordnete Gerichte .........................................
195
1. 2. 3. 4.
Bericht ...................................................... Vergleich der Instruktionen der beiden Gerichte .............. Weitere Bemerkungen zur deutschen Entscheidung. . . .. . . .. . .. Bemerkungen zur englischen Entscheidung ..................
195 196 197 200
§ 35 Zwei weitere BGH-Urteile in einem Fall (210f0-Fall) ............
201
1. Allgemeines und Bericht zum 21 Ofo-Fall (BGH v. 21. 9.1973 und vom 1. 10. 1975) .............................................. 2. Argumentation der Gerichte im ersten Durchgang ............ 3. Gewissensnot des Oberlandesgerichts ........................ 4. BGH-Urteil des zweiten Durchgangs ......................... 5. Kern des zweiten BGH-Urteils und Zusammenfassung........
201 203 206 208 210
§ 36 Weitere BGH-Urteile zu § 1600
0
BGB ..........................
212
1. Ein weiteres BGH-Urteil vom 1. 10. 1975 ...................... 212 2. Der Fall des 72jährigen Beklagten (BGH-Urteil vom 19. Dezember 1973) ................................................ 216 3. Fall mit "dirnenhaftem Lebenswandel" der Mutter (BGHUrteil vom 7.6.1978) ........................................ 220 § 37 Gelungene deutsche und mißlungene englische Abstammungsent-
scheidungen ....................................................
222
1. Gelungene deutsche Entscheidungen .................... . .... 2. Schwer erträgliche englische Entscheidungen .................. 3. Bewertung .................... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
222 225 229
3.3. Entscheidungsgrenze in Abstammungssachen
§ 38 Weitere Bemerkungen zur serologisch-biostatistischen Abstam-
mungsbegutachtung
............................................
231
1. Allgemeines ................................................. 2. Grundzüge der serologischen Untersuchung .................. 3. Neuralgische Punkte der serologischen Begutachtung .........
231 233 235
§ 39 Ausgangswahrscheinlichkeit
(A-priori-Wahrscheinlichkeit) und Entscheidungsgrenze in Abstammungssachen .................... 238
1. Ausgangswahrscheinlichkeit .................................. 2. Entscheidungsgrenze in Abstammungssachen ................. 3. Abwägung der Irrtumsfolgen ............ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
238 241 244
16
Inhaltsverzeichnis
Schlußbemerkungen § 40 Freie überzeugung des Gerichts ................................
247
1. Entscheidung
nach (überwiegender) Wahrscheinlichkeit als rechtsgenügender Beweis .................................... 247 2. Richtigkeits- statt Wahrheitsüberzeugung .............. . ..... 248 3. Abwägung der Folgen bei John Locke und Leibniz ........... 249 § 41 Gesunder Menschenverstand und wissenschaftliche Methodik ....
251
1. Von der Wahrscheinlichkeit zur Wahrheit. . . . . . . . . . .. . . . . . . .. 251 2. Statistik, Gestaltwahrnehmung, Intersubjektivität (Objektivität) 252 3. Nach gesundem Menschenverstand entscheiden wir unter Abwägung der Wahrscheinlichkeit einerseits und der Irrtumsfolgen andererseits .......................................... 255
Literaturverzeichnis
256
"Klar nennt man Ideen, die dasselbe Maß an Verwirrung haben wie unser eigener Geist." Marcel Proust
Einleitung § 01 Fragestellung
Im deutschen Recht herrscht die Meinung vor, rechts genügender Beweis sei grundsätzlich nur der "Vollbeweis" , d. h. die volle Überzeugung des Gerichts von der Wahrheit (oder von der Unwahrheit) der umstrittenen Behauptung; nur unter besonderen Voraussetzungen seien Beweiserleichterungen statthaft. So lesen wir in einem neueren Urteil des Bundesgerichtshofs:1 Auch der Richter dürfe und müsse sich zwar mit einem "für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewißheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen. Das wird allerdings vielfach ungenau so ausgedrückt, daß das Gericht sich mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit begnügen dürfe; das ist falsch, falls damit von der Erlangung einer eigenen aberzeugung des Richters von der Wahrheit abgesehen werden sollte." (Meine Hervorhebungen) Diese Theorie führt in der Praxis zu außerordentlichen Schwierigkeiten und Schwerfälligkeiten, die für den unbefangenen Beobachter, vor allem aber für die Betroffenen, unbegreiflich sind.t a Sie treten besonders scharf bei der Abstammungsfeststellung unter Berücksichtigung statistisch ausgewerteter Blutuntersuchungen hervor. So beanstandete z. B. der Bundesgerichtshof eine Abstammungsfeststellung des Kammergerichts, welches bei einem "fast eindeutigen Beweisergebnis" darauf verzichtet hatte, ein weiteres kostspieliges Gutachten von Amts wegen einzuholen. Sei das Beweisergebnis nur "fast" eindeutig, müßten alle Beweismittel von Amts wegen erschöpft werden (§ 36.3). Daß Gerichte aus statistisch erfaßtem Erfahrungswissen Schlüsse auf einen konkreten Fall zu ziehen haben, kann in jedem beliebigen Zusammenhang erforderlich werden. Man erinnere sich an die gehäuft auftretenden schweren und schwersten Mißbildungen bei Neugeborenen, die zeitlich und regional mit der Einführung des neuen, vom Her1 Urteil vom 17. Februar 1970 des 3. Zivilsenats, BGHZ 53 S.245 (256) Fall "Anastasia". la Vgl. W. Wachsmuth u. H.-L. Schreiber, NJW S. 2094-2098.
2 Motsch
18
Einleitung
steUer als besonders verträglich angepriesenen Beruhigungsmittels Contergan zusammentrafen. Damals hielten die deutschen Anwälte der Betroffenen den Nachweis des ursächlichen Zusammenhangs für so problematisch, daß sie auf einen zivilrechtlichen Musterprozeß verzichteten und den Ausgang des Strafverfahrens abwarteten, das trotz größtmöglicher Beschleunigung erheblichen Zeitaufwand erforderte. Und dies, obwohl sofortige Hilfe geboten war. Der gleichzeitige zivilrechtliche Musterprozeß in England endete alsbald mit einem Vergleich. Ähnlich liegt der FaU des Hormonpräparates Duogynon, das als Schwangerschaftstest verwendet wurde und in Verdacht steht, für schwerste Mißbildungen bei Neugeborenen wie gespaltene Wirbelsäule und Wasserkopf ursächlich zu sein.2 Das Präparat eines großen deutschen Herstellers war als Pille oder Injektion zur Regulierung der ausbleibenden Monatsregel und als Schwangerschaftstest seit 1950 auf dem Markt. Der Verdacht hatte sich im Oktober 1967 erhärtet, nachdem der englischen Ärztin Isabel Gal ein gehäuftes Zusammentreffen von Mißbildungen der genannten Art und einem hormonalen Schwangerschaftstest aufgefallen war. Es hatte sich übrigens auch eine Mißbrauchsmöglichkeit herumgesprochen: in hoher Dosierung konnte man das Präparat zur Abtreibung benutzen. Die. britische Arzneimittelbehörde verbot 1970 das dort als Primodos vertriebene Mittel als Schwangerschaftstest. In der Bundesrepublik Deutschland hingegen empfahl der Hersteller bis März 1978 die Duogynon-Injektion ohne Einschränkung als Schwangerschaftstest. Im Herbst desselben Jahres verzichtete er zwar auf den Verkauf von "Duogynon", vertrieb aber statt dessen dasselbe Präparat als "Cumorit" mit der Warnung weiter, es nur bei nachweislich nicht schwangeren Frauen anzuwenden. Erst im Frühjahr 1981 stellte der Hersteller die Produktion "in Abstimmung mit dem Bundesgesundheitsamt" endgültig ein. Dies war der bisher einzige Erfolg der "Interessengemeinschaft duogynongeschädigter Kinder". Sie hatte sich nach Bekanntwerden des Verdachts gebildet und umfaßt rund 200 Eltern. Etwa 400 weitere Fälle sind der Interessengemeinschaft bekannt. Ihre Strafanzeige gegen den Hersteller wegen gefährlicher Körperverletzung, fortgesetzter fahrlässiger Tötung sowie wegen Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz endete mit der Einstellung des Ermittlungsverfahrens. Auch abgesehen von den Bereichen, in welchen wir über statistisch abgesichertes Wissen verfügen, und in welchen daher die Experten in der Lage sind, dem Richter gewisse Fragen mit genau bezifferten Wahrscheinlichkeitsangaben zu beantworten, ist Erfahrungswissen nach heutigem Selbstverständnis der Wissenschaft stets nur Wahrscheinlichkeitswissen, also irrtums anfällige Erkenntnis, die durch neue, abweichende Erfahrung widerlegbar ist. Seit der Aufklärung kann dieses Selbstverständnis der empirischen Wissenschaften als das metho2 Vgl. den Bericht von Günter Haaf: "Verbraucher sind ganz arme Schweine", in: Die Zeit, Nr. 39 vom 19. September 1980, und dpa-Meldung Südd. Zeitung vom 10. Oktober 1980.
§ 02 Gang der Untersuchung
19
dische Prinzip naturwissenschaftlichen Denkens schlechthin bezeichnet werden: Nur indem wir uns die Fehlbarkeit unseres Erkenntnisvermögens eingestehen und uns im konkreten Fall hierüber Rechenschaft zu geben versuchen, können wir hoffen, Fehler so gut wie möglich zu vermeiden. Die Einsicht in die Grenzen unseres Erkenntnisvermögens, die auch und besonders den Gerichten gezogen sind, führt zur Frage nach dem rechtsgenügenden Beweis, also dem Beweismaß oder auch der Entscheidungsgrenze in Rechtssachen. § 02 Gang der Untersuchung
Der erste Anstoß zur Beschäftigung mit dem Thema ging von Schwierigkeiten im Beratungszimmer aus. Das einzige, was von der herrschenden Beweislehre brauchbar erschien, War ihre Unbestimmtheit. Die starke Betonung der subjektiven Seite der überzeugungsbildung gewährte meist schließlich doch noch genügenden Spielraum, um zu dem - wahrscheinlich - zutreffenden Ergebnis zu gelangen. Je mehr ich mich mit der deutschen Lehre befaßte, um so deutlicher wurde der Eindruck einer "bedenklichen Konfusion" (so eh. Schöneborn3 ). Ganz anders ging es mir mit den Wegen, die besonders seit den 50er Jahren in England und Skandinavien eingeschlagen werden. Nach anfänglichem Befremden leuchtete mir der Gedanke der Unterscheidung zwischen einem allgemeinen (zivil rechtlichen) und besonderen (strafrechtlichen) Beweismaß mehr und mehr ein. Eine Vertiefung erschien lohnend. Bald bedrängte mich die Frage, weshalb gerade die deutsche Lehre und Rechtsprechung auf dem Erfordernis der Wahrheitsüberzeugung beharrt, obwohl die Gerichte z. B. in Abstammungssachen angesichts des hohen Entwicklungsstandes der mit statistischen Methoden arbeitenden serologischen Begutachtung Tag für Tag mit quantitativen Wahrscheinlichkeitsaussagen konfrontiert werden. So rückte der Zusammenhang zwischen Wahrscheinlichkeit, Wahrheit und Wirklichkeitsnähe in den Mittelpunkt des Interesses. Liegt der deutschen Beweislehre etwa eine verfehlte kategorische Entgegensetzung von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit zugrunde? Und, wenn ja, läßt sich dieser Irrtum bis zu seiner Wurzel verfolgen? Diese Fragen führten zurück zu den Ursprüngen der klassischen Wahrscheinlichkeitslehre. Dabei zeigte sich nicht nur eine überraschende tatsächliche Nähe zu juristischen Beweisproblemen, sondern eine geradezu verblüffende übereinstimmung mit der eigenen, hauptsächlich aus der rechtsvergleichenden Forschung hervorgegangenen Sicht der Dinge. Es lag nahe, a eh. Schöneborn: Strafprozessuale Wiederaufnahmeproblematik (1980) S.83. 2'
20
Einleitung
für die Nutzanwendung das anspruchsvolle Gebiet der Abstammungsentscheidung unter Berücksichtigung serostatistischer Berechnungen zu wählen. Hier spitzt sich die Frage nach dem Beweismaß zu. Angesichts der praktischen Bedeutung gibt es Anschauungsmaterial in Hülle und Fülle.
Erster Teil
Erneuerung des rechtsgenügenden Beweises im Lichte des skandinavischen und englischen Rechts 1.1. Deutsche Beweislehre § 10 Vollbeweis, Beweislast und Beweis des ersten Anscheins
1. Vollbeweis im Sinne der Wahrheitsüberzeugungstheorie und Beweislastentscheidung Nach der in der deutschen Rechtsprechung und Lehre herrschenden Meinung ist für die Beurteilung einer bestrittenen Tatsachenbehauptung maßgebend, "ob der Richter selbst die überzeugung von der Wahrheit einer Behauptung gewonnen hat"; seine "persönliche Gewißheit", das "Gewissen des Richters", die "eigene überzeugung des entscheidenden Richters ... , auch wenn andere zweifeln oder eine andere Auffassung erlangt haben würden", sollen den Ausschlag geben.1 Gefordert wird somit der sogenannte Vollbeweis im Sinne der subjektiven Auffassung (Wahrheitsüberzeugungstheorie). Diese Wahrheitsüberzeugung wird als ein höchstpersönlicher Erkenntnisakt verstanden, der an keinen Maßstab gebunden ist und der sich der Nachprüfung prinzipiell entzieht. Der 2. Strafsenat des BGH bemerkt dazu: 2 "Ebensowenig wie der Tatrichter gehindert werden kann, an sich mögliche, wenn auch nicht zwingende Folgerungen aus bestimmten Tatsachen zu ziehen, ebensowenig kann ihm vorgeschrieben werden, unter welchen Voraussetzungen er zu einer bestimmten überzeugung kommen muß". Eine überzeugung könne "auch bei höchstmöglicher Wahrscheinlichkeit ihrer Richtigkeit nicht gefordert werden". Die herrschende Meinung schwächt allerdings die Forderung, daß der Richter von der Wahrheit (oder Unwahrheit) der strittigen Behauptung überzeugt sein müsse, im gleichen Atemzug wieder ab. So Alle Formulierungen aus BGHZ 53 S. 245 (256). BGHSt 10 S.208-217 (210) - vgl. dazu eh. Schöneborn (§ 02 N.3) S. 94 f. mit weiteren Nachweisen. 1
!
22
1.1. Deutsche Beweislehre
sagt z. B. der Bundesgerichtshof: 3 "Der Richter darf und muß sich mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewißheit begnügen, die den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen." - Die Unzulänglichkeit unserer Erkenntnismittel lasse eine absolute Gewißheit wie beim Beweis mathematischer Sätze nicht zu, so daß "auch dem Richter im Prozesse dieser hohe Grad an Wahrscheinlichkeit genügen (müsse), der bei der Feststellung von tatsächlichen Begebenheiten allein erreichbar ist ... Der Richter ... soll nicht da noch Zweifel hegen, wo auch jeder andere vernünftige, die Lebensverhältnisse klar überschauende Mann überzeugt wäre ... mehr als einen verständigen und lebenskundigen Mann zu überzeugen vermag kein Beweis ...".4 Gerade die Abschwächung erhellt jedoch das Prinzip: der eigentliche Orientierungspunkt ist der Beweis im Sinne vollkommener (mathematischer) Schlüssigkeit. Nur wegen der menschlichen Unvollkommenheit müssen sich auch die Gerichte mit der Annäherung an die (absolute) Wahrheit zufrieden geben. Die herrschende Meinung faßt auch die Situation ins Auge, daß die Beweiswürdigung weder zur überzeugung von der Wahrheit noch zur überzeugung von der Unwahrheit führt. Das Gericht bleibt im Zweifel über den wahren Sachverhalt. In solchen non-liquet-Situationen soll nicht die Wahrscheinlichkeit, sondern die Beweislast den Ausschlag geben. Diejenige Seite, die den ihr obliegenden Beweis schuldig geblieben ist, verliert. Wem der Beweis obliegt, ergibt sich nach herrschender Lehre aus der jeweiligen Rechtsnorm: wer ein Recht geltend macht, hat dessen positive Voraussetzungen zu beweisen (rechtsbegTÜndende Elemente); der Gegner trägt die Beweislast für die rechtsverneinenden Umstände. Ob ein Element rechtsbegründend oder rechtsverneinend ist, soll sich aus der betreffenden Rechtsnorm, insbesondere aus ihrer Fassung nach dem Regel-Ausnahme-Schema, ablesen lassen (Normentheorie). Der springende Punkt der herrschenden Meinung besteht in der scharfen Unterscheidung zwischen der eben genannten abstrakten (auch objektiven oder materiellrechtlichen) Beweislast einerseits und der konkreten Beweisführungslast in der aktuellen Prozeßsituation (auch subjektive oder formelle Beweislast) andererseits. Bleibt die Sache zweifelhaft, gibt die abstrakte Beweislast den Ausschlag. Diese Unterscheidung ist eng mit dem Namen Leo Rosenberg verbunden, dessen Dissertation "Die Beweislast auf der Grundlage des Bürgerlichen Gesetzbuches und der Zivilprozeßordnung" von 1900 nicht weniger als vier Neuauflagen (1923, 1953, 1956 und 1965) erlebte und noch a 4
BGHZ 53 5.256. So L. Rosenberg: Beweislast (5. Auflage 1965) S. 180 f.
§ 10 Vollbeweis, Beweislast und Beweis des ersten Anscheins
23
auf dem 46. Deutschen Juristentag von berufener Seite als "glanzvolle Bearbeitung der Problematik der Beweislast" , die "auch heute noch die gesicherte Grundlage für Rechtsprechung und Lehre bildet", gefeiert wurde. ö
2. Vollbeweis in Gestalt des Beweises des ersten Anscheins? Merkwürdigerweise faßt die herrschende Meinung den sog. Beweis des ersten Anscheins, sofern er vom Gegner nicht erschüttert wurde, als Vollbeweis auf. So heißt es etwa bei Rosenberg im Anschluß an die Warnung vor überspannten Anforderungen an die eigene Wahrheitsüberzeugung: 6 "Daher genügt jede Partei ihrer Beweisführungslast, wenn sie Umstände dartut, die nach der Regel des Lebens den Schluß auf die Wahrheit der von ihr zu behauptenden und behaupteten Tatsache rechtfertigen, und es darf ruhig dem Gegenbeweise der anderen Partei überlassen bleiben, diejenigen besonderen Umstände heranzubringen die ausnahmsweise die Anwendung dieses Erfahrungssatzes als unangebracht erscheinen lassen." Mit dem Kunstgriff, den unwiderlegten "ersten Anschein" als vollen Beweis gelten zu lassen, verschafft die herrschende Meinung der Wahrscheinlichkeit als Beweismaß durch die Hintertür Einlaß. Sie sieht sich zu diesem Verfahren gezwungen, wenn sie einerseits das Erfordernis der Wahrheitsüberzeugung (als Fassade) aufrechterhalten und andererseits in der Praxis zu erträglichen Ergebnissen gelangen möchte. Denn eine Entscheidung nach Beweislast ist - oft - eine Entscheidung entgegen der konkreten Wahrscheinlichkeit: das Gericht hat trotz großer Wahrscheinlichkeit keine volle überzeugung erlangt. Also verliert die beweisbelastete Seite, obwohl sie wahrscheinlich im Recht ist. Das Problem verschärft sich, wenn der Richter ein naturwissenschaftlich geschulter Kopf ist oder wenn er Sachverständigenwissen in Gestalt von Wahrscheinlichkeits aussagen zu berücksichtigen hat. Zwar ist empirisches Wissen durch kritische Beobachtungen mehr oder weniger weitgehend abgesichert; es ist zugleich aber stets für neue, andersgeartete Beobachtungen offen. So gesehen gibt es keinen definitiven Beweis von Erfahrungswissen und - streng genommen - auch keine definitive Wahrheitsüberzeugung. Je gewissenhafter ein Richter ist, um so öfter muß nach dieser Auffassung seine Entscheidung nicht mittels Beweiswürdigung, sondern nach - abstrakter - Beweislast fallen. 5 So A. Blomeyer, Gutachten für den 46. DJT in Essen 1966, Verhandlungen Bd. I Teil 2 A S. 3. o L. Rosenberg (N.4) S. 181.
1.1. Deutsche Beweislehre
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3. Entscheidung nach Wahrscheinlichkeit Zwar wehrt die herrschende Meinung diese Zuspitzung des Problems durch die erwähnte Abschwächung des Wahrheitsüberzeugungserfordernisses ab. "Absolute Gewißheit ... , welche beim Beweis wissenschaftlicher Sätze, namentlich in der Mathematik notwendig ist," sei nicht zu fordern. Auch dem Richter müsse "im Prozesse dieser hohe Grad von Wahrscheinlichkeit genügen, der bei der Feststellung von tatsächlichen Behauptungen allein erreichbar ist."7 Ja, die herrschende Meinung geht mit ihrer eigenwilligen Deutung des unwiderlegten Beweises des ersten Anscheins als hinreichenden Grund für die volle Wahrheitsüberzeugung noch einen wesentlichen Schritt weiter in Richtung: Orientierung der Entscheidung an der einfachen Wahrscheinlichkeit des konkreten Falles. Dann aber fragt sich: wenn dies Schritte in die richtige Richtung sind, weshalb muß dann die Fassade der Wahrheitsüberzeugung aufrechterhalten werden? Wäre es nicht angebracht, ohne Umschweife im Zweifel zugunsten derjenigen Seite zu entscheiden, die wahrscheinlich im Recht ist? § 11 Wahrscheinlichkeit und freie Beweiswürdigung O. Oberblick
Die herrschende Meinung hält "Wahrheit" und "Wahrscheinlichkeit" für Gegensätze. Sie sträubt sich gegen die Vorstellung, die (relative) Wahrheit im Gerichtssaal sei (notfalls auch) anhand der (einfachen) Wahrscheinlichkeit festzustellen. Den wichtigsten historischen Grund für die Skepsis sehe ich in der - berechtigten - Abneigung gegen jede Art von mechanischen Beweisvorschriften. Die Wahrscheinlichkeitslehre, besonders in Gestalt eines quantitativen Wahrscheinlichkeitskalküls, erscheint als der auf die Spitze getriebene Ausdruck dieser Tendenz. Tatsächlich sind die im Zeichen der Theorie des Legalbeweises entwickelten Beweisvorschriften - ganz ähnlich wie die sog. Erfahrungsgrundsätze - nichts anderes als autoritär verfestigte Wahrscheinlichkeitsurteile. Die freie Beweiswürdigung hat die gerichtliche Tatsachenfeststellung aus diesem Prokrustesbett erlöst. Nur: Freie Beweiswürdigung und Entscheidung nach (einfacher) Wahrscheinlichkeit gehören zusammen. Vollbeweis und Entscheidung des "non-liquet" nach abstrakter Beweislast haben zwangsläufig (legale) Beweisregeln zur Folge, wenn die Gerichte wirklichkeitsnah entscheiden sollen. 7
L. Rosenberg (N.4) 5.180.
§ 11 Wahrscheinlichkeit und Beweiswürdigung
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1. Die "Trias" von Entscheidungsalternativen in der preußischen Allgemeinen Gerichtsordnung von 1793 Betrachten wir zunächst den Legalbeweis, wie er sich in der Allgemeinen Gerichtsordnung für die Preußischen Staaten vom 6. Juli 1793 niedergeschlagen hat; dort heißt es unter der überschrift "Was bei der Beurtheilung streitiger Thatsachen zu beobachten":1 Sei die Wahrheit einer streitigen Tatsache zu beurteilen, könne ein
dreifacher Fall eintreten (§ 9):
1. Die Tatsache sei "nach ihrem wahren Zusammenhange, bis zur völligen
überzeugung ausgemittelt;" 2. sie sei "nur bis zu einem stärkeren oder schwächeren Grad der Wahrscheinlichkeit ins Licht gesetzt worden;" 3. die Sache sei auch nach Aufnehmung der Beweismittel in derjenigen Lage verblieben, in welcher sie sich zuvor befunden habe. Diese Trias wird sodann in den §§ 10, 11-26 und 27-30 im einzelnen abgehandelt. Als ultima ratio für den "nicht leicht zu erwartenden Fall eines nicht zu behebenden Widerspruchs in den Beweismitteln" sehen die §§ 29, 30 "die Theilung des Objecti litis" "nach einem billigen Verhältnisse" vor. Zu 1.: § 10 (Randtitel: "Wenn eine Thatsache für völlig erwiesen zu achten") gibt in
Satz 1 eine Definition und spezifiziert diese sodann in Satz 2 durch Enumeration von neun Fällen; Satz 1 lautet: "Bis zur völligen überzeugung ist eine Thatsache ausgemittelt, wenn hinlängliche, glaubwürdige, und unter sich in keinem Widerspruch stehende Beweismittel vorhanden sind." Und Satz 2 sagt, es ließen sich - "ohne das richterliche Ermessen in zu enge Schranken einzuschließen" - nur folgende neun Fälle auszeichnen, "in welchen eine Thatsache für völlig erwiesen anzunehmen" sei: das öffentliche und das recognoscirte Privat dokument, die als übereinstimmend gefundenen Kerbhölzer, zwei oder mehrere glaubwürdige Zeugen, ein untadelhafter Zeuge in Bagatellsachen, die Einigung der Parteien auf die Aussage eines gewissen Zeugen, die amtliche Auskunft, das Sachverständigengutachten und schließlich der zugeschobene oder zurückgeschobene geschworene Eid sowie der Augenschein. Zu 2.: §§ 11 bis 26 ("Wenn sie nur zum Theil erwiesen ist") behandeln auf mehr als vier Seiten die verschiedenen Fälle sich widersprechender oder nicht vollkommen glaubwürdiger Beweismittel. Dabei ist der erkennbare Leitgedanke dieser Vorschriften, dem jeweils Wahrscheinlicheren den Vorrang einzuräumen.2 1 Allgemeine Gerichtsordnung. Ausgabe von 1816. Prozeßordnung 13. Titel "Von Abfassung und Publikation der Erkenntnisse" §§ 8--30 (S.250---257). 2 Auch das ursprüngliche deutsche Beweisrecht des Mittelalters war, wie Erwin Mayer-Homburg in seiner postum veröffentlichten Abhandlung "Beweis und Wahrscheinlichkeit nach älterem deutschen Recht" (1921) eingehend
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1.1.
Deutsche Beweislehre
Zu 3.: §§ 27, 28 ("Wenn durch den aufgenommenen Beweis nichts ausgemittelt wor-
den") schließlich verweisen bei fruchtlos gebliebener Beweiserhebung auf rechtliche Präsumtionen und hilfsweise darauf, "daß keine Thatsache und keine Veränderung vermutet wird." Halten wir fest:
(1) Wie die herrschende Meinung kennt auch das gemeine Recht eine Trias von möglichen Beweiswürdigungsergebnissen. Die Ähnlichkeit ist jedoch äußerlicher Art: die einzelnen Glieder der Trias haben einen anderen Inhalt. Im gemeinen Recht lautet die Trias nicht: "ja" oder "zweifelhaft" oder "nein", sondern "klares Ergebnis, sei es ja, sei es nein" oder "mehr oder weniger wahrscheinlich" oder "unverändert"; (2) Für den Fall, daß "durch den aufgenommenen Beweis nichts ausgemittelt worden (ist)", also für das "non liquet" der herrschenden Meinung, schreibt das gemeine Recht ausdrücklich die Teilung des Streitgegenstandes nach Billigkeit vor. Es normiert also in Bezug auf die Rechtsfolge eine Trias, d. h. es sieht für das Mittelglied eine echte tertium-Lösung vor, während die herrschende Meinung, die für diesen Fall die Entscheidung nach (abstrakter) Beweislast vorschreibt, es bezüglich der Rechtsfolgen bei der streng zweistelligen Alternative bewenden läßt. Wir sehen: Schon das gemeine Recht kannte eine Trias, wenn auch eine andere als die herrschende Meinung. Es liegt daher nahe, § 286 ZPO als bewußte überwindung der gemeinrechtlichen Trias aufzufassen: das Gericht hat zwischen "ja" oder "nein" zu wählen. Tertium non datur. Hinzu kommt: wir finden im gemeinen Recht als Fazit einer umständlichen und antiquierten Kasuistik den Gedanken der Orientierung der Entscheidung am "Wahrscheinlicheren". Liegt es nicht nahe, in der Formulierung "für wahr oder für nicht wahr ... erachten" ein Anknüpfen an diesen Gesichtspunkt der gemeinrechtlichen Lehre zu erblicken?
2. Vbergang von der gemeinrechtlichen Beweistheorie zur freien Beweiswürdigung3 Die gemeinrechtliche Beweistheorie zeichnete sich bekanntlich durch die Bemühung von Rechtswissenschaft und Gesetzgeber aus, alle denkdargelegt hat, ein System von Wahrscheinlichkeiten, Vermutungen und Gegenvermutungen. Wohl den ersten "Versuch einer Theorie der Wahrscheinlichkeit zur Gründung des historischen und gerichtlichen Beweises" (1806) aus juristischer Feder verdanken wir H. E. von GZobig. Die Abhandlung des Philosophen W. T. Krug "Von der überzeugung nach ihren verschiedenen Arten und Graden" (1797) behandelt hauptsächlich die psychologische Seite unseres Erkenntnisvermögens. 3 VgI. hierzu aus neuerer Zeit eh. Patermann: Die Entwicklung des Prinzips
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baren Fälle zu erfassen und vernünftig zu lösen. Dieses Unterfangen kann angesichts der Vielfalt des Wirklichen und der Begrenztheit unserer vorausschauenden Erkenntnis nur zu Plattheiten und Stückwerk oder zu Ergebnissen führen, die im konkreten Fall dann doch nicht mit der· Erfahrung und mit der Vernunft in Einklang stehen. Der Ausweg ist die ersatzlose Streichung aller gesetzlichen Beweisregeln. Mit anderen Worten: das Prinzip der freien Beweiswürdigung. Diesen Ausweg hat Friedrich earl von Savigny, damals preußischer Justizminister, in seiner Denkschrift von 1846 vorgeschlagen, die von Goltdammer als "bleibendes Denkmal unserer Rechtsgeschichte" gefeiert und 1858 veröffentlicht wurde.4 Er schreibt: "Der Unterschied zwischen Richtern mit und ohne Beweistheorie besteht lediglich und allein darin, daß in letzterem Falle dem Richter selbst die Auffindung und Anwendung der Beweisregeln, welche die allgemeinen Denkgesetze, Erfahrung und Menschenkenntnis an die Hand geben, überlassen wird, während in ersterem Falle gewisse Beweisregeln schon durch das Gesetz selbst ein- für allemal als unabänderliche Formeln festgestellt und dadurch das Urtheil des Richters gefesselt und derselbe gehindert wird, jeden Fall nach seinen Eigenthümlichkeiten zu beurtheilen. Die Ergebnisse der Wissenschaft, soweit sich diese nicht an rein positive Satzungen anlehnt, behalten für den Richter ihren Werth; der dadurch geleiteten Beurtheilung des Richters fällt nur ganz und ausschließlich anheim, was ihm alle gesetzlichen Beweistheorien zum größten Theil überlassen." Savignys Vorschlag lautet, "eine spezielle Beweistheorie, (welche) die Kraft aller Beweismittel auf Regeln (bringe), nicht aufzustellen, sondern im Wesentlichen die Oberzeugung des Richters entscheiden zu lassen." (Hervorhebungen im Original). Er wendet sich gegen die s. E. unzutreffende Alternative entweder "Beibehaltung der Beweistheorie" oder "intime conviction des Richters ohne Nachprüfungsmöglichkeit (Zulassung eines Rechtsmittels in Betreff der Thatfrage)". Wäre sie unausweichlich, müßte man sich für die Beibehaltung der Beweistheorie entschließen; von ihr gehe Feuerbach bei seinem lebhaften Angriff auf das französische Recht und dessen berühmten art. 342 code de l'instruction criminelle von 1805 aus. Nach seinem (Savignys) Vorder freien Beweiswürdigung (1970); H.-D. Heescher: Untersuchungen zum Merkmal der freien überzeugung (1974); G. Walter: Freie Beweiswürdigung (1979) S. 60 ff. (73) und - instruktiv - Ch. Schöneborn (§ 02 N.3) S. 85 ff. Pate stand übrigens die Rechtsvergleichungl Das 1849 erschienene Werk von W. M. Best: A Treatise on the Principles of Evidence wurde schon 1851 in deutscher übersetzung (H. Marquardson) unter dem Titel "Grundzüge des englischen Beweisrechts" veröffentlicht. Die französische Praxis fand eine mit ausgiebigstem rechtstatsächlichen Material ausgestattete Darstellung in dem zweibändigen Werk von E. Zink: über die Ermittlung des Sachverhalts im französischen Civilprozesse (1860). 4 F. C. von Savigny: über Schwurgerichte und Beweistheorie im Strafprozesse, Goltdammer Archiv Bd.6 (1858) S.469--491 (484 ff.) - dazu H. D. Heescher (N. 3) S.44.
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schlag solle "den Richtern keineswegs die Entscheidung über Schuld oder Nichtschuld ohne eine äußere Rechenschaft und ohne Verantwortlichkeit nach blos individueller aberzeugung überlassen werden, im Gegenteil wird dabei die Motivierung des Erkenntnisses durch Entscheidungsgründe und die Prüfung durch den Appellationsrichter als wesentlich und unerläßlich recht eigentlich vorausgesetzt." (Meine Hervorhebung). Natürlich könne der Gesetzgeber Bedingungen vorschreiben, unter welchen der Richter strafen oder freisprechen solle; er könne sie so stellen, daß nicht leicht ein Schuldiger der Strafe entgehe oder ein Schuldloser bestraft werde: "Allein er vermag keine Regeln aufzustellen, welche, unbedingt befolgt, nach keiner von beiden Seiten hin die Gerechtigkeit gefährden und die Wahrheit des richterlichen Ausspruchs verbürgen. Die Regeln, wonach der reflektirende Verstand sein Urtheil bildet und die sich andrängende Meinung prüft, beruhen auf Sätzen der Erfahrung und auf Kenntniß der sittlichen und sinnlichen Natur des Menschen. Allerdings kann die Wissenschaft hierin Erfahrungen verbreiten, Prinzipien entwickeln und dem Richter und der Gesetzgebung vorarbeiten; allein sie kann dem Gesetzgeber keine allgemein gültigen und erschöpfenden Regeln an die Hand geben; weil es sich großentheils um Elemente der Wahrscheinlichkeit handelt, deren Regeln sich nach allen Richtungenen hin auf die mannigfaltigste Weise durchkreuzen. Der Gesetzgeber kann keine spezielle Beweisregel hinstellen, ohne das Bewußtsein, daß in vielen Fällen durch deren Befolgung die Wahrheit verfehlt werden wird, in welchen sie nicht verfehlt sein würde, wenn die Regel nicht bestanden hätte; er selbst würde sich zuverlässig nicht vorher bindende Regeln festsetzen, wenn er selbst die einzelnen Fälle zu beurtheilen hätte. Das, was wir Gewißheit einer Thatsache nennen, beruht auf so vielen einzelnen, in ihrer Zusammenwirkung nur dem einzelnen Fall angehörenden Elementen, daß sich dafür gar keine wissenschaftlichen allgemeinen Gesetze geben lassen." Als Hauptbeispiel nennt er den Indizienbeweis als den "vorzugsweise wichtigen Theil des Beweises in Strafsachen" und zitiert zustimmend Feuerbachs Äußerung, daß das Bestreben, den Indizienbeweis durch Beweisregeln zu erfassen, nicht vernünftiger sei als der Plan, den Ozean der Natur in einem Eimer zu fassen. Und weiter (S. 489 f.): Der Richter könne durch keine positiven Regeln gezwungen werden, ohne oder sogar gegen seine Überzeugung zu verurteilen: "Im Interesse der Gerechtigkeit kann man sich auch hierzu nur Glück wünschen. Mag immerhin von dem Sprüchwort ,daß es besser sei, hundert Schuldige freizusprechen, als einen Unschuldigen zu bestrafen', oft genug ein ungemessener Gebrauch gemacht worden sein, so bleibt dasselbe doch wahr. Wenn die Majorität eines Kollegiums, nach vollständiger Verhandlung der Sache, im mündlichen Verfahren sich von der Schuld nicht überzeugt hält, dann darf der Staat sich nicht der Gefahr aussetzen, auf den Grund vermeintlicher allgemeiner Wahrheiten einen Unschuldigen der Strafe zu unterwerfen."
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Klarstellend fügt er hinzu: "Uebrigens bedarf es kaum der Erwähnung, daß die vorstehenden Bemerkungen sich nur auf das regelmäßige Verfahren beziehen. Es mag Fälle oder Arten von Vergehen geben, wo gewissermaaßen ein Nothstand obwaltet und darum selbst mit Gefahr, daß einmal ein Unschuldiger bestraft wird, der Schuldbeweis durch besondere Vorschriften erleichtert werden muß, was dann zugleich in der Art und Geringfügigkeit der Strafe weitere Entschuldigung finden kann."
Savignys Denkschrift behandelt den rechtsgenügenden Beweis in Strafsachen.5 Für die freie Beweiswürdigung in Zivilsachen, die unter dem Einfluß des französischen Rechts in einigen Staaten des Deutschen Bundes schon Eingang gefunden hatte, trat besonders Wilhelm Endemann ein.6 Er brachte auf dem 3. Deutschen Juristentag in Wien 1862 nach lebhafter Debatte durch eine berühmte Rede eine überwältigende Mehrheit hinter sich. Nach dem Vorgang entsprechender landesgesetzlicher Reformen führte die Entwicklung schließlich zu den klassischen Formulierungen der freien Beweiswürdigung in der Österreichischen Strafprozeßordnung von 1873'7 - § 258 - und in den Reichsjustizgesetzen von 1877, nämlich § 286 ZPO und § 261 StPO (ursprünglich § 260 StPO). Alle drei Vorschriften stellen ausdrücklich auf die freie überzeugung des Gerichts (des Richters) ab. 3. Die Kritik an der herrschenden Meinung ist nicht neu Schon im Zuge der Vorarbeiten zur Vereinheitlichung des deutschen Zivilrechts hatte der Rechtshistoriker Ludwig von Bar festgestellt, "selbst der ausgezeichnetste Prozessualist Deutschlands, Planck, hat in seinem Gutachten für den 2. Deutschen Juristentag die völlige Unvereinbarkeit der abstrakten Theorie der Vertheilung der Beweislast mit dem Prinzip der freien Beweiswürdigung übersehen"; zwischen freier Beweiswürdigung und abstrakter Zuteilung der Beweislast bestehe ein "absoluter Widerspruch".8 Und bald nach der allgemeinen Einführung des Prinzips der freien Beweiswürdigung schrieb Josef Kohler: 9 ~ Zu den unmittelbaren Auswirkungen seiner Denkschrift auf das Strafverfahren in Preußen vgl. G. Walter (N.3) S.74. 8 W. Endemann: Beweislehre des Civilprozesses (1860); Verhandlungen des 3. DJT Bd. 2 (1863) S. 517-585 (527-534 Rede von Endemann). 7 Vgl. J. Meißner: Zum Prinzip der freien Beweiswürdigung, in: Festschrift für Franz von Liszt (1911) S. 168-187. 8 C. L. von Bar: Recht und Beweis (1867) S. 36-40. U J. Kohler, in: Enzyklopädie, (6. Auflage 1904) Bd.2 S.114 vgl. auch Bd.3 S. 315 f. der 7. Aufl. 1913, in welcher diese Passage leicht gekürzt und dadurch abgeschwächt wurde.
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"Mit dem Augenblick aber, wo die freie richterliche· Beweiswürdigung eintrat, war die Herrschaft der Beweislast zu Ende, oder sie sollte mindestens zu Ende sein; ... Sie kommt nur in Betracht, wenn gar kein Beweis geführt wird, so daß die richterliche überzeugung in keiner Weise weder für, noch dagegen begründet wird; dieser Fall kann aber bei einem Richter, der das Leben versteht, und die Beweiswürdigung nicht in der alten formellen Weise auffaßt, nur selten vorkommen, denn alle Umstände des Prozesses werden den verständigen, menschenkundigen Richter dahin führen, daß er die eine Behauptung wahrscheinlicher findet als die andere; ist aber dies der Fall, so kann es sich nur darum handeln, daß er durch einen richterlichen Eid die Wahrscheinlichkeit zur überzeugung ergänzt."
Gustav Radbruch quittierte die revisiblen Beweisregeln des ersten Anscheins mit der Bemerkung, an die Stelle der gesetzlichen Beweis-
theorie sei unmerklich wieder eine wissenschaftliche Beweistheorie getreten. 10 Und Ernst Rabel, der vor der "Zerfaserung des richterlichen Gedankenganges", die immer mißlich sei, warnt, schließt seine Abhandlung "Umstellung der Beweislast, insbesondere der prima facie Beweis" mit den nachdenklichen Worten: l l "In der Rechtshandhabung leben aber offenbar noch viel mehr zwischen Beweiswürdigung und Beweislastnorm schillernde Erscheinungen, die aus ihrem Halbdunkel gezogen und auf Wesen und Berechtigung geprüft werden müssen. Wie beim prima facie Beweis wird auch sonst öfter die Beweislastverteilung nicht geleugnet werden dürfen. Damit verstärkt sich die Menge der richterlichen, ins kleine und kleinste gehenden Zergliederungen der Beweislast. Es ist eine grundsätzliche Frage, ob durch sie die Gefahr ungesunder Scholastik, zu der alle Beweisregeln den Keim enthalten, verhängnisvoll vergrößert oder umgekehrt mit homöopathischen Mitteln gemildert wird. Wenn aber überhaupt ein reiches System der Beweislast erträglich sein kann, so gewiß nur, indem die abstrakten Normen selber schmiegsam und demnach den Regeln der Beweiswürdigung ähnlich gestaltet werden." Auch andere Praktiker und praxiszugewandte Rechtsgelehrte haben sich seither immer wieder für die Wahrscheinlichkeit und gegen das System von Vollbeweis und abstrakter Beweislast ausgesprochen. So hat sich z. B. der Oberlandesgerichtsrat Peters12 in einem Aufsatz von 1949 gegen die Entscheidung nach Beweislast mit dem Hinweis gewandt, es sei besser, "daß die Partei gewinnt, die wahrscheinlich im Recht ist, als die Partei, die wahrscheinlich im Unrecht ist." Der Richter beim Obersten Gerichtshof A. Wimmer 13 hatte in kritischer Auseinandersetzung mit G. Bohnes14 Theorie des "Lösungsgefühls" und "Evidenzerlebnisses" die "objektive Wahrscheinlichkeit" 10
11
12 13
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Zitiert nach G. Spendel, JuS 1964 S.465-473 (472). E. Rabel, Rheinische Zeitschrift für Zivil- und Prozeßrecht 6 (1921) S.436. Peters, MDR 1949 S.66-70 (68). A. Wimmer, Deutsche Rechts-Zeitung 1950 S.390-396. G. Bohne: Zur Psychologie der richterlichen überzeugungsbildung (1948)
S. 50 ff.
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und "freie Überzeugung" zueinander in Beziehung gesetzt und mit dem Reichsgericht vor allem auf die Wahrheitserforschungspflicht abgehoben. Vor allem plädierte Gerhard Kegel zunächst in einer knappen Bemerkung auf dem 46. Deutschen Juristentag15 und sodann mit aller nur wünschenswerten Klarheit in seinem Beitrag zur Festgabe für Heinrich Kronstein für die einfache Wahrscheinlichkeit als Entscheidungsgrenze in Zivilsachen:16 "Warum wird die Beweislast grundsätzlich dem auferlegt, der zu seinen Gunsten etwas behauptet, was nicht überwiegend wahrscheinlich ist? Der Grund ist einfach: die überwiegende Wahrscheinlichkeit ist das Beste, was wir haben können. Zwar wünschen wir größtmögliche Wahrscheinlichkeit (die "Sicherheit", die wir erreichen können). Aber wenn wir sie nicht erreichen können, ist es immer noch gerechter, nach dem Wahrscheinlichen zu entscheiden, als nach dem Unwahrscheinlichen." Und noch schärfer: " ... wer mehr als 50 Ofo Wahrscheinlichkeit auf seiner Seite hat, zu dessen Gunsten ist bewiesen." Nach Josef Esser17 wird angesichts der "abweichenden Anforderungen in den verschiedenen Haftpflichtgebieten bezüglich der nur hohen und der nur stark überwiegenden Wahrscheinlichkeit ... das schwedische Postulat nach Ersetzung der sogenannten Wahrheitsüberzeugung durch eine offene Angabe der Grunde für eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dem Zivilprozessualisten jedenfalls vernünftig erscheinen."
Budolf BTUns erläutert das Überwiegensprinzip in der 1. Auflage seines Lehrbuchs dahingehend, daß "für den Zweifelsfall ... nicht die "an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit" beweiserforderlich sei, sondern daß das Gericht die überwiegende Wahrscheinlichkeit für die Annahme der streitigen Tatsachen genügen läßt. ,,18 Ohne Begründung ließ er diesen Gedanken in der 2. Auflage wieder fallen. Für die Entscheidung von Strafsachen hat M. Fincke11l das Verhältnis von Wirklichkeit, Wahrheit, Gewißheit, Wahrscheinlichkeit und Überzeugung in einer Weise geklärt, die dem hier vertretenen Ansatz entspricht. Ferner stimmen mit dieser Linie überein B. M. Maassen in seiner rechtsvergleichenden Bonner Dissertation zum angloamerikani15
G. Kegel, in: Verhandlungen des 46. DJT (1966) Bd.II Sitzungsberichte
E 76.
16G. Kegel, in: Festgabe für H. Kronstein (1967) S. 321-344 (335 f.). 17 J. Esser (Hrsg.): Freiheit und Bildung des Zivilrichters in der Sachaufklärung (1966), S.12 - vgl. dazu die Rezension von F. Baur RabelsZ 32 (1968) S. 158-161 (160 f.). 18 R. Bruns: Zivilprozeßrecht 1. Auflage 1968, S. 275 ff. (280); 2. Auflage 1979, S. 236 ff. - Vgl. dazu die Rezension von J. Schröder, FamRZ 1969 S.348-352 (349 f.). 19 M. Fincke: Die Gewißheit als hochgradige Wahrscheinlichkeit, GA 1973 S.266-272.
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1.1. Deutsche Beweislehre
schen Schadensersatzrecht20 und - weitestgehend - H. J. Musielak in seinem besonders auf die skandinavische Lehre abhebenden Festschriftenbeitrag für Gerhard Kegel; er schreckt allerdings - ohne zureichenden Grund - buchstäblich im letzten Moment vor dem überwiegensprinzip als der allgemeinen Entscheidungsgrenze in Zivilsachen zurück.21 Ich selbst habe diesen Standpunkt in meinem Beitrag zur Gedächtnisschrift für Jürgen Rödig, einer Vorausveröffentlichung zu dieser Arbeit, unterstützt.22 eh. Schöneborn23 bekräftigt in seiner tiefschürfenden Analyse der "Struktur der richterlichen überzeugungsbildung" , daß es nicht auf ein wie immer geartetes richterliches Evidenzerlebnis, sondern "auf das Erreichen (der) rechtlich begründeten Wahrscheinlichkeitsmarge" ankomme, auf das "nach Rechtsgebieten variierende Rechtsmaß" , welches nicht als disponibel betrachtet werden dürfte, sondern als dem Richter im groben Umriß vorgegeben. R. Bender und A. Nack sowie H.-J. Koch und H. Rüßmann sind um eine interdisziplinäre, neue Grundlegung der juristischen Beweislehre bemüht.24 W. Berg, der die Problematik für den Bereich der Verwaltungssachen umfassend abhandelt, richtet sein Augenmerk nicht in erster Linie auf das Beweismaß, sondern konzentriert sich auf die Beweislast; er gelangt zum Ergebnis, die Beweislastverteilung lasse sich nur durch Auslegung der materiellen Norm unter "Abwägung zwischen den Konsequenzen der beiden möglichen Fehlurteile" erschließen.25 Obwohl die Gegenmeinung besonders in den letzten Jahrzehnten an Boden gewonnen hat, läßt sich ein offener Umschwung zu ihren Gunsten nicht beobachten. Insbesondere sind Maassen und Musielak trotz der Gründlichkeit und gedanklichen Schärfe ihrer Argumentation bei den Anhängern der herrschenden Meinung bisher auf Ablehnung gestoßen.26 G. Walter faßt seinen Standpunkt wie folgt zusammen: 27 20 B. Maassen: Beweisprobleme im Schadensersatzprozeß (1975) dazu Rezensionen R. Motsch, NJW 1976 S. 1356, E. Wieser, FamRZ 1977 S. 159 f. und Hainmüller ZZP 90 (1977) S. 326-337 (331 f.). 21 H. J. Musielak: Das Overviktsprincip, in: Festschrift für Gerhard Kegel (1977) S. 451-471 (470 f.) und derselbe: Beweislast (1975) S. 105-120. 22 R. Motsch: Vom Prozeß als Beweis zum überwiegensprinzip, Gedächtnisschrift für Jürgen Rödig (1978) S.334-348. 23 eh. Schöneborn: (§ 02 N.3) S.83-124, 109, 117, 122. 24 R. Bender: Das Beweismaß, in: Festschrift für Fritz Baur (1981) S.247271; R. Bender u. a.: Tatsachenfeststellung vor Gericht, 2 Bde (1981) Bd.l S. 173 ff.; H.-J. Koch u. H. Rüßmann: Juristische Begründungslehre (1982) S. 227 ff.; H. Rüßmann: Allgemeine Beweislehre und Denkgesetze, Recht und Politik 1982 S.62-69; nachdrücklich empfiehlt E. Schneider, MDR 1982 S. 190 bis 193 (193) der Rechtsprechung die Beweismaßlehre der abgestuften Wahrscheinlichkeitsgrade von R. Bender. 25 W. Berg: Die verwaltungsrechtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt (1980) S. 221 ff. (225).
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Die These von der Maßgeblichkeit einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit sei in ihrem Ausgangspunkt, bei ihrer Durchführung und in ihren Auswirkungen nicht akzeptabel. Im Ausgangspunkt fordere "das Gesetz in seiner klaren Systematik, (daß) nur ausnahmsweise ein geringeres Beweismaß als die überzeugung von der Wahrheit genügt ...". Die Durchführung scheitere an der Unmöglichkeit einer Quantifizierung des Beweiswertes. Die größten Bedenken würden sich aber wegen der Auswirkungen dieser Theorie ergeben: die überwiegende Wahrscheinlichkeit führe zu einer tiefgreifenden Umwälzung nicht nur im materiellen Recht, sondern im ganzen Rechtsleben überhaupt. Selbst in justizfernen Kreisen sei heute bekannt, daß man, um sein "gutes Recht" zu bekommen, dieses auch beweisen müsse. Eine jahrhunderte alte Tradition des Rechtsbewußtseins, die sich der Bevölkerung eingeprägt habe, dürfte nicht unterschätzt werden. Auf gewachsene und verankerte Traditionen müsse im Interesse der übereinstimmung eines Volkes mit seiner Justiz Rücksicht genommen werden.
Ein Stück weit gehe ich mit Walter einig: das Vertrauen der Bevölkerung in seine Rechtspflege ist ein Wert von höchster Bedeutung: Dieses Vertrauen genießen nur Gerichte, die ihr Urteil in übereinstimmung mit der Wirklichkeit im konkreten Fall treffen. So gesehen ist die Wahrheit der selbstverständliche und unanfechtbare Richtpunkt. Auch Wallers Bedenken gegen die Quantifizierbarkeit aller entscheidungserheblichen Informationselemente teile ich. Ich behaupte aber: Es ist das Beharren auf der Lehre vom Vollbeweis und der Entscheidung nach materieller Beweislast, welches die Gerichte zwingt, entweder wahrheitswidrig zu entscheiden oder Künstlichkeiten sondergleichen in Kauf zu nehmen, um auf waghalsigen Umwegen im konkreten Fall doch noch zu dem mit der Wahrscheinlichkeit - und somit der Wahrheit - übereinstimmenden Ergebnis zu gelangen. Diese Lehre ist eine der Hauptursachen für die tiefe Entfremdung von Justiz und Bevölkerung. Sie ist verantwortlich für die Schwerfälligkeit der Mühlen des Gesetzes. Zu ihrer überwindung genügen nicht Beweis26 Vgl. z. B. R. Greger: Beweis und Wahrscheinlichkeit (1978) S.36, 163 f., 179, 182; K. H. Schwab: Zur Abkehr moderner Beweislastlehren von der Normentheorie, in: Festschrift für Hans-Jürgen Bruns (1978) S.505-519; differenzierend P. Gottwald: Schadenszurechnung und Schadensschätzung (1979) S. 186 ff., 293 f.; K. H. Schwab, in: Rosenberg/Schwab: Zivilprozeßrecht (13. Aufl. 1981) S. 652 f. Für die h. M. bezeichnend sind Bemerkungen wie: "So erstrebenswert die allgemeine Beachtung der Anschnallpflicht mit Rücksicht auf die eindrucksvolle und sorgfältig ermittelte Statistik ist, so schwierig ist es im Einzelfall, die Kausalität zwischen Pflichtverstoß und Schaden mit der im Zivilrecht geltenden Beweisregel der "an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit" zu bejahen. Die überwiegende Wahrscheinlichkeit reicht nicht aus. Erforderlich ist die überzeugung von der Wahrheit der Beweisführung." (so E. Ludolph, NJW 1982 S. 2595-2596). W. Wachsmuth und H.-L. Schreiber (NJW 1982 S. 2094-2098) bemühen sich demgegenüber, einer wirklichkeitsnäheren Betrachtungsweise den Weg zu ebnen, aber nicht ohne postwendend - für meinen Geschmack zu herbe - Kritik hervorzurufen (C. Scholl, NJW 1983 S. 319-320). 27 G. Walter (N.3) S. 142 ff., 161 f., 182 f., 188 f.
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Deutsche Beweislehre
erleichterungen hier und dort. Die Beweislehre bedarf von Grund auf der Erneuerung. 4. § 286 ZPO schreibt nicht die Wahrheitsüberzeugung, sondern die überwiegende Wahrscheinlichkeit als Entscheidungsgrenze in Zivilsachen vor § 286 Abs.l Satz 1 ZPO besagt einfach und klar, das Gericht habe "unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei." Bedeutet dies nicht, daß es auch und gerade in schwierig gelagerten Fällen letztlich nicht im Zweifel stecken bleiben darf, sondern nach bestem Wissen und Gewissen frei entscheiden soll, was für wahr und was für nicht wahr zu erachten sei? Tertium non datur!?
Die herrschende Meinung argumentiert demgegenüber, aus der Natur der Sache folge eine Dreiheit der möglichen Ergebnisse der Beweiswürdigung: sie könne entweder zum Schluß führen "eindeutig ja" oder "zweifelhaft (unentschieden, non liquet)" oder "eindeutig nein". Diese Trias bildet als quasi axiomatische Vorgabe die Grundlage ihres Systems.28 In Wahrheit ist die Trias nicht mehr und nicht weniger als eine bei uns heimisch gewordene Denkgewohnheit. Ebenso gut denkbar und kaum weniger plausibel erscheinen auch andere Einteilungen wie z. B. die strenge Zweiteilung "ja" oder "nein", eine Vierteilung von möglichen Schlüssen der Beweiswürdigung: "eindeutig ja" oder "wahrscheinlich ja" oder "wahrscheinlich nein" oder "eindeutig nein"; oder auch eine Fünfheit, zu der wir gelangen, wenn wir das Mittelglied der Trias ("unentschieden") nicht in zwei, sondern in drei Unterglieder aufspalten, nämlich in: "wahrscheinlich ja" oder "gleich wahrscheinlich" oder "wahrscheinlich nein". Hiermit könnten wir fortfahren, bis wir zu einer unendlichen Abstufung, also einer gleitenden Grenze, gelangen. Vielleicht läßt sich sagen: je geringer die Anzahl der Disjunktionsglieder ist, um so deutlicher tritt der Entscheidungscharakter hervor, und umgekehrt: je vielgliedriger die Disjunktion ist, um so mehr eignet sie sich für eine bloße Beschreibung. § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO enthält eine zweigliedrige Disjunktion: das Gericht soll nach freier Überzeugung entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung "für wahr" oder "für nicht wahr" zu erachten sei. Der Wortlaut spricht also gegen die Trias-Lehre der herrschenden Mei28 So L. Rosenberg (§ 10 N.4) S.l; ebenso H.-J. Musielak: Grundlagen der Beweislast (1975) S. 1 f.
§ 11 Wahrscheinlichkeit und Beweiswürdigung
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nung. Aber dürfen wir den Gesetzgeber so eng beim Wort nehmen? Legen wir ihm damit nicht den Widersinn in den Mund, daß nicht sein kann, was nicht sein darf? Enthält § 286 ZPO insofern einen inneren Widerspruch, als er einerseits "volle" Wahrheitsüberzeugung - bzw. volle überzeugung von der Unwahrheit - fordert und andererseits die Möglichkeit, daß weder die eine noch die andere überzeugung voll zu gewinnen ist, ausspart? Von "voller" überzeugung ist in § 286 ZPO nicht die Rede. Die Woodung "etwas für wahr ... erachten" ist gleichbedeutend mit "etwas für wahr halten": ich halte für wahr, was mir wahr scheint. Damit sind wir - sprachlich - im Umfeld der Wahrscheinlichkeit und nicht im Umfeld der (insgeheim stets mit Absolutheitsanspruch auftretenden) Wahrheit. Bemerkenswert ist, daß der Gesetzgeber von 1877 nur für Zivilsachen, aber nicht für Strafsachen, ausdrücklich eine zweigliedrige Disjunktion vorgeschrieben hat. § 261 StPO sagt lapidar: "über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlungen geschöpften überzeugung." Tatsächlich sah das deutsche Strafprozeßrecht lange Zeit neben dem "Freispruch wegen erwiesener Unschuld" und dem "Schuldspruch" eine dritte Entscheidungsmöglichkeit, den "Freispruch mangels Beweises" vor, der in der Praxis eine große Rolle gespielt hat. Die herrschende Meinung betont zu Recht die persönliche Verantwortung derer, die zu Gericht sitzen, für ihr Tun. Ihre Intuition und ihr Judiz sind unentbehrlich und nicht durch Wahrscheinlichkeitsberechnungen ersetzbar. Die im Spruchkörper vorhandenen kreativen Fähigkeiten, seine Einfühlung und Phantasie, gilt es zu begünstigen, nicht zu beschneiden. Sowohl die individualpsychologischen als auch die gruppendynamischen Gegebenheiten im Gerichtssaal und im Beratungszimmer verdienen unsere größte Aufmerksamkeit. Je mehr wir darüber wissen, um so eher können wir für günstige Begleitumstände Sorge tragen. Je weniger man sich seine Vorurteile eingesteht, um so leichter ist man das Opfer verborgener Neigungen und Abneigungen (Julius von Kirchmann).29 Aber auch unter dem Blickwinkel einer möglichst reibungslosen Kommunikation zwischen den Verfahrensbeteiligten und dem Spruchkörper sowie innerhalb des Spruchkörpers erscheint mir das Erfordernis der Wahrheitsüberzeugung wenig geeignet, wirklichkeitsnahe Ergebnisse sicherzustellen. Es trägt zur Lösung der praktischen Schwierigkeiten, vor welche sich das Gericht im konkreten Fall gestellt sieht, 28
J. von Kirchmann: Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft
(1848) S. 18 f.
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1.1. Deutsche Beweislehre
nichts bei. Die persönliche Gewißheit einzelner Mitglieder des Spruchkörpers ist keine fruchtbare Kommunikationsbasis. Sie belastet eher den Kommunikations- und Entscheidungsprozeß mit (oft unbewußt bleibenden) Dominanzbestrebungen der einzelnen Beteiligten. Diese Gefahr ist m. E. weniger ausgeprägt, wenn das Gericht gehalten ist, durch Abwägung des Für und Wider die Gesamtwahrscheinlichkeit im konkreten Fall zu ermitteln und mit einer vom Recht vorgegebenen Entscheidungsgrenze zu vergleichen. So streng das Wahrheitsüberzeugungserfordernis erscheint, so amorph wird es durch die der herrschenden Meinung eigene, einseitige Betonung der subjektiven Seite. Kommen naturwissenschaftliche Exaktheitsvorstellungen hinzu, schrauben sich die Beweisanforderungen in der Praxis unversehens und unkontrollierbar in die Höhe. Die deutsche höchstrichterliche Praxis in Abstammungssachen bietet hierfür den besten Anschauungsunterricht. Demgegenüber lautet die in dieser Studie vertretene These: bei symmetrischen ITTtumsfoZgen ist die WahTscheinZichkeit das Kriterium fÜT die WahTheit eineT Behauptung, und zwaT nicht etwa die an SicheTheit gTenzende, sondern die einfache WahTscheinZichkeit. Der Fall exakt gleicher Wahrscheinlichkeiten auf bei den Seiten wird zu einem Grenzfall von rein akademischem Interesse. In Zivilsachen gibt im Zweifel nicht die abstrakte Beweislast, sondern die Wahrscheinlichkeit den Ausschlag.
1.2. Erneuerung der Beweislehre in Skandinavien Obersicht Den Anstoß für die Erneuerung der Beweislehre in Skandinavien gab mittelbar die Rosenberg'sche Normentheorie, die zuerst von Karl Olivecrona kritisiert wurde.l Die Kritik macht geltend, daß die Unterscheidung von rechtsbegründenden und rechtsverneinenden Merkmalen allenfalls eine positivistische Scheinbegründung für die Zuteilung der Beweislast, aber keinen Grund in der Sache liefere. Zu einem schlüssigen Klagevortrag gehöre nicht nur die Behauptung der positiven, sondern auch die konkludente Behauptung der Abwesenheit negativer Anspruchsvoraussetzungen. Ob ein Merkmal sprachlich positiv oder negativ gefaßt werde, sei keine Frage der Natur der Sache. Den positiven oder negativen Charakter eines Elements als Grund für die Beweislastzuteilung anzugeben, sei zirkulär, wenn es die Rücksichtnahme auf die Beweislast war, die zur positiven (oder negativen) Fassung des Elements geführt habe. Die Kritik wendet sich aber auch gegen die subjektive Theorie, nach welcher weder eine Präzisierung noch eine Abstufung der Beweisstärke möglich ist; dies wäre in den Augen ihrer Anhänger ein Eingriff in die dem Tatrichter vorbehaltene Beweiswürdigung. Kern der Erneuerung der Beweislehre in Skandinavien ist die entschlossene Zuwendung zu einem Denken in der Kategorie der Wahrscheinlichkeit. Hierbei wird Wahrscheinlichkeit durchaus als Verhältniszahl verstanden (Wert zwischen 0 und 1, angegeben meist als ()/oSatz), die sich durch abgestufte Werte auf einer Skala veranschaulichen läßt (Beweisstab). Auf dem Beweisstab ist der Beweislastpunktmarkiert, der die von der einschlägigen Rechtsnorm bestimmte Beweisstärke zum Ausdruck bringt. Es wird nun ermittelt, wie groß die Gesamt-Wahrscheinlichkeit im strittigen Einzelfall ist, d. h. es wird der Beweiswertpunktanhand sämtlicher verfügbaren Indizien einschließlich der Zeugenaussagen festgestellt. Ob der "Beweis" gelungen ist oder nicht, hängt nach dieser Sprechweise davon ab, ob der Beweiswertpunkt den Beweislastpunkt wenigstens erreicht oder gar übertroffen hat. 1
K. Olivecrona: Bevisskyldigheten oeh den materiella rätten (1930).
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1.2. Erneuerung der Beweislehre in Skandinavien
Gegenüber der herkömmlichen Lehre hat der vorstehende Ansatz den Vorzug, die Fragen einerseits nach der Stärke des geforderten Beweises und andererseits nach der Seite, die die Beweislast trägt, in die eine Frage nach der Lage des Beweislastpunktes zusammenzufassen. Die von der neueren skandinavischen Beweislehre gefundene Antwort auf die Frage nach dem Beweislastpunkt lautet, daß dieser in der Mitte der Skala liegt (überwiegensprinzip), wenn nicht übergeordnete Gründe den Gesetzgeber zur Begünstigung einer Partei veranlaßt haben, was durch Auferlegung einer (besonderen) Beweislast durch entsprechende Fixierung des Beweislastpunktes zu Lasten der Gegenseite geschieht. Der Grund für die neue re skandinavische Beweislastlehre wurde von Torstein Eckhott 1943 gelegt. Per Olot Bolding und Per Olot Ekelöt, die mit H. H. Holm und P. H. Dige Eckhoffs Ideen aufgegriffen haben, verdanken wir wichtige Beiträge. Bolding mißt dem überwiegensprinzip größere Bedeutung bei als Ekelöf, der ihm auch in Zivilsachen nur in besonders gelagerten Fällen folgen möchte. Der Unterschied zwischen beiden hat möglicherweise seinen Grund in ihrer verschiedenen Blickrichtung: Während sich Bolding in erster Linie an den Gesetzgeber wendet, hat Ekelöf vor allem den Praktiker im Auge, der die Gesetze im Einzelfall auszulegen und anzuwenden hat. Die Einsicht, daß durch Auferlegung einer materiellen Beweislast, d. h. durch Verlagerung des Beweislastpunktes von der Mitte auf die eine oder andere Seite des Beweisstabes, die Chance verringert wird, bei der Entscheidung das richtige Rechtsfaktum zugrunde zu legen, findet sich in aller Schärfe bei Eckhoff, aber auch bei Bolding. Ekelöf spricht diesen Ged.anken nicht aus, befürwortet jedoch Entscheidungsmaximen, die sich an ihm orientieren. § 12 Grundlegung durch Torstein Eckhoff
1. Verteilung des Zweitelsrisikos statt Zuordnung der Beweislast Verfolgen wir zunächst die Gedankengänge von Eckhoff, die er zuerst 1943 in seiner Monographie "Zweifelsrisiko (Beweislast)" entwikkelt und später in seinem Lehrbuch "Sivilprosess" (1962) in § 55 (S. 153-163) zusammenfassend dargestellt hat. Er beginnt mit einem Hinweis auf die doppelte Aufgabe des Richters, der einerseits die bedeutsamen Fakten und andererseits die auf sie anwendbaren Rechtssätze festzustellen habe. Zweifel könnten auch bei der zweiten Frage, welche Rechtssätze anzuwenden seien, bestehen;
§ 12 Grundlegung durch Torstein Eckhoff
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diese Zweifel seien durch gründliches Studium von Rechtsprechung und Literatur, von Auslegungsgrundsätzen u. ä., mitunter aber auch mit Hilfe des Ermessens zu lösen, wobei schließlich diejenige Feststellung zu treffen sei, die alles in allem am meisten für sich habe. In diesem Zusammenhang spreche man nicht von Beweislast. Was die erste Frage angehe, so gelange der Richter aufgrund der - freien - Beweiswürdigung mitunter zu einer sicheren Feststellung darüber, ob das Faktum "X" oder das Faktum "non-X" vorliege. Allerdings verblieben oft auch nach Abschluß der Beweiswürdigung noch Zweifel. Das Ausmaß des Zweifels lasse sich durch eine Skala von 0-1, d. h. in Prozentsätzen anschaulich machen. Das linke und das rechte Ende der Skala stelle dar, daß "X" bzw. "non-X" sicher gegeben seien, während der Mittelpunkt (50 (J/o) bedeute, daß "X" und "non-X" gleich wahrscheinlich seien. Faktum "X"
100 %
50 'Ofo
0%
50 fJ/o
I
I
0'%
I
100 "'/0
Faktum "non-X"
Da sich der Eindruck des Richters nicht messen lasse, seien die Zahlen nicht buchstäblich zu nehmen; sie dienten lediglich der Illustration. Gelange der Richter bei der Beweiswürdigung nicht zur Sicherheit im einen oder anderen Sinne, so stehe er vor der Frage, ob er in seinem Urteil die Rechtsfolge für die Feststellung von "X" oder die Rechtsfolge für die Feststellung von "non-X" auszusprechen habe. Hierauf gebe die Beweislastregelung Antwort. Sie entscheide, zu wessen Lasten der Zweifel gehe, wie man zu sagen pflege. Diese Frage lasse sich mit Hilfe der soeben eingeführten Skala auch wie folgt fassen: an welcher Stelle (bei welchem Wahrscheinlichkeitswert) ist die Grenze zu ziehen, nach welcher zu bestimmen ist, ob das Faktum "X" oder das Faktum "non-X" dem Urteil zugrunde zu legen ist? Oder auch: ein wie großes Zweifelsrisiko soll welche Partei tragen? Ziehe man die Grenze in der Mitte (50 (J/o) , so werde die Beweislast halbiert (einige Autoren fänden es allerdings natürlicher zu sagen, daß dann keine der Parteien eine Beweislast habe). Werde die Grenze an irgendeiner anderen Stelle gezogen, so werde einer Seite hierdurch das Zweifelsrisiko in besonderem Maße auferlegt; diese trage dann die Beweislast. Der Unterschied zur älteren Lehre bestehe darin, daß dort zwischen Beweislast und zu fordernder Beweisstärke unterschieden worden sei, wobei das materielle Recht nur die Beweislast, nicht aber die Beweisstärke bestimme. Die ältere Lehre habe die Bestimmung der erforderlichen Beweisstärke dem Richter überlassen. Die Trennung zwischen Beweislast und Beweisstärke werde heute als un-
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l.2. Erneuerung der Beweislehre in Skandinavien
natürlich empfunden und stehe nicht im Einklang mit dem materiellen Recht, das durch geeignete Wortwahl auch Direktiven bezüglich der erforderlichen Beweisstärke gebe. Im Lehrbuch geht er sodann auf Beweislastregelungen im positiven Recht und in der Rechtsprechung ein und behandelt anschließend eingehend die eigentlichen rechtspolitischen Gründe für Beweislastregelungen (S. 157-161). Er schließt mit einer übersicht über das geltende Recht (S. 161-163). Auch diese Ausführungen verdienen unsere Aufmerksamkeit. Zuvor sei jedoch noch kurz auf einige bemerkenswerte Gedanken aus seiner Monographie hingewiesen:
2. Zur Monographie von Eckhoff In seiner Monographie behandelt Eckhoff ausführlicher als im Lehrbuch die denkbaren Lösungsmöglichkeiten für Zweifelsfälle (S. 12 ff.): Er macht zunächst eine Hauptunterscheidung zwischen Regelungen, die eine Teilung des Streitgegenstandes vorsehen, auf der einen Seite und Regelungen, die - ungeachtet der Zweifel - einer Seite den vollen Streitgegenstand zukommen lassen. Als Beispiel für den erstgenannten Regelungstypus nennt er eine nicht hinreichend aufzuklärende Grenzstreitigkeit, deren Lösung in der Aufteilung des umstrittenen Grundstückes bestehen könne. Anhand der Wahrscheinlichkeits-Skala verdeutlicht er diese Idee, indem er auf der Skala zwei "Beweispunkte" markiert, mit deren Hilfe die "sicheren" Fälle von "X" und von "non-X" von den Zweifelsfällen (d. s. die zwischen den Beweispunkten liegenden Werte) unterschieden werden könnten. Wie breit oder wie schmal der Bereich der Zweifelsfälle abzustecken sei, sei Sache des Gesetzgebers. Innerhalb des Lösungstyps, bei welchem der Streitgegenstand ungeteilt entweder der einen oder der anderen Seite zugestanden wird, unterscheidet Eckhoff einerseits Regelungen, in denen voller Beweis gefordert wird und somit die beweispflichtige Seite das ganze Zweifelsrisiko trägt, und andererseits Regelungen, in denen das Zweifelsrisiko auf beide Seiten - gleichmäßig oder unterschiedlich - verteilt wird. Die letztgenannte Lösungsmöglichkeit, nämlich das Zweifelsrisiko zu verteilen, sei natürlich die praktischste. Die Folge einer solchen Regelung sei, daß Unklarheiten in gewissen Fällen zu Lasten der einen und in anderen Fällen zu Lasten der anderen Seite gingen. Verteile man das Zweifelsrisiko auf beide Seiten zu gleichen Teilen, so sei diejenige Behauptung zugrunde zu legen, die die wahrscheinlichste sei (mehr als 50 0/0). Eine Regelung könne aber auch einer Seite ein größeres Zweifelsrisiko als der anderen auferlegen. Alle Variationen seien denkbar.
§ 12 Grundlegung durch Tarstein Eckhaff
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Sowohl die Aufbürdung des vollen Zweifelsrisikos auf eine Seite als auch die drei Grundmodelle für die Verteilung des Zweifelsrisikos auf beide Seiten: nämlich Gleichverteilung, überwiegendes Risiko zu Lasten der Feststellung "X" und überwiegendes Risiko zu Lasten der Feststellung "non-X", werden graphisch anhand der beschriebenen Skala verdeutlicht. Es heißt sodann (S.14): "Man sollte es eigentlich nicht dem Richter überlassen, frei zwischen diesen Möglichkeiten zu wählen. Vielmehr sollte die Rechtsordnung vorschreiben, wie groß der Teil des Zweifelsrisikos ist, den eine Partei tragen soll. Dies kann natürlich nicht mit völliger Exaktheit geschehen. Der Wahrscheinlichkeitsgrad, den der Richter für das Vorliegen eines Faktums annimmt, kann ja nicht durch präzise Worte oder Zahlen angegeben werden. Doch kann der Gesetzgeber dem Richter eine ungefähre Anleitung geben, indem er vorschreibt, daß das betreffende Faktum "bewiesen", "glaubhaft dargetan" ("godtgjores"), "wahrscheinlich gemacht" werden muß u.ä." Besonders in seiner Monographie legt Eckhoff großen Wert auf den Sprachgebrauch ("Zweifelsrisiko" statt Beweislast). Er schreibt (S. 13 Fn.4): "Wenn ich Verteilung des Zweifelsrisikos sage, so ziele ich also auf etwas ganz anderes ab als auf das, was gewöhnlich Beweislastverteilung genannt wird. Braucht man diesen Ausdruck, so denkt man nämlich an Fälle, in denen es mehrere Zweifelspunkte gibt und diskutiert die Frage, wer die Beweislast für die jeweiligen Punkte haben soll." Darüber hinaus begründet er die Zweckmäßigkeit, ja Notwendigkeit des von ihm geprägten neuen Sprachgebrauchs eingehend (S. 1421), insbesondere mit folgenden Argumenten: Das Wort Beweis sei unglücklich, da es die Vorstellung wecke, daß das Faktum bewiesen werden müsse. Völlig zutreffend hätten jedoch die meisten älteren Autoren hervorgehoben, daß an den juristischen Beweis nicht dieselben hohen Anforderungen wie an den mathematischen Beweis zu stellen seien. Ein sehr starkes Wahrscheinlichkeitsübergewicht genüge. In der Praxis würde aber ein verhältnismäßig leichteres Wahrscheinlichkeitsübergewicht ausreichen! Der bisherige Sprachgebrauch verursache größte Schwierigkeiten, falls eine Regelung darauf abstelle, daß das Faktum, welches das am meisten wahrscheinliche sei, zugrunde gelegt werden soll (Gleichverteilung des Zweifelsrisikos). Solle man hier von einer Halbierung der Beweislast sprechen, oder solle man sagen, daß keine Seite die Beweislast habe? Ein anderer Nachteil des Ausdrucks Beweislast sei, daß er zur Trennung der Fragen: Wer hat die Beweislast? und Wie stark sollen die Beweisanjorderungen sein? geführt habe. Diese Trennung sei nicht glücklich. Es sei ein und derselbe Gesichtspunkt, der für die Lösung
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1.2. Erneuerung der Beweislehre in Skandinavien
beider Fragen ausschlaggebend sei. Ja es gebe überhaupt keinen Grund, sie als selbständige Probleme zu betrachten. Beide seien zu der Frage zusammenzufassen, welchen Anteil am Zweifelsrisiko soll welche der Parteien tragen? Bei der Diskussion des Problems der "Beweislast" werde nicht nur häufig die so wichtige Frage der Beweisanforderungen vernachlässigt, sondern vor allem leicht die an sich naheliegende Kompromißmöglichkeit, das Zweifels risiko zu halbieren, übersehen. - Eine weitere Schwäche des Ausdrucks "Beweislast" sei, daß er in verschiedener Bedeutung gebraucht werde, und zwar einerseits im Sinne des Zweifels risikos (objektive oder materielle Beweislast) und andererseits im Sinne der Beweisführungslast (subjektive oder formelle - auch "falsche" - Beweislast), wobei es in der Praxis häufig ganz natürlich sei, die "falsche" Beweislast als Beweislast zu kennzeichnen.
3. Prinzipien der Verteilung des Zweifelsrisikos Eckhoff beginnt die Behandlung der rechtspolitischen Gesichtspunkte für die Verteilung des Zweifelsrisikos (Lehrbuch S.157-161) mit folgender Bemerkung: "Eines der Dinge, nach denen man eigentlich streben sollte, ist, daß das wahre Faktum so oft wie möglich zugrunde gelegt wird, also daß in möglichst hohem Maße "richtig" geurteilt wird. Und hieraus folgt unmittelbar, wie man annehmen sollte, daß die Chance dafür am größten ist, wenn der Richter auf das (Faktum) abstellt, welches er für das wahrscheinlichste ansieht, wenn also die Grenze beim Punkt 50 Ofo gezogen wird." Dem Einwand, daß dieses Kriterium die Fälle gleicher Wahrscheinlichkeit unentschieden läßt, hält er entgegen: Sie spielten in der Gerichtspraxis keine Rolle; auch bei der Lösung zweifelhafter Rechtsfragen könnte eine solche Situation auftreten, und der Richter müsse ohne eine "Beweislastregelung" mit ihr fertig werden; im übrigen seien derartige Fälle nie auszuschließen, gleichgültig, wo man die Grenze auf der Skala ziehe. Zweifel könne man nicht aus der Welt schaffen, indem man bestimme, welche Lösung im "Zweifelsfall" gelten soll. Hiermit werde das Problem nur verschoben. Man müsse dann nämlich die weitere Frage klären, wie die Zweifelsfälle von den anderen abzugrenzen seien. Als Ausgangspunkt sei daher festzuhalten, daß dort, wo keine besonderen rechtspolitischen Grunde eingreifen, dasjenige Faktum zugrunde zu legen sei, das am wahrscheinlichsten ist. Er untersucht sodann die Gesichtspunkte, die in besonderen Fällen zu einer abweichenden Regelung führen können. Als ersten nennt er den Gesichtspunkt besonders schwieriger Aufklärbarkeit eines Sachverhalts. Er meint Fälle, bei welchen besonders häufig die eine
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Möglichkeit ebenso wahrscheinlich sei wie die andere. Als Beispiel nennt er die Todeserklärung. Entscheidungen dieser Art würden aufs ganze gesehen weniger willkürlich, wenn der Richter auf eine gesetzliche Vermutung abstellen könne. Er wendet sich dann ausführlich dem präventiven Gesichtspunkt der Beweissicherung zu. Er unterstreicht deren Bedeutung zur Vermeidung von Prozessen bzw. zur Erleichterung der Entscheidung, falls es gleichwohl zum Prozeß kommt, bezweifelt aber, ob das erstrebte Ziel mit Hilfe einer Beweislastregelung in optimaler Weise erreicht wird. Das Interesse der einen oder anderen Seite, sich den Beweis zu sichern, sei auch dann gegeben, wenn eine Wahrscheinlichkeit von 510f0 genüge, um zu obsiegen. Der Umstand, daß eine Partei, die Gelegenheit und Veranlassung gehabt habe, sich den Beweis zu sichern, ein übliches Beweismittel nicht vorlegen könne, sei bei der Beweiswürdigung zu berücksichtigen! Die Auferlegung einer Beweislast habe den Nachteil, daß der Richter gezwungen werde, gegen eine Partei zu entscheiden, falls sie ihre Behaptung nicht hinreichend bewiesen habe, auch wenn diese Behauptung die am meisten wahrscheinliche sei. "Damit wird die Chance dafür verringert, daß das richtige Faktum zugrunde gelegt wird." Dieser Nachteil wiege die günstige Wirkung, die von der Auferlegung der Beweislast zugunsten einer besseren Aufklärung der Rechtssache vielleicht ausgehe, auf. Nur wo man in besonderem Maße eine präventive Wirkung rechtspolitisch wünsche, sei die Auferlegung der Beweislast ein geeignetes Mittel. Die Bestrafung eines solchen Versäumnisses werde als natürlich empfunden. Dieser Gesichtspunkt leite über zu dem weiteren Gesichtspunkt, nämlich mittels der Beweislastregelung eine abgestufte materielle Sanktion zu erzielen. Eckhoff exemplifiziert diesen weiteren Gesichtspunkt wie folgt: Um auf ein bestimmtes Verhalten im rechtsgeschäftlichen Verkehr hinzuwirken, drohe der Gesetzgeber für den Fall des Unterlassens ein übel an. So gingen bestimmte Beanstandungsrechte verloren, wenn die Beanstandung nicht innerhalb einer vorgeschriebenen Frist stattfinde (Ausschlußfristen). Oder ein Rechtsgeschäft sei nichtig, wenn nicht eine vorgeschriebene Form eingehalten werde. Wolle der Gesetzgeber etwas vorsichtiger verfahren und das Versäumnis bzw. die Unterlassung nicht mit dem vollen Rechtsverlust bedrohen, so könne er sich damit begnügen, der interessierten Partei die Beweislast aufzubürden. Es sei klar, daß eine solche Regelung nicht zum Ziele habe, auf eine wahrheitsgemäße gerichtliche Feststellung hinzuwirken, sondern durch Androhung eines Nachteils ein bestimmtes Verhalten der Parteien herbeiführen soll. Schließlich weist er noch auf einen allgemeinen Gedanken hin, der mittels Beweislastregelungen gefördert werden könne. Es sei dies das Interesse an der Stabilität der Gesellschaft. Tatsache sei, daß oft die Veränderung des bestehenden Zustands von übel sei. Und zwar einerseits, weil ein Sicherheitsgefühl Initiative und Unternehmungslust
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1.2. Erneuerung der Beweislehre in Skandinavien
(Investitionen) fördere und somit eine wirksamere Ausnutzung der Güter im Ganzen ermögliche (im Gegensatz zu lähmender Unsicherheit) und zum anderen, weil Eingriffe in befestigte Verhältnisse als solche ein übel sein könnten. Dieser Gedanke liege etwa der Verjährung, der Ersitzung u. ä. zugrunde. In Bereichen, in denen die Veränderung normalerweise tatsächlich ein übel bedeute, sei ein falsches Urteil zu Lasten dessen, der die Stabilität repräsentiert, ein größeres Unheil als ein falsches Urteil zu Lasten dessen, der eine .Änderung des bestehenden Zustandes herbeiführen will. Auch hier zeige sich die enge Verwandtschaft zwischen Beweislastregelung und anderen materiellen Rechtsnormen. Anschließend gibt Eckhoff eine knappe übersicht über Beweislastregelungen des geltenden Rechts auf einigen Gebieten (S. 161-163). Er lehnt es ab, eine generelle Regel etwa dergestalt aufzustellen, daß der Kläger die Beweislast trage, falls nicht besondere Gründe für eine andere Verteilung sprächen. Was geltendes Recht sei, sei allerdings zum Teil umstritten und zweifelhaft. Wir befänden uns auf einem Gebiet, in dem prinzipiell das objektive Recht entscheidend sein solle, in dem sich aber das geltende Recht noch nicht verfestigt habe. Für das Zustandekommen eines Vertrages habe derjenige, der siCh darauf berufe, die Beweislast, aber es werde kein hohes WahrsCheinliChkeitsübergewiCht gefordert. Strittig sei, ob er auCh die Beweislast für die Gültigkeit des VertragsabsChlusses habe. NaCh Auffassung von Eckhoff ist die Beweislast insoweit halbiert (überwiegensprinzip). NaCh allgemeiner Meinung gelte bei der Vertragserfüllung, daß derjenige, der geleistet (bezahlt) habe, dies beweisen müsse. DoCh gäbe es hierfür eigentliCh keine triftigen Gründe. Jedenfalls genüge ein geringes übergewiCht, was niCht aussChließe, daß ein Versäumnis bei der BeweissiCherung im Rahmen der Beweiswürdigung entspreChend berücksiChtigt werde. - Derjenige, der SChadensersatz fordere, habe die Beweislast für den Eintritt des SChadens. Für die Höhe des SChadens geIte das überwiegensprinzip. Bei grobem VersChulden ermäßigten siCh die Anforderungen an den Beweis des ursäChliChen Zusammenhangs so weit, daß das Zweifelsrisiko fast halbiert sei. Ganz zum SChluß streift Eckhoff Fälle, in denen es sChwer sei, der einen oder anderen Seite den Vorzug zu geben, wie z. B. beim Doppelverkauf eines bestimmten Gegenstandes oder bei Grenzstreitigkeiten. Hier solle siCh der RiChter an das halten, was das WahrsCheinliChste sei.
§ 13 Wahrscheinlichkeitskalkül bei Per Olof Bolding 1. Tatsachenfeststellung als Meßvorgang
In seinem Beitrag zum Kieler Symposion von 19651 legte Bolding den Schwerpunkt darauf, die Beweiswürdigung nicht in erster Linie 1
Titel und FundsteIle siehe LiteraturverzeiChnis.
§ 13 Wahrscheinlichkeitskalkül bei Olof Bolding
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als ein Problem der - subjektiven - überzeugungsbildung, sondern als ein Problem der Wahrscheinlichkeitsrechnung aufzufassen. Dieses Denkmodell biete die bessere Möglichkeit zu einer sinnvollen, widerspruchsfreien Diskussion der schwierigen Probleme der Beweiswürdigung. Bezeichnenderweise vermeide das neue schwedische Zivil- und Strafprozeßgesetz von 1948 trotz des traditionell großen Einflusses der deutschen Prozeßordnungen den Ausdruck "überzeugung"; die Bestimmung über die freie Beweiswürdigung laute vielmehr: "Das Gericht hat nach gewissenhafter Prüfung des gesamten Tatsachenstoffes darüber zu entscheiden, was in dem Verfahren bewiesen worden ist." Er unterstreicht ferner unter Hinweis auf die entsprechende angloamerikanische Unterscheidung zwischen "burden of going forward with evidence" und "burden of proof" zwischen "Beweisführungslast" und "echter Beweislast" . An einem Beispiel aus dem Strafrecht illustriert er außerdem die praktische Bedeutung, die neben der Beschaffung spezieller Informationen der Vertiefung von Kenntnissen über einschlägige Erfahrungssätze durch das Gericht zukommen kann. Auf das überwiegensprinzip geht Bolding eher beiläufig ein, indem er bemerkt, es könne nicht richtig sein, durchgehend einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit zu fordern (S.62); eine Beweislastregel könne, wie etwa in den USA, auch in der Weise gebildet werden, daß "the preponderance of the evidence" den Ausschlag geben soll (hierzu auch Rheinstein a.a.O. S. 75). In seiner englischen Abhandlung von 19601 geht Bolding näher auf das überwiegungsprinzip ein (p. 19-22, 25). Doch halten wir uns diese Arbeit in ihren wichtigen Zügen vor Augen: Bolding beginnt mit der relativierenden Bemerkung, daß die Kontroversen über Beweislastprobleme in der Lehre - zum Glück kaum Auswirkungen auf die Praxis gehabt hätten, da man diese Fragen der Tatsachenfeststellung als Probleme des gesunden Menschenverstandes ansehe, bei denen Intuition wichtiger sei als diskursives Denken. Hieraus solle die Lehre gezogen werden, daß man sich vor jeder überkomplizierung der Probleme hüten müsse. Sein Ausgangspunkt bei der Behandlung von Beweislastfragen sei, "wie der Richter sich angesichts des Fehlerrisikos bei strittigen Tatsachenbehauptungen zu verhalten habe." Weiter gehe er davon aus, daß Beweislastregeln das Fehlerrisiko nicht ausschalten könnten. Zwar sei zwischen Beweiswürdigung auf der einen Seite und Bestimmung der Beweislast auf der anderen Seite zu unterscheiden; gleichwohl sei zweckmäßig, das Studium der Beweislast mit einer Untersuchung der Methoden der Beweiswürdigung zu beginnen.
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1.2. Erneuerung der Beweislehre in Skandinavien
Boldings erste Frage lautet: Ist Beweiswürdigung ein Wahrscheinlichkeitskalkül? (p.12-17). Angesichts eines Systems mit Legalbeweisen (wie es etwa im schwedischen Prozeßgesetzbuch von 1734 vorzufinden gewesen sei) müsse die Antwort "Nein" lauten, während bei einem System mit freier Beweiswürdigung, wie es heute fast universelle Anerkennung gefunden habe, die Antwort "Ja" sei. Denn der Richter müsse, ähnlich wie etwa ein Historiker! sich des gesunden Menschenverstandes und, soweit dies möglich sei, wissenschaftlicher Methoden bedienen, um sich seine Ansicht über die strittige Tatsachenbehauptung zu bilden. Und sowohl bei der Benutzung des gesunden Menschenverstandes als auch bei wissenschaftlicher Argumentation würden tatsächliche Fragen als Wahrscheinlichkeitsfragen aufgefaßt. (Hinweis auf B. Russell: Human Knowledge, London 1948 p. 356 ff.) Allerdings könne nicht geleugnet werden, daß sich bei der Auffassung der Beweiswürdigung als eines Wahrscheinlichkeitskalküls eine Reihe von Schwierigkeiten ergäben: Keine Schwierigkeiten sieht er, wenn es darum geht, ein zwar relevantes, aber aus übergeordneten Gründen unzulässiges Beweismittel unberücksichtigt zu lassen. Die Ausschaltung eines solchen Indizes sei sogar leichter und eindeutiger möglich, als wenn auf die "überzeugung" oder den "Glauben" abgestellt werde. Auch die sich aus der gegenseitigen Abhängigkeit von tatsächlichen Umständen ergebenden Komplikationen seien kein Grund, der gegen diese Beweiswürdigungsmethode eingewandt werden könne. Die Beweiswürdigung geschehe in solchen Fällen häufig in der Weise, daß verschiedene Gruppen von Hypothesen miteinander verglichen würden, um die wahrscheinlichste zu ermitteln. Dabei sei von größter Bedeutung, daß der Richter keine der möglichen Erklärungen (Hypothesen) für die bekannten Umstände übersehe. Bolding weist zutreffend darauf hin, daß der Hypothesenbildung besonders große Bedeutung in der Phase der vorbereitenden Untersuchungen (im Strafverfahren also während der polizeilichen und staatsanwaltlichen Ermittlungen) zukomme (p. 15 Fn. 6). Aber - und dies sei der Kardinaleinwand gegen das Wahrscheinlichkeitskalkül - wie sei zu verfahren, wenn sich die Beweiskraft der Indizien nicht beziffern lasse? Bolding antwortet: "Jedes Indiz, wenn es überhaupt als relevant anzusehen ist, muß so beschaffen sein, daß es - wenigstens grob - auf dem Hintergrund unserer Kenntnis der Häufigkeiten gemessen werden kann." (p.16). Er führt dazu aus, daß etwa die Beurteilung der Richtigkeit einer Zeugenaussage anhand der Genauigkeit der betreffenden Beobachtung u. ä. im Prinzip denselben Charakter habe wie die Feststellung einer Häufigkeit durch die Statistiker.
§ 13 Wahrscheinlichkeitskalkül bei Olof Bolding
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Bolding wendet sich sodann der Frage zu, ob die Vorschriften über die Beweislast den erforderlichen Wahrscheinlichkeitsgrad normieren (p.17-19).
Erreiche die im zu beurteilenden Fall ermittelte Gesamtwahrscheinlichkeit einen sehr hohen oder einen sehr niedrigen Wert, so entstehe kein Entscheidungsproblem. Die Entscheidung sei dann ohne weiteres klar. Wie aber, wenn die Beweiswürdigung zwar eine einigermaßen hohe, aber doch keine sehr hohe Wahrscheinlichkeit für die Hypothese, daß "X" stattgefunden hat, ergab? Die Antwort, ob in einem solchen Fall von "X" oder von "non-X" auszugehen sei, könne nur eine Rechtsregel geben, die den erforderlichen Wahrscheinlichkeitsgrad präzisiert. Bolding veranschaulicht dies durch eine Skizze (nach dem Vorgang von Eckhoff) wie folgt:
A
Beweiswertpunkt (point of evidence ~----------------~---------x
Beweislastpunkt (point of proof)
B
Diese Darstellung des die Beweiswürdigung ausmachenden Meßvorgangs wird auch von Ekelöf verwendet. Das "Maß", also das Entscheidungskriterium für die Alternative "X" oder "non-X", wird durch einen Punkt auf dem Maßstab, einer Skala von 0-100 %, fixiert. In der schwedischen Terminologie heißt dieser Punkt "Beweislastpunkt" . Nach Bolding heißt Beweiswürdigung, daß sich der Richter Klarheit sowohl über die Lage des Beweiswertpunktes (Gesamt-Wahrscheinlichkeit des zu beurteilenden Einzelfalls) als auch darüber verschafft, wo - laut einschlägiger Rechtsvorschrift - der Beweislastpunkt liegt. Wörtlich: "Besteht die Beweiswürdigung in einem Wahrscheinlichkeitskalkül, so erscheint es notwendig, daß die Beweislastbestimmungen Bestimmungen über den Grad der geforderten Wahrscheinlichkeit sind." Die nächste Frage sei, ob der Beweislastpunkt nicht nur am einen oder anderen Ende der Skala, sondern auch irgendwo in der Mitte der Skala fixiert werden könne. Diese Möglichkeit sei allerdings unvereinbar mit der klassischen Auffassung von der Beweislast, wonach der Richter nach Abschluß der Beweiswürdigung sich in einer von drei denkbaren Situationen befinde: Entweder sei er zur überzeugung gelangt, daß "X" nicht existiere oder daß "X" existiere, oder er sei in Ungewißheit über die Existenz oder die Nichtexistenz von "X". Diese Auffassung gehe davon aus, daß der Beweislastpunkt sehr weit rechts oder (besser: und) sehr weit links auf der Skala liege.
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1.2. Erneuerung der Beweislehre in Skandinavien
Mitunter seien schwedische Rechtsvorschriften so formuliert, daß ein ausdrücklicher Hinweis auf niedrige Beweisanforderungen darin enthalten sei. Auch wo dies nicht der Fall sei, könnten unter Umständen Beweiserleichterungen angebracht sein. Man könne sich aber darüber hinaus auch die Frage vorlegen, ob man nicht einen Schritt weiter in Richtung Beweiserleichterung tun solle, indem man vom Oberwiegensprinzip ausgeht. Hiermit sei die Beweislastregel gemeint, durch die der Beweislastpunkt genau in die Mitte der Skala gelegt werde. Die Konsequenz dieses Prinzips wäre, daß jede Art von Wahrscheinlichkeits-übergewicht, auch das geringste, den Richter in die Lage versetzen würde, die betreffende Hypothese zugrundezulegen. (Die genauesten Untersuchungen hierzu seien Eckhoff zu verdanken: "Tvilsrisikoen", Oslo 1943 und "Ein Wort zur Beweislast und Beweislasttheorie", T. f. R. 1949 S. 298 ff.).
2. Oberwiegensprinzip Bolding wendet sich dann dem Oberwiegensprinzip im einzelnen zu (p. 19-22). Obwohl höchstrichterliche Entscheidungen schwedischer Gerichte mit einem eindeutigen Bekenntnis zum überwiegensprinzip nicht leicht zu finden seien, könnten einige Entscheidungen, die auf dieser Linie lägen, angeführt werden (er gibt drei Beispiele). Der Nachweis, daß das überwiegensprinzip in der Rechtsprechung anerkannt werde, sei nicht ohne weiteres zu führen, da entsprechende Ausführungen auch auf den Beweiswertpunkt bezogen werden könnten, so daß die Lage des Beweislastpunktes nicht eindeutig feststellbar sei. Andererseits könnten Gerichte das überwiegensprinzip in der Sache zugrundegelegt haben, ohne daß dies durch Hinweise im Wortlaut der Begründung zum Ausdruck komme. Er diskutiert sodann die Frage anhand eines Falles der behaupteten Verwechslung zweier Babies im Krankenhaus unmittelbar nach der Entbindung, wobei sich der Verdacht einer Verwechslung erst nach einigen Jahren ergeben hatte. Nur wenn eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit für die Verwechslungshypothese spreche, dürfe die Verwechslung als bewiesen angesehen werden. Der Grund für das Erfordernis eines sehr hohen Wahrscheinlichkeits-Grades als Entscheidungskriterium sei klar: Es wäre eine Tragödie für jeden der beiden Jungen, wenn sie, nachdem sie für Jahre in einer bestimmten Familiengruppe gelebt haben, irrtümlich aus dieser Gruppe entfernt und in eine andere Gruppe hineingezwungen würden. Die Unzuträglichkeit - und dies ist nach Bolding der tragende Gesichtspunkt - müsse als sehr viel größer angesehen werden als die Unzuträglichkeit eines Fehlers in der anderen Richtung, d. h. daß die bestehenden Familienbeziehungen im Widerspruch zur wahren Abstammung aufrechterhalten würden. Er behandelt noch eine Abwandlung dieses Falles, nämlich wenn der Verwechslungsverdacht nicht erst nach einigen Jahren, sondern sofort
§ 13 Wahrscheinlichkeitskalkül bei Olof Bolding
49
aufgetaucht wäre. In einem solchen Falle gäbe es keinerlei vernünftigen Grund, der einen oder der anderen Mutter eine Beweislast aufzuerlegen. Und was bleibe dann anderes übrig, als nach dem überwiegensprinzip zu entscheiden? Zur Tragweite des Vberwiegensprinzips äußert sich Bolding wie folgt: Man solle das überwiegensprinzip weder völlig verwerfen noch ihm allgemeine Anwendbarkeit zuschreiben. Tatsächlich halte er es für wahrscheinlich, daß ihm bei genauer Analyse kein größerer Wirkungsgrad zukomme, da fast immer Argumente dafür vorhanden seien, bei der einen von zwei einander ausschließenden Alternativen einen hohen Wahrscheinlichkeitsgrad zu fordern. Gleichwohl solle dieses Prinzip bei der Erörterung der Beweislast als Ausgangspunkt Verwendung finden. Wörtlich (p. 22): "Das überwiegensprinzip bedeutet, daß das Gericht nur solche Hypothesen zugrundelegen soll, die auf überwiegenden Beweisen gründen. Jedes Prinzip. aufgrund dessen der Beweislastpunkt auf die rechte Seite der Skala verlegt wird, bedeutet zugleich zweierlei, nämlich daß ein höherer Wahrscheinlichkeitsgrad für die Bejahung der Existenz von X gefordert wird und daß ein niedrigerer Wahrscheinlichkeitsgrad für die Bejahung der Existenz von nonX ausreicht. Wenn dem so ist, erscheint es dann nicht vernünftig, irgendeine Art von erheblichem Grund für jede Regel zu fordern, die einer der Parteien eine Beweislast auferlegt? Und weiter, ist nicht zu erwarten, daß wir, indem wir das überwiegensprinzip zum Ausgangspunkt wählen, uns bei der Entdeckung der Argumente, die als erheblich für die Erörterung der Beweislast zu betrachten sind, leichter tun mögen?"
3. Prinzipien der Beweislastzuordnung Welche Argumente sind nun aber für die Erörterung der Beweislast als erheblich anzusehen (p. 23-27)? Mit der zutreffenden überlegung, bei Tatsachenfeststellungen könnten Zweifelsfragen, die den Gerichten Schwierigkeiten bereiten, immer auftreten, wo der Beweislastpunkt auch liegen mag, wendet sich Bolding gegen die These, die Beweislastregelung könne dazu dienen, Schwierigkeiten bei der praktischen Handhabung einer bestimmten rechtlichen Regelung durch die Gerichte zu vermeiden oder zu mildern. Beweislastregeln helfen der einen oder anderen Partei, nicht dem Gericht! Allerdings sei diese Art von überlegung ebenso angreifbar wie beliebt. Ausgeschlossen seien ferner alle Argumente, die mit Wahrscheinlichkeitsüberlegungen - sei es aufgrund von Lebenserfahrungen, sei es von statistisch gesichertem Beobachtungswissen - zusammenhingen, denn solche Gesichtspunkte müßten erschöpfend in das Kalkül zur Ermittlung des Beweiswertpunktes, d. h. der Gesamt-Wahrscheinlichkeit eingehen. 4 Molstb
50
1.2. Erneuerung der Beweislehre in Skandinavien
Auf welche Art von Argumenten kommt es nun aber bei der Erörterung vonBeweislast an? Bolding bemerkt (p. 25): "Wie mir scheint, können alle derartigen Gesichtspunkte unter ein und demselben Blickwinkel betrachtet werden. Denn es handelt sich um Gesichtspunkte, die davon ausgehen, daß Fehler in der einen Richtung, wenn alle erheblichen Umstände in Betracht gezogen werden, unbefriedigender sind als Fehler in der entgegengesetzten Richtung. Dies scheint in der Tat eine notwendige Folgerung aus der Analyse zu sein, die in den vorausgehenden Absclmitten dargeboten wurde. Wenn wir sagen, daß eine Hypothese (A) wahrscheinlicher ist als eine andere, ihr widersprechende Hypothese (B), heißt dies, daß wir die größte Chance zur Vermeidung .eines Fehlers haben, wenn wir die Alternative A annehmen. Und da das überwiegensprinzip dazu führt, daß die Alternative A diejenige ist, die zu wählen ist, muß jede Beweislastregel, da sie von diesem Prinzip abweicht, auf einen Gesichtspunkt gegründet werden, der es rechtfertigt, daß die Fehlerrisiken ungleich behandelt werden." Mitunter gäbe es sehr gute Gründe dafür, eine bestimmte Fehlerart als unbefriedigender anzusehen als die andere - etwa in allen oder fast allen Strafsachen. Dies gelte auch in vielen Zivilsachen, wobei sich Untergruppen bilden ließen (z. B. Interesse an der Erhaltung einer gewissen Stabilität der Beziehungen zwischen den Rechtsgenossen, Bewirkung bestimmter Verhaltensweisen seitens der Vertragspartner, z. B. bei der Einigung über den Preis u. ä.). Bolding schließt ab mit dem Hinweis, daß die Beweislast in übereinstimmung mit den maßgeblichen materiellrechtlichen Gesichtspunkten zu regeln sei, und daß bei der Fixierung unterschiedlicher Beweislastpunkte angesichts der meist nur sehr groben Wahrscheinlichkeitskalküle größte Zurückhaltung geboten sei.
§ 14 Schwedisches Beweisrecht nach Per Olof Ekelöf
1. Grundgedanken Ekelöfs Meinung findet sich in Kapitel 35 A "Över bevisbördan" seines Kompendium övercivilprocessen(Lehrbuch) (1956/57), in Band 4 seines Werkes Rättegang (4. Aufl. 1977)1 sowie in seiner deutschen Gastvorlesung (1962), seiner englischen Abhandlung (1964) und seinem Beitrag von 1981.2 Er gelangt für das geltende schwedische Recht zum Ergebnis, "daß die Väter des Gesetzes mehr oder weniger bewußt davon ausgegangen 1 Ekelöf berücksichtigt in dieser Auflage die Ergebnisse der wahrscheinlichkeitstheoretischen Forschungen seines Schülers Anders Stening: Bevisvärde (1975) - dazu R. Bruns, ZZP 91 (1978) S.64-71 und - kritisch - H.-J. Koch u. H. Rüßmann (§ 11 N'. 24) S. 312-326. 2 Titel und Fundstellen siehe Literaturverzeichnis.
§ 14 Schwedisches Beweisrecht nach Per OIof Ekelöf
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sind; daß Ausdrücke wie "bekräftigen" (styrka) und "dartun" (visa) vollen Beweis (fullt bevis) bedeuten, und daß daher "wahrscheinlich" (sannolikt) und "offenbar" (uppenbart) bedeuten, daß man sich mit einer schwächeren Beweisführung begnügt bzw. eine stärkere Beweisführung fordert als die Normalstärke" (Lehrbuch S. 65). Auch Ekelöf bedient sich des auf Eckhoff zurückzuführenden Beweisstabes, den er in seinen frühen Arbeiten so darstellt: 3
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§ 21 Wahrscheinlichkeit als Wissenschaft des Richters bei Voltaire
101
"Damit Du wirklich noch klarer siehst, was ich gewollt habe, gebe ich Dir ein Beispiel", und es folgt das erwähnte Gedankenexperiment der Bestimmung des Mischungsverhältnisses einer mit weißen und schwarzen Steinchen gefüllten Urne. Das Urnenbeispiel könne auf beliebige Verhältnisse der empirischen Welt, die nur durch stichprobenartige Beobachtungen zu erforschen seien, übertragen werden, wie etwa auf das Verhältnis der verschiedenen Lebensalter innerhalb einer Bevölkerungsgruppe. § 21 Wahrscheinlichkeitslehre als Wissenschaft des Richters
bei Voltaire
Voltaire (169~1778) leitet seinen "Essai sur les Probabilites en Fait de Justice',/ durch welchen er im Jahre 1772 mit leidenschaftlichem Pathos in die öffentliche Auseinandersetzung um einen Wechselbetrugsfall eingriff, mit folgenden Worten ein: "Fast das ganze menschliche Leben beruht auf Wahrscheinlichkeiten. Alles, was uns nicht unmittelbar vor Augen geführt wird, oder von denjenigen Beteiligten als wahr erkannt wird, die offenkundig daran interessiert sein müssen, es zu leugnen, ist bestenfalls wahrscheinlich." Zwar gebe es ebensowenig eine Halb-Gewißheit, wie eine Halb-Wahrheit. "Etwas ist entweder wahr oder falsch, nichts dazwischen. Man ist sicher oder unsicher. Und da die Unsicherheit fast immer das Los des Menschen ist, würde man sich nur selten entscheiden können, wenn man auf einen (unwiderlegbaren) Beweis warten würde." Gleichwohl müsse man Partei ergreifen, und zwar ohne dies dem Zufall zu überlassen. Angesichts unserer mangelhaften, blinden, immer dem Irrtum unterworfenen Natur sei es daher notwendig, die Wahrscheinlichkeiten mit derselben Sorgfalt zu untersuchen, die wir auf die Arithmetik und auf die Geometrie verwenden. "Dieses Studium der Wahrscheinlichkeiten ist die Naturwissenschaft der Richter; eine Wissenschaft, die ebenso Achtung heischend ist, wie deren Würde selbst, denn sie ist die Grundlage ihrer Entscheidungen. Sein ganzes Leben verbringt der Richter damit, Wahrscheinlichkeiten abzuwägen, die einen gegen die anderen, sie zu berechnen, ihre Beweiskraft zu bewerten." In Zivilsachen sei alles, was nicht durch eine klare Vorschrift geregelt ist, der Berechnung der Wahrscheinlichkeiten unterworfen. In Strafsachen unterliege ebenfalls alles, was nicht offenkundig bewiesen ist, der Berechnung der Wahrscheinlichkeiten; jedoch mit einem wesentlichen Unterschied. Welches wäre dieser Unterschied? Es sei der Unterschied zwischen Leben und Tod, der Unterschied zwischen der Ehre einer ganzen Familie und ihrer Schande. Wenn es um die Auslegung eines mehrdeutigen Testamentes gehe, einer zweideutigen Klausel in einem Heiratsvertrag, oder darum, ein unklares Gesetz über die Erbfolge oder in Handelsdingen zu deuten, 1
Voltaire: Oeuvres completes, vol. 27 t. 11 (1819) p. 427 ff.
102
2.1. Wahrscheinlichkeit und rechtlicher Beweis bei den Klassikern
stünden wir vor einem absoluten Zwang, uns zu entscheiden, und hier sei die größte Wahrscheinlichkeit unser Führer. Hier gehe es nur um Geld. Etwas anderes sei es jedoch, einem Bürger sein Leben oder seine Ehre zu nehmen. Dann genüge die größte Wahrscheinlichkeit nicht. Warum? Der Grund liege darin, daß dann, wenn ein Gegenstand zwischen zwei Parteien strittig sei, es im öffentlichen Interesse ebenso wie im Interesse der Gerechtigkeit des Einzelfalls liege, daß eine der beiden Parteien ihn besitze. Er solle nicht niemandem gehören. Aber wenn jemand einer Straftat bezichtigt werde, sei es offenbar nicht notwendig, daß er aufgrund der größten Wahrscheinlichkeit dem Henker überliefert wird. Es sei sehr gut möglich, daß er, ohne die Harmonie des Staates zu stören, am Leben bleibe. Es könnte sein, daß zwanzig gegen ihn sprechende Anhaltspunkte durch einen einzigen zu seinen Gunsten sprechenden aufgewogen würden. Hier, und nur hier, komme die Probabilismusdoktrin zum Zuge. Voltaire fügt hinzu, daß hier, d. h. bei Taten, auf die die Todesstrafe steht (Kapitalverbrechen) - und nur hier - , ein Fall der "Probabilismusdoktrin" gegeben sei. Er bezieht sich damit auf eine theologische Lehrmeinung, die besonders von den Jesuiten vertreten und von den J anseniten bekämpft worden war; sie besagt, daß selbst die geringste Möglichkeit (Wahrscheinlichkeit) der Unschuld zur Absolution (Freispruch) führen muß. Voltaire macht bezüglich der Anwendbarkeit von Wahrscheinlichkeitsüberlegungen in Zivilsachen eine m. E. zutreffende Einschränkung: sei eine Materie durch eine eindeutige gesetzliche Vorschrift geregelt, so spiele die Wahrscheinlichkeit keine Rolle. Er spielt damit, wie auch seille späteren Ausführungen zeigen, darauf an, daß das Gesetz die Beweisfrage quasi perfekt selbst regeln kann, indem die Rechtsfolge unmittelbar an das Beweismittel selbst geknüpft wird, wie z. B. bei der Verbriefung von Rechten in Gestalt sogenannter Inhaberwertpapiere. So sehr der Gesetzgeber bemüht sein sollte, den Gerichten ihre schwierige Aufgabe durch Vorkehrungen solcher Art zu erleichtern, so beträchtlich wird indessen der Bereich bleiben müssen, in dem es zur Entscheidung strittiger tatsächlicher Fragen auf Wahrscheinlichkeitsüberlegungen entscheidend ankommt. Voltaire plädiert dementsprechend - abgesehen von der eben genannten Einschränkung rückhaltlos für das "Studium der Wahrscheinlichkeiten", das er geradezu die "Wissenschaft der Richter" nennt, da dieser sein Leben mit dem Abwägen und Berechnen von Wahrscheinlichkeiten und ihrer Beweiskraft verbringe. Zu dieser hohen Einschätzung der Wahrscheinlichkeitslehre gelangt er, da ihm einerseits die Irrtumsanfälligkeit des
§ 22 Condorcet und sein entscheidungstheoretischer Ansatz
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menschlichen Erkenntnisvermögens, andererseits aber auch der Entscheidungszwang und die Notwendigkeit der Vermeidung zufälliger oder irrationaler Entscheidungen vor Augen stehen. Beides zusammengenommen: unvollständiges Wissen einerseits und Entscheidungszwang andererseits, führen dazu, bei. der Entscheidung des Einzelfalls die Wahrscheinlichkeit zu berücksichtigen, genauer: denjenigen Wahrscheinlichkeitswert, der die gesamte verfügbare Information wiedergibt und der durch Abwägen sämtlicher für und gegen die Behauptung sprechenden Einzelwahrscheinlichkeiten (Indizien) im Idealfalle mittels Berechnung durch Einschluß des Einzelfalles in die engste Wahrscheinlichkeitsklasse - gewonnen wird. § 22 Der Aufkläret Condorcet und sein
entscheidungstheoretischer Ansatz
1. Allgemeines Voltaire selbst hat sich nicht um die Wahrscheinlichkeitsrechnung bemüht; nicht einmal die Schreibweise des Wahrscheinlichkeitsmaßes in Form eines Bruches, insbesondere eines Dezimalbruches, war ihm geläufig. Vielmehr versuchte er sich an einem System der Bewertung nach Punkten. Zu Voltaires grundlegenden Einsichten bemerkt indessen der Herausgeber der Kehler Ausgabe der Werke Voltaires in einem kurzen Vorwort l nicht ohne Berechtigung: "Die Idee, auf gerichtliche Beweise die Wahrscheinlichkeitsrechnung anzuwenden, ist ebenso ingeniös, wie die Ausführung dieser Idee nützlich wäre. Man spürt, daß sie noch zu neu ist, zu weit außerhalb des allgemeinen Bewußtseins liegend, vor allem daß ihr zu sehr Kenntnisse anhaften, die durch überlegungen und das Studium. der strengen Wissenschaften erworben wurden, als daß sie nicht als eine jener politischen Träumereien verworfen würde, die im Kopf von Philosophen geboren werden und die die wahren Staatsmänner verkennen oder verachten. - Herr von Voltaire hätte allerdings anders geurteilt." Anders geurteilt hat jedenfalls der Herausgeber der Kehler Ausgabe selbst, Voltaires Freund Marie-Jean-Antoine-Nicolas de Caritat, Marquis de Condorcet (1743-1794). Sein 1785 in Paris erschienenes mathematisches Hauptwerk trägt den Titel "Essai sur l'application de l'analyse a la probabilite des decisions rendues a la pluralite des voix":1. 1 Das Vorwort ist auch abgedruckt in dem von A. Condorcet O'Connor und M. F. Arago herausgegebenen "Oeuvres de Condorcet" in Band 4 p.267268 (Paris 1847); diese in Stuttgart 1968 nachgedruckte Ausgabe der Werke von Condorcet in 12 Bänden enthält seine mathematischen Schriften nicht. 2 "Versuch über die Anwendung der (mathematischen) Analyse auf die Wahrscheinlichkeit (wahrscheinliche Richtigkeit). von Mehrheitsentscheidungen" ("Essai") - Die römischen Seitenzahlen im Text beziehen sich auf die
104
2.1. Wahrscheinlichkeit und rechtlicher Beweis bei den Klassikern
Zwar haben die Gestalt ("un volcan couvert de neige" nach d'Alembert) und das Werk dieses Enzyklopädisten und Revolutionärs, der 51jährig dem Terror zum Opfer fiel, die Nachwelt schon immer ge fesselt. 3 Doch trifft sein wissenschaftliches Werk im eigentlichen Sinne erst in unseren Tagen auf volles Verständnis.4 Wie Granger in seiner konzentrierten, zum Teil unmittelbar aus unveröffentlichten Quellen geschöpften Schrift zeigt, hat Condorcet nicht wenige zentrale Ideen vorweggenommen, deren Fruchtbarkeit erst im 20. Jahrhundert deutlich geworden ist. Sein Hang zur Abstraktion und der Drang, Verstandestätigkeit praktisch nützlich werden zu lassen, führen ihn zum Denken in idealtypischen Modellen (Max Weber) und zur Konzeption einer universellen Sprache, die im Ansatz die heutige mathematische Logik vorwegnimmt. Die Vorstellung vom empirischen Wissen als Wahrscheinlichkeitswissen einerseits und sein heftiger Widerwille gegen jede Art von philosophischem Elfenbeinturm (Pyrrhonismus) andererseits lassen ihn nach einer positiven Wendung suchen, die er in den ungeahnten Möglichkeiten der Statistik findet, mittels zahlreicher wiederholter Beobachtungen, Wirtschafts- und Verwaltungsentscheidungen im Interesse der Menschen vernünftiger zu gestalten: So nennt er in seiner Einleitung zum "Essai" folgende konkrete Gebiete, deren künftige statistische Erforschung eine höhere Berechenbarkeit der politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen ermöglichen würde (p. clxxxviii f.): "Die genaue Kenntnis all dessen, was die Lebenserwartung betrifft (Einfluß des Klimas, der Gewohnheiten, der Ernährung, der Lebensführung, der Berufe, ja sogar der Rechtsordnung und der Verwaltung); exakte Kenntnis der Einzelheiten bezüglich der landwirtschaftlichen Erzeugung und des Verbrauchs; nicht willkürliche Kosten-Nutzen-Berechnung für öffentliche Arbeitim, für öffentliche Anstalten; günstige oder unheilvolle Auswirkungen eines Einleitung (Discours preliminaire), die arabischen Seitenzahlen auf den Essai
selbst. 3 Zur Biographie A. Diannyere: Notice sur la vie et les ouvrages de Condorcet (1796, 2. Aufl. 1799); M. F. Arago, Biographie de Condorcet (1847); J. F. E. Robinet: Condorcet, sa vie et son ceuvre (1893); L. Cahen: Condorcet et la Revolution fran~aise (1904); E. Netto, in: Geschichte der Mathematik, Bd. IV (1908) S. 251 f.; F. E. Buisson: Condorcet (1929); H. Delsaux: Condorcet journaliste 1790-1794 (1931); J. S. Schapiro: Condorcet and the Rise of Liberalism (1934); X. Torau-Bayle: Condorcet, marquis et philosophe, organisateur du monde moderne (1938); Th. Ramm: Die großen Sozialisten (1955) S.124-127; J. Bouissounouse: Condorcet, le philosophe dans la Revolution (1962); G.-G. Granger: Condorcet, in: Intern. Encyclopedia of the Social Sciences Bd. 3 (1968) p. 213-215; H. M. Enzensberger: Mausoleum (1975) S. 48-58. 4 Vgl. vor allem die mustergültige Arbeit von G.-G. Granger: La Mathematique sociale du Marquis de Condorcet (1956); ders.: Langue universelle et formalisation des sciences, in: Revue d'Histoire des Sciences Bd. VII (1954) p. 197-219; G.-Th. Guilbaut: La theorie de l'interet general, in: Economie appliquee 1952, Nr.4; kritisch van Dantzig, in: "La Decision" (1961) p. 129-146 (137).
§ 22 Condorcet und sein entscheidungs theoretischer Ansatz
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großen Teiles der Verwaltungsverordnungen." Zwar entzögen sich wie in der Physik auch hier vielleicht viele Fragen auf immer der Berechnung; doch sei auch die Zahl der berechenbaren Fragen in diesem Bereich unerschöpflich. Das Werk ist dem Physiokraten und großen Reformminister Ludwigs XVI., Turgot (1727-1781), gewidmet, der in dem erfolgreichen jungen Gelehrten nicht nur das Interesse für wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Fragen geweckt, sondern ihn auch zu praktischer politischer Tätigkeit herangezogen hatte. Nach Absetzung Turgots im Jahre 1776, die von den reformfeindlichen Ständen betrieben worden war, schrieb Condorcet an Voltaire: "Wir haben einen schönen Traum geträumt, aber er ist zu kurz gewesen. Ich werde mich wieder der Geometrie zuwenden. Es ist recht ernüchternd, nur noch für den eigenen Ruhm zu arbeiten, wenn man eine zeitlang wähnte, für das öffentliche Wohl tätig zu sein."5 Indem Condorcet die Eignung des demokratischen Prinzips der Mehrheitsentscheidung als Mittel zur Auffindung des richtigen Ergebnisses (und nicht nur als Mittel zur Feststellung, welche Partei die stärkere ist!) mit mathematischem Scharfsinn untersucht, wählt er dann allerdings einen Forschungsgegenstand von allergrößtem praktischen Interesse, Schwierigkeitsgrad und politischer Aktualität. Diese Wahl entspricht seinem tiefen Bedürfnis, die Vernunft und besonders ihren reinsten Ausdruck, die Mathematik, in den Dienst des sozialen Fortschritts und der Gerechtigkeit zu stellen. Condorcet verkörpert den Menschen der Aufklärung, für den, wie
EntSt Cassirer sagt, "sich Denken und Tun nirgends trennt" und der
"unmittelbar das eine durch das andere übersetzen und das eine am anderen bewähren zu können und zu müssen" glaubt. G
2. Oberblick über seinen Gedankengang Im "Essai" behandelt Condorcet ganz generell die Entscheidungsfindung durch Abstimmung, wobei immer wieder die Spruchkörper von Schwur- und Kollegialgerichten (neben parlamentarischen Gremien) als Beispiele zur Veranschaulichung des Gemeinten dienen. Methodisch geht er so vor, daß er zunächst idealtypisch vereinfachte Modelle behandelt, die er in möglichst allen denkbaren Spielarten verfolgt. In einem zweiten Schritt versuchter sodann seine Modelle durch Berücksichtigung zusätzlicher Einflüsse und Abhängigkeiten wirklichkeitsnäher zu gestalten. Das Bewegende an seiner ganzen Unternehmung ist, daß er mit gleicher Vehemenz bemüht ist, erstens der hohen Komplexität seines Gegenstandes gerecht zu werden, zweitens das Problem 5 6
Zitiert nach M. F. Arago: Oeuvres de Condorcet Bd. 1 (1847) p. xxviii. E. Cassirer: Philosophie der Aufklärung (1932) S. 11, 16, 338 f.
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2.1. Wahrscheinlichkeit und rechtlicher Beweis bei den Klassikern
mathematisch exakt zu lösen und außerdem - drittens - zu handfesten praktischen Ergebnissen durchzustoßen. Ein solches Vorhaben konnte bei aller Akribie und allem Genie nicht in jeder Hinsicht zum Erfolg führen. Für seine Größe spricht, daß er die Schwächen seines Werkes gespürt und sie nicht nur sich selbst, sondern auch seinem Leser gegenüber eingestanden hat, etwa wenn er bedauert, als einzelner nicht in der Lage zu sein, empirische Daten für die Durchrechnung von Beispielen zu beschaffen (S. clvii), wofür zu seiner Zeit in der Tat sämtliche Voraussetzungen fehlten, oder wenn er seine Arbeit in erster Linie als Anstoß zu weiterer Forschung dieser Art verstanden wissen wollte (S. clxxxiii f.): "Ich habe keineswegs geglaubt, ein gutes Werk von mir zu geben, sondern nur ein Werk, das geeignet ist, bessere dieser Art hervorzubringen" ein Wunsch, der tatsächlich in Gestalt des großen Werkes von Poisson (unten § 26) in Erfüllung gehen sollte. Dem entspricht auch das Motto, das Condorcet seinem "Essai" voranstellt: "Quod si deficiant vires audacia certe Laus erit, in magnis & voluisse sat est."7 Laplace (§ 25) hat Condorcets Bemühungen, ohne seinen Namen zu nennen, wie folgt kommentiert: 8 Die Untersuchung von Zeugenaussagen, Abstimmungen, Versammlungsbeschlüssen und von gerichtlichen UrteiIssprüchen werde durch so viele Leidenschaften, verschiedene Interessen und Umstände beeinflußt, daß sie fast immer mit den Mitteln der Wahrscheinlichkeitsrechnung unlösbar seien. Doch könne die Lösung einfacher, ähnlicher Probleme oft über die schwierigen und wichtigen Fragen viel Licht verbreiten; und dies sei wegen der Sicherheit der Berechnung den eingehendsten überlegungen noch immer vorzuziehen. Diese GesamtbeurteiIung ähnelt der Einschätzung, die Leibniz zu Bernoullis Vorschlag abgab, die Wahrscheinlichkeitsrechnung auf bestimmte juristische Probleme anzuwenden (§ 20.3). Dem 304 Seiten umfassenden "Essai" mit den mathematischen Ableitungen hat Condorcet eine 191seitige Einleitung (Discours preliminaire) vorangestellt. Sie soll seine Gedanken dem Nichtmathematiker nahebringen - auch dies ein Ausdruck seines Bedürfnisses, den Elfenbeinturm der reinen Wissenschaft zu verlassen. 8a Gleichwohl bleibt trotz al7 "Da, wenn die Kräfte versagen sollten, wenigstens die Kühnheit Lob verdient, ist es bei großen Dingen hinreichend, sie angestrebt zu haben." 8 Laplace: Essai philosophique (1814) S. 134. 8a Sein großes Bedürfnis, sich einem breiten Publikum verständlich zu machen und zu dessen Bildung beizutragen, zeigt sich auch in seinen beiden posthum veröffentlichten mathematischen Schriften. Die 1799 von Mme de Condorcet, seiner Witwe, herausgegebenen "Moyens d'appendre a compter surement et avec facilite" wurden 1813, 1828 und 1882 jeweils neu ins Englische übersetzt und insgesamt sechsmal aufgelegt (vgl. Literaturverzeichnis). 1805 gab F. J. M. Fayolle die "Elemens du calcul des probabilites et son appli-
§ 22 Condorcet und sein entscheidungstheoretischer Ansatz
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ler Bemühungen um Gemeinverständlichkeit heute wie damals der Zugang zu seinen Gedanken beschwerlich. Dies liegt an der Neuartigkeit seiner Fragestellungen, aber auch an seinem Naturell, von dem schon sein Lehrer und Freund d'Alembert in einem Brief an Lagrange sagte: "Ich wünschte mir, daß unser Freund Condorcet, der ganz gewiß Genie und Scharfsinn besitzt, eine andere Art und Weise des Vorgehens hätte, was ich ihm schon öfters gesagt habe; doch entspricht es offenbar der Natur seines Geistes, in dieser Art zu arbeiten; man muß ihn gewähren lassen."S Ausgangspunkt für Condorcet ist seine überzeugung und Forderung, daß in einem fortgeschrittenen, aufgeklärten Gemeinwesen Mehrheitsentscheidungen nicht nur dazu dienen sollen, den Willen der stärkeren Partei zu ermitteln, sondern auch das bessere Ergebnis gewährleisten sollen (p. iii, lxxxiii). Denn eine sehr große Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit sei der einzige vernünftige und gerechte Beweggrund, der Menschen veranlassen könne, sich einer Entscheidung zu unterwerfen, die von ihnen als ihren Interessen zuwiderlaufend angesehen werde (p. xvii). Seine Arbeit behandelt die Bedingungen, durch welche richtige Entscheidungen begünstigt und nach Möglichkeit sichergestellt werden; dabei beschäftigt ihn auch die Frage, daß überhaupt eine Entscheidung zustande kommt. Bei dieser Fragestellung liegt das Schwergewicht der Untersuchung naturgemäß auf Problemen wie Größe des Entscheidungsgremiums, einfache oder qualifizierte Mehrheit bei Abstimmungen, Nachprüfung der getroffenen Entscheidung durch eine höhere Instanz, logische Zerlegung eines komplexen Abstimmungspunktes in einzelne Unterpunkte u. ä. Seine allgemeine Antwort lautet, daß es letztlich weniger auf diese Bedingungen (er spricht insoweit von der "Form" der Entscheidung), sondern vielmehr auf die Aufgeklärtheit der Beteiligten ankomme (p. lxx; cl xxxii f.): "Somit ist die Form der Versammlungen, die über die Geschicke der Menschen entscheiden, sehr viel weniger wichtig für ihr Glück als die Klarheit des Geistes (les lumieres) derjenigen, aus denen sie zusammengesetzt sind; und die Fortschritte der Vernunft werden zum Wohle der Völker mehr beitragen als die Form der politischen Verfassungen." In einem Begleitbrief vom 2. Mai 1785 an Friedrich den Großen, dem er sein Werk zusandte, nannte er - neben der Ungerechtigkeit der Todesstrafe wegen des unvermeidlichen Irrtumsrisikos einerseits und der Unwiderruflichkeit der Folge andererseits - "die Unmöglichkeit, die Bedingungen, die man fordern muß, allein durch Verfahrensvorkehruncation aux jeux de hasard, a la loterie et aux jugemens des hommes par feu M. de Condorcet, avec un discours sur les avantages des mathematiques sociales et une notice sur M. de Condorcet" heraus, die zentrale Gedanken aus dem Hauptwerk enthalten. 9 Zitiert nach Granger: La Mathematique sociale (1956) p. 58.
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2.1. Wahrscheinlichkeit und rechtlicher Beweis bei den Klassikern
gen zu erfüllen, außer wenn diese Entscheidungen von sehr aufgeklärten Personen gefällt werden: woraus man schließen muß, daß das Glück der Völker stärker abhängt von der Aufgeklärtheit derjenigen, die sie regieren, als von der Form der politischen Verfassungen."lO
3. Berücksichtigung der Irrtumsfolgen Condorcet geht von Anfang an davon aus, daß mit Rücksicht auf die Irrtumsfolgen zwischen zwei Entscheidungstypen zu unterscheiden ist, nämlich solchen mit gleichen und solchen mit ungleichen Irrtumsfolgen, ein Gedanke, dem wir schon bei Voltaire begegnet sind. Er veranschaulicht diese Entscheidungstypen zuerst anhand von Gesetzesbeschlüssen, welche die Menschen in den Genuß ihrer natürlichen Rechte wieder einsetzen einerseits, und solchen, die diesen Rechten Fesseln anlegen andererseits (p. xvi f.): Als zweites Anschauungsbeispiel dient ihm sodann ebenso wie bei Voltaire - die Gegenüberstellung von Urteilssprüchen in Zivilsachen einerseits und in Strafsachen andererseits (p. xvii). Für "naturrechtsbegünstigende" Gesetze müsse die einfache Mehrheit genügen, während man für "Eingriffsgesetze" offenbar eine große Mehrheit fordern müsse, denn es könne niemals gerecht oder legitim sein, die natürlichen Rechte des Menschen zu beschränken, es sei denn, ihre Ausübung wäre für diejenigen, denen man sie nimmt, (höchstwahrscheinlich) selbst schädlich. Ebenso müsse in Strafsachen die Fonn des Gerichts, also das Verfahren und die Gerichtsverfassung, eine außerordentliche Gewähr (assurance) dafür bieten, daß der Angeklagte schuldig sei. Jedem obliege der Schutz des unglücklichen Angeschuldigten: Dieser Verpflichtung entspreche ein echtes Recht (als unschuldig behandelt zu werden), welches nur der Gewähr weiche, daß die vorgebliche Anschuldigung wirklich gerechtfertigt ist. In Zivilsachen hingegen könne man sich erlauben, zugunsten der wahrscheinlichsten Meinung zu entscheiden, wenngleich die Wahrscheinlichkeit dieser Meinung nicht als wirklicher Beweis angesehen werden könne (p. clvii). Hiervon ausgehend formuliert Condorcet eingangs folgende Maximen (p. xv f.): Das Prinzip der einfachen Mehrheit sei anwendbar auf Fragen, in denen eine Entschlußfassung notwendig sei und in denen die Unzuträglichkeiten des Irrtums einerseits gleich groß seien, welchen Entschluß man auch fasse, und andererseits kleiner als die Unzuträglichkeit einer Vertagung der Entscheidung. Das Prinzip der qualifizierten 10 Oeuvres de Condorcet Bd. 1 (1847) p.306; G.-G. Granger: La Mathematique sociale (1956) p. 116 f.
§ 22 Condorcet und sein entscheidungstheoretischer Ansatz
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Mehrheit bedeute, daß die Entscheidung aufgeschoben werden müsse, wenn die festgelegte Mehrheit nicht erreicht werde, da man Abwarten für besser halte als das Risiko eines falschen Entschlusses einzugehen; oder aber ein Entschluß werde gefaßt, weil das Risiko, sich zu täuschen, das geringere übel gegenüber der Vertagung der Entscheidung ist, und weil der entgegengesetzte Entschluß gerechterweise nicht gefaßt werden kann, ohne daß eine große Wahrscheinlichkeit für seine übereinstimmung mit der Wahrheit vorhanden ist. Jedesmal wenn es z. B. um die Bestrafung eines Angeklagten gehe, sei eine hinreichende Gewähr notwendig, da andernfalls ein Angeklagter verurteilt werden würde, wenn es sehr wenig wahrscheinlich sei, daß er schuldig ist. Und zur Rechtfertigung eines Schuldspruchs trotz des verbleibenden, unvermeidlichen Irrtumsrisikos bemerkt er (p. xxi): Zwar sei man zweifellos in jedem Mehrheitssystem (der Gefahr) ausgesetzt, eine falsche Entscheidung zu treffen: Mehrheitsentscheidungen seien jedoch nur dann erträglich, wenn immerhin eine wirkliche Gewähr der Wahrheit dieser Entscheidung bestehe. Es sei nicht ungerecht, einen Menschen zu bestrafen, selbst wenn es möglich sei, daß die Richter sich beim Schuldspruch getäuscht hätten; ungerecht sei es hingegen, ihn zu bestrafen, wenn gegen ihn keine Mehrheit bestehe, die eine hinreichende Gewähr seines Verbrechens biete. Die Irrtumsanfälligkeit liege in unserer Natur; sie sei unvermeidlich. Die Ungerechtigkeit bei Verurteilung ohne hinreichende Gewähr bestehe darin, daß man sich dem Irrtum freiwillig aussetze. Condorcet kommt auf diesen Gedanken an anderer Stelle zurück (p. xxxix): Es sei erlaubt, entsprechend einer Auffassung zu handeln, auch wenn es innerhalb einer sehr großen Zahl von diesem Prinzip folgenden Handlungen wahrscheinlich werde, daß man eine einzelne Ungerechtigkeit begehe, vorausgesetzt, daß man für jede konkrete Handlung eine hinreichende Gewähr habe, daß sie der Gerechtigkeit entspricht; doch höre diese Verhaltensweise auf, legitim zu sein, wenn im Verlauf dieser Handlungen es eine konkrete Handlung gebe, deren Ungerechtigkeit erkennbar sei. § 23 Entscheidungsgrenze bei Condorcet
1. "Gewähr" statt "moralischer Gewißheit" Von besonderem Interesse ist die bewußte Ersetzung des überkommenen Ausdrucks "moralische Gewißheit", dem wir schon bei Bernoulli begegnet sind (§ 20.2) und der uns heute als die an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit geläufig ist, durch "Gewähr" (assurance). Das Wort Gewißheit (certitude), so meint Condorcet, könne falsche Vor-
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2.1. Wahrscheinlichkeit und rechtlicher Beweis bei den Klassikern
stellungen erwecken (S. xvi Fußnote). Auch Voltaire (§ 21) hatte schon gegen derartige sprachliche Zweideutigkeiten polemisiert: "Es ist mir unbekannt, warum der Autor des Artikels ,Wahrscheinlichkeit' im großen enzyklopädischen Wörterbuch eine Halb-Gewißheit zuläßt. Mir scheint, daß es ebenso wenig eine Halbgewißheit gibt wie eine Halb-Wahrheit. Eine Sache ist wahr oder falsch, ohne Mittelding. Man hat Gewißheit oder man ist im Ungewissen." Der eigentliche Grund für die terminologische Unterscheidung von "Gewähr" und ,,(moralischer) Gewißheit" findet sich zu Beginn des zweiten Abschnittes der Einleitung (S. lxxxi). Hier wendet sich Condorcet energisch gegen Buffon (1707-1788), der ähnlich wie schon Bernoulli vorgeschlagen hatte, die moralische Gewißheit durch einen bestimmten höchsten Wahrscheinlichkeits grad zu definieren. Nach Buffon sollten alle über dieser Grenze liegenden Wahrscheinlichkeitswerte einerseits als untereinander gleichwertig und andererseits als der Gewißheit entsprechend gelten, eine Idee übrigens, die in Gestalt der 3-Sigma-Grenze (99,73 0 / 0) auch heute noch eine Rolle spielt. Condorcets Einwände gegen Buffon sind folgende (p. lxxi f.):1 Wesentlich verschiedene Dinge wie "Wahrscheinlichkeit" und "Gewißheit" dürften nicht vermengt und als einander äquivalent hingestellt werden. Das einzige Maximum im Sinne des größten Wertes, dem sich die Wahrscheinlichkeit unendlich annähern könne, sei die Einheit (Gewißheit). Vor allem seien die Größen, die man vernachlässige, nicht an sich sehr klein, sondern immer nur in Bezug auf die zu bestimmende Größe. Auch sei das Prinzip untauglich, irgendein Paradox zu erklären oder eine Schwierigkeit zu erhellen; z. B. bei wenig zahlreichen Zahlenreihen führe es sogar zu offenkundig falschen Ergebnissen.
2. Pragmatische Bestimmung der Entscheidungsgrenze Condorcet wendet sich indessen - wohlgemerkt - lediglich gegen den Versuch, einen solchen höchsten Wahrscheinlichkeitsgrad mit allgemeiner Wirkung festzulegen. Der Aufgabe, unter Berücksichtigung der Natur des jeweiligen Entscheidungsgegenstandes die als hinreichend anzusehende Wahrscheinlichkeit zu bestimmen, maß er selbst allergrößte Bedeutung bei und kümmerte sich intensiv darum. Er sieht diese Aufgabe, die er deutlich als eine pragmatische erkannte, wie folgt (S. lxxiv): "Wir werden also, statt einer an der Gewißheit orientierten Wahrscheinlichkeit eine Wahrscheinlichkeit (Grenze) dergestalt suchen, daß es unvorsichtig oder ungerecht wäre, eine Behauptung in der Praxis zu bejahen, deren Wahrscheinlichkeit unterhalb von dieser Grenze liegt, und daß man umgekehrt eine Behauptung, die diesen Wahrscheinlichkeitsgrad erreicht oder übertrifft. mit Sicherheit seinem Verhalten zugrundelegen kann.1
Vgl. auch E. Netto (1908) S.224.
§ 23 Entscheidungsgrenze bei Condorcet
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Diese Wahrscheinlichkeitsgrenze, dieser niedrigste Wert, unter den man nicht gehen darf, kann keinen festen Wert haben: sein Wert kann und muß entsprechend den Unzuträglichkeiten variieren, denen uns der Irrtum aussetzen kann, und die sich aus einer das Handeln verhindernden Unentschiedenheit ergeben können. Er (der Wert) muß vor allem entsprechend der Natur der Gegenstände variieren,über die zu befinden ist." Condorcet fordert aber nicht nur allgemein die Berücksichtigung der Natur des Entscheidungsgegenstandes. Er lenkt darüber hinaus das Augenmerk darauf, daß die Gründe für unterschiedliche Entscheidungsgrenzen nicht spekulativ, sondern nur durch (empirische) Beobachtungen der Sozialordnung zu gewinnen sind, wobei er ohne erkennbare Verbindung zur englischen Tradition auf den Topos des "reasonable man" als Orientierungshilfe stößt (p. lxxiv): "Das Motiv dafür, eine Wahrscheinlichkeit als hinreichend anzusehen, kann nur aus Beobachtungen über die allgemeine Ordnung der menschlichen Angelegenheiten hergeleitet werden. Und wir können ein Risiko dann für genügend klein halten, um vernachlässigt zu werden, wenn wir beobachten, daß die erfahrenen Leute (les hommes sages) ein Risiko dieser Art und dieses Ausmaßes in eigenen Angelegenheiten vernachlässigen." Er formuliert so dann - für Strafsachen und für Zivilsachen getrennt - Entscheidungsmaximen, die auf den psychologischen Test hinauslaufen: würde ein vernünftiger Mensch im gewöhnlichen Leben entsprechende Risiken ohne weiteres eingehen? Doch läßt Condorcet es nicht bei solchen mehr oder weniger wohlfeilen Maximen bewenden, sondern er vertieft die Frage, indem er sie im Sinne der Theorie der Spiele zu formulieren versucht (p. lxxv-lxxx; insbesondere p.lxxviii f.). Man wird diese Passage, die dem Nachvollzug besonderen Widerstand entgegensetzt, in groben Zügen vielleicht so wiedergeben können: Der Irrtum kann nicht völlig ausgeschlossen werden. Der "Verlust" im Falle eines Irrtums ist je nach Entscheidungsgegenstand unterschiedlich. Wie bei Glücksspielen unterschiedliche Einsätze durch entsprechend unterschiedliche Verteilung der Chancen (Wahrscheinlichkeiten) ausgeglichen werden, um ein "gleiches" Spiel, d. h. ein Spiel mit ausgeglichenen Risiken, zu erhalten, sind hier die Entscheidungsgrenzen entsprechend den unterschiedlichen Verlusten im Falle eines Irrtums der einen und der anderen Art so festzusetzen, daß der Ausgleich stattfindet. Wäre das übel, das die Gesellschaft durch den Freispruch Schuldiger erleidet und das übel durch die Verurteilung Unschuldiger mit großer Wahrscheinlichkeit gleich groß, so wäre die Grenze dort festzulegen, wo die Gefahr, einen Schuldigen freizusprechen und diejenige, einen Unschuldigen zu verurteilen, gleich sind. Geht man so vor, so wird zwar das durch den· Irrtum verursachte übel für die Gesellschaft minimal;
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2.1. Wahrscheinlichkeit und rechtlicher Beweis bei den Klassikern
ein solches Vorgehen sei jedoch gleichwohl "ungerecht und tyrannisch", weil bei der Einzelentscheidung die hinreichende Wahrscheinlichkeit des Verbrechens fehle und das Ergebnis die wirkliche Schädigung des einzelnen sei. Zwar spiele die Gesellschaft, wenn man so wolle, ein gleiches Spiel, nicht aber das Individuum, für das die Chancen nicht durch Wiederholung ausgeglichen würden. Er entschuldigt sich dann noch für das Wort "Spiel" in solchem Zusammenhang, wofür er sich aber auf Pascal berufen könne, und bekräftigt, daß zur Bestimmung der als hinreichend anzusehenden WahrsCJ.'1einlichkeiten ausschließlich Erwägungen aus der Natur der Sache aufgrund (empirischer) Beobachtung herangezogen würden, ein Versprechen, das er allerdings dann doch nicht einlösen kann. Seine konkreten Rechenergebnisse wie etwa der Wert des Maßes M für die Richtigkeitswahrscheinlichkeit (Entscheidungsgrenze) von Urteilen, den er mit M
= ~!! ;:~ errechnet, sind allenfalls als Kuriosität
berichtenswert. Doch ist es nicht angängig, ihn auf solche Ergebnisse festzulegen, da er sich selbst von ihnen am Schluß des einschlägigen 3. Teils (p. cxxvii) mit dem Hinweis distanziert, es werde nicht der Anspruch erhoben, hier die wirklichen Bestimmungen der Entscheidungsgrenze (I es veritables determinations de l'assurance) für die verschiedenen Fälle zu geben: nur die Methode und die erforderlichen Bedingungen habe er zeigen wollen. überhaupt ist das Bedürfnis, empirischen Boden unter die Füße zu bekommen, bei Condorcet durchaus vorhanden. So entwickelt er z. B. zu Beginn des 3. Teiles eine Art Programm für eine Feldforschung unter Verwendung eines "Tribunal d'examen", um die Richtigkeitswahrscheinlichkeit früherer Urteile durch eine nochmalige objektive überprüfung seitens eines mit wissenschaftlichen Erkenntnismitteln ausgestatteten Gremiums zu erforschen (p. xciii-xcviii); er gibt diesem Verfahren grundsätzlich den Vorzug gegenüber einer anderen von ihm vorgeschlagenen Möglichkeit, die darin bestehen soll, die Richtigkeitswahrscheinlichkeit mit Hilfe der Annahme zu berechnen, daß jeder Richter eher zugunsten der Wahrheit als zugunsten des Irrtums entscheide; er sieht sich dann aber aus praktischen Gründen gezwungen, auf diese letztgenannte, - fragwürdige (vgl. Poisson unten § 26.1) Methode zurückzugreifen. 3. Zum Gesichtspunkt der Entscheidungsreife
Der zweite Gesichtspunkt, der Condorcet - neben der Gewähr der Richtigkeit der Entscheidung (Entscheidungsgrenze) - unablässig beschäftigt, ist die Frage, ob eine Entscheidung überhaupt zustandekommt.
§ 23 Entscheidungsgrenze bei Condorcet
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Er spricht insoweit vom Problem der "Existenz" der Entscheidung (S. cxxiv). Es scheint fast so, als bedrücke ihn die Sorge, daß die Verabsolutierung des Gesichtspunktes der Richtigkeit wegen der daraus folgenden Anforderungen an die Entscheidungsinstanzen, ihren Umfang und die von ihnen einzuhaltenden Prozeduren das Mehrheitsprinzip als eine allzu schwerfällige Art der Entscheidungsfindung in Verruf bringen könnte. Die "Notwendigkeit" der Entscheidung oder umgekehrt die "Unzuträglichkeiten" im Falle der Vertagung (der Entscheidung) spielten schon bei den Maximen für einfache und qualifizierte Mehrheitsentscheidungen eine wesentliche Rolle (§ 22.3). Folgerichtig berücksichtigt er auch im Zusammenhang mit der Ermittlung der Entscheidungsgrenzen für bestimmte Sachbereiche die "Unzuträglichkeiten, die aus einer das Handeln verhindernden Unentschiedenheit sich ergeben können." So überrascht es nicht, daß er sich eingehend der Frage der Stimmenthaltung (und der gleichgelagerten Frage des "non liquet"), also einer dritten Option neben den Optionen "ja" oder "nein", zuwendet (p. xIiilii). Sein Ergebnis ist: Stimmenthaltungen (oder non-liquet-Stimmen) sind in Strafsachen bei der Entscheidung über den Schuldspruch (sofern diese Art der Stimmabgabe überhaupt zugelassen werde wie z. B. im alten Rom) zugunsten des Angeklagten zu zählen, es sei denn, das Gericht besitzt das Recht, eine neue Untersuchung anzuordnen. Habe es nämlich dieses Recht, so seien die unentschiedenen Stimmen im Sinne der Ausübung dieses Rechtes aufzufassen. Ergebe sich keine Mehrheit für eine neue Untersuchung, d. h. müsse ungeachtet der Stimmenthaltungen in der Sache entschieden werden, so dürften die unentschiedenen Stimmen nicht zugunsten des Angeklagten gezählt werden. Sie müßten dann vielmehr gänzlich unberücksichtigt bleiben. Für die Sachentscheidung gäben dann die Voten derjenigen StimmbereChtigten den Ausschlag, die, indem sie mit ja oder nein gestimmt haben, zugleich zum Ausdruck brachten, daß sie die Sache für entscheidungsreif hielten. Dies sei allerdings der einzige Fall, in dem Stimmenthaltungen unberücksichtigt bleiben müßten (p. xliv). Sei in Strafsachen außer über die Schuldfrage auch noch darüber zu befinden, ob bei Freispruch des Angeklagten eine Entschädigung oder Buße wegen falscher Anschuldigung zu zahlen ist oder nicht, so müßten insoweit die Stimmenthaltungen umgekehrt zugunsten der Anklage gezählt werden (p. xliii f.). Er befürwortet damit eine Differenzierung von zwei Arten von Freisprüchen, wie sie bis 1968 auch im deutschen Recht gegolten hat.
8 Motsdl
114
2.1. Wahrscheinlichkeit und rechtlicher Beweis bei den Klassikern
§ 24 Bestimmung der Entscheidungsgrenze unter Abwägung der Irrtumsfolgen bei Condorcet
1. Fragestellung Erst auf dem Hintergrund der soeben entwickelten beiden Hauptgesichtspunkte: 1. Unterscheidung von Entscheidungstypen im Hinblick auf unter-
schiedliche Entscheidungsgrenzen und
2. Berücksichtigung der Notwendigkeit, überhaupt eine Entscheidung zu bekommen, wird, wie mir scheint, der Gedankengang Condorcets im einzelnen verständlich. Er zerlegt den Gegenstand seiner mathematischen Analyse zunächst in zwei Fragen, die ohne Berücksichtigung des Gesichtspunktes unterschiedlicher Entscheidungsgrenzen für unterschiedliche Entscheidungstypen in eine Frage zusammenfallen würden. Er fragt nämlich (p. xviiixx): 1. nach der Wahrscheinlichkeit, keine falsche Entscheidung zu erhalten;
2. nach der Wahrscheinlichkeit, eine wahre Entscheidung zu erhalten. Der Sinn dieser Unterscheidung wird am Beispiel des Urteils über Schuld oder Unschuld eines Angeklagten unter Beachtung des Prinzips "in dubio pro reo" klar. Keine falsche Entscheidung zu erhalten, bedeutet, daß, soweit dies angesichts der Begrenztheit des menschlichen Erkenntnisvermögens überhaupt möglich ist, kein in Wirklichkeit unschuldiger Angeklagter verurteilt wird; dabei wird der umgekehrte Fehler, nämlich keinen in Wirklichkeit schuldigen Angeklagten freizusprechen, nicht als "falsche" Entscheidung aufgefaßt. Die letztgenannte Entscheidung ist jedoch auch keine "wahre" Entscheidung. Eine wahre Entscheidung im Sinne Condorcets ist vielmehr eine solche, bei der auch irrtümliche Freisprüche vermieden werden. Condorcet fragt sodann 3. nach der Wahrscheinlichkeit, eine wahre oder eine falsche Entscheidung zu erhalten, also danach, ob es überhaupt zu einer Entscheidung kommt (Existenz der Entscheidung). Praktisch (und wohl auch logisch) gesehen müßte diese Frage, hinter der sich m. E. im Grunde der Komplex "Entscheidungsreife" verbirgt, eigentlich als erste gestellt werden, jedenfalls wenn man den Entscheidungsfindungsprozeß als solchen (Zusammensetzung der Entscheidungsinstanz, Abstimmungsmodus und sonstige Verfahren) als vorgegeben voraussetzt. Dies tut Condorcet indessen gerade nicht. Er ist vielmehr bemüht, alle denkbaren Spielarten von Entscheidungsfindungsprozessen unter
§ 24 Abwägung der Irrtumsfolgen bei Condorcet
115
Verwendung von Spruchkörpern, die mit einfacher oder qualifizierter Mehrheit Beschlüsse fassen, mathematisch zu erfassen und zu analysieren! Angesichts dieses Vorhabens hielt er wohl die von ihm gewählte Reihenfolge für die didaktisch zweckmäßigere. Die Reihenfolge drückt jedoch, wie seine Erläuterungen zeigen, auch ein gewisse Wertung aus (p. xix f.). Oberstes Gebot sei eine Form der Entscheidung, die falsche Voten sehr unwahrscheinlich mache; zweitens dürfe die Furcht davor, eine falsche Entscheidung zu erhalten, nicht dazu führen, daß man überhaupt keine erhält, was u. U. ein noch größeres übel sei. Er spürt die Spannung, die zwischen der ersten und der zweiten Forderung liegt. Noch deutlicher als in der Einleitung spricht er im "Essai" davon (p. 224), daß angesichts der unvermeidlichen Begrenzung des Spruchkörpers (und damit des Vermögens, die Wahrheit zu erkennen) "die Unzuträglichkeiten, eine falsche Entscheidung zu erhalten und diejenigen (Unzuträglichkeiten), überhaupt keine Entscheidung zu erhalten, gegeneinander ausbalanciert werden müßten. Erläuternd bemerkt er zum dritten Punkt (S. xix), er hänge von den bei den erstgenannten ab. Dies bestätigt, daß er "falsch" in der ersten Frage nur auf Fehler der ersten Art (Verurteilung eines Unschuldigen) bezieht, während er "wahr" in der zweiten Frage zusätzlich auch auf den Ausschluß von Fehlern der zweiten Art (Freispruch eines Schuldigen) erstreckt. Nur dann läßt sich, wie mir scheint, seine weitere Bemerkung einigermaßen nachvollziehen, wonach "wenn man eine große Wahrscheinlichkeit, eine wahre Entscheidung zu erhalten und zugleich eine sehr große Wahrscheinlichkeit, keine falsche Entscheidung zu erhalten, besitzt, es klar ist, daß diejenige (Wahrscheinlichkeit) eine falsche oder wahre Entscheidung zu erhalten, sich der ersten (d. h. der Wahrscheinlichkeit, eine wahre zu erhalten) nähert und sie überschreitet." Condorcet hält noch eine 4. Bedingung für wesentlich, nämlich die Wahrscheinlichkeit (der Richtigkeit) einer schon ergangenen Entscheidung (p. xix f.). Der Unterschied zwischen dieser Wahrscheinlichkeit und der Wahrscheinlichkeit, eine wahre Entscheidung zu erhalten, bestehe darin, daß bei der Richtigkeits-Wahrscheinlichkeit einer schon ergangenen Entscheidung das Verhältnis zwischen den richtigen Entscheidungen zur Gesamtzahl der ergangenen Entscheidungen gemeint ist, während bei der Wahrscheinlichkeit, eine wahre Entscheidung zu erhalten, das Verhältnis zwischen richtigen Entscheidungen zur Gesamtzahl aller möglichen Fälle, einschließlich der Möglichkeit, daß gar keine Entscheidung zustande kommt, angesprochen sei. Bei der Richtigkeit einer schon ergangenen Entscheidung handele es sich um die Frage, daß ein verurteilter Angeklagter auch tatsächlich schuldig ist, während bei 8'
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2.1. Wahrscheinlichkeit und rechtlicher Beweis bei den Klassikern
der Wahrscheinlichkeit, eine wahre Entscheidung zu erhalten, es darum gehe, wie wahrscheinlich die Verurteilung eines in Wirklichkeit schuldigen Angeklagten ist. Bei der erstgenannten Frage dreht es sich darum, ob nicht ein Fehler der ersten Art vorliegt, während bei der zweitgenannten nach der Vermeidung eines Fehlers der zweiten Art gefragt wird. Bei Lichte besehen zeigt sich, daß die vierte Bedingung zunächst keine über die beiden erstgenannten Fragen hinausgehende Bedeutung hat. Der vierte Punkt gewinnt indessen eine eigene Bedeutung im Zusammenhang mit den Bemühungen, die Richtigkeit von schon ergangenen Entscheidungen empirisch zu ermitteln. Condorcet widmet sich dieser Aufgabe im dritten Teil seines "Essais", der darüber hinaus den allerdings mißglückten Versuch einer konkreten Bezifferung der Entscheidungsgrenzen in Straf- und Zivilsachen enthält. Die Aufgabe, anhand empirischen Materials die Richtigkeits-Wahrscheinlichkeit von ergangenen Entscheidungen zu bestimmen, ist erst von Poisson gelöst worden. Dieser hat sich nach eigener Bekundung des mathematischen Ansatzes von Condorcet bedient. Er besteht in der Anwendung des sogenannten Bayes'schen Prinzips oder Theorems (p. lxxxiii f., lxxxv f.). Condorcet veranschaulicht es an dem Gedankenexperiment der Urne mit weißen und schwarzen Steinchen, das Bernoulli benutzte, um Leibniz von der großen praktischen Tragweite seiner Entscheidung zu überzeugen (§ 20.3 a. E.). Er erwähnt an dieser Stelle auch Bernoulli (und Moivre), die jedoch kein Verfahren angegeben hätten, um das Mischungsverhältnis der mit weißen und schwarzen Steinchen gefüllten Urne anhand von entnommenen und wieder zurückgelegten Stichproben zu bestimmen. Erst in der Schrift von Bayes und Price sei dies geschehen, und Laplace habe als erster das Problem analytisch behandelt (p. lxxxiii). Ich komme auf das Bay~s'sche Theorem, das uns in Subtilitäten der Wahrscheinlichkeitsrechnung hineinführt, zurück (§ 29). Hier genügt die Feststellung, daß die Klassiker Condorcet, Laplace und Poisson das Bayes'sche Theorem zur Kontrolle der wahrscheinlichen Richtigkeit schon ergangener Entscheidungen benutzen, nicht aber dazu, um die Indizien in einem zur Entscheidung anstehenden Einzelfall zu einer Gesamtwahrscheinlichkeit zusammenzufassen. _
T
2. Aquivalent zur Fonnel e = 1 + T Wie dargelegt, geht es Condorcet darum, die Entscheidungsgrenze entsprechend der Natur der Sache, sprich: unter Berücksichtigung der relativen Schädlichkeit der Irrtumsfolgen, zu bestimmen. Angesichts dieses Grundgedankens einerseits und seinem Bemühen, entscheidungs-
§ 24 Abwägung der Irrtumsfolgen bei Condorcet
117
theoretische Abhängigkeiten mathematisch zu formulieren, ist es nicht abwegig, in seiner Abhandlung nach einer Entsprechung für unsere Formel e =_r-Ausschau zu halten. Tatsächlich findet sich im "Essai"
l+r
nicht nur eine vage Entsprechung, sondern ein exaktes Äquivalent mit
I b' V'" unser "e" '" I" (wohl f"ur In. d er Z el'chenge b ung V' = --=F""" I _ I wo el " convenient) unser "Gt"; und ,,1''' unser "G2 " darstellen.1 Allerdings ist er der Auffassung, daß diese "sich natürlicherweise anbietende Methode" (p. 141 f.), "die in einem abstrakten Sinn gerecht und die zugleich die einzige allgemeine Regel ist, die man aufstellen kann"
(p. 146), für die gerichtliche Entscheidungsfindung insbesondere in Strafsachen nicht angemessen sei.
Doch betrachten wir diese für unsere Studie zentrale Stelle im einzelnen. Sie folgt im "Essai" (p.141-149) ebenso wie in der Einleitung (p. lxxv-lxxx) unmittelbar den Ausführungen, mit denen er den Buffon'schen Vorschlag ablehnt, einen allgemeinen, der Wahrheit gleichkommenden höchsten Wahrscheinlichkeitsgrad festzulegen und sich dafür ausspricht, statt dessen die minimale hinreichende Gewähr unter Berücksichtigung der Natur der Sache zu ermitteln. Sozusagen zur Abrundung des eben genannten Gedankenganges schreibt er (p. 141 f.): "Man hätte auch eine andere Methode, sie (die Entscheidungsgrenzen) zu bestimmen, vorschlagen können. Nehmen wir einmal an, daß "V'" die Wahrscheinlichkeit der Wahrheit einer Entscheidung, (1- V') "die Wahrscheinlichkeit, daß sie falsch ist, seien; "I" sei das übel, das sich aus dem Vollzug dieser Entscheidung ergeben würde, wenn sie falsch ist und "I''' das übel, das sich aus dem Nichtvollzug der Entscheidung ergeben würde, wenn sie wahr ist, dann könnte man folgenden Vorschlag machen: V' : 1 - V'
=
I : l' ,was V'
1
= ---::--=:-
1+1'
ergibt.!
1 Die Äquivalenz zeigt sich, wenn wir Condorcets Zeichen in unsere Formel einsetzen und den Bruch auf der rechten Seite um I' erweitern und so zu seiner Formel gelangen: (1) Einsetzung
1
l'
V' =---1-
1+7 (2) Erweiterung des Bruches auf der rechten Seite um I' V' =
Siehe Seite 118.
l'
I
+I
118
2.1. Wahrscheinlichkeit und rechtlicher Beweis bei den Klassikern
Da sich diese Methode natürlicherweise anbietet, vor allem denjenigen, die sich mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung beschäftigen, weil sie in absoluter Weise auf eine der Hauptregeln dieses Rechenverfahrens gegründet ist, werden wir hier die Beweggründe darlegen, derentwegen wir geglaubt haben, sie nicht anwenden zu sollen ..." Diese Formel, der die Definition des "Risikos" (= mathematische Erwartung, Hoffnung) als dem Produkt aus Wahrscheinlichkeit eines Fehlers und Kosten dieses Fehlers zugrunde liegt, gibt das Verfahren an, wie die Bedingungen für ein Spiel mit ausgeglichenen Risiken ("gleiches Spiel") festzulegen sind, wenn entweder die Chancen oder die Einsätze zweier Spieler verschieden sind und durch Veränderung der jeweils anderen Größe der Ausgleich hergestellt wird. Condorcet meint, es seien genau diejenigen Gründe, die die Anwendung dieser Formel in gewissen Spielen rechtfertigen, welche ihre Anwendung auf die gerichtliche Entscheidungsfindung ausschließen. Seines Erachtens würde dabei der Schutz des Angeklagten vor der Gefahr einer irrtümlichen Verurteilung nicht oder nicht genügend gewährleistet sein. Er verwirft diese Formel für den Bereich gerichtlicher Entscheidungen, da er glaubt, eine wesentlich bessere "Form der Entscheidung" angegeben zu haben, die allen Ansprüchen der Gerechtigkeit und des öffentlichen Interesses genügt und sowohl eine sehr große Wahrscheinlichkeit, daß kein Unschuldiger verurteilt als auch daß kein Schuldiger freigesprochen wird, gewährleistet. Voraussetzung sei lediglich (!), daß die Stimmberechtigten mit sehr großer Wahrscheinlichkeit die Wahrheit erkennten. So zutreffend es ist, daß die Richtigkeit einer Entscheidung in erster Linie vom Ausmaß der objektiven und subjektiven Erkenntnismöglichkeiten der Stimmberechtigten abhängt, und so sehr es daher einleuchtet, diesem Gesichtspunkt Vorrang einzuräumen, so wenig läßt sich daraus etwas für den Fall herleiten, in welchem nach Erschöpfung aller objektiven und subjektiven Erkenntnismöglichkeiten immer noch wesentliche Punkte unklar geblieben sind und trotzdem eine Entscheidung in diesem oder jenem Sinne gefällt werden muß. Der eigentliche Grund für Condorcet, diese Methode insbesondere in Strafsachen zu verwerfen, dürfte sein, daß sie ihm keine hinreichende Gewähr für den unabdingbaren Schutz des Angeklagten zu bieten 2 "On auroit pu proposer une autre methode de les determiner. Supposons en effet que V' soit la probabilite de la verite d'une decision, 1 - V' la probabilite qu'elle est fausse, I le mal qui resulte de l'execution de cette decision si elle fausse, I' le mal qui resulteroit de ne pas l'executer si elle est vraie, on pourroit faire la proposition suivante:
V' : 1 - V'
= I : l' , ce qui donne
I V' =-.,.--
1+1'
§24 Abwägung der Irrtumsfolgen bei Condorcet
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schien. In der Tat hängt hier das Ausmaß des Schutzes davon ab, wie groß man das übergewicht des Schadens eines Fehlers der ersten Art im Vergleich zum Schaden eines Fehlers der zweiten Art ansetzt. Er fürchtete wohl einerseits die Willkür, die hier Eingang finden könnte und andererseits die instinktive Neigung, dem öffentlichen Interesse (kein Laufenlassen von Verbrechern) letztlich doch den Vorrang oder jedenfalls zu großes relatives Gewicht beizumessen. Solche Besorgnisse waren damals - und sind auch heute - keineswegs von der Hand zu weisen. Sie betreffen jedoch die Art und Weise, wie von der genannten Formel Gebrauch gemacht wird; ihre Bedeutung für die Darstellung der Abhängigkeit der Entscheidungsgrenze von der Gewichtung der Irrtumsfolgen wird dadurch nicht berührt. Im 5. und letzten Teil seines "Essais" macht Condorcet anhand von vier Anwendungsbeispielen nochmals deutlich, worauf es ihm ankommt. Für unsere Untersuchung sind das erste und das zweite Beispiel einschlägig. Das erste Beispiel betrifft die "Bildung eines Gerichtes (Spruchkörpers), bei welchem das Unrecht, das aus einer falschen Entscheidung entsteht, das gleiche ist, wie auch immer entschieden wird, also insbesondere eines Spruchkörpers für Zivilsachen" (p. 279284). Er erläutert: "In diesem Fall genügt es, daß eine Ansicht (Behauptung) wahrscheinlicher ist, als ihr Gegenteil, um sie vorzuziehen. - (Dans ce cas, il suffit qu'une opinion soit plus probable que sa contradictoire, pour l'adopter de preference, ..."). Und weiter (p.281): Diese Lösungsmöglichkeit habe zwar nicht den Nachteil, ungerecht zu sein, da sie sich darauf beschränkte, die wahrscheinlichere von zwei Behauptungen zu wählen; ihr Nachteil sei aber, daß sie die Entscheidung eines wichtigen Gegenstandes von einer sehr kleinen Wahrscheinlichkeit abhängig mache, weshalb Condorcet in solchen Fällen eine Schadensteilung nach Billigkeit vorschlägt, die die Härte des' Urteilsspruchs mildern würde. Condorcet spricht sich somit schließlich bei Zivilsachen doch noch - jedenfalls im Grundsatz ausdrücklich für das überwiegensprinzip aus. Das zweite Beispiel betrifft "die Bildung eines Gerichts, bei welchem man eine von den (beiden) Entscheidungen nur annehmen darf, wenn deren Wahrheit bewiesen ist, wie z. B. ein Strafurteil, bei dem eine hinreichende Gewähr dafür erforderlich ist, daß der Angeklagte schuldig ist, um die Verurteilung auszusprechen." (p.279, 284-287). Condorcet spricht sich, soweit ich sehe, im Ergebnis für eine 12köpfige Jury aus, die mit qualifizierter Mehrheit von mindestens 8 Stimmen zur Verurteilung gelangen kann, wobei eine gegenseitige Beeinflussung der Geschworenen nach Möglichkeit verhindert werden sollte. Dagegen räume das englische Einstimmigkeitsprinzip bei gegenseitiger Beeinflussungs-
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2.1. Wahrscheinlichkeit und rechtlicher Beweis bei den Klassikern
möglichkeit einem robusten und verschlagenen Geschworenen große Vorteile ein gegenüber einem schwachen und integeren Geschworenen und sei daher kein wirklicher Schutz gegen Fehlurteile.
3. Schlußbetrachtungen Condorcets Bedeutung für unser Thema Die in unserem Zusammenhang wichtigste überlegung Condorcets ist die Abkehr von den Bemühungen um die Fixierung eines bestimmten, höchsten Wahrscheinlichkeitsgrades, welcher der Gewißheit gleichkommen soll, zugunsten der Ermittlung der Entscheidungsgrenze unter Abwägung der Folgen im Falle eines etwaigen Irrtums, also der Gedanke einer als "Gewähr" (assurance) bezeichneten Entscheidungsgrenze, die "keinen festen Wert haben, sondern entsprechend den Unzuträglichkeiten variieren muß." Geradezu aufregend ist, daß sich bei ihm r
sogar schon die Formel e = -1-- findet, wenn auch an versteckter
+T
Stelle und mit einschränkenden Hinweisen, was ihre Anwendung auf gerichtliche Entscheidungen angeht. Schließlich sind ihre Anwendungsbeispiele am Schluß seines Werkes wegen der prinzipiellen Unterscheidung von Zivilsachen einerseits und Strafsachen andererseits und wegen seines Plädoyers für eine Entscheidung nach überwiegender Wahrscheinlichkeit in Zivilsachen Grund genug, um Condorcet in unserer Untersuchung einen besonderen Platz einzuräumen. Sein so überaus gedankenreiches Werk ist damit (nicht einmal für unsere spezielle Fragestellung) voll ausgeschöpft; nur kursorisch sei noch auf folgendes hingewiesen: Der Vorläufer Condorcet Eingangs (p. v-ix) entwickelt er zum einen die gewöhnlich Laplace zugeschriebene klassische Definition der mathematischen Wahrscheinlichkeit als Verhältnis der "günstigen" zur Gesamtheit der "günstigen" und "ungünstigen" Ereignisse, und stellt diese zum andern dem umgangssprachlichen Sinn von "wahrscheinlich" gegenüber: "Dann, wenn die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses (im mathematischen Sinne) größer ist, als diejenige des entgegengesetzten Ereignisses, besteht ein Beweggrund zu glauben, daß das erstgenannte Ereignis eintritt." Eine mathematische Wahrscheinlichkeit als solche umschließt in einer positiven Skala alle Wahrscheinlichkeits- und alle Umvahrscheinlichkeitsgrade. Nur Wahrscheinlichkeitsgrade, die höher sind als ihr Komplement (das ist die Wahrscheinlichkeit des Gegenteils) d. h. nur Grade über 50 '0/ 0, sind Beweggründe, um ein Ereignis im umgangssprachlichen Sinne als wahrscheinlich zu bezeichnen.
§ 24 Abwägung der Irrtumsfolgen bei Condorcet
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Im Anschluß an die Darlegung des Bayes'schen Prinzips zieht er die Schlußfolgerung (p. xci-xciii), daß wir nicht einmal im Bereich der Naturwissenschaften zur Gewißheit vorzudringen vermögen, ja nicht einmal zu einer "realen" Wahrscheinlichkeit, sondern immer nur zu einer mittleren Wahrscheinlichkeit gelangen können. Dies sei allerdings kein Grund zur Entmutigung, im Gegenteil. Erst diese Erkenntnis befähige uns, unsere vagen und mechanischen Eindrücke mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu kontrollieren, insbesondere wenn die Beziehung eines Eindrucks zu anderen Eindrücken gleicher Art bekannt sei. Er hätte also dem zeitgenössischen Schlagwort vom "probabilistic universe" ohne Zögern beigepflichtet. Besonders hervorzuheben ist die Stelle, in der Condorcet den kategorischen Imperativ Kants (Kritik der praktischen Vernunft 17BB § 7) mit folgender Formulierung vorweg nimmt (p. cvi f.): "In der Tat hat jeder Mensch das Recht, sich entsprechend seinem Einsichtsvermögen (seiner Vernunft) zu verhalten; doch wenn er sich zu einer Gesellschaft zusammenschließt, willigt er ein, einen Teil seiner Handlungen der allgemeinen Vernunft zu unterwerfen, die für alle nach denselben Prinzipien geregelt werden müssen, seine eigene Vernunft schreibt ihm daher diese Unterwerfung vor, und sie ist es, nach der er handelt, selbst dort, wo er auf die Durchsetzung seines eigenen Einsichtsvermögens verzichtet. So sagt er sich, wenn er sich einem seiner eigenen Ansicht zuwiderlaufenden Gesetz fügt: Es handelt sich hier nicht um mich allein, sondern um alle; ich darf mich daher nicht danach richten, was ich für vernünftig halte, sondern danach, was alle, wenn sie wie ich von ihrer eigenen Ansicht abstrahieren, als in Obereinstimmung mit der Vernunft und mit der Wahrheit befindlich betrachten müssen". (Hervorhebung im Original).3
Zwei selbstkritische Kontrollüberlegungen
Condorcet schließt sein Werk mit zwei selbstkritischen Fragen und ahnungsvollen Hinweisen auf die Gefahren des Fanatismus und überhaupt zur Macht der Eindrücke (impressions) auf unsere Urteile, ein Thema, das auch Laplace (§ 25.2) nachhaltig beschäftigt hat. Die beiden Fragen lauten: (1) Ist die Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht im Grunde überflüssig, da sie
fast in allen Punkten nur zu Ergebnissen führt, die auch der bloße Verstand uns lehrt? (p. clxxxiv)
3 "En effet, tout homme a le droit de se conduire d'apres sa raison; mais lorsqu'il s'unit a une socil~te, il consent a soumettre a la raison commune une partie de ses actions, qui doivent etre regIees pour tous, d'apres les memes principes; sa propre raison lui prescrit alors cette sournission, & c'est encore d'apres elle qu'il agit, meme en renonc;:ant a en faire usage. Ainsi lorsqu'il se soumet a une loi contraire a son option, il doit se dire: Il ne s'agit pas ici de moi seul, mais de tous; je ne dois donc pas me conduire d'apres ce que je crois etre raisonnable, mais d'apres ce que tous, en faisant comme moi, abstraction de leur opinion, doivent regarder comme etant conforme a la raison et a la vrnte."
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2.1. Wahrscheinlichkeit und rechtlicher Beweis bei den Klassikern
(2) Besteht nicht die Sorge, daß mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung nur grobschlächtige Fehler durch subtilere und, weil schwerer auszumerzen, gefährlichere Fehler ersetzt werden? (p. clxxxvi f.) Zur ersten Frage bemerkt er, die Wahrscheinlichkeitsrechnung habe jedenfalls den Vorteil, den Vormarsch der Vernunft sicherer zu machen und ihr stärkere Waffen gegen Subtilitäten und Sophismen an die Hand zu geben. Unentbehrlich sei sie dort, wo die Wahrheit oder Falschheit der Meinungen von der Präzisierung des Wertes (sprich des Wahrscheinlichkeitsgrades) abhänge, was immer dann der Fall sei, wenn es auf eine besondere Entscheidungsgrenze ankomme, während der bloße Verstand ausreiche, wo es (nur) darauf ankomme, daß die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses größer ist als die Wahrscheinlichkeit des Gegenteils. Es gebe wohl niemanden, der nicht an sich selbst beobachten könne, wie sich seine Ansichten über gewisse Dinge im Laufe des Lebens änderten, ohne daß dafür andere Ursachen als der mehr oder weniger große Eindruck dieser Dinge anzuführen seien. Auch hier könne uns die Wahrscheinlichkeitsrechnung aus der Versklavung seitens unserer Eindrücke befreien. Gerade diesem Gesichtspunkt komme hervorragende Bedeutung zu, da wir häufig nicht nur über unsere eigenen, sondern über Interessen anderer Menschen zu entscheiden hätten. "Und in diesem Falle genügt, um gerecht zu sein, nicht, eine Meinung zu glauben, sondern man muß darüber hinaus Beweggründe haben, sie zu glauben, und diese Beweggründe müssen als wirkliche Beweise angesehen werden können." In diesem Zusammenhang komme den Mitteln zur Bewertung der Wahrscheinlichkeitsgrade, die unsere Entscheidungen bestimmen, als Methode zur Gewährleistung der Gerechtigkeit unserer Urteile und Handlungen Bedeutung zu. Ja, er gehe soweit zu behaupten, daß die Wahrscheinlichkeitsrechnung eines der geeignetsten Mittel sei, den Menschen den Wert der Aufklärung fühlbar zu machen. Heutzutage (1785) wisse man nur zu gut, daß der unwissende Mensch nur ein Interesse habe: seine Unabhängigkeit. Die Gewalt könne ihn in Ketten legen, die Knechtschaft ihn verdummen, der Aberglaube seine Handlungen bestimmen; aber er zerbreche seine Ketten, sobald er aus seiner stumpfen Gleichgültigkeit heraustrete und wenn ihn seine innere Führung im Stich lasse, trete sein Instinkt mit seiner ganzen Kraft wieder hervor, und er werde schrecklicher als selbst der Wilde. Der aufgeklärte Mensch lerne im Gegensatz hierzu mit seinen Rechten auch deren Grenzen kennen. Er wisse, wann er seinem und der anderen Glück zuliebe, seine Wünsche und mitunter sogar seine wirklichen Rechte zu opfern habe. Der Respekt für das Wohlergehen und die Ruhe der anderen sei für ihn eine der wichtigsten und heiligsten Pflichten. Die zweite selbstkritische Frage lautet im einzelnen:
§ 25 Entscheidungsgrenze in Strafsachen nach Laplace
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"Doch kann es nicht dazu kommen, daß die Aufgeklärtheit die Menschen blendet, statt sie zu erhellen? Kann die Wahrheit überhaupt der Lohn der vorzüglichsten Anspannung des menschlichen Geistes sein? Kann es nicht geschehen, daß man die grobschlächtigen Irrtümer durch subtilere und gefährlichere, weil schwerer auszumerzende ersetzt? Wird nicht die Begeisterung, welche die auf Vorurteile beruhenden Meinungen verabsolutiert, auch die Halbwahrheiten übertreiben, die die Vernunft entdecken wird? Wird der menschliche Geist vor Verwirrungen sicherer sein, wenn der Raum, den er sich erschlossen hat, ausgedehnter ist?" Condorcets Antwort ist, daß diesen Gefahren nur zu begegnen ist mit der an den strengen Wissenschaften geschulten Diszipliniertheit des Denkens. Würde die Philosophie nur die Rhetorik und den schöngeistigen Bereich umfassen, so seien die Einwände auch in einer aufgeklärten Zeit nicht von der Hand zu weisen; sie verlören jedoch jedes Gewicht, wenn sich die Philosophie und die strengen Wissenschaften und insbesondere die Wahrscheinlichkeitsrechnung miteinander verbinden würden. Der ewige Kampf zwischen Irrtum und Wahrheit würde friedlicher und der Erfolg weniger vom Zufall und der Geschicklichkeit der Kombattanten abhängig. § 25 Entscheidungsgrenze in Strafsachen und psychologische Fehlerquellen nach Laplace 1. Entscheidungsgrenze in Strafsachen
Fierre Simon Marquis de Laplace (1749-1827), Mathematiker, Astronom, vielseitiger Naturforscher ("ein Newton Frankreichs") und erster Innenminister Napoleons, befaßte sich zeit seines Lebens mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung.1 Mit seinem Werk "Theorie analytique des probabilites" von 1812 stellte er dieses Gebiet erstmals umfassend dar. Die Grundbegriffe und wichtigsten Anwendungsmöglichkeiten entwickelte er in dem berühmt gewordenen, auf Gemeinverständlichkeit bedachten "Essai philosophique sur les probabilites" (1814), der auf eine 1795 an der Ecole Normale gehaltene Vorlesung zurückgeht und von Laplace in der 4. Auflage von 1819 (abgedruckt als Einleitung zur 3. Auflage der "Theorie analytique" von 1820) gerade in dem uns besonders interessierenden Abschnitt "Von den Täuschungen bei der Abschätzung der Wahrscheinlichkeiten" wesentlich erweitert wurde. Aus heutiger Sicht ist in Bezug auf den "Essai" gesagt worden, er sei überall, auch an Stellen, die man heute 1 Zur Person vgl. H. Pollaczek-Geiringer, in: Laplace: Philosophischer Versuch (1932) S. 172-176 (Nachwort mit einer Bibliographie seiner wahrscheinlichkeitstheoretischen Schriften); F. N. David, in: Bernoulli - Bayes - Laplace (1965) S. 30--44.
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2.1. Wahrscheinlichkeit und rechtlicher Beweis bei den Klassikern
historisch zu werten habe, das überlegene, oft glanzvolle Werk eines freien Geistes. 2 Zur Entscheidungsgrenze in Strafsachen führt Laplace im einzelnen aus (S. 103 f.): Ohne Zweifel müßten die Richter, um zu verurteilen, die stärksten Beweise haben. Ein moralischer Beweis stelle indessen immer nur eine Wahrscheinlichkeit dar, und die Erfahrung habe nur zu oft gelehrt, daß selbst bei den am gerechtesten erscheinenden Strafurteilen noch Irrtümer vorkämen. Daraus ergebe sich das stärkste Argument gegen die Todesstrafe. Folglich müßten wir, wenn man mathematische Evidenz erreichen müßte, überhaupt davon Abstand nehmen, zu verurteilen. Die Gefahr, die sich aus der Straflosigkeit des Verbrechens ergebe, erheische jedoch die Verurteilung. Wenn er sich nicht täusche, lasse sich diese Erwägung auf die Lösung der Frage zurückführen, die soeben wörtlich wiedergegeben worden ist. Danach kann die Entscheidungsgrenze nur mit Hilfe eines abwägenden Vergleichs zwischen den Nachteilen der Verurteilung eines Unschuldigen einerseits und dem Freispruch eines Schuldigen andererseits bestimmt werden. Die Lösung dieser Frage hänge von mehreren, schwer zu erkennenden Elementen ab: z. B. den aus einem irrtümlichen Freispruch für die Gesellschaft entstehenden Risiko. Die Gefahr könne in Einzelfällen so groß sein, daß sich das Gericht gezwungen sähe, "von den zum Schutze der Unschuld weise errichteten Formen abzugehen". Die Frage werde fast immer durch die Schwierigkeit, "die Wahrscheinlichkeit des Verbrechens genau abzuschätzen, und die zur Verurteilung des Angeklagten notwendige Wahrscheinlichkeit zu fixieren" unlösbar. Jeder Richter sei gezwungen, sich in dieser Hinsicht auf sein eigenes Gefühl zu verlassen. Er bilde sich seine Meinung, indem er die verschiedenen Zeugenaussagen und Indizien mit den Ergebnissen seines Nachdenkens und seiner Erfahrung vergleiche. Seine Berufspraxis verleihe ihm eine große Gewandtheit, um inmitten der sich oft widersprechenden Indizien die Wahrheit herauszufinden. Laplace trifft noch eine weitere Unterscheidung: Die Bestimmung des für die Verurteilung erforderlichen Wahrscheinlichkeitsgrades hänge auch vom Ausmaß der Strafdrohung ab. Für ein Todesurteil würden naturgemäß sehr viel strengere Beweise gefordert als für einige Monate Gefängnis. Dies sei im übrigen der Grund dafür, daß Verbrechen und Strafe einander proportional sein müßten. Würde man nämlich leichte Vergehen mit strengeren Strafen belegen, so würde dies unvermeidlich zu einem übermaß an Freisprüchen von in Wirklichkeit 2 So Pollaczek-Geiringer a.a.O. S.176 alle Verweise. im Text beziehen sich auf diese deutsche übersetzung von H. Löwy (hrsg. von Richard von Mises).
§ 25 Entscheidungsgrenze in Strafsachen nach Laplace
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schuldigen übeltätern führen. Die Strafdrohung müsse dem Produkt aus ,,\Vahrscheinlichkeit der Tat" und "Schwere der Tat" entsprechen. Anhand von Berechnungen, die wir zu den historisch zu wertenden Teilen zählen können, gelangt er zu dem Schluß, daß der Schutz des Angeklagten im geltenden französischen Recht, in welchem die einfache Mehrheit von 7: 5 Stimmen einer 12köpfigen Geschworenenbank ausreichte, zu schwach sei und spricht sich für eine qualifizierte Mehrheit von mindestens 9: 3 Stimmen aus. (S.109). Und tatsächlich wurde in Frankreich ab 1831 vorübergehend eine qualifizierte Mehrheit von mindestens 8 : 5 Stimmen für eine Verurteilung eingeführt! Hingegen lehnte er wie Condorcet das anglo-amerikanische Prinzip der Einstimmigkeit, das allerdings noch größeren Schutz biete, ab, da die Nachteile sachfremder Einflüsse infolge des Zwangs zur Einstimmigkeit auf die Voten der einzelnen Mitglieder zu groß seien. Unter unserem speziellen Blickwinkel interessieren in erster Linie seine Ausführungen zur Bestimmung der Entscheidungsgrenze in Strafsachen ("Von der Wahrscheinlichkeit gerichtlicher Urteile" S. 102-109). Seine Fragestellung, die auch schon die Antwort enthält, lautet (S. 103): "Erreicht der Beweis der Straftat des Angeklagten denjenigen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit, der erforderlich ist, damit die Bürger die Irrtümer der Gerichte weniger zu fürchten hätten, wenn er unschuldig ist und verurteilt wird, als seine neuen Verbrechen und die Verbrechen derjenigen Unglückseligen, die durch das Beispiel seiner (ungerechtfertigten) Straflosigkeit zu solchen ermutigt würden?"3 2. Psychologische Fehlerquellen
Um nichts weniger bemerkenswert sind aber auch seine überlegungen zu den - wir würden heute sagen - unterbewußten Ursachen irriger Wahrscheinlichkeitsschätzungen ("Von den Täuschungen bei der Abschätzung der Wahrscheinlichkeiten" S.123-155): Laplace bezweifelt, daß die vernünftige Einsicht allein ausreicht, um sich gegen die vielfältigen, irrationalen Antriebe durchzusetzen. Auch das Kapitel "Von der Wahrscheinlichkeit der Zeugenaussagen" (S.83-98), in dem er auf den außerordentlichen Einfluß der herrschenden Meinung zu sprechen kommt, verdient unsere Aufmerksamkeit. Im Abschnitt "über Täuschungen bei der Abschätzung von Wahrscheinlichkeiten" geht Laplace den Einflüssen von Interesse und Vors Laplace: Theorie analytique (3. Auflage) p. lxxxvii: "La preuve du delit de l'accuse a-t-elle le haut degre de probabilite necessaire, pour que les citoyens aient moins a redouter les erreurs des tribunaux, s'il est innocent et condamne, que ses nouveaux attentats, et ceux des malheureux qu'enhardirait l'exemple de son impunite, s'U etait coupable et absous?"
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2.1. Wahrscheinlichkeit und rechtlicher Beweis bei den Klassikern
urteilen, von Gewohnheiten und Leidenschaften auf unsere Sinnesund Verstandeswahrnehmungen nach (S. 123 f.): Ahnlich wie unsere Sinne sei auch unser Verstand Täuschungen ausgesetzt; diese könnten jedoch - wie Täuschungen des Gesichtssinnes durch den Tastsinn - durch das Denken und die Berechnung berichtigt werden. "Unsere Leidenschaften, unsere Vorurteile und die herrschenden Meinungen sind dadurch, daß sie die ihnen günstigen Wahrscheinlichkeiten übertreiben und die entgegengesetzten vermindern, reichliche Quellen gefährlicher Täuschungen"; dies gelte in besonderem Maße bei Glücksspielen. Eine Hauptursache des Irrtums, vor der man sich nicht genügend in Acht nehmen könne, sei der lebhafte Eindruck, den wir durch die Gegenwart der Ereignisse empfingen und der die Beachtung der entgegengesetzten Eindrücke aus anderen beobachteten Ereignissen kaum zuließe. Und weiter (S. 135 f.): Um sich vor Täuschungen bei der Abschätzung von Wahrscheinlichkeiten schützen zu können, sei eine vertiefte Untersuchung der Gesetze der geistigen Organisation (organisation intellectuelle) vonnöten. Der Aberglaube habe deshalb so leichtes Spiel, weil die große Zahl der Nichtübereinstimmungen von Voraussagen mit der Wirklichkeit, - im Gegensatz zum umgekehrten Fall - keinen Eindruck hinterließe. Wie Cicero, aus dessen "Abhandlung über die Wahrsagekunst" er die schöne Stelle mit der Unterscheidung zwischen Aberglauben und echter Religiosität wörtlich wiedergibt, ist er zutiefst davon überzeugt, daß "wir uns selbst wie den anderen etwas Nützliches tun, wenn es uns gelingt, den Aberglauben zu zerstören". Er verkennt dabei allerdings nicht, daß "alle diese Vorurteile und aller Schrecken, den sie einflößen, mit physiologischen Ursachen zusammenhängen, die oft noch mächtig zu wirken fortfahren, selbst nachdem uns die Vernunft bereits eines Besseren belehrt hat". Doch er betont: "Aber die Wiederholungen der diesen Vorurteilen entgegengesetzten Handlungen kann sie (die Vorurteile) immer zerstören", was er im folgenden dartun wolle. Laplace geht sodann (S. 136-155) in eindringlicher und auch heute noch frisch wirkender Weise auf das Zusammenspiel und die Wechselwirkungen von Sinneswahrnehmungen, eingeprägten Gedächtnisspuren, unterbewußten Wahrnehmungen und quasi-automatischen Verhaltenssteuerungen ein. Er nennt dieses Gebiet, das dort beginne, wo die Physiologie des Sichtbaren aufhöre, "Psychologie". Seinen tragenden Gedanken, daß die vernünftige Einsicht für sich genommen nicht ausreicht, um sich gegen eingeübte, unter Umständen jedoch auf Irrtümern gegründete Gewohnheiten durchzusetzen, findet er durch Pascal's Ausführungen zum Glauben bestätigt, die wörtlich wiedergegeben sind (S. 150 f.): "Wir dürfen nicht verkennen, daß wir ebenso sehr Körper als Geist sind; und daher kommt es, daß das Werkzeug, durch das die überzeugung sich bildet, nicht einzig der Beweis ist. Wie wenige Dinge gibt es, die bewiesen sind! Die Beweise überzeugen nur den Geist; die Gewohnheit liefert unsere kraftvollsten Beweise. Sie gibt den Sinnen, die den Geist mit sich fortreißen, eine Neigung, ohne daß er sich dessen bewußt ist."4
§ 25 Entscheidungsgrenze in Strafsachen nach Laplace
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Laplace selbst formuliert diesen Gedanken folgendermaßen (S. 153): "Gewohnt nach einer gewissen Art von Wahrscheinlichkeiten unser Urteil zu fällen und unser Verhalten einzurichten, stimmen wir wie durch Instinkt diesen Wahrscheinlichkeiten zu, und diese bestimmen uns mit mehr Kraft als die weit stärkeren Wahrscheinlichkeiten, die sich aus der überlegung und der Berechnung ergeben." Man müsse daher zur Unterstützung der Vernunft die Sinne heranziehen, d. h. z. B. abstrakte Größen der Berechnung anschaulich machen, indem man Wahrscheinlichkeiten und Unwahrscheinlichkeiten, die miteinander verglichen werden sollen, etwa durch geometrische Strecken darstellt. Damit gelangen wir zu dem Abschnitt "über die Wahrscheinlichkeit von Zeugenaussagen". Laplace übersieht nicht, daß "wegen der Schwierigkeiten, die Glaubwürdigkeit von Zeugen abzuschätzen, und wegen der großen Zahl von Begleitumständen der von ihnen bezeugten Tatsachen" Berechnungen oft unmöglich sind. Trotzdem glaubt er (S. 83), daß wir uns mit Hilfe der Wahrscheilichkeitsrechnung in manchen Fällen vor falschen Raisonnements schützen können. Er demonstriert sodann (S. 95-97), wie unwahrscheinlich eine Aussage dann ist, wenn zwei Zeugen unabhängig voneinander dieselbe Angabe machen und die Wahrscheinlichkeit dieser Angabe mehr oder weniger klein ist, oder auch (S. 97 f.) wie die Wahrscheinlichkeit abnimmt, wenn sich die Aussage über eine Kette von unzuverlässigen Zeugen fortpflanzt. Zur Bekundung außergewöhnlicher Tatsachen bemerkt er (S.92), daß wir jemandem nicht glauben würden, der uns erzählt, hundert in die Luft geworfene (echte) Würfel seien alle auf dieselbe Seite gefallen; wären wir selbst Zeugen eines solchen Ereignisses geworden, "so würden wir unseren eigenen Augen nicht glauben, bis wir gewissenhaft alle Umstände geprüft und andere zu Augenzeugen gemacht hätten, um sicherzugehen, daß weder eine Sinnestäuschung noch irgendein Blendwerk stattgefunden habe." Hiernach aber würden wir trotz der Unwahrscheinlichkeit nicht zögern, das Ereignis zuzugeben; der Umstand, daß niemand auf die Idee käme, in einem solchen Falle auf den Umsturz der Gesetze des Sehens zu schließen, zeige, wie groß für uns "die Wahrscheinlichkeit der Beständigkeit der Naturgesetze" ist. Mit dieser überlegung wendet sich Laplace gegen die Wundergläubigkeit, die er auf den außerordentlichen Einfluß der herrschenden Meinung zurückführt (S.93): "Und wenn diese Meinung wechselt, so liefert eine absurde Erzählung, die in dem Jahrhundert ihrer Entstehung einstimmig geglaubt worden war, für die folgenden Jahrhunder4 Im Original lautet diese Stelle (Pascal: Pensees Nr.252 (p. 142): "Car il ne faut pas se meconnaitre: nous sommes automate autant qu'esprit; et de Hl vient que l'instrument par lequel la persuasion se fait n'est pas la seuledemonstration. Combien y a-t-il peu de choses demontreesl Les preuves ne convainquent que l'esprit. La coutume fait nos preuves les plus fortes et les plus crues; elle incline l'automate, qui entraine l'esprit sans qu'il y pense."
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2.1. Wahrscheinlichkeit und rechtlicher Beweis bei den Klassikern
te nur einen neuen Beweis von dem außerordentlichen Einfluß, den die allgemeine Meinung selbst auf die besten Geister ausübte." Und er schildert voller Kummer, wie sich so große Männer wie Racine und Pascal von der seinerzeit durch ärztliche Autoritäten bezeugten Wunderheilung von Port Royal - die Nichte Pascals war angeblich von einer Augenfistel durch Berührung mit einem Dorn aus der Krone des Erlösers geheilt worden -:- zusammen mit ganz Paris hatten beeindrucken lassen.
3. Wahrscheinlichkeit als Erkenntnis/arm Ganz zu Anfang seines "Essai philosophique" bemerkt Laplace, daß strenggenommen fast alle unsere Erkenntnisse nur wahrscheinliche seien und selbst in dem schmalen Bereich, in dem wir etwas mit Gewißheit zu wissen vermögen, nämlich in den mathematischen Wissenschaften, die hauptsächlichsten Mittel, um zur Wahrheit zu gelangen, die Induktion und die Analogie, sich auf Wahrscheinlichkeiten gründeten; dergestalt sei das gesamte System des menschlichen Wissens mit der Wahrscheinlichkeitslehre verknüpft und man werde ohne Zweifel mit Interesse wahrnehmen, daß selbst dann, wenn man in den ewigen Prinzipien der Vernunft, der Gerechtigkeit und der Menschlichkeit nur die ihnen stets zukommenden glücklicheren Chancen in Betracht ziehe, es von großem Vorteil sei, diesen Prinzipien zu folgen und von großem Nachteil, sich von ihnen loszusagen, da die besseren Chancen, wie bei
den Lotterien, unter den Schwankungen des Zu/alls schließlich immer das Vbergewicht gewönnen.
Auf Induktion und Analogie als Erkenntnismittel geht er ausführlicher im Abschnitt "Von den verschiedenen Mitteln, sich der Gewißheit zu nähern" ein (S. 155-162): Die hauptsächlichsten Mittel zur Wahrheit zu gelangen, seien Induktion und Analogie, d. h. auf Tatsachen begründete und unablässig durch neue Beobachtungen berichtigte Hypothesen, also ein angeborenes Fingerspitzengefühl, das durch zahlreiche Vergleiche seiner Annahmen mit der Erfahrung gestärkt worden sei. Nachdem er auf einige große Beispiele aus der Geschichte der Mathematik und der Astronomie hingewiesen hat, bemerkt er zum Schluß dieses Abschnittes (S. 161 f.), es sei fast immer unmöglich, die Wahrscheinlichkeit der durch diese verschiedenen Mittel erlangten Resultate der Berechnung zu unterwerfen, was in ähnlicher Weise für historische Tatsache gelte. Doch sei die Gesamtheit der erklärten Erscheinungen oder der Zeugenaussagen dergestalt, daß man, - ohne deren Wahrscheinlichkeit abschätzen zu können -, sich vernünftigerweise in Bezug auf sie keinen Zweifel gestatten könne. In den anderen Fällen sei es klug, sie (die Resultate) nur mit erheblichem Vorbehalt zu akzeptieren. Diese gelassene Antwort auf die Frage nach dem übergang von Wahrscheinlichkeit in Gewißheit vermeidet die Künstlichkeit des
§ 26 Analyse des rechtsgenügenden Beweises bei Poisson
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Buffon'schen Versuchs, die höchste Wahrscheinlichkeit, die der Gewißheit gleichzusetzen ist, quantitativ zu bestimmen. Laplace kommt in seinem "Essai philosophique" zu folgendem Schluß (S. 170 f.): Die Wahrscheinlichkeitstheorie sei im Grunde nur der der Berechnung unterworfene gesunde Menschenverstand Oe bon sens reduit au calcul). Sie ermögliche mit Genauigkeit abzuschätzen, was ein gerader Verstand (les esprites justes) mit einer Art Instinkt fühle, oft ohne sich davon Rechenschaft geben zu können. Sie lasse nichts Willkürliches in der Wahl der Meinungen und der zu ergreifenden Entschlüsse, so oft man nur mit ihrer Hilfe die vorteilhafteste Wahl bestimmen könne. Sie sei eine glückliche Ergänzung der Unwissenheit und Unzulänglichkeit des menschlichen Geistes.1i Und weiter: angesichts der Wahrheit der ihr zugrundeliegenden Prinzipien, der scharfen und feinen Logik, die ihre Anwendung bei der Lösung von Problemen erfordere und ihres Nutzens für die Naturwissenschaft ebenso wie für die moralischen Wissenschaften sowie schließlich angesichts der verläßlichsten Hinweise in Dingen, die der Berechnung nicht unterworfen werden können, gebe es keine Wissenschaft, die unseres Nachdenkens würdiger wäre. § 26 Analyse des rechtsgenügenden Beweises und der französischen Justizstatistik durch Poisson
1. Oberblick und Ergebnisse Höhepunkt und Abschluß der Beschäftigung der Klassiker mit Fragen juristischer Natur ist das erstaunliche, unter Mathematikern berühmte Werk von Simeon-Denis Poisson (1781-1840) "Untersuchungen über die Wahrscheinlichkeit gerichtlicher Urteile in Straf- und Zivilsachen" (1837).1 Poisson, Schüler und Freund von Laplace, "polytechnicien" , bedeutender Physiker und schon zu Lebzeiten ein Klassiker der Mathematik, der dem "Gesetz der großen Zahl" seinen Namen gegeben hat, sah sich zu dieser Arbeit veranlaßt, da er einerseits den Ansatz Condorcets für ingeniös hielt (p.2), andererseits aber die von diesem und von Laplace gelieferten Durchführungen für unbefriedigend ansah. Im Grunde ging 5 Laplace hat die letztgenannten bei den Äußerungen später allerdings gestrichen (siehe Theorie analytique [3. Auflage 1820] p. cxlii). 1 Die Seitenangaben im Text beziehen sich auf das französische Original. - über seine Forschungsergebnisse hat Poisson die Akademie der Wissenschaften durch folgende Ausarbeitungen unterrichtet, die 1837 als Nummern 7, 10 und 13 der "Comptes hebdomadaires des seances de l'Academie des Sciences" erschienen sind: Presentation de mes Recherches sur 1a probabilite des jugements (Nr.7); Note sur 1a Proportion des condamnations prononcees par 1es Jury (Nr. 10) und Addition acette Note (Nr. 13).
9 Molsrn
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2.1. Wahrscheinlichkeit und rechtlicher Beweis bei den Klassikern
es ihm jedoch um mehr als um eine bloße Korrektur der Berechnungen seiner Vorgänger: Er wollte in empirisch fundierter Weise den exakten Beweis führen, daß das "Gesetz der großen Zahl", auch Poisson'sches Gesetz genannt, und damit die Wahrscheinlichkeitsrechnung, im Bereich der Sozialwissenschaften ebenso gilt wie im Bereich der Naturwissenschaften. Poisson geht es aber auch um handfeste praktische Fragen der Rechtspolitik (p. 18). Bis 1831 war zur Verurteilung eines Angeklagten eine Mehrheit von mindestens 7: 5 Geschworenenstimmen erforderlich, wobei in den Fällen, in denen lediglich das minimale Abstimmungsergebnis erreicht wurde, eine richterliche Kontrolle der Verurteilung vorgesehen war. Ab 1831 wurde die für eine Verurteilung erforderliche Mehrheit vorübergehend auf 8: 5 erhöht, gleichzeitig jedoch die Möglichkeit einer Zubilligung mildernder Umstände (mit Folgen für das Strafmaß) vorgesehen. Welches System ist das vorteilhaftere für die Gesellschaft oder günstiger für den Angeklagten? Zu solchen wichtigen Fragen der Menschlichkeit und der öffentlichen Ordnung gebe es nichts, was die analytischen Formeln ersetzen könnte, die die unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten zum Ausdruck brächten. "Nun, der genaue Gegenstand der Theorie besteht darin, in bezug auf eine aus einer bestimmten Personenzahl bestehenden Geschworenenbank, die mit einer bestimmten Mehrheit entscheidet, für eine große Anzahl von Strafsachen das Verhältnis zu berechnen, das zwischen den Freisprüchen und den Verurteilungen sehr wahrscheinlich bestehen wird, sowie das Irrtumsrisiko (la chance d'erreur) eines zufällig herausgegriffenen Urteils." (p. 17) - "Die Irrtumswahrscheinlichkeit einer zufällig herausgegriffenen Verurteilung multipliziert mit der Wahrscheinlichkeit, daß überhaupt eine Verurteilung erfolgt, ist das wirkliche Maß der Gefahr, der die unschuldigen Angeklagten durch die Gesellschaft ausgesetzt werden; das Produkt aus Irrtumswahrscheinlichkeit eines Freispruchs und der Wahrscheinlichkeit, daß überhaupt ein Freispruch erfolgt, mißt entsprechend die Gefahr, die die Gesellschaft selbst läuft, und die man ebenfalls kennen muß, da es ausschließlich die Größe dieser Gefahr ist, welche die Möglichkeit (l'eventualite) einer ungerechten Verurteilung rechtfertigt." (p. 18). Es ist hier nicht der Ort, auf die gut 350 Seiten umfassenden mathematischen Ableitungen einzugehen, die zu den großen Leistungen der klassischen Wahrscheinlichkeitsrechnung gehören. Doch seien Poissons eigene einleitende Erläuterungen zu seinem Rechenwerk sowie seine Rechenergebnisse kurz zusammengefaßt (p. 18-20, 24--29). Poisson hebt hervor, daß die in seiner Arbeit entwickelten Formeln "ohne irgendeine (willkürliche) Annahme aus den allgemeinen und anerkannten Gesetzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung abgeleitet" seien, eine Bemerkung, mit der er sich z. B. von dem Vorgehen seiner Vorgänger distanziert, die mit der Annahme gearbeitet hatten, die Richtigkeitswahrscheinlichkeit richterlicher Voten läge immer zwischen 0,5
§ 26 Analyse des rechtsgenügenden Beweises bei Poisson
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und 1, sei also größer als 50 Ofo. Die Formeln, so fährt er fort, schließen zwei besondere Größen ein (quantites speciales), die vom geistig-sittlichen Entwicklungsstand des Landes, der Art und Weise des in Gebrauch befindlichen Strafverfahrens und der Geschicklichkeit der mit seiner Handhabung betrauten Richter abhingen. Die eine bringe die Wahrscheinlichkeit zum Ausdruck, daß sich ein zufällig herausgegriffener Geschworener mit seinem Votum nicht täuschen wird; die andere sei die Wahrscheinlichkeit der Schuld des Angeklagten vor der Eröffnung der mündlichen Verhandlung, (der jedoch eine Voruntersuchung vorausgegangen ist, die einen für die Durchführung des Hauptverfahrens hinreichenden Verdacht ergeben hat). Dies seien die beiden wesentlichen Elemente der Frage bei Strafurteilen; ihre numerischen Werte müßten aus den experimentellen Gegebenheiten entnommen werden, so wie die Konstanten in den Formeln der Astronomie aus der Beobachtung abgeleitet seien; und die vollständige Lösung des Problems, das er sich hier gestellt habe, erfordere das Zusammenwirken der Theorie und der Erfahrung. Die Beobachtungsgegebenheiten, von denen er Gebrauch gemacht habe, seien zwei, wie auch die zu bestimmenden Elemente zwei seien, und zwar einerseits die Anzahl der Verurteilungen anhand eines Abstimmungsergebnisses von 7: 5 oder mehr; und andererseits (innerhalb dieser Zahl) die Anzahl der Verurteilungen bloß anhand des minimalen Erfordernisses von 7 : 5, wobei sowohl die eine wie die andere Anzahl durch die Gesamtzahl der Angeklagten dividiert werde. Er habe zwischen Verbrechen gegen die Person und Verbrechen gegen das Vermögen unterschieden, da die Verhältniszahlen insoweit auffällige Unterschiede aufgewiesen hätten. Um den Erfordernissen der großen Zahl zu genügen, habe er alle Departements von Frankreich zusammengefaßt, obwohl auch hier bemerkenswerte Unterschiede z. B. zwischen dem Departement der Seine (Paris) und den übrigen Departements zu verzeichnen seien. Und hier nun einige seiner konkreten Ergebnisse: Für die in den sieben Jahren von 1825 bis 1831 in Frankreich entschiedenen Schwurgerichtssachen errechnete er (p. 24 f.), daß von den rund 6000 Verurteilungen wegen Verbrechen gegen die Person 40 und von den rund 22000 Verurteilungen wegen Verbrechen gegen das Vermögen BB sehr angenähert und mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit unrichtig seien. Das sind jährlich insgesamt durchschnittlich 1B unrichtige Verurteilungen. Dem stünden jährlich insgesamt durchschnittlich 360 unrichtige Freisprüche gegenüber, wobei die Zahl 18 eine Höchstzahl, die Zahl 360 hingegen eine Mindestzahl sei. 9'
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2.1. Wahrscheinlichkeit und rechtlicher Beweis bei den Klassikern
Für Zivilsachen, in denen im Prinzip nur die erstgenannte spezielle Größe für die Berechnung erforderlich ist,2 gelangte er (p. 27-29, 415 f.) für das letzte Quartal 1831 sowie für die Jahre 1832 und 1833 zu 0,68 als der durchschnittlichen Wahrscheinlichkeit, daß ein zufällig herausgegriffener Richter richtig entscheidet. 3 Die wahrscheinliche Richtigkeit eines von drei Richtern beschlossenen erstinstanzlichen Urteils sei 0,76; diejenige eines von sieben Richtern gefällten Berufungsurteils 0,95, diejenige eines aufhebenden Berufungsurteils 0,64.
2. Grundgedanken Wichtiger als die konkreten Berechnungsergebnisse sind für uns die ihnen zugrundeliegenden überlegungen, wobei vor allem interessiert, was mit "wahrscheinlicher Richtigkeit" (und deren Komplement, dem "Irrtumsrisiko") eigentlich gemeint ist. Hören wir dazu Poisson selbst. Seine Befunde zum Irrtumsrisiko in Schwurgerichtssachen kommentiert er abschließend wie folgt (p. 24 f.): Diese Berechnungsergebnisse seien weit entfernt davon, den Respekt, den man einem rechtskräftigen Urteil schulde, zu beeinträchtigen und das Vertrauen in die Entscheidungen der Geschworenen zu mindern; sie seien ganz im Gegenteil geeignet, jeder Art von übertreibung der Gefahr von Justizirrtümern vorzubeugen. "In Wahrheit sind sie (die Gerichtsentscheidungen) ihrer Natur nach nicht experimentell verifizierbar; doch haben diese Ergebnisse dies gemeinsam mit vielen anderen Anwendungsbereichen der Mathematik, die ebenfalls einer Verifizierung nicht zugänglich sind und deren Gewißheit wie hier einzig und allein auf der Strenge der Beweise und der Genauigkeit der Beobachtungsdaten beruht." Zuvor hebt er hervor (p. 17 f.), das Irrtumsrisiko könne nur für ein aus einer großen Zahl von Verfahren beliebig herausgegriffenes Urteil bestimmt werden. "Das Irrtumsrisiko für ein verurteilendes oder freisprechendes Urteil in einem bekannten und isolierten Verfahren zu bestimmen, wäre m. E. unmöglich, es sei denn, die Berechnung würde auf völlig prekäre Annahmen begründet, die zu sehr abweichenden Er-
gebnissen führen würden, nämlich ungefähr den gewünschten, die aus den Hypothesen folgen, die man zugrundelegen würde." Doch für die Garantie der Gesellschaft und für diejenige, die man dem Angeklagten
2 Wegen fehlender statistischer Angaben über die der Urteilsfindung zugrunde liegenden Abstimmungsmehrheiten griff Poisson allerdings auch hier auf das in Strafsachen angewandte Verfahren zurück, indem er die Berufungsverfahren betrachtete und die Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung mit der Anfangswahrscheinlichkeit der Schuld des Angeklagten gleichsetzte. 3 Poisson legte dabei, wie er selbst bemerkt, die möglicherweise wirklichkeitsfremde Annahme zugrunde, daß das durchschnittliche Einsichtsvermögen bei Richtern der ersten und der zweiten Instanz dasselbe sei, andernfalls hätte er für Zivilsachen auf die Durchführung einer Beispielsrechnung überhaupt verzichten müssen.
§ 26 Analyse des rechts genügenden Beweises bei Poisson
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schulde, sei nicht das auf ein besonderes Urteil bezogene Risiko, sondern vielmehr dasjenige, das sich auf die Gesamtheit der Schwurgerichtsurteile eines oder mehrerer Jahre beziehe und das sich aus der Beobachtung und der Berechnung erschließen lasse, maßgebend. Poisson beschäftigt sich also nicht mit dem Problem, wie ein individueller Fall in die speziellste Wahrscheinlichkeitsklasse einzuschließen ist. Es geht ihm vielmehr um die Bestimmung des durchschnittlichen Irrtumsrisikos aller Schwurgerichtsurteile, die in Frankreich während eines bestimmten Zeitraums gefällt wurden. Was aber ist im Sinne seiner Berechnungen überhaupt eine irrtümliche Entscheidung? Er bemerkt dazu (p. 6 f.): "Wenn wir also innerhalb einer sehr großen Zahl von Urteilen einen gewissen Anteil von irrtümlichen Verurteilungen finden werden, so wird dies nicht so aufzufassen sein, daß dieser Anteil derjenige der unschuldig Verurteilten ist; es wird dies der Anteil derjenigen Verurteilten sein, die aufgrund einer zu schwachen Wahrscheinlichkeit verurteilt wurden, nicht um festzustellen, daß sie eher schuldig als unschuldig sind, sondern weil ihre Verurteilung für die öffentliche Sicherheit notwendig war. Unter diesen Verurteilten die Zahl derjenigen zu bestimmen, die in Wirklichkeit nicht schuldig sind, ist nicht der Zweck unserer Berechnung; immerhin besteht Grund zur Annahme, daß diese Zahl glücklicherweise, zumindest abgesehen von den politischen Prozessen, sehr wenig beträchtlich ist"; dies könne man aus der geringen Zahl von Schwurgerichtsentscheidungen, gegen die sich die öffentliche Meinung erhebe, schließen; sowie aus der kleinen Zahl vollständiger Begnadigungen oder Kassationen von Schwurgerichtsentscheidungen mit Zurückweisung an ein anderes Schwurgericht. Und zum Irrtumsrisiko in Zivilsachen stellt er fest (p.28): Nur die Entscheidung von Richtern, deren Irrtumsrisiko gleich Null wäre und die daher mit Notwendigkeit immer nur einstimmige Urteile fällen würden, würde die Wahrheit oder das gute Recht hervorbringen. Dieses absolute gute Recht sei jedoch eine in jedem, wie immer gearteten Verfahren unbekannte Sache. Gleichwohl verstehe man unter irrtümlichen Voten oder Urteilen diejenigen, die ihm (dem guten Recht) zuwiderliefen. Es gehe darum, ihre Wahrscheinlichkeit zu bestimmen, d. h. den Anteil ihres sehr angenäherten und sehr wahrscheinlichen Stattfindens innerhalb einer hinreichend großen Zahl (von Entscheidungen). Er relativiert demnach die Aussagekraft seiner Berechnungsergebnisse dahingehend, daß (1) eine direkte experimentelle Kontrolle der Richtigkeit von Gerichtsentscheidungen ihrer Natur nach nicht möglich sei; (2) die wahrscheinliche Richtigkeit für eine isolierte Entscheidung in einem konkreten Fall aufgrund der Daten der Statistik nicht zu ermitteln sei; und
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2.1. Wahrscheinlichkeit und rechtlicher Beweis bei den Klassikern
(3) die Richtigkeit oder Unrichtigkeit nicht anhand eines absoluten Maßstabes der Wahrheit oder des guten Rechts bestimmt werden könne. Während die bei den erstgenannten Einschränkungen für sich selbst sprechen dürften, bedarf die dritte der weiteren Klärung, wofür wir uns wiederum zunächst Poissons eigenen Erläuterungen anvertrauen wollen. Dabei zeigt sich der unmittelbare Zusammenhang seiner überlegungen mit dem hier interessierenden Problem der Bestimmung der Entscheidungsgrenze, d. h. des Beweismaßes. Poisson legt, wie schon angedeutet, besonderen Wert auf die Feststellung, daß die Berechnung der wahrscheinlichen Richtigkeit von Entscheidungen in Strafsachen nur die Richtigkeit hinsichtlich der Verurteilbarkeit des Angeklagten, nicht aber hinsichtlich seiner wirklichen Schuld betreffe. Er beginnt (p. 5 f.) wie Laplace mit dem uns geläufigen Topos der Unmöglichkeit eines mathematischen Beweises der Schuld des Angeklagten, dem wir schon bei Bernoulli begegnet sind. Selbst ein Geständnis erbringe lediglich eine sich der Gewißheit annähernde Wahrscheinlichkeit. Auch der aufgeklärteste und menschlichste Geschworene spreche infolgedessen eine Verurteilung immer nur aufgrund einer starken Wahrscheinlichkeit aus, die allerdings oft geringer sei als diejenige Wahrscheinlichkeit, die sich aus einem Geständnis ergebe. "Zwischen ihm und dem Richter in Zivilsachen besteht ein wesentlicher Unterschied: wenn ein Richter nach gründlicher Prüfung des Prozeßstoffes in Anbetracht der Schwierigkeit der Frage lediglich eine schwache Wahrscheinlichkeit zugunsten der einen der beiden Parteien erkennen konnte, genügt dies zur Verurteilung der Gegenseite; demgegenüber darf ein Geschworener ein verurteilendes Votum nur abgeben, wenn die Wahrscheinlichkeit in seinen Augen eine gewisse Grenze erreicht und die Wahrscheinlichkeit seiner Unschuld um vieles übertrifft. Wenn aber das Irrtumsrisiko sich nicht völlig
vermeiden läßt, was immer man auch tun mag, auf welches Maß muß es herabgesetzt werden, um der Unschuld die größtmögliche Garantie zu geben? Dies ist eine Frage, auf die eine allgemeine Antwort zu geben, schwer fällt." (p.5)'
Condorcet habe als Maß dasjenige Risiko vorgeschlagen, das wir selbst im gewöhnlichen Leben einzugehen bereit seien, da die Gesell-
4 ,,11 y a entre lui et le juge en matiere civile, une difference essentielle: lorsqu'un juge, apres l'examen approfondi d'un proces, n'a pu reconnaltre, vu la difficulte de la question, qu'une faible probabilite en faveur de l'une des deux parties, cela suffit pour qu'il condamne la partie adverse; au lieu qu'un jure ne doit prononcer un vote de condamnation que quand, a ses yeux, la probabilite que l'accuse est coupable atteint une certaine limite, et surpasse de beaucoup la probabilite de son innocence. Puisque toute chance d'erreur ne peut etre evitee, quoi qu'on fasse, dans les jugements criminels, a quoi doit-elle etre reduite, pour assurer a l'innocence la plus grande garantie possible? C'est une question a laquelle il est difficile de repondre d'une maniere generale."
§ 26 Analyse des rechtsgenügenden Beweises bei Poisson
135
schaft sehr wohl das Recht habe, ihre Mitglieder Gefahren auszusetzen, die ihnen gewissermaßen gleichgültig seien. Diese überlegung sei j edoch in einer so schwerwiegenden Frage zu subtil. Die von Laplace gegebene Definition sei sehr viel geeigneter, die Frage zu erhellen. "Nach ihm muß die Wahrscheinlichkeit so groß sein, daß die Gefahr für die öffentliche Sicherheit im Falle des Freispruchs eines Schuldigen größer ist, als die Befürchtung der Verurteilung eines Unschuldigen"; wie er (Laplace) ausdrücklich hervorhebt, ist diese Frage, mehr noch als die Frage, ob der Angeklagte eigentlich schuldig ist oder nicht, die jeder einzelne Geschworene nach seiner Art und Weise, seinen Einsichten und seiner Anschauung zu entscheiden berufen ist. Daraus folgt, daß der Irrtum seines (sei es freisprechenden, sei es verurteilenden) Votums aus zwei unterschiedlichen Ursachen entspringen kann: entweder daraus, daß er die für und gegen den Angeklagten sprechenden Beweise schlecht würdigt, oder daraus, daß er die Grenze der für eine Verurteilung notwendigen Wahrscheinlichkeit zu hoch oder zu niedrig ansetzt." (p.6)S Und er versäumt es nicht, auf eine weitere Komplizierung aufmerksam zu machen: Die Entscheidungsgrenze sei nicht nur für alle Urteilspersonen nicht dieselbe; sie ändere sich auch noch mit der Natur der Anklagen, ja sie hänge sogar von den Umständen ab, in denen man sich (bei der Entscheidungsfindung) befinde. Beispielsweise ermäßige sie sich, wenn im Kriege im Angesicht des Feindes innerhalb der Armee ein Spionagevorwurf zur Aburteilung anstehe oder auch wenn eine bestimmte Art von Straftaten im Begriff sei, in einer für die Gesellschaft bedrohlichen Weise überhandzunehmen. Den Unterschied zwischen "schuldig" und "verurteilbar" beschreibt er nochmals an anderer Stelle (p. 388-390). Spreche sich ein Geschworener für die Schuld eines Angeklagten aus, so bestätige er, daß in seinen Augen hinreichender Beweis dafür vorliege, den Angeklagten zu verurteilen; spreche er sich umgekehrt dafür aus, daß der Angeklagte nicht schuldig sei, so verstehe er darunter, daß die Wahrscheinlichkeit der Schuld für eine Verurteilung nicht groß genug sei, ohne daß sein negatives Votum bedeute, daß er ihn für unschuldig halte; denn zweifellos komme es häufig vor, daß er ihn gleichwohl eher für schuldig halte. Er beurteile dann die Wahrscheinlichkeit der Schuld zwar als 1/2 überschreitend, jedoch als niedriger verglichen mit der Wahrscheinlichkeit, die nach seinem Gewissen und der öffentlichen Sicherheit für S "SeIon lui, cette probabilite, doit etre teIle qu'il y ait plus de danger pour la surete publique, a l'acquittement d'un coupable, que de crainte de la condamnation d'un innocent; comme il le dit expressement, c'est cette question, plutöt que la culpabilite meme de l'accuse, que chaque jure est appele a decider, a sa maniere, d'apres ses lumieres et son opinion; en sorte que l'erreur de son vote, soit qu'il condamne, soit qu'il absolve, peut provenir de deux causes differentes: ou de ce qu'il apprecie mal les preuves contraires ou favorables a l'accuse, ou de ce qu'il fixe trop haute ou trop bas la limite de la probabilite necessaire a la condamnation."
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2.1. Wahrscheinlichkeit und rechtlicher Beweis bei den Klassikern
eine Verurteilung erforderlich ist. Somit sei die wirkliche Bedeutung eines bejahenden oder eines verneinenden Votums, ob der Angeklagte veTUrteilbar sei oder nicht (Hervorhebung im Original).
3. Zusammenfassung und Nachlese Versuchen wir die "Philosophie" Poissons zusammenfassend zu erläutern: Er sieht die Entscheidungsgrenze einerseits wie Condorcet und Laplace als eine unter Berücksichtigung der Irrtumsfolgen des jeweiligen Entscheidungstypus zu bestimmende Größe an; andererseits geht er für seine Berechnungen davon aus, daß ihr Wert zwar von einem Geschworenen zum anderen und auch von Fall zu Fall schwanken mag, aber im Durchschnitt einer großen Anzahl von Fallarten (Straf- und Zivilsachen; innerhalb von Strafsachen: Verbrechen gegen die Person, Verbrechen gegen das Vermögen) empirisch dem "Gesetz der großen Zahl" entsprechend als eine Konstante gedacht werden kann. Eine konkrete quantitative Bestimmung der Entscheidungsgrenze versucht er nicht. Er sagt lediglich, daß in Zivilsachen - gründliche Prüfung des Prozeßstoffes vorausgesetzt - auch eine schwache (überwiegende) Wahrscheinlichkeit zugunsten der einen Seite zur Verurteilung der Gegenseite ausreiche, während in Strafsachen ein verurteilendes Votum nur gerechtfertigt sei, wenn in den Augen des Geschworenen die Wahrscheinlichkeit der Schuld diejenige seiner Unschuld um ein Vielfaches übertreffe. Seine konkreten Berechnungen betreffen nach seinen eigenen Einlassungen die Häufigkeit von Fehlentscheidungen im Sinne des Verfehlens der Entscheidungsgrenze, sei es infolge falscher Beurteilung der Indizien, sei es infolge einer irrtümlichen Vorstellung über die Entscheidungsgrenze zugunsten oder zulasten des Angeklagten. Er beschränkt sich also auf die Ermittlung der Zahl der relativen Fehlentscheidungen; einen gangbaren Weg zur Ermittlung der an der "Wirklichkeit" gemessenen Zahl der absoluten Fehlentscheidungen sieht er angesichts der Unmöglichkeit einer echten Erfolgskontrolle nicht. Doch geht er davon aus, daß diese Beschränkung den praktischen Nutzen seiner Berechnungen nicht zunichte macht, da der Unterschied zwischen beiden im allgemeinen (d. h. politische Prozesse ausgenommen) glücklicherweise wohl nicht allzu groß sei, ein Hinweis, den er sowohl bei Schwurgerichtssachen als auch bei Zivilsachen ausdrücklich anbringt (p. 6 f. und p. 28). Das Kunststück, aus den spärlichen Angaben der Justizstatistik die Zahl der relativen Fehlentscheidungen zu berechnen, ist ihm nur dadurch möglich, daß die Statistik außer den Angaben über die Anzahl der Angeklagten und der Verurteilungen zusätzlich gewisse Angaben
§ 26 Analyse des rechtsgenügenden Beweises bei Poisson
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über die unterschiedlichen Abstimmungsergebnisse auswies, die den Verurteilungen zugrunde gelegen hatten. (In Zivilsachen benutzt er die zusätzlichen Angaben über die Berufungen und ihr Ergebnis). Aus diesen zusätzlichen Angaben lassen sich insofern Schlüsse ziehen, als die Fehlerquote bei einem knappen Abstimmungsergebnis höher ist als bei Entscheidungen, die einstimmig oder jedenfalls mit einer über das Minimum hinausgehenden Mehrheit ergehen. Wie Poisson aus der Anzahl aller Verurteilungen, dividiert durch die Anzahl aller Angeklagten und der Anzahl der nur mit minimaler Mehrheit von 7 : 5 Stimmen erfolgten Verurteilungen, dividiert durch die Anzahl aller Angeklagten, im einzelnen den relativen Fehlerquotienten numerisch zu bestimmen vermag, ist intuitiv nicht nachzuvollziehen. Mir sind allerdings auch keine Anhaltspunkte aufgefallen, die zu Zweifeln an seinem Rechenwerk oder dessen Grundlagen Anlaß geben würden. Unter dem speziellen Blickwinkel dieser Studie sind schließlich noch zwei Hinweise berichtenswert, die den praktischen Sinn dieses großen Mathematikers unter Beweis stellen. Zu dem Fragenkreis, den wir mit den Stichworten "Entscheidungsreife" und "Informiertheit der Entscheidungsinstanz" gekennzeichnet haben, hebt Poisson - wie vor ihm schon, wenn auch mit allgemeineren Formulierungen, Condorcet den Vorrang der besseren Informiertheit vor allen anderen Vorkehrungen zur Gewährleistung möglichst zutreffender Entscheidungen mit folgenden Worten hervor (p. 30 f.): "Weiß A alles, was B weiß, und darüber hinaus noch etwas mehr, so verfügt A über das aufgeklärtere Urteil; und es wird vernünftig sein, seiner Auffassung zu folgen, wenn man zwischen einander entgegengesetzten Urteilen von A und B wählen muß, und zwar selbst dann, wenn diese Auffassung auf einer geringeren Wahrscheinlichkeit als derjenigen beruht, die B's Auffassung motiviert, d. h. obwohl A weniger Grund hat, an seine eigene Auffassung zu glauben als B an die seine." Ferner macht er auf ein wichtiges Ergebnis aufmerksam, das zugleich die überlegenheit der exakten mathematischen Ableitung im Vergleich zum bloßen gesunden Menschenverstand zeigt. Bei einander entgegengesetzten Voten, die - jedes für sich genommen - den gleichen Wahrscheinlichkeitsgrad besitzen, hängt die Gesamtwahrscheinlichkeit nur von ihrem Verhältnis zueinander (und nicht von ihrer Gesamtzahl) ab. So ist z. B. die Gesamtwahrscheinlichkeit die gleiche, wenn 6 gegen 5, 100 gegen 99 oder 1 gegen 0 Zeugenaussagen (Voten) von untereinander gleicher Beweiskraft vorliegen. Ausschlaggebend ist immer nur die Differenz. Man kann dies abgekürzt auch mit Hilfe der Vorstellung klarmachen, daß sich entgegengesetzte Wahrscheinlichkeiten paarweise zur Indifferenz aufheben, d. h. den - nichtssagenden Wahrscheinlichkeitswert 0,5 annehmen.
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2.1. Wahrscheinlichkeit und rechtlicher Beweis bei den Klassikern
Demgegenüber hatte Laplace ("Essai philosophique" S. 107) gemeint, daß schon für den gesunden Menschenverstand einsichtig sei, daß zwischen einer Entscheidung, bei der ein Tribunal von 212 Richtern sich 112 tür die Verurteilung und 100 für Freispruch aussprechen, und der Entscheidung eines Tribunals von 12 Richtern, die einstimmig zur Verurteilung gelangen, in Bezug auf die Irrtumswahrscheinlichkeit ein ungeheurer Unterschied bestehe. Tatsächlich besteht ein Unterschied. Er bezieht sich jedoch nicht auf die Irrtumswahrscheinlichkeit, sondern auf die Wahrscheinlichkeit des Auftretens der einen oder der anderen Kombination. Poisson beschreibt den Unterschied wie folgt: Je größer die Wahrscheinlichkeit der Voten (sprich: Beweiskraft des Indizes, Glaubwürdigkeit der Zeugenaussage), desto seltener trete der Fall ein, daß sich größere Gruppen von einander entgegengesetzten Voten gegenüberstünden. Trete ein solcher Fall indessen auf, so sei dies ein Hinweis, daß eine extrem schwierige Entscheidung zu treffen gewesen sei. Aus einer kleinen Anzahl einander entgegengesetzter Voten lasse sich hingegen nichts dergleichen ableiten (vgl. § 28.2). Im Anschluß an Beispiele für statistische Regelmäßigkeiten sozialer Verhaltensweisen unter der Voraussetzung ihres massenhaften Auftretens (z. B. Beständigkeit des jährlichen Steueraufkommens in Frankreich; Beständigkeit der jährlichen Verurteilungen in Schwurgerichtssachen) führt er aus (p. 12): "Es läßt sich somit nicht leugnen, daß das Gesetz der großen Zahl für moralische Angelegenheiten, die vom menschlichen Willen, seinem Interesse, seinen Einsichten und Leidenschaften abhängen, ebenso paßt wie für die physikalische Ordnung. Tatsächlich geht es hier nicht um die Natur der Ursachen, sondern um die Variationsbreite der isolierten Wirkungen und um die notwendige Anzahl von Fällen, damit die Unregelmäßigkeiten der beobachteten Tatsachen sich in ihren mittleren Ergebnissen ausgleichen." Die Größe dieser Anzahl lasse sich nicht im voraus angeben; sie sei in der Regel um so höher, je größer die Amplitude dieser Unregelmäßigkeiten sei. Doch solle man in dieser Hinsicht nicht glauben, daß die Wirkungen des spontanen Willens, der Verblendung durch Leidenschaft, des Mangels an Einsicht stärkere Schwankungen aufweisen als die Einflüsse auf das menschliche Leben angefangen beim Kind, das schon während der Geburt stirbt, bis zu einem Greis, der 100 Jahre alt wird. Nicht die Assoziation, die wir mit den Wirkungen und ihren Ursachen verknüpften, sondern die Berechnung und die Beobachtung versetzten uns in die Lage, die wahrscheinlichen Grenzen der Variationsbreite innerhalb einer sehr großen Zahl von Versuchen zu bestimmen. Poisson begnügt sich indessen nicht mit dieser allgemeinen überlegung. Er fährt, nachdem er nochmals die Geltung des "Gesetzes der
§ 26 Analyse des rechtsgenügenden Beweises bei Poisson
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großen Zahl" sowie dessen grundlegende Bedeutung für jede Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung und die vollkommene Vergleichbarkeit physischer und moralischer Angelegenheiten (vorausgesetzt, daß die für die Berechnung erforderlichen speziellen Größen empirisch zu ermitteln sind) bekräftigt hat, fort: "Doch angesichts seiner Bedeutung (nämlich des "Gesetzes der großen Zahl" für moralische Angelegenheiten) war es notwendig, den Beweis direkt zu führen; das habe ich zu tun versucht; und ich glaube schließlich dahin gelangt zu sein, wie man im Fortgang dieser Arbeit sehen wird." (p.12) Jakob Bernoullis Theorem treffe mit dem "Gesetz der großen Zahl" zusammen. Die Regelmäßigkeiten, die im Bereich der großen Zahl auftreten, seien dergestalt, daß man geneigt sein könnte, an irgend eine ununterbrochen wirksame, geheime Ursache zu glauben. Doch zeige die Wahrscheinlichkeitstheorie, daß die Konstanz dieser Beziehungen ihr natürlicher Zustand sei, und zwar in der physikalischen Welt ebenso wie in der moralischen; eine Konstanz, die sich ohne Hilfe irgendeiner äußeren Ursache erhalte und die, umgekehrt, durch die Einwirkung einer derartigen Ursache nur behindert oder durcheinander gebracht werden könne.
2.2. Wahrscheinlichkeit und konkreter Fall in heutiger Sicht § 27 Häufigkeitstheorie nach Richard von Mises und Einschluß des konkreten Falles in die engste Wahrscheinlichkeitsklasse
1. Häufigkeitstheorie "Niemals kann eine Aussage, die etwas Bestimmtes über ein Einzelergebnis aussagt, aus der Wahrscheinlichkeitstheorie gefolgert werden", heißt es in dem Werk "Wahrscheinlichkeit, Statistik und Wahrheit" des großen österreichischen Mathematikers, Erfinders und Rilke-Sammlers Richard Edler von Mises (1883-1953),1 das ähnlich wie der "Essai philosophique" von Laplace auf eine für Nichtmathematiker gehaltene Vortragsreihe zurückgeht und weite internationale Verbreitung gefunden hat.2 Gleichwohl führt im praktischen Leben kein Weg daran vorbei, im konkreten Fall eine Entscheidung aufgrund von Wahrscheinlichkeitswissen zu treffen, da letzten Endes alles Erfahrungswissen Wahrscheinlichkeitswissen ist. Die unabdingbare Voraussetzung für jede sinnvolle Anwendung von Wahrscheinlichkeitsaussagen auf konkrete Einzelfälle ist jedoch, daß stets die jeweils speziellste Wahrscheinlichkeitsklasse zugrundegelegt wird, d. h., um mit Theodor Erismann zu sprechen, daß "ich dasjenige (Wahrscheinlichkeitsurteil) bevorzuge, welches sich auf einem weiterreichenden Wissen über die besonderen Verhältnisse des Falles N aufbaut und als Arzt oder Versicherungsbeamter stets von der engsten Wahrscheinlichkeitsgruppe ausgehe, in die ich den betrachteten Fall einschließen kann."2a Beide Gedanken, die unüberwindbare relative Unbestimmtheit jeder Wahrscheinlichkeitsaussage im Hinblick auf einen konkreten Einzelfall auf der einen und die Ermittlung der engsten Bezugsklasse durch die Bildung (Errechnung) der Gesamtwahrscheinlichkeit anhand aller relevanten Umstände des Einzelfalles auf der anderen Seite, sind oft R. von Mises (3. Auf!. 1951) S.38; auch die weiteren Verweise im Text beziehen sich auf diese Auflage. - Zur Person vg!. Stichwort "VON MI SES, Richard", in: International Encyclopedia of Social Sciences (H. Geiringer) vol. 16 (1968) p. 382-385. 2 Bibliographische Nachweise in der 2. englischen Ausgabe von 1957 p.224 (H. Geiringer). 2a Th. Erisman: Wahrscheinlichkeit in Sein und Denken, Stud. Gen. 4 (1951) S.90.
§ 27
Häufigkeitstheorie nach Richard Mises
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fensichtlich gerade für die gerichtliche Entscheidungsfindung von größter Bedeutung. Wir wollen sie im folgenden näher betrachten.3 Die von R. von Mises 1919 erstmals vorgestellte Häufigkeitstheorie erweitert und verschärft die klassische Definition des Wahrscheinlichkeitsrnaßes, welche auf das Verhältnis der "günstigen" Ereignisse zur Gesamtzahl aller gleichmöglichen Ereignisse abstellt. Die Häufigkeitstheorie definiert als Wahrscheinlichkeitsrnaß den Grenzwert der relativen Häufigkeit eines Merkmals innerhalb einer Massenerscheinung (Wiederholungsvorgang). Während sich die klassische Definition am Paradebeispiel des idealen Würfels orientiert, der sechs (und nur sechs) genau gleichmögliche "Fälle" (Merkmale) besitzt, (so daß einem bestimmten Fall - z. B. der Augenzahl ,,5" - ohne weiteres das Wahrscheinlichkeitsmaß 1 : 6
=t-
zuzuschreiben ist, geht es der Häufigkeits-
theorie darum, jedwede Art von Wahrscheinlichkeitsverteilungen, also z. B. auch diejenige eines unechten Würfels, bestimmbar zu machen. Die Bestimmung ist hier nur empirisch durch vielfach wiederholtes Auswürfeln des konkreten Würfels möglich, wobei alle Ergebnisse statistisch erfaßt werden müssen. Die Gesamtheit der (theoretisch unbegrenzten) Anzahl der Würfe mit dem konkreten Würfel wird Kollektiv genannt; seine Elemente sind die einzelnen Würfe; als Merkmale (Eigenschaften) fungieren die Augenzahlen des Würfels. Von Mises beschränkt den Begriff des Kollektivs im Sinne der Häufigkeitstheorie auf diejenigen Massenerscheinungen, für welche die relative Häufigkeit des Auftretens der jeweiligen Merkmale einem festen Grenzwert zustrebt; ferner bezeichnet er nur solche Massenerscheinungen als Kollektive, deren Elemente aus Zufallsereignissen bestehen (Prinzip der Regellosigkeit oder des ausgeschlossenen Spielsystems). Der mathematische Ausdruck für das Wahrscheinlichkeitsrnaß der Häufigkeitstheorie lautet:
.u
(n) w(E) = l i m - »-+00
n
wobei w (E) die Wahrscheinlichkeit des Ereignisses, ß (n) die Zahl der günstigen Ereignisse und n die Zahl sämtlicher Ereignisse (Versuche) darstellt. Die Erweiterung des Wahrscheinlichkeitsmaßes der Häufigkeitstheorie gegenüber der klassischen Definition besteht somit darin, daß sich nicht nur symmetrische, sondern auch asymmetrische Wahrscheinlich3 Vgl. zu R. von Mises auch H. Weitnauer: Wahrscheinlichkeit und Tatsachenfeststellung (1966) S. 4 ff.
142
2.2. Wahrscheinlichkeit und konkreter Fall in heutiger Sicht
keitsverteilungen innerhalb von aus Zufallsereignissen bestehenden Massenerscheinungen beschreiben lassen; und die Verschärfung besteht darin, daß der Gesichtspunkt der Massenhaftigkeit durch Einführung des Begriffs des Kollektivs, das aus (theoretisch) unendlich vielen Elementen besteht, eingeführt wird. Dem naheliegenden Einwand, daß unendliche Folgen in Wirklichkeit niemals beobachtet werden können, begegnet von Mises mit dem Hinweis, eine solche abstrahierende und idealisierende Begriffsbildung sei geradezu das Kennzeichen exakter Realwissenschaften: auch die Berechtigung und der Nutzen der Geometrie lasse sich nicht mit dem Argument leugnen, daß ein idealer Punkt oder eine ideale Gerade in der Wirklichkeit jenseits unserer Vorstellung nicht vorkomme. Die Ergebnisse einer auf dem Begriff des unendlichen Kollektivs aufgebauten Theorie seien "in einer zwar nicht logisch abgrenzbaren, aber praktisch hinreichend bestimmten Weise auf endliche Beobachtungsreihen anwendbar." (S. 101)4 überhaupt betont er wiederholt, daß die "Anwendung der Theorie auf die Wirklichkeit der wesentlichste, wenn nicht einzige Prüfstein ihres Wertes ist" (S.34); und daß "als das einzige Ziel einer Theorie die gedankliche Nachbildung beobachtbarer Erscheinungen anzusehen" sei (S.99). Die Wahrscheinlichkeitslehre sei "eine Realwissenschaft wie jede andere ... , (für welche) die normale, überall gültige Logik gilt und aus der Folgerungen gezogen werden, die sich an der Beobachtung prüfen lassen; sie ist durch den besonderen Gegenstand, mit dem sie sich beschäftigt, gekennzeichnet, aber nicht eine besondere Art des Denkens oder des Schließens" (S. 35). Da von Mises von der Erfahrungstatsache ausgeht, daß bei unter gleichen Bedingungen vielfach wiederholten Zufallsexperimenten die relative Häufigkeit gewisser Merkmale einem festen Grenzwert zustrebt, wird seine Theorie als die empirische (oder auch statistische) Interpretation der Wahrscheinlichkeit bezeichnet.li Auch wenn die Kritik insbesondere der sowjetischen Schule gezeigt hat, daß die Häufigkeitstheorie keine eigentliche mathematische Grundlegung der Wahrscheinlichkeitsrechnung im Sinne logisch-axiomatischer Ableitung ihrer Begriffe bietet, so hat ihr empirischer Ausgangs( Vgl. dazu C. G. Hempel, in: ERKENNTNIS 5 (1935) S.228-260. S Vgl. hierzu A. N. Kolgomoroff: Grundbegriffe der Wahrscheinlichkeitsrechnung (1933); B. V. Gnedenko: The Theory of Probability (1968) p. 24 ff.; B. de Finetti: Prob ability (Interpretations), in: International Encyclopedia of the Social Sciences (1968) vol.12 p.496-505; J. Pfanzagl: Wahrscheinlichkeitstheorie, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften (1961) Bd. 11 S.485491; M. Black: Probability, in: Encyclopedia of Philosophy, vol. 6 (1967) p.464-478.
§ 27 Häufigkeitstheorie nach Richard Mises
143
punkt ihr gleichwohl bis heute große praktische Bedeutung verliehen. übrigens sind ihre mathematischen Schwächen durch eine informationstheoretische Modifizierung der Theorie in den letzten Jahren behoben worden.~ Ein näheres Eingehen auf die nicht wenigen objektiven und subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorien würde uns zu sehr von unserem Weg abbringen.
2. Wahrscheinlichkeit und Einzelfall Hören wir zur Bedeutung einer statistisch ermittelten Wahrscheinlichkeitsaussage für einen konkreten Einzelfall nochmals v. Mises selbst; er führt aus (S. 13): Spreche man beispielsweise im Bereich der Lebensalter-Statistiken (Sterblichkeitstafeln) von Sterbenswahrscheinlichkeit, so beziehe sich dies genau genommen immer nur auf eine Gesamtheit von Personen, z. B. auf die Gesamtheit der ,,41jährigen versicherten männlichen Personen in Deutschland, die in nichtgefährlichen Berufen stehen". Von der Sterbenswahrscheinlichkeit eines bestimmten Individuums könnten wir nicht nur nichts aussagen, sondern diese Formulierung habe aus der Sicht der Häufigkeitstheorie überhaupt keinerlei Sinn. Darin liege eine der tiefgreifendsten Folgerungen seiner Auffassung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs. Zuerst müsse ein Kollektiv dasein, dann erst könne von Wahrscheinlichkeit gesprochen werden. Die Häufigkeitstheorie kenne überhaupt nur die "Wahrscheinlichkeit eines Merkmals innerhalb eines gegebenen Kollektivs". (Hervorhebungen im Original). Er unterstreicht diesen Gedanken nochmals nachdrücklich (S. 21) dadurch, daß er sich scharf gegen die gegenteilige Auffassung von J. v. Kries wendet, der die Wahrscheinlichkeitsaussage nur für bestimmte Individuen, nicht aber für den "allgemeinen Fall, welcher eine unbestimmte Zahl einzelner Verhaltensweisen in sich begreift", gelten lassen wollte. Er schließt mit dem Hinweis (S. 23 f.), daß sich bei vielen Anwendungen des Wahrscheinlichkeitsbegriffs im gewöhnlichen Leben, wenn sie berechtigt seien, das zugehörige Kollektiv konstruieren lasse. Wo dies nicht möglich sei, habe der Gebrauch des Wortes "wahrscheinlich" mit Wahrscheinlichkeitsrechnung nichts zu tun. So zutreffend es ist, daß eine statistisch fundierte Wahrscheinlichkeitsaussage auf der Beobachtung eines Kollektivs beruht, und so wichtig es ist, dies bei ihrer Anwendung auf einen Einzelfall stets vor Augen zu haben, so verfehlt wäre es, daraus kurzerhand zu folgern, daß Wahrscheinlichkeitsaussagen für die gerichtliche Entscheidung problematischer Einzelfälle nicht relevant seien. 8
c. P. Schnorr: Zufälligkeit und Wahrscheinlichkeit (1971).
144
2.2. Wahrscheinlichkeit und konkreter Fall in heutiger Sicht
Dieser Schluß wäre nur zulässig - dann aber auch geboten -, wenn sich ein zugehöriges Kollektiv nicht konstruieren läßt, weil ein unwiederholbares Einzelereignis vorliegt, für das es gar keine Bezugsklasse gibt, d. h. wenn wir über einschlägiges, aus der Beobachtung vergleichbarer anderer Ereignisse geschöpftes Erfahrungswissen insoweit überhaupt nicht verfügen. Verfügen wir aber über einschlägiges Erfahrungswissen, und können wir infolgedessen den Einzelfall als Element einer hinreichend engen - und zugleich hinreichend zahlreichen! - Bezugsklasse auffassen, so können wir ihm auch eine Wahrscheinlichkeitsaussage im Sinne der Häufigkeitstheorie zuordnen, die unter noch näher zu bezeichnenden Voraussetzungen der Entscheidung zugrundezulegen ist. Auch H. Vetter7 bejaht die Anwendbarkeit von Wahrscheinlichkeitsaussagen auf Einzelfälle: man könne einem Einzelereignis eine statistische Wahrscheinlichkeit zuschreiben, wenn man es als Mitglied einer Bezugsklasse betrachte. Allerdings beschreibt auch die speziellste Wahrscheinlichkeitsaussage den Einzelfall nicht in seiner Einzigartigkeit (im Sinne des "individuum est ineffabile"), sondern als Element einer Bezugsklasse von in dieser Hinsicht gleichen Elementen. Nur dies ist mit dem Diktum von R. v. Mises zur Bedeutung der Wahrscheinlichkeitsaussage für konkrete Einzelfälle gemeint. - Speziell zur Wahrscheinlichkeit von Zeugenaussagen und gerichtlichen Urteilen bemerkt er, sie lägen "ungefähr an der Grenze dessen, was wir noch in unsere Betrachtungen einbeziehen" (S. 11), und man müsse "mindestens im Zweifel sein, ob genügende Einheitlichkeit und Gleichförmigkeit vorhanden ist, damit an einen Meßvorgang gedacht werden kann" (S. 12).
3. Grundoperationen der Wahrscheinlichkeitsrechnung In der Praxis kommt es auf die Ermittlung der engsten Bezugsklasse an, in die sich der konkrete Einzelfall einschließen läßt. Im Sprachgebrauch R. v. Mises' heißt die engste Bezugsklasse Endkollektiv; es wird aus den Ausgangskollektiven abgeleitet, die den zu berücksichtigenden Merkmalen (Indizien) zugrundeliegen. Von Mises beschreibt die Aufgabe der Wahrscheinlichkeitsrechnung dahingehend, daß "aus gegebenen Wahrscheinlichkeitsverteilungen innerhalb gewisser Ausgangskollektive die Wahrscheinlichkeiten innerhalb eines aus jenen abgeleiteten Kollektivs zu berechnen" sind (S. 37, 43). Die Ableitung geschieht mittels vier (und nur vier) Ableitungsverfahren (Grundoperationen), die er mit den Ausdrücken "Auswahl", "Mischung", "Teilung" und "Verbindung" bezeichnet und im einzelnen 7
H. Vetter: Wahrscheinlichkeit und logischer Spielraum (1967) S. 15.
§ 27
Häufigkeitstheorie nach Richard Mises
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entwickelt (S. 45-76). Die Grundoperationen seien hier kurz wiedergegeben: Die einfachste Grundoperation ist die Stichprobenauswahl. Das Ausgangskollektiv (z. B. alle Würfe mit einem bestimmten Würfel) wird ersetzt durch die Gesamtheit bestimmter Würfe mit diesem Würfel (z. B. dem ersten, vierten, siebenten, zehnten usw. Wurf). Die Auswahlregel besagt, daß die Wahrscheinlichkeitsverteilung im abgeleiteten (ausgewählten) Kollektiv dieselbe ist wie im Ausgangskollektiv. Die zweite Grundoperation ist die Mischung (Additionstheorem). Sie gibt das Verfahren an, wie z. B. für einen bestimmten Würfel die Wahrscheinlichkeit, eine gerade Augenzahl- d. h. entweder eine Zwei, eine Vier oder eine Sechs - zu werfen, zu berechnen ist, wenn die einzelnen Wahrscheinlichkeiten für das Werfen dieser Augenzahlen bekannt sind. Das Verfahren besteht in der schlichten Addition dieser einzelnen Wahrscheinlichkeiten. Wissen wir, daß der fragliche Würfel (annähernd) ein idealer Würfel ist (Wahrscheinlichkeit jeder einzelnen Augenzahl:
+),
so beträgt die gesuchte Wahrscheinlichkeit
Von Mises bezeichnet diese Grundoperation als Mischung, weil hier zwar die Elemente (also die Gesamtheit aller beobachteten Würfe) des alten und des neuen Kollektivs dieselben sind, nicht aber die Merkmale, deren relative Häufigkeit uns interessiert: während im alten Kollektiv alle sechs Augenzahlen dieses Würfels als Merkmale fungierten, betrachten wir im neuen Kollektiv nur noch die beiden Merkmale "gerade Augenzahl" oder "ungerade Augenzahl", d. h. die drei Merkmale 2, 4 oder 6 des alten werden zu einem Merkmal des neuen Kollektivs zusammengefaßt (vermischt). Durch diese Präzisierung sollen von vornherein fehlerhafte Anwendungen des Additionstheorems ausgeschlossen werden. Denn "nur innerhalb ein und desselben Kollektivs bestehende Wahrscheinlichkeitsverteilungen" dürfen addiert werden und diese auch nur dann, wenn sie sich nicht ganz oder teilweise überschneiden (Voraussetzung der "Unverträglichkeit", also der Alternativität: "entweder ... oder ... oder ..."). Mit der dritten Grundoperation, der Teilung (Grundform des Bayes'schen Theorems; bedingte Wahrscheinlichkeit), wird angegeben, wie aus der Beobachtung eines "gemischten" Merkmals die Wahrscheinlichkeit eines darin enthaltenen Einzelmerkmals zu berechnen ist. Stellen 10 Motsch
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2.2. Wahrscheinlichkeit und konkreter Fall in heutiger Sicht
wir uns wieder einen bestimmten Würfel vor, von dem wir wissen, daß er (annähernd) einem idealen Würfel entspricht. Die Flächen mit geraden Augenzahlen seien rot, die mit ungeraden schwarz. Wenn wir nun lediglich beobachten konnten, daß bei einem Wurf eine rote Fläche erschienen ist, wie groß ist dann die Wahrscheinlichkeit dafür, daß es sich dabei um die Fläche mit der Augenzahl ,,2" handelt? Um diese Wahrscheinlichkeit zu erhalten, müssen. wir ·die unbedingte Wahrscheinlichkeit der Augenzahl ,,2", also!, auf die Wahrscheinlichkeit für eine gerade Augenzahl, die wir mit der Mischungsregel berechnen, beziehen, d. h. wir müssen das Verhältnis von Ausgangswahrscheinlichkeit zur Wahrscheinlichkeit des beobachteten Merkmals (= Summe der Einzelmerkmalswahrscheinlichkeiten) bilden und erhalten 1 6
-1--1
1
1 6
1
=-1-=3'
6+6+6
2
Er nennt dieses Verfahren Teilung, da, indem die Anfangswahrscheinlichkeit hier nicht mehr auf das ganze ursprüngliche Kollektiv, sondern nur noch auf das engere, durch die hinzugetretene Beobachtung "eingegrenzte" Kollektiv bezogen wird, ein Abteilen von Elementen stattfindet. Die gesuchte neue Häufigkeit wird nur noch auf die durch das Erscheinen von rot (gerade Augenzahlen) gekennzeichneten Elemente bezogen. Die üblichen Ausdrucksweisen wie a-priori- und a-posteriori-Wahrscheinlichkeiten oder Wahrscheinlichkeit der "Ursache" eines beobachteten Ereignisses verwirft er wegen der damit einhergehenden irreführenden Assoziationen. Die Verbindung (Multiplikations regel) als die vierte und letzte Grundoperation hat zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit zum Gegenstand, mit zwei bestimmten Würfeln zugleich jeweils die 6 zu werfen (Doppelsechs). Wir erhalten diese Wahrscheinlichkeit, indem wir das Produkt der Ausgangswahrscheinlichkeit bilden. Haben wir also zwei (annähernd) ideale Würfel vor uns, so beträgt die Wahrscheinlichkeit der Doppelsechs 1
1
1
6'6=36' weil in einer Serie von Doppelwürfen der Anteil der Würfe, in welCher
ein Würfel eine Sechs aufweist,! beträgt und innerhalb dieser Untergruppe der Anteil der Würfe, in denen auch der zweite Würfel eine
§ 27 Häufigkeitstheorie nach Richard Mises
147
Sechs aufweist, wiederum ~ ausmacht, so daß vom Sechstel nochmals ein Sechstel gebildet werden muß. Im Unterschied zu den übrigen Grundoperationen, bei welchen aus
einem gegebenen Ausgangskollektiv entweder schematisch bestimmte
Elemente ausgewählt (Stichprobe), mehrere Merkmale zu einem neuen vermischt (Addition) oder die ursprünglichen Elemente mit dem Blick auf ein beobachtetes gemischtes Merkmal geteilt (Grundform der Bayes'schen Regel) wurden, geht es hier darum, zwei (oder mehr) gegebene Ausgangskollektive zu verbinden. Die entscheidende praktische Voraussetzung für die Anwendung der Multiplikationsregel besteht darin, daß immer nur die Wahrscheinlichkeiten von voneinander unabhängigen Ereignissen miteinander multipliziert werden dürfen. Für die exakte Fassung des Erfordernisses der Unabhängigkeit sowie der Ableitung der Multiplikationsregel mit Hilfe der Grundvorstellungen der Häufigkeitstheorie verweise ich auf v. Mises' eigene feinsinnige Darlegungen (S. 58-66). Besonders eindrucksvoll demonstriert er am Beispiel der von Fierre de Fermat (1601-1665) erstmals vollständig geklärten Aufgabe des Chevalier de Mere die Anwendung der Grundoperationen auf eine praktische Fragestellung und zeigt, wie gerade am Anfang der Wahrscheinlichkeitsrechnung exakte empirische Beobachtung und mathematische Bemühungen zusammengewirkt haben. De Mere, ein passionierter Spieler, hatte nach der Wahrscheinlichkeit eines Sechser-Wurfs innerhalb von vier Versuchen und der Wahrscheinlichkeit der Doppelsechs innerhalb von 24 Versuchen gefragt und hatte gemeint, beide Werte müßten gleich groß sein, da die geringere Wahrscheinlichkeit der Doppelsechs durch die Erhöhung der Anzahl der Versuche auf das sechsfache ausgeglichen werde, was jedoch seinen praktischen Erfahrungen widersprach. Tatsächlich beträgt die Wahrscheinlichkeit der Sechs innerhalb von vier Versuchen bei einem idealen Würfel w = 1-
(f)4 =
0,516,
während die Wahrscheinlichkeit der Doppelsechs innerhalb von 24 Versuchen den Wert w = 1 _ (::
)24 =
0,491
aufweist! Abschließend sei die schlagwortartige Übersicht über die vier Grundoperationen in von Mises' eigenen Worten wiedergegeben (S. 67): ,,1. Die Auswahl.
10-
Definition: Die Merkmale unverändert, die Elemente durch Stellenauswahl vermindert.
148
2.2. Wahrscheinlichkeit und konkreter Fall in heutiger Sicht Lösung: Die Verteilung bleibt wwerändert.
2. Die Mischung.
Definition: Die Elemente unverändert, die Merkmale durch Mischung zusammengefaßt. Lösung: Additionsregel.
3. Die Teilung.
Definition: Die Merkmale unverändert, die Elemente durch Teilung vermindert. Lösung: Divisionsregel.
4. Die Verbindung. Definition: Merkmale und Elemente von zwei Kollektivs paarweise zusammengefaßt. Lösung: Multiplikationsregel."
§ 28 Wahrscheinlichkeitskalkül und gerichtliche Tatsachenfeststellung bei V. C. Ball
1. Allgemeines BalZ's Essay "The Moment of Truth: Prob ability Theory and Standards of Proof"l von 1961 enthält eine Kritik der juristischen Beweislehre aus wahrscheinlichkeitstheoretischer Sicht. Sie führt ihn zur Entscheidung nach Wahrscheinlichkeit als demjenigen Prinzip, das ein Minimum an Fehlentscheidungen gewährleistet. Die für uns wesentlichsten Gedanken seiner im deutschen Schrifttum zwar mehrfach zitierten, aber nicht genügend gewürdigten Arbeit seien hier wiedergegeben. Ball möchte "auf eine Änderung der Einstellung zur gerichtlichen Wahrheit (hinwirken), auf eine Änderung, welche die Intuition dergestalt reguliert, daß das, was mit Hilfe der Instrumente der zeitgenössischen Statistik erreicht werden kann, verwirklicht wird" (p. 107). Wie aus seinem Schlußwort hervorgeht, gibt er sich bezüglich der Schwierigkeit seines Vorhabens keiner Illusion hin: "Der Wunsch nach Gewißheit veranlaßt uns mitunter die Realität der Ungewißheit zu vergessen; und es mag sein, daß die hier vorgelegte Analyse intuitiv verworfen wird, da sie sich auf die Ungewißheit konzentriert. Gleichwohl unterbreite ich sie, da ich mit Dr. Johnson der Meinung bin: ,Mein Herr, 1 Die Verweise im Text beziehen sich auf den Abdruck im Sammelband "Essays on Procedure and Evidence", hrsg. Roady and Covington (1961) p. 84-107. Unveränderter Abdruck in: Vanderbilt Law Review 14 (1961) p. 807-830.
§ 28 Wahrscheinlichkeitskalkül bei V. C. Ball
149
etwas in einem Buch nur deshalb zu streichen, weil Ihnen die Leute sagen, daß sie es nicht glauben werden, ist ein Armutszeugnis'." (p.107). Zusammenfassend stellt Ball die Frage: "Welche von den vielen unterschiedlichen Ansichten und Verfahren wird die geringste Anzahl von Fehlern bei der gerichtlichen Tatsachenfeststellung erzeugen?" (p. 106), und er gibt die bewußt allgemein gehaltene Antwort, daß die Instruktionen an die Geschworenen mit dem Ziel überarbeitet werden sollten, ihnen überlegungen nach Art eines Wahrscheinlichkeitskalküls zu ermöglichen und nahezulegen. Im Schulunterricht seien rapide Änderungen im Gange, die erwarten ließen, daß die Geschworenen in Zukunft mit den Grundelementen der Wahrscheinlichkeitslehre vertraut seien. Ohne sich auf bestimmte Ausdrücke festzulegen, empfiehlt er für die Instruktion der Geschworenen Formulierungen, in denen auf die Wahrscheinlichkeit abgestellt wird, während er Formulierungen, die unterschiedliche subjektive Bewußtseinszustände zu beschreiben versuchen, als Entscheidunghilfen für weniger geeignet hält. Ball schließt sich also der insbesondere von Morgan und McBaine vertretenen Auffassung an, wonach bei der Instruktion der Geschworenen durch den Richter Umschreibungen des Gemütszustandes der Geschworenen vermieden und solche Ausdrücke bevorzugt werden sollen, die auf das Ausmaß des Wissens oder Nichtwissens abstellen, also im Strafrecht z. B.: "fast gewiß" oder "in hohem Maße wahrscheinlich"; und im Zivilrecht: "wahrscheinlicher (eingetreten) als nicht (eingetreten)" - (p. 86, 106). Auch haben nach Ball die Geschworenen nicht nur "von den vorgebrachten Beweismitteln" (from the evidence) auszugehen, sondern auch von ihrem Allgemeinwissen (what they know in common as man p.106): "Die Geschworenen bringen einen Teil ihres Wissens (Information) selbst mit zur Verhandlung; sie erhalten mehr (Information) bei der Beweisaufnahme, und sie schaffen in einem sehr realen Sinn noch zusätzlich neue Information während der Beweisaufnahme und im Beratungszimmer, indem sie die Informationen kombinieren und von den Kombinationen neues Wissen beziehen, was zwar logisch während der ganzen Zeit schon vorhanden, das ihnen aber psychologisch so lange nicht bekannt war, bis die Kombinationen angestellt und auf ihre Tauglichkeit untersucht wurden. Die Geschworenen sollten dazu angehalten werden, dies zu tun, und nicht davon abgehalten werden!"
2. Beispiele für die Leistungsfähigkeit des Wahrscheinlichkeitskalküls Aus dem gedankenreichen Essay von Ball lassen sich drei Hauptthemen herausschälen, die für den rechtsgenügenden Beweis von besonderem Interesse sind: die Bedeutung einer Wahrscheinlichkeitsaus-
150
2.2. Wahrscheinlichkeit und konkreter Fall in heutiger Sicht
sage für einen Einzelfall, die Bedeutung der Anfangswahrscheinlichkeit für die Berechnung der realen Gesamtwahrscheinlichkeit und die Zusammenfassung von Wahrscheinlichkeitsaussagen mittels Rechenoperationen. Zum Begriff der Wahrscheinlichkeit im Sinne der Häufigkeitstheorie (frequency theory) stellt er mit Richard von Mises zwar klar, daß es "für Individuen keine Statistik und für die Statistik keine Individuen" gibt. Er folgt im Ergebnis jedoch Hans Reichenbach; dieser hält die Anwendung der Wahrscheinlichkeit im Sinne der Häufigkeitstheorie auf Einzelfälle mittels einer "Bedeutungsverschiebung, eines logischen Tricks" angesichts der Zweckmäßigkeit in Hinblick auf praktisches Handeln für gerechtfertigt, da jemand, der es sich zur Regel mache, auf das wahrscheinlichere Ergebnis ?u setzen, in der größeren Anzahl von Fällen (im Laufe seines Lebens) recht behalten werde (p. 88 f.). Ball betont zugleich, erstens, daß es dabei darauf ankomme, durch Berücksichtigung möglichst vieler relevanter Parameter die speziellste Wahrscheinlichkeitsklasse zugrundezulegen (narrowing my reference class - p. 88); zweitens, daß für ungewisse Ereignisse der Vergangenheit nichts anderes gelte wie für ungewisse Ereignisse der Zukunft (p. 88); und schließlich, daß es auf das Ausmaß des Oberwiegens der Wahrscheinlichkeit nicht ankomme, es sei denn der "Wert" (oder die "Kosten") der einen oder der anderen Entscheidungsalternative seien verschieden (p. 89). Auf den letzgenannten Gesichtspunkt geht er nochmals ausführlicher ein (p. 100 f.): McBaine's Vergleich des Maßstabes zur Entscheidung einer Zivilrechtsstreitigkeit mit dem etwa bei einer Investitionsentscheidung anzulegenden Maßstab sei deshalb unbrauchbar, weil bei der Investitionsentscheidung der "Wert" der beiden Alternativen insofern ungleich sei, als der Verzicht auf die Investition gleichbedeutend sei mit einer sicheren, schwach verzinsten Anlage, während die Tätigung der Investition das Risiko des Verlustes enthalte, also ungleichwertige Alternativen gegeben seien, während in Zivilsachen beide Entscheidungsalternativen als gleichwertig zu behandeln seien. Die Bedeutung der Anfangswahrscheinlichkeit bei der praktischen Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung erläutert Ball anhand eines von Poincare gebildeten Beispiels (p. 96-99): "Wenn bei Ecarte König Trumpf ist und mein Mitspieler bei seinem ersten Zug einen König zieht, wie groß ist dann die Wahrscheinlichkeit, daß er ein Schwindler ist? Mit der normalen Regel erhält man die Wahrscheinlichkeit 8/9, ein Ergebnis, das ganz offensichtlich überraschend ist. Bei genauerem Zusehen erkennen wir jedoch, daß die Berechnung auf der Voraussetzung gleicher Wahrscheinlichkeit für Ehrlichkeit und Unehrlichkeit beruht, einer
§ 28 Wahrscheinlichkeitskalkül bei V. C. Ball
151
Voraussetzung, die hier nicht gerechtfertigt ist, und daher ist das Ergebnis überraschend."
Soweit Poincare. Ball erläutert: Ecarte besteht aus 32 Karten, davon 4 Königen und 28 anderen Karten. Ehrlichkeit des Mitspielers sei definiert als vollständiges Mischen aller Karten, so daß jede Karte die gleiche Chance hat, aufgedeckt zu werden; Unehrlichkeit dagegen so, daß der Mitspieler einen König zieht, sobald er am Zug ist. Die Wahrscheinlichkeit, daß bei Ehrlichkeit des Mitspielers dieser einen König zieht, beträgt 4/32 = 1/8. Ziehe der Mitspieler tatsächlich einen König, so werde die Wahrscheinlichkeit dafür, daß er ein Schwindler ist, nach der Normalregel Poincares wie folgt bestimmt: Wir gehen davon aus, daß der Mitspieler, wenn er tatsächlich ein Schwindler ist, in jedem Falle einen König zieht (Wahrscheinlichkeit: 1). Er hat einen König gezogen. Die Wahrscheinlichkeit, daß er ein Schwindler ist, ist das Verhältnis zwischen der möglichen Ursache, ein Schwindler zu sein, also 1, und der Wahrscheinlichkeit, überhaupt einen König zu ziehen, sei es durch Zufall, sei es durch Schwindel, also 1
1
---,-- = - -
1/8
+1
8
+1
=~
8/9
8
Poincares Warnung besage nun, daß dies nicht die ganze Geschichte sei. Obwohl anscheinend nur die Wahrscheinlichkeit, einen König zu ziehen oder nicht zu ziehen, Eingang gefunden hätten, habe man die Ehrlichkeit oder Unehrlichkeit des Mitspielers vor der Beobachtung des Ziehens eines Königs stillschweigend als gleich wahrscheinlich angenommen. Ball ergänzt die Rechnung durch den Faktor 1/2 als Anfangswahrscheinlichkeit, wodurch sich am Ergebnis nichts ändert, da dieser Faktor sowohl im Zähler als auch im Nenner zusätzlich hinzutritt. Doch erlaubt die ergänzte Formel die Abwandlung der Anfangswahrscheinlichkeit. Angenommen, die Wahrscheinlichkeit, daß der Mitspieler ein Schwindler sei, betrage zunächst 1/100. Das Ziehen eines Königs erhöhe dann diese Wahrscheinlichkeit wie folgt: 11100 1/100 + (99/100 X 1/8)
-~c-c------c~c-:---:-:-::.,--- -
8 8 +99
----:-:-- =
8/107
d. h. die Wahrscheinlichkeit erhöhe sich durch das beobachtete Ziehen eines Königs nicht wie bei der Anfangs-Wahrscheinlichkeit von 1/2 von 0,5 auf 0,89, sondern nur von 0,01 auf 0,07. (Auch diese Anfangs-
152
2.2. Wahrscheinlichkeit und konkreter Fall in heutiger Sicht
Wahrscheinlichkeit von 1/100 sei wohl für viele Mitmenschen zu hoch angesetzt; jemand, der z. B. erst nach 5 Königen zum Schluß bereit sei, daß der Mitspieler ein Schwindler sei, gehe je nachdem, wo er sein Entscheidungskriterium zwischen 0,5 und 0,99 ansetzte, von einer Anfangs-Wahrscheinlichkeit zwischen 1/4097 und 1/32767 aus (p. 98 und Fn.32). Nach Ball ist festzuhalten, daß die beim Hinzufügen von Informationen zu erreichende Wahrscheinlichkeit ebenso von der anfänglichen Wahrscheinlichkeit wie von der hinzutretenden Wahrscheinlichkeit abhängt. Er bemerkt: "Es ist eine Ironie, daß die Juristen, die wegen der zu großen Unbestimmtheit der Information die Anwendbarkeit von Wahrscheinlichkeitskalkülen für die gerichtliche Tatsachenfeststellung leugnen, uns dann noch dazu bringen wollen, Information, die wir haben, wegzuwerfen, weil sie nicht ,als Beweis' in das Verfahren eingeführt wurde; uns dann aber zwingen, das Prinzip der Gleich-Wahrscheinlichkeit der Alternativen anzuwenden mit der Begründung der gleichen Verteilung der Unwissenheit."
Die Zusammenfassung von Wahrscheinlichkeitsaussagen zwecks Ermittlung der Gesamt-Wahrscheinlichkeit führt Ball im Rahmen einer kritischen Analyse einer Äußerung von Trickett vor (p. 96). Diese Äußerung wurde zwar sowohl von einigen Gerichten als auch von dem großen Gelehrten und Beweisrechtsspezialisten Wigmore zustimmend zitiert, dürfte aber gleichwohl- ebenso wie das inhaltsgleiche Laplace'sche Gedankenspiel (§ 26.3) - auf einer Täuschung beruhen. Tricketts an einem Gedankenbeispiel demonstrierte überlegung sollte dartun, daß nicht jedes noch so geringe Wahrscheinlichkeits-übergewicht genüge, um eine entsprechende Feststellung zu treffen: zwar werde man von einem ausreichenden Übergewicht ausgehen können, wenn auf der einen Seite 6, auf der anderen Seite aber nur 5 gleichermaßen glaubwürdige Zeugen präsentiert würden. Wären es hingegen für die eine Seite 20 und für die andere Seite 19 gleichermaßen glaubwürdige Zeugen, so sei zwar immer noch ein Wahrscheinlichkeits-übergewicht vorhanden; dieses sei jedoch so gering, daß ein vorsichtiger und sorgfältiger Mensch im Zustand des Zweifels stehen bleibe. Das Wahrscheinlichkeits-übergewicht betrage nur 1/19. Ball setzt dieser Erwägung folgende Analyse entgegen (p. 101-106): Jede Zeugenaussage soll nach Voraussetzung dieselbe "Aussagekraft" haben; diese läßt sich als Wahrscheinlichkeit im Sinne der Häufigkeitstheorie ausdrücken. Irren sich die Zeugen genauso oft, wie sie die Wahrheit treffen (Wahrscheinlichkeit: 50 (J/o), so sei ihr Zeugnis nichtssagend, d. h. gleichgültig wie viele Zeugen auf der einen oder auf der
§ 28 Wahrscheinlichkeitskalkül bei V. C. Ball
153
anderen Seite aussagten, die Wahrscheinlichkeit könne weder in diesem noch in jenem Sinne beeinflußt werden. Nähmen wir dagegen an, die Verläßlichkeit betrage 63 % (entsprechend dem auf experimentellem Wege durch Prof. Inbau 1939 ermittelten Wert für die Fähigkeit eines Laien, durch Handschriftenvergleich eine gefälschte Unterschrift als solche zu erkennen), so könne für die Zusammenfassung aller Zeugenaussagen folgendes, von Gearge Baale Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte Verfahren herangezogen werden (p. 104): "Die Wahrscheinlichkeit, daß jeder Zeuge das Richtige trifft, und die Wahrscheinlichkeit, daß er sich irrt, sind entgegengesetzt, und ihre Summe kann die Einheit nicht überschreiten, die die Gesamtheit aller (logisch möglichen) Behauptungen dieser Klasse repräsentiert. Wenn wir die Wahrscheinlichkeit, daß er das Richtige trifft, P nennen, ist die Wahrscheinlichkeit, daß er irrt, 1 - P. Fassen wir sämtliche Gelegenheiten ins Auge, in welchen diese Zeugen mit der Richtigkeits-Wahrscheinlichkeit P Unterschriften identifizieren, so finden wir, daß sie nicht jedesmal übereinstimmen. Unterstellen wir (oder überzeugen wir uns davon), daß sie ihre Aussagen unabhängig voneinander treffen ... , so ist die Wahrscheinlichkeit, daß 6 Zeugen übereinstimmen, und daß sie das Richtige treffen, P8. Die Wahrscheinlichkeit, daß sie übereinstimmen, und daß sie dabei irren, beträgt (1- P)8. Das gleiche gilt für die 5 Zeugen, die für die Gegenseite aussagen: die Wahrscheinlichkeit, daß sie übereinstimmen und dabei das Richtige treffen, beträgt po ,und daß sie übereinstimmen und irren (1- P)I. Alle anderen Beziehungen, in denen sie übereinstimmen oder nicht übereinstimmen und das Richtige treffen oder irren, entfallen, da wir nur diese beiden übereinstimmungen zu vergleichen brauchen. Die Wahrscheinlichkeit, daß sechs Zeugen im einen und fünf Zeugen im anderen Sinn übereinstimmen, einschließlich sowohl des Falles, daß die Sechs das Richtige treffen, als auch des Falles, daß die Fünf das Richtige treffen, wird gebildet durch po (I-P).
+
pB (I-P)8
Die Wahrscheinlichkeit dafür, daß die Sechs übereinstimmen und das Richtige treffen, und daß die Fünf übereinstimmen und irren, beträgt po (I-P)I.
Die Wahrscheinlichkeit dafür, daß dies letztere zutrifft angesichts sämtlicher möglichen, von uns ins Auge zu fassenden Fälle beträgt demnach: p6 (1 - P)5
P6 (1 - P)5
+ p5 (1 -
P)6
Wenn wir für P unsere 63 % Schätzung einsetzen, erhalten wir (0,63)6 (0,37)5 -(-0,-63-'-)6""-(-0-,3-7)-=-5-+-(-0-,6--'3)-=-5-'-(0-,3-7-:)6'- = 0,63
Die sechs Zeugen werden mit anderen Worten in 63 % der Gelegenheiten das Richtige treffen und dies mag als eine hinreichend überwiegende Wahrscheinlichkeit erscheinen, und zwar auch für ein praktizierendes Gericht, -
154
2.2. Wahrscheinlichkeit und konkreter Fall in heutiger Sicht
ist sie doch ebenso hoch wie die Wahrscheinlichkeit, wenn nur die eine Seite einen Zeugen beibringt und die andere keinen. Wenn wir die Formel näher betrachten, sehen wir, daß sie für diesen speziellen Fall (der gleichen Glaubwürdigkeit aller Zeugen) sich auf P
P
+ (1 _. P)
=, P
kürzen läßt. Die Potenzzahlen, welche. die Zahl der Zeugen wiedergeben, sind verschwunden und wir können jetzt sagen, daß, wenn die eine Seite 20 Zeugen für die Echtheit der Unterschrift beibringt und die andere 19, die Wahrscheinlichkeit (zugunsten der Echtheit) 63 % beträgt. Dieser Fall ist nicht problematischer als der vorige, und er würde auch nicht problematischer werden, wenn die eine Seite 100 und die andere 99 Zeugen beibringen würde. Eine Art und Weise, sich dies gedanklich klarzumachen, die vielleicht das Ergebnis für die Intuition befriedigender macht, besteht darin, sich vorzustellen, daß sich jedes Paar voneinander entgegengesetzter Zeugenaussagen gegenseitig zu Indifferenz aufhebt, und ... somit die Glaubwürdigkeit des einen, verbleibenden Zeugen den Ausschlag gibt. - Wären alle Zeugen Sachverständige mit einer. Glaubwürdigkeit von 96 Ofo, so betrüge die Wahrscheinlichkeit zugunsten der Echtheit der Unterschrift 96°/~." In der Tat werden wir Balls Kritik am Gedankenbeispiel von Trikett insoweit folgen müssen, als unter der Voraussetzung gleicher Glaubwürdigkeit für die Gesamt-Richtigkeits- (oder Irrtums-)Wahrscheinlichkeit die Differenz zwischen der Anzahl der Aussagen, die für und die gegen eine bestimmte Behauptung sprechen, ausschlaggebend ist (und nicht etwa deren Gesamtzahl). Soweit die Kritik indessen den Eindruck erweckt, daß die Gesamtzahl der Zeugenaussagen keinerlei Bedeutung hat, ist sie ihrerseits irreführend. Wie schon Poisson in bezug auf das analoge Gedankenbeispiel von Laplace dargetan hat (§ 26.3), ist der Fall, daß bei hoher Glaubwürdigkeit aller Zeugen beide Seiten relativ große Gruppen von Zeugen auftreten können, nur unter äußerst seltenen Umständen denkbar. Näher liegt, daß die Voraussetzung der Unabhängigkeit in Wirklichkeit nicht gegeben ist, oder daß die Beweiskraft der Aussagen bei näherem Zusehen in Wirklichkeit nur sehr gering ist (Wahrscheinlichkeitswerte um 0,5). Handelt es sich hingegen tatsächlich um beweiskräftige Aussagen, so ist damit zu rechnen, daß sie sich auf einer Seite häufen. 3. Folgerungen für den rechtsgenügenden Beweis
Balls Essay beschränkt sich nun allerdings keineswegs darauf, für die Denkfarm des Wahrscheinlichkeits-Kalküls (in elementarster Form) als Entscheidungshilfe bei gerichtlichen Tatsachenfeststellungen einzutreten und dem Leser einige einschlägige Erkenntnisse aus diesem Bereich nahezubringen. Vielmehr läßt er die wissenschaftstheoretisch-
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155
philosophischen Hin~ergründe ebensowenig aus dem Auge wie spezifisch-juristische Gesichtspunkte der Beweislast.
Wahrscheinlichkeit habe es genau genommen nicht mit den Dingen an sich zu tun, für die nur die aristotelische Logik in Betracht komme, wonach eine Aussage entweder wahr oder falsch sei, sondern nach Bernoulli und Laplace mit unserer Kenntnis von ihnen (p. 85 f.). Eine Entscheidung, die auf einer Beweislastregel beruht, welche sich an der allgemeinen Wahrscheinlichkeit orientiert, sei deshalb so wenig befriedigend, weil die Geschworenen ihre eigene Entscheidungsfindung im Bewußtsein eben dieser allgemeinen Wahrscheinlichkeit begonnen hätten, es sei denn, es ermangele ihnen genau an dem Allgemeinwissen, das wir ihnen per definitionem zuschrieben!; die genannte allgemeine Anfangswahrscheinlichkeit werde dann in Wahtheit doppelt gezählt (p. 94 f.). Fälle, bei denen die Gesamtwahrscheinlichkeit genau in der Mitte liege (50 '0/ 0), seien anhand einer spezielleren Klassifizierung zu entscheiden, etwa indem eine zusätzliche materielle Rechtsregel dafür sorgt, daß sie zu etwa gleichgroßen Teilen in diesem und in jenem Sinne entschieden werden. ("These balaneed eases, if the jury is eorreet, should go half of them one way and half the other, on a finer classifieation." - p.86). Eine Entscheidung nach Beweislast mittels einer auf die allgemeine Wahrscheinlichkeit gestützten Beweislastregel ist nach Ball keine vernünftige Antwort auf die non-liquet-Situation. Was jedoch seinen Essay für unsere Untersuchung so wichtig macht, sind seine Ausführungen zum Vberwiegensprinzip (p. 85,92-95). Nachdem er eingangs auf die in Straf- und Zivilsachen unterschiedlichen Kriterien "jenseits eines vernünftigen Zweifels" und "ein Überwiegen der Beweiskraft" hingewiesen hat (p. 85), arbeitet er als tragenden Gesichtspunkt für diese Unterscheidung den "Wert" oder auch die "Kosten" der Irrtumsfolgen heraus: Welche Wahrscheinlichkeit ein vernünftiger Mann für erforderlich halte, bevor er sich zu einer bestimmten Haltung entschließe, hänge nicht allein von seiner Einschätzung der Erfolgschanee ab. "Auch die Auswirkung eines Irrtums, d. h. der Wert (Nutzen) der Wahrscheinlichkeit ist im Spiel" ("The consequence of an error, that is to say, the value of the prob ability is involved" - p. 92). Ball vollzieht sodann den entscheidenden methodischen Schritt des Übergangs von der reinen Einzelfallbetrachtung zur Betrachtung eines Kollektivs, wenn er in bezug auf den hohen Wahrscheinlichkeitsgrad schreibt, dieser sei keineswegs ein Schutz vor Fehlentscheidungen (p.93):
156
2.2. Wahrscheinlichkeit und konkreter Fall in heutiger Sicht
.. Im Gegenteil, ... er verbürgt, daß der Fehlerquotient (proportion of mistakes) höher sein wird, als wenn jedwede Ungleichheit der Wahrscheinlichkeit die Entscheidung lenken würde (..... if every inequality of prob ability were a guide to decision"). Doch indem die Gesamtzahl der Fehler steigt, sollen nicht nur der Anteil, sondern die absolute Anzahl einer Fehlerart, nämlich die Fehlerart ..Verurteilung eines Unschuldigen" vermindert werden. Der geforderte Grad an Ungleichheit spiegelt eine Einschätzung des Nutzens wider, lieber weniger Unschuldige' zu verurteilen, und zwar auf Kosten der Freisprechung von mehr Schuldigen", ("The degree of inequality required reflects an evaluation of the utility of convicting fewer innocent men against the cost of acquitting more guilty ones.") - Der Leser, den Ausdrücke wie ..Kosten" und .. Nutzen" störten, könne sich an Sätze halten, wie: ..Tutius semper est errare in acquietando quam in puniendo, ex parte misericordias quam ex parte justitiae" (so HaIe, Pleas of the Crown p, 290 (1847); zu deutsch: ..Es ist stets vorsichtiger, beim Freisprechen zu irren als beim Verurteilen, aus Rücksicht auf die Barmherzigkeit als aus Rücksicht auf die Strenge des Gesetzes" p. 93),
Diese Maxime gelte jedoch nur in Strafsachen. In Zivilsachen scheine dagegen die Mehrzahl der Gerichte davon auszugehen, daß der "Wert" der Entscheidung für jede Seite gleich sei. Daher sei derjenige Standard der richtige, der die geringste Anzahl von Fehlern ergebe. Die geringste Anzahl von Fehlern werde dann gemacht, wenn die Geschworenen jedwede Ungleichheit der Wahrscheinlichkeit, daß sich eine Tatsache ereignet hat, bzw. daß sie sich nicht ereignet hat, berücksichtigen würden. Ball schließt diesen Teil seiner überlegungen mit dem Hinweis (p.95): .. Unsere bisherige Erörterung ergibt klar, daß in Zivilsachen die überzeugung auf jede (noch so geringe), von den Geschworenen wahrgenommene Ungleichheit der beiden, einander umgekehrt proportionalen Wahrscheinlichkeiten zu gründen ist, nämlich der Wahrscheinlichkeit, daß das festzustellende Ereignis geschah und der Wahrscheinlichkeit, daß es nicht geschah."
Ball unterstreicht den Gedanken, daß aus der Gleichbewertung der Irrtumsfolgen in Zivilsachen sich notwendigerweise die Berücksichtigung jedes auch noch so geringen Wahrscheinlichkeitsübergewichtes ergebe, nochmals im Zuge seiner Erörterung der "Wahrheitsüberzeugungstheorie" (belief-in-truth-theory). Nach dieser Theorie ist neben der überwiegenden Wahrscheinlichkeit erforderlich, daß die Geschworenen (oder der Richter) von der Wahrheit überzeugt sind (p. 95, 100 f.): .. Sobald man eingesehen hat, und nach meinem Dafürhalten sollte man dies einsehen, daß der Verlust (die Kosten) ebenso groß ist, wenn man fälschlich jemandem einen Schadensersatz auferlegt, wie wenn man fälschlich jemandem den Schadensersatz verweigert, finden wir uns sofort wieder bei der Berücksichtigung jeder wahrnehmbaren Ungleichheit als Test; und zwar weil wir erkennen, daß dort, wo nicht nach der Ungleichheit vorgegangen wird, alle Fehler zu Lasten derjenigen Seite begangen werden, die die materielle
§ 29
Bayes'sche Formel und Vaterschaftswahrscheinlichkeit
157
Beweislast trägt, während sonst, wenn die Fehler so gestreut werden, wie dies in anderen Lebensbereichen mit den meisten Fehlern beim Schätzen kontinuierlicher Variablen geschieht, diese ungefähr zu gleichen Teilen geteilt werden." Der Bericht über die Arbeit Balls, der nicht erschöpfend sein will, sei mit zwei weiteren Hinweisen geschlossen: Zur Frage, ob in Zivilsachen so etwas wie ein besonderer Vorsprung (extra margine) zugunsten einer Seite zu gelten habe, bemerkt Ball (p. 99 f.), daß dann - ausgehend von der "Wahrheitsüberzeugungstheorie" - jedem einzelnen Geschworenen freistehe, die Grenze irgendwo zwischen 50 (J/o und 99,9 % anzusetzen. Die Fälle, die zur Illustrierung der Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit eines solchen Vorsprungs angeführt würden, fänden indessen im Gesichtspunkt der besonderen Beweisnähe der betreffenden Seite ihre Erklärung, ein Gesichtspunkt, der aber zur Anfangs-Wahrscheinlichkeit gehöre. Ihm mittels Erhöhung der Entscheidungsgrenze Rechnung zu tragen, sei eine Heilung, die außer Verhältnis zur Krankheit stehe. Bei der Erörterung der Erheblichkeit von Beweismitteln (relevancy) geht Ball auf das Problem der Anwendbarkeit von Wahrscheinlichkeits-Aussagen auf Individuen (Einzelfälle) ein (p. 89-92). Am Beispiel der Aussagekraft von Fingerabdrucksvergleichen zeigt er, daß auch ein derartig zuverlässiges Beweismittel streng logisch gesehen keine absolute Sicherheit bietet ungeachtet des erdrückenden Wahrscheinlichkeits-übergewichts. Hierbei weist er auf gewisse irrationale Hemmungen hin, die wir offenbar gegenüber dem überwiegensprinzip hegen (p.91):
"Und unsere Bereitschaft, den Weg der zwei Fehler anstelle des Weges der 128 Milliarden Fehler zu beschreiten, scheint in eigentümlichem Widerspruch zu stehen mit der mitunter anzutreffenden Starrköpfigkeit dann, wenn 49 Fehler bei 100 Fällen nicht zu vermeiden sind, die vorhandene Information überhaupt zu vergessen und mindestens 50 Fehler zu begehen, und zwar nicht etwa, weil die Irrtumsfolgen verschiedene wären, sondern weil wir diese Erzeugung von Fehlern als eine Sicherheitsvorkehrung zum Schutze des Begriffs der Wahrheit aufrichten." § 29 Bayes'sche Formel und erste Bemerkungen zur Vaterschaftswahrscheinlichkeit (Näheres §§ 38, 39)
1. Bayes'sche Formel im Lichte der Häufigkeitstheone Kehren wir nochmals zu dem von Ball analysierten Gedankenbeispiel der einander widersprechenden Zeugenaussagen zurück (§ 28.2), und betrachten wir das Verfahren, mit dem er die Gesamtwahrscheinlichkeit des speziellen Falles errechnet, nochmals im Lichte der von R.
158
2.2. Wahrscheinlichkeit und konkreter Fall in heutiger Sicht
von Mises herausgestellten Grundoperationen und ihrer Voraussetzungen (§ 27). Dabei bedeutet "Wahrscheinlichkeit" die Häufigkeit (Frequenz). Zunächst müssen wir uns Klarheit verschaffen über die Struktur einerseits der gegebenen Ausgangskollektive und andererseits des gesuchten Endkollektivs. Als Ausgangskollektive, die den einzelnen Zeugenaussagen über die Echtheit oder über die Unechtheit der Unterschrift zugrunde liegen, denken wir uns die Mengen vergleichbarer Aussagen eines jeden Zeugen (Elemente), mit deren Richtigkeit bzw. Unrichtigkeit als den Merkmalen. Der Einfachheit halber setzt Ball in seinem Gedankenbeispiel voraus, daß die Richtigkeitswahrscheinlichkeit für jede Zeugenaussage den gleichen Wert P = 0,63 besitzen soll. Das aus den Ausgangskollektiven abzuleitende Endkollektiv besteht aus vergleichbaren Unterschriften als den Elementen und ihrer Echtheit oder Unechtheit als den Merkmalen. Für die Ableitung ist zunächst zu beachten, daß die Ausgangskollektive nach Voraussetzung voneinander unabhängig sind, d. h. daß sich die Mengen ihrer Elemente nicht decken oder überschneiden. Um sie zu einem neuen Kollektiv zusammenfassen zu können, müssen wir sie als erstes miteinander verbinden. Dies geschieht durch Anwendung der Multiplikationsregel. Indem wir - für den Fall der Echtheit - die sechs einzelnen Wahrscheinlichkeiten, daß die Zeugenaussage zugunsten der Echtheit ausfällt, miteinander multiplizieren, erhalten wir wegen der Unabhängigkeit der Zeugenaussagen als Wert der Wahrscheinlichkeit, daß sie in concreto - zufällig - miteinander übereinstimmen, "p6 ". Eine echte Unterschrift kann aber auch vorliegen, wenn die fünf Zeugenaussagen zugunsten der Unechtheit übereinstimmen und dabei irren. Die Wahrscheinlichkeit zu irren, ist ,,(1- P)", so daß wir als Wert für diese Wahrscheinlichkeit ,,(1- p)5" erhalten. Beide Werte, die ihrerseits von einander unabhängig sind, werden wiederum durch Multiplikation miteinander verbunden, was den Ausdruck "p6 (1- p)5" ergibt. Entsprechendes gilt für die Zeugenaussagen zugunsten der Unechtheit der Unterschrift: Der Wert der Wahrscheinlichkeit dafür, daß die fünf unabhängigen Aussagen zugunsten der Unechtheit zufällig übereinstimmen, ist "p5 "; der Wert der Wahrscheinlichkeit eines Irrtums der sechs die Echtheit beurkundenden Aussagen ,,(1- p)6" und der Wert der Wahrscheinlichkeit, daß beide zusammentreffen "p5 (1- p)6". Wenn wir diese beiden Ausdrücke betrachten, erkennen wir, daß die durch Verbindung erzeugten neuen Elemente bei beiden dieselben sind. Außerdem beziehen sie sich auf miteinander unvereinbare Merkmale, nämlich einerseits auf die Echtheit und andererseits auf die Un-
§ 29
Bayes'sche Formel und Vaterschaftswahrscheinlichkeit
159
echtheit der Unterschrift. Wir können sie daher jetzt mittels Addition vermischen und erhalten "pa (1 - pp
+ p5 (1
- P)6";
dies ist - etwas salopp gesprochen - der Wert der Wahrscheinlichkeit für Echtheit oder auch Unechtheit bei Unabhängigkeit der 11 Zeugenaussagen. Es bleibt nun nur noch, die Merkmalselemente abzuteilen, indem wir das Verhältnis zwischen dem Wert für die Echtheit einerseits und dem Wert für die Echtheit oder auch die Unechtheit andererseits (sprich: das Verhältnis zwischen dem "günstigen" Fall und den "möglichen" Fällen) bilden, und wir erhalten als Gesamtwahrscheinlichkeit "W" der Echtheit der Unterschrift unter Berücksichtigung der sechs für und fünf gegen sie geäußerten, unabhängigen Zeugenaussagen "P" P6 (1- P)5
W = p6 (1 _ P)5
+ p5 (1 _
P)6
Das Vorstehende Verfahren läßt sich auch dahingehend deuten, daß die "Beweiskraft" der Aussagen zugunsten der Echtheit der Unterschrift und die "Beweiskraft" der Aussagen zugunsten ihrer Unechtheit gegeneinander "abgewogen" werden, indem die Veränderung der Wahrscheinlichkeit der ersten Aussage bei Hinzutreten einer weiteren Aussage berechnet wird (sogenannte Ausgangswahrscheinlichkeit) und das jeweilige Ergebnis immer wieder als neue Ausgangswahrscheinlichkeit fungiert, bis sämtliche Aussagen berücksichtigt sind. Das Grundmuster der Formel von Ball, die er in Anlehnung an eine erstmals 1857 veröffentlichte Studie von George Baale darlegt,l ist:
x
x+y Es stimmt überein mit dem Grundmuster der vielgenannten Bayes'schen Formel, die sich in der deutschen Gerichtspraxis bei der serosta tistischen Vaterschafts begutachtung (posi ti ver Vaterschaftshinweis) in der Ausformung der sog. Essen-Möller-Formel eingebürgert hat. 2,3 1 G. Boole: On the Application of the Theory of Probabilities to the Question of the Combination of Testimonies or Judgments (1857), abgedruckt in: Studies in Logic and Probability (1952) p.308-385 (310). 2 K. Hummel, in: Vaterschaftsbegutachtung (1961) S. 7 ff.; Weitnauer: Wahrscheinlichkeit (1966) S.20 Fn.103; J. Grumbrecht (1967) S. 52 f. - neuestens C. Scholl NJW 1979 S. 1913-1919 (1917) und dazu die Kontroverse Hummel, Spielmann-Seidel und Scholl NJW 1980 S. 1320-1324; O. Prokop, NJ 1967 S.256--257. 3 Zum Bayes'schen Theorem vgl. L. Sachs: Angewandte Statistik (1978) S.36-38; H.-J. Koch u. H. RüßmaIin (§ 17 N. 13) S.318-326.
160
2.2. Wahrscheinlichkeit und konkreter Fall in heutiger Sicht
Nach der Bayes'schen Formel ist die bedingte Wahrscheinlichkeit von A nach dem Hinzutritt von B P (A/B)
P (B/A)P (A) P (B/A) P (A) + P (B/A) P (A)
=
dabei bedeuten bei Anwendung auf die Vaterschaftswahrscheinlichkeit Vaterschaftswahrscheinlichkeit unter Berücksichtigung des Merkmals B P (B/A) Wahrscheinlichkeit von B bei wirklichen Vätern P (BI Ä) Wahrscheinlichkeit von B bei Nichtvätern P (A) Unbedingte Wahrscheinlichkeit der Vaterschaft (sog. Anfangswahrscheinlichkeit) P (Ä) Unbedingte Wahrscheinlichkeit der Nichtvaterschaft P (AlB)
Die Essen-Möller-Formel erhalten wir, indem wir P (A) = 0,5 setzen: P (A)
=
1 - P (A)
= 0,5 = P
(A) ;
da dieser Wert sowohl im Zähler als auch in beiden Gliedern des Nenners vokommt, kürzen wir den Ausdruck um P (A) = P (Ä) und erhalten P (B/A) P (A/B) = P (B/A)
+ P (B/A)
Geschrieben wird die Essen-Möller-Formel meist X
1
w= ---=-X+Y Y l+:x W Vaterschaftswahrscheinlichkeit unter Berücksichtigung des (bzw. der) Merkmale X Wahrscheinlichkeit des jeweiligen Merkmals bei wirklichen Vätern Y Wahrscheinlichkeit dieses Merkmals bei Nichtvätern Für n unabhängige Merkmale mit zugehörigen Einzelwahrscheinlichkeiten "Xl ... n" und "Y 1 ... n" lautet 1
w=----:-~--=------,=--
Y1
Y2
l+-X ·-X 1 2
Y"
···-X n
Das zugehörige Kollektiv muß nach R. von Mises (§ 27.2) wenigstens konstruierbar sein, wenn die Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf praktische Fälle sinnvoll sein soll. Die Erläuterung des Gedankenbeispiels von Ball mit Hilfe der Grundoperationen nach R. von Mises zeigt, daß eine solche Konstruktion schwerfällig und gekünstelt ist, selbst wenn es sich bei dem Anwendungsbeispiel um einen für
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Bayes'sche Formel und Vaterschaftswahrscheinlichkeit
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Demonstrationszwecke konstruierten Fall handelt. Gerade in dieser Schwerfälligkeit liegt aber der Vorzug der Häufigkeitstheorie. Sie zwingt uns nicht nur zur genauen Analyse der zu verarbeitenden Informationen, sondern sie führt uns darüber hinaus vor Augen, welche "Konzessionen" wir einzugehen gezwungen sind, wenn wir einen konkreten Fall mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung behandeln wollen. Die Häufigkeitstheorie bewahrt uns vor einer Vberschätzung der Tragweite der Wahrscheinlichkeitsrechnung in der Praxis. Im besonderen zeigt unsere Konstruktion, daß das Gedankenbeispiel von Ball unter dem Gesichtspunkt der Praxisnähe nicht glücklich gewählt ist. Praxisnäher wäre ein Beispiel mit Indizien, die einerseits ohne weiteres statistisch erfaßt werden können (und auch erfaßt sind) und andererseits untereinander hinreichend "unabhängig" sind: beide Voraussetzungen sind nach wohl einhelliger Ansicht der Fachleute bei nicht wenigen Blutmerkmalsystemen, deren Vererblichkeit aufgeklärt ist, zu bejahen. Bei Zeugenaussagen sind sie hingegen problematisch. Selbst wenn wir uns sachverständige Zeugen vorstellen, die laufend mit der Beurteilung der Echtheit oder Unechtheit von Unterschriften befaßt sind, werden wir kaum je in der Lage sein, die Richtigkeitswahrscheinlichkeit ihrer Aussagen für jeden von ihnen beziffern zu können. (Allerdings würde sich dieses Problem nicht so scharf stellen, wenn nicht die Richtigkeitswahrscheinlichkeit eines jeden einzelnen Zeugen, sondern die mittlere Richtigkeitswahrscheinlichkeit berücksichtigt würde.) Die "Unabhängigkeit" der einzelnen Aussagen untereinander ist dann zu bejahen, wenn die Elemente der Ausgangskollektive nicht (teilweise) dieselben sind, d. h. wenn jeder (sachverständige) Zeuge bei seiner Beurteilung von einem jeweils verschiedenen Erfahrungshintergrund und Vergleichsmaterial ausgegangen ist. Wären umgekehrt der Erfahrungshintergrund und das verfügbare Vergleichsmaterial für alle deckungsgleich, lägen nur scheinbar verschiedene Aussagen vor; in Wirklichkeit hätten wir es nur mit einem Ausgangskollektiv und somit mit einem einzigen "Indiz", sprich Wahrscheinlichkeitswert, zu tun. Häufig werden sich die Ausgangskollektive weder völlig decken noch völlig selbständig sein, sondern teilweise überschneiden. Diesem Umstand trägt der vorstehende Formalismus indessen nicht Rechnung. Wohlgemerkt: Die Praxisferne des Ball'schen Gedankenbeispiels beeinträchtigt seine Eignung zur Demonstration und Veranschaulichung der Leistungsfähigkeit der Wahrscheinlichkeitsrechnung als einer analytischen Denkmethode in keiner Weise. Nur läßt sich das Rechenbeispiel nicht ohne weiteres auf wirkliche Fälle entsprechend anwenden, weil insbesondere die Voraussetzung der "Unabhängigkeit" im Sinne 11 Motsm
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2.2. Wahrscheinlichkeit und konkreter Fall in heutiger Sicht
der Wahrscheinlichkeitsrechnung bei Zeugenaussagen in aller Regel nicht in hinreichendem Maße gegeben sein dürfte.
2. Bildung des Mittelwertes Noch eine weitere, mehr beiläufige Bemerkung zu Zeugenaussagen sei an dieser Stelle gestattet: Wie weitgehend bekannt, ist die menschliche Wahrnehmung insbesondere bei emotionalem Druck in starkem Maße subjektiven Einflüssen ausgesetzt, d. h. innere Dispositionen des Beobachters mengen sich ungewollt und unbewußt seinen "Tatsachenbeobachtungen" bei.4 Jeder Beobachter kann daher selbst im besten Falle nur sein Bild von dem beobachteten Ereignis wiedergeben, ganz abgeseheri von den Veränderungen, die dieses im Laufe der Zeit zwischen der Aufnahme des Eindrucks und seiner Wiedergabe erfahren mag und ganz abgesehen von der Fähigkeit des Beobachters, dieses Bild anderen sprachlich zu vermitteln. Wegen solcher subjektiven Abweichungen ist es für das Gericht von größtem Interesse, möglichst viele "Bilder" ein und desselben Geschehens dargelegt zu bekommen in der Hoffnung, daß sich aus ihnen etwas "Gemeinsames" herausschälen läßt, das dann als das· "tatsächliche Geschehen", das wir als "intersubjektiv" und somit (?) als "objektiv" ansehen können. Die Ermittlung dieses "Gemeinsamen" sei es von Aussagen, sei es von Schätzungen ein und desselben Schadens, die unter idealen Bedingungen eigentlich deckungsgleich sein müßten, ist ein ganz anderes Problem, als die vorstehend behandelte Frage, wie sich eine Wahrscheinlichkeit durch das Hinzutreten der Beobachtung eines an und für sich relativ seltenen Merkmals ändert (bedingte Wahrscheinlichkeit). Seit alters her wird etwa bei der Schadensermittlung ein Verfahren praktiziert, bei welchem mehrere Experten auf derselben Informationsbasis von einander unabhängig den Schaden schätzen, wobei ggf. bei entgegengesetzten Interessen beide Seiten gleichviele Experten stellen (sog. kontradiktorische Schadensschätzung). Hierzu hat schon Leibniz ausgeführt, bei mehreren gleich annehmbaren Schätzungen sei das arithmetische Mittel zu nehmen, wie dies auch unsere Bauern gemäß ihrer natürlichen Mathematik schon immer täten; er fährt fort: 5 , Vgl. z. B. A. Trankell: Der Realitätsgehalt von Zeugenaussagen (1963) S. 121 ff. und passim; A. Hellwig: Psychologie und Vernehmungstechnik bei Tatbestandsermittlungen (4. Aufl. 1951); F. Arntzen: Vernehmungspsychologie (1978) und ders. Psychologie der Zeugenaussage (2. Aufl. 1983) mit reichhaltigen Literaturhinweisen. 5 G. W. Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand (posthum 1765), abgedr. in: ders., Philosophische Werke Bd.3 (3. Aufl. 1915) S. 562 f.
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Bayes'sche Formel und Vaterschaftswahrscheinlichkeit
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"Wenn z. B. eine Erbschaft oder ein Landgut verkauft werden soll, bilden sie drei Gruppen von Taxatoren; diese Gruppen werden im Niedersächsischen Schurzen genannt, und jede davon macht eine Abschätzung des fraglichen Gutes. Setzen wir, daß die eine es zu dem Werte von 1000 Tlr., die andere zu 1400 Tlr., die dritte zu 1500 Tlr. schätzt, so bildet man die Summe dieser drei Schätzungen mit 3900 und nimmt davon, da es drei Gruppen gewesen sind, den dritten Teil, der 1300 beträgt, als den gesuchten Mittelwert an, oder man nimmt, was auf dasselbe hinausläuft, die Summe der dritten Teile jeder einzelnen Schätzung. Dies ist das Axiom aequalibus aequalia - Annahmen, die gleich möglich sind, muß man gleichmäßig in Betracht ziehen. Sind die Fälle indes nicht gleich, so stellt man das Verhältnis zwischen ihnen fest. Wenn z. B. bei zwei Würfeln der eine Spieler gewinnen soll, wenn er 7 Punkte, der andere, wenn er 9 Punkte hat, so fragt sich: welches Verhältnis findet zwischen ihren Wahrscheinlichkeiten zu gewinnen statt? Ich antworte, daß die Wahrscheinlichkeit für den letzteren nur zwei Drittel der Wahrscheinlichkeit für den ersteren beträgt, denn der erste kann mit zwei Würfeln die 7 auf drei Arten erreichen (nämlich mit 1 und 6 oder 2 und 5 oder 3 und 4), während der andere die 9 nur auf zwei Arten erreichen kann, indem er entweder 3 und 6 oder 4 und 5 wirft. Da nun alle diese Würfe gleich möglich sind, so werden sich die Wahrscheinlichkeiten, die wie die Zahlen der gleichen Möglichkeiten sind, wie 3 zu 2, oder wie 1 zu 2/3 verhalten. Ich habe mehr als einmal gesagt, daß eine neue Art Logik nötig wäre, die die Wahrscheinlichkeitsgrade behandeln müßte, da Aristoteles in seiner Topik nichts weniger als dies geleistet, sondern sich vielmehr damit begnügt hat, gewisse leichtfaßliche, nach den Gemeinplätzen eingeteilte Regeln in bestimmter Ordnung aufzustellen, die gelegentlich von Nutzen sein können, wenn es sich darum handelt, den Vortrag zu bereichern und ihm einen größeren Schein der Wahrheit zu geben - ohne sich darum zu bemühen, uns eine Waage in die Hand zu geben, die notwendig ist, um die Wahrscheinlichkeiten abzuwägen und auf Grund hiervon ein gesichertes Urteil zu fällen. Gut wäre es, wenn derjenige, welcher diesen Gegenstand behandeln wollte, die Prüfung der Glücksspiele weiter fortsetzte, wie ich denn überhaupt wünschen möchte, daß ein geschickter Mathematiker ein großes Werk, mit genauer Detaillierung und strenger Begründung für alle Arten von Spielen abfassen wollte ..."
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Dritter Teil
Beweisma6 in Abstammungssachen nach neuerer deutscher und englischer Gesetzgebung und Rechtsprechung 3.1. Ausgangslage und Reformgesetzgebungen § 30 Zum Hintergrund der Reformen
1. Ausgangslage im deutschen und englischen Recht Sowohl im deutschen als auch im englischen Recht traten am 1. Juli 1970 neue Vorschriften in Kraft, welche die für die Vaterschaftsfeststellung maßgebende Entscheidungsgrenze mehr oder weniger eindeutig festlegen: § 1600 0 BGB und seet. 26 Family Law Reform Aet 1969. Diese Vorschriften betreffen einen neuralgischen Punkt der Reform des Kindschaftsrechts. Der rechtspolitische Hintergrund ist folgender: das brennende Problem der deutschen Reformer bestand darin, die Aufspaltung der Vaterschaft in eine Zahlvaterschaft einerseits und in eine - jene korrigierende - genetische Vaterschaft (Statusklage) andererseits zu überwinden.1 Im englischen Recht ging es darum, die "starke" Vermutung der Ehelichkeit, die die Richter, wie wir sehen werden (§ 37.2), zu krassen Fehlurteilen gezwungen hatte, zu lockern. Beide Rechte standen darüber hinaus aber auch vor der Aufgabe, Raum zu schaffen für die möglichst umfassende Berücksichtigung der Informationen, welche die Humangenetik, insbesondere ihr serologischer Zvveig, zur Aufklärung der Abstammung im Einzelfall beisteuern kann. Im deutschen Recht hatten Blutuntersuchungen und morphologische Gutachten längst einen Platz gefunden; doch bestand Unsicherheit, wie Aussagen zu beurteilen sind, die zwar Hinweise auf die Vaterschaft oder Nichtvaterschaft enthalten, aber keine "sicheren" Schlüsse in der einen oder anderen Richtung zulassen (sogenannter positiver oder negativer Vaterschaftshinweis). Demgegenüber ging es im englischen Recht überhaupt um die Zu lässigkeit von Blutuntersuchungen angesichts des obersten Gebotes: Schutz des Kindeswohls. übrigens wurde von den Reformern beider Länder das skandinavische (insbesondere das dänische) Recht als vorbildlich empfunden, wo1
Knöpfel, FamRZ 1966 S.408-418.
§ 30 Zum Hintergrund der Reformen
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bei sich die englischen vor allem für die Praxis der humangenetischen Begutachtung interessierten? Die englische Reform brachte die Zulassung von Blutuntersuchungen für den Fall, daß die Beteiligten freiwillig damit einverstanden sind. Wir werden uns im einzelnen vor Augen führen, weshalb selbst dieser Schritt nicht als ganz unproblematisch angesehen wurde. Die eigentliche "dramatische Änderung"a bestand jedoch in der Normierung des überwiegensprinzips für Abstammungsfeststellungen aller Art, d. h. sowohl für die Ermittlung des Erzeugers eines Kindes nicht verheirateter Eltern als auch für die Anfechtung der Ehelichkeit eines während bestehender Ehe geborenen oder gezeugten Kindes. Wie schon angedeutet war die Beseitigung der "starken" Ehelichkeitsvermutung, die unserem fortgeltenden § 1591 Abs. 1 Satz 2 BGB entspricht, sogar der springende Punkt. Dies geschah durch sect. 26 Reformgesetz 1969. Wesentliche Voraussetzung für die Abschaffung der überkommenen "starken" Ehelichkeitsvermutung war natürlich der entschlossene Abbau der - in England früher besonders ausgeprägten - rechtlichen Schlechterstellung des außerehelich gezeugten Kindes. So erhielt es z. B. das gleiche Erbrecht wie ein ehelicher Abkömmling (sect. 18 Reformgesetz 1969), während ihm das deutsche Reformgesetz lediglich einen Erbersatzanspruch in Geld in Höhe des Wertes des gesetzlichen Erbteils, nicht aber eine materielle ErbensteIlung einräumte (§ 1934 a BGB). Dennoch handelt es sich bei der Lockerung der Ehelichkeitsvermutung um einen bemerkenswerten Schritt. Denn die englischen Reformer haben - anders als die deutschen - sich nicht dazu entschlossen, daß die Abstammung durch eine rechtskräftige Vaterschaftsfeststellung ein für allemal gerichtlich geklärt wird. Vielmehr haben sie für eine - nach englischem Zivilprozeßrecht prinzipiell durchaus mögliche - Vaterschaftserklärung (declaration of paternity) kein hinreichendes Rechtsschutzbedürfnis erkennen können und befürchtet, daß die generelle Zulassung einer Statusklage Rechtsstreitigkeiten mit bloß spekulativem Charakter fördern würde. 4 Sie vertraten die Auffassung, daß es dem jeweiligen Gericht überlassen bleiben könne und solle, anhand der gesamten, ihm vorliegenden Beweismittel zu entscheiden, ob der Antragsteller die Tatsache der Abstammung "on the balance of probabilities" dargetan habe. ! Blood Tests and the Proof of Paternity in Civil Proceedings, The Law Commission (1968 Law Com. Nr.16) para. 5 Fn. 4, 6 und Appendix B Fn.100; Jansen/Knöpfel: Das neue Unehelichengesetz (1967) S.150. 3 So H. K. Bevan: The Law Relating to Children (1973) S.241. 4 Report of the Committee on the Law of Succession in Relation to Illegitimate Persons (1966) p. 9.
3.1. Deutsche und englische Reformgesetzgebung
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Praktisch kann dieser Verzicht auf eine Statusfeststellung dazu führen, daß das Kind seine Abstammung in etwaigen weiteren Verfahren gegen seinen "angeblichen" Erzeuger stets erneut unter Beweis zu stellen hat. Ein gewisser Trost ist allerdings, daß ein vorhandener Unterhaltstitel (bezeichnenderweise affiliation order genannt!) gemäß sect.12 Civil Evidence Act 1968 immerhin als prima-facie-Beweis zugunsten der Vaterschaft des Unterhaltsschuldners und zwar auch in Rechtsstreitigkeiten, an denen dieser nicht beteiligt ist, gilt. Insgesamt läßt sich von der englischen Reform vielleicht sagen, daß bei aller Kühnheit der Neuerungen zugleich ein tastendes Vorgehen zu beobachten ist. Der tiefere Grund für den Verzicht auf die Vaterschaftsfeststellung mit Statuswirkung dürfte in der Überzeugung zu finden sein, daß auch die Abstammungsfrase ohne übermäßigen Aufwand jeweils zutreffend entscheidbar ist, wenn die Entscheidung "on the balance of probabilities" erfolgt. Auch den deutschen Reformern war die Gefahr bewußt, daß dem Kind durch den Übergang von der Zahlvaterschaft zur Vaterschaftsfeststellung mit Statuswirkung ein Bärendienst erwiesen würde, wenn die Durchsetzung seiner neuen Rechte an übertriebene Beweisforderungengeknüpft und seine verbesserte Rechtsstellung mit einer Verschlechterung seiner tatsächlichen Aussicht, diese im Rechtsstreit auch zuerkannt zu bekommen, erkauft werden würde. Dieser Gefahr soll § 1600 BGB entgegenwirken.
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2. Gleichstellung aller Kinder Doch bevor wir uns nun die Einzelheiten dieser Regelung und ihre Handhabung in der Praxis vor Augen führen, sei noch kurz die soziaidealogische Vorgeschichte des Postulates der Gleichbehandlung aller Kinder gestreift. An und für sich ist der Gedanke, es sei unbillig, das Kind büßen zu lassen für den Fehltritt der Eltern, ebenso einfach wie einleuchtend. Wenn er es gleichwohl schwer hatte, sich durchzusetzen, so dürfte die Ursache in dem tiefeingewurzelten Bedürfnis der Gesellschaft liegen, die Ehe als Institution der Fortpflanzung unter den größtmöglichen Schutz zu stellen, indem sie geheiligt und tabuisiert wird. Radikale Sozialreformer wie Ellen Key und andere Vertreter der Mutterschutzbewegung, aber auch die frühen kommunistisch-sozialistischen Programme forderten denn auch geradezu die Abschaffung der Ehe als einziges wirklich probates Mittel zur Beseitigung der Unehelichkeit.1> G So K. Davis: Illegitimacy and the Social Structure, Am. J. Soc. 45 (1939) p. 215 ff. (232 f.).
§ 30 Zum Hintergrund der Reformen
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Das Gleichstellungspostulat ist jedoch keineswegs erst eine Erfindung der Sozial reformer des 19. und 20. Jahrhunderts. Die sittliche Empörung über menschliches Recht, welches Personen wegen ihrer Geburt als rechtlos (illegitim, elternlos, filii nullius) abstempelt, geht bis ins Mittelalter zurück. Schon damals wurde argumentiert, alle Kinder seien von Gott gewollt, Gott habe sie geschaffen und die Sünden der Eltern dürften nicht an den Kindern gerächt werden; selbst wenn die Geburt mit einem Makel behaftet sei,· so sei dieser doch durch die Taufe getilgt.6 Den ersten, allerdings nur kurz anhaltenden Durchbruch erzielte der Gedanke der Gleichheit aller Kinder in der Französischen Revolution. Ein Gesetz vom 12. Brumaire anno II (2. November 1793) verlieh dem außerehelich geborenen Kind das gleiche Erbrecht wie seinen ehelichen Geschwistern. (Nur Ehebruchskinder wurden auf ein Drittel gesetzt).7 Unter bemerkenswerter Umkehrung der Argumente, die zuvor zu gunsten der Gleichstellung verwendet worden waren, wurde das Gesetz von 1793 allerdings schon 1798 wieder abgeschafft: Die Vaterschaft sei ein Geheimnis der Natur und die Natur schweige; sie sei auch ein Geheimnis der Mutter, aber ihr Zeugnis ermangele der Reinheit der Unschuld; auch die Gleichheit verbiete die Gleichstellung, denn das Revolutionsgesetz von 1793 räume dem Kind nicht gleiche Rechte, sondern Privilegien ein. Das Naturrecht kenne kein Erbrecht. Dieses sei vielmehr Ausfluß des Zivilrechts. Bei seiner Ausgestaltung müsse beachtet werden, daß nur der Privatmann, nicht aber der Gesetzgeber sich von humanitären Gedanken hinwegtragen lassen dürfe, wenn Interessen der Gesellschaft auf dem Spiele stünden. Mit der Gleichstellung habe das Gesetz vom 12. Brumaire des Jahres II die Ehe abgeschafft, um deren Verteidigung es indessen gehe.8 Selbst der Versuch, auch nur einen kleinen Rest der revolutionären Gesetzgebung im Personenstandsgesetz von 1801-1802 zu retten, scheiterte am Widerstand der Konservativen. Dieser Versuch bestand darin, im Register bei außerehelich geborenen Kindern den Namen des Vaters nach Angabe der Mutter einzutragen, wobei ausdrücklich vermerkt werden sollte, daß die Eintragung auf einer Angabe der Mutter beruhe; die Entwicklung mündete schließlich in der ausgeprägt patriarchalischen Familiengesetzgebung des Code Napoleon, der die berühmt-berüchtigte Bestimmung enthielt: "La recherche de la paternite est interdite." 6 Einzelheiten bei R. Genestal: Histoire de la legitimation des enfants natureIs en droit canonique p. 22-24; Davies (Nr.5) p.223. 7 Hierzu die eingehende Studie von Clarence Crane Brinton: French Revolutionary Legislation on Illegitimacy 1789-1804 (1936) p. 226 ff. 8 Hierzu Brinton (N.7) p. 52 ff.
3.1. Deutsche und englische Reformgesetzgebung
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Der wirkliche Durchbruch geschah erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg in Norwegen, dem die anderen skandinavischen Staaten folgten. Die skandinavischen Reformen wurden besonders in den USA schon früh als vorbildlich empfunden. Hier fand der Gleichstellungsgedanke in einigen Einzelstaaten sogar als solcher ausdrückliche Berücksichtigung. So lautet etwa Oregon Rev. Stat. § 109.060 (1961): Status und Rechtsbeziehungen zwischen Personen, die voneinander abstammen, sind dieselben, ob die Eltern verheiratet waren oder nicht." - Ähnliche Klauseln finden sich in North-Dakota (1945) und Arizona (1956). Weniger bekannt sein dürfte, daß selbst das Rechtsdenken in Neuseeland von der Überzeugung beherrscht wird, das Argument, die Legitimität aller Kinder schwäche die Institution der Ehe, sei ohne rationale Basis.1I Dementsprechend normiert das neuseeländische Gesetz über den Status der Kinder (in Kraft seit 1. 1. 1970) in sect. 3 Abs. 1: "Für die Zwecke des Rechts von Neuseeland werden die Beziehungen zwischen jedweder Person und ihrem Vater und ihrer Mutter ohne Rücksicht darauf bestimmt, ob der Vater und die Mutter miteinander verheiratet sind oder verheiratet waren; alle anderen Beziehungen sind hiervon ausgehend zu bestimmen." Es ist nicht ohne Interesse, daß für die Überzeugungsbildung in Neuseeland nicht zuletzt das Recht der Maori mitbestimmend war, das VOll jeher (und zwar auch nach der Christianisierung) einen Unterschied zwischen ehelichen und außerehelichen Geburten nicht kannte.1 () Auch in den Rechten der sozialistischen Länder ist der Gleichstellungsgedanke konsequent verwirklicht, indem - wie etwa im Familiengesetzbuch der DDR von 1965 - schon die Unterscheidung zweier Arten von Kindern von vornherein vermieden wird. Dies bedeutet nicht, daß überhaupt keine Differenzierungen der rechtlichen Regelungen zulässig sind. Unzulässig sind vielmehr nur Differenzierungen, die an den Entstehungsgrund als solchen anknüpfen. Zulässig - und geboten - sind dagegen solche, die an tatsächliche Unterschiede anknüpfen, um diese auszugleichen. Wenn etwa die Eltern nicht zusammenleben, so ist dies ein tatsächlicher Unterschied, auf welchen die Rechtsordnung eine angemessene Antwort finden muß. Es erscheint naheliegend, sich hierbei an vergleichbaren "gestörten" Verhältnissen zu orientieren, also praktisch insoweit die Kinder von nicht verheirateten Eltern mit den Kindern geschiedener Eltern gleichzustellen. l l g
B. J. Cameron and P. M. Webb in: Family Law Centenary Essays (1967)
p.153.
10 Sect. 115 und 116 Maori Affaires Act 1953 dazu B. J. Cameron and Hanan in: Family Law Centenary Essays (1967) p. 135 f.
§ 31 Beweismaß für Abstammungssachen in den Reformgesetzen von 1969
169
Die Studie der Kirche von England beschäftigt sich besonders eingehend mit den möglichen negativen Auswirkungen der Gleichstellung auf die Institution der Ehe. Sie kommt nach einer sehr nüchternen Analyse zum Ergebnis, daß irgendwelche nennenswerten Gefahren nicht ersichtlich seien: Für die Stabilität der Gesellschaft sei nicht nur die Förderung eines monogamen Familienlebens durch den Staat wesentlich. Mindestens ebenso wichtig hierfür sei, daß das Recht soweit wie möglich auf Billigkeit gegründet sei. Jedenfalls habe die Gesellschaft Englands einen Stabilitätsgrad erreicht, der es ermögliche, ohne Risiko ein EItern-Kind-Verhältnis gegenüber beiden Eltern auch solchen Personen zuzuerkennen, die unehelich geboren wurden. § 31 Beweismaß für Abstammungssamen in den
Reformgesetzen von 1969
1. Vorbemerkung Wer an die Frage, ob ein bestimmter Mann ein bestimmtes Kind gezeugt hat, unvoreingenommen herangeht, wird verwundert sein, daß diese mit Hilfe der Genetik zu klärende Aufgabe überhaupt ein juristisches Problem sein kann. Er wird zumindest erwarten, daß die sehr hohe Aufklärungsquote, die mit den heute verfügbaren genetischen Verfahren erzielt wird, die Vaterschaftsfeststellung in der Praxis zur Routineangelegenheit werden läßt. Aber ein flüchtiger Blick auf die seit 1970 ergangene Rechtsprechung zeigt ihm, daß er sich gründlich getäuscht hat. Nichts scheint schwieriger, als die Klärung der Abstammung, wenn dafür naturwissenschaftliche Erkenntnisse zu Hilfe genommen werden. Die praktischen Schwierigkeiten betreffen sowohl die Ausschöpfung der Beweismittel als auch die Entscheidungsgrenze. Ihre Ursache ist nicht die mangelnde Aussagekraft der naturwissenschaftlichen Methoden, sondern deren Exaktheit, die nicht zuletzt darin besteht, zugleich Angaben über die Grenzen dieser Exaktheit zu machen: Die Gutachter operieren mit Wahrscheinlichkeitsaussagen; aber die Gerichte halten im Prinzip und als Ausgangspunkt am "Vollbeweis" fest. Ich halte diesen Ausgangspunkt für verfehlt: Das Gericht hat - im Gegensatz zum Sachverständigen - den Fall auch dann zu entscheiden, wenn der Sachverhalt nicht vollständig aufklärbar ist. Dabei ist die Entscheidungsgrenze so zu wählen, daß auch die Fälle, die aus der Sicht des Naturwissenschaftlers nicht mit hinreichender Sicherheit eindeu11 So schon Neuhaus, FamRZ 1966 S. 528 ff. und "Fatherless by Law?" (1966) p. 17, 26, 30, 31 ff. (Studie der Arbeitsgruppe für soziale Verantwortung der Nationalversammlung der Kirche von England).
170
3.1. Deutsche und englische Reformgesetzgebung
tig aufgeklärt sind, möglichst wirklichkeitsnah (= wahrheitsgemäß) gelöst werden. Sind alle (vertretbaren) Aufklärungsmöglichkeiten erschöpft, ist der Fall "so gut wie möglich" zu entscheiden: Das verblei.;. bende, unvermeidliche Irrtumsrisiko ist so gering wie möglich zu halten. Das Gericht kann vor der Entscheidung nicht deshalb ausweichen, weil die Wahrheit nicht mit hinreichender Sicherheit erkennbar ist. "La paix vaut mieux que la verib~" sagt Carbonnier.t Im Konflikt zwischen dem "Biologischen" (im Sinne des Genetischen) und dem "Sozialen" gebührt dem Sozialen der Primat. Dies folgt aus den Erkenntnissen der über die Genetik hinausschauenden Biologie selbst. Dazu stellt etwa der Verhaltensforscher Bernhard Hassenstein fest: 2 "Auch die leiblichen Eltern werden nicht dadurch zu den wirklichen Eltern
tür ein Kind, daß sie es zeugen und gebären, sondern dadurch, daß sich das Kind im 1. Lebensjahr an sie bindet. Aus diesem Grunde ist die Beziehung
zwischen Kindern und Adoptiveltern von der Seite des Kindes aus biologisch ebenso handfest und hat menschlich die gleiche Würde wie die leibliche Elternschaft; hat sich der Bindungsvorgang vollzogen, so ist die Adoptions-Elternschaft ohne jede Einschränkung als natürlich und vollwertig anzusehen. Adoptiveltern sind also gerade biologisch gesehen keine Ersatzeltern, son": dern richtige Eltern ... Gerade die moderne Biologie sieht in der Elternbindung nicht in erster Linie die Blutverwandtschaft, sondern die seelisch-geistige Bindung." (Meine Hervorhebung) 2. Wortlaut und Vorgeschichte der Neuregelungen von 1969
Doch wenden wir uns zunächst den die Entscheidungsgrenze im deutschen und im englischen Recht markierenden Vorschriften im einzelnen zu. 2.1. Differenzierungen der Entscheidungsgrenzen im deutschen Recht Das deutsche Recht hat für die Anfechtung der Ehelichkeit mit § 1591 Abs. 1 Satz 2 BGB die bisherige Regelung beibehalten; sie lautet: "Das Kind ist nicht ehelich, wenn es den Umständen nach offenbar unmöglich ist, daß die Frau das Kind von dem Manne empfangen hat." Die Regelung läuft auf eine fortgeltende "starke" Ehelichkeitsvermutung hinaus. Im Unterschied hierzu gilt für die Anfechtung eines Vaterschaftsanerkenntnisses nur eine "normale" Vermutung; § 1600 m Satz 1 BGB besagt: Carbonnier: Droit civil t. 1 (3. Aufl. 1963) § 163 p. 504. So B. Hassenstein: Verhaltensbiologische Grundlagen der Adoption, in: Mitteilungen der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe (Heft 67 August 1973). Vgl. auch ders.: Verhaltensbiologie des Kindes (1973) S. 47 ff., 357, 374 ff. 1
2
§ 31 Beweismaß für Abstammungssachen in den Reformgesetzen von 1969 171
"Im Verfahren über die Anfechtung der Anerkennung wird vermutet, daß das Kind von dem Manne gezeugt ist, der die Vaterschaft anerkannt hat." § 1600 m Satz 2 BGB schränkt die Tragweite dieser Norm jedoch dahingehend ein: "Die Vermutung gilt nicht, wenn der Mann die Anerkennung anficht und seine Anerkennungserklärung unter einem Willensmangel nach § 119 Abs. 1, § 123 leidet; in diesem Falle ist § 1600 0 Abs. 2 Satz 1 und 2 entsprechend anzuwenden." Die positive Vaterschaftsfeststellung ist in § 16000 BGB wie folgt geregelt: ,,(1) Als Vater ist der Mann festzustellen, der das Kind gezeugt hat. (2) Es wird vermutet, daß das Kind von dem Manne gezeugt ist, welcher der Mutter während der Empfängniszeit beigewohnt hat. Die Vermutung gilt nicht, wenn nach Würdigung aller Umstände schwerwiegende Zweifel an der Vaterschaft verbleiben. Die Empfängniszeit bestimmt sich nach § 1592." Demgegenüber bestimmt sect. 26 Rejormgesetz 1969 für alle Fälle der "Widerlegung der Vermutung der Ehelichkeit und der Unehelichkeit" folgendes: "Jede Vermutung betreffend die Ehelichkeit oder Unehelichkeit irgendeiner Person ist in zivilrechtlichen Streitigkeiten widerlegbar durch Beweismittel, welche dartun, daß mehr dafür als dagegen spricht, daß diese Person unehelich oder ehelich ist, je nach Lage des Falles, und es ist nicht notwendig, diese Tatsache jenseits eines vernünftigen Zweifels zu beweisen, um die Vermutung zu widerlegen."8 Neueren Datums ist auch die an der Wahrscheinlichkeit orientierte Regelung im Familiengesetzbuch der DDR von 1965. § 54 Abs. 2 lautet: "Als Vater kann festgestellt werden, wer mit der Mutter innerhalb der Empfängniszeit geschlechtlich verkehrt hat. Das gilt nicht, wenn der Verkehr nicht zur Empfängnis geführt haben kann oder die Vaterschaft eines anderen Mannes wahrscheinlicher ist. Ist die Vaterschaft eines anderen Mannes wahrscheinlicher, kann dieser als Vater festgestellt werden." Und § 28 der Verordnung vom 17. Februar 1966 bestimmt ergänzend für den Fall gleicher Wahrscheinlichkeit zweier Männer, daß der Beklagte als Vater festzustellen ist und daß bei größerer Wahrscheinlichkeit eines anderen Mannes dieser in das Verfahren einbezogen werden kann. Nähere Ausführungen finden sich in der Richtlinie Nr. 23 des Plenums des Obersten Gerichts zur Feststellung und Anfechtung der Vaterschaft vom 22. März 1967 - GBl. 11 Nr. 30 S. 177 i. d. F. des Änderungsbeschlusses vom 17. Dezember 1975 - GBl. I 1976 Nr.11 S.183 -; vgl. auch Oberstes Gericht, Urteil vom 5. Januar 1982, NJ S.233234 mit weiteren Nachweisen. In ähnlicher Weise stellen auch die skandinavischen Rechte offen auf die Wahrscheinlichkeit ab; § 6 des dänischen Gesetzes Nr.200 vom 18. Mai 1960 über die Rechtsstellung der Kinder lautet: 3 "Rebuttal of presumption as to legitimaey and illegitimaey. 26. Any presumption of law to the legitimaey or illegitimacy of any person may in eivil proeeedings be rebutted by evidence which shows that it is more probable than not that that person is illegitimate or legitimate, as the ease may be, and shall not be necessary to prove that fact beyond reasonable doubt in order to rebut the presumption."
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3.1. Deutsche und englische Reformgesetzgebung
"Als Vater eines außerehelichen Kindes gilt, wer der Mutter innerhalb der Empfängniszeit beigewohnt hat, es sei denn, daß Umstände vorliegen, die es wenig wahrscheinlich machen, daß er der Vater des Kindes ist. Haben der Mutter innerhalb der Empfängniszeit mehrere Männer beigewohnt, so kann ein Beklagter jedoch nur als Vater des Kindes angesehen werden, wenn eine wesentlich größere Wahrscheinlichkeit dafür vorliegt, daß das Kind von ihm stammt als von einem anderen Manne." Entsprechende Bestimmungen finden sich in § 2 des schwedischen Elterngesetzes vom 10. Juni 1949 und in § 21 des norwegischen Gesetzes Nr.lO vom 21. Dezember 1956 über außereheliche Kinder.
Besonders die deutsche Regelung hat der Praxis, wie wir sehen werden, Kopfzerbrechen bereitet. überraschend ist schon die Auffächerung in drei verschiedene Unterfälle, bei denen sich der Gesetzgeber offenbar um eine gewisse Abstufung der Beweisanforderungen bemüht hat: die Anfechtung der Ehelichkeit erfordert, daß die Vaterschaft des Ehemannes "den Umständen nach offenbar unmöglich" ist (§ 1591 Abs. 1 Satz 2 BGB); die positive Vaterschaftsfeststellung soll demgegenüber nur dann nicht erfolgen, wenn trotz Beiwohnung während der Empfängniszeit "nach Würdigung aller Umstände schwerwiegende Zweifel verbleiben" (§ 16000 Abs.2 Satz 2); und die Anfechtung eines - ohne Willensmangel erklärten - förmlichen Vaterschaftsanerkenntnisses erfordert die Widerlegung der an das Anerkenntnis geknüpften Vaterschaftsvermutung, während bei einem unter einem Willensmangel leidenden Anerkenntnis auch für die Anfechtung, also die negative Vaterschaftsfeststellung, das für die positive Vaterschaftsfeststellung normierte Maß entsprechend gilt (§ 1600 m). Gerade vom hier vertretenen Ansatz her gesehen - Differenzierung der Entscheidungsgrenze unter Berücksichtigung der Irrtumsfolgen sind in Hinblick auf die Interessen des Kindes abgestufte Beweisanforderungen zulässig, wenn nicht sogar geboten. Die übereinstimmung im Ansatz darf uns aber nicht hindern, die differenzierende Regelung kritisch unter die Lupe zu nehmen: (1) Eine Hauptschwäche der Neuregelung ist, daß sich der Gesetzgeber nicht schlicht um die Präzisierung der Entscheidungsgrenze bemühte, sondern an gewisse Indizien wie "Beiwohnung während der Empfängniszeit" oder "Anerkennung der Vaterschaft" Vermutungen knüpft, d. h. diesen Indizien künstlich besonderes Gewicht verleiht und sodann diese Gewichtung wiederum relativiert, um Platz für die freie Beweiswürdigung zu schaffen. § 1591 Abs. 1 Satz 2 beschreibt demgegenüber wenigstens ohne Umschweife die maßgebende Entscheidungsgrenze. (2) Der Gesetzgeber von 1969 differenziert die Beweisanforderungen je nachdem, ob eine negative oder eine positive Vaterschaftsfeststellung
§ 31 Beweismaß für Abstammungssachen in den Reformgesetzen von 1969 173
in Frage steht, führt diese Differenzierung jedoch nicht einheitlich durch, sondern verweist für eine gewisse Kategorie von negativen Feststellungen auf die Beweisanforderungen der positiven Feststellung (§ 1600 m Satz 2). Diese Nuance enthält, glaube ich, einen aufschlußreichen Hinweis: Der Gesetzgeber hält bei Fällen, in denen der besondere Schutz des Kindes zu einer unbilligen Härte für den betroffenen Mann führen würde, die Entscheidungsgrenze des § 16000 Abs.2 für angemessen, selbst wenn es um die negative Feststellung geht. Diese Wertung verdient bei der Klärung des Regelungsgehalts von § 1600 0 Abs. 2 Beachtung. (3) Ob auch heute noch abgestufte Beweisanforderungen im Interesse des Kindes (und damit notwendigerweise zu Lasten des Mannes - bei der Ehelichkeitsanfechtung zu Lasten des betrogenen Ehemannes) geboten ist, war Gegenstand der sogleich (3.) darzustellenden überlegungen der englischen Reform. Das Problem dürfte in der Praxis wegen des hohen Entwicklungsstandes der Humangenetik glücklicherweise keine allzu große Rolle mehr spielen. 2.2. Regelungsgehalt von § 1600 0 BGB Der Regelungsgehalt von § 1600 0 erschließt sich dem durch Vorkenntnisse nicht belasteten Leser nicht ohne weiteres. Selbst die mit der Vorgeschichte vertrauten Gerichte hatten und haben mit dieser Vorschrift ihre liebe Not. § 16000 Abs.l schreibt - nur scheinbar trivial - vor, daß der Erzeuger des Kindes als Vater festzustellen sei. Diese Vorschrift wirft keine Probleme auf, solange der Akzent (nur) auf der gerichtlichen Feststellung der Vaterschaft liegt, also auf der rechtskräftigen Klärung des Verwandschaftsstatus zwischen Mann und Kind (Abstammung). Daß als Vater derjenige Mann festzustellen ist, der das Kind nach überzeugung des Gerichts gezeugt hat, steckt semantisch schon im Ausdruck "Vater" und ist - allerdings überflüssigerweise - in dieser Vorschrift nur deshalb ausdrücklich gesagt, um die Neuregelung vom bisherigen Rechtszustand abzuheben, der eine "Zahlvaterschaft" aufgrund nachgewiesener Beiwohnung während der Empfängniszeit kannte.
Wer indessen den Hauptakzent auf den Nebensatz legt (" ... , der das Kind gezeugt hat."), läuft Gefahr, das Abstammungsprinzip absolut zu setzen, d. h. die genetische Abstammung und die gerichtliche Vaterschaftsfeststellung miteinander zu identifizieren (d.h. im Sinne einer logischen Äquivalenz, die keine Ausnahmen zuläßt, miteinander zu verknüpfen). Wer dies tut, erreicht genau das Gegenteil einer rechtskräftigen Statusfeststellung: Er räumt der Abstammung Vorrang vor der Rechtskraft der Statusfeststellung ein. Jedermann, d. h. die beteiligten
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3.1. Deutsche und englische Reformgesetzgebung
Parteien und Dritte, könnten stets von neuem unter Berufung auf die wahre Abstamung die gerichtliche Feststellung der Vaterschaft in einem neuen Verfahren angreifen. Dies ist sicher nicht gemeint. § 1600 0 Abs. 2 will überspitzte Beweisanforderungen verhindern. Er sagt, im Falle einer Beiwohnung des Beklagten während der Empfängniszeit sei die Vaterschaft zu vermuten. Diese Vermutung solle aber nicht gelten, wenn schwerwiegende Zweifel an der Vaterschaft bestehen. - Durch Tragzeitgutachten kann aus dem Reifezustand des Neugeborenen auf die Empfängniszeit zurückgeschlossen werden, ein Rückschluß, der eine wesentlich engere Bestimmung des Zeitraumes zuläßt als die sogenannte gesetzliche Empfängniszeit (181. bis 302. Tag vor der Geburt). In der Sache hat die an die gesetzliche Empfängniszeit anknüpfende Vermutung an sich kein großes Gewicht. Die Abschwächung, daß wir nicht etwas vermuten sollen, an dessen Existenz wir schwerwiegende Zweifel haben, ist trivial. Im Grunde spiegelt die Vorschrift das Bemühen des Gesetzgebers wieder, einerseits das tatsächliche Prozeßrisiko für das Kind im Vergleich zum bisherigen Rechtszustand nicht allzusehr zu verschlechtern, andererseits aber Raum für eine möglichst umfassende Berücksichtigung aller Informationen durch freie Beweiswürdigung zu schaffen.
2.3. überlegungen der Verfasser des Reformentwurfs Die Ausschöpfung der gesamten Information im Interesse der Wahrheitsfindung zu ermöglichen, war - neben der überwindung von Statusfeststellung und Zahlvaterschaft - ein Hauptziel der Reform. 4 Die Gerichte sollten in die Lage versetzt werden, nicht nur den negativen Vaterschaftsausschluß, sondern auch positive Hinweise auf die Vaterschaft (oder Nichtvaterschaft) zu berücksichtigen, die sich bei einer statistischen Auswertung der serologischen Befunde ergeben. In auffallendem Unterschied zu den skandinavischen Rechten und dem Recht der DDR hat der bundesdeutsche Gesetzgeber von 1969 den Terminus "wahrscheinlich" sorgsam vermieden und einem unbeholfen wirkenden Umweg den Vorzug gegeben. Diese wenig attraktive Lösung hat den einen unschätzbaren Vorzug: Sie vermeidet, ausdrücklich eine falsche Entscheidungsgrenze zu normieren. Die Gesichtspunkte, die seinerzeit gegen die Verwendung von "wahrscheinlich" angeführt wurden, halte ich allerdings nur teilweise für durchschlagend. Einleuchtend erscheint zunächst folgende Erwägung: 5 4 3
Jansen/Knöpfel (§ 30 N.2) S. 154; Knöpfel FamRZ 1966 S. 408,415 ff. Jansen/Knöpfel (§ 30 N.2) S. 154 f.
§ 31 Beweismaß für Abstammungssachen in den Reformgesetzen von 1969 175
Es sei, so wurde argumentiert, weder sinnvoll noch zweckmäßig, einen Wahrscheinlichkeitsgrad anzugeben, da Fälle vorkommen könnten, in welchen zwar die erbbiologisch-statistische Untersuchung zum Ergebnis "Abstammung unwahrscheinlich" führe, gleichwohl aber. feststehe, daß nur der Beklagte der Mutter während der Empfängniszeit beigewohnt habe und daher als Vater festzustellen sei. Steht wirklich zweifelsfrei fest, daß nur der Beklagte der Mutter während der Empfängniszeit beigewohnt hat, und entfällt mit derselben Sicherheit die weitere Denkmöglichkeit der Zeugung des Kindes durch irgendeine Art von künstlicher Insemination, so kann es in der Tat auf die erbbiologische (z. B. serologische) Begutachtung nicht mehr ankommen. Wird das Gericht in einem solchen Fall gleichwohl mit einem Gutachten konfrontiert, das die Abstammung für unwahrscheinlich erklärt, so muß diese Information in diesem besonderen Fall außer Betracht bleiben, weil wir hier nach Voraussetzung - ausnahmsweise - wissen, daß unabhängig vom Grad der Unwahrscheinlichkeit seiner Vaterschaft der Beklagte tatsächlich der Vater ist und der erbbiologische Hinweis auf die Nichtvaterschaft aus irgendeinem Grunde (z. B. infolge einer Mutation) unzutreffend ist. Allerdings werden wir gut daran tun, bei einer sehr hohen und einwandfrei abgesicherten Wahrscheinlichkeit der Nichtvaterschaft unsere Voraussetzungen nochmals kritisch daraufhin zu durchleuchten, ob siE:! wirklich so zweifelsfrei feststehen, wie ursprünglich angenommen. Enthält die erbbiologische Begutachtung gar einen "praktisch sicheren" Vaterschaftsausschluß, so steckt entweder in unseren Voraussetzungen oder im Gutachten ein Fehler, und wir müssen versuchen, herauszufinden, wo er - wahrscheinlich - liegt. Mit anderen Worten: Wenn wir den Fehler nicht aufdecken können, also der "Widerspruch" bestehen bleibt, haben wir beide Informationen als Wahrscheinlichkeitsaussagen aufzufassen und gegeneinander im Wege der Mittelwertbildung abzuwägen (§ 29.2). Das Gedankenspiel der Reformer, in dem "feststehendes Wissen" bloßem "Wahrscheinlichkeits-Wissen" gegenübergestellt wird, schlägt insofern durch, als in der Tat per definitionem jede Wahrscheinlichkeitsaussage widerlegbar ist durch eine gegenläufige, noch höhere Wahrscheinlichkeit, insbesondere durch eine "sichere" Aussage. Haben wir von einem Gegenstand "sicheres" Wissen, ist, wie schon Jakob Bernoulli in seiner ersten Regel hervorhebt (§ 20.1), jede Wahrscheinlichkeitserwägung ohne Belang. Fehlt uns "sicheres" Wissen und sind wir daher genötigt, auf Wahrscheinlichkeiten zurückzugreifen, geht es nicht an, ein Indiz als absolut gesichertes Wissen aufzufassen: Vielmehr sind innerhalb eines Wahrscheinlichkeitskalküls alle Informationselemente als Wahrscheinlich-
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3.1. Deutsche und englische Reformgesetzgebung
keitsaussagen zu behandeln. Daher ist die Bemerkung in den Materialien, die Addition von "kontradiktorischen" Indizien sei "nonsens", irreführend. Zwar ist richtig, daß objektiv gesehen (d. h. im Sinne absoluter Erkenntnis) eine von zwei einander ausschließenden Aussagen falsch sein muß; daraus folgt jedoch nicht, daß in Ermangelung einer vernünftigen Feststellung darüber, welche Aussage von beiden die falsche ist, beide außer Betracht zu bleiben haben (dies gilt nur für den Sonderfall, daß die Wahrscheinlichkeit beider Aussagen gleich stark ist). Indizien sind Wahrscheinlichkeitsaussagen. Als solche enthalten sie die Negation als ihr logisches Komplement. Ein logischer Widerspruch zwischen gegenläufigen Indizien besteht nicht. Sind indessen beide "stark", werden wir, wie gesagt, alles tun, um den Fehler zu finden und dann die eine oder die andere (oder auch beide) Information(en) als irrig zu verwerfen. Den Reformern ist vorbehaltlos zuzustimmen, wenn sie sich dagegen zur Wehr setzen, für ein einzelnes, aus der Vielzahl der Indizien herausgegriffenes Element wie z. B. für den serostatistischen Vaterschaftshinweis eine besondere Entscheidungsgrenze zu normieren. Denn die Abstammungsfrage kann stets nur anhand der gesamten Information, also der Gesamtwahrscheinlichkeit, bejaht oder verneint werden. 3. Oberlegungen der englischen Reformer
Die englischen Reformer geben über die Vorgeschichte und ihre Erwägungen wie folgt Rechenschaft: 6 Zunächst geben sie einen knappen, mit dem Banbury Peerage ease von 1811 beginnenden, historischen überblick über die Rechtsentwicklung, der mit dem Hinweis auf den Fall Watson v. W. aus dem Jahre 1954 endet (§ 28.3). Nach einem kurzen Blick auf neuere Entscheidungen (Blyth v. B. und Re L.), in welchen sich das von Lord Denning bevorzugte überwiegensprinzip ankündigt, kommt der Unterschied zwischen Unterhaltssachen und Ehelichkeitsanfechtung wie folgt zur Sprache: Aus historischer Sicht sei leicht erkennbar, weshalb der Beweisstandard, der zur Feststellung der Vaterschaft in Unterhaltssachen gefordert würde, niedriger sei als derjenige, der in Ehesachen zur Widerlegung der Ehelichkeitsvermutung gefordert werde. In Unterhaltssachen gehe es in der Regel nicht um die Frage, ob das Kind unehelich sei, sondern vielmehr darum, wer der Vater sei. Demgegenüber führe eine erfolgreiche Widerlegung der Ehelichkeitsvermutung zur (so wörtlich) Bastardisierung eines Kindes, das andernfalls ehelich sein würde. Unehelichkeit sei in früheren Zeiten ein Quell der Schande und Lächerlichkeit gewesen, und die Strenge der Ehelichkeitsvermutung sei eine Rückwirkung dieser Haltung. Auch seien die finanziellen Aussichten eines unehelichen Kindes häufig trostlos gewesen. Die Einstellung der Gesellschaft gegenüber Unehelichkeit habe sich heutzutage gemildert und das Kind werde nicht in so schwerwiegender Weise materiell benachteiligt. So habe die Mutter z. B. Anspruch auf Unterstützung. Bis zur Verwirklichung der vom • Blood Tests and the Proof of Paternity (1968) p. 5 ff.
§ 31 Beweismaß für Abstammungssachen in den Reformgesetzen von 1969 177
Russell-Komitee vorgeschlagenen Reform blieben jedoch erhebliche Unterschiede zwischen dem Status von ehelichen und unehelichen Kindern besonders im Erbrecht bestehen. (Diese Vorschläge sind dann in das Gesetz von 1969 aufgenommen worden). Es sei natürlich, daß die Gerichte trotz dieser Änderungen der öffentlichen und der rechtlichen Einstellung zur Unehelichkeit es als eine sehr schwerwiegende Angelegenheit betrachten würden, ein Kind ..zu bastardisieren". Sie, die Law Commission, sei gleichwohl der Meinung, daß in den meisten Fällen es für das Kind das Beste ist, wenn möglich, die wahre Sachlage in Bezug auf seine Vaterschaft zu kennen. Wenn ein Ehemann abstreitet, der Vater des Kindes seiner Frau zu sein, aber wegen der Stärke der Ehelichkeitsvermutung ihm der entsprechende Nachweis mißlungen sei, so sei kaum mit emotionalen oder finanziellen Auswirkungen, die dem Kinde zugute kämen, zu rechnen, da der Ehemann gleichwohl fest davon überzeugt bleibe, daß er nicht dessen Vater sei. Viel spreche dafür, daß, wäge man die beiden Gesichtspunkte gegeneinander ab, es für das Kind besser ist, wenn mit Bestimmtheit festgestellt wird, wer sein Vater ist, als dies in Zweifel zu lassen, selbst wenn ihm hierbei der rechtliche Status der Ehelichkeit erhalten bleiben würde. Auch sei zu berücksichtigen, daß die Unehelichkeit häufig kein Dauerzustand für das Kind sei, da es in zahlreichen Fällen durch nachfolgende Ehe der natürlichen Eltern legitimiert würde. Dies sei eine bei weitem bessere Lösung als das Kind rechtlich als eheliches Kind der ersten Ehe zu behandeln, obwohl niemand unter den Beteiligten wirklich daran glaube. In dem Bericht heißt es so dann wörtlich (para. 15): .. Wir sind der Meinung, daß es heutzutage für das Gericht weit wichtiger ist, zu einer richtigen Entscheidung zu gelangen, als für das Kind, koste es was es wolle, für ehelich erklärt zu werden. Und gegenwärtig schließen diese ,Kosten' häufig die Ungerechtigkeit ein, die darin besteht, daß Ehemänner für Kinder aufkommen müssen, die wahrscheinlich nicht die ihren sind, sowie den Verruf, in welchen das Recht infolgedessen gerät. Wir stimmen mit der Ansicht von Professor Cross überein, die er in einer Rundfunkrede geäußert hat, daß die Gefahr der Ungerechtigkeit gegenüber den Ehemännern die Senkung des Beweisstandards rechtfertigt, der für die Widerlegung der Vermutung der Ehelichkeit gefordert wird. Wir sehen keinen zureichenden Grund (no good reason), weshalb die Vermutung nicht in übereinstimmung mit dem Beweisstandard, der in Unterhaltssachen gefordert wird, bei überwiegender Wahrscheinlichkeit widerlegbar sein soll (rebuttable on the balance of probabilities)." Die Vermutung solle indessen nicht beseitigt werden. Die Beweislast solle weiterhin diejenige Person tragen, die ein während der Ehe geborenes Kind ..bastardisieren" wolle. Die Last würde ganz einfach weniger schwierig zu beheben sein. Sodann wird auf die Nachteile eingegangen, die mit der Beibehaltung der strengen Ehelichkeitsvermutung verbunden wären, wobei auf offensichtlich ungerechte Entscheidungen wie Watson v. W., aber auch Ah Chuk v. Needham hingewiesen wird. Schließlich wird noch das Verhältnis zum Beweisstandard für den Nachweis des Ehebruchs behandelt, der seit der Entscheidung des House of Lords im Falle Blyth v. B. jedenfalls nicht mehr der alte strafrechtliche Beweisstandard .. beyond reasonable doubt" sei, sondern allem nach ebenfalls das überwiegensprinzip.
Der auch in seinen anderen Teilen aufschlußreiche, alle für die Praxis wesentlichen Einzelfragen sorgfältig ausleuchtende Bericht der 12 Motsdl
178
3.1. Deutsche und englische Reformgesetzgebung
Law Commission fordert u. a. auch Vorschriften betreffend die Form, in welcher das Untersuchungergebnis mitzuteilen sei. Dieser Forderung wurde mit sect. 20 (2) Reformgesetz 1969 entsprochen. Hiernach soll der Bericht des serologischen Gutachters umfassen: a) die Ergebnisse der Untersuchung; b) ob die Partei, auf die sich der Bericht bezieht, durch die Ergebnisse davon ausgeschlossen ist, der Vater derjenigen Person, deren Vaterschaft zu bestimmen ist, zu sein oder ob sie nicht ausgeschlossen ist; c) wenn die Partei nicht ausgeschlossen ist, den Wert, wenn es einen solchen gibt, mit welchem die Ergebnisse bestimmen, ob diese Partei der Vater der Person ist.
3.2. Analyse und Vergleich einiger höchstrichterlicher Entscheidungen § 32 Grundsatzurteil des IV. Zivilsenates des BGH zu § 1600 0 BGB
1. Bericht und Kritik an der Entscheidung des konkreten Falles Zu der am 1. Juli 1970 in Kraft getretenen Neuregelung hat der IV. Zivilsenat des BGH mit Urteil vom 6. Juni 1973,1 das er selbst im Rückblick als Grundsatzurteil bezeichnet,2 in einer Weise Stellung genommen, die ich weder im Hinblick auf das Ergebnis im Einzelfall noch in Hinblick auf die in ihr niedergelegten allgemeinen Richtlinien für überzeugend halte. Der Sachverhalt war in wenigen Worten folgender: Die genauen Umstände, die zur Empfängnis des Kindes geführt haben, hatten sich nicht aufklären lassen. Der Beklagte hatte zwar eingeräumt, einmal mit der Mutter des Kindes geschlechtlich verkehrt zu haben, jedoch in Abrede gestellt, daß dies während der Empfängniszeit gewesen sei. Er hatte einen Mehrverkehrszeugen benannt und behauptet, die Mutter habe sich in der fraglichen Zeit auch noch mit anderen Männern eingelassen. Der Beklagte und der Mehrverkehrszeuge waren erbbiologisch (serologisch und morphologisch) untersucht worden. Die Auswertung der serologischen Untersuchung nach dem Essen-Möller-Verfahren hatte eine Vaterschafts-Wahrscheinlichkeit von 92,5 % für den Beklagten, die morphologische Begutachtung das Prädikat "Vaterschaft wahrscheinlich" (ausgehend von einer Notenskala der Stufen: wahrscheinlich - hohe Wahrscheinlichkeit - sehr hohe Wahrscheinlichkeit), die Berechnung der relativen Vaterschaftswahrscheinlichkeit unter Einbeziehung des Mehrverkehrszeugen sowie eines möglichen dritten (unbekannten) Mannes die Werte 81,2 0 /& für den Beklagten, 4,7 Ofo für den Zeugen und 14,1 % für den Unbekannten ergeben. Bei dieser Sachlage hatte das Amtsgericht Erkelenz die Vaterschaft des Beklagten festgestellt und diesen zur Zahlung des Regelunterhalts verurteilt; das OLG Düsseldorf hatte hingegen die Klage des Kindes abgewiesen und der BGH die Abweisung bestätigt.
Die Gründe, die nach Ansicht des IV. Zivilsenats des BGH diese Entscheidung tragen, sind diese (BGHZ 61, S. 174 f.): 1 BGHZ 61 S.165-175, FamRZ 1973 S.596-599; kritisch dazu Ankermann NJW 1974 S. 584--590. % BGH, Urteil vom 21. September 1973, FamRZ 1973 S.624--626 (625).
180 3.2. Analyse und Vergleich einiger höchstrichterlicher Entscheidungen Auch unter Berücksichtigung der Kritik, die am Essen-MöHer-Verfahren geübt werde, sei die bei einer errechneten Vaterschaftswahrscheinlichkeit von 92,5 Ofo verbleibende Fehlerquote so groß, daß schwerwiegende Zweifel an der Vaterschaft verblieben. Die Berechnung der relativen Vaterschaftswahrscheinlichkeit helfe nicht weiter, da es sich nicht rechtfertigen lasse, bei einem Mehrverkehr der Kindesmutter den Mann als Vater herauszugreifen,
dessen Vaterschaft wahrscheinlicher sei als die der übrigen Männer.
Die überwiegende relative Wahrscheinlichkeit könne schon deshalb nicht ausreichen, weil der Beklagte im FaHe erwiesenen Mehrverkehrs ja schließlich nicht ungünstiger darstehen könne, als wenn Mehrverkehr nicht erwiesen sei!? Auf die Frage, was gelten würde, wenn nur der Beklagte und der Mehrverkehrszeuge in Betracht zu ziehen wären, brauche nicht eingegangen zu werden, da das Berufungsgericht nicht zur überzeugung gelangt sei, daß nur diese beiden Männer in Frage kämen und ihm hierbei auch kein Rechtsverstoß unterlaufen sei. Schließlich könne auch das anthropologisch-erbbiologische (morphologische) Gutachten die "schwerwiegenden Zweifel" nicht beseitigen. Es sei nur zu dem in der Skala niedrigsten Wahrscheinlichkeitsprädikat gelangt; die vorstehenden Ausführungen zum serologischen Befund träfen daher auch hier zu. Diese Begründung leidet an folgenden Mängeln:
1.1. Selbst vom Standpunkt aus, daß die Abstammung mit hoher (oder höchster) Wahrscheinlichkeit und nicht nur mit überwiegender Wahrscheinlichkeit - dargetan sein muß, halte ich die überlegung des IV. Zivilsenats des BGH für angreifbar: Die statistische Auswertung der serologischen Befunde einerseits und die morphologische Begutachtung andererseits sind voneinander unabhängige Beweismittel (Indizien), deren Wahrscheinlichkeitswerte zu kombinieren sind. Für diese Kombination kommt - hierauf hat mich der Mathematiker Prof. Dr. H. Walk, Stuttgart, hingewiesen - die in der Wahrscheinlichkeitsrechnung wohlbekannte Formel Pt + P2 - Pt . Po! in Betracht; er erläutert: P (A U B) = P (A)
+ P (B)
- P (A) P (B)
betr. die Wahrscheinlichkeiten der Ereignisse A, B und ihrer Vereinigung A U B, d. h. der Menge aHer Elemente aus A oder (vel) B, bei vorausgesetzter Unabhängigkeit von A und B (d. h. P (A . B) = P (A) P (B), wobei der sogenannte Durchschnitt A . B die Menge der Elemente ist, die in A und B enthalten sind). Wenn A und B für das Vorliegen von Indizien (mit zugeordneten Wahrscheinlichkeitswerten) stehen, so bedeutet A U B das Vorliegen mindestens eines der beiden Indizien und A . B das Vorliegen beider Indizien. Beachtet man die Beziehung A U B = A U (B"- A • B) ,
§ 32 Grundsatzurteil des IV. Zivilsenats des BGH zu § 16000 BGB
181
wobei B "'- A . B die Menge der Elemente aus B ohne diejenigen aus der Teilmenge A· B von B bezeichnet und die beiden Mengen A und B "'-A. B disjunkt (fremd, d. h. ohne gemeinsame Elemente) sind, so ergibt sich die Formel folgendermaßen: P (A u B)
=
P (A
U
(B"'- A . B»
= P (A) + P (B "'- A . B) = P (A) + P (B) - P (A . B) = P (A) + P (B) - P (A) P (B)
! Unabhängigkeit von A und B Veranschaulichen läßt sich dies an einem sog. Venn-Diagramm mit zwei sich schneidenden Kreisscheiben A und B mit Flächeninhalt P (A) bzw. P (B) in einem Rechteck Q mit Flächeninhalt P (il) = 1, das dem sicheren Ereignis, der sog. Grundmenge, entspricht.
Eine andere Herleitung der Obigen Formel, die den Begriff der Komplementärmenge Ä = Q"'- A von A bezüglich der Grundmenge Q (Nicht-Auftreten des Ereignisses A) und die Beziehungen Ä u .8 = Ä . .8 und P (A) = 1 P (A) verwendet, ist die folgende: P (A U B) = 1 - P (Ä . .8) =
1 - P (Ä) P (8)
Unabhängigkeit von A und B = 1 - (1 - P (A»(l - P (Bl) = P (A)
+ P (B)
- P (A) P (B)
Soweit H. Walk. Die für die Kombination zugrunde gelegte Unabhängigkeit wäre nur dann nicht gegeben, wenn die serologischen Merkmale und die morphologischen
Merkmale - zufällig - durch ein und denselben Träger von Erbinformation weitergegeben würden. Letzteres dürfte indessen nicht der Fall sein: Wenn sogar bei den zahlreichen Blutmerkmalen davon ausgegangen werden kann, daß sie in voneinander unabhängiger Weise vererbt werden, so muß dies erst recht im Verhältnis von Blutmerkmalen zu morphologischen Merkmalen
182 3.2. Analyse und Vergleich einiger höchstrichterlicher Entscheidungen gelten. (Die Unabhängigkeit des Erbgangs der einzelnen Blutmerkmale voneinander ist für die Anwendbarkeit der Formel von Erik Essen-Möller unabdingbare Voraussetzung, da sie auf dem Additionstheorem beruht.) Erst nach Kombination der Wahrscheinlichkeitswerte beider Indizien (sowie der sonstigen Anhaltspunkte, die für oder gegen die Abstammung des Kindes vom Beklagten sprechen,) steht die Gesamtwahrscheinlichkeit fest. Und erst danach, d. h. aufgrund der Gesamtwahrscheinlichkeit oder - wie § 1600 0 Abs. 2 Satz 2 sagt: " ... nach Würdigung aller Umstände ... " - darf die Entscheidung getroffen werden. Eine exakt bezifferbare Zusammenfassung der Wahrscheinlichkeitswerte hätte allerdings zur Voraussetzung, daß auch die morphologische Begutachtung in einer Prozentzahl zusammengefaßt ausgedrückt wird. Dies ist bekanntlich in aller Regel nicht der Fall. Doch ist die Zusammenfassung VOn Indizien, die die Gestalt von Wahrscheinlichkeitswerten angenommen haben, eine typische, bei der Beweiswürdigung zu überwindende Schwierigkeit. Darin, daß der IV. Zivilsenat des BGH nicht auf die Erhöhung der serostatistisch ermittelten Wahrscheinlichkeit durch das in die gleiche Richtung weisende Ergebnis der morphologischen Begutachtung hingewiesen hat, sehe ich einen Verstoß gegen "Denkgesetze" . 1.2. Trotz der - in sich folgerichtigen - Argumentation, wonach die "überwiegende relative Wahrscheinlichkeit" schon deshalb nicht berücksichtigt werden könne, weil bei erwiesenem Mehrverkehr (d. h. wenn der Mehrverkehrszeuge in die sero-statistische Berechnung einbezogen werden kann) die Vaterschaftsfeststellung schließlich nicht "leichter" sein dürfte, als wenn Mehrverkehr nur allgemein behauptet, aber nicht bewiesen wurde, halte ich die These des IV. Zivilsenats, daß der Mann, dessen Vaterschaft wahrscheinlicher ist als die der übrigen Männer, nicht "als Vater herausgegriffen werden" dürfe, für falsch. Welcher Mann sollte denn sonst herausgegriffen werden? Diese Äußerung ist jedoch auch in anderer Hinsicht bedenklich: Eine Vaterschafts wahrscheinlichkeit VOn 4,7 {l/o besagt, daß der Zeuge mit einer Zutreffenssicherheit von 95,3 0 10 nicht der Vater sein kann. Sollte er - und so klingt die Bemerkung des IV. Zivilsenats - auch die Vaterschaft des Zeugen für "wahrscheinlich" gehalten haben, so spräche daraus eine bedenkliche Unkenntnis der Grundvorstellungen der Wahrscheinlichkeitslehre. Ähnliches, wenn auch mit umgekehrtem Vorzeichen, gilt für die m. E. ungerechtfertigte Abwertung des Ergebnisses des morphologischen Gutachtens! Indem er sich eine andere Antwort für den Fall vorbehält, daß nachweislich alle in Betracht kommenden Mehrverkehrszeugen in die serostatistische
§ 32 Grundsatzurteil des IV. Zivilsenats des BGH zu § 1600 0 BGB
183
Untersuchung einbezogen werden konnten, hält sich der IV. Zivilsenat eine Hintertür offen. Er verkennt jedoch, daß durch die Einbeziehung des unbekannten Dritten in das Wahrscheinlichkeitskalkül diesem Gesichtspunkt schon Rechnung getragen wurde. Die Einschränkung dürfte eher eine gewisse Unsicherheit andeuten. Der Fehler steckt in meinen Augen in der Prämisse, wonach für eine positive Vaterschaftsfeststellung ein hoher (oder höchster) WahrscheinIichkeitsgrad, der nach der vorliegenden BGH-Entscheidung irgendwo zwischen "über 92,5 0/0" und ,,100 %" liegt, gefordert wird; mit anderen Worten, daß nicht das überwiegensprinzip, sondern sozusagen ein "abgeschwächter Vollbeweis" als Entscheidungskriterium dient. Auf diese mögliche Fehlerquelle gehen die Entscheidungsgründe indessen nicht ein. 1.3. Eine weitere, wenn auch weniger gravierende Unkorrektheit könnte schließlich darin gesehen werden, daß die Entscheidungsgründe auf das Merkmal "Verbleiben von schwerwiegenden Zweifeln" abstellen, obwohl wegen angeblich fehlendem Nachweis des Beischlafs des Beklagten während der Empfängniszeit in diesem Falle die Vermutung gemäß § 16000 Abs.2 genau genommen gar nicht eingreift, sondern unmittelbar gemäß § 1600 0 Abs. 1 zu entscheiden war. Den Ausführungen des IV. Zivilsenats käme somit nur die Bedeutung von Hilfserwägungen zu - etwa derart: "Selbst für den Fall, daß der Beklagte der Mutter während der Empfängniszeit beigewohnt hat, verbleiben schwerwiegende Zweifel an seiner Vaterschaft, da ...". Offenbar neigt der IV. Zivilsenat dazu, der Vorschrift des § 16000 Abs.2 einen "weiten" Anwendungsbereich einzuräumen. Möglicherweise ist sein Motiv hierfür, daß die von dieser Vorschrift bezweckte Abmilderung der "strengen" Beweisanforderungen in Statussachen dem klagenden Kind zugute kommen soll, - ein Motiv, welches in die richtige Richtung weist.
2. Kritik an den allgemeinen Richtlinien dieser Entscheidung Der letztgenannte Gesichtspunkt der Beweiserleichterung leitet über zu den allgemeinen Richtlinien, auf welchen ja das Schwergewicht liegen soll (BGHZ 61 S. 167-173): Das Gericht befaßt sich insoweit mit zwei Komplexen: 2.1. Beweiserleichterung nach § 16000 Abs.2 BGB (S. 167-170); 2.2. Vorrangige Bedeutung der medizinischen Begutachtung (S. 170173). Zum Komplex unter 2.1. wird vom IV. Zivilsenat nacheinander auf folgende Gesichtspunkte hingewiesen:
184 3.2. Analyse und Vergleich einiger höchstrichterlicher Entscheidungen -
Die Beweiserleichterung bestehe in einer an die erwiesene Beiwohnung anknüpfende Vaterschaftsvermutung, die jedoch - im Unterschied zu einer normalen Vermutung, die nur dem vollen Gegenbeweis zu weichen habe, - schon durch verbleibende schwerwiegende Zweifel an der Vaterschaft widerlegbar sei.
-
Ausweislich der Materialien bezwecke diese Regelung die größtmögliche übereinstimmung zwischen Urteilsspruch und wahrer Abstammung; dazu solle - wie wiederum aus den Materialien zu entnehmen sei - angesichts der fortgeschrittenen medizinischen Erkenntnisse ein Wahrscheinlichkeitsgrad genügen, bei welchem keine schwerwiegenden Zweifel (d. h. allenfalls geringe Zweifel) an der Abstammung verbleiben. Das Gericht müsse wegen der ihm nach § 16000 Abs. 1 BGB gestellten Aufgabe alle zur Verfügung stehenden, eine weitere Aufklärung versprechenden Beweise erheben.
-
Die Grenze des "Irrtumsrisikos" könne dem Richter ohne Verstoß gegen das Prinzip der freien richterlichen Beweiswürdigung nicht vorgeschrieben werden. Nur wenn er seiner Entscheidung ein zu extrem hohes oder geringes Irrtumsrisiko zugrundegelegt habe, könne das Revisionsgericht die tatrichterliche Entscheidung überprüfen.
-
Bei der Anwendung des Merkmals "schwerwiegende Zweifel" sei schließlich einerseits zu beachten, daß die Feststellung der Abstammung nicht über Gebühr erschwert werden dürfe, andererseits würde es gegen den nach Artikel 6 Abs. 1 GG gebotenen Schutz von Ehe und Familie verstoßen und ein schwerwiegender Eingriff in das Persönlichkeits recht des betreffenden Mannes bedeuten, wenn der Vermutung des § 1600 0 Abs. 2 BGB ein zu weiter Raum eingeräumt würde. Für den Fall des Mehrverkehrs der Mutter sei - folgerichtig - die Vaterschaftsfeststellung nach neuem Recht gegenüber der Feststellung der Zahlvaterschaft des alten Rechts erschwert worden.
Mit anderen Worten will das Gericht, wenn ich recht sehe, zum Ausdruck bringen:
....:.... § 1600 0 Abs. 2 BGB bringe zwar gemessen an den Beweisanforde-
rungen der bisherigen Statusklage eine gewisse Beweiserleichterung für das Kind, die jedoch nicht überschätzt werden dürfe. In jedem Fall gelte das Gebot, alle verfügbaren Beweismittel auszuschöpfen. Im übrigen würde jedoch eine exakte Präzisierung, welcher Grad objektiver Unwahrscheinlichkeit mit schwerwiegenden subjektiven Zweifeln gleichzusetzen sei, einen unzulässigen Eingriff in die tatrichterliche Beweiswürdigung bedeuten.
Dem Gebot, alle eine weitere Aufklärung versprechenden Beweismittel auszuschöpfen, ist, wenn auch nicht vorbehaltlos, zuzustimmen. Die Unterscheidung zwischen voller Aufklärung einerseits und Beweisanforderungen andererseits findet sich bei LeipoZd (FamRZ 1973 S. 65-77, 68 ff., 70 ff.), auf dessen Arbeit sich der IV. Zivilsenat aus-
§ 32 Grundsatzurteil des IV. Zivilsenats des BGH zu § 1600 0 BGB
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drücklich bezieht; sie entspricht der in dieser Studie vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen Entscheidungsreife und Entscheidungsgrenze. Hingegen kann den anderen beiden Gesichtspunkten nicht ohne weiteres Beifall gezollt werden. Sowohl die Warnung vor einer zu weit gehenden Beweiserleichterung als auch die Ansicht, daß durch eine präzise Fixierung der Entscheidungsgrenze in die freie Beweiswürdigung eingegriffen würde, beruhen auf unklaren Vorstellungen darüber, wie ein Höchstmaß an übereinstimmung zwischen der Aussage über die Abstammung (Bejahung oder Verneinung der Vaterschaftsfeststellung) und der wirklichen Abstammung sicherzustellen ist. Diese Unklarheit ist zurückzuführen auf eine unkritische übernahme von Vorstellungen aus der Logik und aus den empirischen Naturwissenschaften, die vom BGH auch für die gerichtliche Tatsachenfeststellung als richtungsweisend angesehen werden. Immerhin taucht in den Entscheidungsgründen der Ausdruck "Irrtumsrisiko" auf und werden die Interessen des Mannes auf der einen und des Kindes auf der anderen Seite gegeneinander abgewogen. Dies könnte als ein erster Schritt in die Richtung gedeutet werden, der diese Studie den Weg ebnen möchte. Indessen bleibt es - wie ich meine, bedauerlicherweise - dabei, daß sich der IV. Zivilsenat aus den Verstrikkungen der herrschenden deutschen Beweistheorie auch mit dieser Grundsatzentscheidung nicht zu lösen versucht hat. Zu dem Komplex unter 2.2. gibt das Gericht so dann einen gedrungenen überblick über das gar nicht einfache Gebiet der erbbiologischen Vaterschaftsbegutachtung. Dabei steht die für die praktische Rechtspflege so wichtige Frage der Aussagekraft der verschiedenen medizinisch-mathematischen Methoden der erbbiologischen Vaterschaftsbegutachtung im Vordergrund. Eingangs wird die kardinale Bedeutung hervorgehoben, die der medizinischen - und hier insbesondere der serologischen - Begutachtung zukommt. Dabei wird auf die weitreichende Möglichkeit, auf serologischem Wege Nichtväter auszuschließen (nach Ritter FamRZ 1973 S. 121: 93 0 / 0) sowie auf die Möglichkeit eines positiven Vaterschaftshinweises durch sero-statistische Auswertung und auf die überlegenheit dieser Methode in puncto Exaktheit gegenüber der morphologischen Begutachtung (l?) hingewiesen. Diese Betonung der medizinischen Vaterschaftsbegutachtung erscheint insofern etwas verwunderlich, da - jedenfalls hierzulande Sturm auf eine schon eroberte Festung gelaufen wird. Das Gericht läßt allerdings an späterer Stelle (BGHZ 61 S. 172 f.) eine gewisse Einschränkung folgen, indem es betont, auch bei einer hohen Vaterschafts-
186 3.2. Analyse und Vergleich einiger höchstrichterlicher Entscheidungen wahrscheinlichkeit (99010) könnten durchschlagende Beweismittel anderer Art "schwerwiegende Zweifel" im Rechtssinne begründen. Auch bezüglich der zunächst (S. 171) "als rechnerisch einwandfrei" hingestellten Essen-Möller-Formel macht es später (S. 173) Abstriche, indem es die Ansicht von Kritikern dieser Formel wiedergibt, welche dargetan hätten, daß der Beweiswert dieser Formel überschätzt werde. Ferner beschäftigt sich das Gericht - und dies ist wohl nach seiner Ansicht der springende Punkt - mit der "Umsetzung" von Wahrscheinlichkeitswerten, die in Frequenzverhältnissen ausgedrückt sind, in verbale Wahrscheinlichkeitsstufen und so dann in die subjektive Bewertung durch den Richter ("freie überzeugung des Gerichts" im Sinne von § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Entscheidend ist der zweite Schritt dieser Umsetzung. Gerade hier weicht der IV. Zivilsenat jedoch einer klaren Stellungnahme aus. Er lehnt - wie schon erwähnt - ausdrücklich die von Leipold geforderte Festlegung einer "absoluten Wahrscheinlichkeit", also die Präzisierung der Entscheidungsgrenze durch Angabe eines Wahrscheinlichkeitsgrades, ab. Jedenfalls in bindender Form sei dies nicht möglich, da der Tatrichter einerseits selbst bei einem hohen sero-statistischen Wahrscheinlichkeitswert angesichts anderer durchgreifender Beweismittel sehr wohl zu Recht schwerwiegende Zweifel an der Vaterschaft haben könne und andererseits auch bei einem weniger hohen serologischen Wahrscheinlichkeitswert, der allein für eine Vaterschaftsfeststellung nicht ausreichen würde, eine solche aufgrund bestätigender anderer Indizien zulässig sein müsse. Diese überlegung ist für sich genommen zutreffend. In der Tat ist auch der sero-statistisch ermittelte Wahrscheinlichkeitswert zugunsten der Vaterschaft eines bestimmten Mannes nichts anderes als ein Indiz, das durch andere Indizien bestätigt oder aber auch widerlegt werden kann. Die überlegung kann jedoch nicht gegen die Präzisierung des Wahrscheinlichkeitsgrades im Sinne der Fixierung der Entscheidungsgrenze für die Letztentscheidung ins Feld geführt werden. Denn an dieser wird nicht etwa der Wahrscheinlichkeitswert eines einzelnen Indizes, sondern immer nur der Gesamtwahrscheinlichkeitswert, der sich bei Zusammenfassung sämtlicher Indizien ergibt, gemessen. Entscheidungsreife vorausgesetzt kann sich dieser Gesamtwahrscheinlichkeitswert nicht mehr "durch andere durchschlagene Beweismittel" ändern, denn alle verfügbare Information ist in ihn eingegangen. Die Entscheidungsgrenze für zweistellige Alternativentscheidungen mit symmetrischen Irrtumsfolgen beträgt, wie an anderer Stelle dargetan (§ 18.2), aber 50 (J/o (überwiegensprinzip).
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§ 33 Grundsatzurteil des House of Lords zur Zulässigkeit und zum Beweiswert des serologischen Gutachtens im Abstammungsstreit
1. Bericht Schon drei Wochen nach dem Inkrafttreten des Reformgesetzes von 1969 am 1. Juli 1970 hatte das House of Lords Gelegenheit, zur Zulässigkeit und Bedeutung serologischer Untersuchungen im Streit um die Abstammung eines Kindes Stellung zu nehmen; das höchste Gericht, das gebildet wurde von Lord Reid, Lord MacDermott, Lord Morris of Borth-y-Gest, Lord Hodson und Lord Guest, benutzte sie zu grundlegenden Ausführungen in der Sache S. v. McC.; W. v. W. (H. L. [E.]),t die ich hier ausführlich wiedergeben möchte, obwohl die Entscheidungs grenze nur am Rande eine Rolle spielt. Das Urteil betrifft zwei wegen ihrer Gleichartigkeit und grundsätzlichen Bedeutung miteinander verbundene Fälle, in welchen es - im Zuge von Scheidungsverfahren - um die Vaterschaft (genauer: NichtVaterschaft) des Ehemannes, also im Sinne des deutschen Rechts um die Anfechtung der Ehelichkeit, ging. Nach sechstägiger (1) mündlicher Verhandlung und gut vierwöchiger Bedenkzeit entschied das House of Lords einstimmig, daß es für die Frage der Ehelichkeit eines Kindes sowohl den Interessen des Kindes als auch denen der Rechtspflege entspreche, wenn dem Gericht die verfügbaren besten Beweismittel wie Blutgruppengutachten, welche die Streitfrage möglicherweise schlüssig zu beantworten in der Lage seien, vorlägen und daß den Interessen des Kindes am besten gedient sei, wenn der Wahrheit entsprechend erkannt werde. Im erstgenannten Fall waren die Eheleute fast 20 Jahre verheiratet gewesen und hatten drei inzwischen halbwüchsige Kinder bekommen, an deren Ehelichkeit kein Zweifel besteht. Der Ehemann bestritt, Vater des nachgeborenen vierten Kindes zu sein und erhob Scheidungsklage wegen Ehebruchs, der von der Mutter eingeräumt wurde. Auch hatte sie den Ehebruchszeugen gerichtlich wegen Unterhalt für das Kind in Anspruch genommen. Auch im zweiten Falle waren die Ehegatten mehrere Jahre verheiratet gewesen und hatten zwei eheliche Kinder. Die Ehefrau hatte mit den Kindern ihren Mann verlassen und war in eine andere Stadt gezogen, wo das dritte Kind nach sechs Monaten geboren wurde. Sie selbst erhob Scheidungsklage wegen "cruelty". Auf Bitte des Ehemannes sandte sie diesem fast zwei Jahre später eine Fotografie ihrer drei Kinder, welche eine große Verschiedenheit zwischen den beiden älteren und dem jüngsten Kind zeigte. Aufgrund eines Ehebruchsgeständnisses seiner Frau erhielt er auf seinen Antrag den vorläufigen Scheidungsausspruch wegen dieses Ehebruchs. 1
Urteil vom 23. Juli 1970, 1970 3 W.L.R. p.366-389.
188 3.2. Analyse und Vergleich einiger höchst richterlicher Entscheidungen Im ersten Falle stammte der Ehebruchszeuge aus Pakistan, im zweiten Falle aus Westindien. Die Grundsatzentscheidung des House of Lords war notwendig geworden, weil der Court of Appeal (jeweils bei einer Gegenstimme) sich im einen Falle für und im anderen Falle gegen die Zulässigkeit eines Blutgruppengutachtens ausgesprochen hatte. (Auch die erstinstanzlichen Entscheidungen waren gegenläufig; im ersten Falle hatte der Richter dem Antrag des Ehemanns auf Anordnung eines Blutgruppengutachtens stattgegeben, im zweiten Falle .war dieser Antrag abgelehnt worden. Der unmittelbare Gegenstand sowohl der Entscheidungen des Court of Appeal als auch des House of Lords war hier nicht die Vaterschaft des Ehemannes (oder, was hier dasselbe ist, die Ehelichkeit des Kindes), sondern die Frage, ob es rechtens ist, in einem solchen Verfahren auf Antrag der einen oder anderen (oder auch beider) Seite eine das Kind einbeziehende Blutgruppenbegutachtung gerichtlich anzuordnen. Verdeutlichen wir uns zunächst die prozessuale und materiell-rechtliche Ausgangslage, die wir im vorliegenden Falle nach englischem Recht antreffen: Der vorläufige Scheidungsausspruch (decree nisi) , der in beiden Fällen auf Antrag des Ehemannes wegen Ehebruchs ergangen war, kann erst dann endgültig bestätigt werden, wenn dem Gericht nachgewiesen wird, daß für die aus der Ehe hervorgegangenen Kinder hinsichtlich der Personensorge und des Unterhalts seitens der Beteiligten zureichende Vorkehrungen getroffen sind, das heißt, daß eine Einigung - oder mangels Einigung eine gerichtliche Entscheidung - über das Sorgerecht und die Unterhaltspflichten nachgewiesen werden müssen. Dabei ist - insbesondere bei der Entscheidung über das Sorgerecht (custody) ---.:. das KindesWohl der ausschlaggebende Gesichtspunkt. Vorfrage für die Unterhalts- und Sorgerechtsentscheidung ist die Frage, für welche Kinder zureichende Regelungen zu treffen sind. Ehebrecherisch gezeugte Kinder gehören nicht dazu. Folglich kommt es darauf an, ob der Ehemann der Vater ist oder nicht. In beiden Fällen war vom Gericht in Einvernehmen mit den beiden Parteien angeordnet worden, daß ausschließlich diese Vorfrage dem Gericht zur Entscheidung vorgelegt wird (separate trial of the issue as to legitimacy). Im Rahmen dieses abgetrennten Verfahrens zur Entscheidung einer Vorfrage hatte, wie erwähnt, der erstinstanzliche Richter im einen Fall eine Blutgruppenuntersuchung unter Einbeziehung des Kindes angeordnet, im anderen Fall die beantragte Anordnung eines solchen Gutachtens abgelehnt. Prozeßparteien sind die Parteien des Scheidungsverfahrens; zur Wahrnehmung der Interessen des Kindes in diesem Rechtsstreit ist als Pfleger (guardian ad litern) der Official Solieitor bestellt worden. Dieser hatte in beiden Fällen die Rechtsauffassung vertreten, daß ein Blutgruppengutachten nur angeordnet werden dürfe, wenn dies dem Interesse des Kindes dienlich sei, was wegen der Gefahr der Aberkennung der Ehelichkeit jedoch nicht der Fall sei. -
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2. Spezielle Fragestellung Damit sind wir bei der eigentlichen Sachfrage angelangt: Unter welchen Voraussetzungen ist nach englischem Recht die Anordnung eines Blutgruppengutachtens zulässig und geboten, wenn von dieser Anordnung ein zur Selbstbestimmung noch unfähiges Kind betroffen ist? Vorauszuschicken ist, daß nach englischem Recht - anders als nach deutschem - Blutentnahmen nur mit Zustimmung der Betroffenen zulässig sind. Unmittelbarer Zwang gegen volljährige und geschäftsfähige Personen ist nur in durch Gesetz oder hergebrachte common-Iaw-Befugnisse vorgesehenen Fällen in Zusammenhang mit Verbrechensbekämpfung und ähnlichem vorgesehen. Auch die eingehende Regelung für Blutgruppengutachten zur Bestimmung der Vaterschaft im Family Law Reform Act 1969 hat ausdrücklich an diesem Zustimmungserfordernis festgehalten (sect. 21 subs. 1); allerdings sind die Gerichte ermächtigt, aus der Verweigerung der Zustimmung, insbesondere aus den hierfür geltend gemachten Gründen, Schlußfolgerungen zu ziehen, die in Anbetracht der Umstände angemessen erscheinen (sect. 23). Lord Reid (N. 1 p. 374) sieht den Rechtsgrund nicht darin, daß niemand gezwungen werden soll, Beweismittel zu liefern, die gegen ihn verwendet werden können. Denn dies fordere das Recht häufig, etwa bei der Aufdeckung von Urkunden (discovery of documents) und in ähnlichen Fällen. Der wirkliche Grund sei, daß das englische Recht die persönliche Freiheit einer volljährigen und geschäftsfähigen Person in sehr weitgehendem Maße schütze.
"Zu oft haben wir in anderen Ländern die Freiheit verschwinden sehen, nicht nur durch Staatsstreich, sondern durch allmähliche Erosion; und oft ist es der erste Schritt, der zählt. Es wäre daher unklug, auch nur geringfügige Konzessionen zu machen." Zwar treffe zu, daß diese Frage etwa in den Vereinigten Staaten anders gesehen werde. Nach der Gesetzgebung einer Reihe von Einzelstaaten würden dort auch Erwachsene der Blutgruppenuntersuchung unterworfen. In England jedoch habe das Parlament eindeutig das bisherige Recht bestätigt. Bei einem Minderjährigen unter 16 Jahren ist die Zustimmung des Sorgeberechtigten erforderlich (sect. 21 [3]); die Zustimmung eines Minderjährigen über 16 Jahren wird der eines Volljährigen gleichgestellt (sect. 21 [2]). Zwar war das Reformgesetz 1969, das am 1. Juli 1970 inkraft getreten ist, im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem House of Lords noch nicht wirksam. Gleichwohl nehmen die Law-Lords auf seine Bestimmungen Rücksicht, da sie voraussichtlich noch vor Abschluß der beiden Verfahren wirksam würden; dem höchsten Gericht oblag ja nur, im Rahmen eines Zwischenstreites die Entscheidung darüber zu treffen, ob überhaupt ein serologisches Gutachten eingeholt werden sollte oder nicht. Tatsächlich hatten sich in beiden Fällen beide Elternteile für Blutgruppengutachten ausgesprochen. Indessen enthält das englische Ver-
190 3.2. Analyse und Vergleich einiger höchstrichterlicher Entscheidungen fahrensrecht für diesen speziellen Fall eine Sondervorschrift, wonach die Zustimmung zur Blutuntersuchung praktisch dem Offieial Solieitor vorbehalten ist.2 Dementsprechend faßt Lord Morris 0/ Borth-y-Gest die in diesem Zwischenstreit zu entscheidende Frage dahingehend zusammen, daß der Offieial Solieitor das Gericht um Weisung ersuchte, ob die Zustimmung in Vertretung des Kindes gegeben oder nicht gegeben werden soll (N. 1. p. 383).
3. Begründungen der LordTichter Wie erwähnt, haben alle fünf Law Lords, und zwar, wie wir sehen werden, mit im wesentlichen übereinstimmenden Begründungen sich für die Zustimmung zur Anordnung einer Blutuntersuchung ausgesprochen; nur in besonders gelagerten Fällen könne sie verweigert werden. Der in allen vier Begründungen wiederkehrende, tragende Gesichtspunkt ist dieser::! Die Gerechtigkeit fordere, daß das Gericht die zutreffende Entscheidung findet. Daher seien dem Gericht die bestmöglichen Beweismittel zugänglich zu machen. Der Nachweis, daß die Einholung einer Blutuntersuchung den Interessen des Kindes förderlich ist, sei nicht erforderlich, wenngleich Fälle denkbar seien, in welchen der gebotene Schutz der Interessen des Kindes fordere, dieses Beweismaterial auszuschließen. Doch wenden wir uns den Begründungen im einzelnen zu: Lord MaeDermott (N. 1 p.376-382), dem vor allem Lord Hodson (p.386-389) beipflichtet, baut seine Argumentation auf die Unterscheidung zweier Kategorien auf, in welche die Pflicht des High Court in Kindschaftssachen zerfalle: Einerseits die Zuständigkeit, Kinder, die in Rechtsstreitigkeiten verwickelt sind, zu schützen (proteetive jurisdietion) und andererseits die darüber hinausgehende Zuständigkeit zur Wahrnehmung sorgerechtlicher und vormundschaftlicher Aufgaben (custodial jurisdiction - p. 378 f.). (Zuvor hatte er die Frage untersucht und bejaht, ob die Gerichte überhaupt eine Zuständigkeit zur Anordnung von Blutuntersuchungen besitzen und ob diese Zuständigkeit auch gegenüber Kindern gegeben ist). Nur im Rahmen der custodial jurisdiction gelte der Satz, wonach das Kindeswohl der erste und überragende Gesichtspunkt sei (seet. 1 Guardianship of Infants Act 1925). Ein solcher Vorrang der Interessen des Kindes sei hingegen bei der protective jurisdiction nicht gegeben. "Es darf nicht zugelassen werden, daß ein Kind wegen seiner Geschäftsunfähigkeit Nachteile erleidet. Indessen besteht ! Practice Direction (Official Solicitor) Order Appointing as Guardian ad litem (1968) 1 W.L.R. p. 1853. 3 Lord Guest verzichtete auf eigene Ausführungen und schloß sich der Begründung von Lord Reid an.
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das Ziel darin, seine Rechte zu wahren, und nicht darin, es über das Recht zu stellen und seinen Rechten Vorrang vor denen anderer einzuräumen." Auch im Rahmen der proteetive jurisdietion sei der Ausschluß von Blutuntersuchungen denkbar, etwa wenn die Blutentnahme gesundheitsschädlich wäre oder das Gericht Grund zur Annahme hätte, daß ein unzulässiger Ausforschungsbeweis begehrt wird. "Worauf es ankommt, ist, daß die proteetive jurisdietion, wenn ich ihre Natur richtig gekennzeichnet habe, unter gewöhnlichen Umständen keinen Grund liefert nur deshalb eine Blutuntersuchung zu verweigern, weil es, indem es die Wahrheit enthüllt, zum Nachweis der Unehelichkeit des Kindes in einem ordnungsgemäß betriebenen Vaterschaftsverfahren führt." Die Antwort würde anders lauten, wenn es sich um eine Sorgerechtsentscheidung handeln würde, weil hier der Vorrang des Kindeswohls (seet. 1 Guardianship of Infants Aet 1925) gilt. Hier gehe es jedoch nicht um das Sorgerecht, sondern um die Vaterschaftsfrage. Seet. 1 erwähne u. a. das Sorgerecht oder die Erziehung eines Kindes, nicht aber die Vaterschaft. Zwar wäre es ein Rückschritt, wenn man anfangen würde, an dem Regelungsgehalt von seet. 1 herumzustutzen; genauso mißlich wäre es jedoch, wenn man sich gezwungen sehen würde, dieses oberste Kriterium (des Kindeswohls) auf eine andere Tatsachenfeststellung anzuwenden, welche nicht anhand der besten, verfügbaren Beweismittel gefunden wurde. Würde umgekehrt die Zulässigkeit eines Beweismittels am Kindeswohl zu messen sein, so wäre die Folge ein unerträglicher Konflikt zwischen den Interessen der Gerechtigkeit und dem Vorteil des Kindes, ganz abgesehen davon, daß es in den meisten Fällen äußerst schwierig sein dürfte, zu ermitteln, was dem Kind am meisten nützt. Lord MaeDermott schließt mit dem Hinweis auf seet. 26 Reformgesetz 1969, der die Ehelichkeitsvermutung zu eine Frage der Wahrscheinlichkeit reduziert habe. Zusammen mit der Zulassung von Blutuntersuchungen könne dies, was er nicht hoffe, zu einer Zunahme der Vaterschaftsstreitigkeiten und hierdurch zu einer Verunsicherung der Stellung von Kindern führen. Er halte jedoch eine solche Auswirkung nicht für unvermeidlich. Sollte sie jedoch eintreten, so wäre die eigentliche Ursache nicht die Verwendung der serologischen Wissenschaft bei der Suche nach der Wahrheit, sondern vielmehr die Veränderungen, die sich im Bereich der Ehe- und Familienbeziehungen eingestellt und in der Gesetzgebung niedergeschlagen hätten. Wie schon angedeutet, hebt auch Lord Hodson die unterschiedliche Funktion hervor, die das Gericht zum Schutz des Kindes bei einem Rechtsstreit um die Vaterschaft (Ehelichkeit) einerseits und bei einer Sorgerechtsentscheidung andererseits hat. "Das Kind bedarf des Schutzes, aber dies rechtfertigt nicht, daß man seine Rechte als höherrangig ansieht als die Rechte anderer." Zu dem Argument, das Kind müsse vor der ihm nachteiligen Feststellung der Unehelichkeit bewahrt werden, bemerkt er - neben dem Hinweis auf die weitreichende Gleichstellung aller Kinder durch die neuere Gesetzgebung -, daß es keineswegs einfach sei, sich Fälle vorzustellen, bei welchen es für das Kind trotz tatsächlicher Unehelichkeit wirklich von Vorteil sei, wenn sein rechtlicher Status der Ehelichkeit (vorläufig) gewahrt würde. In den Reden von Lord Reid und Lord Morris of Borth-y-Gest findet sich die Unterscheidung zwischen proteetive jurisdietion und eustodial jurisdietion nicht. Sie sehen die Aufgabe darin, diejenige Entscheidung zu treffen, die
192 3.2. Analyse und Vergleich einiger höchstrichterlicher Entscheidungen
sowohl den Interessen der Gerechtigkeit als auch denen des Kindes entspricht (N. 1 p. 375, 383). Unter Hinweis auf eine frühere Entscheidung' gelangt Lord Reid zum Ergebnis, daß das Gericht die Blutentnahme von einem kleinen Kind zuzulassen hat, außer wenn dies im Widerspruch zu den Interessen des Kindes steht. Zur Auslegung der neuen gesetzlichen Vorschrift über die Befugnis des Gerichts, Blutuntersuchungen zur Bestimmung der Vaterschaft (seet. 20 [1] Reformgesetz 1969) anzuordnen, bemerkt Lord Reid auf Frage der Anwälte lediglich, daß diese Kann-Vorschrift den Untergerichten keine unumschränkte Ermessensbefugnis verleihe, was zu endlosen Auseinandersetzungen und unerwünschten Unterschieden von einem Gericht zum anderen führen würde, sondern daß die höheren Gerichte die Leitlinien abzustecken hätten, an welchen sich die Untergerichte orientieren könnten (p. 376). Besonders eingehend setzt sich Lord Morris of Borth-y-Gest mit den für das Kind auf dem Spiele stehenden Vor- und Nachteilen auseinander (p. 382-386): Daß, wenn möglich, das Gericht die besten Beweismittel zur Verfügung haben solle, sei ganz offenkundig ("self-evident"). Doch müsse das Gericht zugleich auch stets die Interessen und das Wohl der Kinder mit allem Nachdruck schützen und sicherstellen. Und zwar bezüglich aller gegenwärtigen und künftigen Aspekte. Das Gericht habe angesichts der Tatsachen und Umstände des besonderen Falles zu entscheiden, ob die Interessen des Kindes dergestalt seien, daß ihr Schutz es notwendig mache, Beweismittel, die sehr wesentlich sein mögen, dem Gericht vorzuenthalten. Die Entscheidung könne nur nach Prüfung und Abwägung aller Gesichtspunkte getroffen werden. Allerdings sei die Argumentation, wonach mittels Blutuntersuchungen wohl die Unehelichkeit, aber nicht die Ehelichkeit schlüssig zu beweisen sei und daher dieses Beweismittel nur zum Nachteil des Kindes führe, nur scheinbar gradlinig ("seemingly straight forward"). Denn die Frage der Ehelichkeit könne nur naeh Würdigung aller erheblichen Beweismittel gelöst werden. Wäre kein anderes Beweismittel gegeben als die Geburt des Kindes während der Ehe, so wäre die Ehelichkeit auch nicht in Zweifel gezogen. Bei strittigen Vaterschafts fällen lägen jedoch gerade solche anderen Beweismittel vor, nämlich die Aussagen der Ehegatten, die allerdings früher nicht oder in nur sehr beschränktem Umfange als zulässige Beweismittel infrage kamen. Das Gericht habe nach einer Abwägung der gesamten Beweismittel zu entscheiden. Die Vermutung der Ehelichkeit spiele dabei lediglich die Rolle eines Ausgangspunktes ("starting point"). Sei er einmal verlassen, so komme es nur noch auf die Wirkung und das Gewicht der Beweismittel an. Dies sei nun auch in seet. 26 Reformgesetz 1969 niedergelegt, wonach jedwede Rechtsvermutung betreffend die Ehelichkeit oder Unehelichkeit einer Person in zivilen Rechtsstreitigkeiten durch Beweismittel widerlegbar sei, die zeigten, daß ihre Ehelichkeit oder Unehelichkeit wahrscheinlicher sei als umgekehrt. Beweis über vernünftige Zweifel hinaus ("proof beyond reasonable doubt") sei nicht erforderlich, um die Vermutung der Ehelichkeit zu widerlegen. Das Ergebnis sei, daß wenn ein Ehemann die Vaterschaft eines während der Ehe geborenen Kindes bestreite und wenn in der Hauptverhandlung Beweis, In re K. (Infants) (1965) A.C. p. 201-244 enthält die Durchbrechung des Grundsatzes, daß nur solche Beweismittel der Entscheidung zugrunde gelegt werden dürfen, zu welcher sich die andere Seite äußern konnte, unter Berufung auf den Vorrang des Kindeswohls.
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mittel bezüglich der Ehelichkeit vorgebracht werden, das Gericht diese Beweismittel zu würdigen und nach dem überwiegensprinzip ("on a balance of probabilities") zu entscheiden habe, ob die Unehelichkeit dargetan sei. Immerhin könne es die Blutgruppenuntersuchung sein, die erst die Unehelichkeit des Kindes zeige. Aber spricht dies wirklich gegen die Anordnung einer Blutgruppenuntersuchung? Lord Morris macht darauf aufmerksam, daß über die Anordnung des Blutgruppengutachtens in aller Regel vor der Hauptverhandlung, also bevor ein Urteil darüber möglich ist, wie der Fall ohne Gutachten zu entscheiden wäre, zu befinden ist. Aber selbst wenn bei Anordnung des Gutachtens abzusehen sei, daß dieses die Feststellung der Unehelichkeit begünstigen wird, sei dies noch kein Grund, die Anordnung des Gutachtens abzulehnen. Schwerwiegende finanzielle Nachteile, welche früher mit der Unehelichkeit verbunden gewesen seien, seien durch neuere Gesetze beseitigt worden. Allerdings dürfe nicht verkannt werden, daß immer noch die Feststellung der Unehelichkeit mit Nachteilen für das Kind verbunden sei. Trotzdem müsse es im Interesse der Gerechtigkeit und im langfristigen Interesse des Kindes darauf ankommen, die richtige Antwort auf die Vaterschaftsfrage zu finden. Denn die Unsicherheit betreffend die Ehelichkeit sei infolge der Verneinung der Vaterschaft seitens des Ehemanns eine Tatsache im Leben des Kindes geworden. Es sei nicht so, daß erst durch die Anordnung des Gutachtens die Ehelichkeit des Kindes in Zweifel gezogen werde. Eine gerichtliche Entscheidung, die ohne Ausschöpfung der Beweismittel getroffen werde, habe wenig Aussicht, von den Betroffenen (hier vom Ehemann) wirklich anerkannt zu werden. Einen solchen "Vater" zu haben, sei wenig förderlich für das Wohl des Kindes, da ihm keine Anerkennung, keine Zuneigung und kein Wohlwollen entgegengebracht würden. Auch gegenüber der sonstigen menschlichen Umgebung des Kindes wirke es sich ungünstig aus, wenn der große Zweifel in unbefriedigender Weise vom Recht bestehen gelassen werde (auch wenn eine Schlußfolgerung zum Ausdruck gelangt sei) und dieser über dem ganzen zukünftigen Leben des Kindes schwebe. Eine Schlußfolgerung, die später als falsch entlarvt werden könne, könne niemandem Vertrauen oder Achtung einflößen. Lord Morris schließt: "Ich würde glauben, daß in den meisten, mit den vorliegenden vergleichbaren Fällen die Interessen eines Kindes am besten gewahrt werden, wenn die Wahrheit ermittelt wird." Lord Reid (p. 374) faßt seine Einschätzung der Kindesinteressen insoweit wie folgt zusammen: Er stimme der Auffassung zu, daß es in der Regel ("on average") ein beträchtlicher Nachteil sei, unehelich zu sein. Er zweifle jedoch, ob, wiederum in der Regel, dieser Nachteil wirklich sehr vermindert werden könne durch eine Entscheidung zugunsten der Ehelichkeit, wenn diese sichtbar - nach Verweigerung einer Blutuntersuchung - auf inadäquaten Beweismitteln beruhe. Er glaube, daß die endgültige Abschaffung der alten starken Ehelichkeitsvermutung durch sect. 26 Reformgesetz 1969 zeige, daß nach Auffassung des Parlaments ein besonderer Schutz des Status der Ehelichkeit durch das Recht seitens des öffentlichen Interesses ("public policy") nicht länger erforderlich sei.
13 Motsch
194 3.2. Analyse und Vergleich einiger höchst richterlicher Entscheidungen
4. Lord Reid zum Beweiswert eines serologischen Gutachtens Im Hinblick auf den Vergleich zwischen der Entscheidung des House of Lords und der des IV. Zivilsenats des BGH sind die Ausführungen von Lord Reid zum Beweiswert einer Blutuntersuchung ("evidential value of blood test") von besonderem Interesse (N. 1 p. 370-373). Blutuntersuchungen seien nunmehr in vielen Ländern seit vielen Jahren verbreitet im Gebrauch und es sei heutzutage allgemein anerkannt, daß, wenn eine Untersuchung ordnungsgemäß durch einen kompetenten Serologen ausgeführt wird, ihre Ergebnisse völlig zuverlässig seien. Er glaube, es gehöre heute zum allgemein gesicherten Wissen, daß Blut eine sehr komplexe Substanz sei, daß das Blut verschiedener Personen eine Vielzahl unterschiedlicher Bestandteile und Merkmale besitze und daß diese Bestandteile oder Merkmale von dem einen oder anderen Elternteil herstammen müssen. Er nehme an, daß Mutationen vorkommen könnten von derselben Art, wie sie durchweg im Tier- und Pflanzenreich vorkämen. Aber Mutationen seien so rar, daß ihr Vorkommen vernachlässigt werden könne, weil es uns nicht auf absolute Gewißheit, sondern nur auf einen ausreichenden Grad an Wahrscheinlichkeit ankomme. Daraus folge, daß, wenn das Blut eines Kindes irgendeinen Bestandteil oder ein Merkmal aufweise, das sowohl im Blut des Ehemannes als auch im Blut der Ehefrau fehle, der Ehemann nicht der Vater sein könne: Das Kind müsse diesen Bestandteil oder dieses Merkmal von einem anderen Mann, der sein Vater ist, erhalten haben. Dies sei nicht alles. Laut Erklärung eines angesehenen Serologen bestehe - durchschnittlich - eine Chance von 70 %, mit einer Blutuntersuchung, die die Mutter, das Kind und den Ehemann umfaßt, zu zeigen, daß der Ehemann nicht der Vater ist, wenn er tatsächlich nicht der Vater ist. Zwar seien Durchschnittswerte immer trügerisch. Zweifellos sei die Chance in manchen Fällen geringer, in anderen größer als 70°/". Doch wenn wir zu der Angelegenheit Stellung zu nehmen haben, besage dies wenigstens, daß eine sehr gute Chance besteht, daß der Ehemann, wenn er nicht der Vater ist, dies mit Hilfe der Blutuntersuchung beweisen kann. Doch was sei, wenn der Ehemann der Vater ist: Bietet die Blutuntersuchung sich auch in diesem Falle als Beweismittel an? Lord Rem zitiert wieder den angesehenen Serologen: "Derartige Untersuchungen zeigen, wie weit das Feld ist, aus welchem der Vater auszuwählen ist. Die Weite des Feldes hängt davon ab, welche Blutgruppen die Mutter und das Kind besitzen. Das heißt, die Blutuntersuchung zeigt, welche Gene das Kind von seinem Vater geerbt haben muß, und der Anteil der Männer, welche die notwendige Gengruppe besitzen, läßt sich errechnen." Er nehme an, daß diese Außerung auf den Umstand abstelle, daß einige Blutgruppen oder Untergruppen oder Merkmale sehr viel häufiger sind als andere. Wenn etwa die Blutuntersuchung zeigen sollte, daß die dem Vater und Kind gemeinsamen Merkmale herrühren könnten, sagen wir, von jedem zweiten Mann unserer Bevölkerung, dann hätte die Untersuchung keinen Beweiswert zugunsten der Vaterschaft des Ehemannes. Wenn hingegen die Merkmale so ungewöhnlich seien, daß, wenn sie nicht vom Ehemann herrühren, sie nur von einem Mann unter Tausend herrühren, dann würde das Ergebnis der Untersuchung die Vaterschaft des Ehemannes in sehr weit-
§ 34 Vergleich der beiden Grundsatzurteile
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gehendem Maße beweisen ("Beweisen" im Sinne des Wahrscheinlicherrnachens), da es sehr unwahrscheinlich sei, daß die Ehefrau zufällig mit diesem einen andern Mann unter Tausend, der dieses ungewöhnliche Merkmal besaß, Ehebruch begangen hat ("The result of the test would go a long way towards proving [in the sense of making it more probable than not] that the husband was in fact the father"). Und wenn es sich herausstellen sollte, daß nur ein Mann unter hundert oder ein Mann unter zehn der Vater sein könnte, wenn es nicht der Ehemann ist, würde dies die Vaterschaft des Ehemannes einigermaßen wahrscheinlich machen ("That might go some way towards making it probable that the husband was the father"). Eine solche Folgerung sollte nicht leichtfertig gezogen werden, aber sie sollte auch nicht ausgeschlossen sein. Dies scheine durch sect. 20 (2) (b) und (c) des Gesetzes von 1969 anerkannt zu sein (d~ § 31.3 a. E.). § 34 Vergleich der beiden Grundsatzurteile in ihrer Auswirkung auf nachgeordnete Gerichte
1. Bericht Anstatt einzelne Aspekte der beiden Grundsatzurteile einander gegenüberzustellen soll ein kurzer Blick auf die Rechtsprechung nachgeordneter Gerichte geworfen werden. Ich greife dazu das Urteil vom 31. Januar 19741 des IV. Zivilsenates (in Freiburg i. Br.) des OLG Karlsruhe und das Urteil vom 27. Dezember 19702 von Rees, Judge, im Falle T (H) v. T. (E) heraus. Beide Entscheidungen ergingen wenige Monate nach den jeweiligen Grundsatzurteilen und nehmen auf diese ausdrücklich bezug. Der IV. Zivilsenat des OLG Karlsruhe hatte über die - nichteheliche - Vaterschaft (und zugleich über die Zahlung des Regelunterhaltes) eines Mannes zu entscheiden, der der Mutter während der Empfängniszeit beigewohnt hatte. Die serostatistische Wahrscheinlichkeit seiner Vaterschaft war mit 70 Ofo berechnet, jedoch mit dem Zusatz versehen worden, daß dieser verhältnismäßig niedrige Wert seinen Grund in der besonders ausgeprägten Merkmalsübereinstimmung in der Mutter-Kind-Relation finde. Das morphologische Gutachten hatte das Ergebnis erbracht, daß die Parteien offensichtlich gemeinsames Erbgut hätten. Das Gericht lehnte die Vaterschaftsfeststellung gleichwohl ab, da schwerwiegende Zweifel nicht auszuräumen gewesen seien. Das Gericht selbst hat - nach detaillierter Darlegung - die für seine Entscheidung maßgebenden Gründe dahin zusammengefaßt, daß die Gutachten sich nicht mit Gewißheit für die Vaterschaft des Beklagten aussprächen, sondern sie nur für wahrscheinlich bzw. für uneingeschränkt möglich hielten. Demgegenüber sei erwiesen, daß die Mutter Männerbekanntschaften gegen1 2
OLG Karlsruhe FamRZ 1974 S. 263-266. Rees, J. in: T (H) v. T (E) (1971) 1 All E.R. p. 590-594.
196 3.2. Analyse und Vergleich einiger höchstrichterlicher Entscheidungen über nicht gerade zurückhaltend gewesen sei (wird ausgeführt). Wenn nach der neuesten Entscheidung des BGH ein Wahrscheinlichkeitswert von 70 Ofo nach der Methode von Essen-Möller für sich allein noch nicht die Feststellung begründe, daß ein bestimmter Mann der Vater sei, so seien andererseits die aufgezeigten sonstigen Umstände nicht geeignet, diesen Wahrscheinlichkeitsgrad zu erhöhen.
In dem von Rees, J. zu entscheidenden Fall ging es um die Vaterschaft eines mit der Mutter (noch) verheirateten Mannes (Beklagter), dessen Beiwohnung während der Empfängniszeit umstritten geblieben war; die Blutuntersuchung hatte ihn nicht als Vater ausgeschlossen, obwohl angesichts der Mutter-Kind-Konstellation nur einer von neun oder zehn Westeuropäern der Vater sein konnte (d. h. etwa 11 (J/o der Westeuropäer besitzen Blutmerkmale, die mit der Vaterschaft dieses Kindes dieser Mutter kompatibel sind). Der Richter bejahte die Vaterschaft. Die ausschlaggebende überlegung des Richters bestand darin, daß einerseits die Beiwohnung - trotz ungewöhnlicher Umstände - nicht unmöglich, ja nicht einmal unwahrscheinlich sei und andererseits das Ergebnis der Blutuntersuchung seine Vaterschaft immerhin bis zu einem gewissen Grade wahrscheinlich mache. Die jungen Leute, die bei Eheschließung ein vorehelich gezeugtes Kind erwarteten, hatten sich drei Wochen (!) nach der Eheschließung wieder getrennt. Versöhnungsversuche des Mannes waren erfolglos geblieben. Nach über drei Jahren hatten sie sich zufällig auf der Straße getroffen und waren etwa drei Stunden zu einem drink in einem Club zusammengeblieben. Die - bestrittene - Beiwohnung soll bei dieser Gelegenheit stattgefunden haben. Die Mutter litt an zeitweise mit Erinnerungsschwierigkeiten verbundenen geistigen Störungen.
2. Vergleich der Instruktionen der beiden Gerichte Führen wir uns nochmals die Instruktionen vor Augen, auf welche das deutsche Gericht einerseits und das englische andererseits zurückgegriffen haben: Die Instruktion für die Letztentscheidung wird vom IV. Zivilsenat des OLG Karlsruhe - entsprechende Ausführungen des BGH ohne eigenen Beitrag übernehmend 3 - dahingehend beschrieben, daß zur Gewährleistung einer möglichst weitgehend mit der wirklichen biologischen Vaterschaft übereinstimmenden Vaterschaftsfeststellung die Vermutung des § 16000 Abs. 2 BGB "schon dann nicht gelten" solle, wenn schwerwiegende Zweifel gegen die Abstammung sprechen. Dies bedeute, daß nicht, wie beim vollen Beweis eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit verlangt werde, sondern ein geringerer Wahrscheinlichkeitsgrad genügen solle, der eine Feststellung der Vaterschaft auch dann noch erlaube, wenn geringe Zweifel an der Abstammung verblieben seien; doch dürfe keinesfalls eine Person als Vater festgestellt werden, für deren Vaterschaft nicht einmal eine Wahrscheinlichkeit spreche. Damit sei nicht vereinbar, von der Feststellung der Vaterschaft erst 3
Wörtliches Zitat aus BGH, Urteil des IV. Zivilsenats vom 21. September
1973, FamRZ 1973 S. 62~26 (§ 32).
§ 34 Vergleich der beiden Grundsatzurteile
197
dann abzusehen, wenn die Zweifel an der Abstammung so schwer seien, daß diese der Annahme einer offenbaren Unmöglichkeit nahekäme. Vielmehr müßten an der Vaterschaft bestehende Zweifel bereits dann als schwerwiegend angesehen werden, wenn sie - um einen allerdings theoretisch kaum abgrenzbaren Teil - gewichtiger seien als geringe Zweifel. Auch Rees J. übernimmt ohne eigenen Beitrag als Instruktion für seine Letztentscheidung zwei Passagen aus der Rede von Lord Reid, die er wörtlich wiedergibt; es sind die Ausführungen zu sect. 26 Reformgesetz 1969 und zur Aussagekraft eines serostatistischen Vaterschafts-Wahrscheinlichkeitswertes (§ 33.3 a. E.). Die Passage zum Reformgesetz 1969 lautet: "Die Ehelichkeitsvermutung beschränke sich nunmehr darauf, die Beweislast zu bestimmen. Sobald Beweis angetreten sei, müsse er gewogen werden, ohne daß dabei die Vermutung der Ehelichkeit berücksichtigt werde. Selbst noch so schwache Beweismittel gegen die Ehelichkeit müßten durchschlagen, wenn sie nicht durch andere Beweismittel aufgewogen würden. Die Vermutung komme nur noch in dem sehr seltenen Fall zum Tragen, in welchem die Beweislage so ausgeglichen sei, daß das Gericht nicht zu einer Entscheidung kommen könne. Er könne sich nicht erinnern, jemals einen Fall - gleich welcher Art -'- gesehen oder von einem solchen Fall gehört zu haben, in welchem das Gericht nicht anhand der ihm unterbreiteten Beweise hätte zu einer Entscheidung gelangen können." -
Beiden Instruktionen gemeinsam ist, daß sie mit dem Begriff der Wahrscheinlichkeit operieren. Sie unterscheiden sich jedoch darin, daß die englische Instruktion eine klare Präzisierung der Entscheidungsgrenze im Sinne des Überwiegensprinzips enthält, während die deutsche in diesem Punkte ausdrücklich unklar bleibt: gefordert wird zwar nur ein geringerer Wahrscheinlichkeitsgrad als "an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit", d. h. keine Ablehnung der Vaterschaft wegen "geringer" Zweifel, jedoch Ablehnung immer dann, wenn die Zweifel gewichtiger sind als geringe Zweifel, und zwar "um einen allerdings theoretisch kaum abgrenz baren Teil" gewichtiger! 3. Weitere Bemerkungen zur deutschen Entscheidung Die Unsicherheit und Unklarheit der Instruktion ist, - ich bedauere es, dies sagen zu müssen, - nicht die einzige Schwäche der vom IV. Zivilsenat des OLG Karlsruhe gegebenen Entscheidungsgründe. Ebensowenig wie in denen des IV. Zivilsenats des BGH (§ 32.2) finden sich auch nur Ansätze eines Versuchs, den Gesamtwahrscheinlichkeitswert, der sich aus der serostatistischen und der morphologischen Begutachtung zusammengenommen ergibt, zu ermitteln. Mich befremdet die unkritische Übernahme der Ansicht des BGH, wonach die serostatistische Begutachtung der erbbiologischen (morphologischen) stets überlegen sei; richtig ist allerdings, daß die Häufigkeitsverteilungen der Blutmerkmalsysteme in der Bevölkerung genauer erfaßt sind, als diejenigen sonstiger Polymorphismen, so daß in der Regel das serologische Gutachten
198 3.2. Analyse und Vergleich einiger höchstrichterlicher Entscheidungen mit geringerem Aufwand genau bezifferte Hinweise liefern kann. Auch die Art und Weise, wie das Gericht sich auf die Behauptungen des Beklagten über den Lebenswandel (Ruf) der Mutter einläßt, halte ich nicht für fair. Nach allem spricht vieles dafür, daß der IV. Zivilsenat des OLG Karlsruhe sein Ziel, nämlich die mit der wirklichen biologischen Vaterschaft übereinstimmende Entscheidung zu treffen, verfehlt hat, da die Anhaltspunkte, die für die Vaterschaft des Beklagten sprechen, doch recht konkret sind, während die Indizien, die dagegen sprechen, bei näherem Zusehen vage bleiben und letztlich nichts anderes sind als die alte Mehrverkehrseinrede, in der das Gericht, ohne hierfür weitere Anhaltspunkte zu haben, ein gegen die Vaterschaft des Beklagten sprechendes Argument glaubt gefunden zu haben. Das eigentlich Beunruhigende an dieser Entscheidung ist für mich jedoch nicht, daß - möglicherweise - trotz allen Aufwandes an juristischen und naturwissenschaftlichen Energien ein Fehlurteil herauskam, obwohl auch dies schon bedenklich genug wäre. Beunruhigend ist, daß dieser ganze Aufwand gegen den Willen der Betroffenen getrieben werden konnte. Die Mutter hatte, wie aus den Entscheidungsgründen zu entnehmen ist, dem Amtsgericht mitgeteilt, sie habe an der Feststellung der Vaterschaft und Zahlung von Unterhalt kein Interesse und verzichte auf das Geld; ihr Kind habe durch ihre Heirat einen Vater bekommen und brauche keinen zweiten. Sie war trotz wiederhalter Einbestellung auch nicht zur Blutentnahme erschienen, so daß sie schließlich mit ihrem Kind durch den Gerichtsvollzieher vorgeführt werden mußte! Der jetzige Ehemann der Mutter hatte dem Kind seinen Namen gegeben und beide Ehegatten beabsichtigten, das Kind zu adoptieren. Angesichts dieser Umstände ist die Frage berechtigt, ob die Entscheidung vielleicht im Ergebnis nicht doch - unabhängig davon, ob der Beklagte das Kind gezeugt hat oder nicht -, richtig ist, weil, wie die Mutter meint, das Kind einen Vater hat und keinen zweiten braucht. Aber gerade wenn wir sie bejahen, zeigt sich das Unwesen eines solchen Prozesses in voller Schärfe. Denn wenn es im Hinblick auf die Zukunft des Kindes besser (also richtiger) ist, hier, wo es einen Stiefvater (Adoptivvater) gefunden hat, die Klage selbst dann abzuweisen, wenn der Beklagte allem Anschein nach der Erzeuger des Kindes ist, weil zwei "Väter" zu besitzen mehr Nachteile als Vorteile bringt, so hätte es gar nicht zum Prozeß kommen dürfen. Er war dann nicht nur überflüssig, sondern von übel. Denn das einzige, was er - allzu nachhaltig - bewirkt hat, ist, daß der Status (Verwandtschaft) des Kindes, um dessen Klärung es ging, nun vollends ins Zwielicht gerückt und darin belassen wurde.
§ 34 Vergleich der bei den Grundsatzurteile
199
Und dies alles hauptsächlich zu Lasten des Kindes und seiner unmittelbaren Angehörigen! Kaum weniger verheerend wirkt sich ein solcher lebensfremder Rigorismus auf das Ansehen der Justiz in der Allgemeinheit aus. Wie hätten englische Gerichte einen solchen Fall angepackt? Wie dargelegt (§ 33.2), ist eine Blutentnahme zum Zwecke einer Blutuntersuchung nach englischem Recht nur mit Zustimmung des Betroffenen zulässig. Angesichts der besonderen Umstände des vorliegenden Falles hätte selbst im Falle der Zustimmung der Mutter und des Beklagten das Gericht von der Anordnung dieses Beweismittels wegen der entgegenstehenden Interessen des Kindes absehen können. Die Gerichte hätten also, falls ihnen die Vaterschaftsfrage überhaupt zur Entscheidung vorgelegt worden wäre, was angesichts des mangelnden Interesses der Beteiligten an ihrer Klärung sehr zweifelhaft ist, den Fall ohne die Unterstützung durch wissenschaftliche Gutachten lösen müssen. Was den vom Beklagten behaupteten Mehrverkehr der Mutter während der Empfängniszeit angeht, so wären diese Darlegungen jedenfalls teilweise als unzulässige, den Ruf oder Charakter der Zeugin betreffende Behauptungen zurückgewiesen worden. Da die Mutter das Wohl des Kindes im Auge hatte, hätten englische Gerichte weder aus der Verweigerung der Blutentnahme noch aus der Verweigerung der Aussage, so ist zu vermuten, für dieses nachteilige Schlüsse gezogen. Ob sie schließlich die Vaterschaft des Beklagten bejaht oder verneint haben würden, muß offenbleiben. Eines dürfe sicher sein: englische Gerichte hätten bei aller Sorgfalt und Geduld, die sie auf die Ausschöpfung aller zulässigen Informationsmittel und somit auf die Wahrheitssuche verwenden, ihre Aufgabe vor allem auch darin gesehen, hiermit unmittelbar das Wohl dieses Kindes zu fördern. Ein bemerkenswerter Beleg für die GrundeinsteIlung englischer Gerichte in einem Konflikt zwischen dem "Biologischen" und dem "Sozialen" ist die Entscheidung B. v. B. and E. des Court of Appeal (Lord Denning, M.R., Harman and Cross, L. JJ.'. Sie enthält ein klares Bekenntnis zum Primat des Sozialen. Die um 15 Jahre jüngere Ehefrau hatte nach achtjähriger Ehe ihren Mann verlassen Sie wollte das vor 3 1/ 2 Jahren geborene Kind mitnehmen, das als Kind des Ehemannes registriert worden wa,r, seinen Familiennamen und einen seiner Vornamen bekommen hatte und während der ganzen Zeit beim Ehemann als dessen eigenes Kind gelebt hatte. Die Mutter gab an, daß es das Kind des Mannes sei, den sie (nach Scheidung der ersten Ehe auf Betreiben des Ehemannes) geheiratet und von dem sie schon ein zweites Kind hatte. Nach anfänglicher Bereitschaft weigerte sich der erste Ehemann, sich einer Blutmerkmalsuntersuchung zu unterziehen. Der Court of Appeal hob die von der Mutter und ihrem zweiten Ehemann beantragte Anordnung einer Blutuntersuchung auf, da sie nicht dem Interesse des Kindes diene. Die Haltung des ersten Ehemannes sei ganz und gar nicht unvernünftig, wenn er sich sage: , Urteil vom 11.7.1969 The Times vom 14. Juli 1969.
200 3.2. Analyse und Vergleich einiger höchstrichterlicher Entscheidungen "Hier ist ein Kind. Meine Frau sagte mir, es sei meines. Ich habe es 3 1/ 2 Jahre lang als das meine aufgezogen. Es kennt mich als seinen Vater. Soll das alles zerstört werden, weil meine Frau mit einem anderen Mann gegangen ist, mit dem sie jetzt verheiratet ist? Soll diese Sachlage dadurch aufs Spiel gesetzt werden, daß ich mich damit einverstanden erkläre, mich einer Blutuntersuchung zu unterziehen?" Da seine Weigerung vernünftig sei, dürften keine nachteiligen Schlüsse für ihn gezogen werden. Das Gericht dürfe sich nic...1.t zum Handlanger für die Verbesserung der Rechtsposition der Mutter im Streit um das Sorgerecht machen lassen! Unter der überschrift: Vertauschte Töchter bleiben bei "falschen Familien" ging kürzlich folgende Meldung durch die Presse (London - dpa -Südd. Zeitung 6. Juni 1983): "Vor 47 Jahren brachten Margaret Wheeler und Blanche Rylatt in einem Krankenhaus in Nottingham je eine Tochter zur Welt. Frau W. hatte gleich das Gefühl, daß die Schwestern die Babies vertauscht hatten. Denn obwohl sie ein voll ausgetragenes Kind geboren hatte, war das Baby, das man ihr in den Arm legte, noch mit Körperflaum bedeckt. Frau R. wußte, daß sie zu früh geboren hatte. Zwar war sie nicht unbedingt davon überzeugt, daß die Babies vertauscht worden waren, doch sie blieb mit Frau W. in Kontakt. Sieben Jahre später konnten sie die Krankenhauspapiere einsehen und den Fehler beweisen. Doch sie kamen zur Einsicht, daß es geradezu traumatisch für ihre Kinder sein würde, sie jetzt wieder auszutauschen. So zog jede die "falsche" Tochter auf, und erst als die Mädchen 18 waren, sagten sie ihnen die Wahrheit. Die Töchter beschlossen, bei den Familien zu bleiben, die sie von Geburt an aufgezogen hatten. Heute sind sie selbst verheiratet und haben je zwei Kinder, mit denen sie an der goldenen Hochzeit der Wheelers teilnahmen."
4. Bemerkungen zur englischen Entscheidung
Die Entscheidung von Rees J. im Falle T(H)vT(E) bietet keine vergleichbar gravierenden Ansatzpunkte für Kritik. Wenden wir uns also unmittelbar der Frage zu, wie ein deutsches Gericht in einem solchen Falle vorgegangen wäre. Um mit seinem Prozeßbegehr durchzudringen, hätte der Ehemann dartun müssen, daß er das Kind "offenbar unmöglich" gezeugt haben konnte (§ 1591 Abs. 1 Satz 2 BGB). Auch deutsche Gerichte wären trotz der ungewöhnlichen Umstände der Beiwohnung angesichts des Ergebnisses der serostatistischen Begutachtung, wonach der Beklagte zu der Minderheit von 1 zu 10 Westeuropäern mit kompatiblen Blutmerkmalen gehört, wohl kaum zu dem Schluß "Vaterschaft offenbar unmöglich" gelangt. Insoweit koinzidieren die Ergebnisse. Doch ist diese Koinzidenz angesichts der sehr unterschiedlichen Instruktionen (hier: offenbar unmöglich, dort: Überwiegensprinzip) zufällig. Wäre etwa der Beklagte im Zeitpunkt der Geburt des Kindes mit der Mutter nicht (oder seit mehr als 302 Tagen nicht mehr) verheiratet gewesen, so wären deutsche Gerichte aller Voraussicht nach nicht zur Feststellung der nichtehelichen Vaterschaft gelangt.
§ 35 Zwei weitere BGH-Urteile in einem Fall (210f0-Fall)
201
Rees, J. betont allerdings auch, daß er bei anderer Beweislastverteilung nicht zur Bejahung der Vaterschaft gelangt wäre. Diese ergänzende Bemerkung trifft er indessen mit der ausdrücklichen Einschränkung, daß er hierbei die Frage außer Acht lasse, welche Beweiskraft dem positiven Hinweis auf die Vaterschaft zukomme " ... setting aside any question of the probative force of the blood test evidence, ... ")! Es handelt sich bei dieser Nebenbemerkung daher um rhetorisches Beiwerk, von dem die Entscheidung nicht abhängt und durch das der Kern der eingangs wiedergegebenen Instruktion, wonach selbst noch so schwache Beweismittel zur Widerlegung der Ehelichkeit durchschlagen müßten, solange sie nicht durch andere Beweismittel aufgewogen würden, nicht zurückgenommen wird! § 35 Zwei weitere BGH-Urteile in ein e m Fall (21 o/o-Fall)
1. Allgemeines und Bericht zum 21 0f0-Fall (BGH vom 21.9.1973 und vom 1.10. 1975) Das soeben wiedergegebene Beispiel einer gerichtlichen Wahrheitssuche, die auf dem Rücken der Parteien ausgetragen wird, ist leider kein vereinzelter Vorfall. Er gehört, wie mir scheint, in eine ganze Reihe von Entscheidungen, die eine - nicht eingestandene - Unsicherheit im Umgang mit quantifizierten Wahrscheinlichkeitswerten zeigen. Die Ursache der Unsicherheit dürfte teils mangelndes Verständnis für die Wahrscheinlichkeitslehre teils der Mangel einer soliden Theorie des rechts genügenden Beweises sein. Zwar ist es eine undankbare Aufgabe, den Leser des langen und breiten mit mißglückten Entscheidungen vertraut zu machen. Ich beschreite trotzdem diesen Weg: Um Abhilfe an der Wurzel zu schaffen, ist eine eindringliche Klärung der Ursachen notwendig. übrigens ging auch in England der "dramatischen Änderung" der Entscheidungsgrenze für Abstammungssachen eine Serie von schwer erträglichen Fehlurteilen voraus, auf die wir ebenfalls einen Blick werfen wollen (§ 37.2). Für dubios halte ich nicht nur Entscheidungen, die im Endeffekt zu Urteilen entgegen dem wahrscheinlich Richtigen führen. (Insoweit sind abschließende Wertungen aus der Warte des Kritikers, der nicht einmal die genaue Aktenlage kennt, ohnehin riskant). Ich zähle dazu auch diejenigen Fälle, bei denen zwar letzten Endes das wahrscheinlich richtige Ergebnis herauskam, aber erst nach so quälend langem Prozessieren, daß kein Gefühl der Genugtuung mehr aufkommt. Daß mit dem Grundsatzurteil vom 6. Juli 1973 (§ 32) die Probleme in der Praxis nicht kleiner, sondern größer geworden sind, zeigt die Viel-
202 3.2. Analyse und Vergleich einiger höchstrichterlicher Entscheidungen
zahl der Fälle, die dem BGH seither vorgelegt wurden. Er mußte sogar verschiedentlich zu ein und demselben Fall zweimal Stellung nehmen. So gab z. B. der nachstehende Fall dem BGH gleich zweimal Gelegenheit zu grundlegenden Darlegungen; zunächst gab dieser, wie es im Leitsatz heißt, "weitere Richtlinien für die Annahme schwerwiegender Zweifel im Sinne von § 1600 0 Abs. 2 Satz 2 BGB in Ergänzung des Urteils vom 6. Juni 1973"1 und sodann prägte er den Satz: "Ist die Vaterschaft des Beklagten nicht wahrscheinlich oder besteht für sie keine größere Wahrscheinlichkeit als für die eines anderen Mannes, dann sind schwerwiegende Zweifel an der Vaterschaft des Beklagten angebracht."! Das Verfahren war wie folgt verlaufen: Der Richter am Amtsgericht Neuß hatte Anfang 1971 die Vaterschaft verneint, der H. Zivilsenat des OLG Düsseldorf sie dagegen 1972 bejaht. Der BGH hatte im September 1973 aufgehoben und zurückverwiesen, worauf das OLG wegen Unentschiedenheit der Abstammungsfrage die Klage abwies, was vom BGH im Urteil vom 1. Oktober 1975 nicht beanstandet wurde. Dem Verfasser haben alle vier Urteile im Wortlaut vorgelegen. Zu beurteilen war folgender Sachverhalt: Der Beklagte hatte Beiwohnung während der gesetzlichen Empfängniszeit eingeräumt, jedoch Mehrverkehrszeugen benannt. Die Mutter hatte subjektiv glaubwürdig und auch objektiv einigermaßen plausibel unter Eid Mehrverkehr abgestritten. Bestimmte Hinweise hatten sich auch bei der erneuten Befragung im zweiten Durchgang nicht ermitteln lassen. Männerbekanntschaften, die viel weiter zurücklagen, hatte die Mutter freimütig bestätigt. Zwei namentlich als Mehrverkehrer benannte Männer hatten eine Beiwohnung verneint und waren darüber hinaus - der eine serologisch, der andere durch ein morphologisches Gutachten "mit für das praktische Leben brauchbarem Grad von Gewißheit" - als Erzeuger ausgeschlossen worden. Der Beklagte konnte demgegenüber serologisch weder durch das Gutachten im ersten Durchgang noch durch das Ergänzungsgutachten im zweiten Durchgang ausgeschlossen werden. Sein biostatistischer Wahrscheinlichkeitswert war zunächst mit 21 fJ/o und nach Einbeziehung weiterer Merkmale im Ergänzungsgutachten des zweiten Durchgangs mit 26 Glo nach Essen-Möller berechnet worden. Der "Zuordnungswert für wirkliche Väter" nach der Tabelle von Hummel war für den Beklagten, der allerdings türkischer Abstammung war, mit etwa 1 Ofo ermittelt worden. Eine erste morphologische Begutachtung hatte die Bewertung "unentschieden" gebracht (Geburt 1965, Gutachten Februar 1970); ein weiteres, auf denselben Befunden beruhendes Gutachten wertete: "Vaterschaft wahrscheinlich". Im mündlichen Termin hatte der Senat vier namhafte Sachverständige angehört. Sie hatten bei Berücksichtigung der gesamten, sich
aus den naturwissenschaftlichen Untersuchungen ergebenden Informationen
die Vaterschaft einmütig als "unentschieden bzw. schlicht wahrscheinlich" bezeichnet.
BGH, Urteil vom 21. September 1973, FamRZ 1973 S. 624-626. BGH, Urteil vom 1. Oktober 1975, JR 1976 S. 112-115 (mit Anm. MutschIer). 1
2
§ 35 Zwei weitere BGH-Urteile in einem Fall (210f0-Fall)
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War dieser Fall von der tatsächlichen Seite her wirklich so schwierig, daß der Aufwand unvermeidlich war, oder hat ihn erst eine sehr komplizierte Rechtslage so schwierig werden lassen? Ist er schließlich in überzeugender Weise gelöst worden? Und hat er wenigstens zu einer begrüßenswerten Rechtsfortbildung beigetragen oder muß man mit den Engländern sagen: Hard cases make bad law?
2. Argumentation der Gerichte im ersten Durchgang Versuchen wir zunächst nachzuzeichnen, wie die Gerichte hier im einzelnen argumentiert haben. 2.1.
Der Amtsrichter hatte die Klage mangels positiven Nachweises der Vaterschaft abgewiesen. Demgegenüber bejahte das OLG im ersten Durchgang die Vaterschaft, indem es auf die Vermutung des § 1600 0 Abs.2 Satz 1 abstellte und "schwerwiegende Zweifel" verneinte; die benannten, angeblichen Mehrverkehrer seien ausgeschlossen worden; weitere bestimmte Anhaltspunkte für Mehrverkehr seien nicht gegeben, die Sachverständigen hätten übereinstimmend und in überzeugender Weise bekundet, daß auch angesichts des Essen-Möller-Wertes von 21 % "keine wirklich ernst zu nehmenden Zweifel" an der Vaterschaft gegeben seien. Die einzige, über das übliche Geschäft einer Beweiswürdigung hinausgehende Schwierigkeit des Falles ist hier die Berücksichtigung der biostatistischen Vaterschaftswahrscheinlichkeit nach Essen-Möller und des "Zuordnungswertes für wirkliche Väter nach dem Tabellenwert VOn Hummel". Zu diesem Punkt machte das Oberlandesgericht folgende Ausführungen: Die Aussagekraft eines nach Essen-Möller berechneten Wahrscheinlichkeitswertes sei wissenschaftlich noch umstritten. Hier komme die türkische Abstammung des Beklagten hinzu, deretwegen die Brauchbarkeit des errechneten Wertes möglicherweise von vornherein in Zweifel gezogen werden müsse. Doch brauche dazu nicht abschließend Stellung genommen werden, da Einigkeit darüber bestehe, daß Plausibilitätswerte außerhalb der Extrembereiche - nahe an 0 und nahe an 100 - eine annähernd verläßliche Aussage über die Vaterschaft oder Nichtvaterschaft nicht enthielten. Dem Zuordnungswert nach Hummel hätten die Sachverständigen übereinstimmend keine letztlich entscheidende Bedeutung beizumessen vermocht, weil Hummel davon ausgehe, daß alle nicht ausschließbaren Männer zu der gleichbleibenden Mutter-Kind-Doublette in Beziehung gesetzt würden. Würden also 100 nicht ausschließbare Männer als Vater verurteilt, dann würde sich für diejenigen Männer, deren Wert 21 % ist, aufgrund der Zuordnungswahrscheinlichkeit die Chance des richtigen Urteils mit 1 Gfo ergeben. Ein Sachverständiger habe erklärt, bei einem Vergleich der Aussagekraft des Essen-Möller-Wertes und des Zuordnungswertes nach Hummel komme seines Erachtens dem Wahrscheinlichkeitswert die größere Aussagekraft zu; die Frage sei aber noch nicht als endgültig geklärt anzusehen.
204 3.2. Analyse und Vergleich einiger höchstrichterlicher Entscheidungen
Die angehörten Wissenschaftler hätten in einer den Senat überzeugenden Weise dargelegt, daß aus den wissenschaftlichen Untersuchungen keine wirklich ernst zu nehmenden Zweifel an der Vaterschaft hergeleitet werden könnten. Diese sei vielmehr durchaus noch als möglich anzusehen, wobei diese Möglichkeit keine nur ganz entfernte, nur noch theoretische sei. Die Beweiswürdigung des OLG Düsseldorf kann vielleicht mit eigenen Worten so zusammen ge faßt werden: Wir wissen, daß der Beklagte während der Empfängniszeit beigewohnt hat. Für die Beiwohnung eines oder mehrerer anderer Männer während der Empfängniszeit haben wir keine bestimmten Anhaltspunkte. Angesichts der subjektiv glaubwürdigen und auch objektiv einigermaßen plausiblen Bekundungen der Mutter neigen wir eher dazu, Mehrverkehr hier für weniger wahrscheinlich zu halten. Der Beklagte hat ungeachtet der Leistungsfähigkeit der heutigen Serologie nicht als Erzeuger ausgeschlossen werden können: der serologische Merkmalsvergleich ergibt auch keine eindeutigen, negativen Hinweise. Nach den morphologischen Befunden hat ein Gutachten die Vaterschaft für wahrscheinlich gehalten. Unter diesen Umständen zweifeln wir nicht mehr ernstlich an der Vaterschaft, obwohl wir unserer Sache allerdings nicht völlig sicher sein können. Messen wir diese Beweiswürdigung unmittelbar am Wortlaut der in §1600 0 Abs.2 enthaltenen Instruktion, so dürfte es schwerfallen, sie als rechtlich fehlerhaft zu qualifizieren. Ich möchte so weit gehen anzunehmen, daß das OLG hier im ersten Durchgang in der Tat das wahrscheinlich - richtige Ergebnis gefunden hatte. Ein Essen-MöllerWert von 21 fI/O würde nur dann die Verneinung der Vaterschaft rechtfertigen, wenn die serostatistische Information die einzige, uns bekannte Information über den konkreten Fall wäre oder wenn weitere gewichtige Indizien gegen Vaterschaft sprächen. 2.2. Doch studieren wir die Einwände des IV. Zivilsenats des BGH (N.1): Der BGH pflichtet dem OLG zunächst darin bei, daß Essen-MölIer-Werte im mittleren Bereich relativ nichtssagend seien. Es würden sich jedoch rechtliche Bedenken gegen die Ausführungen ergeben, daß die Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchungen nicht ausreichend seien, um wirklich ernst zu nehmende Zweifel an der Vaterschaft zu begründen. Das OLG scheine das Merkmal "schwerwiegende Zweifel" verkannt zu haben. Es habe anscheinend "schwerwiegende Zweifel" in die Nähe des Begriffs "offenbar unmöglich" gesetzt. Bei der Anhörung hätten die Sachverständigen übereinstimmend erklärt, die Ergebnisse der serologischen Berechnungen würden, isoliert betrachtet, Zweifel an der Vaterschaft begründen, diese Zweifel seien aber nicht so stark, daß sie als "schwerwiegend" zu bezeichnen wären. Eine solche Einordnung des Merkmals "schwerwiegend" entspreche nicht dem gesetzgeberischen Anliegen.
§ 35 Zwei weitere BGH-Urteile in einem Fall (21%-Fall)
205
Es folgt die Instruktion, die wir schon bei der Besprechung des Urteils des OLG Karlsruhe (§ 34.2) kennengelernt haben, wonach durch § 1600 0 Abs.2 keineswegs zugelassen werden sollte, daß eine Person als Vater festgestellt wird, für deren Vaterschaft nicht einmal eine Wahrscheinlichkeit spricht. Bei Anlegung dieses Maßstabes sei die Auffassung des OLG nicht haltbar. Ein Essen-Möller-Wert von 21 % liege weit unter der Grenze, unterhalb der ein Wahrscheinlichkeitsurteil über die Vaterschaft nicht mehr möglich sei; er besage nur, daß die Vaterschaft möglich sei. Der Nichtausschluß der Vaterschaft könne nicht schon die Feststellung der Vaterschaft rechtfertigen. Mangels sonstiger Umstände müßten "schwerwiegende Zweifel" in einem solchen Fall bejaht werden (um diesen letzten Gedanken auszudrücken, bedient sich der BGH einer doppelten Verneinung, die, wie Mutschler - JR 1976 S. 114anmerkt, zu einer Akzentverschiebung zu Lasten des Kindes führt: es könne die Feststellung nicht getroffen werden, daß schwerwiegende Zweifel nicht bestehen!). Hiermit enden die tragenden Entscheidungsgründe. Der BGH fährt beiläufig wie folgt fort: Das OLG habe nach Würdigung aller Umstände erneut zu entscheiden, ob die Abstammung soweit festgestellt sei, daß keine schwerwiegenden Zweifel an der Vaterschaft verblieben und müsse dabei alle Beweismöglichkeiten ausschöpfen. Beiläufig äußert der BGH sich dann aber zur Beweiswürdigung noch wie folgt: Die morphologischen Begutachtungen seien wohl kaum geeignet, "die Beweislage zugunsten des Klägers zu verändern" (!?). Das eine sei unentschieden, das andere habe aufgrund derselben Befunde die Bewertung "Vaterschaft wahrscheinlich" getroffen. "Dabei handelt es sich aber um den niedrigsten Wahrscheinlichkeitsgrad, der nicht wesentlich mehr aussagen dürfte als die serostatistischen Befunde. Sodann folgen noch - m. E. triviale - Ausführungen darüber, was das OLG hier alles bei der weiteren Aufklärung eines möglichen Merhrverkehrs der Mutter beachten möge. Unter der glatten Oberfläche dieser Argumentation verbergen sich folgende Ungereimtheiten: (1) Das Hauptaugenmerk wird auf den Essen-Möller-Wert von 21 0/0 gelegt, von dem eingangs gesagt wird, er sei relativ nichtssagend, der vom BGH in der Sache jedoch als eine der Vaterschaftsfeststellung entgegenstehende Information gewertet wird. (2) Es ist unzutreffend, daß die Information "Vaterschaft wahrscheinlich" aufgrund eines morphologischen Gutachtens nicht wesentlich mehr aussagt, als die hier gegebenen serostatistischen Befunde; während der Essen-Möller-Wert von 21;010 einen - wenn auch relativ schwachen Hinweis gegen die Vaterschaft enthält, bedeutet die Aussage des morphologischen Gutachtens "Vaterschaft wahrscheinlich" das, was sie wörtlich besagt. (3) Der BGH kritisiert die Darlegungen des OLG, daß Mehrverkehr nicht habe festgestellt werden können und fordert insoweit Wahr-
206 3.2. Analyse und Vergleich einiger höchstrichterlicher Entscheidungen scheinlichkeitserwägungen; doch ergeben die Ausführungen des OLG als ganzes genommen, daß gerade zu diesem Punkt eingehende Abwägungen stattgefunden haben: man konnte Mehrverkehr zwar nicht ausschließen, hatte dafür aber auch keinerlei konkrete, brauchbare Anhaltspunkte, so daß man wohl dazu neigte, ihn als einigermaßen unwahrscheinlich zu betrachten, was dann natürlich einen weiteren Anhaltspunkt für die Vaterschaft des Beklagten abgibt.
3. Gewissensnot des Oberlandesgerichts Als ganzes genommen wirken die Ausführungen des BGH auf mich so, als ob dem OLG die Möglichkeit ausdrücklich offengehalten werden sollte, auch im zweiten Durchgang zur Bejahung der Vaterschaft zu gelangen. Dem steht allerdings entgegen, daß die Aufhebung des OLG Urteils des ersten Durchgangs angesichts der Instruktion: keine Vaterschaftsfeststellung, wenn nicht einmal eine Wahrscheinlichkeit für sie spricht, nur verständlich ist, wenn der BGH in concreto der Ansicht war, die Vaterschaft sei nicht wahrscheinlich. Jedenfalls brachte der BGH das OLG sichtlich in Gewissensnot. Das OLG hatte ein serologisches Ergänzungsgutachten eingeholt und nochmals die Mutter eidlich vernommen. Eine nennenswerte Veränderung der Indizienlage hatte sich hierdurch indessen nicht ergeben: Der Essen-Möller-Wert war nach Einbeziehung weiterer Blutmerkmale auf 26 % gestiegen (das Gericht unterdrückt den Hinweis darauf, daß sich auch anhand dieser Merkmale kein Ausschluß der Vaterschaft ergeben hat). Zur weiteren Aufklärungsmöglichkeit wird festgestellt: "Bei diesem niedrigen Wert läßt eine weitere Blutuntersuchung nach dem HL-A-Verfahren dessen forensischer Beweiswert noch nicht gesichert erscheint - keine über die Zone des "Unentschieden" hinausreichende Verschiebung erwarten." Die Mutter hatte wiederum Mehrverkehr unter Eid in Abrede gestellt und dabei auf das Gericht einen subjektiv glaubwürdigen Eindruck gemacht! Doch konnte das Gericht nach wie vor Mehrverkehr nicht mit Sicherheit ausschließen: "Bei Abwägung aller für oder gegen den Mehrverkehr sprechenden Umstände hat es der Senat auch nicht vermocht, sich ein Urteil darüber zu bilden, ob ein Mehrverkehr der Kindesmutter in der Empfängniszeit wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher ist als der alleinige Umgang mit dem Beklagten." Die Schlußpassage scheint mir so bemerkenswert, daß ich sie wörtlich wiedergeben möchte (mit Hervorhebungen von mir): "Würdigt man abschließend alle Umstände - wie dies die Vorschrift des 16000 Abs.2 Satz 2 BGB vorschreibt -, so erscheint dem Senat eine Vaterschaft des Beklagten etwa in gleichem Maße wahrscheinlich wie unwahrscheinlich. Der Senat neigt eigentlich der Auffassung zu, daß bei einem sol§
chen offenen Ausgang der Beweisaufnahme im Sinne eines "Unentschieden" die Vaterschaftsvermutung des § 1600 0 Abs.2 Satz 1 BGB den Ausschlag zu-
§ 35 Zwei weitere BGH-Urteile in einem Fall (210f0-Fall)
207
gunsten des Klägers geben müßte. Er ist aber gemäß § 565 Abs. 2 ZPO an die
rechtliche Beurteilung gebunden, die dem aufhebenden Revisionsurteil zugrunde gelegt ist.
Der BGH hat einerseits ausgeführt, daß Zweifel an der Vaterschaft dann als schwerwiegend anzusehen seien, wenn sie - um einen allerdings theoretisch kaum abgrenzbaren Teil - gewichtiger seien als geringe Zweifel. 1m Sinne
dieser Formel ist die Vaterschaftsvermutung vorliegend nicht erschüttert, denn nach Abwägung aller Umstände ist im Resumee ein bloßes "Unentschieden" verblieben; soweit überhaupt von negativen Momenten gegen die Va-
terschaft des Beklagten die Rede sein konnte, sind diese durch ebenso beachtliche positive Momente gleichwertig aufgewogen worden. Andererseits hat der BGH ausgesprochen, keine Person solle als Vater festgestellt werden, für deren Vaterschaft nicht einmal eine Wahrscheinlichkeit spreche. Diesen Gedanken hat er in einer so allgemeingültigen und grundsatzweisenden Formulierung hervorgehoben ("doch soll keinesfalls zugelassen werden ... "), daß er für die Bindungswirkung der BGH-Entscheidung als der maßgebende erscheint. In Befolgung dessen muß hier die Klage entgegen der Rechtsauffassung des erkennenden Senats abgewiesen werden; denn die Frage der Vaterschaft ist eben nur schlicht unentschieden. Feststellungen für die Wahrscheinlichkeit der Vaterschaft des Beklagten konnten nicht getroffen werden." Die Berufung gegen das die Klage des Kindes abweisende Urteil des Amtsgericht Neuß vom 12. Januar 1971 wurde dementsprechend wenn auch eingestandenermaßen contre CCEur - zurückgewiesen.
Ich vermag nach der Beweislage im vorliegenden Fall den Schluß auf ein "Unentschieden" nur nachzuvollziehen, wenn wir ein Entscheidungsmodell mit zwei Entscheidungsgrenzen auf einer gedachten Skala von Wahrscheinlichkeitswerten zugrundelegen (z. B. bei über 90 (l!o: Bejahung, bei unter 10 (l/o: Verneinung, bei 10-90 (l/o: Unentschieden). Bei einem Modell mit nur einer Entscheidungsgrenze (z. B. 50 (l/o) kann sich hingegen ein Unentschieden nur theoretisch, nicht aber in der Praxis einstellen. Entsprechendes gilt für den Sprachgebrauch "wahrscheinlich" - das Berufungsgericht geht offenbar davon aus, daß erst ein sehr klares, eindeutiges übergewicht der Indizien zugunsten der einen (oder der anderen) Seite das Zünglein an der Waage in Bewegung zu setzen und "den Ausschlag" und sei es auch nur im Sinne von "wahrscheinlich" oder "unwahrscheinlich" - zu geben vermag, während kleinere Gewichtsdifferenzen, d. h. ein Ausschlagen des Zünglein innerhalb der "nichtssagenden" Mittelzone nur das Urteil "unentschieden" erlaubt. Auf die Voraussetzungen, unter welchen ein solches Modell mit zwei Entscheidungsgrenzen angezeigt ist, wird noch zurückzukommen sein; dem Beweisstandard des englischen Rechts - proof on the balance of probabilities - entspricht es jedenfalls nicht. Ein weiterer zu kritisierender Punkt ist die Ablehnung einer Begutachtung nach dem HL-A-Verfahren. Es hätte entgegen der Vermutung des OLG aller Voraussicht nach sogar für sich allein genommen eine
208 3.2. Analyse und Vergleich einiger höchstrichterlicher Entscheidungen ausschlaggebende Information liefern können, ganz abgesehen von der weiteren Möglichkeit einer Chromosomen-U ntersuchung.3 4. BGH-Urteil des zweiten Durchgangs
An diesem BGH keinen lungen "als Nachprüfung
Urteil des Berufungsgerichts fand der IV. Zivilsenat des Rechtsfehler; vielmehr seien die maßgeblichen FeststelAkt richterlicher Beweiswürdigung revisionsrechtlicher entzogen". Im einzelnen führt er aus:
"Die Formulierungen, wonach einerseits "schwerwiegende Zweifel" solche seien, die gewichtiger sein müßten als geringe Zweifel, und andererseits keine Person als Vater festgestellt werden dürfe, deren Vaterschaft nicht zumindest wahrscheinlich sei, enthielten keine verschiedenen Auslegungen des Begriffs "schwerwiegender Zweifel", sondern nur die Abgrenzung des Bereichs, "innerhalb dessen der Grad der tatrichterlichen Gewissensentscheidung liegt, die vom Gesetz als "schwerwiegende Zweifel" gekennzeichnet ist." Es wäre ein Rechtsfehler wenn der Richter, der nach Würdigung aller Umstände nur geringe Zweifel an der Vaterschaft des Mannes habe, der der Mutter während der Empfängniszeit beigewohnt hat, die Klage des Kindes abweisen würde. Spreche allerdings nicht einmal eine Wahrscheinlichkeit für die Vaterschaft, so sei die Bejahung schwerwiegender Zweifel als unabweisbar anzusehen. Unter Wahrscheinlichkeit sei hier nicht der Wahrscheinlichkeitsbegriff der serostatistischen und erbbiologischen Gutachten zu verstehen, sondern die "Wahrscheinlichkeit eines tatrichterlichen Urteils, für welches Möglichkeiten, Wahrscheinlichkeiten und Gewißheiten in Frage komme." Bei festgestelltem Mehrverkehr oder bei Mehrverkehrsverdacht müsse die Vaterschaft des Beklagten wahrscheinlicher sein als die eines anderen Mannes. "Die tatrichterliche Feststellung einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit der Vaterschaft ist möglich, wenn die konkreten Umstände, die für die Vaterschaft des Beklagten sprechen, diejenigen übe r wie gen, die für die Vaterschaft eines anderen Mannes anzuführen sind."
Bei bloß möglichem Mehrverkehr (Hervorhebung im Original) werde dies im allgemeinen der Fall sein, d. h. sei ein Mehrverkehr weder erwiesen noch wahrscheinlich, sondern bestehe nur ein allgemeiner, durch konkrete Umstände nicht erhärteter Verdacht auf Mehrverkehr, so sei der Tatrichter in der Regel nicht gehindert, die Feststellung zu treffen, der Beklagte sei wahrscheinlich der Vater. Sei die Vaterschaft nach Würdigung aller Umstände nicht wahrscheinlich, sondern ebenfalls (sie) nur möglich, so sei allerdings auch das Urteil nicht ungerechtfertigt, daß an ihr schwerwiegende Zweifel bestünden; andernfalls sei die möglichst weitgehende übereinstimmung mit der wirklichen, biologischen Vaterschaft nicht gewährleistet. Dies sei die andere revisionsgerichtlich nachprüfbare Grenze für die tatrichterliche Beurteilung. Würde im Falle einer "Unentschiedenheit in dem Sinne, daß die für die Vaterschaft des Beklagten und die eines anderen Mannes sprechenden Umstände etwa gleichgewichtig sind, die Wahrscheinlichkeit des Beklagten also nicht höher anzusetzen ist als die eines anderen Mannes, der Klage auf Feststellung der Vaterschaft stattgegeben", so sei dies ein Rechtsfehler. 3 eh. Rittner u. M. P. Baur NJW 1976 S.1778-1779; I. Oepen u. H. Ritter NJW 1977 S.2107-2110.
§ 35 Zwei weitere BGH-Urteile in einem Fall (210f0-Fall)
209
Es folgen Darlegungen dazu, daß das OLG-Urteil des zweiten Durchgangs sowohl mit den maßgeblichen Gründen des BGH-Urteils des ersten Durchgangs als auch mit der vorstehenden Instruktion übereinstimme. Dies gelte jedoch nicht für die Feststellung des Berufungsgerichts, daß es hier die Vaterschaftsvermutung nicht für erschüttert ansehe und sich nur der bindenden Rechtsauffassung des BGH füge. Denn Zweifel an der Vaterschaft könnten nicht mehr als gering bezeichnet werden, wenn die Vaterschaft eines anderen Mannes ebenso wahrscheinlich sei wie die des Beklagten. Entgegen der Ansicht der Revision habe das Berufungsgericht "letztlich nicht geringe, sondern schwerwiegende Zweifel ... gehabt. Es hat diese lediglich in Verkennung des Begriffs der schwerwiegenden Zweifel fälschlich als gering bezeichnet. " Der BGH führt zu zwei weiteren rügen noch aus:
naheliegenden -
Revisions-
Aus dem Nichtausschluß könne "naturgemäß keine überwiegende Wahrscheinlichkeit der Vaterschaft des nicht ausgeschlossenen Mannes im Verhältnis zu anderen nicht ausgeschlossenen Männern begründet werden." Vielmehr werde angenommen, daß die durch die Ausschlußwahrscheinlichkeit vermittelte Information in der Vaterschaftswahrscheinlichkeit mitenthalten sei. Schließlich sei die Nichterhebung einer Blutuntersuchung nach dem HL-ASystem kein Ermittlungsfehler, da das OLG ohne Rechtsfehler auf die noch nicht hinreichende forensische Absicherung dieses noch nicht offiziell vom Bundesgesundheitsamt anerkannten Verfahrens hingewiesen habe. Was ist zu alldem zu sagen? Zur letztgenannten Revisionsrüge ist zu bemerken, daß sich im OLG-Urteil des zweiten Durchgangs zum Beweiswert des HL-A-Systems nur die vorstehend wörtlich wiedergegebene knappe Bemerkung findet, aus der nicht zu entnehmen ist, inwieweit sich das Berufungsgericht darum bemüht hat, Klarheit über die Aussagekraft dieses neuen Merkmalsystems zu gewinnen. Wie schon angedeutet, besteht Grund zur Vermutung, daß es, wäre es der Frage nachgegangen, auch 1975 zu der inzwischen gesicherten Erkenntnis der überlegenen Leistungsfähigkeit gerade dieses Systems gelangt wäre. Nachdem der BGH im ersten Durchgang das Gebot der vollen Ausschöpfung aller Beweismittel nochmals unterstrichen hat, schreibt er dieses Erfordernis jetzt plötzlich - vermutlich um dem Verfahren endlich ein Ende zu bereiten - wieder klein. Auch mit der Revisionsrüge, daß das Berufungsgericht die Tragweite des Nichtausschlusses des Beklagten verkannt habe, macht der BGH kurzen Prozeß. Gerade die Erhellung dieses Punktes erscheint indessen ebenso dringend wie lohnend. Was ist bei Lichte besehen von dem Argument zu halten, daß bei einer durchschnittlichen Ausschlußchance, die vom BGH selbst mit 93 % angegeben wird, schon aus der Tatsache des Nichtausschlusses auf eine überwiegende Wahrscheinlichkeit der Vaterschaft zu schließen ist? 14 Motsch
210 3.2. Analyse und Vergleich einiger höchstrichterlicher Entscheidungen
Anhand der Befunde bei Mutter und Kind können wir unter gewissen Voraussetzungen auf das Merkmal schließen, welches das Kind von seinem Erzeuger geerbt haben muß. Findet sich dieses Merkmal bei einem Mann nicht, so kann er nicht der Vater sein, d. h. er ist ausgeschlossen. Anders gesagt: jeder Nichtausschluß enthält die Information, daß Kind und Mann hinsichtlich des betreffenden Merkmals gleiches Erbgut aufweisen. Je mehr Systeme berücksichtigt werden, ohne daß sich ein Ausschluß ergibt, um so stärker wird der Verdacht (verdichtet sich die Wahrscheinlichkeit), daß der betreffende Mann der Erzeuger ist. Wie sehr sich die Wahrscheinlichkeit verdichtet, hängt nicht nur von der Anzahl der untersuchten Systeme, sondern auch von der Häufigkeit oder Seltenheit des Auftretens der Merkmale des betreffenden Systems innerhalb der ins Auge zu fassenden Personengruppe ab; ein häufiges Merkmal erhöht die Wahrscheinlichkeit nur geringfügig, ein seltenes Merkmal erhöht sie stark.
5. Kern des zweiten BGH-UTteils und Zusammenfassung Doch wenden wir uns dem Kern des BGH-Urteils des zweiten Durchgangs, also der Instruktion und ihrer Anwendung auf das zweite Berufungsurteil zu. Die Instruktion ist sehr detailliert - für meinen Geschmack zu detailliert; auch ist sie nicht sehr anschaulich: Der Bereich der "schwerwiegenden Zweifel", welcher der nicht nachprüfbaren "tatrichterlichen Gewissensentscheidung" vorbehalten bleibt, wird von zwei Seiten her abgegrenzt: einerseits können geringe Zweifel nie zur Bejahung des Merkmals "schwerwiegende Zweifel" führen, andererseits sind "schwerwiegende Zweifel" stets zu bejahen, wenn die Vaterschaft nicht wenigstens wahrscheinlich ist. Hätten wir eine hinreichend klare Vorstellung davon, was der BGH mit "wahrscheinlich" meint, so wäre die Instruktion vielleicht auch einigermaßen anschaulich. Hierzu aber heißt es nur, es sei dies "die Wahrscheinlichkeit des tatrichterlichen Urteils, für welches Möglichkeiten, Wahrscheinlichkeiten und Gewißheiten in Frage kommen," nicht abeT deT WahTscheinlichkeitsbegTiff deT seTostatistischen und eTbbiologischen Gutachten. Dieser Unterscheidung wäre nur dann zuzustimmen, wenn gemeint sein sollte, daß es stets nur auf die Gesamtwahrscheinlichkeit und nicht etwa auf die isolierte Wahrscheinlichkeit eines einzelnen Indizes oder eines Komplexes von Indizien ankommt. Wenn der BGH dies meint, warum sagt er es nicht? Und vor allem, warum behandelt die Instruktion dann gesondert davon das Problem eines festgestellten, vermuteten oder nur als möglich angesehenen Mehrverkehrs? Es folgt dann die - triviale - Bemerkung, daß der Tatrichter überwiegende Wahrscheinlichkeit bejahen könne, wenn die fÜT die Vater-
§ 35 Zwei weitere BGH-Urteile in einem Fall (21Gfo-Fall)
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schaft sprechenden Umstände überwiegen, selbst wenn Mehrverkehr feststehe und natürlich erst recht, wenn Mehrverkehr bloß möglich sei und keine konkreten Anhaltspunkte dafür vorlägen. Dann heißt es weiter: Sei die Vaterschaft nach allem (ebenfalls?!) nur möglich, so sei auch die Bejahung "schwerwiegende Zweifel" vertretbar. Seien die Umstände pro und contra etwa gleichgewichtig, so sei die Verneinung von "schwerwiegenden Zweifeln" ein Rechtsfehler, eine Äußerung, der unter dem Gesichtspunkt der objektiven Beweislast des Kindes eigentlich zugestimmt werden könnte; doch steht auch sie insofern im Zwielicht, als zuvor gesagt wurde, es gehe nicht um eine Frage der Beweislast, da hier die Sondervorschrift des § 1600 0 Abs.2 BGB gelte, wonach dann, wenn der Richter keine schwerwiegenden Zweifel habe, die Vaterschaftsvermutung durchgreife. Da das Berufungsgericht im zweiten Durchgang einerseits ausdrücklich ein "Unentschieden" festgestellt, andererseits aber auch an der Verneinung schwerwiegender Zweifel expressis verbis festgehalten hatte, ist ihm in seiner Argumentation gemessen an dieser Instruktion des BGH offensichtlich ein Rechtsfehler unterlaufen. Diese Revisionsrüge wird indessen vom BGH mit der Feststellung hinwegdisputiert, das Berufungsgericht habe in Wirklichkeit schwerwiegende Zweifel gehabt und diese "lediglich in Verkennung des Begriffs der schwerwiegenden Zweifel fälschlich als gering bezeichnet"! Zum ganzen ist mit Lord Pearce (§ 16.4) zu sagen, daß eine zu eingehende richterliche Selbstanalyse nicht hilfreich ist und ein Richter, der anfängt zu zweifeln, ob er einen vernünftigen Zweifel hat oder nicht, seine schwierige Aufgabe eher verdunkelt als erhellt. Nachvollziehbar ist der Gedankengang des BGH nur, wenn schwerwiegende Zweifel nicht als etwas Subjektives aufgefaßt werden, was vom semantischen Gehalt der Formel her gesehen eigentlich unvermeidbar erscheint, sondern darin ein objektiver Maßstab erblickt wird. Doch ist auch in dieser Hinsicht eine klare Linie nicht zu erkennen, da die erwähnte Unterscheidung des BGH zwischen der "Wahrscheinlichkeit eines tatrichterlichen Urteils" und dem Wahrscheinlichkeitsbegriff der Sachverständigen eher auf eine Betonung der subjektiven Seite hindeutet. Zusammenfassend komme ich zu dem Ergebnis, daß ein in tatsächlIcher Hinsicht nicht über alle Maßen schwieriger Fall trotz eines enormen Aufwandes (fünf Urteile, darunter vier höchstrichterliche) nicht befriedigend gelöst wurde und auch nicht zu einer einleuchtenden Rechtsfortbildung beigetragen hat. Die Hauptursache sehe ich darin, daß sich der IV. Zivilsenat des BGH trotz seines spürbaren Versuchs, neue Wege zu gehen, in einem selbstgeknüpften Netz von Instruktionen
212 3.2. Analyse und Vergleich einiger höchstrichterlicher Entscheidungen verfangen hat, und seine Instruktionen in der Praxis zu Fallstricken werden. Ursächlich hierfür ist der Mangel einer soliden Theorie. Das Berufungsurteil des ersten Durchgangs, dem im Kern das Überwiegensprinzip zugrunde liegt, und das ich ohne weiteres für mit § 1600 0 Abs.2 BGB vereinbar halte, hatte (genauer: hätte) den Fall angemessen gelöst. Dies ist schmerzlich für das Kind, dem das Recht bescheinigt, vaterlos zu sein und zu bleiben; es ist aber auch schmerzlich für das Ansehen der Rechtspflege.
§ 36 Weitere BGB-Urteile zu § 16000 BGB 1. Ein weiteres BGH-Urteil vom 1. 10. 1975
Sehen wir uns den anderen Fall an, den der IV. Zivilsenat des BGH am 1. Oktober 1975 ebenfalls im zweiten Durchgang behandelt hat (erstes BGH-Urteil vom 9. März 1973). Diesen Fall schloß er nicht ab, sondern verwies ihn nochmals an das Berufungsgericht zurück! Auch hier hatte das Amtsgericht Mitte 1971 die Vaterschaft verneint, das OLG Hamburg diese jedoch festgestellt, der BGH das Berufungsurteil aufgehoben,1 das OLG die Vaterschaft wiederum bejaht und der BGH der Revision erneut stattgegeben.! Zu beurteilen war folgender Sachverhalt: Fest stand, daß der Beklagte die Mutter nach einer Party mit dem Taxi nach Hause gebracht hatte. Der verheiratete Beklagte, der die Mutter auf der Party zum ersten Mal gesehen hatte, bestritt eine Beiwohnung (er habe sich vor der Tür verabschiedet). Die Mutter hingegen hatte mehrfach bestimmt erklärt, daß es bei dieser Gelegenheit zum Geschlechtsverkehr gekommen sei und daß sie während der Empfängniszeit mit keinem anderen Mann Geschlechtsverkehr gehabt habe. Das Datum der Party war unstreitig. Es fiel ziemlich genau auf den Zeitpunkt, zu welchem die Mutter das Kind empfangen haben muß. Die serostatistische Berechnung hatte einen VaterschaftsWahrscheinlichkeitswert von 98 % ergeben. Die morphologische Begutachtung war vom Sachverständigen in die Schlußfeststellung: "Vaterschaft wahrscheinlich" zusammengefaßt worden, während das OLG dazu neigte, die Einzelbefunde zu dem Gesamturteil: "Vaterschaft sehr wahrscheinlich" zusammenzufassen. Aus dem Zusammenhang aller Indizien hatte das OLG die Überzeugung einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit der Vaterschaft gewonnen, obwohl es den Nachweis der Beiwohnung im Sinne des Vollbeweises nicht als erbracht angesehen und folglich auch die Vermutung des § 16000 Abs.2 Satz 1 BGB nicht angewandt hatte. Im zweiten Durchgang war es demgegenüber nach erneuter eingehender Beweisaufnahme zur Überzeugung gelangt, daß angesichts der Gesamtheit der Indizien die Beiwohnung als erwiesen anzusehen sei. 1 BGH, Urteil vom 9. März 1973, FamRZ 1974, S. 85-87. 2 BGH, Urteil vom 1. Oktober 1975, NJW 1976 S. 369-371 (mit Anm. Odersky und Besprechung von Hermann Maier NJW 1976 S.1135-1137); FamRZ 1976 S. 24-25.
§ 36 Weitere BGH-Urteile zu § 16000 BGB
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Zum Berufungsurteil des ersten Durchgangs bemerkt der IV. Zivilsenat des BGH: Es sei rechtlich nicht zu beanstanden, daß dem serostatistischen Befund von 98 Ofo allein keine hinreichende Beweiskraft zugunsten der Vaterschaftsfeststellung beigemessen worden sei. Doch könne dem OLG nicht gefolgt werden, wenn es annehme, daß dieser Befund durch das Ergebnis der anthropologischen Begutachtung und die Aussagen der Mutter in einer Weise unterstützt würde, welche die überzeugung einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit der Vaterschaft des Beklagten rechtfertigen könnte. Der Senat kritisierte sodann, daß das OLG, ohne hierfür für das Revisionsgericht nachprüfbare Gründe anzugeben, sich die Bemerkung erlaubt hat, die Schlußfeststellung des Sachverständigen "Vaterschaft wahrscheinlich" erschiene sehr vorsichtig, die Einzelbefunde hätten auch das Gesamturteil "Vaterschaft sehr wahrscheinlich" gerechtfertigt. Die bloße Wahrscheinlichkeit im anthropologischen Befund könne die Aussagekraft des serostatistischen Befundes nicht verstärken. Eher lasse sich das Gegenteil annehmen (sie!). Miteinander unvereinbar seien die Ausführungen des OLG, wonach einerseits zwar der Beweis der Beiwohnung nicht erbracht, andererseits die Angaben der Mutter aber doch einen nicht von der Hand zu weisenden konkreten Anhaltspunkt für die Vaterschaft des Beklagten darstellen sollen. Eine unbewiesen gebliebene Behauptung der Beiwohnung könne keinen konkreten Anhaltspunkt für die Vaterschaft des Mannes abgeben. Insbesondere gehe die überlegung des OLG fehl, bereits der Ahnlichkeitsvergleich spreche in einer Weise für die Version der Mutter, daß dies einem vollen Beweis nahekomme. Schließlich meint der Senat, daß sich der Sachverhalt durch weitere Zeugenvernehmungen noch weiter aufklären lasse, wobei er auch für möglich hält, daß das Gericht zur überzeugung kommt, der Beklagte habe der Mutter während der Empfängniszeit beigewohnt oder auch zur überzeugung, er habe ihr nicht beigewohnt. Dieser Kritik am Berufungsurteil des ersten Durchgangs läßt sich folgendes entgegenhalten: Die Revisionsinstanz verstößt gegen das Gebot der Zurückhaltung bei der Ausübung ihrer Nachprüfungsbefugnis besonders in Fragen der Beweiswürdigung. Sie verkennt, daß die Beweisführung in jeder Hinsicht ausschließlich Sache des Gerichts ist; Schlußfolgerungen von Sachverständigen - und hierzu gehört die Zusammenfassung von Einzelbefunden zu einer Schlußfeststellung - sind lediglich unverbindliche Vorschläge, die sich das Gericht zu eigen machen kann oder auch nicht. Es ist in jedem Falle zu genauer, selbständiger und kritischer Nachprüfung - nicht nur berechtigt - sondern verpflichtet. Es scheint mir vielmehr eine dringende Aufgabe unserer höchsten Gerichte zu sein, sorgfältigst darüber zu wachen, daß diese Pflicht von den Instanzgerichten im Gedränge des Geschäftsanfalls nicht vernachlässigt wird. Die Schlußfeststellung eines morphologischen Gutachtens "Vaterschaft wahrscheinlich" ist eine eindeutige Verstärkung der Aus-
214 3.2. Analyse und Vergleich einiger höchstrichterlicher Entscheidungen sagekraft der serostatistischen Vaterschaftswahrscheinlichkeit. Die gegenteilige Annahme des Senats ist schlicht falsch. 3 -
Nach Sachlage muß die Chance, neue oder präzisere Information zur Frage der Beiwohnung des Beklagten einerseits und etwaiger Mehrverkehrszeugen andererseits (während des wirklich kritischen Zeitraums) zu erhalten, als so gering angesehen werden, daß die Kosten-Nutzenrelation zwischen Aufwand und zu erwartender Verbesserung des Informationsstandes negativ sein dürfte, d. h. auch der vom Senat erhobene Einwand mangelnder Entscheidungsreife erscheint wenig überzeugend.
Im zweiten Durchgang hatte das OLG, wie schon erwähnt, den Weg über die Vaterschaftsvermutung des § 1600 0 Abs.2 Satz 1 gewählt, damit aber beim BGH wiederum kein Glück: Nach § 16000 gebe es zwei Wege, um zur Vaterschaftsfeststellung zu gelangen: Entweder den vollen Beweis der Abstammung im Sinne einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit (Abs.l) oder den Weg über die Vermutung (Abs.2). Beim ersten Weg gründe sich die überzeugung in aller Regel auf naturwissenschaftliche Ähnlichkeitsgutachten; gewinne das Gericht diese überzeugung, so seien weitere Feststellungen nicht erforderlich und der Geschlechtsverkehr zwischen der Mutter und dem Manne ergebe sich - da Fälle künstlicher Insemination ausschieden - im Wege des Rückschlusses. Solle hingegen die Abstammung mit Hilfe der Vermutung (Abs.2) festgestellt werden, so könnten Zweifel an bestrittenen Angaben der Mutter nicht durch einen Hinweis auf durch Gutachten festgestellte Ähnlichkeiten zwischen Kind und Mann ausgeräumt werden. Denn nur die durch Abstammung vermittelte Ähnlichkeit erlaube diesen Schluß. Wörtlich: "Soll die Abstammung erst mit Hilfe der Vermutung des Abs.2 festgestellt werden, so kann sie nicht in der Gedankenfolge vorweggenommen werden, indem aus der Ähnlichkeit, die dem Richter noch nicht die überzeugung von der Abstammung verschafft hat, auf die Beiwohnung als die Grundlage der Abstammung geschlossen wird. Läßt die Ähnlichkeit die Abstammung nur als wahrscheinlich erscheinen, dann ist damit keine Grundlage mehr für einen Hinweis auf eine tatsächlich erfolgte Beiwohnung gegeben." Danach könne das Berufungsurteil nicht aufrechterhalten werden. Die Sache sei aber auch nicht abweisungsreif. Denn das OLG habe sich möglicherweise durch das BGH-Urteil des ersten Durchgangs irrtümlich an einer erneuten Vaterschaftsfeststellung gemäß Abs.l gehindert gesehen. Doch auch wenn es nicht zu einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit gelange, werde möglicherweise eine erneute Würdigung der Beweisaufnahme, ohne auf die für die Vaterschaft sprechenden Indizien zurückzugreifen (sie!), die überzeugung zu gewinnen sein, daß die Aussage der Mutter wahr sei; immerhin habe 3 Nach K. Hummel (DAVorm. 1976 Sp. 121-127) wird das Prädikat "Vaterschaft sehr wahrscheinlich" (= 98 %) des serostatistischen Befundes durch das Prädikat "Vaterschaft wahrscheinlich" des morphologischen Gutachtens zu "Vaterschaft höchst wahrscheinlich" verstärkt. Würden wir uns entschließen, das Prädikat "Vaterschaft wahrscheinlich" in einer Prozentzahl (z. B. 95 %) auszudrücken, könnten wir das Gesamtprädikat mit der Formel p = PI + P2 - PI 'P2 ermitteln (vgl. § 32.1.1).
§ 36 Weitere BGH-Urteile zu § 16000 BGB
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das OLG deren Glaubwürdigkeit jetzt wesentlich positiver beurteilt als im ersten Durchgang. Was soll man dazu sagen? Offensichtlich hielt der IV. Zivilsenat des BGH selbst das Ergebnis des Berufungsurteils für zutreffend, glaubte aber bei dessen Beweiswürdigung einen Zirkelschluß entdeckt zu haben und hob daher - zum zweiten Mal! - auf. Wie einfach wäre es gewesen, das zutreffende Berufungsurteil bestehen zu lassen, selbst wenn dem BGH gewisse korrigierende Hinweise zur Art und Weise der Beweiswürdigung unerläßlich erschienen. Besonders wenn wir die Künstlichkeiten dagegen halten, die derselbe Senat in dem am seI ben Tag verkündeten Urteil im 21 il/o-Fall unternahm (§ 35.4 und 5.), um ein im Ergebnis wahrscheinlich unrichtiges Berufungsurteil zu retten! Was den Kernpunkt angeht, teile ich die sowohl von F. Odersky wie auch von H. Maier (N.2) geübte Kritik, daß es der IV. Zivilsenat des BGH ist, der bei dem von ihm herausgestellten Zirkelschluß einem Trugschluß erlegen ist. Äußerlich gesehen ist sein Gedankengang zunächst glatt und schlüssig: ich kann nicht aus der Abstammung auf die Beiwohnung schließen, um sodann kraft der aus der Beiwohnung sich ergebenden Abstammungsvermutung die Abstammung herzuleiten. Allerdings wäre eine Überlegung, bei der nur aus der Ähnlichkeit auf die Beiwohnung geschlossen wird, dann aber aus der Beiwohnung etwas Zusätzliches (d. h. eine Erhöhung der aus der Ähnlichkeit sich ergebenden Vaterschaftswahrscheinlichkeit) entnommen würde, offensichtlich falsch und wohl als "Verstoß gegen Denkgesetze" einzuordnen. Gerade dies war jedoch nicht geschehen. Vielmehr hielt das OLG die Beiwohnung wegen der positiv eingeschätzten Glaubwürdigkeit der Aussagen der Mutter für wahrscheinlich und sah diese Annahme durch die massiven positiven Hinweise der Gutachten auf die Vaterschaft und was ist naheliegender! - nachdrücklich bestätigt. Wieder fällt es schwer, die abweichende Überlegung des IV. Zivilsenats des BGH überhaupt nachzuvollziehen und wieder findet sich der Schlüssel zum Verständnis in abstrakten Vorstellungen über den Vollbeweis, auch wenn dieser mit dem Epitheton "an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit" versehen wird. Die Logik des BGH lautet: erforderlich ist zumindest ein Vollbeweis: entweder der einer Abstammung oder der einer Beiwohnung. Es ist nicht angängig, aus zwei Wahrscheinlichkeiten einen Vollbeweis hervorzuzaubern. Doch ist das Gegenteil richtig: Es sind stets nur die in die gleiche Richtung weisenden Wahrscheinlichkeiten, die sich zur "an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit" verdichten. Es ist die Anschauung vom "Vollbeweis" als Entscheidungsgrenze, die für gerichtliche Tatsachenfeststellungen schon im Ansatz verkehrt
216 3.2. Analyse und Vergleich einiger höchstrichterlicher Entscheidungen ist. Nichts zeigt dies drastischer als die Argumentationsweise unseres höchsten Zivilgerichts gerade im vorliegenden Fall. Allerdings halte ich auch die Lehre von den "zwei Wegen", die gemäß § 1600 0 BGB zur Vaterschaftsfeststellung führen sollen, für fragwürdig.
2. Der Fall des 72jährigen Beklagten (BGH-Urteil vom 19. Dezember 1973) Vielleicht nicht von Verblendung aber doch von Weltfremdheit kann man im folgenden Fall sprechen, von dem sich wenigstens sagen läßt: Ende gut, alles gut. 2.1. Bericht und Bewertung des BGH-Urteils Ende 1971 war die Vaterschaft des Beklagten vom Amtsgericht MönchenGladbach bejaht worden. Das OLG Düsseldorf hatte Mitte 1972 diese Entscheidung bestätigt, jedoch die Revision zugelassen. Sein Urteil war Ende 1973 vom BGH aufgehoben worden.· Die Vaterschaftsfeststellung des Amtsgerichts wurde schließlich mit dem zweiten Berufungsurteil vom 10. März 1976 rechtskräftig, in welchem die Zulassung der Revision nicht mehr für geboten gehalten wurde. 5 Hier ging es darum, ob ein 72jähriger Beklagter als Vater festgestellt werden kann, wenn das serologische Gutachten die Vaterschaft mit 99,75 il/O und das erbbiologische Gutachten sie mit 99,6 il/O Wahrscheinlichkeit, d. h. mit "praktisch erwiesen" und mit "Vaterschaft höchst wahrscheinlich" bejahen. Die 29jährige, geschiedene Mutter hatte dem Beklagten seit März 1967 den Haushalt geführt. Sie hatte gegenüber dem Jugendamt zunächst einen anderen Mann als Erzeuger benannt. Als ihr Kind dann aber in eine Pflegestelle gegeben werden sollte, hatte sie den Beklagten benannt, den sie in einigen Monaten heiraten wolle; sie wolle dann das Kind zu sich nehmen. Der Beklagte hatte zunächst vorgebracht, er halte sich nicht für den Vater und unter Namensnennung Mehrverkehr geltend gemacht. Später hatte er Geschlechtsverkehr mit der Mutter allgemein in Abrede gestellt und außerdem ohne nähere Angaben gesagt, er sei zeugungsunfähig. Das erste Berufungsurteil hatte die Vaterschaftsfeststellung auf die Ergebnisse der beiden Gutachten gestützt, die einander deutlich bestätigen würden und bei einem so klaren Ergebnis der objektiven Beweismittel von der Erhebung weiterer Beweise - und zwar auch bezüglich der behaupteten Zeugungsunfähigkeit - ausdrücklich abgesehen. 4 BGH, Urteil vom 19. Dezember 1973 IV. Zivilsenat 117/72 - unveröffentlicht - Pressemeldung FAZ vom 16. Mai 1974; Hinweise auf weitere unveröffentlichte BGH-Urteile zu hochprozentigen Vaterschaftswahrscheinlichkeiten in FAZ vom 28. November 1975. 5 Dem Verfasser lagen das BGH-Urteil und das zweite Berufungsurteil im Wortlaut vor.
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Der BGH hob dieses Urteil auf, weil es ein Rechtsfehler sei, eine weitere Beweisaufnahme mit der Begründung abzulehnen, die Vaterschaft sei praktisch erwiesen. Zwar könne der BGH keine allgemeine Regeln darüber aufstellen, wann nach Würdigung aller Umstände - der Schluß zu ziehen sei: Vaterschaft erwiesen, und fährt wörtlich fort: "In der medizinischen Wissenschaft wird überwiegend der Standpunkt vertreten, die Vaterschaft sei bei dem nach dem Essen-Möller-Verfahren errechneten Wahrscheinlichkeitswert von 99,8 G/o (nach Hummel ist es konsequenter, einen solchen von 99,73 G/o anzunehmen) praktisch erwiesen. Wenn keine Umstände vorliegen, die gegen die Vaterschaft eines Mannes sprechen, für den sich ein solcher Wahrscheinlichkeitswert ergeben hat, kann das Gericht die Vaterschaft des Betreffenden feststellen. Es läßt sich jedoch nicht sagen, daß diese Feststellung bei einem solchen Wert in jedem Fall zu treffen ist. Auch dann, wenn die Vaterschaft danach praktisch erwiesen ist, ist sie damit nicht voll erwiesen. Eine, wenn auch sehr geringe Wahrscheinlichkeit, daß der betreffende Mann nicht der Vater ist, bleibt bestehen. Die Vaterschaft kann z. B. auch bei einem so hohen Wahrscheinlichkeitswert nicht festgestellt werden, wenn die weitere Beweisaufnahme ergibt, daß der betreffende Mann unmöglich der Erzeuger des Kindes sein kann; z. B. weil er nicht mit der Mutter verkehrt hat oder auch weil er zeugungsunfähig gewesen ist." Hier habe zu weiterer Aufklärung genügend Anlaß bestanden, da von Mehrverkehr während der gesetzlichen Empfängniszeit auszugehen sei, und der Beklagte, "als er mit ihr verkehrte, bereits 72 Jahre alt, also in einem Alter, in dem Männer nur noch selten Vater von Kindern werden," gewesen sei. Es folgen Hinweise zur Beiwohnungs- und Zeugungsfähigkeit im hohen Alter nach medizinischer Literatur sowie, für den Fall, daß der Beklagte nicht wegen Zeugungsunfähigkeit ausgeschlossen werden könne, zur Notwendigkeit, aufzuklären, mit welchen Männern die Mutter während der Empfängniszeit außerdem verkehrt habe und diese in die serostatistische Untersuchung einzubeziehen. Wörtlich meint der IV. Zivilsenat des BGH: "In Anbetracht der widersprechenden (sie!) Angaben der Sachverständigen muß hier zugunsten des Beklagten davon ausgegangen werden, daß sich für ihn eine Vaterschaftswahrscheinlichkeit nach dem Essen-Möller-Verfahren von 99,6 G/o ergibt. Unter diesen Umständen kann, wenn der Beklagte nicht wegen Zeugungsunfähigkeit als Vater ausgeschlossen ist, nicht von einer weiteren Beweiserhebung abgesehen werden." Und etwas später: "Nur aufgrund einer solchen umfassenden Begutachtung kann das Berufungsgericht entscheiden, ob schwerwiegende Zweifel gegen die Vaterschaft des Beklagten bestehen. Je nach dem Ergebnis der serostatistischen Begutachtung kann es auch geboten sein, diese Person in die erbbiologische Begutachtung einzubeziehen." Die als irrig zu qualifizierende Auffassung, daß die Ergebnisse der serostatistischen und der erbbiologischen (morphologischen) Begut-
218 3.2. Analyse und Vergleich einiger höchstrichterlicher Entscheidungen achtung, die jede für sich zu - hier besonders massiven - positiven Hinweisen geführt haben, sich nicht etwa gegenseitig bestätigen und somit die Gesamtwahrscheinlichkeit erhöhen, sondern einander widersprechen sollen, findet sich, wie wir sahen (1.), auch schon im Urteil vom 9. März 1973. Ich erkläre mir diesen Irrtum dadurch, daß der Urheber einem Trugschluß nach demselben Muster erlegen ist wie dort, wo es um die Zusammenfassung einer Wahrscheinlichkeit betreffend die Abstammung und einer Wahrscheinlichkeit betreffend die Beiwohnung ging. Seine überlegung könnte vielleicht gewesen sein: "Angenommen die Entscheidungsgrenze für ,voll erwiesen' läge bei 99,73 Ofo; dann wäre zwar der hier ermittelte serostatistische Wert von 99,75 Ofo das Ende der Geschichte, der ebenfalls ermittelte erbbiologische (!) Wert von 99,6 G/o würde hingegen nicht ausreichen. Da ich beide Gutachtenergebnisse als in gleicher Weise fundiert ansehe, muß ich mich entscheiden, ob ich dem einen oder dem anderen folgen will, wobei mich das eine zu ,erwiesen' und das andere nur zu ,praktisch erwiesen' führt, was ich wegen das kategorialen Sprunges zwischen bloßer Wahrscheinlichkeit und Vollbeweis als Widerspruch empfinde. Den kategorialen Sprung zu verteidigen, ist meine Aufgabe. Es erscheint sicherer, wenn ich mich zugunsten des Beklagten entscheide, da es ja Sache des Klägers ist, den Beweis zu führen." Soweit das von mir vermutete - abwegige - Räsonnement des Urhebers der BGH-Entscheidung: Es geht zunächst von einem idealistischabstrakten Wahrheitsbegriff aus und fordert dementsprechend den "Vollbeweis". Gewissermaßen im Wege des Entgegenkommens begnügt es sich so dann mit einem "Weniger", da 100 (l/o Wahrscheinlichkeit in der Praxis nicht erreichbar sind. Das "Weniger" ist die sogenannte dreifache Streuung oder 3-Sigma-Grenze (99,73 G/o), die kritiklos auf den rechtsgenügenden Beweis übertragen wird. Wahrscheinlichkeitswerte unter dieser Grenze werden als Indizien eingestuft, die gegen die Vaterschaft sprechen, obwohl nach meinem Verständnis erst bei Werten, die unter 50 (l/o liegen, von einem "gegenläufigen" Indiz gesprochen werden kann. Es trifft zu und kann nicht genügend betont werden, daß die abschließende Beweiswürdigung im Sinne der Zusammenfassung sämtlicher Indizien erst nach Ausschöpfung der verfügbaren und mit vertretbarem Aufwand erreichbaren Beweismittel, also nach erreichter Entscheidungsreije, stattfinden kann. Bis dahin können sich neue Informationen und Erkenntnisse ergeben, welche die Wahrscheinlichkeiten in überraschender Weise ändern und verschieben. Ein - zunächst - erdrückend erscheinendes übergewicht wird plötzlich neutralisiert oder gar ins Gegenteil verkehrt. Hätte sich der BGH damit begnügt, diesen Gedanken hervorzuheben, ließe sich gegen seine Ent-
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scheidung nicht viel sagen, außer daß vielleicht die hier von ihm an die Entscheidungsreife gestellten Anforderungen zu hoch geschraubt sind. 2.2. Lösung des Falles im Lichte der W ahrscheinlichkeitslehre Wie könte die Lösung dieses Falles im Lichte der hier vertretenen Auffassung aussehen? Als erstes ist zu fragen, ob die in den beiden Gutachten enthaltenen Wahrscheinlichkeitswerte im Sinne der Wahrscheinlichkeitsrechnung voneinander unabhängig sind. Wären sie nicht unabhängig, etwa weil sie insgesamt oder zum Teil aufgrund übereinstimmender Befunde errechnet wurden, so hätte der BGH recht: sie dürften dann nicht als Informationen aufgefaßt werden, die sich gegenseitig mit der Folge der Erhöhung der Gesamtwahrscheinlichkeit verstärken. Ihr Informationswert würde sich auf eine bloß kontrollierende gegenseitige Bestätigung beschränken. Wenn es sich .einerseits um ein serostatistisches und andererseits um ein morphologisches Gutachten handelt, ist zu fragen, ob Blutmerkmale und morphologische Merkmale unabhängig voneinander vererbt werden. Diese Frage ist im Lichte der zeitgenössischen Vorstellungen über die Vererbung zu bejahen. Das morphologische Gutachten liefert im Vergleich zum serologischen Gutachten neue, ergänzende Informationen.6 Wir sind also berechtigt und verpflichtet, die beiden Wahrscheinlichkeitswerte zu einem höheren Gesamtwert zu verbinden. Schon die Intuition sagt uns, daß bei zwei so massiven positiven Hinweisen ihre Verbindung zu einem erdrückenden übergewicht führen muß. Es wäre aber falsch, diesen Gesamtwert mit der Gesamtwahrscheinlichkeit des konkreten Falles gleichzusetzen. Wir haben noch nicht die gesamte Information berücksichtigt. Der Fall ist noch nicht in die engstmögliche Wahrscheinlichkeitsklasse eingeschlossen. Zum Beispiel könnte der Beklagte zeugungsunfähig sein, obwohl die Wahrscheinlichkeit dagegen spricht. Ließe sich mit Sicherheit seine Zeugungsunfähigkeit feststellen, wäre klar, daß er ungeachtet des erdrückenden übergewichts, das für seine Vaterschaft spricht, - seltenerweise! - in Wirklichkeit das Kind nicht gezeugt hat. Können wir die Zeugungsfähigkeit nicht mit absoluter Sicherheit verneinen - und davon ist auszugehen -, führt uns nur eine solche Wahrscheinlichkeit der Zeugungsunfähigkeit zu einem anderen Ergebnis, die höher ist als die Vaterschaftswahrscheinlichkeit aufgrund des serologischen und des morphologischen 8
I. Oepen u. H. Ritter NJW 1977 S. 2107-2110 (2109).
220 3.2. Analyse und Vergleich einiger höchstrichterlicher Entscheidungen Gutachtens zusammengenommen. Da die Aussicht, eine so hohe Wahrscheinlichkeit der Zeugungsunfähigkeit des Beklagten noch nachträglich festzustellen, bei nüchterner Betrachtung eine bloß theoretische Möglichkeit sein dürfte, hat nach meinem Dafürhalten das Berufungsurteil des ersten Durchgangs zu recht die Entscheidungsreife bejaht. Wie hoch aber ist dann die Gesamtwahrscheinlichkeit in diesem konkreten Fall? Da wir über die Zeugungsfähigkeit oder -unfähigkeit des Beklagten nichts Bestimmtes wissen und auch nichts hinreichend Bestimmtes mehr in Erfahrung bringen können, bleibt uns nur übrig, statt dessen auf das uns bekannte Alter und auf etwaige Erfahrungssätze betreffend die Zeugungsfähigkeit eines 72jährigen Mannes (wenn möglich noch eingegrenzt durch weitere, uns bekannte Merkmale dieses Mannes wie Gesundheitszustand u. ä.) zurückzugreifen. Gäbe es z. B. einen Erfahrungssatz, wonach nur 10 fl/O von 72jährigen Männern mit diesem Gesundheitszustand noch zeugungsfähig sind, so hätten wir bei unserer Zusammenfassung aller Indizien eine entsprechende, gegen die Vaterschaft gerichtete Wahrscheinlichkeit mit zu berücksichtigen. Diese gegenläufige Wahrscheinlichkeit von 10 Ofo würde allerdings die zugunsten der Vaterschaft sprechenden Indizien nicht ganz aufwiegen, so daß wir im Ergebnis aufgrund des überwiegensprinzips (Entscheidungsgrenze: 50 fl/ O) hier zur Bejahung der Vaterschaft gelangen. Lesen wir nun das Berufungsurteil des zweiten Durchgangs, stellt sich ein Gefühl der Erleichterung ein. Es kommt (nach zusätzlicher, aufwendiger Beweisaufnahme, bei welcher drei angebliche Mehrverkehrer in die serologische Untersuchung einbezogen, jedoch als Erzeuger ausgeschlossen wurden) bei einem neuer rechneten Essen-MöllerWert von 99,9993 '0/0 und unter Berücksichtigung der wissenschaftlichen Erfahrung zur Zeugungsfähigkeit von älteren Männern ohne Umschweife zur Bejahung der Vaterschaft. 3. FaLZ mit "dirnenhaftem Lebenswandel" der Mutter
(BGH-Urteil vom 7.6. 1978)
Für schwer erträglich halte ich auch das Urteil vom 7. Juli 1978 des IV. Zivilsenats des BGH (NJW 1978 S. 1684), das ein (nichtveröffentlichtes) Urteil vom 20. Juni 1977 des 20. Zivilsenats des Kammergerichts wegen Außerachtlassung der Lehre von den "zwei Wegen" (d. h. entweder Vollbeweis gemäß § 1600 0 Abs. lader Entscheidung nach § 1600 0 Abs. 2) aufgehoben und zurückverwiesen hatte; durch (nichtveröffentlichtes) Urteil vom 29. Juni 1979 stellte der 3. Zivilsenat des Kammergerichts im zweiten Durchgang nach Einholung weiterer Gut-
§ 36 Weitere BGH-Urteile zu § 16000 BGB
achten und aufgrund eines positiven Vaterschaftshinweises 99,9988 iJ/o die Vaterschaft des Beklagten endgültig fest.
221 von
Der Beklagte hatte zwar Geschlechtsverkehr mit der Kindesmutter während der Empfängniszeit eingeräumt, jedoch dirnenhaften Lebenswandel behauptet und glaubhaft gemacht. Die benannten Mehrverkehrszeugen waren - im Gegensatz zum Beklagten - mittels Blutuntersuchungen ausgeschlossen worden: ihnen fehlte das extrem seltene Blutmerkmal Cw, welches das Kind angesichts des Befundes bei der Mutter nur vom Vater geerbt haben konnte. Die biostatistischen Berechnungen hatten 99,5 bis 99,6 % und bei Berücksichtigung weiterer Merkmalsgruppen ohne Mutter-Kind-Unterschiede 98,5 bis 99,0 % ergeben. Das "erbbiologische" Gutachten kam ebenfalls angesichts des Haarstrichs der Augenbrauen, des Baus der Regenbogenhäute, des Baus der Nase, der Formgebung des Nasenrückens und des Nasenbodens, sowie der Formgebung im Bereich der Ohren, der Hände und der Füße beim Kläger einerseits und beim Beklagten andererseits zum Ergebnis: "sehr hohe Wahrscheinlichkeit der Vaterschaft". Ein solcher morphologischer Ähnlichkeitsvergleich ist - anders als die biostatistische Berechnung - für den Laien nachvollziehbar. Der Senat hatte sich damit befaßt und die Schlußfolgerungen des Gutachters sich ausdrücklich zu eigen gemacht. Er hatte angesichts dieses Ergebnisses und der biostatistischen Berechnungen es abgelehnt, ein weiteres, kostspieliges HL-A-Gutachten einzuholen: das Ergebnis der Beweisaufnahme sei "fast eindeutig" und folglich die Vaterschafts feststellung "fast sicher". Zusammenfassend: "Diese Ergebnisse führen zu einer so hohen Wahrscheinlichkeit für die Vaterschaft des Beklagten, daß sich die mögliche Vaterschaft eines anderen Mannes zu einer rein theoretischen Größe vermindert. Aus dieser verbleibenden theoretischen Möglichkeit heraus können schwerwiegende Zweifel gegen die Vaterschaft des Beklagten nicht hergeleitet werden." Der IV. Zivil senat des BGH hielt diese Entscheidung für rechtsfehlerhaft: angesichts der Formulierung "fast eindeutig" und "fast sicher" müsse davon ausgegangen werden, daß das Kammergericht die Vaterschaft nicht als völlig sicher angesehen habe. Wegen der Zweifel, die sich aus den unterschiedlichen Formulierungen ergeben, könne nicht davon ausgegangen werden, daß das Berufungsgericht "in dem in § 286 ZPO vorausgesetzten Umfang überzeugt war". Daß nicht von Amts wegen ein Ergänzungsgutachten bezüglich des HL-A-Systems eingeholt worden sei, sei rechtsfehlerhaft. Durch die Zurückverweisung erhalte das Kammergericht Gelegenheit, "sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob die dem Rechenansatz nach Essen-Möller zugrundeliegende Annahme, daß die Vaterschaft ... des Mannes apriori ebenso wahrscheinlich sei wie seine Nichtvaterschaft, auch dann gemacht werden darf, wenn die Kindesmutter während der gesetzlichen Empfängniszeit häufig wechselnden Geschlechtsverkehr hatte." Zur letzten Frage bemerkt das KG im zweiten Durchgang ebenso zutreffend wie lapidar: bei einer biostatistischen Vaterschaftswahrscheinlichkeit von 99,9988 Ofo sei für die Entscheidung unerheblich, daß noch
222 3.2. Analyse und Vergleich einiger höchstrichterlicher Entscheidungen andere Männer während der Empfängniszeit mit der Kindesmutter geschlechtlich verkehrt haben. Die Behandlung des vom BGH angeschnittenen allgemeinen Problems wäre für diesen selbst eine wichtige und sogar dankbare Aufgabe gewesen (dazu § 39). § 37 Gelungene deutsche und mißlungene
englische Abstammungsentscheidungen
1. Gelungene deutsche Entscheidungen Die vorstehend besprochenen Beispiele aus der Rechtsprechung des IV. Zivilsenats des BGH zu § 1600 0 BGB, die für eine Vielzahl ähnlicher Entscheidungen, sei es des BGH sei es der nachgeordneten Gerichte stehen, sind vor allem wegen der Verletzung des Zurückhaltungsgebotes: primum non nocere bedauerlich. Immerhin lassen sich ohne Mühe in der deutschen Rechtsprechung Gegenbeispiele finden, die an innerer Schlüssigkeit und äußerer Klarheit nichts zu wünschen übrig lassen. Einige sollen hier kurz skizziert werden. Im Anschluß daran komme ich auf die Vorgeschichte des überwiegensprinzips in Abstammungssachen in England zurück. 1.1. Urteil vom 8. 11.1973 des Amtsgerichts Berlin-Schöneberg
(FamRZ 1974 S. 202-205)
Ebenso sorgfältig wie transparent ist die Behandlung eines Streites um die Abstammung eines Kindes von nicht miteinander verheirateten Eltern, den das Amtsgericht Berlin-Schöneberg zu entscheiden hatte: Mutter und Beklagter waren über eineinhalb Jahre miteinander befreundet gewesen. Der Beklagte hatte eingeräumt, der Mutter sowohl vor als auch nach dem kritischen Zeitpunkt beigewohnt zu haben, nicht jedoch während dieses Zeitraums. An den fraglichen Tagen hatten sie beide zusammen einen Besuch bei den Eltern der Mutter gemacht und dort übernachtet. Die biostatistische Berechnung hatte einen Vaterschaftswahrscheinlichkeitswert von 99,6 (l/o ergeben; die morphologische Untersuchung führte "überall dort, wo das Kind von der Mutter abweicht, (zu) besonders hervorstechenden Ähnlichkeiten mit dem Beklagten" (wird im einzelnen belegt). Das Gericht kam zum Schluß: "Nach alledem hatte das Gericht gemäß § 16000 Abs.l BGB als für das praktische Leben eindeutig und sicher festzustellen, daß der Beklagte der Erzeuger des am 17.11. 1968 von der Klägerin geborenen Kindes ist. Als sein nicht ehelicher Vater ist er mit ihm in gerader Linie verwandt (§ 1589 Satz 1 BGB)." Die Urteilsgründe zeichnen sich, wenn mir eine solche Bemerkung gestattet wird, aus durch Sorgfalt und Vollständigkeit im Detail bei übersichtlicher und natürlicher Gedankenführung: Sie beginnen mit der Feststellung des höchstwahrscheinlichen Zeugungstermins anhand der Reifemerkmale. Sodann wird ausgeführt, wie das Gericht zur über-
§ 37 Gelungene deutsche und mißlungene englische Entscheidungen
223
zeugung gelangt ist, daß - ungeachtet der gegenteiligen Einlassung des Beklagten - die Parteien zu diesem Zeitpunkt geschlechtlich verkehrt haben. Es folgen eine genaue Darlegung des Ergebnisses der Blutuntersuchung, einige Bemerkungen zur Aussagekraft der biostatistischen Vaterschaftswahrscheinlichkeitswerte sowie eine ins einzelne gehende Wiedergabe der Ergebnisse der morphologischen Untersuchung. Insbesondere die aufgrund der letztgenannten Befunde festgestellte Ähnlichkeit gehe "wesentlich über das hinaus, was der Zufall zusammenführen kann." - Wer dazu neigen sollte, disqualifizierenden Bemerkungen des IV. Zivilsenats des BGH über die erbbiologischanthropologische (morphologische) Begutachtung Gehör zu schenken, möge sich einmal die in diesem Urteil wiedergegebenen Einzelergebnisse vor Augen führen (FamRZ 1974 S. 205). 1.2. Urteil vom 10.7. 1972 des 16. Zivilsenats des OLG Stuttgart (FamRZ 1972 S. 584-586) Auch die Urteile des 16. Zivilsenats des OLG Stuttgart und des 3. Zivilsenats des Kammergerichts (1.3.) in welchen sich die Berufungsinstanzen insbesondere mit der Entscheidungsreife zu befassen hatten, halte ich - jedenfalls im wesentlichen - für zutreffend. Das OLG Stuttgart bejahte die Entscheidungsreife, obwohl das Amtsgericht auf die Einholung eines morphologischen Gutachtens verzichtet hatte, und verwarf die auf dieses "Versäumnis" gestützte Berufung. Umgekehrt gab das Kammergericht der Berufung wegen Außerachtlassung der allgemein gebotenen Aufklärungspflicht seitens des Amtsgerichts, welches die Einholung eines serologischen Gutachtens nicht für erforderlich gehalten hatte, statt und wies den Rechtsstreit an das Amtsgericht zurück. Der Sachverhalt des vom OLG Stuttgart zu entscheidenden Falles ähnelt dem des Falles des Amtsgerichts Berlin-Schöneberg. Zwischen der jugendlichen Mutter und dem Beklagten, einem Arbeitskollegen, bestand ein Liebesverhältnis. Dieser hatte wiederholten, ja regelmäßigen Geschlechtsverkehr vor und auch nach dem kritischen Zeitraum eingeräumt, jedoch eine Beiwohnung zu einem Zeitpunkt, der für die Empfängnis des Kindes in Frage kam, ausgeschlossen. Demgegenüber konnte die Mutter in plausibler Weise einzelne Tage, an welchen sie mit dem Beklagten geschlechtlich verkehrt hatte, gen au bezeichnen (z. B. gemeinsamer Badeausflug am 17. Juni, gemeinsam besuchte Geburtstagsparty am 5. September). Hinzu kamen andere Anhaltspunkte, die es wahrscheinlich machten, daß die beiden gerade auch während des eigentlich kritischen Zeitraums "miteinander gegangen" sind. Das Blutgutachten hatte den Beklagten nicht ausgeschlossen, sondern vielmehr eine biostatistische Vaterschaftswahrscheinlichkeit von 98,5 Ofo ergeben. - Da vieles für und nichts gegen die Vaterschaft des Beklagten spreche (der Beklagte, dem angesichts des vertrauten Verhältnisses während längerer Zeit zwischen den beiden erfahrungsgemäß ein Verhältnis der Mutter zu einem oder mehreren anderen Männern auffallen hätte müssen, habe Mehrverkehr nicht substantiiert behauptet), kam das Gericht zum Ergebnis, daß die Beweislage eindeutig
224 3.2. Analyse und Vergleich einiger höchst richterlicher Entscheidungen und daher die vom Beklagten angeregte Einholung eines morphologischen Gutachtens nicht mehr erforderlich sei. Dem ist beizupflichten. Zwar würde das morphologische bzw. das HLA-Gutachten - aller Voraussicht nach - zu einer weiteren Absicherung des gefundenen Ergebnisses durchaus beitragen; doch vermag der zu erwartende Nutzen den mit einer solchen Untersuchung verbundenen Aufwand an Zeit, Kosten und vor allem Belästigung der Personen, die sich der Untersuchung unterziehen müssen, nicht zu rechtfertigen. 1.3. Urteil vom 23.1. 1974 des 3. Zivilsenats des Kammergerichts (FamRZ 1974 S. 200-202)
Der vom Kammergericht zu beurteilende Fall ähnelt in gewissen Punkten (eingeräumte Beiwohnung während der Empfängniszeit, türkische Staatsangehörigkeit des Beklagten) dem 21 i1/o-Fall (§ 35). Der Beklagte hatte nicht nur die Beiwohnung eingeräumt, sondern sich anfänglich mehrfach ausdrücklich zu dem Kind bekannt, während die Mutter - nach der Einlassung des Beklagten - ihn nicht als Vater des Kindes anerkannte und ihm keine Gelegenheit gab, das Kind zu besuchen. Das Amtsgericht hatte auf die eidliche Aussage der Mutter hin, sie habe mit keinem anderen Mann während der Empfängniszeit Geschlechtsverkehr gehabt, die Vaterschaft festgestellt. Das Kammergericht sah in diesem Vorgehen einen Verstoß gegen die gesetzlich vorgeschriebene Ermittlungspfiicht, welche die Einholung eines medizinischen Gutachtens in der Regel erforderlich mache. Die Entscheidung verdient im Ergebnis vollen Beifall: Der Beklagte hatte handfeste Gründe, die Mehrverkehr der Mutter während der Empfängniszeit wahrscheinlich machten (Warnungen einer Nachbarin vor der Mutter, die eigenen Bekundungen der Mutter sowie Fotografien, die die Mutter beim Austausch von Zärtlichkeiten mit anderen Männern zeigten). Nach wie vor war er bereit, die sich aus seiner Vaterschaft ergebenden Pflichten zu übernehmen. Er bestand jedoch darauf, daß geklärt wird, ob er tatsächlich der Vater ist. Hierzu war, darin wird man dem Kammergericht folgen müssen, die - eidliche - Aussage der Mutter allein kein hinreichendes Beweismittel. Zustimmung verdienen ferner die Ausführungen, daß auch bei einem einer ausländischen Bevölkerungsgruppe angehörenden Beklagten eine biostatistische Auswertung der serologischen Befunde möglich ist und die Einholung eines morphologischen Gutachtens zunächst unterbleiben kann. Weniger glücklich hingegen erscheint mir der wohl auch zu weit abgesteckte Rahmen betreffend die Ermittlung von "Hintergrundinformation" über den Lebenswandel der Mutter einerseits und das Verhältnis zwischen Mutter und Beklagten andererseits. So nüchtern und zielstrebig die für die Vaterschaftsfeststellung unmittelbar relevanten Umstände aufzuklären sind, so wenig angebracht erscheint es, die gesamte Intimsphäre der Mutter zum Gegenstand der Vernehmung zu machen.
§ 37 Gelungene deutsche und mißlungene englische Entscheidungen
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2. Schwer erträgliche englische Entscheidungen Es erscheint lehrreich, sich wenigstens kursorisch die englische Rechtsprechung vor Augen zu führen, die zum Überwiegensprinzip in Abstammungssachen einschließlich der Widerlegung der Ehelichkeitsvermutung "on the balance of probabilities" geführt hat. Sie besteht aus einer Serie von schwer erträglichen "Fehlentscheidungen". Allerdings haben die englischen Gerichte sich die Unzuträglichkeiten wenigstens selbst eingestanden und schließlich sogar aus eigener Kraft die Wende herbeigeführt. Sect. 26 Reformgesetz 1969 war die Bestätigung der von der Rechtsprechung gefundenen Lösung durch das Parlament. Von jeher verdienen die Interessen des Kindes in den Augen der englischen Gerichte besonderen Schutz. Die Vermutung der Ehelichkeit galt als eine besonders "starke" Vermutung. Sie durfte nur als widerlegt angesehen werden, wenn das Gericht überzeugt war, daß eine Beiwohnung des Ehemannes in der Zeit, in der das Kind nach den Gesetzen der Natur empfangen worden sein konnte, nicht stattgefunden haben konnte. Hauptbeispiel hierfür war die Abwesenheit des Ehemanns "beyond the seas" während der Empfängniszeit. Um anschaulich zu machen, wie streng die Vermutung sei, wurde das theoretische Beispiel gebildet, daß ein Mischlingskind von einer weißen Mutter und einem angeblich schwarzen Liebhaber als eheliches Kind des weißen Ehemannes zu vermuten sei, wenn dieser Gelegenheit zur Beiwohnung während der Empfängniszeit hatte. 1 Dieses - vom Standpunkt der genetischen Vaterschaft her gesehene absurde Beispiel ist für das Rechtsgefühl durchaus befriedigend, wenn man sich die Vorteile für das Kind angesichts der damaligen sozialen Gesamtsituation vergegenwärtigt. Ursprünglich mag auch die materialistisch-rurale Einstellung eine Rolle gespielt haben: Who ever bulleth my cow the calf is mine. Tatsächlich war in England die soziale und die rechtliche Diskriminierung von Kindern nichtverheirateter Eltern besonders ausgeprägt. Erst die Beseitigung dieser Diskriminierung (oder jedenfalls der Versuch, sie abzubauen) ermöglichte die Einführung des Überwiegensprinzips. Auslösend für diese "dramatische Änderung" waren einerseits die 1 So (angeblich) Lord CampbelZ in Piers v. P. (1849) 13 Jur. p.569 (572); in dem Bericht über diesen Fall in 2 H.L.C. p. 331-387 (Lord Campbell p.379386) = E.R. 9 p. 1118-1139 (1136-1138) ist diese Äußerung nicht wiedergegeben. Vgl. auch J. B. Thayer: A Treatise on Evidence at the Common Law (1898) p. 346 ff. und R. Cross (§ 15 N.7) p.l11, der dieses heute nur noch als Kuriosum berichtenswerte Zitat in der 5. Auflage 1979 hat fallen lassen. Der englische Präzedenzfall hat noch 1933 dazu geführt, daß ein neuseeländisches Gericht die Ehelichkeitsvermutung nicht als widerlegt ansah, obwohl die beiden Eheleute Weiße, das Kind ein Mischling mit mongolidem Einschlag und der Liebhaber ein Chinese war (Ah Chuk v. Needham 1!133 N.Z.L.R. p.559 Cross aaO (5. Auflage 1979 p. 132 f.).
15 MotS(n
226 3.2. Analyse und Vergleich einiger höchst richterlicher Entscheidungen
Provokation des Rechtsgefühls durch die nachstehenden Entscheidungen und andererseits der Durchbruch des überwiegensprinzips für die Bejahung oder Verneinung von Ehebruch insbesondere in dem berühmten Fall Blyth v. B? 2.1. Watson v. W., Cotton v. C. und Francis v. F. Das Rechtsgefühl wurde insbesondere durch die Entscheidungen in Watson v. W. provoziert. Barnard J. (Watson v. W. (1954) Probate p.48-55) gab einer Unterhaltsklage gegen den - geschiedenen Ehemann statt. Dem Ehemann war, nachdem er das Kind zunächst für sein eigenes gehalten hatte, von der Ehefrau und ihrem Liebhaber gesagt worden, daß es das Kind des Liebhabers sei, der während der Militärzeit des Ehemanns als Untermieter bei ihr gewohnt hatte und mit dem sie inzwischen zusammenlebte. Das Kind war am 7.12.1946 geboren worden, der Ehemann am 5.3.1946 aus dem Militärdienst entlassen worden. Auch Dritten gegenüber hatte die Mutter das Kind als von dem Untermieter stammend ausgegeben. Der Richter erklärte, er glaube zwar gänzlich dem Ehemann und mißtraue vollständig der Ehefrau. Doch sei dies, unglücklicherweise, für die Entscheidung des Streitpunktes nicht maßgebend. Er habe es hier mit der Ehelichkeit oder Unehelichkeit eines Kindes zu tun und das Recht sei in solchen Angelegenheiten sehr streng. Der Ehemann habe, wenn auch mit empfängnisverhütenden Mitteln, während der Empfängniszeit beigewohnt. Daher müsse die Ehelichkeitsvermutung den Ausschlag geben. Wäre der Fall hingegen nach dem überwiegensprinzip zu entscheiden, so würde eindeutig zugunsten des Ehemannes zu entscheiden sein. Einen Beweis über alle vernünftigen Zweifel hinaus habe dieser jedoch nicht erbringen können. Auf derselben Linie liegen zwei weitere Fälle: In Cotton v. C. ((1954) Probate p.305-311) hatte die Mutter dem Mädchen den Vornamen Joffena nach ihrem Liebhaber Joffre gegeben. Die Ehe war wegen Ehebruchs der Mutter geschieden worden. Auch hier fiel dem Richter der ersten Instanz die Entscheidung schwer: Nicht ohne Zögern komme er zur Schlußfolgerung, daß vermutlich eine Geschworenenbank nicht willens wäre, den ganzen Weg zu gehen und die Streitfrage zugunsten des Ehemannes zu entscheiden. Unter den gegebenen Umständen müsse er, und er gebe zu, nur sehr widerstrebend, weil er sehr stark dazu neige zu glauben, daß die wirkliche Wahrheit gerade anders liege, die Streitfrage gegen den Ehemann entscheiden. Das Berufungsgericht bestätigte seine Entscheidung, da es sich um eine Tatsachenfrage handele, die in übereinstimmung damit, was über 2 Blyth v. B. (1966) A. C. p. 643-680; (1966) 1 All E. R. p. 524-543; (1966) 2 W. L. R. p. 634-659.
§ 37 Gelungene deutsche und mißlungene englische Entscheidungen
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die Jahrhunderte hinweg als Beweismaß (measure of proof) für Angelegenheiten dieser Art festgelegt worden sei, zu entscheiden gewesen sei; der Richter erster Instanz habe dieses Beweismaß, das ein strenges sei, als nicht erfüllt angesehen. Demgegenüber sei unerheblich, zu welchem Ergebnis die Richter zweiter Instanz anstelle des Richters erster Instanz ihrerseits gekommen wären. Auch in diesem Fall mußte der betrogene Ehemann nach der Scheidung für den Unterhalt des Kindes aufkommen, das ursprünglich nicht einmal von seiner geschiedenen Frau als das seine angesehen worden war! Die Entscheidung in Francis v. F. «1959) 3 W. L. R. p.447-455) war nicht weniger rigoros. Hier hatte die erste Instanz (das lokale Friedensgericht) zugunsten des Ehemannes entschieden, indem es sich an der größeren Wahrscheinlichkeit, wonach das Kind aus einem Ehebruch stammte, richtete. Diese Entscheidung war jedoch vom Court of Appeal unter Hinweis auf die Entscheidung in Watson v. W. aufgehoben worden, da die Ehelichkeitsvermutung, die zum Schutz der Interessen des Kindes zu Recht eine sehr strenge Vermutung sei, nur durch Beweismittel, welche jedwede vernünftigen Zweifel ausschlössen, widerlegbar sei. Durch ein bloßes überwiegen der Wahrscheinlichkeiten könne sie weder gebrochen noch erschüttert werden. 2.2. In re L. (An Infant) als Vorläufer der Reform von 1969 Ungeachtet der vielfältigen und tiefgreifenden Unterschiede zwischen der deutschen und der englischen Rechtsprechung treffen wir hier und dort auf die Trennung von Entscheidungsreife und Entscheidungsgrenze. Nur wenn beide Aspekte klar getrennt werden, ist verständlich, daß in England der übergang zum überwiegensprinzip in Abstammungssachen und die Zulassung von Blutuntersuchungen Hand in Hand vonstatten gingen. Denn ohne eine solche Trennung könnte es als ausreichend erscheinen, entweder die eine oder die andere Neuerung einzuführen, da bei Zulassung von Blutuntersuchungen so aussagekräftige Beweisergebnisse zu erwarten sind, daß es bei der Entscheidungsgrenze "Beweis jenseits vernünftiger Zweifel" (proof beyond reasonable doubt) sein Bewenden haben könnte. Umgekehrt könnte ein so hoch gezüchtetes und aufwendiges Beweismittel wie die heutige Blutuntersuchung als übertriebener "Luxus" angesehen werden, wenn man sich letztlich mit der überwiegenden Wahrscheinlichkeit zufrieden geben kann. So groß die Neigung zu derartigen überlegungen angesichts gewisser Denkgewohnheitensein mag, so unzutreffend sind sie. Sie beruhen auf einer Vermischung oder gar Verwechslung der Optimierungsprobleme: "Gewährleistung der Entscheidungsreife" und - hiervon scharf zu unterscheiden - "Gewährleistung einer größtmöglichen Zahl 15'
228 3.2. Analyse und Vergleich einiger höchst richterlicher Entscheidungen richtiger Entscheidungen bei nur teilweiser Aufklärung, trotz Erschöpfung der Beweismittel. Nicht nur im Reformgesetz von 1969 (§§ 30.1, 31.3), sondern auch in In re L. (An Infant), einer Entscheidung des Court 0/ Appeal,3 die als Vorläuferin der Reform anzusehen ist, sind beide Neuerungen angesprochen. Es ging um die Frage, welcher von zwei Männern der Erzeuger eines inzwischen lljährigen Mädchens war. Der High-Court-Richter hatte entsprechend dem Antrag beider Parteien, aber entgegen dem Antrag des die. Interessen des Kindes im Rechtsstreit wahrnehmenden Official Solicitor (guardian ad litern) in folgendem Fall eine Blutuntersuchung angeordnet, die der Court of Appeal bestätigte. Die Ehefrau hatte ohne Wissen des Ehemannes, eines Lastwagenfahrers, jahrelang ein Verhältnis mit einem anderen Mann. Der Ehemann hatte das Kind als sein eigenes angesehen. Nachdem er sich selbst einer anderen Frau zugewandt hatte, betrieben beide Seiten die Scheidung. Die Ehefrau war mit ihrer Tochter zu dem anderen Mann gezogen. Sie selbst wußte nicht, welcher von bei den Männern deren Vater war. Alle unmittelbar Beteiligten waren an der Aufklärung der wahren Vaterschaft interessiert und bereit, sich einer Blutuntersuchung zu unterziehen. Dem widersprach der Offieial Solieitor unter Berufung auf ein ärztliches Gutachten, wonach die Gefahr bestehe, daß das Kind durch die Infragestellung seiner Abstammung und die körperliche Untersuchung einen Schock erleiden könnte. Alle beteiligten Richter waren sich darin einig, daß es nicht richtig sein könne, einen solchen Fall mit Hilfe der Ehelichkeitsvermutung, die hier "ebenso gut falsch wie richtig sein kann" (so Lord Willmer) zu entscheiden. Ormrod, J., stützt seine Entscheidung ausdrücklich einerseits auf den sozialen Wandel, insbesondere die geänderte Einstellung gegenüber dem Problem der Ehelichkeit (heutzutage stünden nicht mehr die Vermögensrechte im Vordergrund; diese seien vielmehr nur noch Nebenwirkungen der viel wichtigeren persönlichen Beziehungen) und andererseits auf den wissenschaftlichen Fortschritt betreffend die Blutuntersuchung. Die Weigerung, dies zur Kenntnis zu nehmen, hieße das Risiko eingehen, die Gerichte in ihrer Fähigkeit, Gerechtigkeit zu üben, zu beschränken. Auch dem wohlverstandenen Interesse des Kindes diene die Aufklärung der wirklichen Abstammung am besten. Die Verhaltensmaßregel, keine schlafenden Hunde zu wecken, sei nur so lange angebracht, als davon ausgegangen werden könne, daß die Hunde auch in diesem Zustand verharrten. Dies sei hier nach Sachlage allzu wenig S In re L. (An Infant) Lord Denning M. R., Willmer and Davies L. J J. (1967) 3 W. L. R. p.1645-1666; (1968) 1 All E. R. p.20-35; erstinstanzliches Urteil Ormrod, J. (1968) Probate p. 119.
§ 37 Gelungene deutsche und mißlungene englische Entscheidungen
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wahrscheinlich. Auch gehe es nicht an, dem Kind selbst den Schwarzen Peter zuzuschieben, indem man es seiner späteren Entscheidung überlasse, die Aufklärung seiner wirklichen Abstammung zu betreiben. Der Richter beruft sich auf eine immer wieder zitierte Äußerung von Lord Sumner in Russell v. R. (1924) A. C. p. 687 (748): "Nach meiner Meinung ist für die Rechtspflege (administration of justice) nichts von größerer Bedeutung, als daß alle erheblichen Beweismittel zugelassen und von der Instanz, welche die Aufgabe hat, entsprechend der Wahrheit zu entscheiden, angehört werden sollten ... Man kann nicht zugleich verpflichtet sein, einerseits aufgrund der erheblichen Tatsachen zu entscheiden und andererseits zugleich daran gehindert werden, alle erheblichen Tatsachen kennenzulernen ... Das beste ist, wenn die Wahrheit ans Licht kommt und obsiegt." Was die Widerlegung der Ehelichkeitsvermutung angeht, so sprach sich Lord Denning, M. R., ausdrücklich für das Überwiegensprinzip aus, während sich die beiden anderen Lordrichter ihre Stellungnahme insoweit vorbehielten.
3. Bewertung Bei den das Rechtsgefühl provozierenden Entscheidungen dürfte das Motiv gewesen sein, ein Kind solle nicht zum Ehebruchskind (bastard) abgestempelt werden, es sei denn, daß hierfür ein ganz klarer und unumstößlicher Beweis vorliege. Die oft sehr reale Möglichkeit, daß das Kind legitimiert werden kann, sobald die Mutter geschieden ist und den vermutlich wahren Erzeuger heiratet, blieb außerhalb des Blickfeldes. Das strenge Beharren auf einer obsolet gewordenen Regelung kann, wie hier geschehen, eine überfällige Reform beschleunigen, wenn Verlaß ist auf eine gute Zusammenarbeit zwischen Rechtsprechung und Gesetzgebung. Da die spätere Reform das von Rechts wegen verfügte Unrecht nicht ungeschehen machen kann, bleibt ein solches Verfahren schmerzlich und eine schlechte Methode der Rechtsfortbildung. Immerhin zeigen die Beispiele, wie ernst englische Richter die Bindung an das ihnen vorgegebene Recht nehmen. Die Urteile der englischen Gerichte sind im Ergebnis nicht weniger anstößig als falsche Entscheidungen deutscher Gerichte. Es bleibt ein Unterschied: Der englische Richter gibt sich selbst, den Beteiligten und der Öffentlichkeit rückhaltlos Rechenschaft über den gedanklichen Prozeß der Entscheidungsfindung. Er scheut sich nicht, die Fragwürdigkeit seiner Entscheidung einzugestehen, ja sogar hervorzuheben. Dergleichen findet sich in den Entscheidungsgründen deutscher Gerichte nur selten. Sie werden meist apodiktisch abgefaßt. Unbestechlichkeit wird mit Entpersönlichung gleichgesetzt, Rationalität mit Anonymität. Wohin dies führen kann, haben wir gesehen. Auch deutsche Gerichte
230 3.2. Analyse und Vergleich einiger höchstrichterlicher Entscheidungen
sollten sich und der Öffentlichkeit klar und schlicht über die Gesichtspunkte Rechenschaft geben, von denen sie sich bei ihrer Entscheidung haben leiten lassen.
3.3. Entscheidungsgrenze in Abstammungssachen § 38 Weitere Bemerkungen zur serologisch-
biostatistischen Abstammungsbegutachtung 1. Allgemeines
In den letzten Jahrzehnten hat die Erforschung von Blutmerkmalsystemen, die sich für Abstammungsbegutachtungen eignen, große Fortschritte gemacht. Die Leistungsfähigkeit der altbekannten Blutgruppensysteme erhöhte sich durch Entdeckung hinreichend eindeutig identifizierbarer Untergruppen; zahlreiche neue Blutmerkmalsysteme sind hinzugekommen. Bis 1979 waren die Häufigkeitsverteilungen von über 50 Blutmerkmalsystemen für den mitteleuropäischen Bevölkerungsraum ermittelt und tabellarisch erfaßt.1 Sind einerseits die Blutmerkmale von Mutter und Kind und von dem Mann, der das Kind gezeugt haben soll, und andererseits deren Häufigkeitsverteilungen in der Bevölkerung, der die Beteiligten angehören, bekannt, so ist die Frage, ob der Beklagte das Kind tatsächlich gezeugt hat oder nicht, für den Serologen heutzutage kein Problem mehr: Er kann sie mit hinreichender Sicherheit mit "ja" oder "nein" beantworten. Ursprünglich war dies anders: Nur die Antwort "nein" konnte vom Serologen mit hinreichender Bestimmtheit gegeben werden; der positive Beweis galt als nicht - zumindest nicht stringent - führbar. Mehr noch: Der von dem Serologen gesammelte und geordnete Erfahrungsschatz über die Häufigkeit von Blutmerkmalen in der mitteleuropäischen Bevölkerung ist so beträchtlich, daß auch wesentlich komplizierter gelagerte Abstammungsprobleme durch Blutmerkmalsvergleich geklärt werden können (z. B. wenn die Blutmerkmale eines Elternteils nicht mehr feststellbar sind, dafür aber diejenigen seiner Eltern, also der [angeblichen] Großeltern des Kindes). Angesichts des hohen Entwicklungsstandes der serologischen Humangenetik einerseits und des Verzichts auf überspitzte Beweisanforderungen im Sinne des Vollbeweises andererseits sind die Verständigungsschwierigkeiten zwischen Gutachtern und Gerichten in jüngster Zeit nicht mehr so krass zu Tage getreten wie in der oben dargestellten 1. K. Hummel, P. Ihm, V. Schmidt: Biostatistische Abstammungsbegutachtung, Tabellenband 1 (1971 mit Ergänzungen 1973, 1975, 1977 und 1979).
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3.3. Entscheidungsgrenze in Abstammungssachen
Rechtsprechung (§§ 32, 34-36).2 Gutachter und Gerichte sind sich einig: Die serologische Information ist ein Indiz unter anderen, allerdings ein besonders beachtliches. Eine fixe Beweismarke (z. B. 99,73 '11/0 oder 99,8 (}/o) gibt es nicht. Die abschließende Entscheidung ist vom Gericht in freier Beweiswürdigung zu treffen. So weit, so gut. Doch sind die Grundlagen damit noch nicht genügend geklärt: Erreicht etwa unter besonderen Umständen einmal der positive Hinweis auf Abstammung die gewohnte Höhe nicht (98 '11/ 0 und mehr), unterschreitet er vielleicht sogar einmal geringfügig die Marke von 95 {}/o, fühlen sich die Gerichte - zu Unrecht - verunsichert: Sie sehen sich angesichts der Maßstäbe des BGH gezwungen, wegen "schwerwiegender Zweifel" (!?) die Feststellung der Vaterschaft zu verweigern. Formalgenetik, Serologie, Biostatistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung führen in ihrem Zusammenspiel die Vorgehensweise einer exakten Naturwissenschaft modellhaft vor Augen. Ob bestimmte Bluteigenschaften mit hinreichender Zuverlässigkeit unter üblichen Untersuchungsbedingungen sowohl positiv als auch negativ identifizierbar sind oder nicht, ob für sie die Erbgesetze gelten (gesicherter Erbgang), ob bekannte Frequenzen für einen bestimmten Bevölkerungsraum repräsentativ sind, ob der mathematische Formalismus unangreifbar ist u. ä., sind von den Fachdisziplinen in eigener Verantwortung zu diskutierende Fragen. Für autoritäre Normierungen, sei es des Gesetzgebers, der höchstrichterlichen Rechtsprechung oder einer Stelle wie des Bundesgesundheitsamtes eignen sie sich nicht. Solche Normierungen sind vielmehr Ausdruck meist uneingestandener Unsicherheiten: Je geringer unser nachprüfbares Wissen ist, um so größer wird die Versuchung, sich hinter Dogmen zurückzuziehen, wie z. B. der Fixierung der sogenannten 3-Sigma-Grenze von 99,73 '11/0 (oder 99,8 (}/o) als Voraussetzung für die Annahme eines gesicherten Erbgangs oder gar als Maß für den Vollbeweis im konkreten Fall. Auch wenn es nicht Sache eines Rechtswissenschafters sein kann, sich in die Diskussionen der Fachdisziplinen einzumischen, ist doch eine allgemeine Anschauung davon, was sich dort tut, für den Richter unerläßlich. Wie könnte er sonst eigenverantwortlich Beweisbeschlüsse fassen? Und wie wäre es ihm möglich, das Ergebnis, zu welchem der Gutachter gelangt, in den übrigen Beweisstoff einzuordnen?
! Die damalige Situation führte zu der Schrift von K.-H. Johannsen und K. Hummel: Vaterschaftsfeststellung bei nichtehelicher Abstammung (1977),
die sich meines Erachtens in vielen Punkten erfolgreich um die überwindung dieser Verständigungsschwierigkeiten bemüht und als Einführung zu empfehlen ist.
§ 38 Weitere Bemerkungen zur serologisch-bio statistischen Begutachtung 233 2. Grundzüge der serologischen Begutachtung
2.1. Abstammungswahrscheinlichkeit (positive und negative Hinweise nach Essen-Möller) Der Serologe faßt einen bestimmten Bevölkerungsraum von der Seite derjenigen Blutmerkmalsysteme her ins Auge, für welche die Erbgesetze gelten. Die Elemente der Bezugsklassen sind die "Stammbäume" (im einfachsten Fall: Terzette aus Elternteilen und einem Abkömmling); als Merkmal (Ereignis) fungiert die "Echtheit" (oder "Unechtheit") der "Stammbäume", wobei als "unechte Stammbäume" diejenigen zu denken sind, die (nur) zufälligerweise die Eigenschaften eines echten Stammbaums aufweisen.:! Die Häufigkeitsverteilungen (Genfrequenzen) von echten Stammbäumen einerseits und unechten andererseits lassen sich als quantitativ exakt aufbereiteter serologischer Erfahrungsschatz begreifen, in welchem die durch die Erbgesetze beschriebenen Zusammenhänge schon enthalten sind. Dieses Erfahrungswissen läßt sich in Gestalt von Tabellen oder auch als Bestandteil eines Computerprogramms allseitig verfügbar machen.4 Wird einem Sachverständigen ein konkreter Fall zur Begutachtung unterbreitet, vergleicht er diese neue Information mit der schon vorhandenen. Indem er nacheinander alle positiven und negativen Beobachtungen im konkreten Fall auswertet, schließt er diesen schrittweise in die engstmögliche (speziellste) Bezugsklasse ein und gewinnt so eine in der Regel sehr aussagekräftige, spezielle Information über die Echtheit (oder Unechtheit) des konkreten Falles. Wir können auch sagen: Er ermittelt das Verhältnis des günstigen Falles zu den möglichen Fällen, also der echten Stammbäume (X) zu der Summe der echten Stammbäume (X) und unechten Stammbäume (Y), also den Essen-Möller-Wert:
x
w= x+y 3 Zur Betrachtung von "Stammbäumen" als Elemente der Bezugsklasse vergleiche P. Ihm und K. Hummel, Z. Immun.-Forsch. 149 (1975) S.405-416. 4 Das Tabellenwerk von K. Hummel (N. 1) enthält die Phänotyphäufigkeiten, aus welchem der Gutachter mittels der Erbgesetze die Genfrequenzen ableitet. - Computerprogramme haben z. B. entwickelt M. P. Baur, W. R. Mayr und Ch. Hittner, Z. Immun.-Forsch. 152 (1976) S.209-219, K. Hummel, P. Ihm und J. Conradt, Vox Sang. 31 (1976) S.456-458, P. Ihm und K. Hummel, Z. Immun.-Forsch. 151 (1976) S.374-379 und M. P. Baur: Erweiterung des Essen-Möller-Modells und praktische Durchführung der serologisch-biostatistischen Abstammungsbegutachtung mit dem Programmsystem P.A.P.I., Bonner Diss. 1977. Sie sind auf Großrechenanlagen implementiert und können von den Fachleuten genutzt werden.
234
3.3. Entscheidungsgrenze in Abstammungssachen
2.2. Ausschluß und Schlußfolgerung aus der Nichtausschließbarkeit eines Mannes Solange brauchbare Frequenzen nicht verfügbar waren, mußten die Sachverständigen ihre Aufgaben anders anpacken. Auch heute bildet dieser andere Ansatz in der Praxis immer noch die erste Stufe der Untersuchung. Der Sachverständige fragt nicht gleich nach der Wahrscheinlichkeit für "echt" oder für "unecht"; er prüft vielmehr zunächst, ob die Hypothese "echt" überhaupt in Betracht zu ziehen ist oder ob sie nicht von vornherein wegen fehlender Kompatibilität der im konkreten Fall ermittelten (oder nicht ermittelten) Blutmerkmale entfällt. Dabei kann sich die Inkompatibilität sowohl daraus herleiten, daß der Abkömmling eine Eigenschaft besitzt, die er mit hinreichender Sicherheit nur vom angeblichen Elternteil haben kann, dieser genau diese Eigenschaft jedoch mit hinreichender Sicherheit nicht besitzt (klassischer Ausschluß) als auch daraus, daß der zweifelhafte Elternteil mit hinreichender Sicherheit dem Abkömmling ein Merkmal vererbt haben müßte, welches der Abkömmling jedoch mit Sicherheit nicht besitzt (Ausschluß wegen entgegengesetzter Reinerbigkeit). Fassen wir die Erbgesetze nicht als deterministische, sondern als statistische Erfahrungssätze auf, sind auch Ausschlüsse keine sicheren Schlüsse im Sinne der mathematischen Logik. Hinzu kommt die Möglichkeit trivialer Fehler. In der Praxis wird, wenn die Hypothese "echt" falsch ist, normalerweise nicht nur ein Blutmerkmalsystem zu einem Ausschluß führen; die Inkompatibilität wird sich auch im einen oder anderen weiteren System zeigen. Die Einschränkung "normalerweise" bedeutet: Falls wir auch die Möglichkeit (Hypothese) in Betracht ziehen müssen, daß ein sehr naher Verwandter des Beklagten das Kind gezeugt haben könnte, hat die - weitgehende - Kompatibilität eine natürliche Erklärung mit der Folge, daß dem isolierten Ausschluß eine andere, größere Bedeutung beizumessen ist, als wenn diese Erklärungsmöglichkeit entfällt. Entfällt sie und trifft der isolierte Ausschluß mit einem hohen positiven Vaterschaftshinweis aus der sonstigen serostatistischen Information zusammen, wird der Sachverständige dessen Gültigkeit sehr kritisch zu prüfen haben und versuchen, die Fehlerquelle zu entdecken. Ein Nichtausschluß für sich genommen besagt positiv zunächst nur, daß der betreffende Mann der Erzeuger sein kann. Ob daraus ein positiver Hinweis dafür abzuleiten ist, daß er - wahrscheinlich - der Vater ist, ist eine weitere Frage. Beruht der Nichtausschluß darauf, daß Abkömmling und Erzeuger in einem relativ seltenen Merkmal übereinstimmen, welches nicht von der Mutter stammen kann, ist dies ein positiver Hinweis. Gleiches gilt, wenn zahlreiche Nichtausschlüsse in
§ 38 Weitere Bemerkungen zur serologisch-biostatistischen Begutachtung 235
- für sich genommen vielleicht wenig aussagekräftigen - Systemen in auffälliger Weise zusammentreffen. Eine Mehrzahl von Nichtausschlüssen zusammengenommen ergeben einen positiven Hinweis. Wichtig ist aber: Dieser Hinweis und der positive Hinweis nach Essen-Möller beruhen auf ein und derselben Informationsbasis. Es wäre ein grober Fehler, die Nichtausschließbarkeit und die Vaterschaftswahrscheinlichkeit nach Essen-Möller als selbständige, voneinander unabhängige Indizien zu werten, die sich gegebenenfalls zu einer höheren Gesamtwahrscheinlichkeit zusammenfassen ließen. Sie "bestätigen" sich nur insofern, als sie ein und dieselbe Information in unterschiedlicher Weise auswerten und erwartungsgemäß zu miteinander verträglichen Aussagen gelangen. Das Argument, daß die Vaterschaftswahrscheinlichkeit nach Essen-Möller, die nur nach festgestellter Nichtausschließbarkeit ermittelt werde, für eine Gruppe von Männern errechnet werde, in welche die wahren Väter "angereichert" seien, ist trügerisch: Ich kann keine zusätzliche Information dadurch gewinnen, daß ich sie in anderer Form wiederhole.6 Für jedes Blutmerkmalsystem, dessen Häufigkeitsverteilung ich kenne, kann ich eine durchschnittliche Ausschlußwahrscheinlichkeit berechnen. Mit Hilfe der Formel für die Kombination von unabhängigen Indizien P
= Pt + P2-Pt·P2
läßt sich die zusammengefaßte Ausschlußwahrscheinlichkeit mehrerer Merkmalsysteme ausdrücken.6 Dieser Wert belehrt mich darüber, welche durchschnittliche Chance besteht, bei Untersuchungen anhand der entsprechenden Merkmale Nichtväter als solche erkennen zu können. Auch wenn ich im konkreten Fall den beklagten Mann anhand der entsprechenden Merkmalsysteme nicht ausschließen konnte, kann ich nicht aus der allgemeinen Ausschlußwahrscheinlichkeit mittels eines Umkehrschlusses die für ihn zutreffende Vaterschaftswahrscheinlichkeit ableiten. Die allgemeine Ausschlußwahrscheinlichkeit ist keine spezielle Information über den konkreten Fall, auch nicht zusammen mit dessen Nichtausschließbarkeit. Ich kann diesen Fall einer spezielleren Bezugsklasse zuordnen und diese speziellere Zuordnung hat Vorrang.7 3. Neuralgische Punkte der serologischen Begutachtung Der mathematische Formalismus als solcher ist, davon können wir ausgehen, unangreifbar. Schwierig sind die Übergänge von der Wirk6"
Zumindest mißverständlich H.-J. Koch und H. Rüssmann (§ 17 N. 13) S.321
Fn.12. 8
7
Vgl. § 32 1.1. und O. Prokop, NJ 1982 S. 36 f. Vgl. K. Hummel und J. Conradt, Z. Rechtsmedizin 81 (1978) S.217-222.
236
3.3. Entscheidungsgrenze in Abstammungssachen
lichkeit zum mathematischen Formalismus, also einerseits der Einstieg in diesen, und andererseits die Deutung des Rechenergebnisses im Kontext der übrigen Information, also der Ausstieg aus dem Formalismus im Rahmen der freien Beweiswürdigung. Natürlich besteht zwischen Einstieg und Ausstieg ein enger Zusammenhang. Wie anderwärts besteht auch in Abstammungssachen die Gefahr von Fehleinschätzung infolge Außerachtlassung einer Erklärungsmöglichkeit (Prämisse der vollständigen Disjunktion der möglichen Hypothesen). Der serostatistische Gutachter versucht, dieser Gefahr dadurch zu entgehen, daß er als konkurrierende Hypothese zu der zu prüfenden Hypothese "echter Stammbaum" deren logisches Kompliment "unechter Stammbaum" (Nichterzeuger) verwendet und somit - formal - eine vollständige Disjunktion aller denkbaren Fälle zustande bringt. Er abstrahiert also von der Wirklichkeit, indem er die Wahrscheinlichkeit der Vaterschaft des Beklagten mit der Wahrscheinlichkeit der Vaterschaft irgend eines Mannes aus dem relevanten Bevölkerungsraum vergleicht (Prämisse der zufälligen Paarung der möglichen Elternteile). Diese Abstraktion gewährleistet indessen für sich genommen keine hinreichende Sicherheit. Stellen wir uns vor, für einen Beklagten sei eine extrem hohe Vaterschaftswahrscheinlichkeit serologisch und rechnerisch einwandfrei ermittelt worden. Auch ein solcher Hinweis wäre, obwohl in sich und an sich korrekt, dann irreführend, wenn im konkreten Fall die Möglichkeit in Betracht gezogen werden müßte, daß der erbgleiche Zwillingsbruder b 2 des Beklagten b i das Kind gezeugt haben könnte. Für diesen ist die Vaterschaftswahrscheinlichkeit im Vergleich zu einem beliebigen Mann per definitionem gleich hoch wie für jenen. Die Vaterschaftswahrscheinlichkeit gibt nur an, daß einer von beiden (höchstwahrscheinlich) der Erzeuger ist: Sie gilt für das Zwillingsbrüderpaar "bi oder b 2 ", nicht aber für jeden Zwillingsbruder allein. Im Vergleich der Zwillingsbrüder untereinander ist die genetische Information - notwendigerweise - nichtssagend. Sie beträgt exakt 0,5, wie der Ansatz von Essen-Möller zeigt: X
W=x+y
x X
X+X
=
Y, weil die Grenzfrequenzen für
bi und b2 identisch sind
1
2
Das Gedankenexperiment der erbgleichen Zwillingsbrüder führt uns zu der Prämisse der Verfügbarkeit von adäquaten Frequenzen. Das
§ 38 Weitere Bemerkungen zur serologisch-biostatistischen Begutachtung 237
Brüderpaar, nicht der einzelne eineiige Zwilling, ist Element des Kollektivs, für welches wir die Häufigkeit vorliegen haben. Was für erbgleiche Zwillingsbrüder gilt, trifft in abgeschwächter Form auch für nahe Blutsverwandte und extreme Bevölkerungsisolate zu. Es fehlt die hinreichende Durchmischung und damit die Voraussetzung der Zufallsauslese. Anders gesagt: Die im konkreten Fall zu berücksichtigenden Hypothesen ("Stammbäume") lassen sich nicht - jedenfalls nicht ohne weiteres - dem Kollektiv zuordnen, für welches uns die Häufigkeitsverteilung zwischen echten und unechten Stammbäumen bekannt ist. Sind Fremdstämmige mit im Spiel, wird ebenfalls der Prämisse der adäquaten Frequenzen besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden müssen. Ob angesichts der Herkunft der untersuchten sowie der im konkreten Fall in Betracht zu ziehenden, nicht untersuchten Personen (z. B. mit einem fremdstämmigen Beklagten konkurrierende artgleiche fremdstämmige Männer) sich die Adäquanzprämisse bejahen läßt oder nicht, ist eine grundsätzlich in die Kompetenz des Gutachters fallende Frage.8 Der Leitgedanke ist: die im konkreten Fall beteiligten Personen (gegebenenfalls einschließlich des unbekannten Dritten) müssen demselben Kollektiv zugeordnet werden können wie die Stichprobe, aus welcher der in der Tabelle ausgewiesene Häufigkeitswert gewonnen worden ist. Das hier angesprochene Problem berührt ein allgemeines Dilemma der Wahrscheinlichkeitslehre und Statistik: der verfügbare, massenstatistisch abgesicherte Beobachtungswert ist nicht hinreichend speziell; und für die hinreichend spezielle Bezugsklasse liegen keine massenstatistisch abgesicherten Beobachtungswerte vor. "Sichere Aussagen sind unscharf; scharfe Aussagen sind unsicher". (Lothar Sachs).9 Ein anderer theoretischer Extremfall wäre, wenn der Abkömmling praktisch alle relativ seltenen und damit aussagekräftigen Blutmerkmale von dem bekannten Elternteil (Mutter) geerbt hätte, so daß die vom Beklagten stammenden Merkmale allesamt Allerweltsmerkmale wären. Bei einer solchen Konstellation würde auch der wirkliche Erzeuger nur eine vergleichsweise niedrige Vaterschaftswahrscheinlichkeit erreichen können.
8 9
H. Baitsch in: Vaterschaftsbegutachtung (1961) S.53-82. L. Sachs: Angewandte Statistik (5. Aufl. 1978) S.90.
238
3.3. Entscheidungsgrenze in Abstammungssachen § 39 Ausgangswahrscheinlichkeit (A-priori-Wahrscheinlichkeit)
und Entscheidungsgrenze in Abstammungssachen
1. Ausgangswahrscheinlichkeit 1.1. Sogenannte Zwei- und Mehr-Mann-Fälle
Die Auswertung der serologischen Befunde im konkreten Fall unter Berücksichtigung des statistisch aufbereiteten Erfahrungsschatzes der Serologen (Häufigkeitsverteilungen der Blutmerkmalsysteme in der Bevölkerung) kann und soll nicht die gesamte entscheidungsrelevante Information enthalten. Das Gericht fragt nicht nach der Vaterschaftswahrscheinlichkeit als solcher, sondern danach, was sich aus dem Vergleich der Blutmerkmale auf dem Hintergrund des fachspezifischen Wissens des Serologen für die Vaterschaft (oder Nichtvaterschaft) des Beklagten ergibt. Würde schon der Serologe - etwa in Gestalt eines sogenannten realistischen A-priori - Informationen bei seinen Berechnungen mitberücksichtigen, die außerhalb des Vergleichs der Blutmerkmale liegen, würde er ganz oder teilweise dem Gericht die abschließende Würdigung der Indizien (Urteilsfindung mittels freier Beweiswürdigung) entziehen oder Fehlentscheidungen durch Doppelbewertung ein und derselben Information Vorschub leisten. Anders gesagt: Das Gericht will vom Serologen wissen, was im konkreten Fall der Vergleich der Blutmerkmale zugunsten oder zuungunsten der Vaterschaft des Beklagten besagt. Um diese Information zu bekommen, hat der Gutachter ohne Rücksicht auf die Aktenlage von der Gleichmöglichkeit von Vaterschaft und Nichtvaterschaft des Beklagten, also von der Ausgangswahrscheinlichkeit 0,5, auszugehen. Das Postulat der Gleichwahrscheinlichkeit führt nur bei einer zweistelligen Alternativentscheidung zur Ausgangswahrscheinlichkeit 0,5. Stehen etwa drei Alternativen zur Wahl, folgt aus der Forderung der Gleichmöglichkeit (= vollständige Unkenntnis darüber, welche von ihnen vorzuziehen ist), daß für jede Alternative die Ausgangswahrscheinlichkeit 0,33 beträgt, denn die Summe der Ausgangswahrscheinlichkeiten muß stets 1 ergeben.
Der Essen-Möller-Ansatz W
=
x!
y faßt (nur) die zweistellige Al-
ternative "Vater oder Nichtvater" , genauer "Vaterschaft des Beklagten oder Vaterschaft eines beliebigen Mannes der relevanten Bevölkerung", ins Auge. Er liefert also eine Größe, die die Wahrscheinlichkeit
§ 39 Ausgangswahrscheinlichkeit und Entscheidungsgrenze
239
der Vaterschaft des Beklagten im Vergleich zu irgendeinem Mann aus der Bevölkerung angibt (absoluter Vaterschaftshinweis). Eine inhaltlich andere Frage ist die nach der Wahrscheinlichkeit der Vaterschaft des Beklagten im Verhältnis zu der eines bestimmten, in die Untersuchung einbezogenen konkurrierenden Mannes, also des Mehrverkehrszeugens (relativer Vaterschaftshinweis). Die Ermittlung dieser Größe ist für das Gericht nur dann von Interesse, wenn es sich auf die Entscheidung zwischen diesen beiden Männern beschränken kann und die Möglichkeit, daß ein Dritter das Kind gezeugt hat, mit hinreichender Sicherheit außer Betracht bleiben kann. Läßt sich die letztgenannte Möglichkeit nicht mit hinreichender Sicherheit ausschließen, müßte die dreistellige Alternative (entweder Beklagter oder Mehrverkehrszeuge oder Dritter) berücksichtigt werden mit der Folge, daß die Ausgangswahrscheinlichkeit für jede Möglichkeit sich auf 0,33 reduziert. Fassen wir n-Alternativen ins Auge, verkleinert sich die Anfangswahrscheinlichkeit auf
k.
Ich halte dieses
Vorgehen nur dann für zulässig, wenn dieser Einstieg in den mathematischen Formalismus auch beim Ausstieg, sprich: bei der Ermittlung der Entscheidungsgrenze, hinreichend Berücksichtigung findet. Die Formel e
= 1 ~ r hat eine zweistellige Alternative zum Gegenstand. Die
mit ihrer Hilfe ermittelte Entscheidungsgrenze wäre mit einem relativen Vaterschaftshinweis, dem eine dreistellige Alternative zugrunde liegt, nicht kommensurabe1.1 Nach § 286 Abs. 1 ZPO haben die Gerichte zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei. Ihnen ist also für die Urteilsfindung eine zweistelIige Alternative vorgezeichnet (§ 11.4). Der absolute Vaterschaftshinweis nach Essen-Möller und der relative Vaterschaftshinweis für den Beklagten im Vergleich zu einem Mehrverkehrszeugen nach Essen-Möller/Quense12 sind hiermit kommensurabel, nicht aber Größen, die auf drei- und mehr als dreisteIligen Alternativen aufbauen. Solange die Entscheidungsgrenze nicht präzisiert, sondern unter Berufung auf die freie Beweiswürdigung bewußt unbestimmt ("offen") gehalten wird, tritt die Frage der Kommensurabilität nicht als Problem hervor. Zumindest auf der Ebene der überzeugungsbildung und des Lösungsbewußtseins dürften Aus1 Rechenansätze für mehrstellige Alternativen haben J. Schulte-Mönting und K. Hummel (Z. Immun.-Forsch. 138 (1969) S. 295-298) und P. Ihm und K. Hummel (id. 151 (1976) S.374-379) entwickelt. Vgl. auch K. Hummel,
Ärzt!. Lab. 27 (1981) S.38-43. 2 E. Essen-Möller und C. E. Quensel, Zeitschrift Ges.Gericht!.Med.31 (1939) S.70-96.
240
3.3. Entscbeidungsgrenze in Abstammungssacben
gangswahrscheinlichkeit einerseits und Entscheidungsgrenzen andererseits nur zwei Bezeichnungen für ein und dieselbe Sache sein. M. E. lassen sich auch sogenannte Mehr-Mann-Fälle vom Serologen mit Hilfe des Essen-Möller-Verfahrens hinreichend klären, indem sukzessive jeder untersuchte Mann, also der Beklagte und der oder die Mehrverkehrszeugen, mit dem beliebigen Dritten aus der relevanten Bevölkerung verglichen werden. Daß zwei oder mehr Männer einen annähernd gleich hohen, absoluten Vaterschaftshinweis erreichen, dürfte - abgesehen von den schon erwähnten Sonderfällen naher Verwandtschaft - höchst selten sein. 1.2. Sogenanntes realistisches Apriori Statistiker haben errechnet, wie häufig im Durchschnitt die Angaben von Müttern über die Vaterschaft ihres Kindes vor Jugendbehörden und Gerichten sich als zutreffend erweisen.3 Sie haben herausgefunden, daß die durchschnittliche Treffsicherheit (Glaubwürdigkeit) solcher Angaben einerseits im Lauf der Jahrzehnte und andererseits regional variiert. Tendenziell sind die Angaben in Ländern und Gebieten mit liberaler Sexualmoral zuverlässiger als dort, wo strikte Tabus bestehen. Bemerkenswert ist ferner, daß die durchschnittliche Richtigkeit der Angaben von Prostituierten eher über als unter dem Durchschnitt liegt. Ebenfalls überdurchschnittlich ist die Zuverlässigkeit der Angaben in Ehelichkeitsanfechtungssachen. (Dies ist zwar leicht erklärbar - die Ehelichkeitsanfechtung wird meistens dann nötig, wenn die Mutter eine neue Bindung eingegangen ist, bevor die alte rechts förmlich gelöst wurde - , steht aber gleichwohl im Gegensatz zur gesetzlichen Ehelichkeitsvermutung, so daß deren rechtspolitischer Zweck, nämlich Schutz des Kindes vor Statusverlust, deutlich hervortritt.) Das statistisch gewonnene Erfahrungswissen ist für den Abbau von Vorurteilen von größtem Wert. Insoweit hat ein Richter, der sich auf der Höhe der allgemeinen Erkenntnisse seiner Zeit befinden will, derartige Hinweise zur Kenntnis zu nehmen. Doch ist es seine Sache, was er im konkreten Fall daraus macht. Meist wird er im Verlauf des Verfahrens sehr viel speziellere Erkenntnisse von der Treffsicherheit der Angaben der Kindesmutter gewonnen haben. Er wäre schlecht beraten, wenn er sich von den interessanten Erkenntnissen der Statistiker über die durchschnittliche Glaubwürdigkeit von Kindesmüttern den Blick auf die Besonderheiten des konkreten Falls verbauen ließe. a J. Scbulte-Mönting und K. Hummel, Z. Immun.-Forsch. 139 (1969) S.212 bis 217; K. Hummel u. J. Conradt, Z. Rechtsmed.88 (1982) S.277-284.
§ 39 Ausgangswahrscheinlichkeit und Entscheidungsgrenze
241
2. Entscheidungsgrenze in Abstammungssachen 2.1. Zweistellige oder dreisteIlige Alternative? Abschließend wollen wir uns erneut dem rechtsgenügenden Beweis in Abstammungssachen zuwenden, der die Reformer von 1969 beschäftigt hatte (§ 31): Wie hoch ist das Beweismaß in Abstammungssachen im Lichte unseres Modells (§ 18) anzusetzen? Als erstes müssen wir uns Klarheit über die zur Wahl stehenden Alternativen verschaffen: hat das Gericht ausschließlich zwischen "ja" oder "nein" zu wählen oder stehen ihm daneben noch eine (oder sogar mehrere) weitere Optionen offen? Gemessen an der Wirklichkeit ist ein bestimmter Mann entweder der Vater des Kindes oder er ist nicht der Vater; tertium non datur. Nach der "Natur der Sache" ist die Abstammungsfrage eine streng zweigliedrige Alternative. Hätte das Gericht einen unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit der Abstammung, wäre die Antwort klar. Das Problem einer Entscheidungsgrenze würde sich nicht stellen. An diesem Zugang fehlt es. Das Gericht kann stets nur sein mehr oder weniger vollständiges (oder unvollständiges) Wissen über die wirkliche Abstammung seiner Entscheidung zugrunde legen. Es kann sich nicht unmittelbar an die Wirklichkeit halten, sondern lediglich an Aussagen über die Wirklichkeit. Das Wissen des Gerichts über die wirkliche Abstammung ist irrtumsanfällige Erkenntnis, Wahrscheinlichkeitswissen. Auch wenn die Abstammungsfrage ihrer Natur nach eine streng zweigliedrige Alternative ist, kann die Rechtsordnung außer den Optionen "ja" oder "nein" auch weitere Alternativen zulassen wie z. B. Vertagung der endgültigen Entscheidung, bis der Fall besser aufgeklärt ist, oder Verweigerung der Abstammungsfeststellung unter bestimmten Voraussetzungen wegen nicht behebbarer Ungewißheit und ähnliche "Tertium-Lösungen" mehr. § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO schreibt allerdings, wie gesagt, eine zweistellige Alternative vor. Im 21°/o-Fall hat der IV. Zivilsenat des BGH die Feststellung des Berufungsgerichts "Vaterschaft unentschieden" nicht beanstandet. Nach meinem Verständnis läßt § 286 Abs.1 ZPO eine solche ausweichende Feststellung nicht zu. Zum Kern des Richteramts gehört die Entscheidung. Das Gericht hat hier und jetzt nach bestem Vermögen Recht zu sprechen. Eine Wahrheitssuche, bei welcher das Gericht die Belange der Betroffenen aus dem Auge verliert, ist verfehlt. Ein weiteres Beispiel für eine solche verfehlte, vom konkreten Fall losgelöste Wahrheitssuche ist folgende Entscheidung des V. Zivilsenats des OLG Nürnberg von 197!.3a 3a OLG Nürnberg, Urteil vom 14. Juni 1971, FamRZ 1972 S.219-221. 16 Motsm
242
3.3. Entscheidungsgrenze in Abstammungssachen
Der als Zahlvater verurteilte Mann begehrte die Beseitigung des vom Kind erstrittenen Unterhaltstitels mittels negativer Vaterschaftsfeststellung (negative Statusklage). Zahlvater und Mehrverkehrszeuge hatten in die serologische und morphologische Begutachtung einbezogen werden können. Die biostatistische Auswertung des serologischen Befundes hatte Wahrscheinlichkeitswerte für den Zahlvater von 23,5 Ufo und für den Mehrverkehrszeugen von 73,5 Ofo ergeben. Das morphologische Gutachten kam zur Schlußfeststellung: Große Wahrscheinlichkeit für Vaterschaft des Mehrverkehrszeugen. Das Gericht hob nun zwar den Unterhaltstitel auf, d. h. es traf insoweit eine bei Zugrundelegung des Üherwiegensprinzips mit der Beweislast in Einklang stehende Entscheidung. Hingegen sah es sich nicht in der Lage festzustellen, daß der Kläger nicht der Vater sei. Es fand sich lediglich zu dem in der Urteilsformel niedergelegten Spruch bereit, daß der Kläger "nicht als Vater des Beklagten angesehen werden kann", eine Formel, die einem Vorschlag von Odersky entspricht.4 Die beantragte Feststellung, daß dieser Mann nicht der Vater sei, lehnte es hingegen ab.
Bei allem Respekt vor der Gewissenhaftigkeit des Gerichts halte ich diese Urteilsformel für verfehlt. Ist die Entscheidungsreife zu bejahen, weil alle vertretbaren Informationsmöglichkeiten ausgeschöpft sind, kommt eine ausweichende Antwort des Gerichts nicht in Betracht. Die Urteilsformel des OLG Nürnberg kann (und soll) keine Rechtskraft entfalten. Theoretisch könnte das Kind den Mann, der "nicht als (sein) Vater angesehen werden kann", erneut unter einem anderen rechtlichen Gesichtspunkt in Anspruch nehmen. Geht das Kind gegen den Mehrverkehrszeugen vor, kann sich dieser darauf berufen, die "Möglichkeit" der Abstammung vom ursprünglichen Zahlvater sei im vorhergehenden Verfahren nicht ausgeschlossen worden und daraus "schwerwiegende Zweifel" an seiner eigenen Vaterschaft herleiten. Das praktische Ergebnis wäre: Das Kind bleibt ohne Vater und ohne Unterhaltsschuldner. Odersky und der ihm folgende V. Zivilsenat des OLG Nürnberg übersehen, daß eine Feststellungsklage immer nur die Feststellung oder Nichtfeststellung eines Rechtsverhältnisses zum Gegenstand haben kann (§ 256 ZPO). Sie setzen die vom Gericht auszusprechende Rechtsfolge (Feststellung des Status) in eins mit dem Merkmal, an welches § 1600 0 Abs.1 BGB diese Rechtsfolge anknüpft. Abstammung und Vaterschaftsfeststellung sind aber logisch und tatsächlich durch das Dazwischentreten der gerichtlichen Entscheidung voneinander getrennt (§ 31.2.2). Die gerichtliche Feststellung bezweckt, ein für allemal und mit Wirkung für und gegen jedermann die Abstammung außer Frage zu stellen. Dieser Zweck wird durch eine Verabsolutierung des Abstammungsprinzips verfehlt.
4
F.Odersky, Kommentar zum Unehelichkeitsgesetz (3. Auflage 1973)
§ 1600 g Anmerkung.
§ 39 Ausgangswahrscheinlichkeit und Entscheidungsgrenze
243
2.2. Stufenweises Verfahren für besonders schwierige Abstammungssachen? Sind für die Abstammungsfrage z. B. vom morphologischen Gutachten noch wesentliche Aufschlüsse zu erwarten, kann· dieses aber wegen der mangelhaften Ausprägung der Merkmale beim Kleinkind erst in, sagen wir, drei Jahren erstellt werden, fehlt die endgültige Entscheidungsreife. Für solche Fälle könnte an ein stufenweises Vorgehen gedacht werden: 6 -
Auf der ersten Stufe ist zwischen drei möglichen Ergebnissen zu wählen: "Endgültig ja" oder "vorerst nicht endgültig entscheidbar (daher Interimsregelung und Vertagung der endgültigen Entscheidung)" oder "endgültig nein". Eine dreistellige Alternative erfordert zwei Entscheidungsgrenzen: z. B. "höchstwahrscheinlich = 99 (l/o" für die Alternative "endgültig ja" und "höchst unwahrscheinlich = 1 (l/o" für die Alternative "endgültig nein". Liegt die Gesamtwahrscheinlichkeit eines konkreten Falles (ohne das morphologische Gutachten) zwischen diesen beiden Grenzen, kommt die mittlere Alternative "Interimsregelung" zum Zuge. Auf der zweiten Stufe werden bei Eintritt der endgültigen Entscheidungsreife die Fälle der mittleren Alternative im Lichte der hinzugekommenen neuen Information überprüft und endgültig bejaht oder verneint.
-
Ob es ratsam oder geboten ist, ein solches gestuftes Verfahren zuzulassen, ist eine vom Gesetzgeber zu lösende Ermessensfrage. Allerdings gibt es auch Stimmen, die ein solches gestuftes Verfahren auf dem Boden des geltenden Rechts für zulässig halten.6 Ich selbst bin (noch) nicht überzeugt, daß die insbesondere auch kostenmäßigen Vorteile eines solchen gestuften Verfahrens die Nachteile (z. B. mehrfache Behandlung derselben Sache in einer Instanz, Verzögerung der definitiven Klärung der Abstammungsverhältnisse) überwiegen. Die außergewöhnlichen Schwierigkeiten in Abstammungssachen sind nach meiner Ansicht nicht in der Natur der Sache begründet, sondern die Folge des Dogmas vom Vollbeweis und der sich daraus ergebenden Unsicherheit und Unklarheit beim Umgang mit Wahrscheinlichkeitsaussagen und bei der Bestimmung des Beweismaßes.
5
E. Walter, Metrika 16 (1970) S. 146-158 (148). Arens FamRZ 1968 S. 183-187.
e So z. B. 16'
244
3.3. Entscheidungsgrenze in Abstammungssachen
3. Abwägung der Irrtums/algen Wo liegt - Entscheidungsreife vorausgesetzt - die Entscheidungsgrenze in Abstammungssachen, wenn das Gericht vor der Wahl zwischen "endgültig ja" oder "endgültig nein" steht? Der maßgebende Gesichtspunkt zur Bestimmung der Entscheidungsgrenze ist nach unserem Modell die Abwägung des "Schadens" im Falle eines Irrtums, genauer: die vergleichende Wertung des Schadens im Falle eines Irrtums zu Lasten der einen und des Schadens im Falle eines Irrtums zu Lasten der anderen Seite: ist bei fairer Rücksichtnahme auf die Interessen des Kindes und die Interessen des Beklagten die irrtümliche Bejahung der Abstammung das größere übel oder ihre irrtümliche Verneinung? Für den betroffenen Mann wird in der Regel die irrtümliche Bejahung der Abstammung nachteilig sein. Für das Kind ist typischerweise die irrtümliche Verneinung von übel. Im einzelnen läßt sich wie folgt argumentieren: Der Nachteil, ja das Unrecht einer irrtümlichen Bejahung besteht darin, daß der betroffene Mann Unterhalt für das Kind zu leisten hat und von diesem beerbt wird, obwohl er genetisch mit ihm nichts zu tun hat. Wie schwer wiegt dieser Nachteil? Wird er etwa abgemildert durch den Umstand, daß das begünstigte Kind durch die rechtskräftige Vaterschaftsfeststellung sein Kind geworden ist? Immerhin erwirbt nach neuem Recht der Vater gewisse (bescheidene) Ansprüche (insoweit wäre es das Kind, dem Unrecht geschieht). Eine wirkliche Kompensation des materiellen Nachteils durch anderweitige Vorteile wäre aber nur zu bejahen, wenn der Mann ein echtes persönliches Verhältnis zum Kind entwickeln würde. Dies ist nicht die Regel. Somit ist die irrtümliche Bejahung der Vaterschaft besonders wegen der Belastung des Mannes mit dem Regelunterhalt und wegen der Statuswirkungen ein unbilliger Nachteil zu seinen Lasten, der nach Möglichkeit vermieden werden sollte. Wie steht es mit den Folgen einer irrtümlichen Verneinung der Vaterschaft? Vermögensrechtlich steht für das Kind exakt genau so viel auf dem Spiel wie für den beklagten Mann. Konsequenterweise müssen wir davon ausgehen, daß das Kind, wenn der wirkliche Vater rechtskräftig freigekommen ist, keinen anderen Mann mehr mit Erfolg als Vater in Anspruch nehmen kann: die (irrtümliche) Abweisung der Vaterschaftsklage bedeutet zugleich den endgültigen Verlust der Unterhaltsforderung. Zwar ist denkbar, daß das Kind noch andere durchsetzbare Unterhaltsansprüche (gegen die Mutter oder gegen die Großeltern müt-
§ 39 Ausgangswahrscheinlichkeit und Entscheidungsgrenze
245
terlicherseits) oder Anspruch auf Sozialhilfe besitzt. Diese weiteren Umstände könnten wir jedoch nur dann in Betracht ziehen, wenn wir auch umgekehrt auf die Seite des Mannes dessen sonstige Vermögensverhältnisse mit berücksichtigen würden. Zur psychischen Belastung eines Kindes ohne Vater führt die Arbeitsgruppe der Kirche von England in ihrem Bericht "Fatherless by Law?" (1966 p. 10) aus: "In Kreisen, die sich um Kinder kümmern, welche ein normales Familienleben entbehren müssen, gehört zur allgemeinen Erfahrung, daß ein Mangel an Information über die eigenen natürlichen Eltern ein Kind oft dazu führt, sich in völlig irrationaler Weise gegen diejenigen aufzulehnen, die versuchen, ihm zu helfen und gegen die ganze Gesellschaft, was häufig zu Straffälligkeit führt." Psychische Belastungen dieser Art brauchen nicht zwangsläufig aufzutreten. Aber ein Risiko zu Lasten des Kindes ist nicht zu leugnen. Wägen wir die Unbilligkeit einer irrtümlichen Bejahung und die einer irrtümlichen Verneinung der Abstammung gegeneinander ab, fällt es mir schwer, den Nachteil für den Beklagten als den im Vergleich zum Nachteil für das Kind schwerwiegenderen Nachteil zu qualifizieren. Wiegen aber beide Nachteile gleich schwer, kann es nur noch darum gehen, beide Arten von Irrtümern möglichst zu vermeiden. Wir erreichen ein Minimum an Irrtümern zum einen durch hohe Anforderungen an die Entscheidungsreife und zum andern durch Ausschöpfung der vorhandenen Information mit Hilfe des Überwiegensprinzips. Nur wenn das Ergebnis im Einklang mit dem Wahrscheinlichen steht, wird unsere Fehlerquote minimal. Nur wenn wir die Wahrheit vermittels der (überwiegenden) Wahrscheinlichkeit suchen, ist unsere Entscheidung wirklichkeitsnah. Um auf die Formel e =
1:
T
zurückzukommen:
Sind das Gewicht des Übels bei einem Fehler der ersten Art "G 1 " und das Gewicht des Übels bei einem Fehler der zweiten Art "G2 " nicht mit hinreichenden Gründen mit unterschiedlichen Werten anzusetzen, sondern als prinzipiell gleich groß anzunehmen, ergibt sich:
G1 =1 G2
T =--
e=
1
1+1
1
246
3.3. Entscheidungsgrenze in Abstammungssachen
Als Ergebnis ist festzuhalten: Die Entscheidungsgrenze liegt in Abstammungssachen - vernünftigerweise - in der Mitte der gedachten Wahrscheinlichkeitsskala von Obis 1 - entsprechend der Regelung in sect. 26 englisches Reformgesetz von 1969 (§ 22.2). Unser Problem ist schon 1958 von dem berühmten dänischen Rechtsgelehrten Alt Ross behandelt worden: 7 Endziel der Beweisregeln sei es, so viele Fälle wie möglich korrekt zu entscheiden. Nachsicht gegenüber der einen Seite impliziere im Zivilrecht - anders als im Strafrecht - ein Unrecht gegenüber der andern (§ 17.1). Die Frage sei, ob nicht an die Stelle einer bloß quantitativen Betrachtung eine qualitative Betrachtung treten müsse. Dafür komme es darauf an, daß das, was für die eine Seite auf dem Spiele stehe, von größerer Bedeutung ist als das, was für die andere Seite auf dem Spiel stehe. Das Optimum könne also auch da liegen, wo eine große Zahl von Fehlern erlaubt wird - dann, wenn ein Irrtum dieser Art weniger Schaden anrichte. Diese überlegung sei wohl für den hohen Maßstab bei der Ehelichkeitsanfechtung ausschlaggebend. Diese Meinung sei zwar vertretbar, er selbst halte sie jedoch heute nicht mehr für überzeugend. Diese überlegungen sind - zunächst - Argumente de lege ferenda. Sie geben für den Rechtszustand de lege lata nichts her. Erst recht wäre es unzulässig, aus einer Vorschrift des englischen Rechts auf den Regelungsgehalt einer deutschen Vorschrift zu schließen. Allerdings hat schon Grunsky (StAZ 1970 S.248-254 (251» auch für das deutsche Recht den Schluß gezogen, der Beweispunkt liege genau in der Mitte der Wahrscheinlichkeitsskala, also bei 50 (l/o. Die Fehlergefahr bei Entscheidungen entgegen der Wahrscheinlichkeit sei größer als bei Berücksichtigung der Wahrscheinlichkeit. Bei Gleichartigkeit der Interessen sei es wenig sachgerecht, zu Lasten einer Partei zu entscheiden, die wahrscheinlich Recht hat. Die Interessen von Kind und Vater seien, wenn man sie gegeneinander abwäge, ungefähr gleich groß. Nur die Zukunft kann lehren, ob die Praxis ungeachtet des unterschiedlichen Wortlauts der einschlägigen Vorschriften (§ 31.2.1.) und ungeachtet der BGH-Rechtsprechung aus eigener Kraft zu einer Neubesinnung und Bestimmung des rechts genügenden Beweises in Abstammungssachen fähig ist. Daß die Neuregelung von 1969 wahrheitsgemäße (= wirklichkeitsnahe) Abstammungsentscheidungen ermöglichen sollte, ist sicher.8
1 A. Ross: The Value of Blood Tests as Evidence in Paternity Cases, in: Harvard Law Rev. 71 (1958) p.466-484 (482 ff.). g Vgl. D. Leipold, FamRZ 1973 S. 65-77,67.
SchluJibemerkungen § 40 Freie tJberzeugung des Gerichts
1. Entscheidung nach (überwiegender) Wahrscheinlichkeit als rechtsgenügender Beweis In eine Nußschale gepreßt: Wahrheit und Wahrscheinlichkeit sind keine Gegensätze. Zum Höchstmaß an wahren Entscheidungen gelangen wir nur, wenn wir uns im Zweifel an die Wahrscheinlichkeit halten. Der kritische Leser, der diese These isoliert auf sich wirken läßt, mag sie als abstrus empfinden: im Vergleich zur Wahrheit ist die Wahrscheinlichkeit ein Weniger; ist es nicht ungereimt, zu behaupten, das Weniger führe zu einem Mehr an wahren (= wirklichkeitsgemäßen) Feststellungen? Der Knoten löst sich vielleicht, wenn wir erstens Beweiswürdigung und Rechtsanwendung nicht als getrennte Fragen, sondern die Rechtsfindung als einen einheitlichen Entscheidungsvorgang auffassen, und zweitens - statt dessen - Entscheidungsreife und Grenze für die Letztentscheidung unterscheiden und unter verschiedenen Gesichtspunkten bestimmen: Die Entscheidungsreife richtet sich nach dem Wert des Streitgegenstandes; hingegen bestimmt sich die Entscheidungsgrenze anhand der Abwägung der Irrtumsfolgen. Wird mir z. B. ein kleiner Ladendiebstahl vorgeworfen, kann ich nicht erwarten, daß die Justiz bei der Aufklärung der objektiven und subjektiven Gegebenheiten dieses konkreten Falles mit derselben Akribie vorgeht wie bei der Aufklärung eines Kapitalverbrechens: es ist rechtlich vertretbar und im Interesse einer effizienten Rechtspflege geboten, an die Entscheidungsreife in Bagatellsachen geringere Anforderungen zu stellen als wenn über Rechtsgüter von höchstem Rang zu entscheiden ist. Daraus folgt aber nicht, daß in Bagatellsachen der Schutz des Beschuldigten gegen Justizirrtümer hinfällig ist: auch bei vergleichsweise geringen Anforderungen an die Entscheidungsreife kann das Gericht die Verurteilung davon abhängig machen, daß unter Berücksichtigung des gegebenen Informationsstandes eine hohe oder sogar höchste Wahrscheinlichkeit für die Version der Anklage und gegen die Version der Verteidigung spricht.
248
Schlußbemerkungen
Nehmen wir als Gegenbeispiel einen zivilrechtlichen Musterprozeß, in welchem es um die Haftung des Herstellers für die ungeheuren, nach der Behauptung des Klägers durch die Einnahme des Beruhigungsmittels Contergan verursachten Schäden geht. Hier steht materiell und moralisch für beide Seiten sehr viel auf dem Spiel. Zur Aufklärung der wirklichen Zusammenhänge ist ein sehr erheblicher Aufwand an Zeit und Kosten gerechtfertigt. Wie aber wäre zu entscheiden, wenn trotz aller Anstrengungen keine vollständige Klarheit geschaffen werden könnte, sondern am Schluß der ursächliche Zusammenhang zwar wahrscheinlich, aber nicht völlig sicher, und auch nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festzustellen, wäre? Geht es darum, nach Möglichkeit die wahre Feststellung zu treffen, kommen wir nicht umhin, uns an di'e Wahrscheinlichkeit - und zwar notfalls auch an eine nur leicht überwiegende Wahrscheinlichkeit zu halten. Nur auf diese Weise ergreifen wir die Chance, das mit der Wirklichkeit übereinstimmende Ergebnis zu erzielen. Etwas anderes ist es, wenn wir entschlossen sind, die eine (oder die andere) Seite in besonderer Weise auf Kosten der Gegenseite gegen die Gefahr eines Irrtums zu schützen. Dann - und nur dann - ist eine besondere Entscheidungsgrenze angezeigt. Zugespitzt ausgedrückt: bleibt uns keine andere Wahl, als entweder eine Fehlerquote von 491>/0 oder eine Fehlerquote von 51 (J/o in Kauf zu nehmen, ist es folgerichtig, selbst wenn sehr viel auf dem Spiel steht, die Irrtumsfolgen jedoch symmetrisch sind, die Alternative mit der kleineren Fehlerquote zu wählen.
2. Richtigkeits- statt Wahrheitsüberzeugung "Juger, c'est penser pour agir." (Rodrigues).l Sich angesichts einer streng zweistelligen Alternative mit symmetrischen Irrtumsfolgen an das Wahrscheinlichere zu halten, heißt in einer schwierigen Lage das kleinere übel wählen. Eine solche Lösung verdient vielleicht nicht das Attribut "wahr", wohl aber das Attribut "richtig". Wichtig ist nur: Im Zweifel bleibt uns, wenn die übereinstimmung mit der Wirklichkeit unser einziges Ziel ist, nichts anderes übrig, als uns an die einfache, überwiegende Wahrscheinlichkeit zu halten, um Fehler, so gut es geht, zu vermeiden. Ist die übereinstimmung mit der Wirklichkeit nicht unser einziges Ziel, weil die Irrtumsfolgen asymmetrisch sind und eine Seite besonders gegen Fehlentscheidungen geschützt werden soll, bestimmt sich die
1
Zitiert nach F. Gorphe: Les dckisions de justice (1952) p.33.
§ 40 Freie überzeugung des Gerichts
249
Irrtumsgrenze "e" unter Abwägung der Irrtumsfolgen nach der Formel T
e=---
I+T
wobei "e" ein Wahrscheinlichkeitsmaß und "r" das Verhältnis zwischen den Folgen eines Fehlers (Irrtums) erster Art zu den Folgen eines Fehlers (Irrtums) zweiter Art ist.
3. Abwägung deT Folgen bei John Locke und Leibniz Andeutungsweise und spielerisch haben sich schon J ahn Locke und Leibniz in den "Neuen Abhandlungen über den menschlichen Verstand" Zweites Buch Kap. XXI §§ 62-672 mit der Frage beschäftigt, wie die Erwartung des künftigen Guten oder Bösen die Richtigkeit des Urteils beeinflußt: John Locke (Philal.) bemerkt (§ 66): "Was diejenigen Dinge betrifft, die in ihren Folgen und durch ihre Fähigkeit, uns Gutes oder Böses zu verschaffen, gut oder böse sind, so urteilen wir über sie auf verschiedene Weise: denn entweder glauben wir nicht, daß das übel, das aus ihnen entspringen kann, wirklich so groß sei als es tatsächlich der Fall ist, oder wir halten zwar die Folge an und für sich für wichtig, sehen es aber nicht als sicher an, daß es nicht auch anders kommen könne, oder daß nicht wenigstens die Folge sich durch irgendwelche Mittel - sei es durch Fleiß, durch Geschicklichkeit, durch Änderung des Verhaltens oder durch Reue - abwenden lassen werde." Und Leibniz (Theoph.) kommentiert: "Versteht man unter der Wichtigkeit der Folge das, was aus der Handlung erfolgt, das heißt die Größe des Gutes oder übels, das sie im Gefolge haben kann, so verfällt man damit, wie mir scheint, in die zuvor erwähnte Art des falschen Urteils: daß man sich nämlich das zukünftige Gut oder übel nicht richtig vorstellt. So bleibt für jetzt nur die zweite Art des falschen Urteils übrig, daß nämlich das Eintreten der Folge in Zweifel gezogen wird." Setzen sich die Befürworter der Wahrheitsüberzeugungstheorie nicht diesem Vorwurf aus: sie nehmen das Irrtumsrisiko nicht wirklich ernst, sondern beschwören die Wahrheit und meinen, damit "durch Fleiß und Geschicklichkeit" eine Fehlentscheidung abwenden zu können? In heutiger Ausdrucksweise: behandeln sie nicht eine Entscheidung unter Risiko so, als ob es sich um eine Entscheidung unter Gewißheit handelt? J. Locke fährt fort: "Es würde leicht sein, im einzelnen zu zeigen, daß alle die Ausflüchte, von denen eben die Rede war, vernunftwidrige Urteile sind, jedoch begnüge ich 2
G. W. Leibniz: Nouveaux Essais (3. Aufl. 1915) 5.204--211.
250
Schlußbemerkungen
mich, im allgemeinen zu bemerken, daß es geradezu gegen die Vernunft handeln heißt, wenn man ein größeres Gut gegen ein kleineres aufs Spiel setzt (oder sich dem Unglück aussetzt, um ein kleineres Gut zu erwerben und ein kleines übel zu vermeiden), und zwar auf unsichere Vermutungen hin, und ehe man eine gehörige Prüfung angestellt hat." Dazu meint Leibniz: "Da es zwei heterogene (miteinander unvergleichliche) Betrachtungsweisen sind, die Größe (der Gewißheit) der Folge und die Größe (der Bedeutung) dessen, was erfolgt, abzuschätzen, so sind die Moralisten, indem sie versuchten, beides zu vergleichen, oft in Verwirrung geraten, wie dies bei denen zutage tritt, die von der Probabilität gehandelt haben. Die Wahrheit ist, daß hierbei - wie auch in anderen Schätzungen, in denen es sich um disparate und heterogene Elemente handelt, die sozusagen nicht derselben Dimension angehören - die Größe dessen, worum es sich handelt, im zusammengesetzten Verhältnis zu beiden Schätzungen steht und einem Rechteck gleicht, das man sowohl seiner Länge wie seiner Breite nach betrachten kann. Was nun die Größe (der Gewißheit) der Folge und die Grade der Probabilität betrifft, so fehlt uns noch jener Teil der Logik, der ihre Schätzung lehren soll ...". Und zum Schluß pflichtet Leibniz der Bemerkung J. Lackes bei, Verworrenheit und Hast bei der Summierung der Posten, die in die Rechnung einzugehen hätten, bringe nicht weniger falsche Urteile· hervor als völlige Unwissenheit: "Wenn es sich um das Abwägen der Gründe handelt, so ist in der Tat, wenn man richtig hierbei verfahren will, viel erforderlich und es geht damit beinahe so, wie mit den Rechnungsbüchern der Kaufleute. Denn da darf man keine Summe auslassen, man muß jede Summe für sich richtig berechnen, die Posten richtig ordnen und sie endlich genau zusammenziehen. Aber man pflegt dabei mehrere wichtige Punkte zu versäumen: sei es, daß man überhaupt an sie nicht denkt, sei es, daß man über sie leicht hinweggeht, - oder man gibt nicht jedem Posten seinen wahren Wert, ... So müßten wir also, um die Kunst der Berechnung der Folgen richtig anzuwenden, noch die Kunst der Bestimmung und die der Abschätzung der Wahrscheinlichkeiten, und ferner die Erkenntnis des Wertes der Güter und übel besitzen; und nach dem allen hätten wir auch noch Aufmerksamkeit und Geduld nötig, um bis zum Abschluß zu gelangen. Kurz, es bedarf eines festen und unveränderlichen Entschlusses, um das, was man sich einmal vorgesetzt, auszuführen, und Kunstgriffe, Methoden, besonderer Gesetze· und durchgebildeter Fertigkeiten, um ihn auch in der Folge aufrechtzuerhalten, wenn die Erwägungen, um derentwillen er gefaßt wurde, dem Geiste nicht mehr gegenwärtig sind. In dem wichtigsten Punkt freilich, der summam rerum, nämlich Glück· und Unglück betrifft, hat man, Gott sei Dank, nicht so viel Kenntnisse, Hilfen und Kunstgriffe nötig, wie man wohl haben müßte, um in einem Staats- oder Kriegsrat, in einem Gerichtshof, bei einer ärztlichen Konsultation, in einer theologischen oder historischen Kontroverse oder bei einem mathematischen und mechanischen Problem richtig zu urteilen; dafür braucht man aber in dem, was jenen Hauptpunkt, Glück und Tugend betrifft, mehr Festigkeit und Fertigkeit, um immer gute Entschlüsse zu fassen und ihnen zu folgen. Zum wahren Glück genügt; mit einem Worte, ein geringeres Maß von Erkenntnis mit mehr gutem Willen, so daß der größte Idiot ebenso leicht dazu gelangen kann als der Gelehrteste und Gescheiteste."
§ 41 Gesunder Menschenverstand und wissenschaftliche Methodik
251
Die Bestimmung der Entscheidungsgrenze unter Abwägung der Entscheidungsfolgen gehört zur operativen Statistik, einem Gebiet, das bis heute noch verhältnismäßig wenig entwickelt scheint. 3 Wenigstens in Bereichen, in denen die Gerichte ohnehin mit statistischen Berechnungen konfrontiert werden wie z. B. in Abstammungssachen, wäre eine vertiefte Zusammenarbeit zwischen Juristen und Statistikern wünschenswert. § 41 Gesunder Menschenverstand und wissenschaftliche Methodik
1. Von der Wahrscheinlichkeit zur Wahrheit "Die Beweislast ruht auf den Klägern, und· die Kläger können nicht erfolgreich sein, außer wenn sie, und bis sie, mich anhand der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (wörtlich: on a balance of probabilities) von der Wahrheit dessen, was sie behaupten, überzeugt haben." Mit diesen Worten beschreibt Roskill, J. in dem aufsehenerregenden Rechtsstreit Onassis and Calogeropoulos (Maria Callas) versus Vergottis das Beweismaß in Zivilsachen. 1 In einer Strafsache, in der es um ein Kapitalverbrechen ging, formulierte Lord Sankey, L. C. die Instruktion für die Geschworenen: 2 "Falls die Jury in einem vernünftigen Zweifel verbleibt, ob die Tat unabsichtlich oder provoziert war, hat der Angeklagte ein Recht auf die Wohltat des Zweifels." Der erfahrene deutsche Richter Albert Hellwig formuliert (und ich stimme dem ZU):3 "Der Richter, der den Angeklagten schuldig spricht, muß zwar von der Wahrheit dessen, was er feststellt, überzeugt sein. Diese überzeugung von der Wahrheit kann aber niemals die Gewähr dafür geben, daß das Festgestellte auch tatsächlich wahr ist. Es handelt sich vielmehr, objektiv betrachtet, nur um ein Wahrscheinlichkeitsurteil." Bezeichnend ist, daß der Begriff "Wahrheit" (truth) von englischen Richtern wenig gebraucht wird. Es versteht sich von selbst, daß es ihnen auf die mit der Wirklichkeit übereinstimmende Entscheidung ankommt. Ein Grund für diese Zurückhaltung mag sein, daß englischen Richtern Begriffe, die durch Logik, Philosophie und Wissenschaftstheorie vorbelastet sind, für Rechtssachen wenig geeignet erscheinen. Aufschlußreich ist: Roskill, J. verknüpft ohne weiteres das Abwägen der Wahrscheinlichkeiten mit der Wahrheitsüberzeugung. So gesehen a So jedenfalls P. von der Lippe: Einführung in die Statistik (1974) S. 66 ff. (68); vgI. auch John Kaplan: Decision Theory and the Factfinding Process, Stan. Law Rev. 20 (1968) p. 1065-1092 (1071 f.). 1 Roskill, J. in: Onassis and Calogeropoulos v. Vergottis (1967) LI. Law. Rep. 1 p. 614. 2 Lord Sankey in Woolmington v. D.P.P. (1935) A.C. p.462 (480). 3 A. Hellwig: Wahrheit und Wahrscheinlichkeit in Strafsachen, in: Der Gerichtssaal 88 (1922) S. 417-454 (431).
252
Schluß bemerkungen
wäre die Wahrheitsüberzeugungstheorie mit dem in dieser Studie entwickelten Entscheidungsmodell durchaus verträglich. Dies würde aber voraussetzen, daß die Orientierung an der absoluten Wahrheit und ihrem Grenzwert ("Überzeugung von einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit") preisgegeben würde. Genau diesen Schritt tut die herrschende Lehre aber nicht. 4 Die Verteidiger der herrschenden Lehre werden zu bedenken geben: eine solche Loslösung läßt den Wahrheitsbegriff in der Wahrscheinlichkeit zerfließen. Für mich ist dieser Einwand zu abstrakt und spekulativ. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: die Entscheidung nach Wahrscheinlichkeit ermöglicht in Zweifelsfällen öfter den wahren Sachverhalt zu treffen. Wie schon erwähnt, bemüht sich eingehend H.-J. Musielak um das Verhältnis von Wahrscheinlichkeit und Wahrheitsüberzeugung.6 Er geht vom Urteil vom 10. April 1919 des Reichsgerichts (6. ZS, RGZ 95 S. 249 f.) aus. Seine Erwägungen und Formulierungen decken sich mit meiner Ansicht: "Die subjektive Gewißheit des Richters, daß die erforderliche Wahrscheinlichkeit dafür (die umstrittene Tatsache als wahr zu erachten) gegeben ist, stellt sich als die Überzeugung von Wahrheit dar." Die Formel e = _r-ermöglicht es, die erforderliche Wahrschein1+r lichkeit, d. h. die Entscheidungsgrenze "e", zu bestimmen, wenn wir in der Lage sind, zu sagen, um wieviel ein Fehler erster Art schädlicher ist als ein Fehler zweiter Art (relative Schädlichkeit "r").
2. Statistik, Gestaltwahrnehmung, Intersubjektivität (Objektivität) Der Nachteil unseres Modells liegt auf der Hand: in aller Regel können wir weder die relative Schädlichkeit exakt angeben noch den konkreten Fall in eine hinreichend spezielle Wahrscheinlichkeitsklasse einschließen, die massenstatistisch abgesichert wäre. Laufen wir nicht Gefahr, wie Antoine de Condorcet sagt, "die grobschlächtigen Irrtümer durch subtilere und gefährlichere, weil schwerer auszumerzende, zu ersetzen"? Unsere Betrachtung der höchst richterlichen deutschen Rechtsprechung in Abstammungssachen zeigt: diese Gefahr ist nur zu real. Wir begegnen ihr aber nicht, wenn wir uns von der Wahrscheinlichkeits, Vgl. z. B. G. Walter: Beweiswürdigung (1979) S. 152 f. H.-J. Musielak: Beweislast (1975) S. 109 ff. (116).
5
§ 41 Gesunder Menschenverstand und wissenschaftliche Methodik
253
lehre abwenden. Ich sehe jedenfalls die Lösung in der selbstbewußten Zuwendung des Juristen hin zu diesem Mittel menschlicher Erkenntnis. Nach einem berühmten Wort Lessings liegt die Grundkraft der Vernunft nicht im Besitz der Wahrheit, sondern in ihrem Erwerb. Augustinus soll gesagt haben: "Um mit Bewußtsein das Falsche vom Wahren zu unterscheiden, muß man die Vorstellung, im Besitz der Wahrheit zu sein, aufgeben."6 Seit der Aufklärung ist der Topos von der überlegenheit des selbstkritischen gegenüber dem naiven Bewußtsein das methodische PrinZip wissenschaftlichen Denkens und Forschens. Dieser Strömung entspricht die wachsende Anerkennung der Wahrscheinlichkeitslehre. Es bleibt der Einwand, in Rechtssachen seien quantitative Methoden nur unter ganz außergewöhnlichen Umständen, wie z. B. bei der serostatistischen Auswertung der Blutmerkmale, anwendbar. Entscheidungen, die sich ohne Rest auf ein quantitatives Modell zurückführen lassen, sind unproblematisch, wie z. B. die Verkehrsregelung durch eine Ampelanlage, die das aktuelle Aufkommen selbsttätig zählt und nach logischer Verarbeitung der ermittelten Daten rechtsverbindliche Befehle an die Verkehrsteilnehmer erteilt, ohne daß, abgesehen von der Entwicklung, Installation und Inbetriebnahme der Ampelanlage, eine menschliche Entscheidung erforderlich wäre. Das Urteil des Gerichts (iudicatum) kommt durch die Urteilskraft (iudicium) seiner Mitglieder zustande. Unter Judiz verstehen wir nicht (nur) die Befugnis des Gerichts, den Lebenssachverhalt unter Berücksichtigung der Gesetze autoritär zu regeln, sondern die Fähigkeit der Mitglieder des Gerichts, dem konkreten Fall im Lichte der gesetzten Ordnung gerecht zu werden. Dazu gehört die gelöste Aufmerksamkeit während der Verhandlung, das Sammeln und Verarbeiten von Eindrücken zu einem Bild und der Vergleich des eigenen Bildes mit dem, das die anderen Mitglieder des Gerichts von der Sache gewonnen haben. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung bringt hierbei nicht viel. Sie enthält die Gefahr, die Fülle des Lebenssachverhalts zu verkürzen und zu verzerren. Um aus Mosaiksteinchen ein Bild zusammenzufügen, sind Phantasie, Einfühlung, Gestaltwahrnehmung erforderlich. "Creer, c'est unir" (Theilhard de Chardin). Diese Phase des Erkenntnisprozesses verträgt keine analytische Zerlegung und Zerfaserung. Doch sind Gestaltwahrnehmung, Lösungsbewußtsein und gefühlsbetontes Evidenzerlebnis allein keine sichere Entscheidungsgrundlage. Die richtige Lösung muß auch hier vor der rationalen Kontrolle des 8
Ohne Quellenangabe zitiert bei F. Gorphe: Les decisions de justice
(1952) p. 103 mit den Worten: "Pour discerner avec connaissance le faux du vrai, il faut quitter la pensee que 1'on tient la verite."
254
Schlußbemerkungen
diskursiven, analytischen Denkens bestehen können. Dies ist auch der Weg zur Aufdeckung verborgener Fehlerquellen und zur gemeinsamen Meinungsbildung zusammen mit dem Partner, der vielleicht zunächst eine andere Lösung überzeugend findet. Hier - und nur hier - hat die Wahrscheinlichkeitslehre auch in Rechtssachen ihren wichtigen Platz. Wie Schünemann dargelegt hat, sind die Verfahrensweisen des Kritischen Rationalismus für die richterliche Tatsachenermittlung nicht nur nützlich, sondern unentbehrlich, falls wir eine Rechtspflege anstreben, die auf der Höhe ihrer Zeit ist. 6 a Übrigens wäre es falsch, zwischen Gestaltwahrnehmung und quantitativen Methoden einen absoluten Gegensatz zu konstruieren. In langjährigen experimentellen Forschungen hat z. B. lvo Kohler für unser optisches Wahrnehmungsvermögen herausgefunden: 7 "Der Organismus tut zunächst das, was auch der vorsichtige Vertreter der Naturwissenschaft als "objektiv" anerkennt: er sammelt Statistiken über die relativen Häufigkeiten des Zusammentreffens bzw. der Aufeinanderfolge von Erscheinungen an der Peripherie seiner Sinnesorgane. Mag in der Art, wie er das tut, manches "subjektiv" und eben in der Anlage der Organe begründet sein, - das schließliche Resultat der Statistik liegt nicht in seinem Belieben." Und Kahler fährt fort: "Das Problematische der Wahrscheinlichkeitsbetrachtung beginnt erst dann, wenn solche, "bisherigen Beständigkeiten" mit einer Art "Dauerindex" versehen werden, als wäre schon ausgemacht, daß bisher Beständiges auch in Zukunft beständig sein müsse." Und schließlich sagt auch der Meister der Gestaltwahrnehmung, Konrad Lorenz: 8
"Wo die Ergebnisse der Gestaltwahrnehmung denen der rationalen Leistungen widersprechen, ist man den letzteren zu glauben verpflichtet, ... in allen Belangen des Verifizierens hat die Quantifikation das letzte Wort." Die kritische unterscheidet sich von der naiven Erkenntnishaltung nicht zuletzt dadurch, daß sie die Aufmerksamkeit nicht ausschließlich auf den Erkenntnisgegenstand konzentriert, sondern das Subjekt des Erkennens mitberücksichtigt. "Der Vorgang des Erkennens und die Eigenschaften des Objekts der Erkenntnis können nur gleichzeitig untersucht werden (The object of knowledge and the instrument of knowledge cannot legitimately be separated, but must be taken together as one whole - P. W. Bridgman) ..."9 Erst die Einsicht in die H.-W. Schünemann, JuS 1976 S. 560-565. I. Kahler: Gedanken zur instinktiven Anwendung der Wahrscheinlichkeit, in: Studium Generale 4 (1951) S. 110-114 (114). 8 K. Lorenz: Gestaltwahrnehmung als Quelle wissenschaftlicher Erkenntnis (1959) in: Gesammelte Abhandlungen (1965) Bd.2 S. 255-300 (282, 294). g Zitiert nach K. Lorenz: Die Rückseite des Spiegels (1973) S. 12. Vgl. hier8a
7
§ 41 Gesunder Menschenverstand und wissenschaftliche Methodik
255
eigene Subjektivität führt zur Intersubjektivität, also zur Objektivität der Juristen.
3. Nach gesundem Menschenverstand entscheiden wir unter Abwägung der Wahrscheinlichkeiten einerseits und der Irrtums/olgen andererseits "Abwägung der Wahrscheinlichkeiten des konkreten Falles", "Bildung der Gesamtwahrscheinlichkeit" und "Einschluß des Einzelfalls in die engstmögliche Wahrscheinlichkeitsgruppe" sind Umschreibungen eines und desselben Gedankenvorgangs: die Zusammenfassung sämtlicher verfügbaren Informationselemente in einem Urteil. Theodor Erismann erläutert: 1o "Weiß ich von N nicht nur, daß er zu einer mit einer bestimmten mittleren Lebenslänge ausgestatteten Menschenrasse gehört, sondern d.arüber hinaus auch noch, daß er zu einer engeren, durch besondere Langlebigkeit ausgezeichneten Gruppe gehört, so weiß ich mehr von ihm, und mein von diesem überragenden Wissen ausgehendes W-Urteil erfaßt den N in einer durch mehr Merkmale ausgezeichneten, daher auch in einer an seine konkreten Verhältnisse enger sich anschließenden Gruppe als das erste Urteil. Daher werde ich im Bestreben, die besonderen Verhältnisse des N in einem Wahrscheinlichkeitsurteil möglichst adäquat zu fassen, von beiden an sich gleich wahren Urteilen dasjenige bevorzugen, welches sich auf einem weiter reichenden Wissen über die besonderen Verhältnisse des Falles N aufbaut, und als Arzt oder Versicherungsbeamter stets von der engsten Wahrscheinlichkeits-Gruppe ausgehen, in die ich den betrachteten Fall einschließen kann." Hinter der Formel e =_+r_ steht der weitere Gesichtspunkt, daß 1 r eine vernünftige Entscheidung ihre möglichen Auswirkungen mitberücksichtigt: Der Versuch, das optimale Ergebnis durch Vermeidung des vergleichsweise schädlicheren Fehlers zu erzielen. Dies alles ist nichts anderes - und will nichts anderes sein - als ein Plädoyer für den gesunden Menschenverstand, will sagen für die Haltung des Amtsrichters, der von Beweislasttheorien nichts wissen will, sondern im Zweifel dem Recht gibt, der wahrscheinlich Recht hat.
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