Vom Kalten Krieg zur deutschen Einheit: Analysen und Zeitzeugenberichte zur deutschen Militärgeschichte 1945 bis 1995 [Reprint 2014 ed.] 9783486829648, 9783486561609

Hochrangige Zeitzeugen - unter ihnen die ehemaligen Verteidigungsminister Leber, Apel und Stoltenberg sowie die Generale

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German Pages 761 [764] Year 1995

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Table of contents :
Geleitwort des Bundesministers der Verteidigung
Vorwort des Amtschefs des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes
Einführung des Herausgebers
Teil I. Von Potsdam nach Paris und Warschau. Der Weg der beiden deutschen Staaten in die Bündnisse 1945 bis 1955/56
Von der Entmilitarisierung zur Aufrüstung in beiden Teilen Deutschlands 1945-1952
Adenauer und die Soldaten
Feind und Kamerad
Drei deutsche Generale. Dienst in der Diktatur und im Spannungsfeld des Kalten Krieges
Anfänge der Öffentlichkeitsarbeit in der Dienststelle Blank
Auf dem letzten Lehrgang für Regimentskommandeure in der Sowjetunion
Zwei deutsche Staaten — zwei deutsche Armeen. Der Beitritt von Bundesrepublik und DDR zu den Bündnissen 1954/56
Sicherheit vor Deutschland. Völkerrechtliche Bindungen der Bundesrepublik Deutschland nach den Pariser Verträgen von 1954
Militärischer Berater auf der Konferenz von London 1954
Teil II. Zwischen Kaltem Krieg und Entspannung. Die deutschen Streitkräfte in den Militärblöcken bis zur Wende von 1989/90
Die militärische Grenzsicherung an der innerdeutschen Demarkationslinie und der Mauerbau 1961
Der Schock des Mauerbaus aus der Sicht des Berliner Senats
Erlebnisse und Erfahrungen als Chef Nachrichten beim Berliner Mauerbau
Die mitteleuropäische Krise: Prag 1968
Die Tschechenkrise 1968, wie der Kommandierende General des II. Korps diese erlebt hat
Der Sommer 1968 im Militärbezirk Leipzig
Schmidt, Leber, Apel: Die Ära der sozialdemokratischen Verteidigungsminister
Die konventionelle Verteidigung Mitteleuropas und die neue Mittelstreckenbedrohung
Sicherheitspolitik und Parteiräson
Teil III. Militär und Gesellschaft. Die Bundeswehr als Armee in der Demokratie
Militärreformen in Deutschland — zum historischen Stellenwert der Integration von Militär und Gesellschaft
Staatsbürger in Uniform
Reservist — Reservistenverband
Zur Entstehung, Entwicklung und Bewährung der Konzeption der Inneren Führung
Erinnerungen und Erfahrungen als Kommandeur der Schule der Bundeswehr für Innere Führung 1960 bis 1962
Innere Führung im Blickpunkt der Öffentlichkeit: der Beirat Innere Führung
Eine Debatte mit offenem Ausgang: das Ringen um den Militärseelsorgevertrag
Pfarrer und Soldaten — dem Frieden verpflichtet
Zum Aufbau der katholischen Militärseelsorge in den neuen Bundesländern
Die Bundeswehrverwaltung. Vierzig Jahre Stetigkeit in der Veränderung
Wehrverwaltung in den neuen Bundesländern und Berlin
Teil IV. Das Ende des Kalten Krieges und die Neuordnung der Streitkräfte in Deutschland seit 1990
Die Bundeswehr im deutschen Einigungsprozeß 1989/90
»Nicht Feind, nicht Gegner, sondern Partner.« Zum Transformationsprozeß der Nationalen Volksarmee auf dem Weg in die deutsche Einheit
Die NATO und die Wende in Osteuropa
Sicherheitspolitische Verantwortung während der »friedlichen Revolution« in Ost und West
Wie die Wiedervereinigung die Hardthöhe erreichte!
Der Abzug der russischen Streitkräfte aus Deutschland
Die Bundeswehr und der Aufbau Ost
Teil V. Verteidigung im Bündnis und die neuen Aufgaben deutscher Streitkräfte
Bündnispolitik und Nationales Interesse. Wertungen aus politischer und diplomatischer Sicht
Von der »massive retaliation« zur »flexible response«. Zum Strategiewechsel der sechziger Jahre
Auf der Suche nach einer neuen NATO-Strategie
Die Wechselwirkung Taktik — Technik — Mensch. Die Einführung des Flugzeuges F-104 G in die deutsche Luftwaffe und die »Starfighterkrise« von 1965/66
Pilot in den Aufbaujahren der Bundeswehr
Die Rolle der Marine in der Verteidigungsplanung für Mittelund Nordeuropa von den 50er Jahren bis zur Wende 1989/90
Einsatz in der Ostsee
VN-Missionen — humanitäre Hilfe — Krisenreaktionskräfte
Deutscher Sanitätsdienst unter der Flagge der Vereinten Nationen — Kambodscha 1992/93
Sommer 1994 in der Adria. Der Einfluß des Karlsruher Urteils auf den Einsatz der Fregatte »Lübeck«
(K)ein ganz normaler Flug. Die Luftbrücke nach Sarajevo
Zum Engagement der NVA in der »Dritten Welt«
Der Aufbau einer technischen Unteroffiziers-/Offiziersschule in Vietnam
Aufgaben der Bundeswehr am Ende des 20. Jahrhunderts
Die politische und militärische Zielsetzung des Eurokorps
Die Autoren
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Vom Kalten Krieg zur deutschen Einheit: Analysen und Zeitzeugenberichte zur deutschen Militärgeschichte 1945 bis 1995 [Reprint 2014 ed.]
 9783486829648, 9783486561609

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Vom Kalten Krieg zur deutschen Einheit

Vom Kalten Krieg zur deutschen Einheit Analysen und Zeitzeugenberichte zur deutschen Militärgeschichte 1945 bis 1995

Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes herausgegeben von Bruno Thoß unter Mitarbeit von Wolfgang Schmidt

R. Oldenbourg Verlag München 1995

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Vom Kalten Krieg zur deutschen Einheit : Analysen und Zeitzeugenberichte zur deutschen Militärgeschichte 1945 bis 1995 / im Auftr. des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Bruno Thoss unter Mitarb. von Wolfgang Schmidt. München : Oldenbourg, 1995 ISBN 3-486-56160-X NE: Thoss, Bruno [Hrsg.]

© 1995 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen.

Satz: Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam Druck und Bindung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München ISBN 3-486-56160-X

Inhalt Geleitwort des Bundesministers der Verteidigung Vorwort des Amtschefs des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes Einführung des Herausgebers Teil I Von Potsdam nach Paris und Warschau. Der Weg der beiden deutschen Staaten in die Bündnisse 1945 bis 1955/56 Gerhard Wettig: Von der Entmilitarisierung zur Aufrüstung in beiden Teilen Deutschlands 1945-1952 Rolf Friedemann Pauls Adenauer und die Soldaten Gerhard Kunze Feind und Kamerad Georg Meyer Drei deutsche Generale. Dienst in der Diktatur und im Spannungsfeld des Kalten Krieges Konrad Kraske Anfänge der Öffentlichkeitsarbeit in der Dienststelle Blank Roland Haase Auf dem letzten Lehrgang für Regimentskommandeure in der Sowjetunion Bruno Thofl Zwei deutsche Staaten — zwei deutsche Armeen. Der Beitritt von Bundesrepublik und DDR zu den Bündnissen 1954/56 Walter Schwengler Sicherheit vor Deutschland. Völkerrechtliche Bindungen der Bundesrepublik Deutschland nach den Pariser Verträgen von 1954 Johann Adolf Graf von Kielmansegg Militärischer Berater auf der Konferenz von London 1954

IX XIII XV

1

3 37 43 51 63 73 83 101 115

Teil II Zwischen Kaltem Krieg und Entspannung. Die deutschen Streitkräfte in den Militärblöcken bis zur Wende von 1989/90

125

Torsten Diedrich Die militärische Grenzsicherung an der innerdeutschen Demarkationslinie und der Mauerbau 1961

127

VI

Inhalt

Egon Bahr Der Schock des Mauerbaus aus der Sicht des Berliner Senats Walter Paduch Erlebnisse und Erfahrungen als Chef Nachrichten beim Berliner Mauerbau Rüdiger Wenzke Die mitteleuropäische Krise: Prag 1968 Karl Wilhelm Thilo Die Tschechenkrise 1968, wie der Kommandierende General des II. Korps diese erlebt hat Hans Ernst Der Sommer 1968 im Militärbezirk Leipzig Kurt Fischer Schmidt, Leber, Apel: Die Ära der sozialdemokratischen Verteidigungsminister Georg Leber Die konventionelle Verteidigung Mitteleuropas und die neue Mittelstreckenbedrohung Hans Apel Sicherheitspolitik und Parteiräson

145 149 157 179 187 193 223 249

Teil III Militär und Gesellschaft. Die Bundeswehr als Armee in der Demokratie

261

Detlef Bald Militärreformen in Deutschland — zum historischen Stellenwert der Integration von Militär und Gesellschaft Willi Weiskirch Staatsbürger in Uniform Helmuth Möhring Reservist — Reservistenverband Helmuth Schubert Zur Entstehung, Entwicklung und Bewährung der Konzeption der Inneren Führung Ulrich de Maizière Erinnerungen und Erfahrungen als Kommandeur der Schule der Bundeswehr für Innere Führung 1960 bis 1962 Eberhard Stammler Innere Führung im Blickpunkt der Öffentlichkeit: der Beirat Innere Führung Peter H. Blaschke Eine Debatte mit offenem Ausgang: das Ringen um den Militärseelsorgevertrag

263 277 283 297 323 331 339

Inhalt

Reinhard Gramm

Pfarrer und Soldaten — dem Frieden verpflichtet

VII

359

Heinrich Hecker

Zum Aufbau der katholischen Militärseelsorge in den neuen Bundesländern

367

Rainer Reinhart

Die Bundeswehrverwaltung. Vierzig Jahre Stetigkeit in der Veränderung

381

Karl Johanny

Wehrverwaltung in den neuen Bundesländern und Berlin

Teil IV Das Ende des Kalten Krieges und die Neuordnung der Streitkräfte in Deutschland seit 1990 Jörg Schönbohm

Die Bundeswehr im deutschen Einigungsprozeß 1989/90

393

403 405

Paul Heider

»Nicht Feind, nicht Gegner, sondern Partner.« Zum Transformationsprozeß der Nationalen Volksarmee auf dem Weg in die deutsche Einheit

Wolfgang

Altenburg

Die NATO und die Wende in Osteuropa

419 443

Gerhard Stoltenberg

Sicherheitspolitische Verantwortung während der »friedlichen Revolution« in Ost und West

Karl-Heinz Carl

Wie die Wiedervereinigung die Hardthöhe erreichte!

Hartmut Foertsch

Der Abzug der russischen Streitkräfte aus Deutschland

447 453 463

Werner von Scheven

Die Bundeswehr und der Aufbau Ost Teil V Verteidigung im Bündnis und die neuen Aufgaben deutscher Streitkräfte

473

505

Hans-Georg Wieck

Bündnispolitik und Nationales Interesse. Wertungen aus politischer und diplomatischer Sicht

507

Reiner Pommerin

Von der »massive retaliation« zur »flexible response«. Zum Strategiewechsel der sechziger Jahre

525

Vili

Inhalt

Gerd Schmiickle Auf der Suche nach einer neuen NATO-Strategie Andries Schlieper Die Wechselwirkung Taktik — Technik — Mensch. Die Einführung des Flugzeuges F-104 G in die deutsche Luftwaffe und die »Starfighterkrise« von 1965/66 Günther Rail Pilot in den Aufbaujahren der Bundeswehr Peter Monte Die Rolle der Marine in der Verteidigungsplanung für Mittelund Nordeuropa von den 50er Jahren bis zur Wende 1989/90 Otto H. Ciliax Einsatz in der Ostsee Dieter Stockfisch VN-Missionen — humanitäre Hilfe — Krisenreaktionskräfte Peter K. Fraps Deutscher Sanitätsdienst unter der Flagge der Vereinten Nationen — Kambodscha 1992/93 Waldemar Benke Sommer 1994 in der Adria. Der Einfluß des Karlsruher Urteils auf den Einsatz der Fregatte »Lübeck« Peter Putz (K)ein ganz normaler Flug. Die Luftbrücke nach Sarajevo Kurt Arlt Zum Engagement der NVA in der »Dritten Welt« Karl-Heinz Beinhoff Der Aufbau einer technischen Unteroffiziers-/Offiziersschule in Vietnam Klaus Naumann Aufgaben der Bundeswehr am Ende des 20. Jahrhunderts Helmut Willmann Die politische und militärische Zielsetzung des Eurokorps Die Autoren Bildnachweis Register

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Geleitwort des Bundesministers der Verteidigung Im November 1995 feiert die Bundeswehr ein stolzes Jubiläum: Seit 40 Jahren schützt sie gemeinsam mit den verbündeten Streitkräften Frieden und Freiheit für unser Land. In dieser Zeit hat sie maßgeblich zur internationalen Handlungsfähigkeit Deutschlands und zur Wiedererlangung unserer vollen staatlichen Souveränität beigetragen. Die Bundeswehr ist die älteste deutsche Armee in diesem Jahrhundert, älter als Reichswehr und Wehrmacht zusammen. In vierzig Jahren hat sie inzwischen schon selbst einen respektablen Teil deutscher Militärgeschichte geschrieben. Vor allem aber ist sie Spiegel der jüngsten Geschichte Deutschlands, seiner inneren und äußeren Lage und Entwicklung nach dem Kriege, seines Selbstverständnisses, seiner Interessen und Wertvorstellungen. Die Bundeswehr ist die erste Wehrpflichtarmee in einer Demokratie in Deutschland. Freiheit, Menschenwürde und Recht bestimmen ihren Auftrag und auch ihre innere Verfassung. Ihr Selbstverständnis und ihre Tradition sind von den freiheitlichen Werten in der deutschen Militärgeschichte seit Scharnhorst und der Haltung des deutschen Widerstands gegen die nationalsozialistische Diktatur geprägt. Heute ist die Konzeption der »Inneren Führung« mit ihrem Leitbild des »Staatsbürgers in Uniform« ein zukunftsweisendes Modell für die Streitkräftereformen in Mittel- und Osteuropa. Bei der Aufstellung deutscher Streitkräfte ließ sich Konrad Adenauer von drei Einsichten leiten, die untrennbar zusammengehörten. Erstens: Die Bundesrepublik konnte Freiheit und Sicherheit nicht aus eigener Kraft gewinnen und erhalten, sie brauchte den Schutz anderer, vor allem Nordamerikas. Zweitens: Um die Souveränität zurückzugewinnen, war ein aktiver Beitrag zur Verteidigung des Westens notwendig. Drittens mußten Sicherheit fiir Deutschland und Sicherheit vor Deutschland — wie unsere Nachbarn es damals sahen — durch konsequente Westintegration miteinander verbunden werden. Integration war fortan Maxime, Ziel und Gestaltungsprinzip deutscher Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Der Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur NATO am 5. Mai 1955 und die Aufstellung der Bundeswehr, nur zehn Jahre nach Kriegsende, waren die historischen Weichenstellungen dieser Politik. Sie hat wesentlich dazu beigetragen, Europa Frieden und Freiheit und Deutschland die Einheit zu bringen. Während der Ost-West-Konfrontation bildeten die deutschen Streitkräfte das Rückgrat der NATO-Verteidigung in Mitteleuropa. Doch der rasche Aufbau verlangte auch seinen Tribut: Die Starfighter-Krise lastete schwer auf der noch jungen Bundeswehr. Aber Rückschläge wurden gemeistert. Die Bundeswehr wurde rasch eine moderne Armee, im Bündnis geachtet, im Warschauer Pakt respektiert. Die Geschichte der Bundeswehr ist vor allem eine Geschichte erfolgreicher Kriegsverhinderung in schwieriger Zeit. In vielen europäischen Krisen der

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Geleitwort des Bundesministers der Verteidigung

Nachkriegszeit boten die deutschen Streitkräfte der Bundesrepublik sicherheitspolitischen Rückhalt. Das komplexe Gefüge aus glaubwürdiger Verteidigungsfähigkeit und Entspannungsbereitschaft, aus nuklearer Abschreckung und konventioneller Abwehrfähigkeit bedeutete eine schwierige intellektuelle und moralische Herausforderung. Glaubwürdige Abschreckung hat über vier Jahrzehnte den Frieden gesichert. Die Bundeswehr hat in vorbildlicher Weise dazu beigetragen, die Voraussetzungen zu schaffen, daß Deutschland vereinigt und die Teilung Europas aufgehoben ist. Die Bundeswehr war und ist nicht nur Garant der äußeren Sicherheit, sondern auch Helfer in Katastrophen — bei Sturmfluten, Schneekatastrophen und Waldbränden im In- und Ausland. Die Hilfe während der Sturmflut in der Küstenregion zwischen Hamburg und Bremen im Februar 1962 bleibt als Beispiel für die Tradition des Helfens unvergessen. Mit der Vereinigung Deutschlands im Jahre 1990 kam auf die Bundeswehr die zweite große Aufbauleistung ihrer Geschichte zu. Sie hat diese Herausforderung mit Loyalität, organisatorischem Geschick, mit Enthusiasmus und Einfühlungsvermögen gemeistert. Die Innere Führung hat eine bedeutende Bew ä h r u n g s p r o b e b e s t a n d e n . Die B u n d e s w e h r ist zur A r m e e der Einheit geworden — eine Integrations- und Gemeinschaftsleistung, die Beispiel ist für die innere Einheit der Deutschen und im In- und Ausland hoch gewürdigt wird. Zugleich unterstützt die Bundeswehr heute unsere östlichen Nachbarn auf ihrem Weg in NATO und Westeuropäische Union durch eine Fülle praktischer Hilfe und Kooperation. Mit der Vereinigung Deutschlands ist die ehemalige Nationale Volksarmee Teil der deutschen Militärgeschichte geworden. Als Parteiarmee und Instrument der sozialistischen Diktatur kann sie jedoch keine Tradition begründen. Die Bundeswehr steht heute vor neuen, ungewohnten Aufgaben. Die internationale Lage hat sich grundlegend geändert. Zwar ist die existentielle Gefährdung unseres Landes so gering wie nie zuvor in den letzten 50 Jahren. Aber zugleich haben die Krisen zugenommen, die auch unsere Sicherheit betreffen. Die internationale Verantwortung Deutschlands ist gewachsen. Deutschland braucht Streitkräfte, die zur Landesverteidigung befähigt bleiben. Sie müssen aber auch im Bündnisrahmen zur Krisenreaktion fähig sein und für die Völkergemeinschaft zur Verfügung stehen, wenn unsere Hilfe erforderlich ist. Das stellt hohe politische, militärische und vor allem geistige Anforderungen an die Bundeswehr. Sie wird in einem tiefgreifenden Reformprozeß auf die künftigen Aufgaben ausgerichtet. Das Wechselspiel von Herausforderung und Bewährung von 40 Jahren Bundeswehr festzuhalten, zu dokumentieren und in Erinnerung zu rufen, ist das Anliegen und Verdienst des vorliegenden Sammelbandes. Mit seinen über 50 Fachaufsätzen, Analysen und Zeitzeugenberichten läßt er den ereignisreichen Weg unserer Streitkräfte an ausgewählten thematischen Schwerpunkten, wesentlichen Höhepunkten und lebendigen Erlebnisschilderungen Revue passieren. In der historischen Perspektive gewinnt der Leser einen Eindruck von der

Geleitwort des Bundesministers der Verteidigung

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Dynamik des Wandels und den Herausforderungen der Zukunft, durch die vergleichende Gegenüberstellung der Entwicklung in den beiden deutschen Staaten der Vergangenheit ein Bewußtsein vom Wert der wehrhaften Demokratie und ihrer Streitkräfte. Ich danken den Autoren aus Politik, Militär und Wissenschaft für ihre wertvollen Beiträge, dem Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr für Planung und Herausgabe dieser bedeutenden Dokumentation zur deutschen Militärgeschichte. Volker Rühe

Bonn, im August 1995

Vorwort Als am 12. November 1955 die ersten 101 Freiwilligen der Bundeswehr vereidigt wurden, hatten die politisch und militärisch Verantwortlichen damit die Gründung der neuen deutschen Streitkräfte ganz bewußt auf den 200. Geburtstag des großen Militärreformers Scharnhorst gelegt. Wenn auch unter ganz unterschiedlichen politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, so war doch wie zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch jetzt ein militärischer Neuanfang nach einer vernichtenden Niederlage einzuleiten. In beiden Fällen hatte der militärische den staatlichen Zusammenbruch nach sich gezogen. Daher mußten Staat und Militär nach 1806 wie auch nach 1945 von Grund auf reformiert werden. Wenn sich die Bundeswehr daher in diesem Jahr ihrer Gründung vor vierzig Jahren erinnert, dann sollte dies wie bei ihren Gründungsvätern auch vor dem Hintergrund ihres historischen Weges geschehen, den sie zurückgelegt hat. Bei allen aktuellen Herausforderungen an die neue gesamtdeutsche Armee bleiben nämlich aus historischer Perspektive zwei zentrale Rahmenbedingungen ihrer Gründungszeit auch weiterhin für sie prägend: Mit dem Beitritt zur westlichen Allianz suchte und fand die Bundesrepublik Deutschland bis heute Sicherheit durch Verteidigung im Bündnis; und als Antwort auf die Spannungen zwischen Militär und Staat in der Weimarer Republik wurden die neuen Streitkräfte durch eine moderne Wehrgesetzgebung von Anfang an als Armee in der Demokratie konzipiert u n d a u f g e b a u t . Das Leitbild vom »Staatsbürger in Uniform« und seine Umsetzung im Konzept der »Inneren Führung« stehen symbolisch für den Erfolg dieses Neubeginns. Mit der Wende von 1989/90 hat die Epoche des Kalten Krieges, in die hinein deutsche Soldaten seit den ersten Überlegungen über einen deutschen Beitrag zur westeuropäisch-atlantischen Verteidigung gestellt waren, einen Abschluß gefunden. Dennoch bestimmen die zu Beginn der fünfziger Jahre eingeleiteten Prozesse immer noch weitgehend die aktuellen Koordinaten und Aufgabenstellungen sicherheitspolitischen und militärischen Handelns, so daß der Militärhistoriker erst sehr vorsichtig nach festen Tritten im bewegten Untergrund sucht. Das Militärgeschichtliche Forschungsamt trägt dem dadurch Rechnung, daß es mit dem hier vorgelegten Sammelband zu den letzten fünfzig Jahren deutscher Militärgeschichte an Stelle einer verfrühten Gesamtdarstellung zunächst eine Palette von ersten vorläufigen Forschungsergebnissen präsentiert. Ausgewählte Analysen zu besonderen Schwerpunktthemen werden durch eine Fülle von individuellen Zeitzeugenberichten ergänzt und illustriert. Damit sucht der Band nicht nur Mosaiksteine für eine wissenschaftliche Bestandsaufnahme zusammenzutragen, er gewinnt über die Erinnerungen der Mithandelnden und Miterlebenden selbst den Rang einer historischen Quelle. In dieser doppelten Funktion will er in der Rückschau Erinnerungen wecken und zugleich zum

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Vorwort

Nachdenken anregen, um dadurch aktuelle Herausforderungen in ihre jeweiligen historischen Zusammenhänge einordnen zu können. Daß dieser Band nicht nur eine erste wissenschaftliche Bestandsaufnahme liefert, sondern durch seine Zeitzeugenberichte aufschlußreiche Facetten erhält, ist in erster Linie ein Verdienst der beteiligten Autoren. Ihre Bereitschaft zur Mitwirkung und Kooperation im Rahmen der vorgegebenen Konzeption verdient daher besonderen Dank und Anerkennung. Dem Herausgeber des Bandes, Herrn Wissenschaftlichen Oberrat Dr. Bruno Thoß, ist es in hervorragender Weise gelungen, eine Konzeption zu entwickeln und zu realisieren, in der die verschiedenartigen Beiträge ein farbenprächtiges Mosaik bilden, das Personen, Ereignisse und Entwicklungslinien der deutschen Militärgeschichte von 1945 bis zur Gegenwart in differenzierten Konturen erkennen läßt. Er wurde dabei in der Schlußphase tatkräftig von Herrn Oberstleutnant Dr. Wolfgang Schmidt unterstützt, der sich besonders um die Zusammenstellung des Bildteils verdient gemacht hat. Beiden Herren danke ich für ihr vorbildliches Engagement bei der Vorbereitung und Fertigstellung des Bandes. Die kurzfristige Realisierung des Projektes war für das Militärgeschichtliche Forschungsamt eine besondere Herausforderung, der sich Herausgeber und Schriftleitung mit großer Einsatzbereitschaft und mit dem gemeinsamen Willen zum Erfolg gestellt haben. Dr. Werner Rahn Kapitän zur See und Amtschef des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes

Potsdam, im August 1995

Einführung Im Frühjahr 1995 okkupierte eine ganze Folge von Gedenkveranstaltungen zum Kriegsende vor fünfzig Jahren das öffentliche Bewußtsein so sehr, daß ein anderer Jahrestag, der sich fast zeitgleich zum 40. Male jährte, unverdient in den Hintergrund gedrängt wurde: der Beitritt der Bundesrepublik zu WEU und NATO im Mai 1955. Nicht zu Unrecht wurde das damit erreichte Heraustreten aus der Besatzungszeit in der Literatur geradezu als zweiter Gründungsakt des westdeutschen Staates apostrophiert. Schließlich hatte erst die politisch-wirtschaftliche und die militärische Hinwendung zu Westeuropa und zum atlantischen Bündnis den Weg endgültig freigemacht vom besatzungsrechtlichen Objekt zum nach innen wie außen wieder voll handlungsfähigen Subjekt. Damit endete ein Prozeß, der von der völligen Entmilitarisierung des Deutschen Reiches nach den Festlegungen der Potsdamer Konferenz von 1945 über die Grundsatzentscheidungen der Siegermächte für eine Aufrüstung in beiden Teilen Deutschlands bis zur Integration von Bundesrepublik und DDR in die gegnerischen Militärallianzen von NATO und Warschauer Pakt geführt hatte. Anders als zunächst befürchtet, war die damit verbundene Festschreibung des territorialen Status quo in Mitteleuropa für mehr als drei Jahrzehnte aber gerade nicht von einem internationalen Klimasturz begleitet. Die Einbettung beider deutscher Staaten in die Militärblöcke beruhigte vielmehr die Sicherheitslage zumindest an der mitteleuropäischen Nahtstelle des Ost-West-Konflikts so weit, daß sich die Kontrahenten im Kalten Krieg erstmals seit 1945 wieder aus sicherheitspolitisch geklärter Lage auf die Suche nach risikoärmerer und weniger kostspieliger Systemkonkurrenz in Europa machen konnten. Der Preis für die Deutschen war allerdings hoch. Mit diesem vorerst letzten Akt bei der Teilung der Welt in antagonistische Lager wurde für lange Zeit die Spaltung des eigenen Landes zementiert. Der Mauerbau von 1961 sollte dem nur noch besonders abschreckenden Ausdruck verleihen. Erst in einem zähen Wechselspiel aus einer sich nur sehr allmählich abschwächenden Konfrontation und einer immer wieder unterbrochenen schrittweisen Kooperation zwischen Ost und West mußten die Voraussetzungen geschaffen werden für eine Wende in Europa, die dann auch die deutsche Frage lösbar machte. Auf wenigen Feldern treten diese Entwicklungen und Verwerfungen dem Betrachter so plastisch vor Augen wie beim Blick auf die deutsche Militärgeschichte nach 1945. Schließlich sahen sich deutsche Streitkräfte frühzeitig und dauerhaft — als Produkte und Instrumente des Kalten Krieges gleichermaßen — auf eine ganz unmittelbare Weise an den direkten Reibungsflächen des Ost-West-Konflikts einander gegenübergestellt. Wenn daher im Herbst diesen Jahres an die Vereidigung der ersten westdeutschen Soldaten vor vierzig Jahren als dem Gründungsakt der Bundeswehr erinnert wird, dann sollte

XVI

Bruno Thoß

dies mit jenem langen Atem geschehen, der allein aus historischer Perspektive zu gewinnen ist. Dem Militärgeschichtlichen Forschungsamt stellte sich vor diesem Hintergrund die Frage nach einem angemessenen Beitrag, mit dem solch erinnerndes Nachdenken gefördert werden konnte. Ein Weg mochte in einer kompakten Gesamtdarstellung der deutschen im Rahmen der internationalen Militärgeschichte nach 1945 bestehen. Einem so anspruchsvollen Unterfangen zieht jedoch der Forschungsstand unabweisbare Grenzen. Schließlich hat sich die quellengestützte Analyse der Aufrüstungsprozesse in Ost- und Westdeutschland hinreichend umfassend erst bis zur Mitte der 50er Jahre vorgearbeitet, deckt also im wesentlichen die Vorgeschichte von Bundeswehr und NVA ab. Das mindert nicht den Wert einer Fülle von darüber hinausreichenden Detailstudien auf unterschiedlichster Materialbasis. Aber es läßt doch Zurückhaltung angeraten sein, wenn es um eine verfrühte Gesamtdarstellung von Ereignissen und Entwicklungen geht, während die Forschung die damit verbundenen Erwartungen nur in äußerst rudimentärer Form erfüllen könnte. Zweckmäßiger und verantwortbarer erschien deshalb eine Aufsatzsammlung, die ohne Anspruch auf Vollständigkeit herausragende Ereignisse und strukturelle Schwerpunktbereiche in Auswahl vorstellt. Dabei sollen analysierende Fachessays und rückerinnernde Zeitzeugenberichte zusammengebunden werden, die dem doppelten Anspruch historischen Verstehens gerecht zu werden versuchen: dem Aufspüren langwirkender und tiefreichender Strukturen wie den in sie eingebetteten Motivationen historisch Handelnder. Ohne daß sich dies wegen des sehr unterschiedlich entwickelten Forschungsstandes zur west- und ostdeutschen Militärgeschichte bereits durchgängig leisten ließe, wurden an dafür geeigneten Stellen zudem auch Historiker und Zeitzeugen zur NVA-Geschichte integriert, um das Bewußtsein für zwei so prägende Erfahrungen der deutschen Nachkriegszeit wachzuhalten: das Streben nach Einheit und die entgegenwirkenden Kräfte der Spaltung. Und schließlich sucht der Band ganz ausdrücklich auch den Weg zu einer breiteren historisch interessierten Leserschaft. Um der Lesbarkeit willen wurde deshalb bewußt auf umfangreiche Anmerkungsapparate verzichtet und stattdessen am Ende der Fachaufsätze weiterführende Literaturhinweise angefügt. Nicht zuletzt will auch die Illustration der Beiträge das geschriebene Wort durch die Bildwirkung unterstützen. In seiner Gliederung sucht der Band fünf Blöcke aus den zurückliegenden fünfzig Jahren deutscher Militärgeschichte mit repräsentativen Einzelbeiträgen zu bestücken. Da wird zunächst auf die Vorgeschichte der Aufrüstung beider Teile Deutschlands eingegangen. Nach erstmaliger Einsicht auch in sowjetische Akten wird der sich verschärfende Ost-West-Konflikt von den Potsdamer Entwaffnungsbeschlüssen bis zu den Grundsatzentscheidungen für die Militärbeiträge in Ost- und Westdeutschland im direkten Vergleich vorgestellt. Dem schließen sich Gedanken über die Handlungsmotive deutscher Soldaten an, die aus je unterschiedlicher Verarbeitung von Kriegserlebnis und Besatzungszeit den Entschluß zur Wiederaufnahme des Soldatenberufs unter diametral entge-

Einführung

XVII

gengesetzten Systembedingungen faßten. Abgerundet wird dieser erste Themenkreis durch Beiträge zu den politisch-diplomatischen Schritten in die Allianzen einschließlich der damit eingegangenen rechtlichen Verpflichtungen. Ein zweiter Komplex widmet sich den nationalen und internationalen Entwicklungen im Wechselspiel von Kaltem Krieg und Entspannung bis zur Wende von 1989/90. Ausgewählte Schwerpunkte für eine sich immer wieder aufschaukelnde Konfrontation bilden die Berlin-Krise von 1958 bis zu ihrem Höhepunkt im Mauerbau 1961, die Spannungen in Mitteleuropa im Zusammenhang mit der Niederschlagung des »Prager Frühlings« von 1968 und die Auseinandersetzungen um die Stationierung von Mittelstreckenraketen in den siebziger und achtziger Jahren. Der weiterschwelende Kalte Krieg ist aber auch bereits begleitet von Ansätzen zu sicherheitspolitischer Kooperation, wie sie insbesondere für die dreizehn Jahre der sozialliberalen Koalition kennzeichnend waren. Die Darstellung der Reformanstrengungen in diesem Zeitraum zur Anpassung von Wehr- und Personalstruktur sowie zur Neuordnung von Bildung und Ausbildung in den Streitkräften leitet daneben bereits über zum dritten Abschnitt: dem Innenleben der Bundeswehr als einer Armee in der Demokratie. Im Kern kreisen hier die Abhandlungen um das selbstgewählte Leitbild vom »Staatsbürger in Uniform« und seine Umsetzung im Konzept der »Inneren Führung«. In welchem Maße sich die Bundeswehr dabei in ständigem spannungsvollen Diskurs mit Gegenpositionen zu Verteidigungsauftrag und Wehrdienst befand und bis heute befindet, läßt sich exemplarisch an den Kontroversen u m die Militärseelsorge und die scharf konturierte Frage nach »Christsein und Waffendienst« aufzeigen, die nach beiden Seiten ausstrahlten: in die Armee und in die Öffentlichkeit. Nicht vergessen werden durfte aber auch das engste personelle Band zwischen Bundeswehr und Gesellschaft, das millionenstarke Heer der Reservisten. Angemessen zu berücksichtigen war schließlich ein Spezifikum der Bundeswehr, die strikte Trennung von Armee und Verwaltung in der Organisationsform einer zivilen Bundeswehrverwaltung. Sie stellt nämlich im Militäraufbau der Bundesrepublik nicht nur die »zweite Säule« dar; sie hilft vor allem auch mit ihren finanziellen Kontrollfunktionen die Wirtschaftlichkeit, mit ihren Fürsorgemaßnahmen die soziale Ausgestaltung des Wehrdienstes sicherzustellen. Militärseelsorge und Bundeswehrverwaltung greifen aber thematisch auch bereits hinüber in den vierten Block, der unter die Leitfrage »Die Bundeswehr im deutschen Einigungsprozeß« gestellt ist. Die Schwierigkeiten dabei finden ihren eigentlichen Grund darin, daß die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands auf friedlichem Wege zwar in der Präambel des Grundgesetzes zum Leitmotiv deutscher Politik erklärt und in den Pariser Verträgen von 1954 zum gemeinsamen Anliegen der nordatlantischen Allianz erhoben worden war. Auf der langen Durststrecke der Zweistaatlichkeit war sie als operatives Nahziel aber mehr und mehr hinter tagespolitischen H e r a u s f o r d e r u n g e n zurückgetreten. Als sie den Deutschen daher gleichsam als historisches Ge-

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Bruno Thoß

schenk mit der Wende in Osteuropa doch noch zufiel, ließ sie sich weder in Staat und Gesellschaft insgesamt, noch in den Streitkräften als planmäßiger Prozeß, sondern nur in einer ganzen Folge von Improvisationen vollziehen. Dabei schlug die extreme Beschleunigung der historischen Prozesse unmittelbar bis auf die Suche nach einer neuen Ordnung für die »Armee der Einheit« durch. Hatte eine historisch unterlegte Spekulation noch in den achtziger Jahren das »Ende der Geschichte« prognostiziert, so führen uns die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen nach dem Ende des Kalten Krieges im fünften Komplex wieder ziemlich unsanft in die Wirklichkeit zurück, weisen doch die allenthalben entfachten Nationalitätenkonflikte unserer Tage zu den Anfängen des Nationalismus im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zurück. Gerade die Hektik tagespolitischer Forderungen und Erwartungen bergen indes auch die Gefahr in sich, Gegenwartsprobleme in perspektivischer Verengung anzugehen, wenn man ihre historische Dimension mißachtet. Fortdauernde allianzpolitische Verankerung und neue Aufgaben der Bundeswehr greifen demgegenüber ineinander, bindet man sie nur in Themen wie Bündnisverteidigung und Auslandseinsätze, Strategieentwicklung und Probleme der Teistreitkräfteentwicklung ein. Gebündelt wird dies alles in einem Ausblick auf die Bundeswehr 2000, eine Zukunftsorientierung, in die sie mit dem EUROKORPS schon jetzt ein Stück weit hineinragt. Zu den Ergebnissen dieses breit angelegten Sammelbandes haben über 50 Autoren beigetragen — vom ehemaligen Minister bis zum Piloten über Sarajevo, von Generalen/Admiralen bis zu Fachhistorikern. Daß sie dieses Experiment mit dem Herausgeber zusammen unternommen und sich dazu in einer außerordentlich kooperativen Weise in thematische wie zeitliche Zwänge eingefügt haben, dafür gebührt ihnen allen an dieser Stelle besonderer Dank. Wenn das Grundanliegen des Bandes umgesetzt werden kann, aus wohlverstandener Rückbindung an geschichtliche Voraussetzungen Anregung zu einem Nachdenken in langer historischer Linienführung zu ziehen und gleichzeitig ein Stück Lesevergnügen zu gewinnen, dann ist dies allein ihr Verdienst. Bruno Thoß

Teil I Von Potsdam nach Paris und Warschau Der Weg der beiden deutschen Staaten in die Bündnisse 1945 bis 1955/56

Gerhard Wettig Von der Entmilitarisierung zur Aufrüstung in beiden Teilen Deutschlands 1945-1952 Deutsche Entmilitarisierung als Grundlage für den Konsens der Siegermächte Am Ende des Zweiten Weltkriegs war in den westlichen Ländern allgemein die Überzeugung verbreitet, daß zumindest eine Lehre aus der unheilvollen Vergangenheit zu ziehen sei: Als Ursprung des Übels müsse Deutschland auf Dauer niedergehalten werden; zu diesem Zweck müßten die Mächte der Anti-Hitler-Koalition unverbrüchlich zusammenstehen. Denn die nationalsozialistisch beherrschte deutsche Macht hatte die europäischen Staaten in ihrer Existenz bedroht, und nur durch die gemeinsamen Anstrengungen von Ost und West war es gelungen, den Aggressor niederzuwerfen. Nach dem Geschehenen leuchtete das antideutsche Postulat unmittelbar ein. Es war aber als politische Maxime für die Zukunft verfehlt. 1945 war — anders als nach dem Ersten Weltkrieg — das deutsche Volk auf totale Weise besiegt mit der Folge, daß es sich weder über die Tiefe seines Falls noch über die Notwendigkeit eines Umdenkens Illusionen machen konnte. Das Land wurde zudem einer Besatzungsherrschaft unterworfen; der Nationalsozialismus war durch die von ihm verursachten Übel und Nöte diskreditiert. Zugleich ließ sich angesichts der bestehenden prinzipiellen Gegensätze zwischen den Siegermächten kaum erwarten, daß diese weiter ihre Ost-West-Gemeinsamkeit aufrechterhalten konnten, nachdem der bedrohliche Feind besiegt war. Wie wenig von einer grundsätzlichen Übereinstimmung innerhalb der Anti-Hitler-Koalition die Rede sein konnte, hatte sich in der vorangegangenen Phase von 1939 bis 1941 gezeigt, als die sowjetische Führung dem nationalsozialistischen Regime durch einen Nichtangriffspakt die kriegerische Aggression gegen den Westen ermöglicht hatte. In Stalins Sicht standen von Anfang an andere Aspekte im Vordergrund als der Glaube an das unveränderlich von Deutschland ausgehende Übel. Zentrale Wichtigkeit hatte dabei der Gedanke einer prinzipiellen Zweiteilung der Welt in »Sozialismus« und »Imperialismus«. Das zwischen diesen beiden Seiten bestehende Kräfteverhältnis war für Stalin der entscheidende Gesichtspunkt. Die »sozialistische« UdSSR befand sich, des Sieges über Deutschland ungeachtet, in einer Position latenter Schwäche gegenüber den »imperialistischen« USA und mußte daher bei ihrem Vorgehen vorsichtig sein. Das galt sowohl für die Ausdehnung des sowjetischen Systems auf die angrenzenden Länder als auch — noch mehr — für die Durchsetzung der sowjetischen Ziele in Deutschland. Der

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Führer der KPdSU entschloß sich, auf eine totale und offene Sowjetisierung der 1944/45 eroberten auswärtigen Gebiete zu verzichten, um statt dessen Herrschaftsformen zu proklamieren, die er als weithin den westlichen Vorstellungen entsprechend präsentierte, die aber faktisch in entscheidendem Maße sowjetisch bestimmt waren. Es ging ihm darum, so weit wie möglich den Anschein der Kooperation und des Konsenses mit den USA zu wahren, solange er in Europa mit diesen militärisch und politisch zu rechnen hatte. Die Antwort, die Stalin in Jaita auf seine Frage nach der Dauer der amerikanischen Truppenpräsenz erhalten hatte, dürfte bei ihm die Erwartung geweckt haben, die andere Großmacht werde sich binnen kurzem zurückziehen und ihm den europäischen Kontinent überlassen. Die westliche Fixierung auf die Niederhaltung Deutschlands war für Stalin eine wichtige Voraussetzung seines politischen Kalküls. Antideutsche Maßnahmen waren ein hervorragendes Mittel, die Westmächte trotz bestehender fundamentaler Gegensätze zu Übereinstimmung mit der UdSSR zu veranlassen, soweit diese daran interessiert war. Dieser instrumentale Aspekt der antideutschen Orientierung bedeutete nicht, daß die Leiter der sowjetischen Außenpolitik etwa von sich aus keine harte Politik gegenüber den Deutschen zu verfolgen willens gewesen wären. Aber ihre Motivation war grundsätzlich anders als die Beweggründe der gegen Deutschland eingestellten Kreise in den westlichen Hauptstädten. Hier wie dort war zwar in ähnlicher Weise die Vorstellung verbreitet, daß die Deutschen für ihre schlimmen Taten bezahlen müßten, daß sie keinen Pardon verdient hätten und daß sie rücksichtslos zu materieller Wiedergutmachung herangezogen werden müßten. Allein in der Sowjetunion jedoch verband sich dies mit weitreichenden Ambitionen und Forderungen gegenüber den Alliierten der Kriegszeit. Nachdem das Vier-Mächte-Gebiet Berlin aufgrund der vereinbarten Zoneneinteilung zur Enklave im sowjetisch beherrschten Territorium geworden war, hatte die UdSSR die begründete Hoffnung auf vorherrschenden Einfluß in dem besiegten Land, ohne jedoch schon das Ganze oder auch nur dessen größten Teil in der Hand zu haben. Es erschien daher geboten, die von der deutschen Hauptstadt aus angestrebte Einwirkung auf die anderen Zonen durch ein förmliches Mitspracherecht zu verstärken. Das war aber insofern schwierig, als der Kreml über das eigene Besatzungsgebiet allein zu verfügen gedachte und damit Reziprozität von vornherein ausschloß. Die auf die Westzonen gerichtete sowjetische Forderung bedurfte daher einer besonderen Begründung. Nach vorangegangenen Zerstückelungsplänen erklärte Moskau seit dem ausgehenden Winter 1945 eine einheitliche Behandlung des besetzten Gebietes für notwendig. Zugrunde zu legen sei eine »antifaschistischdemokratische« Ordnung, die angeblich gemeinsam in Jaita und Potsdam festgelegt worden war. Das verband sich für die sowjetische Seite mit wichtigen konkreten Zwekken. Das Bestehen auf einem einheitlichen Vorgehen gemäß angeblichem Übereinkommen sollte die westlichen Besatzungsmächte dazu nötigen, entsprechendem Verlangen des Kreml in ihren Zonen Rechnung zu tragen. Der

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Verweis auf einen angeblichen Konsens sollte zudem das stark kommunistisch beeinflußte östliche Aktionsprogramm als gemeinsam und demokratisch legitimieren. Demnach lagen dem Vorgehen in der Sowjetzone Vorstellungen zugrunde, die sich in West und Ost im gemeinsamen Kampf gegen den Nationalsozialismus erhärtet hatten. Dabei wurde geflissentlich übersehen, daß die UdSSR gegen das Hitler-Regime nicht im Namen von Demokratie und Menschenrechten, sondern einer sich lediglich anders begründenden Gewaltherrschaft angetreten war. Die sowjetische Führung begnügte sich nicht damit, für sich nur die gleiche Legitimität wie die westliche Seite zu fordern. Sie beanspruchte sogar eine vorwärtsdrängende Rolle für sich. Daher wurden die Westmächte aufgefordert, den von der UdSSR in der Sowjetzone eingeleiteten, faktisch Zwischenziele auf dem Weg zum Kommunismus anvisierenden »antifaschistisch-demokratischen« Maßnahmen zu folgen. Als wichtiger Ansatzpunkt diente dabei der westliche Wille, Deutschland dauernd niederzuhalten. Insbesondere das damit verknüpfte Postulat einer radikalen Entmilitarisierung bot gute Möglichkeiten für eine Instrumentalisierung in sowjetischem Sinne. In den westlichen Ländern, vor allem in den USA, war während des Zweiten Weltkriegs die Vorstellung entwickelt worden, künftige Aggressionen von deutscher Seite ließen sich nicht einfach durch bloße Abschaffung der deutschen Armee verhindern. Militärische Verbände, so war die Überlegung, ließen sich relativ leicht erneut formieren, solange Deutschland über das wirtschaftliche Potential zu deren Aufstellung und Ausrüstung verfüge. Als gefahrdrohende deutsche Kriegskapazität sei nicht allein die Rüstungsindustrie anzusehen; berücksichtigt werden müßten auch die gegebenenfalls wieder auf Waffenproduktion umstellbaren Industrieanlagen. Damit wurde die Entmilitarisierung Deutschlands zu einer sachlich entgrenzten Aufgabe. Da in weitesten Bereichen eine Konversion von ziviler zu militärischer Erzeugung möglich erschien, gab es kaum etwas, was nicht als potentiell militärisch relevant einzustufen gewesen wäre. Bald zeigte sich, daß sich bei Eliminierung aller demnach suspekt erscheinenden industriellen Fertigungen nicht einmal mehr minimale Lebensbedürfnisse der deutschen Bevölkerung befriedigen ließen. Dieses Problem trat schnell in den besonders stark vom Mangel an agrarischen Ressourcen betroffenen Besatzungsgebieten der Briten und Amerikaner überdeutlich zutage. Was die Landwirtschaft für die Ernährung der Bevölkerung nicht zu produzieren vermochte, konnte auch nicht durch die Herstellung exportfähiger Industriegüter finanziert werden. Für die sowjetische Seite dagegen bot die Forderung nach »industrieller Entwaffnung« die Möglichkeit, alle möglichen Reparationsforderungen zu legitimieren: Demontage und Abtransport deutscher Industrieanlagen erschienen als guter Zweck an sich. Als sich dann Mitte 1946 die Leiter der sowjetischen Politik darüber klar wurden, daß die aus Deutschland abtransportierten Maschinen für den wirtschaftlichen Aufbau ihres Landes kaum Vorteile brachten, änderten sie zwar den Reparationsmodus, nicht aber ihr ablehnendes Verhalten gegenüber den angelsächsischen Forderungen nach einem

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höheren deutschen Industrieniveau. Fortan wurden die sie interessierenden sowjetzonalen Betriebe dadurch einer potentiellen künftigen Kriegsverwendung entzogen, so daß sie vor Ort in sowjetisches Eigentum übergingen. Dieses Modell, das geeignet war, der Besatzungsmacht mittels Verfügung über entscheidende Teile der Industrie eine zentrale wirtschaftliche Machtposition in dem okkupierten Gebiet zu verschaffen, sollte auch auf das ökonomische Kernland der Westzonen, das Ruhrgebiet, ausgedehnt werden. Die sowjetische Forderung nach dessen Vier-Mächte-Kontrolle zielte darauf ab, die damals ausschlaggebenden Produktionskapazitäten Westdeutschlands sowohl wirtschaftlich als auch politisch östlichem Zugriff zu unterwerfen, ohne daß umgekehrt eine westliche Mitsprache in der Sowjetzone zur Diskussion stand. Auch dieses Verlangen wurde durch Hinweise auf das Potsdamer Abkommen gerechtfertigt. Dessen Entmilitarisierungsgrundsätze interpretierte die sowjetische Politik seit Frühjahr 1946 im einzelnen. Sie erhob insbesondere die Forderung nach einer angeblich nur durch gemeinsame Ruhr-Kontrolle zu verwirklichende wirksame Beseitigung des deutschen Militarismus und nach Durchsetzung einer »antifaschistisch-demokratischen« politisch-gesellschaftlichen Ordnung in ganz Deutschland. Postulate wie Entnazifizierung und Entflechtung waren nach sowjetischer Darstellung Prinzipien, die auf die »Beseitigung der Grundlagen« abzielten, die für das Entstehen des Faschismus und Nazismus angeblich ursächlich gewesen waren. Faktisch ging es der sowjetischen Seite dabei um die Beseitigung der »imperialistischen« bzw. »kapitalistischen« Strukturen, die nach dieser These den Nationalsozialismus mit innerer Notwendigkeit hervorgebracht hatten. Diese Auffassung ergab sich aus der sowjetischen Ideologie, der zufolge System und Regime der Hitler-Zeit nichts anderes gewesen waren als eine spezifische Form des — im Westen nur in anderer Variante herrschenden — »Imperialismus«. Im historischen Rückblick erscheinen die politisch-gesellschaftlichen Ziele der UdSSR als das entscheidende Element des Ost-West-Gegensatzes in Deutschland. Gleichwohl entzündete sich der Konflikt zunächst an einem anderen Punkt. Die USA und — in noch höherem Maße — Großbritannien sahen sich in ihren Besatzungszonen mit dem Problem konfrontiert, die Bevölkerung wenigstens so weit mit Lebensmitteln zu versorgen, daß nicht massenweise Menschen verhungerten. Die Überlegungen, wie Abhilfe zu schaffen sei, gingen in zwei Richtungen. Zum einen nahm man auf das 1945 in Potsdam festgelegte Prinzip der deutschen Wirtschaftseinheit Bezug: Aus den besser versorgten Zonen müßten Lebensmittel in die Mangelgebiete geliefert werden. Daraus leiteten London und Washington die Forderung ab, die deutsche Selbstversorgung mit Nahrungsgütern habe Vorrang. Die sowjetische Seite dürfe sich erst dann bedienen, wenn es deutsche Überschüsse gebe. Zum anderen sollte, solange die deutsche Landwirtschaft die einheimischen Bedürfnisse nicht zu befriedigen vermöge, die Industrie des besetzten Landes für den Export produzieren, damit dessen Erlöse für die Bezahlung von Lebensmitteleinfuhren verwendet werden konnten. Moskau lehnte jedoch beides ab. Die Regierungen beider Länder sa-

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hen sich genötigt, ihre Zonen in erheblichem Umfang auf Kosten ihrer Steuerzahler zu ernähren. Das aber erschien unerträglich: Man müsse, so hieß es, für das Lebensmitteldefizit aufkommen, das die UdSSR in Deutschland hervorrufe, und somit indirekt Reparationen an den östlichen Verbündeten leisten. Im übrigen diene das extrem niedrige deutsche Produktionsniveau, dessen Anhebung die Sowjetunion verweigere, keiner noch irgendwie vernünftigen »industriellen Entwaffnung«. Im Frühjahr und Sommer 1946 suchte Washington das Problem durch den Vorschlag eines Entmilitarisierungsvertrages zu lösen. Danach sollte Deutschland für die Dauer von zuerst 25, dann 40 Jahren zu einem vollständigen Verzicht auf jegliches Truppen- und Rüstungspotential veranlaßt werden und im Gegenzug von allen anderen Auflagen freigestellt sein. Die Idee war, den Deutschen zwar unbedingt die Fähigkeit zu künftigen kriegerischen Handlungen zu nehmen, ihnen aber im übrigen die Möglichkeit zu gewähren, sich materiell zu erhalten und frei zu entwickeln. Die sowjetische Führung lehnte mit Schärfe ab und bestand auf einer uneingeschränkten Erfüllung all der Verpflichtungen, die sie unter Hinweis auf das Potsdamer Abkommen geltend machte. Dabei stellte sie erstmals unzweideutig klar, daß sie darunter neben einer Befriedigung aller Reparationsforderungen auch die Durchführung von Veränderungsmaßnahmen mit kommunistischer Tendenz verstand. Die Regierungen der USA und Großbritanniens sahen dies als ein Indiz dafür an, daß das sowjetische Verlangen nach gründlicher Entmilitarisierung Deutschlands nichts als ein Vorwand war, der die Verfolgung kommunistischer Ziele kaschierte. Der von der Forderung nach Bestrafung und Niederhaltung Deutschlands getragene Konsens zwischen den vier Besatzungsmächten wurde für Washington und London durch diese Vorgänge zunehmend fragwürdig. Immer neue Entmilitarisierungsvorschriften des Alliierten Kontrollrats waren erlassen worden, ohne daß dem Übereinkünfte über einen politischen u n d / o d e r wirtschaftlichen Aufbau in Deutschland gefolgt wären. Dementsprechend entschlossen sich beide Regierungen dazu, ihre Besatzungsgebiete zu vereinigen, um auf dieser Basis gemeinsam eine konstruktive Politik in Deutschland einzuleiten. Sie betrachteten aber weder das Experiment der Vier-Mächte-Kooperation als endgültig gescheitert, noch gaben sie das grundsätzliche Postulat der Niederhaltung Deutschlands auf. Bis zur Moskauer Tagung des Rates der vier Außenminister im Frühjahr 1947 hofften sie weiterhin auf eine Verständigung mit der UdSSR. Unterdessen war weniger denn je damit zu rechnen, daß es gelang, die Eigenversorgung des amerikanisch-britischen Besatzungsgebiets mit Lebensmitteln zu gewährleisten. Die ansteigenden Kosten für die Nahrungslieferungen in die vom Hunger bedrohte Bizone wurden in Washington und London als ein Übelstand empfunden, den man nicht mehr lange hinnehmen konnte. Zugleich verbreitete sich die Vorstellung, Stalin wolle Westdeutschland bewußt einem kritischen Zustand der Not und des Elends zutreiben, um die Situation unhaltbar zu machen und die Deutschen zur Übernahme des kommunistischen Systems als einzig verbleibenden Ausweg zu nötigen.

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Als auf der Moskauer Außenministertagung alle Einigungsversuche mit der UdSSR scheiterten, entschloß sich die Truman-Administration zum Handeln. Am 6. Juni 1947 umriß Außenminister George C. Marshall die Grundzüge des nach ihm benannten Plans für den wirtschaftlichen Wiederaufbau Westeuropas. Ein entscheidender Punkt dieses Rehabilitationsprogramms war die Einbeziehung Westdeutschlands, ohne die das Vorhaben nicht durchführbar erschien. Die USA waren willens, sich auf dem europäischen Kontinent materiell und politisch zu engagieren und dabei erforderlichenfalls über sowjetische Einwände hinwegzugehen. Nur auf dieser Grundlage schien es möglich, die für dringlich erachtete wirtschaftliche Gesundung der von sowjetischer Herrschaft freigebliebenen Teile Europas zu erreichen. Roosevelts seinerzeitige Aussage gegenüber Stalin galt nicht mehr, daß die USA sich binnen weniger Jahre nach Kriegsende wieder in die amerikanische Hemisphäre zurückziehen würden. Washington schickte sich an, der UdSSR in Europa zunächst mit wirtschaftlichen Mitteln Paroli zu bieten. Diese Botschaft wurde im Kreml sofort verstanden.

Geheimes Abrücken der UdSSR von dem Prinzip der deutschen Entmilitarisierung (1947-1950) Stalin betrachtete den Marshall-Plan als politische Kriegserklärung. Nach den verfügbaren Indizien wollte er die amerikanische Wendung vom ersten Augenblick an mit einer Konfrontationspolitik beantworten. Er schwankte jedoch zunächst hinsichtlich der anzuwendenden Mittel. Zuerst schien er willens, das — auch an ihn gerichtete — Angebot der Marshall-Hilfe grundsätzlich anzunehmen, denn er rechnete sich gute Chancen aus, im Verlauf der anstehenden Verhandlungen das amerikanische Vorhaben von innen heraus zu sabotieren. Wenig später aber erkannte er das Risiko, das dabei dem Zusammenhalt des sowjetischen Blocks drohte. Nach seiner Auffassung kam es angesichts der kritisch gewordenen Ost-West-Situation vor allem darauf an, die Disziplin der von ihm geführten östlichen Staatengruppe unverbrüchlich zu wahren. Das kommunistische Lager sollte daher den mindesten Anschein einer »kompromißlerischen« Linie gegenüber dem Westen vermeiden. Als politische Leitlinie für alle Kommunisten verkündete Andreij Zdanov auf der Gründungstagung des Kominform im September 1947 die These von den beiden einander in unerbittlicher Feindschaft gegenüberstehenden Lagern. Innerhalb des sowjetischen Machtbereichs einschließlich der deutschen Sowjetzone wurden nun noch weitergehende Angleichungen an die politischgesellschaftlichen Strukturen der UdSSR als bisher eingeleitet. Rücksichtnahme auf westliche Akzeptanz schien im Osten Europas überhaupt nicht mehr erforderlich. Demgegenüber blieb in Deutschland, der weitergetriebenen Sowjetisierungsmaßnahmen ungeachtet, noch ein gewisses Bemühen erkennbar, in optisch-formaler Hinsicht an Gemeinsamkeiten über die Zonengrenzen hinweg festzuhalten. Der Grund dafür war, daß der Kreml Deutschland in seiner Ge-

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samtheit als zentralen Schauplatz der sich abzeichnenden Ost-West-Konfrontation ansah, der zur Gänze entscheidend war und daher auch ganz beansprucht werden mußte. Wenn die westlichen Besatzungsmächte die bisher tolerierte Mitsprache in ihren Zonen verweigerten, durfte das nicht akzeptiert werden. Das ließ eine Mobilisierung der Westdeutschen für die sowjetische Politik mit Hilfe von Eiriheitsparolen notwendig erscheinen. Dies wiederum machte es erforderlich, daß man in der Sowjetzone den offenen Anschein einer einheitswidrigen Politik zu vermeiden trachtete. Anders als während der ersten beiden Nachkriegsjahre sahen sich die Leiter der sowjetischen Deutschland-Politik n u n m e h r primär auf ein politisches »Bündnis« mit den Deutschen gegen die Westmächte verwiesen. Das bisherige Handlungskonzept wurde umgekehrt: Nicht die während der Kriegszeit verbündete Seite, sondern die Bevölkerung des 1945 besiegten und besetzten Landes sollte der UdSSR zum Erfolg verhelfen. Diese Wende hatte allerdings ihre Probleme. Das sowjetische Vorgehen in Deutschland hatte bisher eine ausgeprägt negative Ausrichtung gehabt. Das hatte auf der Basis der 1945 festgelegten Einheitsfront der vier Mächte gegen die Deutschen keine größeren Schwierigkeiten verursacht. Wenn aber Moskau nunmehr eine Gemeinsamkeit mit den Deutschen gegen die westlichen Besatzungsmächte zu etablieren suchte, ergaben sich Komplikationen. Die bisherige Politik, sich so weit wie möglich in den Besitz von Garantien gegen Deutschland zu setzen, wurde in Moskau nicht als entbehrlich angesehen. Mehr noch: War es angesichts des repressiven sowjetischen Herrschaftssystems überhaupt grundsätzlich vorstellbar, daß der Kreml sich auf Freiwilligkeit und Partnerschaft einließ, um das besiegte Volk für sich zu gewinnen? Konnte denn Moskau die Deutschen als politischen Faktor mobilisieren, wo diese doch aufgrund des — die sowjetische Stellung in dem besiegten Lande legitimierenden — Besatzungsrechts keinen eigenständigen Status besaßen und auch nicht über eine selbständig handlungsfähige Repräsentanz verfügten? Stalin und seine außenpolitischen Mitarbeiter versuchten das Problem auf ihre Weise zu lösen. Der Verlust der sowjetischen Mitsprache in den Westzonen sollte durch Appelle an den Einheitswillen des deutschen Volkes rückgängig gemacht werden, die zur Bildung einer gemeinsamen Front gegen die westliche »Spalterpolitik« führen würden. Mittels des dadurch ausgeübten Drucks sollten die Westmächte zur Wiederherstellung des Kontrollratsregimes als angeblichen Unterpfand der Gemeinsamkeit genötigt werden. Die UdSSR stellte sich dar als diejenige der alliierten Mächte, die allein für die staatliche Einheit Deutschlands eintrat und deswegen gegen die westlichen »Spalter« Front machte. Das praktische Ziel war die Durchsetzung des — als Streben nach nationaler Einheit des besetzten Landes ausgegebenen — sowjetischen Anspruchs auf Mitentscheidung der deutschen Angelegenheiten außerhalb des eigenen Besatzungsgebiets. Sofern sich dies durchsetzen ließ und die westlichen »Okkupanten« vielleicht gar von empörten Westdeutschen zum Rückzug ihrer Truppen veranlaßt wurden, mochte der Kreml anschließend noch mehr erreichen. Die Schwierigkeit

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bestand freilich darin, die deutsche Bevölkerung zu mobilisieren. Das galt um so mehr, als die in der Sowjetzone etablierte Herrschaft fast allgemein bei den Deutschen auf Ablehnung stieß. Soweit die bisher zugänglichen internen sowjetischen Dokumente erkennen lassen, hat dieses Problem bei den verantwortlichen Moskauer Stellen in der Stalin-Zeit kaum Aufmerksamkeit gefunden. Stalin und seine Mitarbeiter vertrauten nach der vorliegenden Evidenz auf die Leistungsfähigkeit der ihnen zu Gebote stehenden Organisationen und Apparate und hielten anscheinend eine freiwillige deutsche Zustimmung zu ihrer Politik für entweder dadurch herstellbar oder aber entbehrlich. Diese selbstbezogene Art des Herangehens machte es ihnen leicht, Substitute für die fehlenden Repräsentanten des deutschen Volkes zu finden. Die sowjetischen Appelle wurden an Adressaten gerichtet, die Teile eines von der UdSSR selbst geschaffenen organisatorischen Netzwerkes waren und daher die Funktion willenloser Transmissionsriemen zur deutschen Öffentlichkeit übernehmen konnten. So wurde zwar Zuverlässigkeit bei der Ausführung der Moskauer Instruktionen gewährleistet, aber es war auch zweifelhaft, ob ein sowjetischer Monolog mit sich selbst geeignet war, einer anderen Seite — den verschiedenen Gruppen der deutschen Gesellschaft — Zustimmung und Engagement nahezulegen. Zu der Macht der Apparate, die Stalin aufbieten ließ, gehörte nicht nur das Einflußpotential systematisch aufgebauter politischer Organisationen. Die Sowjetische Militär-Administration in Deutschland (SMAD) begann schon im Sommer 1947, in ihrem Herrschaftsbereich Vorbereitungen für den Aufbau deutscher militärischer Kader zu treffen. Unter striktester Geheimhaltung wurden einschlägige Maßnahmen beraten und geplant. Dabei ist auch von der Beteiligung Ulbrichts und einiger deutscher kommunistischer Militärfachleute die Rede, ohne daß sich Art und Ausmaß dieser Mitwirkung bisher bestimmen lassen. Unklar ist auch der genaue politische Zweck, der mit dem militärischen Instrument verbunden wurde. Ging es — wie westdeutsche Experten Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre vermuteten — der kommunistischen Seite darum, für den Fall einer künftig offenen gesamtdeutschen Situation, insbesondere nach einem Abzug der Besatzungstruppen, ein klares bewaffnetes Übergewicht zu sichern? Oder war an die künftige Aufstellung einer gesamtdeutschen Armee (wie einige Jahre später in der sowjetischen Note vom 10. März 1952 tatsächlich gefordert) gedacht, für die dann kommunistische Militärkader als alleinige Personalbasis bereitstehen sollten? Für die erste Hypothese spricht, daß die sowjetzonalen Truppen in den folgenden Jahren bevorzugt in Bürgerkriegstaktiken wie Häuserkampf und Partisanenkrieg ausgebildet wurden. Die zweite Vermutung erhält Plausibilität durch den Umstand, daß — ähnlich wie in der Reichswehr der Weimarer Republik — ein Übermaß an Offizieren und Unteroffizieren ausgebildet wurde, die eher für ein größeres Massenheer als für eine nur auf die Sowjetzone beschränkte Truppe bestimmt zu sein schienen. Ein erheblicher Teil dieses Personals ist 1953 als überflüssig entlassen worden, nachdem klar geworden war, daß sich der kommunistische

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Machtbereich in Deutschland vorerst nicht weiter ausdehnen werde. Es lassen sich jedoch gegen beide Auffassungen auch Gegenargumente anführen. Es erscheint ebenso möglich, daß beide Zwecksetzungen zusammen für die sowjetische Entscheidung maßgebend gewesen sind. Eine unzweideutige dokumentarische Evidenz ist vorhanden, wenn es um die verdeckt durchgeführten konkreten Aufstellungsmaßnahmen geht. Am 2. Juli 1948 setzte Stalin seine Unterschrift unter einen Beschluß, der die Schaffung kasernierter Polizeibereitschaften mit einer Stärke von 10 000 Mann vorsah, die ausdrücklich mit automatischen und ähnlichen Waffen aus militärischen Beständen auszurüsten waren und erklärtermaßen eine reguläre militärische Ausbildung erhalten sollten. Als Ausbilder wurden 5000 sorgfältig in sowjetischen Kriegsgefangenenlagern auszuwählende Soldaten und Unteroffiziere sowie 100 Offiziere und fünf Generäle aus dem gleichen Kaderreservoir vorgesehen. Am 18. Juni 1949 verfügte Stalin weiterhin die Schaffung von sowjetzonalen Polizeischulen zur militärischen Ausbildung von 35 000 Unteroffizieren und 11 000 Offizieren. Er ordnete auch an, 150 zuverlässige höhere SED-Funktionäre an eine sowjetische Infanterieschule zu holen und diese dort in einem zwölfmonatigen Kurs zu obersten militärischen Führern ausbilden zu lassen. Dem im September 1949 beginnenden Lehrgang sollten von da an jedes Jahr weitere folgen. Als eine der folgenden Ausführungsbestimmungen ist ein Befehl der SMAD vom 8. August 1949 nachweisbar, dem zufolge 24 Infanterie-, acht Artillerieund drei Panzerabteilungen mit jeweils 950, 750 beziehungsweise 1100 Mann auszubilden waren. Am gleichen Tag ordnete die SMAD zur Erhöhung der militärischen Ausbildungskapazität die Errichtung von sieben zusätzlichen Polizeischulen an, deren Gesamtzahl sich damit auf elf erhöhte. Auf diese Weise wurden neben den 32 100 militärischen Ausbildungsplätzen in den erwähnten 35 Einheiten weitere 11 000 militärische Planstellen geschaffen. Dort wurde augenscheinlich ein besonders intensives Training ins Auge gefaßt, denn es wurden fast ebenso viele Ausbilder wie Kursteilnehmer vorgesehen. Die Sorge der sowjetischen Besatzungsmacht galt nicht allein der Bereitstellung von Heereskadern. Am 25. April 1950 unterzeichnete Stalin einen Befehl über den Aufbau erster Einheiten eines »grenzpolizeilichen Dienstes zur See« und einer Ausbildungsstätte für »seepolizeiliches« Führungspersonal. Die Instruktionen bezüglich Training und Bewaffnung machten klar, daß es sich um die Anfänge einer Marine handelte. Für die erste Phase wurden knapp 3000 Mann vorgesehen. Die sowjetische Besatzungsmacht war nicht nur Initiator von ins einzelne gehenden grundlegenden Planungen und Beschlüssen. Sie behielt sich auch eine genaue Kontrolle des militärischen Alltags vor, der sich aufgrund der gegebenen Anweisungen herausbildete. Das galt sowohl in militärischer als auch in administrativer Hinsicht. Alle im Wortlaut vorliegenden sowjetischen Entscheidungen über die Aufstellung und Ausbildung ostdeutscher Militärkader enthalten Bestimmungen über die Beiordnung sowjetischer Militärberater. Diese erhielten zwar keine Befehlsrechte, aber doch so weitreichende Aufsichts- und Überwachungskompetenzen, daß dadurch eine vollständige Kontrolle der

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Schulen und Einheiten durch die Besatzungsmacht gewährleistet war. Die Berater wurden überdies zu einer regelmäßigen und vollständigen Berichterstattung über alle irgendwie bedeutsamen Vorgänge an die vorgesetzte Stelle verpflichtet und periodisch von dem zuständigen General zu Rechenschaftsablegung und Befehlsempfang zusammengerufen. Bei besonderen Vorkommnissen hatten sie die Pflicht zu sofortiger Meldung nach oben, damit die Besatzungsbehörden gegebenenfalls sogleich die notwendig erscheinenden Maßnahmen treffen konnten. Die Wahrnahme der administrativen Angelegenheiten wurde zwar der für das Militär zuständigen Hauptverwaltung für Ausbildung (HVA) innerhalb der Deutschen Verwaltung des Innern (DVdl) zugewiesen, doch wurde auch da eine übergeordnete sowjetische Kontrolle festgelegt. Einen eigenen Handlungsspielraum scheint die SED-Führung lediglich hinsichtlich des Aufbaus einer parteibezogenen Hierarchie von »Politkulturleitern« in den Streikräften gehabt zu haben. Diese politischen Offiziere erhielten ein Mitspracherecht bei der militärischen Befehlsgebung in den Einheiten und bildeten so eine weitere Kontrollinstanz gegenüber den militärischen Kommandeuren.

Westliche Politik zwischen Antwort auf sowjetische Herausforderung und Verlangen nach deutscher Entmilitarisierung Anders als Stalin sahen die westlichen Regierungen noch lange Zeit keinen Grund, wegen der offen ausgebrochenen Ost-West-Konfrontation von dem Prinzip der Entmilitarisierung Deutschlands abzurücken. Nach der — von Großbritannien lebhaft unterstützten — amerikanischen Initiative des Marshall-Plans fand sich zwar auch Frankreich schließlich bereit, seine bisherige Politik zu revidieren. Es sah sich veranlaßt, von der bisher erstrebten generellen Niederhaltung des besiegten Landes abzugehen und eine wirtschaftlich-politische Rekonstruktion Westdeutschlands zu akzeptieren. Aber der weitergehende Gedanke, daß das deutsche Aggressionsinstrument des Zweiten Weltkriegs, das deutsche Militär, angesichts einer größeren, Westeuropäer wie Westdeutsche gleichermaßen bedrohenden Herausforderung wiedererstehen könnte, war noch fast überall gänzlich unvorstellbar. Das änderte sich auch dann noch nicht, als Stalins Konfrontationspolitik zunehmend bedrohliche Züge annahm. Am 20. März 1948 verließ der sowjetische Vertreter den Alliierten Kontrollrat und kündigte damit in aller Form die Gemeinsamkeit der Siegermächte auf. Eine »kleine Blockade« der Berliner Westsektoren von begrenzter zeitlicher Dauer folgte; sie sollte die Westmächte von der geplanten Bildung eines westdeutschen Staates abschrecken. Als diese »Warnung« erfolglos blieb, weil man in den westlichen Hauptstädten den westdeutschen Staat als unerläßliches Kernstück der eingeleiteten westeuropäischen Rekonstruktion ansah, trat die Ost-West-Auseinandersetzung in eine entscheidende Phase. Stalin glaubte, daß die Westmächte um der Zugangswege Berlins willen keinen Krieg beginnen würden und daß sie auch nicht über

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nicht-militärische Mittel zur Verteidigung ihrer Position in der deutschen Hauptstadt verfügten. Daher hielt er es für ebenso risikolos wie erfolgversprechend, den Westen vor die Wahl zu stellen, entweder auf den westdeutschen Staat zu verzichten oder statt dessen Berlin aufzugeben, was das Vertrauen der Deutschen in die Fähigkeit der Westmächte zur Schutzgewährung erschüttern mußte. Der sowjetische Führer war nach der von ihm zum 18. Juni 1948 begonnenen Blockade West-Berlins noch monatelang der Überzeugung, daß die — von General Lucius D. Clay eilig in Washington erwirkte — Luftbrücke zum Scheitern verurteilt sei. Das erwies sich jedoch als Irrtum. Zugleich wirkte sich das sowjetische Vorgehen je länger, desto ungünstiger für die UdSSR aus. Die Zuspitzung des Ost-West-Konflikts trug entscheidend dazu bei, in den westlichen Ländern das Bild einer akuten sowjetischen Bedrohung hervorzurufen und fortlaufend zu verstärken. Damit wurden zugleich entscheidende politischpsychologische Grundlagen für ein Zusammenrücken zwischen den Westmächten und den Deutschen gelegt. Zwar erkannten die westlichen Regierungen und Teile der westlichen Öffentlichkeit, daß die sowjetische Führung nicht auf einen Krieg zusteuerte, denn diese vermied alle Schritte, die eine militärische Eskalation des Konflikts hätten nach sich ziehen können. Aber das Ringen unterhalb der kriegerischen Ebene wurde so erbittert geführt, daß die psychologischen Berliner Blockade. Während der Blockade der Zugangswege nach West-Berlin vom 24. Juni 1948 bis zum 12. Mai 1949 stellten die USA und Großbritannien mit ihrer Luftbrücke die Versorgung der Stadt sicher

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Wirkungen kaum überschätzt werden können. Allerdings hielten die drei westlichen Regierungen an einer Politik fest, die keine massive Vermehrung ihrer schwachen Streitkräfte und keine Aufstellung deutscher Truppen vorsah. Stalins schließlicher Entschluß, die wirkungslos gewordene Blockade am 12. Mai 1949 aufzuheben, schien die Richtigkeit dieses Verhaltens zu bestätigen. Damit blieben freilich entscheidende Fragen unbeantwortet. Würde man auch längerfristig mit fehlender sowjetischer Kriegsbereitschaft rechnen können? War das bestehende militärische Kräfteverhältnis der Stabilität in Europa förderlich? Konnte Deutschland auf die Dauer ein militärisches Vakuum in der Mitte Europas bleiben? Es waren vor allem westliche Militärs, die nunmehr diese Fragen stellten. Die Regierungen beschränkten sich während dieser Phase auf die politischen Aspekte der Sicherheit. Am 17. März 1949 schlössen Großbritannien, Frankreich und die Benelux-Staaten in Brüssel einen Beistandspakt, der wesentlich dazu bestimmt war, die USA von dem Willen der Westeuropäer zur Selbstbehauptung gegenüber der UdSSR zu überzeugen und sie so zu einem weiterreichenden politisch-militärischen Engagement auf dem Kontinent zu veranlassen. Den Militärs war klar, daß Westeuropa im Falle eines sowjetischen Angriffs gleichwohl schutzlos war. Die relativ wenigen Kampfverbände, zu denen General Clay die nicht für die Zwecke der Militärregierung in Deutschland benötigten amerikanischen Soldaten formiert hatten, reichten für eine Abwehr der sowjetischen Truppenmassen ebenso wenig aus wie die schwachen westeuropäischen Armeen. Die westliche Unterlegenheit in Europa bestand auch dann noch fort, nachdem am 4. April 1949 der Nordatlantikpakt zustande gekommen war, der die USA prinzipiell zum Beistand verpflichtete. Nach vorherrschendem Washingtoner Verständnis wurde damit lediglich das politische Engagement der USA für die Freiheit Westeuropas formalisiert. Bei dieser allgemeinen Zusicherung blieb es vorerst; zusätzliche Kampftruppen wurden nicht auf den europäischen Kontinent entsandt. Die UdSSR hätte daher nach damaliger westlicher Einschätzung im Kriegsfalle rasch zum Atlantik vordringen können. Erst wenn daraufhin die USA so wie während des Zweiten Weltkriegs ihre überlegenen Ressourcen militärisch mobilisiert hätten und anschließend mittels einer Landung nach Europa zurückgekehrt wären, hätte die Sowjetunion mit einer Niederlage am Ende zu rechnen gehabt. Die Aussicht auf eine — späterer amerikanischer Befreiung vorangehende — sowjetische Eroberung war freilich bei den Westeuropäern wenig erwünscht. Im Blick auf die Zukunft sahen zudem die westlichen Militärs nach der Explosion der ersten sowjetischen Atombombe 1949 mit einigem Bangen dem Tag entgegen, da die UdSSR kraft ihrer nunmehr wachsenden nuklearen Kapazitäten in der Lage sein würde, eine dem Vorbild von 1944 folgende amerikanische Invasion des europäischen Festlands zu verhindern. Dann weiterhin auf die Abschreckungswirkung der fortbestehenden amerikanischen Atomüberlegenheit vertrauen zu wollen, erschien riskant. Auf der Suche nach Abhilfe begannen maßgebliche westeuropäische Militärs, unter anderem einen westdeutschen Verteidigungsbeitrag ins Auge zu

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fassen. Der — von einer Erfüllung noch weit entfernte — Wunsch war, mit Hilfe westdeutscher Soldaten eine stabile Abwehrfront am Rhein zu errichten. Auf westdeutscher Seite erhielt man freilich keine Kenntnis von den Überlegungen und den damit verknüpften Planungszielen. Gleichwohl wandte einer der führenden Politiker des Landes, Konrad Adenauer, dem Sicherheitsproblem seit spätestens 1948 besondere Aufmerksamkeit zu. Aller Informationsdefizite ungeachtet, war er sich in allgemeinen Zügen über die Konsequenzen der exponierten westdeutschen Lage im klaren und suchte immer wieder Öffentlichkeit und Regierungen des Westens auf diesen problematischen Umstand hinzuweisen. Er deutete schon damals an, sein Land brauche eine Sicherheitsgarantie der Westmächte. Er war bereit, als Gegenleistung einen westdeutschen Beitrag zur gemeinsamen westeuropäischen Verteidigung in Aussicht zu nehmen. Nachdem Adenauer am 15. September 1949 zum Bundeskanzler der neugegründeten Bundesrepublik Deutschland gewählt worden war, konnte er seine Mahnungen auf Grund des ihm erteilten Regierungsmandats mit größerer Deutlichkeit und größerem Nachdruck fortsetzen. Arnulf Baring ist auf Grund des ihm in den sechziger Jahren vorliegenden Quellenmaterials zu dem Schluß gekommen, es sei Adenauer vorrangig um Gleichberechtigung und Souveränität gegangen; Sicherheitsgarantie und Verteidigungsbeitrag müßten weithin als Mittel zu diesem Zweck angesehen werden. Demgegenüber hat Hans-Peter Schwarz den ihm zwei Jahrzehnte später zugänglichen westdeutschen Aktenbeständen entnommen, daß die ungelöste Sicherheitsfrage das zentrale Motiv des Bundeskanzlers war, das ihn zur Akzeptanz des — innenpolitisch außerordentlich heiklen — Wehrbeitrags veranlaßte. In der Tat zeigen einschlägige Quellen, daß Adenauer stark unter dem Eindruck der westdeutschen Schutzlosigkeit stand. Überdies behandelte er die politischen Konditionen der anvisierten westdeutschen Verteidigungsleistung zunächst als eher sekundär. Auch wenn sich nicht völlig ausschließen läßt, daß die Überlegungen des Bundeskanzlers primär durch ein unausgesprochenes Verlangen nach Gleichberechtigung als politischer Gegenleistung motiviert waren, so läßt die vorhandene Evidenz eher auf eine Vordringlichkeit des — von ihm intern immer wieder stark hervorgehobenen — Sicherheitsbedürfnisses schließen. Die Aussagen Adenauers vor allem während des Frühjahres 1950 erwecken den Eindruck, daß er alle nur möglichen Optionen für die Aufstellung westdeutscher Truppen zu erproben willens war, wenn er nur dadurch die Westmächte zu einer Sicherheitsgarantie für sein Land veranlassen konnte: Im Kriegsfalle sollte das westdeutsche Territorium von vornherein voll in die militärische Verteidigung des westlichen Bündnisses einbezogen sein. Zur Erreichung dieses Zieles faßte der Bundeskanzler unterschiedliche, auch unkonventionelle Wege zu einer westdeutschen Aufrüstung ins Auge. Im Unterschied nicht allein zu seinem sozialdemokratischen Widersacher Kurt Schumacher, sondern auch zu manchen anderen Politikern der Regierungskoalition handelte er augenscheinlich nach der Devise, daß man vor allem anderen zunächst einmal zum Beteiligten werden müsse. Habe man das erreicht, werde sich die an-

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gestrebte Gleichberechtigung, auch wenn sie zuerst noch erhebliche Lücken aufweise, im Laufe der folgenden Interaktion schon durchsetzen. Ein militärischer Bundesgenosse ließ sich innerhalb des westlichen Staatensystems nicht auf die Dauer als politisches Mündel behandeln. Es widerspricht der These vom Vorrang des Sicherheitsgesichtspunkts nicht, daß sich Adenauer von einem westdeutschen Beitrag zum Aufbau einer militärischen Abwehrfront in Westeuropa einen Gleichberechtigungseffekt versprach. Hans-Peter Schwarz hat auch auf Adenauers durchgängige Vorstellung hingewiesen, daß von einem normalen, handlungsfähigen Staat nur so weit die Rede sein könne, wie dieser über Instrumente zur Wahrung seiner inneren und äußeren Sicherheit — also über Polizei und Armee — verfüge. Beides fehlte der Bundesrepublik in ihrer Frühzeit völlig. Das erklärt, warum der Bundeskanzler im Frühjahr 1950 nicht nur an den Aufbau bewaffneter Streitkräfte zum Schutz der Landesgrenzen, sondern auch an eine Bundespolizei für Zwecke der inneren Sicherheit dachte. Wegen der dabei erfolgten Bezugnahme auf die bewaffneten Kräfte der DDR entstand eine gewisse Unklarheit darüber, inwieweit es sich dabei tatsächlich um eine rein polizeiliche Formation handeln sollte, zumal im Mai 1950 mit Gerhard Graf v. Schwerin ein früherer Militär mit der Planung beauftragt wurde. Eine klare Abgrenzung gab es allerdings in dem Punkt, daß es bei diesen Formationen nicht um die Schaffung eines Gegengewichts zu sowjetischen Truppen ging. Anders als in der Sowjetzone bildete somit in Westdeutschland das von einem deutschen Politiker gegenüber der Besatzungsseite geltend gemachte deutsche Interesse den ersten Anstoß zu einer ernsthaften Beschäftigung mit der Wiederbewaffnungsfrage. Eine Initiative der unter Okkupationsrecht stehenden deutschen Seite war möglich, weil sich die Bundesrepublik in der westlichen Welt befand, in der Pluralität und Konflikt grundsätzlich akzeptiert wurden. Daher konnte auch den bevormundeten Deutschen eine freie Meinungsäußerung nicht grundsätzlich verwehrt werden. Diese Freiheit hatte jedoch einen Preis. Während der Wiederbewaffnungsprozeß in der Sowjetzone kontinuierlich lief, nachdem ihn die Besatzungsmacht einmal in Gang gesetzt hatte, kam man in der Bundesrepublik eine sehr lange Zeit mit dem Vorhaben nicht voran. Die Überzeugung der mit der westeuropäischen Verteidigung befaßten westlichen Militärs, daß ein westdeutsches Truppenkontingent unerläßlich sei, sofern militärische Anstrengungen des Westens nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt sein sollten, nützte dabei wenig. Auch entsprechende Einsichten in führenden Kreisen Washingtons und Londons brachten keinen politischen Durchbruch, solange die Hauptverantwortlichen Rücksicht auf antideutsche Ängste und Ressentiments in der eigenen Öffentlichkeit und/oder im verbündeten Ausland nehmen zu müssen glaubten. Adenauer mußte zudem mit dem Risiko leben, daß die westliche Seite auch bei einem eventuellen Ja zum westdeutschen Verteidigungsbeitrag noch nicht notwendigerweise zu der dafür erwarteten Sicherheitsgarantie bereit war.

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Überhaupt war es in der Frühzeit der Bundesrepublik für westdeutsche Politiker und Experten sehr schwierig und heikel, bei den Besatzungsmächten Probleme der äußeren Sicherheit zu thematisieren und mit ihnen in irgendwelche Gespräche darüber einzutreten. Denn nach dem Besatzungsstatut lag die Kompetenz für alle Angelegenheiten der Außen- und Sicherheitspolitik auch nach der Gründung des westdeutschen Staates ausschließlich bei den Besatzungsmächten. Adenauer mußte befürchten, daß ihm jede Wahrnehmung der Interessen seines Landes auf diesem Gebiet eine Rüge wegen Einmischung in verbotene Angelegenheiten eintrug. Soweit dabei Militärisches im Spiel war, mußten er und seine Mitarbeiter angesichts der fortbestehenden Entmilitarisierungsvorschriften des Alliierten Kontrollrats sogar mit noch ernsteren Konsequenzen rechnen. Für den rückblickenden Betrachter läßt es sich heute kaum noch nachvollziehen, wie immens die Hindernisse waren, denen sich der erste deutsche Bundeskanzler gegenübersah, als er die — rechtlich seiner Kompetenz entzogene — Sicherheitsfrage stellte.

Überlegungen und Verhandlungen über einen westdeutschen Verteidigungsbeitrag (1950-1952) Der nordkoreanische Angriff auf Süd-Korea am 26. Juni 1950 veränderte die politische Großwetterlage in den westlichen Ländern. In der Öffentlichkeit verbreitete sich weithin das Gefühl einer akuten militärischen Bedrohung. Die Regierungen sahen die Aggression vielfach als ersten Schritt eines generell gegen den Westen gerichteten militärischen Vorgehens der kommunistischen Staaten. Ein Angriff gegen Westeuropa bereits in den kommenden Monaten erschien zeitweilig nicht ausgeschlossen, zumal man vermutete, Stalin könnte der nunmehr einsetzenden amerikanischen Wiederaufrüstung zuvorkommen wollen. Dieser Eventualität sah man in den westeuropäischen Hauptstädten mit Nervosität entgegen. Vor allem in London bestand vorübergehend zugleich die Sorge, paramilitärische DDR-Polizeikräfte könnten nach Westberlin u n d / o d e r in die Bundesrepublik in Marsch gesetzt werden. Adenauer sah sich durch die westlichen Befürchtungen in seinen zuvor angestellten Überlegungen bestätigt. Nunmehr signalisierte der amerikanische Teil der Alliierten Hochkommission Einverständnis mit dem westdeutschen Verlangen nach Schutz und Wiederbewaffnung. Auch Washington stimmte zu, ohne daß freilich der Bundeskanzler darüber unterrichtet worden wäre. In Bonn bestand daher lange der Eindruck, daß sich in den Beziehungen zu den Westmächten kaum etwas bewege. Die Hochkommissare lehnten sogar Adenauers bescheidenen Vorschlag einer kleinen Bundespolizeitruppe ab und begrenzten die den Ländern zugestandenen kasernierten Polizeieinheiten auf 10 000 Mann. Die gleichzeitig in den westlichen Hauptstädten durchgeführten Beratungen über einen Verteidigungsbeitrag der Bundesrepublik fanden nicht nur ohne Beteiligung, sondern auch ohne Wissen der westdeutschen Seite statt. Gleich-

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wohl ließ der Bundeskanzler die im Mai 1950 angelaufenen Planungen mit Nachdruck fortsetzen. Der Fortgang der weiteren Bemühungen wurde entscheidend durch einen unter den drei Westmächten aufbrechenden Konflikt bestimmt. Die amerikanische Regierung trat zusammen mit der britischen Seite nachdrücklich für die Aufstellung westdeutscher Truppen ein. Dabei bestand Einvernehmen darüber, daß das militärische Potential der Bundesrepublik gemäß den seit langem auch von Adenauer angestellten Überlegungen auf irgendeine Weise einen übernationalen Rahmen erhalten sollte. Insbesondere sollte es auf keinen Fall einen nationalen Generalstab geben. Anders als die beiden angelsächsischen Mächte suchten aber die Verantwortlichen in Frankreich eine westdeutsche Wiederbewaffnung zu verhindern. Daher kam auf der New Yorker Außenministerkonferenz am 19. September 1950 nur ein deklaratorischer Grundsatzbeschluß zustande, dem die Substanz einer konkreten Einigung fehlte. Zugleich akzeptierten die drei Leiter der westlichen Außenpolitik den westdeutschen Anspruch auf Sicherheit in genereller Form. Sie fanden sich auch bereit, die Zahl der kasernierten Länderpolizisten auf 30 000 zu erhöhen. Dieses Ergebnis blieb zwar weit hinter dem Ziel zurück, das sich Adenauer gesetzt hatte, doch war damit immerhin eine erste Grundlage für eine Behandlung der westdeutschen Sicherheitsforderungen und des damit verknüpften Verteidigungsbeitrages geschaffen. Dadurch geriet die französische Seite zunehmend unter Druck. Das galt um so mehr, als der Beschluß von New York zum Auftakt rasch anschließender Verhandlungen zwischen den drei Westmächten wurde. Dabei bestanden die beiden angelsächsischen Mächte darauf, die Bundesrepublik in die — dringend stärkungsbedürftige — westeuropäische Verteidigung einzubeziehen. Die drei Seiten verfuhren nach dem Grundsatz, sie müßten erst untereinander einig geworden sein, ehe sie ein Gespräch mit der westdeutschen Regierung suchen könnten. Daher wurde Adenauer aus den Überlegungen ausgeschlossen und sogar weithin kaum informiert. Unter amerikanischem Druck erklärte sich die französische Regierung schließlich in einer Stellungnahme vor der Pariser Nationalversammlung am 24. Oktober 1950 grundsätzlich bereit, den Widerstand gegen westdeutsche Truppenkontingente fallenzulassen. Diese müßten jedoch auf der Ebene kleiner »Kampfgruppen« mit den Formationen anderer verbündeter europäischer Staaten zu gemischten Verbänden zusammengefaßt werden. Der Grundgedanke des französischen Vorschlags war, daß es keine irgendwie zu selbständigen Operationen befähigten deutschen Truppen geben dürfe. Nach militärischem Urteil, das auch von den französischen Militärs geteilt wurde, war aber der Aufbau einer derart auf militärische Handlungsunfähigkeit ausgerichteten »Europa-Armee« nicht sinnvoll, denn auf dieser Basis ließ sich nicht der Aufbau einer irgendwie effizienten Streitmacht erwarten. Das Dilemma, mit dem das französische Verlangen die westlichen Planer konfrontierte, wurde damals treffend mit dem Diktum charakterisiert, Paris wünsche eine westdeutsche Truppe, die zwar schwächer sei als die französische Streitmacht,

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aber stärker als die sowjetische Armee. Ungeachtet dieser und anderer Probleme bestand die französische Regierung darauf, ihren »Pleven-Plan« zur Grundlage der weiteren Verhandlungen zu machen. Auf diese Weise hoffte sie, die drohende Aufstellung westdeutscher Soldaten blockieren zu können, ohne sich in den zweifelhaften Ruf des Neinsagers zu bringen. Dabei schien es kein Fehler zu sein, daß der unterbreitete Vorschlag von fraglichem militärischen Wert war. Die französische Seite mußte jedoch in Kauf nehmen, daß sie eine latente politische Übereinstimmung zwischen Bonn und Washington provozierte. Aus westdeutscher Sicht war das französische Projekt vor allem auch darum indiskutabel, weil es allen Erfordernissen einer auch nur minimalen Gleichberechtigung total widersprach. Wenn kleine westdeutsche Einheiten auf eine internationale Streitmacht verteilt wurden, bedeutete dies für die Bundesrepublik einen Status militärischer Unselbständigkeit, der den anderen Verbündeten nicht zugemutet wurde. Denn nur Westdeutschland sollte ausschließlich über Einheiten innerhalb der Europa-Armee verfügen und von der NATO-Mitgliedschaft ausgeschlossen sein. Da kam es Adenauer und seinen militärischen Beratern politisch gelegen, daß die französischerseits geforderte Struktur den militärischen Sinn des ins Auge gefaßten westdeutschen Verteidigungsbeitrages — eine deutliche Verstärkung der westeuropäischen Abwehrfront — verfehlte. Mit diesem Argument ließ sich das amerikanische Interesse ansprechen, daß die Westeuropäer substantiell zur Verteidigung ihrer Länder beitragen müßten. Die Bundesrepublik, so ergab sich auf Grund dieser Logik, war nach französischem Vorschlag von vornherein daran gehindert. Der Bundeskanzler konnte daher auf einer anderen Regelung als militärisch allein brauchbarer Lösung bestehen. Das lief praktisch auf einen politischen Rahmen hinaus, der eine Mitgliedschaft seines Landes in der NATO nach sich zog. Die Sympathien der — auf konsensfähige Beschlüsse angewiesenen — amerikanischen Seite bewahrten jedoch Adenauer nicht vor der Nötigung zu Verhandlungen über den Pleven-Plan. Die NATO-Staaten legten am 18./19. Dezember in Brüssel auf Grund eines vom Stellvertreterrat unter dem Vorsitz des Amerikaners Charles M. Spofford ausgearbeiteten Kompromisses eine doppelte Verhandlungsführung für die weitere Behandlung des westdeutschen Verteidigungsbeitrags fest. Zum einen wurden gemäß französischem Begehren die Pariser Vorschläge zum Gegenstand von Verhandlungen zwischen den prospektiven Teilnehmerländern einer künftigen Europa-Armee — also zwischen Frankreich, Italien, der Bundesrepublik und den Benelux-Staaten — gemacht. Auf diese Weise sollte herausgefunden werden, ob der Pleven-Plan als Basis für ein politisches Arrangement taugte. Zum anderen sollten sich Experten der Alliierten Hochkommission und der Regierung Adenauer über die militärischorganisatorischen Modalitäten des künftigen Verteidigungsbeitrages verständigen, gemäß dessen die westdeutschen Truppen aufgestellt werden konnten, sobald Klarheit über die politische Form erzielt sein würde. Mit dem zweigeteilten Verfahren war eine unausgesprochene Implikation verbunden. Es war möglich, daß die Sechs-Mächte-Konferenz nicht zu einer Einigung führte. In diesem

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Falle würde, wie man in Spoffords Umgebung voraussah, unausweichlich eine Regelung im Rahmen der NATO gefunden werden müssen. Demnach lag die Wahl des politischen Kontexts für die künftige Wiederbewaffnung faktisch bei der westdeutschen Regierung, denn sie konnte die Verhandlungen über den Pleven-Plan scheitern lassen und damit die atlantische Alternative aktuell machen. Schon in dieser frühen Phase hatte mithin die Interessenkonvergenz zwischen USA und Bundesrepublik ein Ergebnis herbeigeführt, das Adenauer eine entscheidende Weichenstellung in die Hand gab. Das war freilich nur die eine Seite der Medaille. Denn westliche Bevormundung ermöglichte es noch immer, dem Bundeskanzler die Kenntnis der Optionen zu verwehren, die ihm zugebilligt worden waren. Als Adenauer Anfang 1951 die beiden Gesprächsfäden aufnahm, wußte er nicht, daß ein Mißerfolg der Verhandlungen über den Pleven-Plan geeignet war, die von ihm bevorzugte NATO-Lösung aktuell zu machen. Statt dessen glaubte er, daß es darauf ankomme, die Gespräche mit der Alliierten Hochkommission voranzutreiben, um die angestrebte NATO-Option zu realisieren. Daher erschien es ihm zweckmäßig, die Verhandlungen über das französische Projekt zwar auf kleiner Flamme zu halten, aber ohne Eklat fortzuführen, bis die Gespräche auf dem Petersberg die erhoffte Wende gebracht hätten. Genau dies aber war nach den Vorgaben der Brüsseler NATO-Beschlusses von vornherein ausgeschlossen. Zugleich bot die auf die Vermeidung eines Abbruchs der Sechs-Mächte-Konferenz ausgerichtete westdeutsche Verhandlungsführung der französischen Seite die Möglichkeit, den Pleven-Plan als erfolgversprechendes Konzept darzustellen. Dementsprechend erreichten die Beauftragten Adenauers bei den Expertenberatungen mit den Vertretern der Hochkommission auf dem Petersberg zwar, daß die ins Auge gefaßten Organisations- und Bewaffnungsstrukturen dem Verlangen nach Nicht-Diskriminierung Rechnung trugen und insoweit die französischen Vorstellungen konterkarierten. Aber das politische Hauptziel, die Festlegung eines NATO-Rahmens für den westdeutschen Verteidigungsbeitrag, wurde notwendigerweise verfehlt. Zugleich kam es während der Verhandlungen über den Pleven-Plan zu einer unerwarteten Entwicklung. Zum einen gelang es den westdeutschen Unterhändlern auf der Konferenz, die französischen Vorstellungen zu relativieren. Zum anderen ließen sich maßgebende amerikanische Diplomaten und Militärs hinter den Kulissen von französischen Europa-Befürwortern davon überzeugen, daß das vorgeschlagene Konzept einer Europa-Armee politisch sinnvoll und militärisch praktikabel sei, wenn man es nur grundlegend umformuliere. Es kam zwischen den entsprechenden Kreisen in Paris, dem sich unter Dwight D. Eisenhower etablierenden europäischen NATO-Oberkommando und der amerikanischen Administration zu einem Konsens darüber, daß die von den Sachverständigen der westdeutschen Regierung und der Hochkommission auf dem Petersberg erarbeiteten militärischen Vorstellungen in das französische Projekt eingearbeitet werden müßten. Demzufolge sollte der Verteidigungsbeitrag der Bundesrepublik die politische Form einer Europa-Ar-

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mee, zugleich aber eine den militärischen Effizienzerfordernissen entsprechende Struktur erhalten. Das war die Geburtsstunde der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG), die von da an mehr als drei Jahre lang alle Überlegungen bestimmte. Adenauer sah nicht nur die Hoffnung auf eine baldige Mitgliedschaft in der NATO enttäuscht. Er war auch wenig darüber erfreut, daß die mit dem EVGKonzept verbundenen komplexen Regelungen notwendigerweise dazu führten, Verteidigungsbeitrag und Sicherheitsgarantie hinauszuzögern. Aber er hatte keine andere Wahl, als sich auf dem Boden der neuen Tatsachen zu stellen. Die Wendung wurde ihm entscheidend dadurch erleichtert, daß das neue Wiederbewaffnungsmodell letztlich auch seinen eigenen — seit langem gehegten und im Vorjahr durch die Annahme des Schuman-Plans erstmals in die Praxis umgesetzten — Europa-Vorstellungen entsprach. Danach sollten die Deutschen künftig eng mit Frankreich zusammengehen und sich fest in einen europäischen Zusammenhang integrieren. Rasch wurde die EVG geradezu zu einem Lieblingsprojekt des Bundeskanzlers und seiner Berater. Der tiefere Grund dafür war, daß der Grundsatz der europäischen Integration ein fundamentales westdeutsches Interesse zu befriedigen versprach: Die gegenüber der Bundesrepublik erhobenen Forderungen nach Kontrolle ließen sich in diesem Rahmen mit dem deutschen Verlangen nach Nicht-Diskriminierung vereinbaren, indem das Prinzip der wechselseitigen Kontrolle etabliert wurde. Eine Vereinzelung und Isolierung des in exponierter kontinentaler Mitte gelegenen deutschen Staates sollte so auf Dauer ausgeschlossen sein. Der Bundeskanzler setzte einen eigenen Akzent, indem er, einem seit Sommer 1950 entwickelten Handlungskonzept folgend, parallel zu führende Gespräche über die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland forderte und durchsetzte. Dem lag die Logik zugrunde, ein militärischer Verbündeter könne nicht länger einem Besatzungsregime unterworfen bleiben. Bundesgenossenschaft und Sicherheitspartnerschaft gehörten untrennbar zusammen. Adenauer dachte an einen Sicherheitsvertrag zwischen der Bundesrepublik und den Westmächten, in dem die wechselseitigen Rechte und Pflichten aus dem gemeinsamen Interesse an der Abwehr der bestehenden Bedrohung hergeleitet werden würden. Das hätte von vornherein eine Basis prinzipieller Gleichberechtigung für die anschließende Regelung der praktischen Einzelheiten geschaffen. Dieser Ansatz erwies sich jedoch als nicht durchsetzbar. Der Bundeskanzler sah sich genötigt, das westliche Verhandlungskonzept anzunehmen, dem zufolge Stück für Stück die Ablösung der bestehenden besatzungsrechtlichen Kompetenzen besprochen werden mußte. Er hatte sich auf ein zähes Ringen einzustellen, bei dem jeder Verzicht der Besatzungsmächte auf bisherige Befugnisse grundsätzlich durch westdeutsche Gegenleistungen zu honorieren war. Das natürliche Ergebnis dieser Herangehensweise war, daß sich die drei Mächte Restverantwortlichkeiten vorbehielten. Das freilich war nicht immer zum Nachteil der Bundesrepublik, wie die westlichen Vorbehalte bezüglich Berlins und Deutschlands als Ganzem beispielhaft deutlich machen, die in der

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Zeit von 1955 bis 1990 ein wichtiges Instrument zur Sicherung sowohl der Freiheit Westberlins als auch des Anspruchs auf deutsche Einheit gewesen sind. Bei den EVG-Verhandlungen, die ebenfalls im Herbst 1951 begannen und im Februar 1952 endeten, ging es wesentlich um militärische Einzelheiten mit politischen Implikationen. Der westdeutschen Delegation unter General Hans Speidel ging es darum, den künftigen deutschen Truppen gleich gute Bedingungen zu sichern wie den Soldaten der anderen fünf Staaten, insbesondere gleiche Bewaffnung und taktisch-operative Selbständigkeit. Während der Pleven-Plan die Einfügung kleiner westdeutscher Einheiten in multinationale Verbände vorgesehen hatte mit der Folge, daß die Westdeutschen faktisch fremder Kontrolle unterstellt worden wären, hatten die militärischen Berater Adenauers seit Sommer 1950 für eine Eingliederung westdeutscher Kontingente in das westliche Verteidigungssystem auf Divisionsebene plädiert und dafür die Zustimmung praktisch aller Sachverständigen im westlichen Ausland erhalten. Es war daher nicht allzu schwer durchzusetzen, daß die »Kampfgruppen«, die nach dem Pleven-Plan die größten national-homogenen Bestandteile der zu formierenden multinationalen Europa-Armee darstellten, funktional als Divisionen definiert wurden. Bezüglich der Ausrüstung wurde festgelegt, daß die westdeutschen Truppen — abgesehen von besonders weitreichenden Systemen — alle Waffen in die Hand bekommen sollten, die es in der Armee geben würde. Da man sich keine Ineffizienz gegenüber dem sowjetischen Gegner leisten konnte, lief dies auf eine Ausstattung mit modernsten Waffen aller Art hinaus. Das schloß einen Verzicht der Bundesrepublik auf Verfügung über atomare, biologische und chemische Kampfmittel nicht aus. Diese waren nur der Kontrolle von Großmächten unterstellt und brauchten nicht Teil des Arsenals auf dem europäischen Schauplatz zu sein. Ein politisch strittiger Punkt war das Verhältnis zwischen EVG und NATO. Adenauer war nicht willens, sich an der EVG zu beteiligen, wenn diese dem Zweck diente, die Bundesrepublik im Gegensatz zu den anderen Teilnehmerstaaten (die der NATO bereits angehörten) vom nordatlantischen Bündnis fernzuhalten. Für die französische Regierung jedoch war die Verweigerung der NATOMitgliedschaft ein entscheidendes Plus der EVG-Lösung, auf das sie nicht verzichten wollte. Als Kompromiß wurde schließlich vereinbart, daß NATO und EVG zu gemeinsamen Sitzungen zusammenkommen sollten, wenn die NATO über EVG-relevante Angelegenheiten berate. Bonn sollte damit an interessierenden Konsultationen des westlichen Bündnisses teilnehmen und dabei seine Interessen wahrnehmen können. Nach Adenauers Ansicht reichte dies jedoch längerfristig nicht aus. Auf sein Betreiben hin erhielt die westdeutsche Seite allem Anschein nach die amerikanische Zusage, daß die Bundesrepublik in die NATO aufgenommen werde, wenn der EVG-Vertrag erst einmal abgeschlossen und vom französischen Parlament ratifiziert sei. Je mehr sich die westdeutsche Seite mit ihrem Streben nach militärischer und politischer Gleichberechtigung durchsetzte und damit die diskriminierenden Regelungen des Pleven-Plans überwand, desto schwieriger wurde es für die französische Regierung, den Verteidigungs-

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beitrag des Nachbarlandes innenpolitisch zu vertreten. Eine Erleichterung der erschwerten Situation erhoffte sich Paris von London: Wenn sich die britische Seite, ihrer Nichtteilnahme an der EVG ungeachtet, zu einem dauernden militärischen und politischen Engagement auf dem europäischen Kontinent entschließe, vermittele dies der französischen Öffentlichkeit das Gefühl, nicht allein mit den Deutschen konfrontiert zu sein, sondern einen Rückhalt diesen gegenüber zu haben. Dieses Argument überzeugte in London, und die britische Regierung fand sich bereit, sich zu einer dauerhaften Präsenz ihrer Rheinarmee in Deutschland zu verpflichten. Damit war — im Blick auf die militärische Sicherheit der Bundesrepublik — auch Bonn gerne einverstanden. Die Einfügung des westdeutschen Staates in das westliche Verteidigungssystem — völkerrechtlich im Generalvertrag über die Ablösung des Besatzungsregimes, im Vertrag über die Bildung der EVG und in einigen weiteren Verträgen formuliert — war ein wesentliches Element der Anfang 1951 ernsthaft begonnenen Schaffung eines atlantischen Landverteidigungssystems. Auch wenn sich die Sorgen des Sommers 1950 über einen drohenden baldigen Angriff auf Westeuropa schon während des folgenden Herbstes weithin gelegt hatte, waren die westlichen Regierungen nicht länger willens, den bisherigen Zustand militärischer Schutzlosigkeit hinzunehmen. Die westeuropäischen Mitgliedstaaten der atlantischen Allianz setzten zu diesem Zweck größere Wiederbewaffnungsprogramme ins Werk. Vor allem aber wandelte sich das amerikanische Verhalten. Der Nordatlantikpakt war für Washington nicht länger nur eine den westeuropäischen Verbündeten gegebene Schutz- und Garantiezusage. Die USA verlegten mehrere Kampfdivisionen nach Europa und wandelten die in Deutschland stehenden, noch vielfach administrativ strukturierten Besatzungstruppen in Kampfverbände um. Im April 1951 w u r d e General Eisenhower als erster Chef eines integrierten militärischen NATO-Oberkommandos nach Westeuropa entsandt. Von da an wurde auf dem Kontinent ein gemeinsames atlantisches Verteidigungssystem aufgebaut, das allmählich die Fähigkeit zur Abwehr einer sowjetischen Aggression erlangte. Damit wurden jene realen Voraussetzungen geschaffen, die Adenauer seinen Überlegungen über Sicherheitsgarantie und Verteidigungsbeitrag zugrunde gelegt hatte: eine Militärstruktur, deren Existenz den Schutz der Bundesrepublik im Kriegsfall realistisch erscheinen ließ. Eine Vorneverteidigung an den östlichen Grenzen der Bundesrepublik, die der Bundeskanzler mit einer Bereitstellung westdeutscher Truppen wesentlich bezweckte, war freilich für seinen sozialdemokratischen Rivalen Schumacher kein ausreichender Wiederbewaffnungsanreiz: Wenn sich Deutsche überhaupt zur Mitwirkung in einem eventuellen künftigen Ost-West-Krieg bereit finden sollten, müßten sie zum einen den Status voller nationaler Gleichberechtigung erhalten und zum anderen die Gewähr haben, daß die westlichen Verbände rasch nach Osten vorstoßen würden, um die Entscheidungsschlacht jenseits des deutschen Siedlungsgebiets (zu dem er auch die 1945 verlorenen Ostprovinzen rechnete) zu suchen. Adenauer sah, daß eine derartig weitreichende Forderung

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jedes sicherheitspolitische Einvernehmen zwischen der Bundesrepublik und den Westmächten blockieren würde. Wenn die westliche Seite nämlich die für eine derartige Offensive notwendigen Kräfte besäße, hätte sie gar nicht erst einen Grund mehr gesehen, sich um einen — in der westeuropäischen Öffentlichkeit ja weithin höchst unliebsamen — westdeutschen Verteidigungsbeitrag zu bemühen. Aus der Sicht des Bundeskanzlers bestand das Problem gerade darin, daß ein auch nur minimaler Schutz fehlte, wie ihn der Oppositionsführer illusionärerweise als Voraussetzung für eine deutsche Beteiligung forderte. Durch eine westdeutsche militärische Mitwirkung würde, so glaubte Adenauer, die westliche Verteidigung im Kriegsfalle das westdeutsche Territorium einschließen. Davon konnte allerdings noch längere Zeit keine Rede sein. Erst später wurde die angestrebte »Vorneverteidigung« Wirklichkeit. Von allem Anfang an allerdings trugen die westdeutschen Truppen zu dem politischen Abschreckungseffekt bei, den sich der Westen von dem Aufbau eines Systems der militärischen Abwehr unter deutscher Beteiligung versprach. Schon Stalin zeigte sich während seiner letzten Jahre nicht zuletzt in Antizipation des westdeutschen Aufbaus tief besorgt über die Veränderungen des militärischen Kräfteverhältnisses. Da er zugleich an die systembedingte Kriegsneigung des »imperialistischen« Westens glaubte, verband sich damit für ihn die Befürchtung eines früher oder später bevorstehenden Angriffs auf die UdSSR. Demonstration gegen die Wiederbewaffnung 1955 in München

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Adenauer stieß mit seinem sicherheitspolitischen Konzept von vornherein auf größte innenpolitische Widerstände. Es bedurfte großen Mutes, die damit verbundenen Probleme und Risiken auf sich zu nehmen. Bis zu den Bundestagswahlen von 1953 sah sich der Bundeskanzler ständig mit der Aussicht konfrontiert, den mindestnotwendigen Rückhalt im Lande zu verlieren. Die Stimmung des »Ohne mich!« war im Land generell weit verbreitet. Überdies wollten die — von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs lange für unverbesserliche Militaristen gehaltenen — Deutschen weithin keine Soldaten mehr werden. Selbst unter den Anhängern von Adenauers eigener Partei waren — ebenso wie bei den Wählern der an der Regierungsverantwortung beteiligten FDP — die Befürworter einer Wiederbewaffnung in der Minderheit. Das galt natürlich in noch höherem Maße für die Basis der SPD. Vor diesem Hintergrund war die Ablehnung, die der Bundeskanzler bei seinem Hauptwidersacher Schumacher erfuhr, als sehr moderat zu bezeichnen. Denn der Führer der Sozialdemokraten war grundsätzlich willens, einen Beitrag zur westlichen Verteidigung zu akzeptieren, und machte lediglich Vorbedingungen geltend, die allerdings weit über Adenauers Forderungen hinausgingen. Auf dieser Grundlage war zwar kein Einvernehmen möglich, doch hatte diese Konstellation für den westdeutschen Regierungschef einen entscheidenden Vorteil: Sein wichtigster innenpolitischer Gegner betrieb keine Fundamentalopposition. Schumacher und seine Leute waren durch ihre lediglich bedingungsweise Ablehnung daran gehindert, hemmungslos gegen die Wiederbewaffnung zu Felde zu ziehen. Sie hofften zudem darauf, den Bundeskanzler ablösen zu können und mußten sich für diesen Fall die Möglichkeit offenhalten, einem Verteidigungsbeitrag zuzustimmen, für den sie dann freilich andere Konditionen vorgesehen hatten. Je weiter es in der SPD von der Spitze hinunter zur Basis ging, desto stärker machten sich allerdings auch Tendenzen des prinzipiellen Widerstands geltend. Wie willkommen Adenauer ein allgemeines Einvernehmen bezüglich der unpopulären Wiederbewaffnung auch gewesen wäre, so hatte die innenpolitische Konstellation für ihn auch Vorteile. Zum einen konnte er mit einigem Erfolg die SPD in die Nähe der — allgemein abgelehnten — Kommunisten rücken. Zum anderen sahen die westlichen Gesprächs- und Verhandlungspartner auf Grund der maximalistischen Haltung Schumachers, daß sie keine annehmbare Alternative zum Dialog mit dem Bundeskanzler hatten. Das stärkte die Position des westdeutschen Regierungschefs in den westlichen Hauptstädten ganz beträchtlich. Auch verstand es Adenauer mit großem Geschick, sich die schwierige innenpolitische Situation zu erleichtern. Ihm kam zupaß, daß der DGB-Vorsitzende Hans Böckler politische Distanz zur SPD hielt und die Existenz deutschen Militärs nicht grundsätzlich ablehnte. Der Bundeskanzler nutzte die dadurch gegebene Möglichkeit, den Gewerkschaftsführer auf seine Seite zu ziehen. Er akzeptierte Böcklers Forderung nach Mitbestimmung in der Montanindustrie. Schwieriger war es, einige Opponenten innerhalb des Regierungslagers zu gewinnen. Das galt nicht nur für Bundesminister Jakob Kaiser, der das gesamt-

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deutsche Ressort innehatte und die Vorstellung von einem Brückenschlag zwischen Ost und West hegte. Es gab auch nicht wenige führende Personen und Kreise in CDU wie FDP, die von einem westdeutschen Verteidigungsbeitrag eine entscheidende Vertiefung der deutschen Spaltung befürchteten und ihm daher sehr abgeneigt gegenüberstanden. Um diesen Widerstand zu überwinden, formulierte Adenauer ein gegensteuerndes Konzept der Deutschland-Politik. Gegenwärtig sei unter keinen Umständen zu hoffen, daß man der sowjetischen Führung eine Wiedervereinigung des gespaltenen Vaterlandes abhandeln könne. Erst wenn der Westen eine hinreichende militärische Stärke gewonnen habe, gebe es dafür eine Chance. Dann werde die UdSSR verhandeln müssen und zu einem Modus vivendi genötigt sein. Der Bundeskanzler dachte insbesondere daran, daß die schlechten Ergebnisse kommunistischen Wirtschaftens das östliche Imperium nach Ausfall seiner militärischen Optionen dazu veranlassen würden, materielle Unterstützung in den westlichen Ländern, nicht zuletzt in der Bundesrepublik, zu suchen. Dann werde der Augenblick gekommen sein, die deutsche Frage auf den Verhandlungstisch zu legen. Wolle man dagegen schon vorher etwas erreichen, müsse man nicht allein mit einem Mißerfolg, sondern auch mit einer Erschütterung der eigenen Position rechnen. Denn solange sich die Bundesrepublik nicht untrennbar mit dem Westen verbunden habe, besitze sie kein hinreichendes politisches Gewicht und könne auch nicht auf festen Rückhalt bei den Westmächten zählen. Damit bestehe die Gefahr, daß die westdeutsche Seite zwischen die Fronten gerate, isoliert dastehe und zu einer leichten Beute der UdSSR werde. Mit dieser Argumentation setzte sich Adenauer in den Koalitionsparteien allmählich weithin durch. Zum wichtigsten nicht umzustimmenden Widersacher wurde Bundesinnenminister Gustav Heinemann. Dieser nahm im Spätsommer 1950 Anstoß daran, daß der Bundeskanzler den Westmächten aus freien Stücken westdeutsche Truppen »angeboten« und darüber nicht einmal die anderen Regierungsmitglieder ins Bild gesetzt habe. Der Streit zog sich eine längere Zeit hin, bis Heinemann in der zweiten Oktoberhälfte mit dem angekündigten Rücktritt Ernst machte. Der Streit war mit dem Vorwurf der Unterlassung einer gebotenen Information juristisch formuliert worden, doch ging es, wie die weitere Entwicklung zeigte, tatsächlich um einen fundamentalen Auffassungsgegensatz. Als überzeugter Protestant übertrug Heinemann in seiner Kirche verbreitete Schuld-und-Sühne-Vorstellungen auf die Politik. Danach hatte das deutsche Volk die Niederlage von 1945 als eine Art Gottesurteil anzusehen und daraus für die Zukunft unter anderem den Schluß zu ziehen, daß ihm »Gott die Waffen aus der Hand geschlagen« habe. Heinemann fand die stärkste Resonanz in Kreisen der evangelischen Kirche und hatte dort seitdem seine zuverlässigsten Stützen. Andersdenkende Protestanten hatten es demgegenüber manchmal schwer, ihren Standpunkt unter Glaubensbrüdern zu vertreten. Wie sich im Laufe der Zeit zeigte, erstreckte sich die Fundamentalopposition nur auf eine relativ schmale Schicht. Der Bundeskanzler· hatte die Aufgabe zu lösen, ei-

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ne Vereinigung dieser Tendenz mit der im Lande verbreiteten Anti-Wiederbewaffnungs-Stimmung zu verhindern. Dazu wurden Parolen verwendet, welche die Verweigerung des Verteidigungsbeitrags mit einer Begünstigung des Kommunismus gleichsetzten. Das hatte weithin Erfolg. Adenauer erreichte in den Bundestagswahlen von 1953 einen entscheidenden Durchbruch, der es ihm ermöglichte, seinen Kurs weiter durchzuhalten.

Stalin und die Frage der Wiederbewaffnung in beiden deutschen Staaten (1950-1952) Der Ausbruch des Korea-Krieges bedeutete auch für den sowjetischen Führer einen tiefen Einschnitt. Er hatte Anfang 1950 zunächst die Angriffspläne Pjöngjangs abgelehnt, dann aber dessen Argument akzeptiert, daß kein Risiko drohe und daß mit einem raschen Erfolg der militärischen Operation zu rechnen sei. Seine Verwirrung war groß, als sich beide Voraussagen als falsch erwiesen. Nachdem der amerikanische Außenminister Dean G. Acheson im Januar 1950 ausdrücklich erklärt hatte, Süd-Korea liege außerhalb des Verteidigungsperimeters der USA, fühlte sich Stalin zudem in eine Falle gelockt. Washington, so schien ihm, hatte in Korea eine Intrige angezettelt, um die westeuropäischen Widerstände gegen eine seitens der USA seit langem geplante Kriegsvorbereitung zu überwinden. Als die drei Westmächte im September 1950 erstmals amtlich von einer westdeutschen Wiederbewaffnung sprachen, schien dies die sorgenvollen Mutmaßungen zu bestätigen. Der Kreml sah eine baldige massive Aufstellung westdeutscher Truppen auf sich zukommen. Die seit dem offenen Ausbruch der Ost-West-Konfrontation im Juni 1947 eingeleitete Integration der Westzonen Deutschlands in den sich formierenden Westblock wurde nunmehr augenscheinlich durch die Bereitstellung »westdeutscher Söldner« vervollständigt. Da sich zugleich eine starke militärische Präsenz der USA auf dem europäischen Kontinent anbahnte, ergab sich in dieser Wahrnehmung die unangenehme Aussicht, daß der größere Teil Deutschlands in eine machtvolle strategische Achse gegen die UdSSR einbezogen werden würde. Angesichts der so gesehenen Herausforderung griff Stalin auf das 1947 geschaffene politische Instrument zurück: auf den Appell an den Einheitswillen der Deutschen. Der Umstand, daß die vorgesehene Wiederbewaffnung in der Bundesrepublik höchst unpopulär war, schien dem erneuten Bemühen um deutsche Sympathien Erfolg zu verheißen. Am 21. Oktober 1950 wandten sich die östlichen Außenminister in Prag an die Öffentlichkeit mit einem Aufruf gegen die westdeutsche »Remilitarisierung« und für die Wiederherstellung eines einheitlichen deutschen Staates. Diesem Auftakt folgte eine intensive innerdeutsche Kampagne unter der Parole »Deutsche an einen Tisch!« Besonderen Wert legten die ostdeutschen Agitatoren und ihre KPD-Gefolgsleute dabei auf die Forderung, es dürften nicht »Deutsche auf Deutsche schießen«. Zugleich wurde überall verbreitet: »Ami, go home!«

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Die östlichen Versuche, die westdeutsche Öffentlichkeit zum Widerstand gegen den angeblich drohenden neuerlichen »Militarismus« zu veranlassen, standen im größeren Zusammenhang einer von der UdSSR seit Beginn der offenen OstWest-Konfrontation in Gang gesetzten internationalen Friedenskampagne. Als Aufhänger diente die Atombombe; der anvisierte Hauptbösewicht war die USA, deren finstere Machenschaften als akute Gefahr für die gesamte Welt hingestellt wurden. Nach Ausbruch des Korea-Krieges wurde dieser Propagandafeldzug weiter verstärkt und um neue Anklagen — wie etwa die frei erfundene Anschuldigung einer bakteriologischen Kriegführung auf der koreanischen Halbinsel — erweitert. Die sowjetische Seite figurierte in allen Selbstdarstellungen als Kern des »Friedenslagers« in der Welt und suchte die pazifistischen und sonstwie kriegsablehnenden Kräfte in den westlichen Ländern für die Zwecke des antiamerikanischen Kampfes zu instrumentalisieren. Dabei wurde der Eindruck erweckt, als wären die Motive des kommunistischen »Friedenskampfes« und der pazifistischen Bemühungen dieselben. An die Adressaten des eigenen Lagers gewandt, erklärten die kommunistischen Politiker und Propagandisten jedoch, daß der zu sichernde Frieden durch Systemkriterien festgelegt werde. Der friedensbedrohende »Militarismus« ergebe sich aus der Existenz nicht von Militär und Rüstung, sondern bestimmter politisch-gesellschaftlicher Bedingungen. Nach dieser Logik war alles Militärische, was in den »imperialistischen« Ländern des Westens vorhanden war, von vornherein als »militaristisch« zu verurteilen, während alle Truppen und Waffen des »Friedenslagers« auch dann, wenn sie weit umfangreicher waren und großen Lebensbereichen einen militärischen Stempel aufdrückten, als friedensdienlich und damit antimilitaristisch zu gelten hatten. Die DDR-Regierung wurde aus Moskau dazu veranlaßt, dem Plädoyer der östlichen Staaten für die Einheit Deutschlands einen ins einzelne gehenden Vorschlag nachzuschieben. Am 30. November 1950 wandte sich Ministerpräsident Otto Grotewohl mit einem Brief an Adenauer und regte an, Verständigung statt Kriegsvorbereitung auf die deutsche Tagesordnung zu setzen. Ein »Gesamtdeutscher Konstituierender Rat« solle auf paritätischer Grundlage aus Vertretern beider deutscher Staaten gebildet werden und die Bildung einer gesamtdeutschen Regierung sowie Bedingungen für die Abhaltung gesamtdeutscher Wahlen vorbereiten. Die östliche Seite verpflichtete sich durch dieses — unermüdlich als großartige Wiedervereinigungsofferte herausgestellte — Anerbieten zu keinerlei Konzessionen. Falls das vorgeschlagene Gremium zustande kam, verfügte das SED-Regime darin von vornherein über die Hälfte der Stimmen und konnte so alle ihm unvorteilhaft erscheinenden Regelungen verhindern. Zudem war die Aussicht auf gesamtdeutsche Wahlen extrem vage gehalten. Es blieb unklar, inwieweit zu irgendeinem Zeitpunkt die Bedingungen dafür als vorhanden angesehen werden konnten, und der Brief ließ auch offen, welcher Wahlmodus gewählt werden könnte und was aus dem Wahlergebnis politisch folgen würde. Aus westdeutscher Sicht ließ sich daher keine Basis für eine irgendwie befriedigende Deutschland-Regelung erkennen. Nach den Vorstellungen, welche die

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demokratischen Parteien der Bundesrepublik seit Anfang 1950 entwickelt hatten, kamen nur uneingeschränkt freie Wahlen als Basis für die Entscheidung über Ordnung und Regierung eines künftigen gesamtdeutschen Staates in Betracht. Daher blieb der Erfolg der östlichen Kampagne weit hinter den Erwartungen ihrer Urheber zurück. Insbesondere gelang es nicht, die gesamtdeutschen Parolen so wirkungsvoll zu gestalten, daß dadurch die gegen die Wiederbewaffnung gerichtete Stimmung in der Bundesrepublik in eine Parteinahme weiter Kreise für die sowjetische Deutschland-Politik transformiert wurde. Nach langem Zögern entschloß sich Stalin angesichts dieser Schwierigkeiten im Frühherbst 1951 dazu, den westdeutschen Wiedervereinigungserwartungen ein Stück weit entgegenzukommen. Nachdem die drei westlichen Außenminister am 14. September die vorgesehenen Verhandlungen mit der westdeutschen Seite über EVG und Souveränität förmlich beschlossen hatten, trat Grotewohl am folgenden Tag auf ein Signal aus Moskau hin mit einer Deutschland-Stellungnahme an die Öffentlichkeit. Er plädierte für eine »gesamtdeutsche Beratung«, deren Thema »freie Wahlen« sein sollten. Zugleich wurde von dem am Ende des Vorjahres formulierten Verlangen nach paritätischer Zusammensetzung des deutsch-deutschen Gremiums Abstand genommen. Das besagte freilich nicht allzu viel, weil alle Beschlüsse ausdrücklich nur auf der Grundlage wechselseitiger Übereinstimmung gefaßt werden sollten. Grotewohl gab auch keine konkreten Hinweise darauf, welcher Art die vorgeschlagenen freien Wahlen sein sollten. Folglich hingen die Wahlmodalitäten von den erst noch zu treffenden einvernehmlichen Entscheidungen der gesamtdeutschen Beratung — und damit von der durch keine vorherige Verpflichtung eingeengten Zustimmung des SED-Regimes — ab. Der Skepsis, die sich alsbald in der Bundesrepublik verbreitete, suchte die DDR-Volkskammer am 9. Januar 1952 mit dem Entwurf eines Wahlgesetzes entgegenzuwirken. Dieses Dokument enthielt freilich bei näherem Hinsehen weithin zweideutige und auslegungsfähige Bestimmungen, die vielfältige Handhaben für Manipulationen boten. Dem westdeutschen — von den Westmächten nachdrücklich unterstützten — Vorschlag, die Freiheit des Wahlvorgangs durch eine internationale Kommission im Rahmen der UNO überprüfen bzw. gewährleisten zu lassen, setzten Ost-Berlin und Moskau anhaltenden Widerstand entgegen. Überdies blieb die Frage nach wie vor unbeantwortet, welche Bedeutung den Wahlergebnissen im Prozeß der deutschen Vereinigung gegebenenfalls zugedacht war. Von dem Angebot einer Wiedervereinigung auf demokratischer Basis konnte nach wie vor keine Rede sein. Der Verlauf der in Westdeutschland durchgeführten Kampagne ließ zudem die sowjetische Erwartung erkennen, daß die dort eingesetzten Kaderapparate imstande sein würden, Teile der westdeutschen »Massen« hinreichend zu Protest und Widerstand gegen die »Remilitarisierungspolitik« in der Bundesrepublik zu veranlassen. Diesem Bemühen war jedoch auch weiterhin nur wenig Erfolg beschieden. Ab Mitte Januar 1952 wurden im Westen bei den sechsseitigen Verhandlungen über die EVG die entscheidenden Hürden genommen. Das konfrontierte

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die Leiter der sowjetischen Außenpolitik mit der unmittelbaren Aussicht auf Aufstellung westdeutscher Truppen. Daher erwirkte nunmehr der stellvertretende Außenminister Andreij A. Gromyko bei Stalin die Genehmigung für das Ingangsetzen einer Notenoffensive, die seit dem Sommer des vorangegangenen Jahres vorbereitet worden war und die inhaltlich bereits im September 1951 die Billigung des sowjetischen Führers erhalten hatte. Wie in Moskau vorher festgelegt, wandte sich die DDR am 13. Februar 1952 an die vier Mächte mit dem Ersuchen, in baldiger Frist eine Wiederherstellung der Einheit des deutschen Staates und den Abschluß eines Friedensvertrages mit Deutschland einzuleiten. Gemäß dem seit langem festliegenden Aktionsprogramm überreichte der Chef der Diplomatischen Mission der UdSSR in der DDR, Botschafter Georgij M. Puschkin, wenig später in Ost-Berlin die zustimmende Antwort der sowjetischen Regierung. Nach einigen Wochen, die den Eindruck einer durch die ostdeutsche Initiative ausgelösten sowjetischen Überlegung hervorzurufen bestimmt war, schickte der Kreml am 10. März 1952 eine seit Monaten bereitliegende Deutschland-Note an die Regierungen in Washington, London und Paris. Darin wurde die Forderung nach Verhandlungen über einen Friedensvertrag mit Deutschland wiederholt. Beigefügt wurden Grundsätze, die für diese Regelung maßgebend sein sollten. Diese waren in der hergebrachten sowjetischen Terminologie gehalten und enthielten kaum Neues, wenn man von der erweiterten Forderung nach nationalen Streitkräften für das vereinigte Deutschland und dem neu formulierten Verlangen nach Zulassung ehemaliger Nationalsozialisten und Militärs zum »demokratischen« Aufbau im Lande absieht. Das entscheidende Novum war die Intensität, mit der sich die sowjetische Regierung für eine Deutschland-Regelung aussprach und damit deutsche Hoffnungen auf die Wiedervereinigung weckte. Das führte — weniger zur damaligen Zeit als einige Jahre später — in der Bundesrepublik zu einer Diskussion darüber, ob es sich bei dieser Offerte um die Gelegenheit zu einer Wiedergewinnung der staatlichen Einheit auf demokratischer Basis gehandelt habe. Aufgrund der Akten, die aus dem Archiv des Moskauer Außenministeriums und neuerdings auch aus dem Archiv des russischen Präsidenten bekannt geworden sind, ist diese Frage negativ zu beantworten. Ebenso lassen die bisher zugänglich gewordenen Dokumente über die Instruktionen der UdSSR und der DDR an die westdeutschen Kommunisten auf andere Zwecke als Verhandlung und Ausgleich schließen. Ihnen zufolge ging es um eine antiwestliche Mobilisierung der westdeutschen Öffentlichkeit mit dem Ziel, in einer ersten Etappe den Sturz Adenauers und seiner Regierung herbeizuführen. Auch ist die Tatsache, daß gleichzeitig Vorbereitungen für Sperrmaßnahmen an der innerdeutschen Grenze und für den forcierten »Aufbau des Sozialismus« in der DDR anliefen, nicht mit der Annahme zu vereinbaren, daß sich die sowjetische Absicht auf einen diplomatischen Dialog gerichtet habe. In die gleiche Richtung weist auch die Tatsache, daß die westlichen Botschaften während des Frühjahrs und Sommers 1952 von so gut wie allen Kontakten zur sowjetischen Regierung abgeschnitten wurden. Während

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der folgenden Wochen und Monate gelang es dem Kreml nicht, die Politik Adenauers innenpolitisch zu konterkarieren. Der entscheidende Grund für den Mißerfolg lag darin, daß Stalin der Sicherung seiner Macht über die DDR den Vorrang vor allen anderen Erwägungen einräumte und daher nicht zu einem substantiellen Entgegenkommen in der Wiedervereinigungsfrage bereit war. Der Fortgang der lange vor 1950 angelaufenen Wiederbewaffnung in der DDR wurde weder durch den Wandel des militärischen Kräfteverhältnisses nach Ausbruch des Korea-Krieges noch durch den Verlauf der gesamtdeutschen Kampagnen beeinflußt. Nachdem bereits bis zum Frühjahr 1950 zahlreiche Heereskader und daneben auch erste Marineverbände in Dienst gestellt worden waren, folgte am 15. November 1951 eine Anweisung Stalins an das Streitkräfteministerium seines Landes, von 1952 bis 1954 220 ostdeutsche Luftwaffenpiloten in der UdSSR auszubilden. Gleichzeitig begann die sowjetische Seite in der DDR, den Grundstock für entsprechendes Bodenpersonal zu schaffen. Des weiteren wurde im Januar 1951 eine Umorganisation der ostdeutschen Landtruppen verfügt. Die bisherigen kleinen, jeweils nur aus Angehörigen einer einzigen Waffengattung bestehenden Einheiten wurden zu größeren gemischten Verbänden, sogenannten »Volkspolizeidienststellen«, zusammengefügt. Auf diese Weise entstanden 24 gleichartig gegliederte und ausgerüstete Kaderformationen mit einer Sollstärke von insgesamt 60 000 Mann. Die Heranbildung des östlichen Militärpersonals vollzog sich weiterhin unter strikter Geheimhaltung. Die Angehörigen der kasernierten Truppen durften sich in der Öffentlichkeit nicht uniformiert zeigen. Der Anschein, daß es sich um bloße Polizeikräfte handele, wurde durch eine das Militärische verfremdende Benennung von Formationen, Dienstgraden und ähnlichem gewahrt. Auf diese Weise suchten sich Besatzungsmacht und DDR vor dem Vorwurf zu schützen, daß sie die Entmilitarisierungsvorschriften der Nachkriegszeit mißachteten und selbst eine — von ihnen in Westdeutschland ständig gerügte — »Remilitarisierung« einleiteten. Dieses Bemühen hatte freilich nur teilweisen Erfolg: Zumindest die westlichen Regierungen waren in groben Umrissen über das östliche Vorgehen informiert. Zugleich erwies es sich im Laufe der Zeit als ein immer schwieriger zu überwindendes psychologisch-politisches Handicap, daß sich die ostdeutschen Soldaten vor der Öffentlichkeit verstecken mußten. Es entstand unter ihnen weithin das Gefühl, kein legitimes Existenzrecht zu besitzen. Auch war es nicht selten bei der Anwerbung von Ausbildungskandidaten ein Problem, daß sich die Betreffenden auf Grund der ihnen gegenüber verwendeten Terminologie auf die Übernahme polizeilicher Pflichten einstellten und dann Widerwillen gegen die ihnen unversehens zugemuteten militärischen Aufgaben zeigten. Daher scheinen wichtige ostdeutsche Persönlichkeiten zu der Ansicht gelangt zu sein, die polizeiliche Tarnung solle möglichst bald abgelegt werden. Die Überlegung gewann um so größere Überzeugungskraft, je mehr der westdeutsche Verteidigungsbeitrag näherzurücken schien.

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Dementsprechend sah das sowjetische Außenministerium in den Entwürfen, die es ab Frühherbst 1951 für eine Deutschland-Note an die drei Westmächte anfertigte, von Anfang an auch die Aufstellung nationaler deutscher Streitkräfte vor. Die entsprechenden Vorschläge in der Note vom 10. März 1952 wurden zum Signal einer Kampagne für die Aufstellung »nationaler Streitkräfte« in der DDR. Anfänglich war noch nicht klar zu erkennen, ob das so propagierte Militär nur in dem geforderten künftigen Gesamtdeutschland oder aber im ostdeutschen Teilstaat seinen Ort haben sollte. Im Laufe des April und Mai 1952 jedoch wurde der Bezug zur DDR immer eindeutiger; zunehmend war von einer »Verteidigung der Heimat« oder vom militärischen Schutz der DDR vor »imperialistischer« Bedrohung die Rede. In den Besprechungen Stalins mit der SEDFührung am 1. und 7. April 1952 spielten die vom ostdeutschen Staat zu ergreifenden militärischen Maßnahmen eine zentrale Rolle. Die Vermutung, daß auf diese Weise eine förmliche Proklamierung der bestehenden Streitmacht zu einer Nationalarmee vorbereitet werden sollte, wird durch verschiedene Vorgänge im Frühjahr und Sommer 1952 gestützt. Die Ablösung des polizeilichen Rahmens durch eine offen militärische Organisation für die kasernierten Kräfte in der DDR war bereits am 1. April 1952 einer der zentralen Gesprächsgegenstände für Stalin und die ostdeutschen Spitzenfunktionäre. In den Dokumenten der 2. Parteikonferenz der SED, die den forcierten »Aufbau des Sozialismus« zum offiziellen Programm erhob, wurde mehrfach »Angehörige der bewaffneten Organe begrüßen die Delegierten der 2. Parteikonferenz der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (Juli 1952)«

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die Schaffung von Streitkräften gefordert. Das paßt zu — freilich unbestätigten — Meldungen, denen zufolge die SED-Führung zuerst auf der Parteikonferenz und dann nochmals zum DDR-Gründungstag im Oktober 1952 mit einem sowjetischen Ja für einen formellen Akt der Gründung eines ostdeutschen Militärs rechnete. Die angeblich fest erwartete sowjetische Zustimmung blieb freilich aus — wahrscheinlich darum, weil sich die westdeutsche Wiederbewaffnung länger verzögerte als in Moskau zunächst erwartet. Angesichts dessen dürfte es dem Kreml nicht mehr zweckmäßig erschienen sein, mit der Aufstellung militärischer Kräfte offen hervorzutreten. Man hätte sich so als Initiator jener »Remilitarisierung« in Deutschland zu erkennen gegeben, gegen die man sich stets propagandistisch gewandt hatte. Auch wäre zu befürchten gewesen, daß sich die in den westlichen Ländern opponierenden und zögernden Kräfte durch östliches Vorpreschen zu einer Änderung ihrer Einstellung gegenüber dem westdeutschen Verteidigungsbeitrag hätten veranlaßt sehen können. Nur wenn man — so wie bei der Proklamierung der DDR im Oktober 1949 — das eigene Vorgehen als Reaktion auf westliche Schritte hinstellen konnte, war dieses mit der nach wie vor laufenden Propaganda für die deutsche Einheit vereinbar.

Die Wiederbewaffnung beider Teile Deutschlands im Vergleich Beim Vergleich der Wiederbewaffnungsvorgänge im Osten und Westen Deutschlands springen gravierende Unterschiede ins Auge. Im Osten wurde der grundsätzliche Beschluß zur Aufstellung von Truppen von der Besatzungsmacht lange vor dem Entstehen eines Staatswesens gefaßt. Seitdem war die Richtung unzweideutig festgelegt, von der dann nicht mehr abgewichen wurde. Der frühe Zeitpunkt der grundlegenden Entscheidung führte dazu, daß sich die sowjetische Seite im Besitz der ausschließlichen Initiative und uneingeschränkten Kontrolle über die weitere Entwicklung befand. Ungeachtet der Zuerkennung innen- und außenpolitischer Kompetenzen an die DDR bei deren Ausrufung im Oktober 1949, behielt die UdSSR ihren bestimmenden Einfluß auf alle politisch wichtigen ostdeutschen Vorgänge während der gesamten hier betrachteten Zeitspanne ohne erkennbare Einschränkungen bei. Im Westen Deutschlands dagegen kamen ernsthafte Überlegungen über die Schaffung eines militärischen Instruments erst nach Beginn der deutschen Staatlichkeit in Gang. Adenauer konnte als gewählter oberster Repräsentant des Volkes von vornherein entscheidend auf die Entwicklungen einwirken. Auf den späten Anfang der Wiederbewaffnungserwägungen folgten allerdings nicht endenwollende weitere Verzögerungen mit dem Ergebnis, daß eine Entscheidung erst 1955 — acht Jahre nach dem entsprechenden sowjetischen Beschluß für den östlichen Landesteil — zustande kam. Die Schwierigkeiten im Westen waren in nur relativ geringem Ausmaß auf die von deutscher Seite gestellten Forderungen zurückzuführen. Vielmehr sorgten primär Konflikte unter

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den westlichen Ländern für die Verzögerungen, während einem Einvernehmen über die maßvollen und realitätsgemäßen Vorstellungen Adenauers niemals unüberwindliche Hindernisse entgegenstanden. Zwischen den Besatzungsmächten und der Regierung des okkupierten Landes kam es zu einem von Interessengemeinsamkeiten und Interessengegensätzen bestimmten Zusammenspiel, welches das wechselseitige Verhältnis zunehmend normalisierte. Aller Hindernisse und Rückschläge ungeachtet, bildete sich tendenziell eine partnerschaftliche Beziehung heraus, die der deutschen Seite allmählich einen gleichberechtigten Status verschaffte. Der Gleichberechtigungsprozeß wurde durch die zwischen den Besatzungsmächten aufbrechenden Konflikte beschleunigt. Es kam dabei immer wieder zu Interessenkoalitionen zwischen der Bundesrepublik und einer der Westmächte, namentlich den USA. Dadurch wurde die anfänglich strikt gewahrte politische Einheitsfront der Besatzungsmächte gegenüber den Besetzten zuerst relativ und dann gänzlich aufgelöst. Adenauer und seine Berater sahen sich zwar zunächst von den Beratungen und Entscheidungen der Westmächte ausgeschlossen und erhielten vielfach nicht einmal Kenntnis von wichtigen Entwicklungen der innerwestlichen Auseinandersetzung, aber binnen Jahresfrist gelang es ihnen, diese diskriminierende Behandlung zunehmend einzuschränken. Auch bezüglich der Verhandlungsergebnisse setzten sie im Laufe der Zeit immer mehr Gleichberechtigung durch. Die in den Verträgen von Paris und Bonn im Mai 1952 enthaltenen Regelungen wiesen allerdings noch erhebliche Schönheitsfehler auf; sie konnten sich aber insgesamt schon sehen lassen — und das nicht nur, wenn man die dadurch geschaffene Lage mit der früheren Situation verglich. Das alles steht in auffälligem Gegensatz zum militärischen Aufbau in der Sowjetzone bzw. DDR, wo die wesentlichen Maßnahmen stets allein auf Betreiben der Besatzungsmacht getroffen wurden. Unter den im Reich Stalins herrschenden Systembedingungen waren Auseinandersetzungen über die der deutschen Seite einzuräumenden Rechte von vornherein undenkbar. Mit diesem Tatbestand kontrastriert der äußere Anschein. Während die Truppen der Bundesrepublik von vornherein in internationale Strukturen eingegliedert werden sollten, blieb das ostdeutsche Militär separat und somit scheinbar national und selbständig. Dieses ließ sich daher im Widerspruch zu den realen Gegebenheiten als eine nationale Streitmacht hinstellen, als später offiziell von einem aus Deutschen bestehenden Militärverband die Rede sein durfte. Demgegenüber figurierte der erwogene westdeutsche Verteidigungsbeitrag seit den ersten »Remilitarisierungs«-Anklagen gegen den Westen in den späten vierziger Jahren in der östlichen Darstellung stets als eine Söldnertruppe, die für fremde Zwecke »verheizt« werden solle. Der Umstand, daß die Bundesrepublik ein Kontingent zu einer europäisch oder ähnlich benannten internationalen Armee stellen sollte, w u r d e als offenkundiger Beweis für diese Anklage angeführt. Bei dieser Darstellung w u r d e das Spezifikum des sich herausbildenden westlichen Konzepts der Integration außer Betracht gelassen. Dieses machte

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das nicht nur im Osten, sondern auch im Westen bestehende Bedürfnis, deutsche Waffenträger auswärtiger Kontrolle zu unterstellen, für die westdeutsche Seite annehmbar, indem die Partner gleichermaßen übernationale Pflichten und Auflagen übernehmen mußten. Das damit eingeführte Prinzip der Wechselseitigkeit eliminierte den Diskriminierungseffekt, der andernfalls für die Bundesrepublik auf dem heiklen Feld der Wiederbewaffnung unausweichlich gewesen wäre. Das galt allerdings zunächst mehr prinzipiell als real. In den praktischen Details wurden Bonn anfänglich sehr viele einseitige Einschränkungen mit diskriminierender Wirkung zugemutet. Die langen Verzögerungen, die bei der ab 1950 geplanten Wiederbewaffnung immer wieder eintraten, bewahrten freilich die westdeutsche Seite weithin davor, daß diese Zumutungen praktische Wirklichkeit wurden. Als Ergebnis langwieriger Verhandlungen wurden die anfänglich vorgesehenen Benachteiligungen meist schon wieder beseitigt, ehe sie in die Praxis umgesetzt waren. Das ergab sich unter anderem daraus, daß die EVG niemals Wirklichkeit wurde. Die Bonner und Pariser Verträge von 1952 hatten noch erhebliche Diskriminierungen enthalten, die dann aber im Herbst 1954 bei den Gesprächen über eine Ersatzlösung weitgehend abgebaut wurden. Dafür verzögerte sich freilich auch die Ablösung des Besatzungsstatuts bis Mai 1955. Informell jedoch wurde die Bundesrepublik, nachdem sie Verträge ratifiziert hatte, weithin schon so behandelt, als wären diese bereits wirksam. Mit dieser Entwicklung kontrastierte die Entwicklung im östlichen Teil Deutschlands: Dort wurden generell keine Grenzen für die von der sowjetischen Besatzungsmacht beanspruchten Befugnisse festgelegt. Schon 1949 fehlte dort jene — wenn auch noch geringe — Selbstbeschränkung, die sich die drei westlichen Staaten gegenüber der Bundesrepublik auferlegten, indem sie ihre Befugnisse im Besatzungsstatut formulierten und damit begrenzten. Auch in der Folgezeit ist — zumindest bis zum Sommer 1953 — kein Indiz dafür festzustellen, daß sich die sowjetischen Okkupationsbehörden der Möglichkeit begeben hätten, beliebig in die Angelegenheiten der DDR einzugreifen. Diese Lage muß vor dem Hintergrund der Tatsache gesehen werden, daß die UdSSR innerhalb ihres Lagers — also auch dort, wo sie keine Besatzungsrechte geltend machen konnte — grundsätzlich überall die letzte Entscheidung für sich in Anspruch nahm.

Ausgewähltes Literaturverzeichnis Nachfolgend sind nur Buchwerke und — soweit solche fehlen — auch Einzelaufsätze aufgeführt, die von zentraler Wichtigkeit für das Wiederbewaffnungsthema im engeren Sinne sind. Nicht berücksichtigt werden daher Untersuchungen über den weiteren politischen Kontext. Der Autor stützt sich allerdings in großem Umfang auf diese hier ungenannte Literatur. Diese besteht, was die neueren, auf der Verwertung von Archivdokumenten der frühe-

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ren UdSSR und DDR beruhenden Unternehmungen anbelangt, derzeit noch weithin aus verstreuten Aufsätzen und unpublizierten Arbeitspapieren. Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945-1956, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Bd 1: Von der Kapitulation zum Pleven-Plan. Mit Beiträgen von Roland G. Foerster, Christian Greiner, Georg Meyer, Hans-Jürgen Rautenberg und Norbert Wiggershaus, München 1982; Bd 2: Die EVG-Phase. Mit Beiträgen von Lutz Köllner, Klaus A. Maier, Wilhelm Meier-Dörnberg und Hans-Erich Volkmann, München 1989; Bd 3: Die NATO-Option. Mit Beiträgen von Hans Ehlert, Christian Greiner, Georg Meyer und Bruno Thoß, München 1993; Die Deutschlandfrage von der staatlichen Teilung Deutschlands bis zum Tode Stalins, hrsg. vom Göttinger Arbeitskreis, Berlin 1994. Wilhelm Pieck — Aufzeichnungen zur Deutschlandpolitik 1945-1953, hrsg. von Rolf Badstübner und Wilfried Loth, Berlin 1994. Hermann-Josef Rupieper, Der besetzte Verbündete. Die amerikanische Deutschlandpolitik 1949-1955, Opladen 1991 (= Studien zur Sozialwissenschaft, Bd 95). Hans-Peter Schwarz, Adenauer. Der Aufstieg: 1876-1952, Stuttgart 21986. Die westliche Sicherheitsgemeinschaft 1948-1950. Gemeinsame Probleme und grundsätzliche Nationalinteressen in der Gründungsphase der Nordatlantischen Allianz, im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von N. Wiggershaus und R.G. Foerster, Boppard 1988 (= Militärgeschichte seit 1945, Bd 8). Volksarmee schaffen — ohne Geschrei! Studien zu den Anfängen einer »verdeckten Aufrüstung« in der SBZ/DDR 1947-1952, hrsg. von Bruno Thoß, München 1994 (= Beiträge zur Militärgeschichte, Bd 51). Gerhard Wettig, Entmilitarisierung und Wiederbewaffnung in Deutschland 1943-1955. Internationale Auseinandersetzungen um die Rolle der Deutschen in Europa, München 1967 (= Schriften des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Bd 25). Ders., Neue Erkenntnisse aus sowjetischen Geheimdokumenten über den militärischen Aufbau in der SBZ/DDR 1947-1952, in: MGM, 53 (1994), S. 399-419.

Rolf Friedemann Pauls Adenauer und die Soldaten Im Herbst 1948 wollte der Präsident des Parlamentarischen Rates, Konrad Adenauer, eine Beurteilung der militärischen Sicherheitslage von einem dazu befähigten Soldaten hören. Ich schlug über Adenauers engen Berater Herbert Blankenhorn meinen Regimentskameraden Generalleutnant a.D. Hans Speidel vor. Ich hatte Speidel als Ordonnanz- und Generalstabsoffizier im Krieg gedient, in West und Ost und das letzte Kriegsjahr wieder im Westen. Im Drama des Krieges und der Diktatur waren wir Freunde geworden. Er war nach dem 20. Juli 1944 als Chef des Generalstabs der Heeresgruppe des Feldmarschalls Erwin Rommel verhaftet worden und hatte überlebt. Er war politisch ohne Tadel und fachlich hoch befähigt. Nach dem Vortrag schien Adenauer etwas irritiert zu sein, weil dieser General, hoch kultiviert, erlesen eloquent, historisch-politisch gebildet, so ganz anders war, als er sich einen General vorgestellt hatte. Vielleicht war er ihm auch zu politisch, nicht innenpolitisch, aber außenpolitisch zu interessiert. Es blieb ein Spannungsverhältnis. Als Jahre später Charles de Gaulle Speidels Abschied aus seinem NATO-Kommando verlangte, weil dieser in einem Buch die Rolle der französischen Streitkräfte in der Invasionsschlacht wirklichkeitsnäher dargestellt hatte, als de Gaulle es sehen mochte, folgte der Bundeskanzler diesem Wunsch. Sein zweiter früher Berater, Generalleutnant Adolf Heusinger lag ihm mehr. Er war leise und freundlich, hatte viel von einem Gelehrten an sich, der zwar brillant ist, aber nicht brilliert. Von allen Generälen der Bundeswehr hat Adenauer ihn wohl am meisten geschätzt. Ein Jahr später begleitete ich Adenauer auf dem Weg von der ersten Bundeskanzlei, dem Museum König, zum Palais Schaumburg. Wir gingen an der Villa Hammerschmidt vorbei, in der noch der Belgische Kommandierende General residierte. Davor ein Doppelposten unter Gewehr. Als wir ihn passierten, deutete Adenauer auf die Soldaten und sagte: »Das wollen wir auch wieder haben.« Ich hatte das Gefühl, daß er es mehr zu sich als zu mir sagte. Als ich es Blankenhorn erzählte, war der kaum erstaunt: »Das wird auf uns zukommen.« Adenauers Vater war in jungen Jahren mit Auszeichnung und Beförderung Soldat gewesen, hatte dann aber seine Laufbahn im Justizdienst gemacht. Konrad Adenauer selbst hatte nicht gedient. Seine Heimatstadt Köln war schon gegen die Kurfürstlichen Erzbischöfe aufmüpfig gewesen und 1815 nur ungern zu Preußen gekommen. Man sah alles Staatlich-Preußische weitgehend synonym mit Militär.

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Seine Jugend fiel in die vom Kulturkampf überschattete katholische Realität Kölns, in dem die politische Meinung stark vom oppositionellen Zentrum bestimmt wurde. Nichts Militär-Freundliches! Nach dem Ersten Weltkrieg hatte er in dem entmilitarisierten Rheinland kaum Kontakte mit Offizieren. Das Offizierskorps der Reichswehr galt als der Republik gegenüber reserviert, der er als Präsident des Preußischen Staatsrates diente. Aus den 30er und späteren Jahren sind kritische Äußerungen von ihm bekannt geworden. Er war auch an sich schon anderen gegenüber reserviert. Hier wohl vermehrt. Aber er hat auch gute Erfahrungen mit Offizieren gemacht. So hat ihm Major Hans Schliebusch im September 1944 bei der Flucht geholfen. Er beobachtete Menschen sehr scharf. Der hochintelligente und auch außerordentlich kluge Mann war ganz und gar Realist. So war für ihn ein Staat nur dann wirklich souverän, wenn er auch über Militär verfügte. Ein Staat ohne jedes Militär sei kein Staat. So hat er früh, ehe ein Heer geplant werden konnte, dafür gesorgt, daß der Bund in der Form des Bundesgrenzschutzes eine Polizeitruppe bekam. Die Ironie wollte es, daß dieser große Herr und ganz Zivilist, der er war, in Erscheinung und Auftreten wie ein Kommandierender General allerbesten Typs wirkte. Er strahlte Autorität aus, wie ich es sonst nur noch bei dem chinesischen Außenminister Chou-En-Lai empfunden habe, der von Adenauer immer als »Ihr alter Herr« sprach. Der Zugang zum Militär liegt bei Adenauer in seinem Verhältnis zur Macht. Er war alles andere als ein Imperialist. Aber er war von der Notwendigkeit von Macht, staatlicher Macht, überzeugt und davon, daß ein Staat nur, wenn er sich verteidigen könne, überlebensfähig sei und daher ohne Militär nicht auskomme. Er war kein Intellektueller, sondern ein Tatmensch. Er konnte zaudern. Aber wenn er sich zum Handeln entschlossen hatte, setzte er alle Kraft und Geduld für die Durchsetzung ein. So war sein Verhältnis zu Militär und Offizierskorps nicht persönlich, sondern institutionell und unsentimental. Er brauchte die Institution aus politischer Notwendigkeit, nicht als letzten Sinn der Macht, sondern als friedenssicherndes Element. Bei seinem hochentwickelten Sinn für Repräsentation sah er den Nutzen des Militärs für diesen Zweck und er wollte, daß es sich, den Staat und auch ihn gut und werbend präsentierte. Ja, auch ihn, denn kein Element der neuen Staatlichkeit war so sehr sein Geschöpf, wie die Sicherheitspolitik und diese Bündnisarmee. Adenauer sah die Existenzbedrohung der jungen Bundesrepublik durch die sowjetische Macht und Politik voller Sorge und war überzeugt, daß wir von den anderen zu unserem Schutz nicht mehr verlangen konnten, als wir selber zu geben bereit waren. Aber er sah auch die deutsche Chance, durch eine volle Teilnahme an der Sicherung des Westens Niederlage und Unterwerfung unter das Besatzungsregime zu überwinden, ohne diesen Einsatz aber auf halbem Wege steckenzubleiben. Dazu brauchte er Soldaten, brauchte er Streitkräfte, ohne die er keine Rückkehr in die Souveränität sah, ohne an die Wiederherstellung überholter Zustände zu denken. Er brauchte die Truppen nicht um ihrer

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selbst willen, sondern als politisches Instrument. Er sah voller Sorge die sowjetische Bedrohung, aber auch die in ihrer Meisterung liegende staatsmännische Chance. Deshalb kam es ihm bei der Wiederbewaffnung auch zunächst und vor allem auf Quantität, auf politisch bald wirksame Masse an, nicht so sehr auf Qualität der Truppe, von der er auch noch keine rechte Vorstellung haben konnte. Adenauer ist Gefühlskälte vorgeworfen worden. Ich meine, zu Unrecht. Er war zurückhaltend, aber nicht gefühlskalt. Er konnte, wo er die Notwendigkeit sah, sehr fürsorglich sein und sich so auch äußern und handeln. Die Fürsorge für die Soldaten hat ihn vom Anfang der Bundeswehrpolitik an beschäftigt. Er wollte keine Europäische Armee und war besorgt, daß eine nationale Armee den »Generalen in den Kopf steigen« könne. Er äußerte 1954 dem amerikanischen Außenminister John Foster Dulles gegenüber seine Sorge vor einer Wiederkehr der »Preußischen Militärkaste« und ließ sich unterrichten, wie die Amerikaner das Problem der politischen zivilen Kontrolle lösten. Das System, das für diese Art von Kontrolle der jungen Bundeswehr entwickelt wurde, war stark beeinflußt von dem ostentativen Mißtrauen des Kanzlers gegenüber den Generalen beziehungsweise Offizieren. Die politische bzw. zivile Kontrolle wurde dabei verfassungsgemäß zu einer Kontrolle der Soldaten durch Beamte, wobei einige, die aus der nächsten Umgebung Adenauers kamen, eine maßgebliche Rolle spielten. Das war wenig hilfreich für die Entwicklung eines modernen Stils einer eigenen Persönlichkeit in dem neuen Offizierskorps. Wenn das nicht mehr Schaden angerichtet hat, so war es ein Verdienst des sich unermüdlich aber glücklos in seiner Aufgabe verzehrenden Theo Blank und der menschlichen und fachlichen Qualität seines Stabes. Das unbestreitbare Versagen der Marschälle und der hohen Generale — mit wenigen tragischen Ausnahmen — gegenüber Adolf Hitler war tendenziös zu einer besonderen Schuld der Offiziere insgesamt hochstilisiert worden, als ob andere Gruppen und Schichten heldenhaft widerstanden hätten, und nicht Offiziere, wenn auch zu spät, letztlich etwas getan hatten. Der Kanzler selbst hat den verfassungsgemäßen Primat der Politik nicht verfremdend überinterpretiert, hat diese Übertreibung aber geduldet. Die Politik der Wiederbewaffnung war wenige Jahre nach dem Kriegsende nicht nur außenpolitisch riskant, sondern aus der Urangst vor dem Krieg vor allem innenpolitisch ein unerhörtes Wagnis, das seine von ihm geführte Partei bei der nächsten Wahl ins Abseits stürzen konnte und noch Schlimmeres als das. Adenauer war sich darüber völlig klar und hat darum mit sich und in Gesprächen mit anderen gerungen. Da zeigte sich, daß das deutsche Volk damals so große Politik und soviel Mut, oder war es Tapferkeit, richtig zu verstehen und zu würdigen wußte. Daraus resultierte 1957 die einzige absolute Mehrheit einer Partei auf Bundesebene. Er lernte auch alle militärischen Führer der verbündeten Mächte kennen und hörte ihnen konzentriert zu. Mit seinem hellwachen Sinn und Blick für das We-

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sentliche erwarb er sich eine sichere Kenntnis der großen Zusammenhänge und wichtiger Einzelheiten auf diesem, ihm fremd gewesenen Gebiet, das aber ein unerläßlicher Bestandteil internationaler Beziehungen war und bis heute geblieben ist. Der Kanzler folgte stundenlangen Diskussionen auch über ihm nicht so naheliegende Gebiete wie z.B. militärische oder auch Etatfragen mit völlig gelassener konzentrierter Aufmerksamkeit. Wenn dann der Eindruck entstand, die Diskussion falle auseinander und wiederhole sich, dann war es ein unbeschreibliches Vergnügen mitzuerleben, wie er das Wort nahm und aus dem Stegreif ganz knapp und klar auf das Wesentliche konzentrierend das ihm Genehme und Erwünschte plastisch skizzierte und zum Konsens aller Beteiligten erhob. Der Meister hatte gesprochen. Ihm zuhörend konnte man erleben, daß glasklare, holzschnittartige Formulierungen nicht Ausdruck eines simplen Gemüts sind, sondern Ergebnis eines höchst intensiven, komplizierten Denkprozesses, der zu klaren, einfachen Resultaten führte und diese unverschnörkelt ausdrückte. Er vermochte zu vermitteln, daß ausgreifendes Reden oft Ausdruck eines noch nicht abgeschlossenen, sondern sich ergehenden Denkprozesses ist, nicht aber Zeichen eines besonders reichen und umfassenden Geistes seines DiskussiManöverbesuch 1958. V.l.n.r.: Bundesminister für Verteidigung Franz Josef Strauß, Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer, Inspekteur des Heeres Generalleutnant Hans Röttiger

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onspartners. Vom Temperament her und aus der Geschichte hatte Konrad Adenauer sicher keine Vorliebe für das Militärische und für Soldaten. Aber es vervollkommnet das Instrumentarium des Staatsmannes. Das heißt, zur Rückgewinnung und zur Sicherung des Friedens kommt er ohne dieses Mittel nicht aus. Wie immer er Soldaten gegenüber gefühlt hat, als ihr verantwortlicher Oberfehlshaber hat er sich bestimmt gefühlt und das mit Recht.

Gerhard Kunze Feind und Kamerad Fünf Jahre nach der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands am 3. Oktober 1990 sind die Ansichten zur deutschen Geschichte von 1945 bis 1990 geteilt. Viele ehemalige ostdeutsche Militärs sahen ihre Biographie zerstört, als ihre nach dem bisherigen Recht der DDR bestehenden soldatischen Rechte und Pflichten erloschen. Die eigene Identität zu behalten heißt für mich aber, die eigene Vergangenheit nicht zu leugnen, sie richtig zu bewerten, die Gegenwart vorbehaltlos anzunehmen und die Zukunft aktiv mitzugestalten. Meine Darlegungen möchten einen Beitrag zum Verständnis der Handlungsmotive meiner Generation leisten.

Vom Pimpf zum Soldaten der Wehrmacht Als Sohn eines Bergmannes im Mansfelder Land 1923 geboren, hatte ich keine andere Wahl, als die Volksschule zu besuchen. Schul- und Lehrzeit 1930-1941 fielen mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten zusammen. Natürlich wurde mein kindliches Weltbild davon mitgeprägt. Vater, Bruder und die Männer meiner Schwestern hatten wieder Arbeit. Ihr Einkommen stieg. Das Leben wurde leichter. Mutter verdiente mit Näharbeiten dazu. Da mein Lehrer Rühlmann Reserveoffizier der Wehrmacht war, hat er wohl auch Gefühle für militärische Disziplin und Patriotismus in uns geweckt. Ich las gerne Abenteuer-, Reise- und Forschungsberichte. Die dörflichen Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten, SPD-Leuten, Deutschnationalen und Nationalsozialisten ließen uns Kinder ziemlich unberührt. Mit zehn Jahren wurde ich 1933 trotzdem ein begeisterter Pimpf bei der Hitler-Jugend und freute mich über die erste Uniform. Es machte Spaß, mit gleichaltrigen Jungen zu marschieren und Manöver zu spielen. Fahrten, Lager und Aufmärsche waren für uns immer Ereignisse, die den tristen dörflichen Alltag belebten. Daß wir damit für den geplanten Krieg vorbereitet wurden, ahnte kaum einer von uns. Eine Uniform mit bunter Schnur zu tragen und anderen Befehle erteilen zu können, fand ich erstrebenswert. Unsere Lieder besangen die Fahne, »die mehr als der Tod« sein sollte und den »Führer«, dem »wir gehören wollten«. Ich bewunderte die »Helden« in Feldgrau, Marine oder Fliegerblau, und machte mir keine Gedanken über die Rechte anderer Völker.

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Als Freiwilliger für »Großdeutschland« Nach der Lehrzeit 1941 erhob sich die Frage: Was nun? Werde ich durch das Werk unabkömmlich gestellt und als Drehergeselle weiter beschäftigt oder bald als Soldat einberufen? Ich wartete nicht ab, sondern nutzte die Möglichkeit, mich freiwillig für die Ausbildung an einer Unteroffiziersschule zu bewerben und verpflichtete mich für zwölf Dienstjahre. Wer wie ich aus Arbeiterverhältnissen stammte, ging meist aus Versorgungsgründen zur Armee. Nach zwölfjähriger Dienstzeit erlangte man den Anspruch auf eine Beschäftigung im Staatsdienst mit Pensionsberechtigung — und sei es als Postbeamter oder Dorfpolizist. Unteroffiziere der Wehrmacht hatten in der Regel eine gute pädagogisch-didaktische, waffentechnische und militärtaktische Ausbildung. Sie waren meist nicht, wie oft hingestellt, die dummen, brutalen Driller und Menschenschinder. Sogar in der Kriegszeit erhielt ich eine zweijährige Ausbildung an den Heeresunteroffiziersschulen Treptow, Putlos und Eisenach 1941/42. Unsere Ausbilder waren fronterfahrene Unteroffiziere und Offiziere, mit hohen Kriegsauszeichnungen dekoriert. Die Unteroffiziersschüler wurden deutschnational hoch motiviert, aber nicht unbedingt mit nationalsozialistischer Parteiideologie infiziert. Wir waren überzeugte Soldaten für Deutschland. Als die 6. Armee 1942 in Stalingrad unterging, meldeten sich alle Schüler freiwillig an die Front. Den ab 1942/43 als Ausbilder zur Unteroffiziersschule für schnelle Truppen (Eisenach) kommandierten SS-Scharführern begegneten wir ablehnend. Meine Kommandierung zur Truppe, zur Stammdienststelle des Panzerregimentes der Division »Großdeutschland« in Cottbus, war eher Zufall, es hätte auch eine normale Panzerdivision oder eine SS-Panzerdivision sein können. Die Zeit in Cottbus verlief ganz angenehm. Man ließ uns noch einmal das Leben in vollen Zügen genießen, bevor es im April 1943 an die Ostfront ging. Im Raum Poltawa angekommen, ging es mit LKW weiter nach vorn. Unsere Panzer hatten noch Afrika-Tarnanstrich und wir versahen sie mit schwarzen Flecken. Bewegt wurden sie erst beim Marsch in die Ausgangsstellung. Wir marschierten in der Nacht, und ich empfand es noch als romantisch, grüne Leuchtspurstreifen am Himmel zu sehen. In den frühen Morgenstunden des 5. Juni 1943 war die Idylle zu Ende. Die Kompanie, in Keil vorwärts aufgefahren, geriet unter Artilleriefeuer und es gab die ersten Verluste. Dazu gehörte auch mein Zugführer, ein Oberleutnant. Das Signal »Vorwärts« empfanden wir Stunden später als Erlösung. Das war eigentlich immer so. Wenn der Panzer sich bewegte, w u r d e man ruhig, wenn er stand, stellte sich ein Gefühl der Hilflosigkeit ein. In den nächsten Tagen versetzte mich der erfolgreiche Vorstoß in einen Kampfrausch. Ich schoß mehrere T-34 ab. Die erste Unterbrechung erfuhr dieser Rausch, als unser Panzer auf eine Mine fuhr. Dabei flog die vordere Laufrolle weg, und der Boden unter dem Fahrersitz wurde zerfetzt. Dem Funker riß es den rechten Fuß bis zu Wade ab. An einem der nächsten Tage, wir standen auf einer Höhe vor einem Flüßchen, wurden wir bombardiert. Meinem Kommandanten riß es den Kopf ab und ich

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trat an seine Stelle. Nicht lange danach wurde mein Panzer abgeschossen. Von der Besatzung überlebten nur zwei Mann, doch eine Kampfpause erhielt ich nicht. Man gab mir das Kommando eines Panzer III mit 5-cm-Kanone. Die Teilnahme als Panzerkommandant an der Kursker Schlacht 1943, am Kampf im Baltikum 1944 und in Ostpreußen 1945 waren Zäsuren meines Lebens. Während der ersten Einsätze in der Kursker Schlacht noch sehr draufgängerisch, wurde der Angriffsgeist angesichts der erlebten eigenen Panzerverluste und Mißerfolge immer verhaltener. Nach mehrmaligem Wechsel von Panzer und Besatzung war ich, ausgezeichnet mit dem Eisernen Kreuz, im September 1943 froh, unverwundet das Schlachtfeld vorläufig verlassen zu können. Wir hatten, dem Motto der Division »Großdeutschland — die Feuerwehr« entsprochen. Da unsere Abteilung fast alle Panzer verloren hatte, wurden die überlebenden Panzerleute zur Neuaufstellung in die Heimat gebracht. Die Umschulung auf den neuen Panzer »Panther« im Winter 1943/44 und die Neuaufstellung der Panzerabteilung in Frankreich hoben die Stimmung etwas. Bald darauf verlegten wir im Eisenbahntransport der Kanalküste entgegen. Den Diskussionen über die beste Abwehrstrategie der erwarteten alliierten Invasion — entweder Vernichtung auf See und bei Anlandung durch sofortigen Gegenschlag oder Zerschlagung der Hauptkräfte nach ihrer Anlandung — hörten wir zweifelnd zu. Als es soweit war, wurde unsere Panzerabteilung auf dem Marsch zur Front gestoppt und erneut an die Ostfront verlegt. Was mir von diesen Tagen in Erinnerung blieb, war die totale Luftüberlegenheit der Alliierten. Die »Lightnings« machten fast ungehindert auf jeden einzelnen Panzer Jagd. Während der Bahnfahrt gen Osten erlebten wir wiederholt Luftangriffe auf deutsche Städte. Die Eisenbahnstrecken waren jedoch immer schnell zur Weiterfahrt hergestellt. Die brennenden Städte weckten in uns den Haß auf die Anglo-Amerikaner und belebten den Kampfwillen neu. In Kaunas (Litauen) entladen, erfolgte sofort der Angriff in Richtung Wilna. Auf dem Weg zur Front trafen wir auf zurückflutende demoralisierte deutsche Truppen. Die Landser begrüßten uns »Großdeutsche« mit dem Ruf »Kriegsverlängerer«. Im August 1944 erreichten die Kämpfe erstmalig die deutschen Grenzen. Das war für uns ein Schock. Was, wenn die Russen mit ihren Panzern erst auf der Autobahn marschierten? Der Krieg, der Not und Tod gebracht hatte, bedrohte nun das eigene Vaterland. Auch an anderen Fronten ging es zurück. Als nach dem 20. Juli 1944 auch Offiziere meiner Einheit durch die Geheime Staatspolizei (Gestapo) verhaftet wurden, ohne auf Gegenwehr zu stoßen, war meine Bestürzung ehrlich. Jetzt versuchte ich eher am Hinterhang in Deckung zu bleiben, als für meine Panzerkanone Schußfeld zu finden. Bei den Märschen kam es immer wieder zu Treffen mit Flüchtlingen, die mit ihren Fuhrwerken die Straßen verstopften. Die Menschen mußten alles zurücklassen, Haus und Habe — sogar ihre Toten. Wir sahen unvorstellbares Leid. Irgendwie erreichten wir Ende Februar den Raum westlich von Königsberg. Nach einigen Stunden Pause ging es zum Angriff, um einen Korridor zur Stadt freizukämpfen.

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Am Stadteingang, völlig abgekämpft und übernächtigt, verlor ich im Artilleriefeuer die Beherrschung und wurde in ein Königsberger Lazarett gebracht. Zum Glück konnte ich die Stadt noch verlassen und zu meiner Einheit gelangen. Als ich schließlich am 18. März 1945 gefangen genommen wurde, empfand ich das als Erlösung von ständiger Todesangst. Selbst die Prügel, die ich bezog, schienen mir verständlich, denn ich trug die Panzeruniform mit den Totenköpfen am Kragenspiegel und den Ärmelstreifen »Großdeutschland«. Wir sagten uns, lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende. Wenn ich heute zurückblicke und überlege, ob bei mir als Soldat der deutschen Wehrmacht besondere Gefühle der Feindschaft oder des Hasses auf die sowjetischen Menschen vorhanden waren, sage ich »Nein«; eher Angst vor dem Tod, schwerer Verwundung oder »Sibirien« herrschten vor. Es war ein Glück, daß ich den Krieg überlebte.

Vom Vojna plertni (Kriegsgefangenen) zum Soldaten der DDR Der Marsch in die Gefangenschaft, die Transporte und ersten Lagerjahre 1945/46 waren vom Kampf ums Überleben, gegen Hunger und Seuchen geDeutsche Kriegsgefangene im Klubzimmer vor der Wandzeitung der Antifa-Lagergruppe

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prägt. Im ersten großen Lager wurden wir erneut »gefilzt« und entlaust. Aus dem Dampfbad kommend, wurde die Panzeruniform gegen eine alte russische mit der Aufschrift »VP« getauscht. Anstelle der Stiefel erhielten wir Holzschuhe. Im Lager Wilna mußten wir barfuß in glühender Sonne den ganzen Tag Steine klopfen. Die Füße waren durchgebrannt und es bildeten sich schmerzhafte Abszesse. Wer Glück hatte, wurde zu Entladearbeiten von Hülsenfrüchten eingeteilt. Man aß sich am geschälten Hafer satt und füllte Linsen, Erbsen und Buchweizen in die Taschen. Auf den Kanonenöfen im Lager standen dann Büchsen, in denen die gehamsterten Körner garten. Als 1947 Spezialisten gesucht wurden, meldete ich mich sofort und wurde in einem Kfz-Reparaturwerk der Armee als Dreher eingesetzt. Ab April 1948 war ich als Bestarbeiter an der Antifa-Gebietsschule in Wilna. Unsere Aufzeichnungen machten wir mit Bleistiftstummeln auf Packpapier. Alles für uns Neue nahmen wir sehr aufmerksam auf. Nach drei Monaten schickte man mich nicht ins Lager zurück, sondern zum weiteren Studium auf die Hochschule 20/40 in Ogre bei Riga. Es begann eine Zeit der intensiven ideologischen Indoktrination. Die Zentralschule unterstand dem Befehl der Sowjetarmee, die allgemeine Lagerordnung und den Tagesablauf organisierten dagegen die späteren Generale der NVA, Helmut Borufka und Heinz Zorn. Das Studium marxistischer Literatur und die auf hohem Niveau stehende intensive Ausbildung beeindruckten mich sehr und ließen mich bewußt sozialistische Theorien und Ideale aufnehmen. Von November 1948 bis Dezember 1949 hatte ich als Assistent die Möglichkeit, noch tiefer in die Wissenschaft vom Sozialismus einzudringen. Von außerordentlicher Wirkung waren die praktizierten Selbsteinschätzungen der Hörer vor der ganzen Klasse. Diese führten zum besseren Verständnis der Motive und charakterlichen Eigenschaften der Teilnehmer, aber auch in Einzelfällen zur Entlarvung von »Kriegsverbrechern«. Das Sechs-Monate-Programm der Zentralschule 20/40 sah unter anderem folgende Kurse vor: - Philosophie; - dialektischer und historischer Materialismus; - politische Ökonomie des Kapitalismus und Sozialismus; - Geschichte der Arbeiterbewegung; - Kulturgeschichte und Weltliteratur; - Staatsaufbau und Rechtswesen; - Journalistik. Zum Atheisten wurden wir schnell gemacht; denn die Kriegszeit mit ihren Schrecken hatten den religiösen Glauben, der nie tief saß, fast ganz abgetötet. Gott war ja auch nicht mit uns gewesen. Mit dem wissenschaftlichen Sozialismus taten wir uns schon schwerer. Die Lehre von den Klassen und dem Klassenkampf, von Staat und Revolution, Basis und Überbau, Produktivkräften und Produktionsverhältnissen war nicht einfach zu begreifen. Über Verbrechen, die im Auftrag und Namen Stalins unter dem Deckmantel des Kampfes gegen die Volksfeinde verübt wurden, hörten wir nichts.

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Durch die schrecklichen Kriegserlebnisse und -folgen angeregt, fragten wir unsere Lehrer, wie Kriege entstehen, und warum die Völker nicht friedlich miteinander leben können. Daß der Krieg die bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei, las ich zuerst in Lenins Lektion über »Krieg und Revolution«. Mit der Tiefe der philosophischen Gedanken von Carl v. Clausewitz, »daß der Krieg ein wahres politisches Instrument, eine Fortsetzung des politischen Verkehres, eine Durchführung desselben mit anderen Mitteln ist«, konnte ich mich dagegen erst 1957 vertraut machen. Die damalige wie heutige Schlußfolgerung daraus ist: Man muß auf die herrschenden gesellschaftlichen Zustände des Landes einwirken, um eine friedliche Politik durchzusetzen. Daß der Staat und die Revolution zu ihrer Verteidigung Streitkräfte brauchen, ist uns an der Zentralschule anhand geschichtlicher Beispiele ebenfalls verdeutlicht worden. Wir Absolventen der Zentralschule fühlten uns als Revolutionäre mit hohen moralisch-ethischen Ansprüchen an die eigene Lebensweise. Wir verfolgten auch die Entwicklung in Deutschland und Europa. Mit Sorge erfüllte uns die 1948 immer stärker Wirklichkeit werdende Spaltung Deutschlands und die Teilung Europas in zwei Machtblöcke. Natürlich wurden wir auf die sowjetische Deutschlandpolitik und die von der SED dominierte »Volkskongreßbewegung für Einheit und gerechten Frieden« eingeschworen. Nach der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik am 7. Oktober 1949 war der Drang, in die Heimat zurückzukehren, besonders stark geworden. Bei meiner Rückkehr aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft war ich nicht bereit, mich als »Militarist« bezeichnen zu lassen, folgte aber trotzdem der Werbung zur Volkspolizei (VP), in die ich am 1. Januar 1950 mit dem Dienstgrad »Meister der VP« eingestellt wurde. Die Entscheidung dafür ergab sich folgerichtig aus meinen Erkenntnissen und den während der Gefangenschaft gereiften Überzeugungen. Die junge antifaschistisch-demokratische Ordnung mußte auch polizeilich gesichert werden. Es gab auch kaum eine andere mir zusagende Perspektive. Als ich mich im Januar 1950 bei den Behörden im Heimatort meldete, wurde mir angeboten, in einem Bergwerk zu arbeiten. Wie es dort aussah, hatte ich während der Lehrzeit gesehen und erlebt, wie Vater und Bruder sich kaputtgearbeitet hatten. Das wollte ich nicht. Außerdem entsprach der uniformierte Dienst meiner Mentalität. Pflichtgefühl, Ordnungssinn und Disziplin waren uns ja anerzogen. Am 15. Januar 1950 meldete ich mich bei meinem höchsten Vorgesetzten, Generalinspekteur Heinz H o f f m a n n in Berlin-Wilhelmsruh und wurde in der Abteilung Schulung eingesetzt. Ende Januar überredete mich Kurt Schützle, ein Kamerad aus Gefangenentagen, in die »Hauptverwaltung für Ausbildung« (HVA) überzutreten, da hier die Perspektiven besser als in der VP seien. Als »großdeutscher« Panzerunteroffizier hatte ich mich um die Ausbildung von Panzeroffizieren zu kümmern. Generalmajor Fritz Köhn, der damalige Kaderchef der HVA, sagte mir zur Begrüßung: »Bei uns können Sie General werden, aber auch schnell alle Dienstgrade wieder verlieren.« Seine Worte bewahrheiteten sich positiv. In der

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Dienststellung als Stellvertreter des Chefs des Hauptstabes der NVA erreichte ich den Dienstgrad Generalleutnant und erhielt hohe Auszeichnungen. Als Chef der 6. Kompanie an der Offiziersschule Priemerwald war ich für die Ausbildung von etwa einhundert jungen Leuten verantwortlich. Kommandeur der Schule war der hochdekorierte Bruno Kollitsch. Obwohl es an Gerät und Anschauungsmaterial fehlte, waren die Schüler alle eifrig bei der Sache. Auch die neuen Lieder gefielen mir sehr, denn wir wollten »eine bessere Zukunft aufbauen« und »unserem einig Vaterland zum Frieden dienen«. Trotz Ausbildung im Schnellverfahren mußten alle die Prüfungen bestehen. Die kurzfristige Ausbildung und fehlende Praxis in der Menschenführung wirkten sich später negativ in ihren Dienststellungen aus. Bereits im April 1950 kam ich als Stellvertreter des Kommandeurs der 6. VP-Bereitschaft nach Apollensdorf. Am neuen Standort herrschte Hektik. Die gesamte Führung der Bereitschaft war abgelöst, an Ausbildung nicht zu denken. Die jungen Volkspolizisten sahen sich während ihres Wachdienstes immer bedroht und es kam nachts zu unsinnigen Schießereien. Ende April/Anfang Mai wurde die Bereitschaft nach Burg bei Magdeburg verlegt. Nachts fuhren wir unsere sechs T-34 durch die Stadt in die Kaserne Waldfrieden, damit kein Bürger sie sah. Hier stand Gelände in Kasernennähe zur Verfügung, und die Ausbildung wurde neu organisiert. Viel zu schnell wurde ich im Juni zur HVA nach Berlin versetzt. Inspekteur Helmut Borufka wurde mein Chef. Wir überarbeiteten die in Wünsdorf erarbeiteten Ausbildungsprogramme in Tag- und Nachtarbeit und brachten sie für die VP-Bereitschaften in verständliches Militärdeutsch. Von August 1951 bis August 1952 besuchte ich den Lehrgang für Panzerregimentskommandeure in Privolsk. Noch in Privolsk erhielten wir Kenntnis von der Bildung der Kasernierten Volkspolizei (KVP) am 1. Juli 1952. Befürchtungen, bei dieser Reorganisation übergangen zu werden, erfüllten sich nicht. Nach meiner Rückkehr wurde ich in der Abteilung »Operative Schulung« der »Operativen Verwaltung« der HVA eingesetzt. Ich erhielt den Dienstgrad Major. Mein Vorgesetzter, Generalmajor Kurt Wagner, der zwölf Jahre im Zuchthaus Waldheim inhaftiert war, sorgte sich sehr um mich. Die Hauptverwaltung organisierte den Übergang zu neuen militärischen Strukturen, Territorialverwaltungen, mechanisierten und Panzerverbänden sowie deren Ausbildung. Der Dienst in der KVP war sehr anstrengend und ließ den Soldaten kaum freie Zeit. Die Trennung von den Problemen des zivilen Lebens wirkte sich so aus, daß wir im Juni 1953 die im Rundfunk übertragenen »Krawalle« in Berlin als Hörspiel auffaßten. Nach meiner Rückkehr aus dem Urlaub wurde mir jedoch schnell klar, daß es sich um ernsthafte Ereignisse handelte. Die »Operative Verwaltung« der HVA organisierte die Verlegung von VP-Bereitschaften nach Berlin und ihr Zusammenwirken mit sowjetischen Truppenteilen. Die größte Sorge war, daß die Alliierten eingreifen könnten. Das Kräfteverhältnis und die politische Interessenlage ließen jedoch keinen offenen Zusammenstoß zwischen der UdSSR und den USA zu. Die Unruhen brachen unter sowjetischem Waffeneinsatz bald zusammen. Dazu trugen auch die von der Partei eingeleiteten Reformen im Arbeitsalltag

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bei. Im übrigen fehlten eine zentrale Führung durch eine organisierte Oppositionsbewegung und eine breitere Massenbasis. Die im Juli 1953 folgende Gründung von Kampfgruppen der Arbeiterklasse diente der inneren Ablenkung und Disziplinierung der Arbeiterschaft in der DDR. Später wuchs jedoch die Überzeugung von der Gerechtigkeit des Schutzes der eigenen Betriebe. Aus den Hundertschaften wurden motorisierte Bataillone, ausgerüstet mit Schützenpanzern, Panzer- und Fliegerabwehrwaffen. Die Ausbildung der Kampfgruppen oblag der VP. Die Ausrüstung wurde ebenfalls dort unter Verschluß gehalten. 1989 verweigerten die Kampfgruppenkommandeure jedoch den Einsatz gegen die demonstrierenden Massen. In der Abteilung Operative Schulung bestand meine Aufgabe weiterhin darin, Lektionen zu den verschiedensten militärischen Themen zu erarbeiten. Auch zur Einzelleitung in den Streitkräften mußte ich einen Vortrag ausarbeiten, den ich dann vor der Leitung der HVA zu halten hatte. Dabei stieß ich auf scharfen Widerspruch bei den Vertretern des Politapparates. Nur der Verweis auf Vladimir I. Lenin, der auf dem III. Kongreß der Volkswirtschaftsräte 1920 formulierte: »Jetzt geht die allgemeine Tendenz dahin, das Prinzip der Einzelleitung als das einzige richtige Prinzip der Arbeiterorganisation einzuführen«, und auf Michail V. Frunse, der in seiner Rede »Bilanz und Perspektiven des militärischen Aufbaus« 1925 gesagt hatte: »Unter Einzelleitung ist die Vereinigung der operativen, administrativen und wirtschaftlichen Funktion in einer Person zu verstehen«, rettete mich vor vollständigem Verriß. Streit gab es auch um die persönliche Anrede in der KVP. Er wurde vor dem Hintergrund der Distanzierung von alten Wehrmachtserinnerungen und -bräuchen ausgetragen. Wenn schon nicht mehr »Kamerad«, dann wollte man lieber »Herr« sein. Die Anrede »Herr« brachte nicht nur den für die Disziplin erforderlichen Abstand, sondern drückte formal auch eine gewisse Achtung vor dem Gegenüber aus. Die Partei entschied jedoch bald, die Anrede »Genosse« einzuführen. Damit wurden Gegensätze verdrängt und der Eindruck einer größeren Gemeinsamkeit aller Dienstgrade erzeugt. Als nach Beschluß der Volkskammer vom 18. Januar 1956 das Gesetz über die Schaffung der NVA und des Ministeriums für Nationale Verteidigung erlassen war, erhielt ich im Februar meine Versetzung zum Kommando des Militärbezirkes V als »Leiter Operativ« und wurde zum Oberstleutnant ernannt. In den nun folgenden Jahren des forcierten Aufbaus der Streitkräfte der DDR konnte ich als Stabsarbeiter im Stab einer Division des Militärbezirks und im Ministerium für Nationale Verteidigung erfahren, wie recht Marschall Boris M. Saposnikov hatte, der in seiner Schrift »Hirn der Armee« schrieb: »Der Weg eines Stabsarbeiters ist ein schweres Unterfangen, und jeder soll sich darüber Rechenschaft geben, der ihn beschreitet.« Er forderte, sich den auch im deutschen Generalstab gültigen Satz: »Mehr sein als scheinen«, zu eigen zu machen. Ich habe versucht, seinen Rat zu befolgen.

Georg Meyer Drei deutsche Generale. Dienst in der Diktatur und im Spannungsfeld des Kalten Krieges Auf die Gestaltung zweier ganz verschiedener Armeen in Deutschland nach 1945 haben drei Generale ähnlichen Herkommens, gleicher Prägung und beinahe gleichaltrig, unterschiedlichen Einfluß genommen: Adolf Heusinger, geboren 1897, Sohn eines Gynmasialdirektors im Herzogtum Braunschweig; Hans Speidel, geboren im gleichen Jahr, Sohn eines hohen Forstbeamten im Königreich Württemberg, und Vincenz Müller, geboren 1894, Sohn eines Rotgerbermeisters und Zentrums-Abgeordneten im Landtag des Königreiches Bayern — alle drei Abiturienten humanistischer Gymnasien, und alle drei miteinander bekannt. Heusinger und Speidel, beide Infanteristen, sind als Frontsoldaten des Ersten Weltkrieges Offiziere geworden, mit ganz unzulänglicher, allenfalls zweckgerichteter Kurzausbildung. Der Krieg selbst, der frühe Einsatz als Gruppen- und Zugführer, lehrte sie das militärische Handwerk. Müller, im Minenkrieg und als Führer einer Flammenwerfer-Kompanie eingesetzt, hatte ihnen längere Erfahrungen an der türkischen Front und eine kurze Friedensdienstzeit als Einjährig-Freiwilliger voraus im königlichen bayerischen Kontingent und dann als Fahnenjunker im einzigen Pionier-Bataillon des XIII. (Königlich Württembergischen) Armeekorps. Heusingers Lebensweg ist — abweichend von Speidel und Müller — besonders gekennzeichnet durch Kriegsgefangenschaft von Juli 1917 (Beginn der Somme-Schlacht) bis Anfang November 1919, »unverschuldet in englische Gefangenschaft geraten«, lautet der Vermerk im Personalnachweis. Aber die Zeitläufte hielten für ihn, wie auch für Speidel und Müller, noch weitere Lebenserfahrungen hinter Gefängnismauern und Stacheldraht bereit. Diese drei im Kriege herangewachsenen Offiziere repräsentierten im Reichsheer eine Zwischengeneration, die den von Seeckt — Chef der Heeresleitung bis Ende 1926 — angestrebten Anpassungs- und Amalgamierungsprozeß verschiedentlich vor Probleme stellte. Ohne sentimentale Bindimg an die angestammten Herrscherhäuser, aber auch noch keine »Vernunftrepublikaner«, standen sie, von manchen Vorgesetzten beargwöhnt wegen eigener moderner Gedanken und im Kriege gewonnener innerer Selbständigkeit, zwischen den älteren, in den vier Armeen des Kaiserreichs geprägten Offizieren und den dann erst in die Reichswehr eintretenden, nach der Jahrhundertwende geborenen Offizieranwärtern.

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Heusinger und Müller sammelten noch für sie wesentliche Erfahrungen im Nachkrieg, letzterer im Grenzschutz Ost und im Baltikum, Heusinger während der dem Kapp-Lüttwitz-Putsch folgenden bürgerkriegsähnlichen Kampfhandlungen in Thüringen im Frühjahr 1920. Sein Bataillonskommandeur bescheinigte ihm danach, in der Bearbeitung der »politischen Angelegenheiten ... ein hervorragender Mitarbeiter« gewesen zu sein, »was besonders in jenen unruhevollen Märztagen 1920 zu Tage trat«. Speidel, der unterdes ein den Dienst begleitendes Studium der Geschichte und Nationalökonomie an der Universität Tübingen aufgenommen hatte, und Müller begegneten sich persönlich dann so intensiv, daß jeder des anderen Wesensart genau kennenlernen konnte, während zweier Jahre ab 1920 auf dem Führergehilfenlehrgang beim Stuttgarter Wehrkreis, der getarnten Ausbildung zum Generalstabsoffizier. Müller, mit ähnlich weitgespannten geistigen Interessen wie Speidel, verband diese Zeit mit einigen Semestern Kunstgeschichte an der Technischen Hochschule Stuttgart. Danach begann er unmittelbar, unterbrochen nur 1926/27 durch das dritte Jahr der Führergehilfenausbildung in Berlin, eine intensive politische Lehrzeit und wurde im Oktober 1923 in das Reichswehrministerium (Truppenamt) als »Bürooffizier« zum damaligen Oberstleutnant Kurt v. Schleicher versetzt. Auf dem heiklen Sektor der Landesverteidigung und des Grenzschutzes mit Mobilmachungsvorbereitungen beauftragt, gewann er viel Einblick in innen- und außenpolitische Zusammenhänge und Wirtschaftsfragen, vertieft noch in den weiteren Jahren seiner Verwendung in der Wehrmachtsabteilung und des daraus hervorgehenden Ministeramtes im Reichswehrministerium, stets in unmittelbarer Nähe Schleichers, dem er lebenslang Verehrung bewahrte. Heusinger und Speidel führte 1929/30 das dritte Jahr ihrer Ausbildung zum Führergehilfen in Berlin zusammen, nach deren Abschluß sich alle drei Offiziere, in den gehörigen Abständen zu Hauptleuten befördert, im Reichswehrministerium begegneten, in ihren Begabungen gemäßen Verwendungen. Mit Sicherheit haben Heusinger und Müller am 25. und 26. November 1932 an dem vom amtierenden Reichswehrminister, General der Infanterie v. Schleicher, anberaumten Planspiel teilgenommen, bei dem unter Annahme einer besonders ungünstigen Ausgangslage geprüft worden ist, ob die Reichswehr und alle für die innere Sicherheit des Staates verantwortlichen Einrichtungen und Behörden imstande sein könnten, durch eine mit allen Vollmachten ausgestattete Notstandsregierung Hitler und der nationalsozialistischen Bewegung den Weg zur Macht zu verlegen. Die Reichswehr, so das Ergebnis, wäre außerstande, die öffentliche Ordnung selbst beim Bruch der Verfassung und in Überschreitung der dem Reichspräsidenten ohnehin zur Verfügung stehenden Ausnahmerechte aufrechtzuerhalten. Mit großer Wahrscheinlichkeit würden die Notstandsmaßnahmen gerade den breiten Widerstand der als noch weit gefährlicher angesehenen kommunistisch geführten gewaltbereiten Massen auslösen und zum Bürgerkrieg aller gegen alle führen, ganz abgesehen von in dieser Situation nicht auszuschließenden ausländischen Interventionen. Heusinger gehörte damals der

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Abteilung Τ 1 des Truppenamtes an, die operative Angelegenheiten, »Verwendung der Truppen«, bearbeitete. Müller, inzwischen Kompaniechef im Münchner Pionierbataillon 7, war nicht zum ersten Mal in besonderer Mission nun zu diesem Planspiel ausdrücklich nach Berlin gerufen worden. Schon im Juli 1932 hatte er im Auftrage Schleichers tatkräftig an den militärischen Vorbereitungen des Berliner Wehrkreises III zum »Preußenschlag« der Regierung Papen — die verfassungswidrige Absetzung der preußischen Staatsregierung und die Einsetzung Papens als Reichskommissar für Preußen — mitgewirkt. Daß die bei diesem Planspiel einkalkulierten Verstöße gegen die Verfassung des Reiches nichts waren gegen die Maßnahmen Hitlers, der — den fortgesetzten Bruch des Ministereides eingeschlossen — vom ersten Tag seiner »Machtergreifung« an diese Verfassung mit Füßen trat, konnten Heusinger und Müller in diesen Novembertagen nicht ahnen. Wenn sich bei dieser durchaus wirklichkeitsnah konstruierten Veranstaltung bei ihnen Bedenken regten, mögen sie sich wohl darauf beschränkt haben, daß eine drakonische Militärdiktatur zur Gefahrenabwehr bei Suspendierung demokratischer Zustände, und seien sie noch so zerrüttet wie in dieser Phase des Verfalls der Weimarer Republik, keineswegs als Heilmittel erschien, obwohl bei näherer Betrachtung der europäischen Staatenwelt damals autoritäre Regierungsformen ohne demokratische Legitimation keineswegs vereinzelt waren. Speidel war es über die nächsten Jahre vergönnt, neben Verwendungen als Kompaniechef und Bataillonskommandeur und längerem Dienst im Truppengeneralstab seine besondere Zuneigung zu französischer Sprache, Geistigkeit und Kultur pflegen zu können, in steter Berücksichtigung der Schwierigkeiten des deutsch-französischen Verhältnisses dieser Zeit. Müller gewann erste Eindrücke von der Sowjetunion und der sorgfältig getarnten militärischen Zusammenarbeit von Reichswehr und Roter Armee während eines Aufenthaltes in der Sowjetunion 1930 und geriet nach der Ermordung seines einstigen Vorgesetzten, des Generals v. Schleicher (im zeitlichen Zusammenhang mit dem sogenannten »Röhmputsch« 1934), in zunehmenden inneren Gegensatz zu den Gewaltmethoden des nationalsozialistischen Regimes. Speidel, stets gefördert durch den Chef des Generalstabes des Heeres, General der Artillerie Ludwig Beck, teilte in guter Kenntnis des militärischen Potentials in Europa frühzeitig dessen wachsende Vorbehalte gegen Hitlers Kriegskurs. Solche Bedenken hegte auch Heusinger seit 1938/39. Er tat nach kurzer Zeit als Kompaniechef 1934/35 in Paderborn und anschließender Verwendung als Erster Generalstabsoffizier der 11. Division in Alienstein (Ostpreußen) seit August 1937 Dienst in der Operationsabteilung des Generalstabes des Heeres, der er dann ohne Unterbrechung bis zum 20. Juli 1944 angehörte, seit August 1940 Chef dieser Abteilung. Seine Skepsis trug er freilich nicht zu Markte, so wenig wie mit guten Gründen auch der überaus vorsichtige Speidel und auch Müller, bei aller ihm sonst eigenen, oft unbeherrschten Dynamik. Müller, seit 1937 Erster Generalstabsoffizier im Heeresgruppenkommando 2 (Kassel, später Frankfurt a.M.), hatte dort das Vertrauen seines bayerischen

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Landsmannes, General der Artillerie Wilhelm Ritter v. Leeb — 1939/40 Oberbefehlshaber der Heeresgruppe C im Westen — u n d dessen Nachfolger vor Kriegsausbruch, General der Infanterie Erwin v. Witzleben, mit Mobilmachung Ende August 1939 Oberbefehlshaber der 1. Armee an der Westfront. Im Winter 1939/40 ist Müller unbedingt der Militäropposition im Westen zuzurechnen, und nicht nur, weil er — wie auch Leeb und Witzleben — eine Fortsetzung des Krieges als verhängnisvoll ansah. Hitlers Sieg im Westen, gerade auch gegen starke Bedenken der Militärs, ließ zunächst jede weitere Opposition verstummen. Müller, ausgestattet mit ausgeprägtem Selbstbewußtsein und viel Ehrgeiz, hat sich jedoch nicht blenden lassen, da ihm frühzeitig die drohende Gefahr der völligen Entgrenzung des Krieges in Europa bewußt wurde. Seit Jahresende 1940 Chef des Generalstabes der 17. Armee, einer Neuaufstellung für den Krieg gegen die Sowjetunion, erhielt er in der Person des Generals der Infanterie Karl-Heinrich v. Stülpnagel einen Oberbefehlshaber, dessen konsequente Einstellung gegen das nationalsozialistische Regime Müller nicht verborgen bleiben konnte. Wenn Oberbefehlshaber und Chef des Generalstabes dieser Armee es nicht schon vor Ausbruch der Feindseligkeiten wußten, daß dieser Krieg auch als erbitterte ideologische Auseinandersetzung eine ganz andere Dimension haben würde als die Feldzüge bisher — von den planmäßigen Ausrottungen in Polen wußten sie ja —, so sahen sie sich bald durch die Kenntnis von Mordaktionen der Einsatzkommandos des Sicherheitsdienstes der SS (SD) im rückwärtigen Armeegebiet als Mitwisser verbrecherischer Maßnahmen verstrickt, was beider Abscheu vor dem Regime nur noch steigerte. Stülpnagel erreichte als persönliche Konsequenz seine Ablösung nach etwas mehr als 100 Tagen im Felde. Müller war dieser Ausweg verschlossen, und unter rasch wechselnden Oberbefehlshabern in den folgenden Monaten — Hoth, Ruoff, Jänecke — hatte er auch, auf das Kampfgeschehen konzentriert, keine Gelegenheit mehr, nach Gleichgesinnten Ausschau zu halten und Anschluß an Widerstandskreise zu finden. Er mußte einen eigenen Weg suchen und beschreiten. Er sah ihn dann im Chaos der Niederlage der Heeresgruppe Mitte, als er — inzwischen stellvertretender Führer des XII. Armeekorps, nach Verwendungen als Divisionskommandeur und Führer einiger Korpsverbände —, in sowjetische Gefangenschaft geraten, den eingeschlossenen führungslosen Resten der 4. Armee den Befehl gab, den nicht nur aus seiner Sicht sinnlos gewordenen Kampf einzustellen. Konsequent schloß er sich dann sogleich dem Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD) und dem Bund Deutscher Offiziere (BDO) an, in der allerdings irrigen Annahme, in diesen sowjetisch und kommunistisch dominierten Propaganda-Instrumenten selbständige politische Gestaltungsmöglichkeiten zu finden. Speidel war nach dem Frankreich-Feldzug fast zwei Jahre lang Chef des Kommandostabes des Militärbefehlshabers Frankreich. In dieser Eigenschaft unternahm er in schwieriger Stellung viel, verständnisvoll unterstützt von Beamten der Zivilverwaltung, im Einvernehmen mit dem Militärbefehlshaber, General der Infanterie Otto v. Stülpnagel, damit die Besatzungsherrschaft nicht als

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willenloses Instrument des Terrors empfunden wurde. So waren Stülpnagel und er bemüht, nach Attentaten drakonische Vergeltungsmaßnahmen von der Bevölkerung abzuwenden, wie sie Hitler forderte. Nachdem aber die polizeiliche Exekutive im besetzten Frankreich ab Frühjahr 1942 in die Hände des SD und der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) geriet, mag er die Verwendung als Korps-, dann als Armeechef an der Ostfront von Frühjahr 1942 bis Frühjahr 1944 durchaus als Befreiung von schwerer, belastender politischer Verantwortung aufgefaßt haben. Daß in dieser Zeit, als er an der Ostfront war, gerade in Paris in seinem alten Stab und bei anderen militärischen und zivilen Stellen im besetzten Frankreich intensiv über Maßnahmen zum gewaltsamen Sturz des nationalsozialistischen Unrechtsregimes nachgesonnen wurde, ist ihm nicht verborgen geblieben. So kehrte er im April 1944 als Chef des Generalstabes der Heeresgruppe Β (Oberbefehlshaber: Generalfeldmarschall Erwin Rommel) in eine ihm wohl vertraute Atmosphäre zurück. Daß die militärische Lage angesichts der seit längerem erwarteten angloamerikanischen Invasion, der gänzlich in die Defensive geratenen Ostfront und wegen des Vordringens der Alliierten in Italien eigentlich grundsätzliche politische Schritte erforderte, war seinem Oberbefehlshaber durchaus klar, der sich ja auch Sondierungen Carl Friedrich Goerdelers und des Stuttgarter Oberbürgermeisters Karl Strölin nicht verschloß. Rommel und Speidel handelten in der Abwehr der Invasion tatkräftig und entschlossen, soweit Gegenwehr bei der materiellen und personellen Überlegenheit noch möglich war. Sie stimmten auch überein in der Verachtung Hitlers — eine schwere Auseinandersetzung mit Hitler am 17. Juni 1944 in Margival raubte Rommel die letzten Illusionen —, und verabscheuten zunehmend dessen Herrschaft. Es bleibt aber der Spekulation überlassen, welchen Verlauf der 20. Juli an der Westfront auch bei dem mißglückten Attentat genommen hätte, wäre Rommel nicht am 17. Juli bei einem Tieffliegerangriff schwer verwundet worden. Ob vielleicht ein handlungsfähiger Rommel, einer der letzten hochrangigen deutschen Militärs mit noch diskontfähiger Unterschrift, ergänzt durch die diplomatischen Begabungen seines Chefs, den aussichtslosen Kampf im Westen nicht doch durch einen beherzten Entschluß hätte beenden können? Solcher Verdacht und seine nicht verborgen gebliebenen engen Verbindungen zu den Verschwörern in Paris brachten Speidel in Gestapo-Haft. Nur die entschiedene Intervention des Generalobersten Heinz Guderian im von Hitler befohlenen »Ehrenhof« bewahrte ihn vor der Ausstoßung aus dem Heere, die gleichbedeutend mit dem Todesurteil des Volksgerichtshofes gewesen wäre. Bis Kriegsende dann im Gewahrsam der Heeresjustiz, glückte es Speidel mit großem Geschick, sein und nicht weniger Mithäftlinge Leben bei einem gefahrvollen Transport durch Deutschland zu retten, bis er schließlich am Bodensee durch französische Truppen befreit wurde. Heusinger stand seit Herbst 1938 in ständigem vertrauensvollen Kontakt mit einigen hohen Offizieren, die über die Jahre hinweg bis zu ihrem gewaltsamen Lebensende konsequent der Militäropposition zuzuzählen sind — dem damali-

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gen Oberquartiermeister I im Generalstab des Heeres, General der Infanterie Karl-Heinrich v. Stülpnagel, dem Chef des Heeresnachrichten-Verbindungswesens, General Erich Fellgiebel und General Eduard Wagner, Generalquartiermeister des Heeres, voran der von ihm stets verehrte einstige Chef des Generalstabes des Heeres Ludwig Beck. Besonders eng verbunden blieb er mit seinem einstigen Untergebenen in der Operationsabteilung, Oberst Henning v. Tresckow, mit dem er wieder und wieder seit 1942 nicht nur die Frage erörterte, wie die militärische Niederlage überhaupt noch abzuwenden sei, sondern auch, wie Hitler ausgeschaltet werden könnte. Heusinger teilte dabei Tresckows Auffassung nicht, erst sei einmal Hitler zu beseitigen, und dann sehe man weiter, sondern er war von tiefer, wachsender Skepsis erfüllt: es genüge eben nicht, meinte er, den Kapitän von der Brücke zu schießen. Das Schreckens- und Unrechtsregime könnte sich als überraschend stabil erweisen, was die Wahrscheinlichkeit eines Bürgerkrieges einschließe und die Belastung der Opposition durch eine Neuauflage der Dolchstoßlegende, wie sie die Weimarer Republik schleichend vergiftet hatte. Und wie würde das Ausland reagieren? Würde es Entgegenkommen zeigen? Beim Attentat verwundet, und aus dem Lazarett in Haft genommen, konnte Heusinger nur mit großem Geschick gegen ihn erhobene Vorwürfe und schwere Anschuldigungen abwehren, indem er — nicht ungefährlich für ihn — in den wochenlangen Verhören einen Nebenkriegsschauplatz eröffnete und einräumte, an Überlegungen zur Entmachtung Hitlers in dessen Eigenschaft als Oberbefehlshaber des Heeres und der Veränderung der Befehlsstruktur beteiligt gewesen zu sein. Auch retteten ihn Widerrufe zweier todgeweihter Kameraden, die ihn zuvor in ihren Aussagen lebensbedrohend belastet hatten. Speidel und er sahen sich unvermutet im Gestapo-Gefängnis Prinz-Albrecht-Straße, ohne daß sie jedoch ein Wort miteinander wechseln konnten. Heusinger, seit seiner Entlassung aus der Haft im September 1944 weiter in Verdacht, geriet Anfang Mai 1945 nicht ohne eigenes Zutun in amerikanische Kriegsgefangenschaft, entlassen — dann als Zivilinternierter — Anfang des Jahres 1948. Elf Monate dieser Zeit — in einigen Intervallen — verbrachte er im Nürnberger Gerichtsgefängnis, dabei auch die Nacht der Hinrichtungen der Hauptkriegsverbrecher, 15./16. Oktober 1946. Alle drei Generale können in ihrer inneren Einstellung als Verächter, ja Gegner Hitlers angesehen werden, mit — zum Teil in den wechselnden Dienststellungen begründet — unterschiedlich großer Nähe zum militärischen Widerstand. Aber sie zogen — Heusinger und Speidel — ganz andere Konsequenzen aus der zweiten militärischen Katastrophe, verbunden mit einem Staatszusammenbruch ohne Beispiel, die sie — wie Vincenz Müller — so bewußt erlebten wie die erste Niederlage 1918, angeschlossen damals eine revolutionäre Umwälzung. Besonders radikal vollzog Müller seinen Bruch mit der Vergangenheit. Geleitet von der für ihn auch persönlich bitteren Einsicht, bisher Intelligenz, Tatkraft und Leistung auf einem politischen Irrweg vertan, ja, einem als verbreche-

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risch erkannten System gedient zu haben, setzte er nun auf die sowjetische Karte in der Annahme und der Hoffnung, daß die durch mancherlei wohlklingende Vokabeln gekennzeichnete Deutschlandpolitik Stalins ihm ein seinen Begabungen und Vorstellungen gemäßes Betätigungsfeld eröffnen könnte. Das gelang zwar in recht erstaunlicher Weise für eine ganze Weile — aber seine politische Konzeption, eigentlich nur romantisches Spielmaterial, erwies sich als ungeeignet für die problematische Dekade seit 1950, sein letztes Lebensjahrzehnt. Er blieb stets Patriot, und vorbehaltlose Unterwerfung unter eine Ideologie war seine Sache nicht. Aber die seltsame Mischung aus einem modernisierten Tauroggen-Komplex, verbunden mit Anleihen an eine in seinen Augen auf mehr als Interessenausgleich ausgerichtete »Ostpolitik« Bismarcks, dazu noch Reminiszenzen an die Zusammenarbeit von Reichswehr und Roter Armee, über die er so viel wußte wie sonst keiner, und ein entschiedener Anti-Amerikanismus, war für die praktische Politik untauglich. Das eine oder andere Ingrediens erschien bekömmlich, jedoch nicht in der Vermengung. Und in der Anwendung verfuhr er zudem mehr nach der finassierenden Methode seines listenreichen Lehrherrn Kurt v. Schleicher, als es mit der Beharrlichkeit und Geduld Gustav Stresemanns zu versuchen. Wer mitreden will, muß dabei sein, mag seine Devise gewesen sein. So suchte er nach der Entlassung aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft im September 1948 politischen Einfluß zu gewinnen in einer beinahe auf ihn passend zugeschneiderten Blockpartei, der Nationaldemokratischen Partei »Deutschlands«, als Vizepräsident der Volkskammer (1950/52), als Stellvertreter des Ministers und Chef des Hauptstabes beim Aufbau der Kasernierten Volkspolizei und der Nationalen Volksarmee der DDR. Nur zu bald mußte er aber zu der Erkenntnis gelangen, daß man sich seiner wohl nur als Aushängeschild bediente. In der Kasernierten Volkspolizei (KVP), 1956 zur NVA umbenannt, beargwöhnte ihn die neue kommunistisch-proletarische Führungsschicht — der Armeegeneral Heinz Hoffmann verbirgt in seinen Erinnerungen seine Vorbehalte gegen Müller nicht, der wiederum Hoffmanns Eignung bezweifelte —, bei sowjetischen Politikern fand er nicht den erhofften Rückhalt. Auch die Regierung der DDR ist seinen Ratschlägen nicht gefolgt, selbst wenn sie seinen Gesprächen mit dem Bundesminister der Finanzen, Fritz Schäffer, Ende 1956 zunächst keine Hindernisse in den Weg gelegt hat. Schäffer sondierte im Auftrag und mit Wissen des Bundeskanzlers Konrad Adenauer bei Müller und sowjetischen Gesprächspartnern wegen der Möglichkeiten einer deutschen Konföderation — Gedanken, die sich natürlich mit der Vorstellungswelt Müllers gut vertrugen. Sein Einfluß in der DDR ist von westlicher Seite stets überbewertet worden, so daß es nicht verwunderlich ist, daß sich auch die »Organisation Gehlen« dafür interessierte, wes Geistes Kind Müller nun war. Dabei wollte man natürlich nicht seine neue Loyalität ins Wanken bringen und verschonte ihn ganz mit Fragen nach seinen militärischen Aufgaben — Fragen, die eine Sondierung auch sogleich zum Scheitern gebracht hätten. Man beobachtete seinen Weg aufmerksam, begründet auch damit, wenn man schon über die anderen führenden

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Persönlichkeiten in der DDR und deren »bewaffneten Organen« wenig wisse, man immerhin doch Vincenz Müller von früher kenne. In einer komplizierten Operation mit dem Decknamen SCHWABEN haben von 1950 bis 1954 eine ganze Reihe von Gesprächen Müllers mit dem Oberst a.D. Hermann Teske — ehedem Bevollmächtigter Transportoffizier im Generalstab AOK 17 — stattgefunden, auch unter gelegentlicher Vermittlung des Obersten a.D. Max Kemmerich, 1932 Leutnant in Müllers 2. Kompanie/Pionierbataillon 7 (München). Es kam diesen ganz folgenlosen Gesprächen zugute, daß alle Beteiligten unterschiedlich intensiv vom Tauroggen-Bazillus infiziert waren, bis hin zu Gedankengängen aus den 20er Jahren, in denen die Reichswehr als Klammer der Einheit des Reiches figurierte. Maßgeblichen Einfluß auf die Formung der NVA hat Müller auch nicht erlangt. Mit Gedanken an eine »Armee neuen Typus« hielt er sich nicht auf — ihm ging es wohl nur darum, ein effektives Machtmittel aufzubauen, im Sinne seiner Ideen einer glücklichen Synthese von deutscher Intelligenz und russischem Potential, um einen neuen deutschen Irrweg zu vermeiden.

Generalleutnant Vincenz Müller (links) beim Abschreiten einer Formation der NVALuftstreitkräfte

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Der nachrichtendienstliche Kanal, nach der Affäre um den zeitweiligen Aufenthalt des Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Otto John, im sowjetischen Machtbereich seit Juli 1954 zunächst verschüttet, dann wieder offengehalten allein zum Zwecke loser Kontaktpflege ohne politischen Hintergrund, bestand bis zu Müllers Tod. Seltsame Umstände dieses Lebensendes am 12. Mai 1961 nährten in Ost und West manches Gerücht über einen Selbstmord aus Verzweiflung über einen abermals gescheiterten politischen Weg bis hin zu Vermutungen über einen durch Dritte verschuldeten gewaltsamen Tod, gegen den jedoch nach Auskunft glaubwürdiger Zeugen alle Umstände sprechen. Als erster der drei Generale war Speidel seit Ende April 1945 auf freiem Fuß. Bei allen Sorgen um die Existenzsicherung für seine Familie und sich, von denen er nicht verschont blieb, empfand er bald den Zustand der Rechtlosigkeit und der Schutzlosigkeit der westlichen Besatzungszonen und sann mit guten Bekannten in politischer Verantwortung wie Theodor Heuss, Carlo Schmid, Theodor Eschenburg, Eberhard Wildermuth und anderen, auch bald mit Freunden in der Schweiz und Frankreich auf Abhilfe. Seine Freunde im nahen Ausland teilten seine Sorgen über die bedrohliche Lage angesichts nahezu unverminderter sowjetischer Truppenstärken nach dem Ende des Krieges in Europa und der politischen Maßnahmen Stalins zur Bestandssicherung in den der Sow j e t u n i o n vorgelagerten Staaten u n d der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Mit Heusinger stand er seit Februar 1947 in Verbindung und besuchte ihn auch in diesem Monat im Lager Allendorf, wo Heusinger damals nicht allzu begeistert an den Arbeiten der Historical Division mitwirkte, verschiedentlich unterbrochen durch Aufenthalte im Nürnberger Gerichtsgefängnis als Zeuge und Gutachter — Speidel wußte dort seinen Bruder, den dann im Fall VII — Balkan-Prozeß — zu 20 Jahren Haft verurteilten General der Flieger a.D. Wilhelm Speidel, ehemals Befehlshaber Südgriechenland. Heusinger und Speidel waren sich einig im Blick auf die Zukunft, die sie für Deutschland — sprich zunächst die westlichen Besatzungszonen — nur in einem »westeuropäischen Block« sahen, weil »jede östliche Orientierung ... zum Ende abendländischer Kultur führen« würde. Ihre Hoffnung war »eine allmähliche Einsicht der Westmächte«, wobei man die Geduld nicht verlieren dürfe, meinten sie. Trotz des offenkundigen militärischen Ungleichgewichts zu Ungunsten des Westens, das möglichst rasch den Aufbau einer gemeinsamen Verteidigung erfordere, bauten sie doch auf »Stalins Realpolitik«, die genau erkenne, »wie viel er seinem Volk zumuten kann« (Heusinger), und Stalin selbst sei wohl sicher darauf bedacht, zunächst das Gewonnene zu festigen. Heusinger ergriff die sich ihm bietende Möglichkeit, sich der »Organisation Gehlen« anzuschließen. Er konnte dort ab Frühjahr 1948, mit dem Aufbau und der Leitung der Abteilung »Auswertung« betraut, sehr bald eigene Vorstellungen verwirklichen. Getragen vom Respekt seines einstigen Untergebenen Gehlen (Generalstabsoffizier in der Operationsabteilung von Herbst 1939 bis Frühjahr 1942) sowie vom rasch wachsenden Vertrauen der Amerikaner wirkte er entschlossen und beharrlich darauf hin, diese Abteilung über die einstige,

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hauptsächlich militärische Interessenlage der von Gehlen bis Anfang April 1945 geleiteten Abteilung »Fremde Heere Ost« im Generalstab des Heeres hinaus zu entwickeln. Heusingers Arbeit beschränkte sich keineswegs auf »military intelligence«. Er rechnete damit, seinen unzweifelhaften operativen und strategischen Sachverstand in geeigneter Weise und zum richtigen Zeitpunkt für eine noch zu findende Konstruktion einer ihm unausweichlich erscheinenden westlichen Verteidigungsgemeinschaft unter deutscher Beteiligung einzusetzen. Deswegen kam ihm die zeitweilige Aufgabe in der »Organisation Gehlen« wegen der ihm dabei zufließenden substantiellen Erkenntnisse sehr entgegen. Heusingers ausgeprägter Wirklichkeitssinn verband sich mit der in den Kriegsjahren gesammelten Erfahrung von den Fähigkeiten des Gegners, so daß er bei seinen Lagebeurteilungen keinen düsteren Wahngebilden erlag. Hinsichtlich der Möglichkeiten des Gegners gewann man bald recht zuverlässige Klarheit, auch über die Ressourcen auf der Gegenseite, ebenso über anhaltende schwerwiegende wirtschaftliche und infrastrukturelle Probleme im gesamten sowjetischen Machtbereich. Anders stand es mit den Absichten des mutmaßDie Generalleutnante Adolf Heusinger (links) und Dr. Hans Speidel (rechts) nach Verleihung der Ernennungsurkunden durch den Bundesminister für Verteidigung, Theodor Blank (Mitte), am 12. November 1955

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liehen Gegners, bei deren Beurteilung Heusinger jetzt und später säuberlich kurz-, mittel- und langfristige Vorstellungen und Zielsetzungen voneinander zu unterscheiden wußte. Selbst wenn der Gegner das ihm allgemein unterstellte Ziel der offensiven Ausbreitung seiner Herrschaft und seines gesellschaftspolitischen Systems grundsätzlich gewiß nicht aus den Augen verlor, hielt Heusinger daran fest, daß Stalin zunächst den neuen Besitzstand festigen würde, ehe er expansiven Tendenzen Raum gab, was nicht ausschloß, daß er unmittelbar sich vielleicht durch mangelnde Wachsamkeit oder Schwäche des Westens bietende Chancen rücksichtslos nutzen würde. In eingehenden, substanzreichen Denkschriften der »Organisation Gehlen«, in Lagevorträgen und persönlichen Gesprächen mit hochrangigen amerikanischen Militärs wirkte Heusinger in den Jahren 1948/50 — bevor der Ausbruch des Korea-Krieges politische und nicht zuletzt psychologisch die offene Erörterung einer deutschen Beteiligung an der Verteidigung Westeuropas ermöglichte — unaufdringlich, aber wirksam auf vielleicht allzu einfache amerikanische Vorstellungen über Europa als Vorfeld, Schlachtfeld und Bollwerk ein. Wenn er in seinen Denkschriften dieser Jahre nicht nur einmal das Sprichwort »si vis pacem, para bellum« verwendete, so verstand er — wie Speidel — darunter nur die Vorbereitung einer starken Verteidigung, die glaubhafte Abschreckung mit allen Mitteln, um dem möglichen Angreifer das Risiko seines Vorgehens nachhaltig zu verdeutlichen. Heusinger und Speidel, übrigens stets im Bilde über die mageren Ergebnisse der Operation SCHWABEN, wußten gut, aus eigenem Entschluß und in niemandes Auftrag handelnd, daß sie mit dem Pfund ihrer sauberen und interessanten Namen wuchern konnten. Beide stellten sich auch der eigenen schwierigen V e r g a n g e n h e i t . H e u s i n g e r v e r s u c h t e mit seinem Buch »Befehl im Widerstreit« eine Antwort auf die Frage zu finden, wie es dazu kam, daß sich auch die Wehrmacht Hitler unterworfen hatte. Speidel legte mit seiner Beschreibung von Rommels Auseinandersetzungen mit Hitler im Zusammenhang mit der Invasion 1944 den Grund für zunehmendes Verständnis für die Problematik des Widerstandes gegen Hitler. Beiden Generalen war klar, daß bei der Planung und dann beim Aufbau eines deutschen Beitrages für die Verteidigung Westeuropas alles zu tun war, um eine »Wiedererweckung jedes nazistischen Militarismus« (Speidel) zu verhindern — einer Formel, der auch Vincenz Müller gewiß beigepflichtet hätte. Heusinger und Speidel setzten verantwortungsbewußt, niemals politisierend, die sich ihnen frühzeitig eröffnenden Möglichkeiten für ein von ihnen als richtig erkanntes vernünftiges Ziel ein: eine realistische, der Festigung des entstehenden Staatswesens Bundesrepublik Deutschland und deren Verankerung im Westen dienliche Sicherheitspolitik, zwar eng angelehnt an die USA, deren Potential und unter deren Atomschirm, aber in einer eigenständigen europäischen Dimension. Sie nahmen es dabei in Kauf, daß der erste Bundeskanzler gelegentlich den Verdacht hegte, hier dächten Militärs allzu politisch. Diese Sorge Adenauers, der in allen sicherheitspolitischen Fragen sehr viel differenzierter

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dachte, als seine Kritiker wahrhaben wollen, war aber ganz unbegründet. Denn in welcher Funktion auch immer, weder als seine ab Jahresende 1950 berufenen offiziellen Berater, noch später in verantwortungsreichen Dienststellungen, überschritten sie die von ihnen genau erkannten und sorgsam bei Wahrung ihrer Selbständigkeit beachteten Grenzen ihrer Einflußmöglichkeiten. Bis zum Eintritt in den Ruhestand, Frühjahr 1964, konnten beide Generale gerade auch in ihren hohen Verwendungen im atlantischen Bündnis viel dazu beitragen, um den Frieden durch Abschreckung in Europa sicherer zu machen. Ihr einstiger Kamerad Vincenz Müller mit seinen eigenwilligen politischen Vorstellungen und Spekulationen geriet zunehmend in Vergessenheit und spielte vielleicht nur noch eine Rolle in nächtlichen Kasinogesprächen über einen ominösen, eher nationalen »dritten Weg«. Die ihn gekannt hatten, bewahrten die Erinnerung an einen intelligenten Soldaten von ungezügeltem Temperament, ausgezeichnet durch starken politischen Idealismus, der an der Wirklichkeit des Kalten Krieges zerbrach. Das Geheimnis hat er mit ins Grab genommen, ob er in der DDR das »wahre Vaterland« gefunden hat.

Konrad Kraske Anfänge der Öffentlichkeitsarbeit in der Dienststelle Blank Als ich im Spätherbst 1951 nach Bonn kam, war die Dienststelle Blank1 — ein knappes Jahr zuvor gegründet — ein kleiner, überschaubarer Stab, in dem nahezu jeder jeden persönlich kannte. Daß mir dort wenige Monate nach meiner Promotion das Amt des stellvertretenden Pressesprechers angeboten worden war, verdankte ich ausschließlich meiner Bekanntschaft mit Frhr. Axel v. dem Bussche-Streithorst aus gemeinsamen Göttinger Studententagen in der ersten Nachkriegszeit. Bussche — als Frontoffizier ebenso bewährt wie als aktives Mitglied der Widerstandsbewegung — war bereits Mitarbeiter des Generals a.D. Gerhard Graf v. Schwerin gewesen, des ersten Sicherheitsberaters von Bundeskanzler Konrad Adenauer, der nach kaum mehr als vier Monaten wieder entlassen worden war. Bussche war auch dort bereits für die Pressearbeit verantwortlich gewesen und gehörte neben Johann Adolf Graf v. Kielmansegg und Achim Oster zu den ganz wenigen, die nach der Berufung des Bundestagsabgeordneten Blank in dessen neu entstehende Dienststelle übernommen worden waren. Daß er mich als seinen Vertreter vorschlug, sobald die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit nicht mehr von ihm allein zu bewältigen war und eine zweite Planstelle zur Verfügung stand, war ein großer Vertrauensbeweis und wohl nur in den damaligen Aufbaujahren möglich: ich war neben lauter fronterfahrenen Stabs- und Generalstabsoffizieren nicht nur der erste Unteroffizier, den sich die Dienststelle leistete (ich hatte meine kurze militärische Laufbahn 1945 mit 18 Jahren als Fahnenjunker auf der Kriegsschule in Dresden beendet), sondern mir fehlte auch sonst jede Berufserfahrung: ich hatte eben als Historiker mein Studium abgeschlossen, und abgesehen von ein paar Zeitungsartikeln, die ich als Student zur Aufbesserung meines schmalen Monatswechsels zu schreiben versucht hatte, beschränkte sich mein Verhältnis zur Presse auf das eines begierigen Lesers. Das Pressereferat — nunmehr aus Axel Bussche, mir und einer Sekretärin bestehend — gehörte bei meinem Eintritt zu der von Graf Kielmansegg geleiteten Militärpolitischen Unterabteilung. Er und sein Stellvertreter, Ulrich de Maizière, waren also unsere unmittelbaren Vorgesetzten. Der tägliche Dienstbetrieb war damals aber noch so durchlässig und so wenig formalisiert, daß wir über die eigene Unterabteilung hinaus häufig unmittelbaren Kontakt mit General 1

Der offizielle Name der Behörde hieß: Der Beauftragte des Bundeskanzlers für die mit der Vermehrung der alliierten Truppen zusammenhängenden Fragen.

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Heusinger, mit dem Verwaltungs- und Personalchef Ernst Wirmer und mit Theodor Blank selber hatten. Die Frage der »Wiederbewaffnung« war in den frühen 50er Jahren das außen- und sicherheitspolitische Thema Nummer eins. Dabei hatte die Berufung des Grafen Schwerin im Frühsommer 1950 eher noch der anfänglichen Überlegung gegolten, einen ersten deutschen Sicherheitsbeitrag durch eine bundeseigene Polizeitruppe zu leisten, zumindest mit deren Aufbau zu beginnen. Nun aber hatte der Vorschlag des französischen Ministerpräsidenten René Pleven im Herbst 1950, in Anlehnung an die Idee der Montan-Union eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft zu bilden, der sogenannte Pleven-Plan also, ein deutsches militärisches Kontingent im Rahmen einer integrierten europäischen Armee in den Mittelpunkt aller amtlichen Überlegungen und aller politischen und publizistischen Aufmerksamkeit gestellt. Seit dem 15. Februar 1951 wurde in Paris zwischen Frankreich, Italien, der Bundesrepublik Deutschland und den Benelux-Staaten über die Gründung einer EVG verhandelt, an der sich die Deutschen mit zwölf Divisionen beteiligen sollten. Die Dienststelle Blank hatte zu diesem Zweck eine Delegation nach Paris entsandt, die — im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt — unter wechselndem Vorsitz stand, deren Arbeit aber natürlich in Bonn vorbereitet und deren jeweilige Ergebnisse dort bewertet wurden. Man kann sich leicht vorstellen, welchem Interesse diese Entwicklung bei der in- und ausländischen Presse begegnete. Was man sich im Zeitalter der gewaltigen PR-Apparate, mit denen Regierungen, Parteien und Verbände heutzutage ihre Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zu steuern versuchen, weniger gut wird vorstellen können, war die Tatsache, daß dem täglichen Ansturm deutscher und ausländischer Journalisten ein auch nach seinen räumlichen Abmessungen winziges Büro mit zwei Mitarbeitern und einer Sekretärin gegenüberstand. Denkt man heute daran zurück, unter welchen äußeren Bedingungen sich Axel Bussches und meine Arbeit damals vollzog, fühlt man sich in die Pionierzeit versetzt. Was unsere journalistischen »Kunden« vor allem interessierte, war zweierlei: zwischen den ursprünglichen französischen Vorstellungen im Pleven-Plan, in denen das Mißtrauen gegenüber neuen deutschen Streitkräften kaum verschleierten Ausdruck gefunden hatte, und dem Konzept einer Verteidigungsgemeinschaft auf der Grundlage gleicher Rechte und Pflichten, wie sie der spätere EVG-Vertrag vorsah, hatte ja ein weiter Weg gelegen: Wie sollten die deutschen Divisionen gegliedert und ausgerüstet sein? Auf welcher Ebene sollte die Integration beginnen? Wie sollte das Verhältnis zwischen europäischem Oberbefehl und verbleibenden nationalen Zuständigkeiten geregelt werden? Zu diesen und zahlreichen anderen Fragen gab es nach jeder Verhandlungsrunde — und das heißt nahezu wöchentlich — neue und immer wieder wechselnde Antworten. Der andere Problemkreis betraf das innere Gefüge der neuen deutschen Streitkräfte. Im Unterschied zu ihren künftigen Bündnispartnern konnte ja die Bundesrepublik weder vorhandene Streitkräfte einer neuen, gemeinsamen Armee eingliedern, noch konnte sie mit dem Aufbau neuer Streitkräfte einfach da wie-

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der anfangen, wo der politische und militärische Zusammenbruch 1945 ein Ende gesetzt hatte. So wurde aus dem erbitterten Streit über das Ob einer deutschen Wiederbewaffnung, dessen erste spektakuläre Folge der Rücktritt des CDU-Innenministers Gustav Heinemann im Oktober 1950 gewesen war, im Laufe der Zeit eine kaum weniger engagiert geführte Auseinandersetzung über das Wie künftiger deutscher Streitkräfte. Die Atmosphäre, die ich bei meinem Dienstantritt vorfand, war im ganzen Hause, vor allem in unserer kleinen militärpolitischen Unterabteilung ausgesprochen reformerisch. Nicht umsonst verbindet sich ja die Konzeption des Staatsbürgers in Uniform als verpflichtende Grundlage moderner Streitkräfte im demokratischen Staat bis heute mit Namen wie Kielmansegg, de Maizière und Baudissin. Hinzu kam die jedenfalls in unserem damaligen Gesprächskreis gänzlich unbestrittene Überzeugung, daß jede neue deutsche Armee der Tradition der Widerstandsbewegung des 20. Juli verpflichtet sei. Theodor Blank hatte zwar wohl keinen unmittelbaren Kontakt zu Männern wie Jakob Kaiser, Bernhard Letterhaus oder Nikolaus Groß gehabt, aber er war doch zutiefst durch die Überzeugungen und Traditionen der christlich-sozialen Bewegung geprägt. Ernst Wirmer, vormals Adenauers persönlicher Referent und von ihm nach allgemeinem Eindruck als sein erklärter Vertrauensmann in die Dienststelle versetzt, der führende Kopf der zivilen Seite des Hauses, war der Bruder des nach dem 20. Juli hingerichteten Rechtsanwalts Joseph Wirmer. Heusinger, Kielmansegg und de Maizière waren zwar nicht selber aktiv gewesen, hatten aber viele freundschaftliche Kontakte zu den Männern um Staufenberg gehabt. Achim Oster war der Sohn des hingerichteten Generals, und Axel Bussche hatte sich bei einer Vorführung neuer Uniformen mit Adolf Hitler selbst in die Luft sprengen wollen. So verwundert es nicht, daß es bei uns keinen Streit über die geistige Orientierung eines künftigen Offizierkorps in einer neuen deutschen Armee gab und daß dies auch die Grundlage der Informationsarbeit war, die Bussche und ich — im vollen Einvernehmen mit Blank, Heusinger und Kielmansegg — betrieben. Wer im Pressezentrum des Bundesverteidigungsministeriums groß geworden ist, wird sich schwerlich vorstellen können, wie sich unsere damalige Arbeit abspielte. Wir hatten außer einem gemeinsamen Telefon — einem! — und der Schreibmaschine unserer Sekretärin keinerlei technische Hilfsmittel. Wenn ich mich recht entsinne, stand uns zur eigenen Information mit Mühe je ein Exemplar der frankfurter Allgemeinen ZeitungWelt< und des >Bonner Generalanzeiger zur Verfügung, während uns die übrige deutsche und internationale Presse nur durch die Umlaufmappen der Abteilung zugänglich war. Im benachbarten Presseamt gab es zwar »Ticker«, über die das Material der wichtigsten Agenturen einlief, aber wenn wir es einsehen wollten, mußten wir über die Straße gehen und es eigenhändig abholen. Es gab dort immerhin ein Kontaktreferat, das unser Freund und späterer Nachfolger Conrad Ahlers versah; er war so hilfsbereit, wie er nur sein konnte, aber über den laufenden Informationsaustausch hinaus vermochte auch er kaum viel zu unserer Unterstützung

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zu tun. So waren wir mehr oder weniger auf uns allein gestellt, und das auf einem Feld, das nahezu tagaus tagein schlagzeilenträchtig war. Wir hatten keinerlei eigene Pressedienste, es gab keine Pressekonferenzen der Dienststelle, an irgendwelches Werbematerial war überhaupt nicht zu denken — kurzum, was wir an Informationen und an Sprachregelungen verbreiten wollten und sollten, konnten wir nur über unser einziges Telefon oder — jeder für sich — in persönlichen Informationsgesprächen an den Mann — Frauen gab es damals unter den Journalisten höchst selten — bringen. Daß wir dennoch mit unserer Arbeit halbwegs zu Rande kamen, hatte, wie mir heute scheint, vor allem zwei Gründe: in der Dienststelle Blank, zumindest in dem Bereich, der für uns zuständig war, gab es kaum irgendwelche bürokratischen Hemmnisse, keinerlei Intrigen, und zwischen Axel Bussche und mir einerseits und unseren Vorgesetzten andererseits bestand ein selbstverständliches Vertrauensverhältnis. Und — man will es angesichts der gespannten innen- und außenpolitischen Situation jener Tage nicht glauben — ein kaum weniger selbstverständliches Vertrauensverhältnis verband uns auch mit unseren wichtigsten »Kunden«, ob ich da an Alfred Rapp, Georg Schröder, Robert Strobel oder Richard Thilenius auf deutscher Seite denke oder an Eduard Geilinger von der Neuen Zürcher Zeitung, an Richard Hottelet von Columbia Broadcasting System (CBS), an Arvid Fredborg von Svenska Dagbladet oder an den unvergeßlichen dänischen Presse-Attaché Helge Knudsen. Adenauers erster Sicherheitsberater, Graf Schwerin, hatte — im buchstäblichen Sinne in einem Dachkämmerchen des Palais Schaumburg verborgen — eine eher kryptische Rolle gespielt, und sein erstes Informationsgespräch mit Journalisten war auch schon sein letztes gewesen: kaum war in der Presse die erste Andeutung erschienen, das Bundeskanzleramt plane gesetzliche Regelungen zur Vorbereitung der Wehrpflicht, ließ Adenauer ihn wie die berühmte heiße Kartoffel fallen. Theodor Blank, wiewohl Abgeordneter des Deutschen Bundestages und mit Zustimmung des Kabinetts in sein Amt berufen, hielt sich daraufhin merklich zurück. Obwohl die von ihm geleiteten und in vorderster Linie verantworteten Verhandlungen in Paris ein wichtiger Gegenstand der europäischen Politik waren, kann ich mich nicht erinnern, daß Blank in dem einen Jahr, in dem ich seiner Dienststelle angehörte, auch nur ein einziges Mal im Bundestag aufgetreten wäre. Das parlamentarische Recht — für uns jüngere Abgeordnete später ganz unverzichtbar —, Mitglieder der Bundesregierung oder deren Beauftragte gezielt mit Fragen herauszufordern, gab es in der ersten Legislaturperiode noch nicht, und in den großen außen- und sicherheitspolitischen Debatten jener Zeit vertrat Konrad Adenauer seine Sache lieber selbst. Nur so ist es zu erklären, daß die erste Rundfunkansprache Theodor Blanks (Fernsehen gab es damals ja noch nicht) nahezu zu einer Staatsaktion geriet. Ich weiß nicht mehr, wie es zu ihr kam — ob Blank fand, nun sei es allmählich höchste Zeit, selbst an die Öffentlichkeit zu gehen, oder ob er sich dem Drängen der Journalisten nicht länger entziehen zu können glaubte —, jedenfalls wurde ich aufgefordert, einen Entwurf für eine Ansprache vorzulegen, mit der Blank

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die Öffentlichkeit ausdrücklich darauf vorbereiten wollte, daß in absehbarer Zeit womöglich zum ersten Mal wieder junge Männer zum Wehrdienst einberufen werden würden. Mein Text — sicher nicht nur mit Axel Bussche, sondern auch mit de Maizière und Kielmansegg sorgfältig abgestimmt — fand die allerhöchste Zustimmung, aber damit war es nicht getan: kaum hatte Theodor Blank die Rede im Studio auf Band gesprochen, kam ein unmißverständlicher Anruf aus dem Bundeskanzleramt, Adenauers Staatssekretär Otto Lenz wolle den Text unter allen Umständen im Auftrag des Bundeskanzlers sehen und prüfen, bevor er gesendet würde. Axel Bussche und ich hatten also die mißliche Aufgabe, nicht nur den zuständigen Sendeleiter — wahrscheinlich im Bonner Studio des NWDR (wie die beherrschende Rundfunkanstalt vor der Trennung in WDR und NDR damals noch hieß) — um kurzfristigen Aufschub der Sendung zu bitten, sondern auch bei unserem Chef um Verständnis für die Wünsche des allgewaltigen Bundeskanzleramts zu werben. Denn natürlich explodierte Blank, der sich durch die Forderung von Lenz nicht ganz zu Unrecht unter Kuratel gestellt fühlte. Aber er war klug genug, es nicht auf eine unnötige Kraftprobe ankommen zu lassen, sondern gab uns seinen Segen, mit dem bereits auf Band gesprochenen Manuskript ins Palais Schaumburg abzuziehen. Bussche und ich verbrachten eine nicht sehr gemütliche halbe Stunde im Vorzimmer von Staatssekretär Lenz und bekamen dann die Weisung mit auf den Weg, Herr Blank müsse den Text unbedingt noch einmal sprechen, das Bundeskanzleramt bestehe auf einigen wichtigen Änderungen. Wer will unsere Überraschung beschreiben, als wir die Korrekturen mit dem gesprochenen Text verglichen und nichts als Lappalien fanden. Ich erinnere mich noch wie heute, daß ich getreu dem alten Grundsatz, eine Rede dürfe keine Schreibe sein, mehrere Sätze mit einem »und« hatte beginnen lassen. Diese im Schriftdeutsch in der Tat unüblichen Satzanfänge waren nun von Otto Lenz manu propria gestrichen worden, und auch die übrigen Änderungen hatten keinerlei politische oder inhaltliche, sondern bestenfalls stilistische Bedeutung. Aber der arme Blank mußte tatsächlich erneut ins Rundfunkstudio fahren, um die Rede noch einmal aufnehmen zu lassen. Er wollte sich auf keinen Fall mit dem Kanzleramt anlegen, und er gab lieber in Nebensächlichkeiten nach, als womöglich insgesamt seine Position zu schwächen. Wahrscheinlich hatte er recht. Das Verhalten dieses aufrechten Mannes hat uns damals jedenfalls nachhaltiger beeindruckt als das seines Kontrahenten Otto Lenz! Bussches und meine Aufgabe erschöpfte sich indessen nicht darin, das Bonner Pressekorps nach bestem Wissen und Gewissen mit Informationen zu versorgen und für Herrn Blank Rede-, Aufsatz- und Briefentwürfe zu schreiben. In ständig wachsendem Maße verlangte die Öffentlichkeit unmittelbare Unterrichtung. So häuften sich im Jahre 1952 die Anfragen von kirchlichen Organisationen, Jugend- und Soldatenverbänden und vor allem der ADK2, ob ihnen nicht 2

Die Arbeitsgemeinschaft Demokratischer Kreise war eine vom Presseamt finanzierte Organisation zur Popularisierung der Europa- und Sicherheitspolitik der Bundesregierung.

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ein Referent der Dienststelle Blank Rede und Antwort über die Planungen der Bundesregierung für eine mögliche Wiederbewaffnung stehen könne. Abgesehen von herausragenden Tagungen vor allem evangelischer Akademien, für die wir Graf Baudissin öder gar einen unserer Chefs gewinnen konnten, blieben solche Redeverpflichtungen am Pressereferat und das heißt in der Regel an mir hängen, so daß ich mich bald in der Rolle eines Wanderpredigers in Sachen »Wiederbewaffnung« fühlte. Dabei gab es eine ausdrückliche und wohl sogar von der Leitung des Hauses vorgeschriebene Aufgabenverteilung: wir Mitarbeiter der Dienststelle Blank und damit der Exekutive beschränkten uns bewußt darauf, über das Wie zu informieren, während wir die Auseinandersetzung über das Ob den Vertretern der Legislative, das heißt also den Politikern überließen. Das war eine angemessene und vernünftige Rollenverteilung, so wenig sich natürlich das eine vom anderen in jeder Situation säuberlich trennen ließ. Meine vorherrschenden Themen waren jedenfalls nicht die Bedrohungsanalyse, die nach der Unterwerfung des Ostblocks durch die Sowjetunion und nach dem Korea-Krieg ja die eigentliche Begründung für einen deutschen Verteidigungsbeitrag war, sondern der Grundgedanke der Integration in einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und die Reformideen für ein neues inneres Gefüge. Gespräch im »Amt Blank« mit einem französischen Journalisten. V.l.n.r. Major i.G. a.D. Wolf Graf Baudissin, Oberst i.G. a.D. Kurt Fett, Henri-Jean Duteil, Theodor Blank, Generalleutnant. a.D. Adolf Heusinger, Oberstleutnant i.G. a.D. Ulrich de Maizière

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Für nächtelange Diskussionen mit kirchlichen oder politischen Jugendverbänden war ich mit meinen 26 Jahren womöglich der geeignetste Vertreter, den die Dienststelle Blank über Land schicken konnte: selbst bei denen, die dem Gedanken an eine »Wiederbewaffnung« politisch halbwegs aufgeschlossen gegenüberstanden, war die Sorge vor einer restaurativen Wiederbelebung des 08/15Kommiß-Betriebes groß, und sie ließen sich von einem Altersgenossen noch am ehesten überzeugen, daß Streitkräfte in einer freiheitlichen Demokratie eine andere Aufgabe, eine andere Struktur und ein anderes Profil haben würden und haben müßten als die alte deutsche Wehrmacht. Die Diskussion in den vielen, damals neu entstehenden Soldaten- und Traditionsverbänden war da für mich schon sehr viel schwieriger: da war man zwar für das Ob einer deutschen Wiederbewaffnung aufgeschlossen und stand der weitverbreiteten Ohne-mich-Bewegung denkbar kritisch gegenüber, aber jeder Reformer mußte zunächst einmal beweisen, daß er trotzdem ein anständiger Kerl und kein Traumtänzer sei. Trotzdem denke ich an die damaligen Diskussionen dankbar zurück: sie waren für den späteren Parlamentarier eine wichtige erste Begegnimg mit der »Graswurzel-Demokratie« ! Die Arbeit in unserem Pressereferat war ganz und gar auf den innerdeutschen Bereich abgestimmt. Was in Paris geschah, erfuhren wir in den täglichen oder wöchentlichen Besprechungen bei General Heusinger oder mit Graf Kielmansegg und Herrn de Maizière. Nur einmal bekam ich die unerwartete Chance, über den Bonner Tellerrand hinauszusehen. Da hatte nämlich der Lenkungsausschuß in Paris beschlossen, mittlerweile seien die Verhandlungen so weit fortgeschritten, daß es höchste Zeit sei, sich um die europäische öffentliche Meinung zu kümmern und public relations für die künftige EVG zu machen. Und weil deren Grundprinzip ja eine möglichst tiefgreifende Integration war, sollte natürlich auch die Öffentlichkeitsarbeit so weit wie möglich integriert werden. Was tat man also? Man beschloß, eine Arbeitsgruppe für PR-Fragen einzurichten, und da die ständigen Mitglieder unserer Pariser Verhandlungsdelegation hinlänglich mit anderen Problemen beschäftigt waren, wurde ich nach Paris entsandt, um die Bundesrepublik in der neuen Arbeitsgruppe sachverständig zu vertreten. Das war natürlich für einen jungen Mann wie mich eine aufregende Sache! Ich war zwar als Student schon einmal in Paris gewesen, aber nun als Mitglied einer Regierungsdelegation dorthin zurückzukehren, das war eine besondere Faszination. Nachdem ich vom Generalkonsul des Großherzogtums Luxemburg ein Durchreise-Visum bekommen hatte (das französische EinreiseVisum gab es für Mitarbeiter der Dienststelle Blank auf dem Dienstweg), bestieg ich also eines Abends frohgemut den internationalen Schlafwagen und meldete mich am nächsten Vormittag beim Leiter der deutschen Delegation, dem Gesandten Albrecht v. Kessel. Der entließ mich mit guten Wünschen und der Ermahnung, mich anständig zu benehmen und der Bundesrepublik keine Unehre zu machen, in meine erste Sitzung; die war aber nach meiner Erinnerung zugleich auch die vorerst letzte. Man diskutierte über Regularien und künftige Beratungsschwerpunkte und vertagte sich nach zwei Stunden auf die

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folgende Woche. Da war ich nun in einer schwierigen Situation: Ich wohnte auf Kosten des Steuerzahlers im Delegationshotel an der Place d'Jéna, ich bezog ein hohes Auslandstagegeld, in Bonn wartete genug Arbeit auf mich — da konnte ich doch wohl beim besten Willen nicht eine Woche lang in Paris herumsitzen und auf die nächste Sitzung warten. Andererseits: nach Bonn zurückzufahren, um wenige Tage später die gleiche Reise noch einmal zu machen, war auch weder billig noch bequem. Trotzdem ließ ich mich bei Herrn v. Kessel melden, um ihm zu sagen, daß ich nun wohl schleunigst die Rückreise anzutreten hätte. Er ließ sich von mir den Verlauf der Sitzung schildern, fragte nach dem neuen Termin und erklärte mir dann ebenso freundlich wie bestimmt: »Ich erteile Ihnen hiermit die dienstliche Weisung, die nächste Sitzung abzuwarten und in der Zwischenzeit täglich vor- und nachmittags je zwei Stunden in den Louvre zu gehen. Damit tun Sie etwas für Ihre Bildung, und die Bundesrepublik Deutschland ist dringend auf gebildete Mitarbeiter angewiesen!« Ich werde die Tage, die ich der liebenswürdigen Weltklugheit Teddy Kessels verdanke, nie vergessen; ich habe erst vier Jahrzehnte später die nächste Gelegenheit gehabt, eine Woche lang ohne alle dienstlichen Pflichten durch die Pariser Kirchen und Museen zu streifen! Die nächste Sitzung unserer bedeutenden PR-Kommission fand dann wie angekündigt einige Tage später statt, man sprach darüber, ob man nicht als erstes die Redaktion einer Werbebroschüre in den vier Sprachen der Mitgliedsländer in Angriff nehmen sollte und vertagte sich abermals, diesmal allerdings ohne Vereinbarung eines neuen Termins. Ich nehme an, der Ausschuß ist — bis die französische Nationalversammlung im Herbst 1954 das zarte Lebenslicht der EVG ausblies — nie wieder zusammengetreten. Als ich nach Bonn zurückkam, hatte sich für Axel Bussche und mich bestätigt, daß in der Dienststelle Blank nicht mehr unbestritten galt, wofür wir uns stets der Presse und der Öffentlichkeit gegenüber persönlich verbürgt hatten: mit der Bestellung des Obersten a.D. Bogislaw v. Bonin zum Leiter der Unterabteilung Planung drohte sich ein neuer Geist der pragmatischen Effizienz durchzusetzen, der weder unseren Vorstellungen von einer modernen Armee in einer parlamentarischen Demokratie noch dem Erbe des 20. Juli entsprach. Theodor Blank, vor die Entscheidung gestellt, ihn zu verabschieden oder uns gehen zu lassen, stand ganz gewiß eher auf unserer als auf Bonins Seite. Aber er traute es sich nicht zu, auf den Rat eines so vielfach ausgewiesenen Fachmanns zu verzichten. Zwei Jahre später wurde er eines schlechteren belehrt: er mußte Bonin — zu spät und unter mißlicheren Umständen — entlassen. Axel Bussche und ich waren zu dieser Zeit längst unsere eigenen Wege gegangen. Über jene dramatischen Tage im Oktober 1952 ist manches geschrieben worden; ich schließe, um Wiederholungen zu vermeiden, mit einem Bericht des >Spiegel< vom 5. November 1952: »Am Freitag vergangener Woche, dem Tage des Reformationsfestes, räumte der Unteroffizier d.R. a.D. Konrad Kraske, 26, Doktor der Philosophie, seinen Aktenspind in der winkligen Pressewachstube des Amtes Blank zu Bonn. So gewann

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der Reformationstag an seiner 435. Wiederkehr für Konrad Kraske doppelte Bedeutung: Über Martin Luther hatte er summa cum laude seine Dissertation geschrieben. Wie Martin Luther hatte er vor Theo Blank bekannt: >Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.< Aber während diese Worte Martin Luthers Reformationskampf einleiteten, schlössen sie Konrad Kraskes Reformationsbemühen ab. Was ein Fähnlein der Aufrechten, dessen Junker Konrad Kraske war, reformieren will, ist die deutsche Armee. Wie es auf deutschen Kasernenhöfen, in Rekrutenstuben und in Offizierskasinos zugehen soll, wenn der Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft doch noch ratifiziert wird, darüber kam es unter Theo Blanks Mitarbeitern in den letzten Monaten zu schweren und leidenschaftlichen Auseinandersetzungen, deren erstes Opfer Reserveunteroffizier Kraske wurde.« Ich finde bis heute, daß sich das »Opfer« gelohnt hat.

Roland Haase Auf dem letzten Lehrgang für Regimentskommandeure in der Sowjetunion Ende Oktober 1953 endete der dritte und letzte von drei militärischen Lehrgängen in der Sowjetunion, deren erster am 7. Oktober 1949, dem Gründungstag der Deutschen Demokratischen Republik, begonnen hatte. Sie dienten der kurzfristigen, fast überstürzt anmutenden Heranbildung militärischer Führungskader von der mittleren bis zur höchsten Ebene. Deren Aufgabe sollte es sein, Volkspolizeibereitschaften und -schulen der Hauptverwaltung für Ausbildung und später, ab Sommer 1952, der Kasernierten Volkspolizei aufzustellen, auszubilden und zu führen. Auf diese Weise entstand zugleich die wichtigste Voraussetzung dafür, daß ab 1956 unverzüglich mit der Entwicklung von Landstreitkräften der Nationalen Volksarmee begonnen werden konnte, als stärkstem bewaffnetem Machtorgan der DDR. Die einzelnen »Sonderlehrgänge«, so die offizielle Bezeichnung, wurden fast ausschließlich mit je etwa 120 bis 150 Offizieren aus Volkspolizeibereitschaften und -schulen beschickt. Hinsichtlich der sozialen und militärischen Herkunft, des Alters, der Allgemeinbildung und der militärischen Vorkenntnisse gab es enorme Unterschiede. Diese dürften sich auch weltanschaulich und in bezug auf die Motivation ausgewirkt haben, wenngleich das nur in Einzelfällen während der Lehrgänge und später sichtbar geworden ist. Der erste Lehrgang bestand aus Spanienkämpfern, ehemaligen Offizieren und Unteroffizieren der Wehrmacht und selbst einigen Zivilisten. Im zweiten waren ausschließlich ehemalige Offiziere und Unteroffiziere vertreten. Im dritten und letzten dagegen bestand etwa eine Hälfte aus ehemaligen Offizieren und Unteroffizieren und die andere aus jungen Volkspolizeioffizieren, die (überwiegend zu ihrem Leidwesen) nicht mehr zum Kriegseinsatz gekommen waren, wozu ich gehörte, oder die gerade noch einberufen worden waren. Gegenstand der Ausbildung waren alle damals praktizierten Ausbildungszweige (Ausbildungsfächer). Eindeutiger Schwerpunkt lag auf der Taktik des Einsatzes und der Führimg motorisierter Schützenregimenter (MSR), Panzerregimenter (PR) und Artillerieregimenter (AR) im allgemeinen Gefecht. Den Rahmen dafür bildeten die Grundsätze des taktischen Einsatzes der motorisierten Schützendivision (MSD) und der Panzerdivision (PD). Mein militärischer Werdegang hatte mit dem Besuch der Volkspolizeischule Döbeln in Sachsen begonnen. Unser Erstaunen über den rein militärischen Dienstbetrieb auf dem Kasernenhof rührte daher, daß uns bei der Werbung kein reiner Wein eingeschenkt worden war. Nach einer schriftlichen Aufforde-

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rung, doch einmal auf der Polizeiwache vorzusprechen, hatten mich zwei Volkspolizeioffiziere gefragt, ob ich zur notwendigen Verjüngung der Volkspolizei beitragen wolle. Ich würde einen etwa achtmonatigen Lehrgang besuchen und dann entweder im Innen- oder im Außendienst eingesetzt werden. Ich war nicht abgeneigt, auf dieses Angebot einzugehen. Mir schien es eine gute Gelegenheit zu sein, meine ungeliebte Büroarbeit als Industriekaufmann an den Nagel hängen zu können. Innendienst käme für mich aber nicht mehr in Frage, das stand fest. Von meiner politischen Einstellung her hatte ich zu diesem Zeitpunkt keine Probleme mehr damit, dem sich abzeichnenden neuen, fortschrittlichen Staatswesen im Osten Deutschlands in Uniform zu dienen. Demzufolge hatten die beiden Werber auch keinen Widerstand zu überwinden, um mich von der politischen Notwendigkeit (ein damals geflügeltes Wort) zu überzeugen, die Uniform der Volkspolizei anzuziehen. So verließ ich im Oktober 1949 die Schule Döbeln als Kommissar (Leutnant) und Zugführer. Nach gerade einmal siebenmonatiger Tätigkeit als Zugführer in Quedlinburg wurde ich zu einem Lehrgang an der Volkspolizeihochschule Köchstedt kommandiert. Ausbildungsziel: Kompaniechef. Sechs Monate später als Oberkommissar zur Dienststelle Quedlinburg zurückgekehrt, hatte ich eine völlig neuartige Aufgabe zu lösen: Werbung junger Leute für den Dienst in der Volkspolizei. Von dieser Aufgabe wurde ich vorzeitig entbunden, da ich eine der neu gebildeten Abteilungen (etwa in Bataillonsstärke) aufzustellen, auszubilden und zu führen hatte. In diese Zeit fiel ein Kadergespräch in der Hauptverwaltung Eingang zur Volkspolizeischule Döbeln

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für Ausbildung, Berlin-Adlershof. Dort erfuhr ich von der Absicht, mich auf einen Ausbildungslehrgang ins Ausland zu schicken. Mehr sagte man mir nicht. Da ich an allem anderen als an Selbstüberschätzung litt gab ich zu bedenken, daß ich in zweieinhalb Jahren Dienstzeit insgesamt nur sieben Monate als Zugführer und etwa drei Monate als Abteilungsleiter Gelegenheit hatte, erworbenes Wissen zu festigen und mich in Menschenführung zu üben. Andererseits war das Angebot aber auch irgendwie verlockend: Der »Buschfunk« hatte bereits gemeldet, daß es da irgendwo an der Wolga eine geheime Einrichtung gäbe, an der Kader zu Regimentskommandeuren bzw. Gleichgestellten ausgebildet würden. Nur das konnte doch dieser »Lehrgang im Ausland« sein. Im übrigen war es in diesen Jahren nichts Außergewöhnliches, daß Lehrer über Nacht z.B. Landschulräte oder Polizisten Leiter von Polizeidiensten wurden. Also erklärte ich mich bereit, das »Abenteuer Sowjetunion«, als solches empfand ich das Kommende, anzugehen. Nach dem Kadergespräch hatte ich sofort zur Dienststelle zurückzukehren, meine Abteilung zu übergeben und auf ein Telegramm zu warten, daß mich nach Berlin-Adlershof rufen würde. Da das unter Umständen sehr kurzfristig geschehen konnte, stand das kleine Handgepäck stets griffbereit. Im September 1952 beorderte mich das angekündigte Telegramm nach Berlin-Adlershof. Dort erfuhren wir während eines kleinen Abschiedsessens aus dem Munde des Chefs der Hauptverwaltung Ausbildung, Generalinspekteur Heinz Hoffmann, Näheres über den bevorstehenden Lehrgang. Dabei fiel erstmals der Name Privolsk (nahe der Stadt Volsk gelegen). Mit außergewöhnlichem Nachdruck wurden wir auf strengste Geheimhaltung aufmerksam gemacht. Unseren unmittelbaren Angehörigen hatten wir lediglich zu sagen, daß wir einen Lehrgang besuchen würden und ein Jahr lang keinen Urlaub bekämen. Gemäß einer uns ausgehändigten Bescheinigung waren wir »Monteure, die zur Wolga fuhren, um dort eine Brücke zu bauen«. Diese Auskunft hatten wir zu geben, wenn wir unterwegs von sowjetischen Bürgern nach dem Ziel unserer Reise gefragt werden sollten. Das trat auch tatsächlich ein. Den Teilnehmern des ersten und zweiten Lehrganges hatte man eine andere Profession zugedacht. Die einen waren »arbeitsverpflichtete Ingenieure für den Aufbau von Zementwerken«, die es in Volsk tatsächlich gab; die anderen hatten »als Spezialisten in Stalingrad ein Observatorium aufzubauen — ein Geschenk der DDR an Stalin zu seinem 75. Geburtstag«. Für die bevorstehende Fahrt durch Polen waren wir angehalten worden, sowohl bei der Grenzkontrolle als auch bei der Fahrt durch Bahnhöfe, die Fenster geschlossen zu halten und nicht zu sprechen. Den polnischen Grenzbeamten wurde von einem sowjetischen Begleiter eine Sammelliste vorgelegt, das mußte ihnen genügen. Auch für den künftigen Briefverkehr zur und von der Heimat war ein Weg ausgedacht worden, den man schon als konspirativ bezeichnen kann. Dieser ganze Komplex von Maßnahmen bestärkte mich in der Auffassung, daß es sich bei diesen »Sonderlehrgängen« um Maßnahmen von besonderer militärischer

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Brisanz handeln mußte. Natürlich machte mich ein derartiges Gebaren nachdenklich: Was mochte die Sowjetunion veranlassen, gegenüber ihren Partnern in der Anti-Hitler-Koalition auf solche Weise zu verfahren? Andererseits sind Tarnung und Täuschung im Militärwesen und in der Militärpolitik seit je und überall zur Anwendung gekommen, um gegenüber einem tatsächlichen — aber auch gegenüber einem potentiellen Gegner Vorteile zu erlangen. Und es war ja zu dieser Zeit schon nicht mehr zu übersehen, daß die politische Entwicklung in Richtung »Kalter Krieg« verlief. Im übrigen gab es auch westlich der Elbe Anzeichen für militärpolitische Aktivitäten, die nicht öffentlich gemacht wurden. Also brauchte ich keine moralischen Bedenken zu haben. Ähnliche Überlegungen hatte auch der Generalinspekteur Hoffmann in seinen kurzen Abschiedsworten angedeutet und uns viel Erfolg gewünscht. In der Gewißheit, daß zu Hause alles geordnet zurückblieb, bestiegen wir den Bus, der uns zum Bahnhof Frankfurt/Oder bringen sollte. Dort wurden wir in Liegewagen des »Blauen Expreß« untergebracht, der regelmäßig zwischen Berlin und Moskau verkehrte. Später erfuhr ich, daß auch bei der Wahl der Abfahrtsbahnhöfe variiert worden war. So waren die Teilnehmer der vorausgegangenen Lehrgänge von Berlin-Ostbahnhof bzw. von Potsdam-Wildpark abgefahren. Als sich der Zug in Bewegung gesetzt hatte, kehrte so etwas wie ruhige Erwartung der Dinge ein, die da auf mich zukommen würden. Nach den sehr bewegten zurückliegenden Monaten war nun endlich Zeit, den Gedanken unbelastet freien Lauf zu lassen beim Blick in die Weiten des Ostens mit den erhofften Naturschönheiten. Nun trieb es also wieder deutsche Soldaten nach Osten — diesmal aber nicht mit Einsatzbefehlen und Panzern und nicht mit der Ungewißheit der Rückkehr. Dennoch waren auch wir militärisch motiviert, hatten auch wir einen militärischen Auftrag: das sowjetische Waffenhandwerk und die sowjetische Theorie der Truppenführung zu erlernen bzw. zu festigen. Allerdings nicht zum Zwecke aggressiver militärischer Gewaltanwendung, sondern ausschließlich zum Schutze unserer ostdeutschen Heimat und ihrer progressiven Entwicklung. Darin waren wir uns wohl alle einig, die wir die dunkelblaue, später die khakifarbene und schließlich die steingraue Uniform trugen. Die Deutsch-Polnische Grenze hatten wir problemlos passiert. Das Gebiet zwischen Oder und Weichsel, in dem die Sowjetarmee im Zuge der »WeichselOder-Operation« im Januar 1945 die deutsche Heeresgruppe Mitte zerschlagen hatte, durchfuhren wir noch bei Tageslicht; das, was deutsche Zerstörungswut von Warschau übriggelassen hatte, bei Dunkelheit. Uberall waren noch die Spuren der Kämpfe zu sehen. Gegen Mittag des folgendes Tages erreichte unser Zug Brest. Auf dem Grenzbahnhof wurden wir von einem sowjetischen Offizier in ziviler Kleidung empfangen. Später begegneten wir ihm als Hörsaalleiter einer Lehrgruppe des Sonderlehrganges. Zu Mittag aßen wir in einem salonähnlichen Raum des Bahnhofsgebäudes, an dessen Eingang ein Riese in einer bunten Phantasieuniform postiert war. Jeden von uns ließ er nach einer Verbeugimg passieren. Donnerwetter, so viel Ehre! Das brachte ihm natürlich recht erkleckliche Trinkgel-

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der ein, denn wir hatten nun erstmals Rubel in der Tasche. Unser sowjetischer Begleiter begegnete uns mit offensichtlicher Herzlichkeit, die auch echt wirkte. Diese zuvorkommende Behandlung setzte sich fort bei allen Begegnungen mit sowjetischen Offizieren und Zivilisten. Sie hinterließ bei mir Wirkung, denn mich bewegte so eine Art Schuldgefühl für all das, was meine Landsleute im Krieg diesem Lande und seinen Menschen zugefügt hatten. Bei der nach dem Brester Aufenthalt folgenden Fahrt auf Gleisen größerer Spurweite genoß ich die Schönheit und Eigenart der russischen Landschaft: die schwermütig wirkenden endlosen Nadelwälder und dann wieder die sich heiter im Winde wiegenden Birkenwälder. Dennoch schweiften meine Gedanken immer wieder ab in die Zeit, in der diese herrliche Natur vom Kriege überzogen war, als hier blutige Kämpfe tobten. Sie waren ja allerorts noch zu sehen, die Bomben- und Granattrichter, verfallene Stellungen und Drahtsperren, Ruinen über Ruinen und Kreuze! Unser Aufenthalt in Moskau war nur von kurzer Dauer. Auf dem Belorussischen Bahnhof, dessen Bahnsteige zahlreiche Menschen mit Bergen von Gepäck bevölkerten, nahmen wir in einem gesonderten Raum das Mittagessen ein. Dann überbrachte uns ein sowjetischer Genosse die Willkommensgrüße des Zentralkomitees der KPdSU. Daß so viel Ehre nicht ganz uneigennützig sein sollte, kam mir damals nicht in den Sinn. Was ich dann und wann über die Satellitenrolle der DDR aus westlichen Quellen vernahm, erschien mir zweckpropagandistisch übertrieben, verleumderisch. Natürlich war ich nicht so unbedarft, an völlige Parität in den politischen und militärischen Beziehungen zwischen der Welt- und Siegermacht Sowjetunion und dem durch einen Kaiserschnitt zur Welt gekommenen Zwerg DDR zu glauben. Eine Art Lehrling-Meisterverhältnis, eine gewisse Unterordnung in weltpolitischen Dingen, und erst recht in militärischen, konnten meine Kameraden und ich durchaus verkraften. Jahrzehnte später aber aus dem Munde des ehemaligen sowjetischen Botschafters in der DDR, Pjotr A. Abrassimov, und auch von Valentin Falin hören zu müssen, daß die DDR und ihre Streitkräfte tatsächlich als bloßes Mittel zum Zweck, als Werkzeug sowjetischer Europapolitik angesehen worden sind, das schmerzte. Glück oder Unglück, daß ich damals unbehelligt von solchem Wissen, mit offenem Herzen gen Osten fuhr? Ich weiß es nicht. Die nun folgende Fahrt führte uns durch Gebiete, die nicht direkt vom Krieg betroffen waren. Stundenlang glitt beiderseits der Bahnlinie die scheinbar endlose Steppe vorüber, da und dort von Balkas durchzogen. Irgendwann, es war bereits dunkel, hielten wir irgendwo auf freier Strecke, stolperten über Geröll zu einem bereitstehenden Bus und ab ging die Fahrt in die ungewisse Dunkelheit. Nach kurzer Fahrt öffnete sich ein großes Lattentor und unser Bus hielt an einem übermannshohen Bretterzaun. Im diffusen Licht konnten wir zwei aus Kalksandsteinen errichtete zweistöckige Baukörper erkennen. Den einen, von dem Bretterzaun umschlossen, betraten wir durch eine kleine bewachte Pforte. In dem anderen Gebäude befand sich, wie wir später erfuhren, eine Sicherstellungseinheit. Nun waren wir also am Ziel. Wie würde es

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weitergehen? Die Umstände unserer Ankunft wirkten auf mich etwas beklemmend. So ähnlich mußte einem Kriegsgefangenen zumute gewesen sein. An diesem Abend wurden wir nur noch kurz vom Lehrgangsleiter, einem mir sehr sympathischen Oberst Grischurin, willkommen geheißen und anschließend verpflegt. Dann bezogen wir unsere Unterkunft. Sie bestand aus Schlafsälen für 16 Mann und einem für 32. In letzterem schliefen die jüngeren Lehrgangsteilnehmer, in den übrigen die älteren. Jedem von uns standen etwa 3 m2 Fläche zur Verfügung mit einem Bett, einem Nachttisch und einem Stuhl. Sicher kein Komfort, aber meine gleichaltrigen Kameraden und ich waren diesbezüglich nicht verwöhnt. Unser Lehrgangsleben begann damit, daß wir ein Bad nahmen und anschließend eingekleidet wurden. Ein Jahr lang trugen wir jetzt eine sowjetische Offiziersuniform ohne Dienstgradabzeichen. Sehr angenehm trug sich die bequeme Gimnastjorka, eine Uniformbluse. Nach den bei solchen Anlässen üblichen Vorstellungen und Einweisungen, die das Verbot des Fotografierens und Kartenspielens einschloß, folgte eine ärztliche Untersuchung mit Verabreichung einer vorbeugenden »Universalinjektion« in den Rücken. Da die Lehrgangsteilnehmer in drei zeitlich versetzten Bahntransporten angekommen waren, begann erst einmal das gegenseitige Bekanntmachen und auch Wiedersehen. Probleme des Zusammenlebens zwischen den »gestandenen« ehemaligen Wehrmachtsoffizieren und uns jungen Leuten hat es nicht gegeben. Immerhin waren unter den »alten Hasen« ehemalige Regimentskomm a n d e u r e , Ia-Generalstabsoffiziere von Divisionen u n d andere wichtige Funktionsträger. In meiner späteren Tätigkeit in der Hauptverwaltung Ausbildung (HVA), dem Ministerium für Nationale Verteidigung, dem Kommando des Militärbezirkes V und dem Kommando der Landstreitkräfte bin ich vielen Privolskern in hohen Funktionen wieder und gern begegnet. So auch Job v. Witzleben, einem Neffen des nach dem 22. Juli 1944 in Plötzensee hingerichteten ehemaligen Generalfeldmarschalls v. Witzleben. Nur hatte ich den Eindruck, daß dieser Mann auf Distanz bedacht war. Künftig spielten sich Dienst und Freizeit überwiegend innerhalb der Lehrgruppen ab. Davon gab es fünf für »Allgemeine Truppenkommandeure« mit jeweils 12 bis 16 Hörern und je eine für Panzer- und Artilleriekommandeure, wofür beliebige Hörer eingeteilt wurden. Die sowjetischen Offiziere wurden von uns mit Genosse und Dienstgrad angesprochen, wir als Hörer mit Nennung des Namens. An Diensthabenden sind aus dem Kreise der Hörer eingesetzt worden: Diensthabende des Lehrganges, der Lehrgruppe und der Küche. Letzterer war recht begehrt, weil die Essenproben in seine Verantwortung fielen. Meldungen waren in Russisch zu erstatten. Bei dem Lehrkörper handelte es sich ausnahmslos um Militärakademiker mit Kriegserfahrung. Leiter der Lehrgruppe, der ich angehörte, war Oberst Bakajev. Er hatte als Kompaniechef schon am Bürgerkrieg (1918-1920) teilgenommen und verhielt sich uns gegenüber wie ein väterlicher Freund. An den

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Wochenenden kam er oft in unsere Unterkunft, um eine Partie Schach, besser »Räuberschach« zu spielen. Ich werde nie seine Rührung vergessen, die ihn bei unserer Verabschiedung überkam. Mir hat es sehr viel bedeutet, daß die sowjetischen Offiziere bei der Beurteilung der Soldaten des ehemaligen deutschen Ostheeres und ihrer militärischen Leistungen im Dienste eines verbrecherischen Regimes differenzierten und uns vorbehaltlos gegenübertraten. Mich hat diese Haltung dazu angespornt, mein Bestes in der Ausbildung zu geben. Unser militärischer Alltag dauerte von 6 bis 22 Uhr. Er schloß etwa 7 Stunden Ausbildung und 2 Stunden Pflichtselbststudium ein. Angenehme Unterbrechungen waren das zweite Frühstück gegen 11 Uhr, das Mittagessen gegen 15 Uhr und natürlich die einstündige Mittagsruhe. In den ersten Wochen absolvierten wir eine Art Grundausbildung. So unter anderem Exerzieren nach russischen Kommandos, Nahkampf mit Bajonetteinsatz, Pistolenschießen, Sportmethodik, Russisch und topographisch-kartographische Elementartätigkeiten. Besonderer Wert wurde auf das Zeichnen von »Mäusezähnchen« und taktischen Symbolen gelegt. Das fiel Vinter den Begriff »Stabskultur«. »Mäusezähnchen« waren 1 mm lange, in rechtem Winkel auf die Grundlinie im Abstand von 1 mm aufgetragene Striche. Mit ihrer Hilfe wurde der Verlauf von Kampfgräben durchgehend dargestellt. Das war eine sehr aufwendige, aber erholsame Tätigkeit, wenn genügend Zeit vorhanden war. Das Winterhalbjahr war ausgefüllt mit Vorträgen und Sandkastenausbildung. Unsere sorgfältig vorgenommenen Aufzeichnungen konnten wir aber nicht als »Gedankenstützen« benutzen. Am Lehrgangsende mußten sie abgegeben werden und wurden von uns nie wieder gesehen. Mit Beginn des Sommers verließen wir die Dienststelle öfter zur Taktikausbildung. Je nach »Straßen«-Verhältnissen wurden dazu Busse oder LKW eingesetzt. Oftmaliges Ziel war der Gora (Berg) Sichani. Eigentlich war diese Erheb u n g mehr ein respektabler Hügel d e n n ein Berg. Sein sanft abfallender Westhang hatte eine nur spärliche Steppenbewachsung: vertrocknetes Gras, Disteln und einzelne Blumen. An diesem Hang ist viel Schweiß geflossen, denn im Hochsommer waren 40 Grad Celsius keine Seltenheit. An dem ausgedehnten Hang stand nur ein einziger Baum. Der Schatten seiner Krone zog uns stets magisch an. Um dorthin zu gelangen, veränderten wir den Standort unserer Gruppe beharrlich in kleinen Schritten. So kam es, daß »Papa Bakajev« auf einmal seitwärts der Gruppe stand, statt davor. Er bemerkte es schmunzelnd und machte dann das Spiel mit, bis der Schatten erreicht war. Hauptsächlicher Gegenstand der Taktikausbildung im Gelände war die »Arbeit des Kommandeurs nach Erhalt einer Aufgabe«. Für die Reihenfolge dieser Arbeit gab es ein Grundschema: Klarmachen der Aufgabe, Beurteilung der Lage, unterteilt nach Lage des Gegners, Lage der eigenen Truppe und Beurteilung des Geländes, Schlußfolgerungen aus der Beurteilung der Lage und dann abschließend der Entschluß und die Aufgabenstellung in Form eines Gefechtsbefehls. Die Taktikausbildung war der einzige Ausbildungszweig, in dem wir in

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der zweiten Hälfte des Lehrganges auch manchmal ohne den Gruppendolmetscher auskommen mußten. So wurde täglich eine Art »Diensthabender Dolmetscher« aus dem Bestände der Gruppe eingeteilt. Dabei gab es recht spaßige Mißverständnisse beim »Dolmetschen«. Dennoch hat uns diese Methode recht gut geholfen, einen anwendbaren taktischen Wortschatz zu erwerben. Dieser hat es uns dann spürbar erleichtert, den bei der Abschlußprüfung geforderten schriftlichen Gefechtsbefehl in Russisch abfassen zu können. Gegenstand der politischen Schulung war überwiegend die Geschichte der KPdSU, mit dem Schwerpunkt Parteitage. Die dazu gehaltenen Vorträge waren durchsetzt von Stalinkult, jedoch empfand ich das damals nicht so penetrant wie später, nach dem XX. Parteitag der KPdSU und den Enthüllungen Chruscevs. Als Stalin verstorben war, es geschah ja während des Lehrganges, schrieb ich an meinen Vater: »Stalin ist tot — was nun?« Mit dem Wissen von heute ist das für mich unfaßbar. Damals aber sah ich sowjetische Offiziere weinen. Durch Stalins Tod war es uns nicht mehr vergönnt, den für unsere Rückreise angekündigten Besuch des Leninmausoleums in Moskau zu erleben. Diese Gedenkstätte sollte für die Aufnahme Stalins vorbereitet werden, wozu es ja dann später nicht mehr gekommen ist. Zur Freizeitgestaltung an den Wochenenden und den Abenden waren ausreichende Möglichkeiten vorhanden. So eine kleine deutschsprachige Bibliothek, Billard und Filmvorstellungen. Allerdings wurden manche Filme mehrfach gezeigt. So zum Beispiel »Der Mann mit dem Gewehr« und »Es blinkt ein einsam Segel«. In beiden Filmen stand Lenin im Mittelpunkt. Als einen Höhepunkt sahen wir den Auftritt des Saratover Estradenorchesters an. Mir sind die staunenden Blicke der Musiker ob des eigenartigen Publikums noch gut in Erinnerung. Es gab auch einen Laienchor in unserem Lehrgang, in dem ich mitwirkte. Wir sangen deutsche und russische Volkslieder. Damit sind wir dann am Abschlußabend vor den sowjetischen Lehroffizieren und ihren Ehefrauen aufgetreten. Sofern wir nicht darauf angewiesen waren, nach dem Abendessen freiwillig Selbststudium durchzuführen, gingen wir oft an den Grenzen des äußeren Zaunes entlang spazieren und genossen die wunderschönen Aussichten über die ausgedehnten Wälder und bis in die Wolgaauen. Natürlich ging dabei mancher mit seinen Gedanken in Richtung Heimat. Von der erfuhren wir immer erst etwas mit vierwöchentlicher Verspätung. So lange dauerte es, bis wir die deutschen Zeitungen erhielten. So kam es, daß wir über den 17. Juni 1953 nur einige bruchstückhafte Informationen von sowjetischer Seite zu hören bekamen. Erst als kurze Zeit später Heinz Keßler, der spätere Verteidigungsminister, angereist war, erfuhren wir mehr. Zu dieser Zeit war er Chef der Volkspolizei Luft. Sein damaliger Bericht bestärkte mich in der Absicht, den Offizierberuf als meine Lebensaufgabe anzusehen. Dieser Wille ist in mir eigentlich erst während des Lehrganges gewachsen. In den Jahren davor gab es schon Situationen, in denen mir Zweifel daran gekommen waren. So gesehen, war der Sonderlehrgang in

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Privolsk so etwas wie ein Einschnitt in meinem Leben. Nun waren die Würfel gefallen. Angereichert mit viel Theorie, charakterlich weiter gereift, mit der Überzeugung gute Kameraden und den »Großen Bruder« an der Seite zu haben, erfüllten mich Tatendrang und Freude auf die bevorstehenden Aufgaben zum Schutze meiner Heimat. Es war meine volle Überzeugung, durch solide militärische Präsenz es nicht zum Ausbruch eines »heißen« Krieges kommen zu lassen. So würde es auch nicht zu einer militärischen Auseinandersetzung mit den Deutschen (West) kommen. Den Gedanken an die Möglichkeit einer solchen Katastrophe konnte ich nie zu Ende denken. Aber auch zu einer anderen Erkenntnis bin ich damals schon gekommen: Es konnte den Deutschen in der Uniform der HVA bzw. der Kasernierten Volkspolizei nicht gut tun, alles von der Sowjetarmee zu kopieren. Diesbezüglich ist uns beträchtlicher materieller, aber vor allem ideeller Schaden entstanden. Von der Sowjetarmee lernen wollte gelernt sein!

Bruno Thoß Zwei deutsche Staaten — zwei deutsche Armeen. Der Beitritt von Bundesrepublik und DDR zu den Bündnissen 1954/56 Am 30. August 1954 kam ausgerechnet in der französischen Nationalversammlung ein Projekt zu Fall, das im Herbst 1950 als genuines Produkt der französischen Politik geboren worden war: der Versuch, einen westdeutschen Beitrag zur Verteidigung Westeuropas über eine Europa-Armee konsensfähig zu machen. Zeitweilig erschien gerade dieser Weg besonders geeignet, drei unterschiedliche Interessenlagen in Einklang zu bringen. In Washington und London forderte man seit 1950 unter dem Eindruck des Kriegsausbruchs in Korea und einer erheblichen Streitkräftelücke in Mitteleuropa einen möglichst raschen und effizienten militärischen Beitrag der Bundesrepublik zur westeuropäischen Verteidigungsorganisation; in Paris war man dazu allenfalls dann bereit, wenn die Deutschen über eine enge supranationale Einbindung militärisch strikt kontrollierbar zu halten waren; für Bonn, das ursprünglich den direkten Beitritt zur NATO favorisiert hatte, kam letztlich alles darauf an, daß seine westeuropäischen Partner durch eigene Abgaben von Souveränitätsrechten dieser EuropaArmee den Charakter des einseitig Diskriminierenden für die Deutschen nahmen. Nach erheblichen Anfangsschwierigkeiten bei den Verhandlungen darüber schien die 1952 gefundene Lösung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) — militärisch eng verzahnt mit der NATO — allen diesen Forderungen noch am ehesten gerecht zu werden. In den Augen von Bundeskanzler Konrad Adenauer bot sie darüber hinaus zwei weitere Vorteile: über die Europäisierung der Sicherheitsfrage mochte sich die nach Anfangserfolgen bereits wieder stagnierende europäische Integration voranbringen lassen; diese europäische Einkleidung konnte daneben aber auch innenpolitische Widerstände in der Bundesrepublik gegen das ungeliebte Kind einer künftigen westdeutschen Armee überwinden helfen. Im Sommer 1954 hatten inzwischen vier der sechs Teilnehmer — die Bundesrepublik und die drei Benelux-Staaten — die EVG-Verträge ratifiziert, die italienische Ratifizierung stand unmittelbar in Aussicht, da scheiterte das Projekt aus der Sicht seiner Protagonisten beiderseits des Atlantik gleichsam in letzter Minute an Frankreich. Daß eine Mehrheit von 319 gegen 264 Stimmen bei zwölf Enthaltungen die Verträge gar nicht mehr zur Abstimmung stellte, sondern sie schlicht durch die Absetzung von der Tagesordnung erledigte, gab dem Ganzen auch noch eine besonders verletzende Form. Zusätzliches Salz in

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die offene Wunde streuten naturgemäß die sowjetischen Kommentare, die den französischen Parlamentariern eine »zutiefst patriotische Tat« bescheinigten und das Scheitern der EVG triumphierend als einen Sieg der »Friedenskräfte« über die »deutschen Militaristen« feierten. Was wunder, daß die Reaktionen in den westlichen Hauptstädten einigermaßen alarmiert ausfielen. Der amerikanische Außenminister John Foster Dulles wertete das Scheitern der EVG intern als eine »Krise von katastrophalen Ausmaßen«. Immerhin hatten er und Präsident Dwight D. Eisenhower in den letzten Monaten ihr ganzes Prestige für das Projekt in die Waagschale geworfen. Jetzt mußten sie befürchten, daß ihre Allianz- und Europapolitik insgesamt unter Beschuß der Isolationisten im US-Kongreß geriet, die sich längst wieder aus den europäischen Händeln verabschieden wollten. Die zeitliche Nähe zur Beendigung des französischen Kolonialkrieges in Indochina nährte außerdem den Verdacht in Washington, daß der französische Ministerpräsident Pierre Mendès-France die sowjetische Hilfestellung dabei geradezu durch ein geheimes Geschäft mit Moskau gegen die amerikanischen Sicherheitsinteressen in Westeuropa erkauft haben könnte. Ähnliche Gerüchte kursierten in Bonn, wo Bundeskanzler Adenauer zentrale Teile seines außenpolitischen Lebenswerkes, eine dauerhafte Einbindung der jungen Bundesrepublik in den Westen, in die Brüche gehen sah und deshalb in seinen ersten Reaktionen entsprechend düster gestimmt war. Wie sollte er verhindern, daß seine Prioritätensetzung für den Westen unter den Druck einer bis in die eigenen Reihen reichenden Allparteienforderung nach einer aktiveren Ost- und Deutschlandpolitik geriet, wenn sein französischer Partner so offenkundig auf eine Politik des Vorrangs rein französischer Interessen setzte? Wie war der europapolitische Schaden dieses wichtigsten supranationalen Anlaufs zur Integration Westeuropas zu beheben? Unter welchem Dach sollte eine dringend notwendige Saar-Lösung untergebracht werden, ohne die das Verhältnis zu Paris und damit zu den westeuropäischen Nachbarn insgesamt in der Luft hing? Wo blieb schließlich die Sicherheit der Bundesrepublik, wenn die USA ihre Drohung einer grundsätzlichen Revision ihrer Europapolitik wahrmachten und sich in die »Festung Amerika« zurückzogen? In der allgemeinen Krisenstimmung des Westens blieben allein die Briten vergleichsweise gelassen. Ihre Führung, allen voran der alte Macht- und Interessenpolitiker Sir Winston Churchill, hatten hinter vorgehaltener Hand nie einen Zweifel an ihrer Skepsis über das Funktionieren eines politischen und militärischen Gebildes wie der EVG gelassen, das die nationale Verantwortung für die eigene Sicherheit an übernationale Organisationen abtrat. Churchill machte denn auch jetzt aus seinem Herzen keine Mördergrube, wenn er Dulles gegenüber mit Genugtuung vermerkte, daß es mit dieser »EVG-Narretei« sein Bewenden habe. Damit setzte er sich freilich in Washington dem Verdacht aus, die Franzosen zu ihrer Haltung insgeheim ermutigt zu haben. Würde man diese vielfältigen innerwestlichen Verwerfungen des Sommers 1954 zum Nennwert nehmen, dann bliebe kaum erklärbar, wie nach einem sol-

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chen politischen Debakel eine neue tragfähige Lösung innerhalb von sieben Wochen gefunden werden konnte, an der man gerade eben nach beinahe vier Jahren Vorlauf gescheitert war. Deshalb ist es notwendig, erst einmal unbelasteter als die damaligen Akteure nach den Gründen zu suchen, die den Mißerfolg der EVG programmiert hatten, um daraus die Alternativen herzuleiten, die nunmehr mit größerer Aussicht auf Erfolg weiterverfolgt werden konnten. Da stand zunächst einmal das Problem im Raum, daß die westeuropäischen Staaten die militärische Verantwortung für ihre Verteidigung an eine supranationale Behörde abgeben sollten, über der aber ein gemeinsames politisches Dach fehlte. Schließlich waren alle Anläufe zu einem Bundesstaat Europa, wie sie mit dem Projekt einer Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) verbunden gewesen waren, schon 1953 faktisch versandet. Hinzu kam, daß die militärische Organisation innerhalb der NATO inzwischen so voranschritt, daß jede rein kontinental-westeuropäische Untergliederung den Prozeß der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit mehr behinderte als förderte. Alle Vorstellungen von einer eigenständigeren »Dritten Kraft Europa« blieben im übrigen so lange Illusion, wie sich die Westeuropäer intern nicht auf die dazu notwendige Abgabe substantieller Souveränitätsrechte an europäische Ordnungsstrukturen verständigen konnten. Mit ihrem nicht eben geschickten Druck hatten sich die Amerikaner zudem so sehr für die EVG exponiert, daß in Westeuropa das Bewußtsein eigener Verantwortung für die Lösung der Sicherheitsfrage verloren zu gehen drohte. Dabei lag das gravierendste Risiko, das aus dem Scheitern der EVG herrührte, bei der Zeitfrage. Den ersten Anlauf zu einem Einbau der Bundesrepublik in die westeuropäischen Sicherheitsstrukturen hatte man vor dem Hintergrund allgemeiner Bedrohungsgefühle nach dem Ausbruch des Korea-Krieges in Angriff nehmen können. Jetzt dagegen waren zwei der heißen Konflikte in Korea (1953) und Indochina (1954) beigelegt worden. Bei den europäischen Neutralen und in der Dritten Welt suchten sich immer mehr Staaten aus dem Prozeß der west-östlichen Blockbildung herauszuhalten und mit der Bewegung der Blockfreien einen Weg zur internationalen Entspannung anzusteuern. Mit ihrer Unterstützung der antikolonialen Befreiungsbewegungen in Asien und Afrika und ihren positiven Signalen in der Abrüstungs- und Neutralitätsfrage machte sich die Sowjetunion nicht ohne Aussicht auf Erfolg diese neue Dynamik in den internationalen Beziehungen zunutze. Selbst im Westen mehrten sich die Stimmen, die vor einer neuen Rüstungsrunde mit ihren militärischen und finanziellen Risiken nach den langen Jahren des Zweiten Weltkrieges und des anschließenden Kalten Krieges erst einmal die Möglichkeiten eines Spannungsabbaus ernsthaft geprüft sehen wollten. Auf den ersten Blick enthielt die neue Lage nach dem 30. August 1954 mithin für die Sowjetunion die günstigsten Perspektiven. Bei den Nuklearwaffen hatte sie mit den erfolgreichen Versuchsexplosionen einer Atombombe 1949 und einer Wasserstoffbombe 1953 das Monopol der USA durchbrochen. Die Modernisierung ihrer konventionellen Streitkräfte schritt zügig voran. In einem

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Netzwerk bilateraler Sicherheitsabsprachen hatte sie ihr ostmitteleuropäisches Vorfeld abgedeckt. Der Aufbau ostdeutscher Streitkräfte unter dem Deckmantel der Kasernierten Volkspolizei (KVP) wies ebenfalls bereits erhebliche Stärke auf. Was lag also näher, als die innerwestlichen Querelen erst einmal zu beobachten und sie im Falle einer doch noch erfolgreichen Einigung mit neuen Entspannungssignalen auszuhebein? Deshalb zeigte man sich in Moskau in den ersten Wochen nach dem Scheitern der EVG zunächst auch nicht sonderlich alarmiert von den anlaufenden Reparaturversuchen der EVG-Schäden im Westen. Die letzte westliche Note über eine eventuelle neue Viermächte-Konferenz blieb unbeantwortet bis Ende Oktober liegen. Die sowjetische Führung nahm sich statt dessen in den entscheidenden Verhandlungswochen des Westens die Zeit zu einer ausgedehnten Reise durch Sibirien! Gerade diese abwartende Haltung sollte sich allerdings im nachhinein als das schwerste Versäumnis in den sowjetischen Reaktionen auf den 30. August herausstellen. Schließlich hätte der Rückschlag bei den Westmächten für die Sowjetunion erstmals seit dem Ausbruch des Kalten Krieges wieder die Chance eröffnet, unbelastet vom Druck einer westlichen sicherheitspolitischen Einigung durch substantielle entspannungspolitische Signale die Dissonanzen zwischen den USA und ihren westeuropäischen Verbündeten weiter zu vergrößern. Nach den innerwestlichen Erfolgen auf den Konferenzen von London und Paris im Herbst 1954 würde es dafür an der Jahreswende 1954/55 schon wieder zu spät sein. Nach dem ersten Schock durfte dagegen Adenauer den sofort eingeleiteten neuen Sicherheitsverhandlungen mit den Westmächten einigermaßen zuversichtlich entgegensehen. Anders als sein französischer Kontrahent MendèsFrance hatte er sich in den zurückliegenden Jahren als der berechenbarere Partner der angelsächsischen Mächte erwiesen. Er durfte daher mit einigem Recht darauf bauen, daß sie ihm für eine neue Sicherheitslösung ein größeres Maß an Souveränität zugestehen würden, als sie dies noch 1952 im Gegenzug zu den EVG-Verträgen getan hatten. Auch würde man den Deutschen jetzt den Weg in den »attraktiveren Klub« der NATO nicht mehr verbauen können. Die Einigung des Westens mußte allerdings schnell gefunden werden, bevor die Fliehkräfte eines wiedererwachenden Nationalismus in und um die Bundesrepublik im Zusammenspiel mit einer elastischeren Westpolitik des Kreml ihre volle Wirkung gegen die Interessen des Kanzlers entfalten konnten. Genau dafür drückten Washington und London sofort aufs Tempo. Ihre Vorstellungen vom Weg und den Zielen einer neuen Sicherheitskonstruktion wichen zunächst allerdings noch deutlich voneinander ab. Für die Amerikaner bot nach wie vor eine Europäisierung der westdeutschen Aufrüstung die beste Garantie, um zugunsten des eigenen Etats die Verteidigungslasten angemessener zwischen den USA und Westeuropa zu verteilen und gleichzeitig allzu störende Eigenwege der einzelnen westeuropäischen Partner einzugrenzen. Im Gegensatz dazu plädierten die Briten nunmehr für einen direkten NATO-Beitritt der Bundesrepublik, wobei Bonn dafür freiwillig ähnliche Einschränkun-

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gen seiner Rüstung wie in der EVG hinnehmen sollte. Die Vorteile dieser Lösung für London lagen auf der Hand: Im Rahmen der NATO brauchte man sich selbst militärisch nicht so direkt in die westeuropäische Verteidigung einzubinden wie in der EVG, und daneben wurde eine allzu enge Einigung Europas abgebremst, die gegen britisches Interesse mögliche Handelsmauern um den Kontinent aufrichten und einer wirtschaftlichen Dominanz der Deutschen zuarbeiten konnte. Auch die taktische Marschroute von Dulles sahen Churchill und sein Außenminister Sir Anthony Eden als wenig hilfreich an, da sie mit ihren psychologischen und finanziellen Strafmaßnahmen gegen Paris nur zu einer weiteren Verhärtung der französischen Haltung zu führen drohte. In einer Blitztour durch die westeuropäischen Hauptstädte klopfte Eden daher die Aussichten für eine von den Westeuropäern selbst zu findende Lösung ab. Dabei wurde schnell klar, daß für Mendès-France ein direkter NATO-Beitritt der Bundesrepublik innenpolitisch nicht durchsetzbar war, selbst wenn der Oberbefehlshaber der NATO in Europa (SACEUR) dafür die Kontrolle der deutschen Rüstungsbeschränkungen übernehmen würde. Was dem französischen Ministerpräsidenten vielmehr vorschwebte, war eine Erweiterung des Brüsseler Paktes von 1948 (Großbritannien, Frankreich und die Benelux-Staaten) um Italien und die Bundesrepublik zur Westeuropäischen Union (WEU). Damit ließen sich die Kontrollinstrumente aus der EVG in neuer europäischer Umkleidung übernehmen, während sich die Engländer in dieser Konstruktion ebenso eng in die westeuropäische Verteidigung einfügen mußten wie die Franzosen. Den Deutschen konnte man dafür in der Souveränitätsfrage etwas weiter entgegenkommen. Nach einer Einigung des Westens auf diese Lösung sollten aber weiterhin auch alle Chancen zu einer neuen OstWest-Runde ausgelotet werden, um dadurch das Niveau der westdeutschen Aufrüstung möglichst niedrig halten zu können. Eden war pragmatisch genug, den französischen Vorstellungen entgegenzukommen, und nach letzten Widerständen ließ sich selbst Dulles davon überzeugen, daß dieser europäische der schnellste Weg zum Erfolg sein würde. Dafür signalisierte Mendès-France seinen Partnern, daß er diesmal anders als bei der EVG sein volles Prestige für eine sofortige Ratifizierung der neuen Verträge im französischen Parlament einsetzen würde. Deshalb machten die Angelsachsen Adenauer schon im Vorfeld der Londoner Konferenz (28. September bis 3. Oktober 1954) deutlich, daß sie nunmehr auch von ihm ein Zurückschrauben deutscher Maximalziele erwarteten. Obwohl in den Vorklärungen bis Konferenzbeginn schon einiges abgestimmt war, blieben für London und die anschließenden Konferenzen in Paris (19. bis 23. Oktober 1954) doch noch größere Stolpersteine aus dem Weg zu räumen. Auf einen einfachen Nenner gebracht waren die Westmächte bereit, der Bundesrepublik im Gegenzug zu ihrem kontrollierten Allianzbeitritt erweiterte Souveränität zuzugestehen. Diese Zugewinne waren für Adenauer um so notwendiger, als er damit den Skeptikern gegen seinen Westkurs in und außerhalb

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seiner Koalition den Wind aus den Segeln zu nehmen hoffte. Fraglich blieb für jene nämlich, ob eine militärische Einbindung der Bundesrepublik in den Westen nicht mit erhöhten deutschlandpolitischen Kosten erkauft werden mußte. Schließlich konnte die vierte Besatzungsmacht, die Sowjetunion, danach kein Interesse mehr haben, die gegnerische Militärallianz der NATO zusätzlich um ein wiedervereinigtes Deutschland zu verstärken. Andererseits konnten und wollten aber auch die Westmächte die Deutschen noch nicht in die volle Souveränität entlassen. Da wirkten historische Sorgen vor einer allzu ungebremsten Dynamik des deutschen Partners nach, die durch die rasche wirtschaftliche Erholung der Bundesrepublik von den Kriegsfolgen weitere Nahrung erhielten. Von den Westmächten gefordert und von Adenauer akzeptiert wurde deshalb in den Pariser Verträgen ein Gewaltverzicht bei der Verfolgung deutscher nationaler Interessen. Dafür erneuerten die Westmächte ihre Sicherheitsgarantien aus der EVG für die Bundesrepublik und Westberlin. Damit verbunden war die Zusage der künftigen NATO-Partner, eine auf Wiedervereinigung gerichtete Politik der Bundesrepublik zu unterstützen. Die aus demokratischen Wahlen hervorgegangene Bundesregierung wurde dazu schon jetzt förmlich als allein legitimierte Sprecherin des ganzen deutschen Volkes anerkannt. Im übrigen sollten die Grenzen eines künftigen Gesamtdeutschland Die Unterzeichnung der Pariser Verträge am 23. Oktober 1954

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erst auf einer Friedenskonferenz festgelegt werden. An die Stelle eines formellen Friedensvertrages traten dann 1990 die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen der ehemaligen Siegermächte mit den beiden deutschen Staaten in Verbindung mit dem deutsch-polnischen Grenzvertrag. Die militärischen Festlegungen kreisten um die Frage, wie man deutsches Verlangen nach gleichberechtigter Partnerschaft im Bündnis mit den Interessen der Westmächte nach einem kontrollierten Allianzbeitritt der Deutschen in Einklang bringen konnte. Das begann bereits beim Status der künftigen ausländischen Verbände auf deutschem Boden, die von Besatzungstruppen zu Bündniskontingenten werden mußten. Dazu schlössen die übrigen Verbündeten mit der Bundesrepublik einen förmlichen Vertrag über die Stationierung von NATOVerbänden auf deutschem Territorium. Die Rechte dieser Soldaten sollten in einem später zu verhandelnden Truppen- und Finanzvertrag fixiert werden, der dem NATO-Truppenstatut in allen übrigen NATO-Staaten entsprechen sollte. Ganz war dies freilich weder jetzt noch später zu errreichen, denn die Truppen der drei Westmächte standen auf doppelter Rechtsgrundlage in Deutschland. Neben ihrer Funktion als Teile der Bündnisverteidigung in Mitteleuropa blieben sie weiterhin zusammen mit der vierten Siegermacht Sowjetunion verantwortlich für Deutschland als Ganzes, solange kein Friedensvertrag geschlossen werden konnte. Bis zu einer deutschen Regelung über den Notstandsfall, die erst 1968 von der Großen Koalition durchgesetzt werden konnte, blieben ihnen außerdem die entsprechenden Befugnisse dafür vorbehalten — im Bedarfsfalle allerdings nur noch in Abstimmung mit der Bundesregierung. Noch konkreter wurden die Pariser Verträge schließlich bei den Bestimmungen über Umfang, Bewaffnung und Führung einer künftigen deutschen Armee. Nach zähen Verhandlungen einigte man sich schließlich darauf, daß die Bundesrepublik die Höchststärke von 500 000 Mann nicht überschreiten durfte. Um dem Ganzen das Odium des Diskriminierenden zu nehmen, ging Adenauer zudem freiwillig einen deutschen Verzicht auf die Herstellung von ABC-Waffen sowie auf die Ausrüstung der Bundeswehr mit Fernlenkgeschossen, schweren Schiffstypen und Bombern ein. Im übrigen sollten alle deutschen Einsatzverbände direkt unter NATO-Kommando gestellt werden, während Briten und Franzosen ihre Überseetruppen unter nationaler Verfügung halten durften. Doch damit nicht genug. Da im Vertragswerk von Paris nicht nur gemeinsame Sicherheit mit Deutschland vor der Sowjetunion, sondern gleichzeitig auch immer noch Sicherheit vor Deutschland gesucht wurde, stand und fiel der Konferenzerfolg mit der Lösung der Kontrollproblematik. Auf welcher Ebene sollten die Kontrollen der deutschen Aufrüstung angesiedelt werden, bei der übergeordneten NATO oder beim westeuropäischen Unterbündnis der WEU? Die Angelsachsen waren vorrangig an einem möglichst wirksamen deutschen Allianzbeitrag interessiert und hielten deshalb eine Erweiterung der Befugnisse von SACEUR für ausreichend. Genau an diesem Punkt versteifte sich jedoch der französische Widerstand bis an die Grenzen eines Scheiterns der Londoner und Pariser Verhandlungen. Die NATO würde aus ihrem Interesse an möglichst

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schlagkräftigen deutschen Verbänden schnell zu Lockerungen der Kontrollen bereit sein, deshalb mußten sie auf französisches Verlangen bei einer eigenen Rüstungsagentur der WEU aufgehängt werden. Mit zunehmender Vertrauensbildung im Bündnis sollten allerdings in den 70er und 80er Jahren auch die Rüstungsbremsen der WEU für die Bundeswehr Schritt für Schritt gelöst werden. Dem weitergehenden französischen Wunsch, die gesamte Rüstungsproduktion auf dem westeuropäischen Kontinent einschließlich der Verteilung der amerikanischen Rüstungshilfe für Europa in einem Rüstungspool der WEU zusammenzubinden und damit — wenn auch in europäischem Gewände — die Deutschen auf diesem besonders sensiblen Felde zusätzlich kontrolliert zu halten, folgten die übrigen Partner dagegen nur halbherzig. Der Grundgedanke einer kostensparenderen gemeinsamen Rüstungspolitik wurde zwar gutgeheißen, seine Verwirklichung aber erst einmal als zu komplex an eine Arbeitsgruppe überwiesen. Kein Entgegenkommen zeigten dabei von vornherein die USA gegenüber dem zusätzlichen französischen Wunsch nach einer Verteilung der amerikanischen Militärhilfe für Westeuropa durch die WEU, da sie sich nicht die Möglichkeit verbauen lassen wollten, mit ihrer Rüstungshilfe unabhängig von europäischer Mitsprache nach ihrem eigenen Interesse zu verfahren. So kam denn wohl die an Frankreich zugesagte Arbeitsgruppe »Rüstungsproduktion und -Standardisierung« der WEU zustande, freilich erst nach der Ratifizierung der Pariser Verträge in der französischen Nationalversammlung. Damit war Paris aber beim Zusammentritt der Arbeitsgruppe Mitte Januar 1955 das entscheidende Druckmittel aus den Händen genommen, mit dem sie durch eine Verzögerung des gesamten Vertragspaketes ihr Wunschkind eines engen supranationalen Rüstungsverbundes doch noch hätte durchdrücken können. Außerdem blieb der französische Plan zu sehr seinen Kontrollabsichten verhaftet, als daß seine europäische Umkleidung auf die übrigen Westeuropäer wirklich werbend wirken konnte. So hatte denn der deutsche Wirtschaftsminister Ludwig Erhard, dessen wirtschaftsliberaler Kurs sich nicht mit den staatswirtschaftlichen Vorstellungen von Mendès-France vertrug, wenig Mühe, die Verhandlungen in eine weitaus unverbindlichere Richtung zu lenken. Um die Franzosen das Gesicht wahren zu lassen, w u r d e zwar ein WEU-Ausschuß für Rüstungsfragen ins Leben gerufen. Er verfügte aber über keine supranationalen Kompetenzen, sondern mußte sich mit der Koordination von freiwilligen Rüstungsprojekten der WEU-Staaten untereinander begnügen. Jenseits ihrer Kontrollbefugnisse konnte die WEU mithin die einmal in sie gesetzten Erwartungen, als Motor für die stagnierende europäische Integration zu wirken, nicht erfüllen. Der Weg dazu führte vielmehr weg von der Sicherheitspolitik zurück zu den Anfängen der wirtschaftlichen Integration — von der Montanunion (1950) über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (1957) bis zur Europäischen Union unserer Tage. Auf einem Gebiet glaubte sich Frankreich dagegen hinreichend gewappnet, u m im Gegenzug für seine Zustimmung zu einer Aufrüstung Westdeutschlands eigene nationale Ziele durchsetzen zu können: bei der Saarfrage. Die dau-

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erhafte politische und wirtschaftliche Sicherung des Industriegebietes an der Saar war in französischen Augen die wesentlichste materielle Wiedergutmachung, die das Deutsche Reich nach 1945 für die schweren Schäden aus dem Zweiten Weltkrieg an Paris zu entrichten hatte. Entsprechende britische und amerikanische Zusagen auf Unterstützung hatten diese französische Auffassung bestärkt. Umgekehrt stand aber Adenauer mit dem Rücken zur Wand, da in seiner Koalition wenig Bereitschaft zu erkennen war, einen an sich schon ungeliebten Wehrbeitrag der Bundesrepublik auch noch durch nationale Verzichtsleistungen zu bezahlen. Wie konnten es die Westmächte außerdem vertreten, daß sie gegenüber der Sowjetunion und Polen die Frage der deutschen Ostgrenzen bis zu einem Friedensvertrag offenhalten, an der deutschen Westgrenze aber schon vorher vollendete Tatsachen zuungunsten der Deutschen im Sinne Frankreichs zulassen wollten? Doch an diesem Punkt blieb Mendès-France unnachgiebig. Durch Parlamentsbeschluß legte die Nationalversammlung den Regierungschef darauf fest, daß er die Pariser Verträge nur im Verein mit einer »definitiven Saarregelung« akzeptieren durfte. Wenn Adenauer also seinerseits — ebenfalls unter schwerem innenpolitischem Druck — hart blieb, riskierte er, als der Schuldige für das Scheitern des gesamten Vertragswerkes an dieser Einzelfrage dazustehen. Den Ausweg aus der Verhandlungsblockade wies schließlich die Kompromißlösung, daß die Saar über ein deutsch-französisches Statut zum eigenständigen europäischen Territorium umgewandelt, also als Zankapfel zwischen Paris und Bonn entschärft werden sollte. Zur demokratischen Absicherung würde man die Saarländer 1955 zu einem Volksentscheid aufrufen, der die jetzt gefundene Verhandlungslösung endgültig absichern sollte. Seinen Kritikern an dieser »Preisgabe der Saar« würde Adenauer vorhalten, daß dies 1954 der einzig gangbare Weg gewesen sei, um ein Scheitern der Pariser Verträge zu Lasten der Bundesrepublik und ein wenigstens formales Offenhalten der Saarfrage von Paris zu erlangen. Tatsächlich lag das ganze Risiko damit aber bei den Saarländern und ihrem Rückkehrwillen zu Deutschland — und sie sollten dieses letzte Schlupfloch im Herbst 1955 bei der Volksabstimmung mit klarer Zweidrittelmehrheit nutzen! Daß Frankreich dieses demokratische Votum schließlich akzeptierte, trug für die Zukunft nicht zum wenigsten dazu bei, eine jahrhundertelange »Erbfeindschaft« zwischen den Nachbarn am Rhein friedlich und dauerhaft zu beenden. Vergleicht man die Sicherheitslösungen von 1952 und 1955, dann versteht man Adenauers Erleichterung darüber, daß die neue letztlich viel besser als die alte Übereinkunft geraten sei. Zwar hatte Bonn mit dem Saarabkommen und den Bestimmungen über die Rüstungskontrolle immer noch erhebliche Vorleistungen für den Verhandlungserfolg akzeptieren müssen. Auch waren die Hoffnungen nicht gereift, über die Suche nach gemeinsamer Sicherheit Westeuropa enger integrieren und als eigenständigere »Dritte Kraft« in der Weltpolitik etablieren zu können — ein Problem, das Adenauer in der Zukunft immer dann besonders umtreiben sollte, wenn er befürchten mußte, daß sich die beiden Su-

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permächte USA und UdSSR auf Kosten ihrer kleineren Partner einigen könnten. Insgesamt aber würden schon binnen kurzem die Chancen aus dem kombinierten NATO-WEU-Beitritt kräftig für Bonn zu Buche schlagen. Die Bundesrepublik hatte mehr an Souveränität und Gleichberechtigung im Bündnis erreicht, als ihre Partner noch 1952 zugestehen wollten — und sie hatte durch die Verstärkung der NATO zudem ein höheres Maß an Sicherheit an der Nahtstelle zum Ostblock erlangt als in der militärisch allgemein skeptisch bewerteten EVG. Im übrigen sorgten die außereuropäischen Belastungen der alten Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich rasch dafür, daß die wirtschaftlich weiter prosperierende Bundesrepublik im westlichen Bündnis und gegenüber seiner Führungsmacht USA zunehmend an politischem und militärischem Gewicht gewann. Damit wird zugleich deutlich, daß die Lösung der Sicherheitsfrage weit mehr darstellte als den Beitritt zu einer Militärallianz; sie schuf politisch und wirtschaftlich erst wirklich die Voraussetzungen für das »Erfolgsmodell Bundesrepublik«, das die zweite deutsche Demokratie so ungleich stabiler machen sollte als ihre Vorgängerin von Weimar. Mit dem Abschluß der Pariser Verträge war der Westen allerdings noch keineswegs über dem Berg. Schließlich war abzusehen, daß die Sowjetunion diesen Erfolg nicht weiterhin so tatenlos hinnehmen würde, wie sie das in den zurückliegenden Verhandlungswochen getan hatte. Deshalb mußte innerhalb des westlichen Bündnisses alles unternommen werden, um die Opposition gegen die Verträge in den eigenen Reihen möglichst klein zu halten und durch schnelle Ratifizierung auch den Gegenreaktionen der Sowjetunion von außen zuvorzukommen. Die Einschätzung Moskaus warf indes im Westen sofort zwei Fragen auf: Wie würde die sowjetische Führung reagieren und wo würde sie den Hebel dazu ansetzen? Sie konnte versuchen, den in Fahrt gekommenen Zug einer westlichen Einigung durch die eigene Bereitschaft zum Dialog über substantielle Entspannungsangebote noch in letzter Stunde erneut zum Stehen zu bringen. Dazu mußte sie aber auf den Feldern größere Beweglichkeit als bisher zeigen, auf denen die Ost-West-Auseinandersetzungen besonders heftig geführt wurden: Wiedervereinigung Deutschlands und Berlins, Staatsvertrag für Österreich, Abrüstung und Entspannung. Schätzte die sowjetische Führung die Erfolgsaussichten einer neuen Ost-West-Runde dagegen skeptisch ein, dann würde sie an allen diesen Punkten den Druck erhöhen und dem Westen in einer groß angelegten Propagandakampagne die Schuld für die neue Eiszeit in den internationalen Beziehungen zuschieben. Was sie auch immer unternahm, ihre bevorzugten Zielgebiete, auf denen sie schon in den vergangenen Jahren die Haltbarkeit der westlichen Einheit getestet hatte, würden auch jetzt wieder Paris und Bonn sein. Erste Hinweise auf die sowjetischen Gegenmaßnahmen gab die Beantwortung der letzten westlichen Note vom 10. September durch den Kreml unmittelbar nach Abschluß der Pariser Konferenzen am 23. Oktober 1954. Die sowjetische Antwort enthielt letztlich nur bereits bekannte Positionen: das Angebot

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einer neuen Vier-Mächte-Konferenz, auf der über ein System kollektiver Sicherheit in Europa verhandelt und damit eine Aufrüstung in Deutschland verhindert werden sollte. Schnell wurde auch klar, daß Frankreich als Schwachstelle in der westlichen Einheitsfront angesehen wurde. An seine Adresse gingen die Warnungen vor einem Wiederaufleben des deutschen »Militarismus und Revanchismus«, aber auch die unverhohlene Drohung, im Falle einer Ratifizierung der Pariser Verträge werde man den 1944 mit Charles de Gaulle geschlossenen Freundschafts- und Beistandspakt kündigen. Was stand hinter dieser mageren Demarche? Nahm die sowjetische Führung die erreichte westliche Einigung immer noch nicht wirklich ernst oder hinderten sie die Machtkämpfe in den eigenen Reihen zwischen den um Regierungschef Georgij M. Malenkov und den um Parteichef Nikita S. Chruscev gruppierten Kräften an einer flexibleren Außenpolitik? Für den Westen bot das Vorgehen Moskaus jedenfalls erst einmal die Chance, auf Zeit zu spielen, Präzisierungen des sowjetischen Verhandlungsangebots anzufordern und währenddessen die Ratfizierung der Pariser Verträge unter Dach und Fach zu bringen. Nur Mendès-France verwies warnend darauf, daß die sowjetischen Vorstöße nicht ohne Eindruck auf die französische Öffentlichkeit blieben. Das wiederum gab Adenauer Anlaß, gegen jedes mögliche Ausscheren eines Partners eine eng aufeinander abgestimmte gemeinsame westliche Antwort anzumahnen. Generell war dabei jedoch schon jetzt auch in Washington und London zu erkennen, daß man zwar zunächst noch die eigenen Reihen sicherheitspolitisch über den NATO-Beitritt der Bundesrepublik schließen wollte, daß man dann aber auf der Basis dieser Geschlossenheit und Stärke auch seinerseits an neuen Vier-Mächte-Verhandlungen interessiert war. Schließlich ging man zu diesem Zeitpunkt allgemein in den westlichen Einschätzungen davon aus, daß keine unmittelbare Kriegsgefahr mehr bestand und deshalb auch in den Gesellschaften des Westens die Sehnsucht nach spartnungs- und risikoärmeren internationalen Verhältnissen wuchs. Den Sowjets waren so allgemein gehaltene Wechsel auf die Zukunft freilich erkennbar zu wenig. Bei den alljährlichen Revolutionsfeiern erhöhten die Kremlführer deshalb den Druck mit der Warnung, eine Verstärkung des westlichen Bündnisses werde man mit einem »größeren Verteidigungsprogramm« und einem engeren Zusammenschluß der Ostblockstaaten kontern. Gleichzeitig lud man erneut zu einer europäischen Sicherheitskonferenz unter Beteiligung der USA und Chinas ein, ohne dazu substantiellere Angebote als bisher vorzulegen. In Washington, London und Bonn reagierte man mit betonter Gelassenheit auf den neuen Vorstoß. In Paris kochten dagegen die innenpolitischen Auseinandersetzungen um eine Aufrüstung Westdeutschlands im Vorfeld der Debatten in der Nationalversammlung um die Pariser Verträge von Woche zu Woche höher. Deshalb forderte Mendès-France seine Partner immer dringender auf, den Wettlauf um die Weltmeinung mit den Sowjets offensiver zu führen. Auch er sah momentan keine Bewegung in der schwierigen deutschen Frage, wollte man nicht riskieren, daß ein wiedervereinigtes neutralisiertes Deutschland sei-

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ne Schaukelpolitik aus der Zwischenkriegszeit (»Rapallo«) zwischen West und Ost wieder aufnahm. Es lag daher auch im französischen Interesse, die Bundesrepublik dauerhaft in den Westen einzubinden. Was aber war mit Österreich? Hier hatten sich die Standpunkte doch schon im Frühjahr 1954 so weit angenähert, daß man die noch ausstehenden Fragen zum Prüfstand ernsthafter sowjetischer Verhandlungsbereitschaft machen konnte. Aus der Sicht seiner westlichen Partner war eine Vier-Mächte-Konferenz, auf der die Sowjetunion mit allen möglichen Angeboten Entspannung signalisieren und am Verhandlungstisch dann doch wieder ihre virtuose Verzögerungstaktik einschlagen konnte, zum jetzigen Zeitpunkt indes Gift. Wenn in der eigenen Öffentlichkeit erst einmal das Bewußtsein für den fortdauernden Konflikt mit dem Ostblock verlorenging, würde sich gerade in Frankreich kaum noch eine Mehrheit für die Pariser Verträge finden lassen. Aber auch in der Bundesrepublik mußten dann die Gegner von Adenauers Westkurs Oberwasser bekommen, für die eine Wiedervereinigung nur über eine flexiblere Ostpolitik zu erlangen war. Doch Mendès-France, der dringend Entlastung vor der französischen Öffentlichkeit und im Parlament brauchte, suchte im November 1954 mit einem Alleingang vor der UNO seine Initiative für eine Österreich-Konferenz voranzubringen. Erst sollten zwar auch für ihn die Pariser Verträge ratifiziert sein, für die Zeit danach wollte er aber schon jetzt einen genauen Termin im Mai 1955 für Österreich-Verhandlungen verbunden mit einer westlichen Abrüstungsinitiative festgeklopft sehen. Zum Entsetzen seiner Partner schien er damit den Sowjets genau den Ansatzpunkt zu bieten, der ihnen ein Abtasten der schon wieder brüchiger gewordenen westlichen Einheitsfront erlaubte. Doch in Moskau, wo man offenbar nur den Versuch des französischen Regierungschefs dahinter witterte, die innerfranzösische Opposition gegen die Pariser Verträge ruhigzustellen, wies man die Signale aus Paris mit dem groben Bemerken zurück, »die Russen seien doch keine Kinder«! Nach dieser Brüskierung schwenkte auch Mendès-France erst einmal voll auf die gemeinsame westliche Linie zurück: keine Verhandlungsangebote an den Osten vor Ratifizierung der Westverträge. Umgekehrt ging nun auch die Sowjetunion einen Schritt weiter auf dem Weg zur sicherheitspolitischen Konsolidierung des eigenen Einflußbereichs in Osteuropa. Dazu wurde zunächst einmal mit dem Abbau der Spannungen innerhalb des kommunistischen Lagers zu China und Jugoslawien begonnen. Im Falle Belgrads konnte man damit auch die militärische Zusammenarbeit mit den NATO-Ländern Griechenland und Türkei im Balkanpakt aufweichen. Da der Westen eine Teilnahme ablehnte, beschränkte sich die sowjetisch initiierte europäische Sicherheitskonferenz in Moskau Ende November/Anfang Dezember 1954 im übrigen auf ein reines Ostblocktreffen. Dabei wurden »gemeinsame Maßnahmen im Bereich der Organisierung der Streitkräfte und ihres Kommandos« angekündigt, wenn der Westen die Pariser Verträge ratifizierte. Der Warschauer Pakt des Jahres 1955 warf bereits unübersehbar seine Schlagschatten voraus!

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Mit dieser Strategie einer schrittweisen Erhöhung des internationalen Drucks, die erneut begleitet war von einer breiten Kampagne an die Adresse der westlichen Öffentlichkeit, beförderte man freilich einmal mehr das, was man eigentlich verhindern wollte. Die Regierungen in den westlichen Hauptstädten mußten nun ihrerseits Stehvermögen und Handlungsfähigkeit dokumentieren und die Pariser Verträge — koste es, was es wolle — unter Dach und Fach bringen. Konsolidierung der Besitzstände in Ost und West war die dominierende Maxime, und da störten auf beiden Seiten nur riskante Manöver den vorerst noch zweifelhaften Spannungsabbau auf internationaler Ebene. Dennoch lohnt es sich, einen kurzen Moment innezuhalten und darüber zu reflektieren, was geschehen wäre, wenn die sowjetische Führung ihre substantielleren Verhandlungsangebote — Staatsvertrag über Österreich, freie Wahlen in Deutschland — nicht erst zu Jahresbeginn 1955 nach Ratifizierung der Pariser Verträge in der französischen Nationalversammlung, sondern bereits davor im Oktober oder November 1954 gemacht hätte. Ein Blick auf die innerwestlichen Entscheidungsprozesse zeigt, daß auch dann die Regierungen zuerst ihr Sicherheitsprogramm gemeinsam mit der Bundesrepublik durchzusetzen versucht hätten, bevor sie zu neuen Ost-West-Verhandlungen bereit gewesen wären. Die denkbar knappen Mehrheiten bei den Abstimmungen über die Pariser Verträge in der Nationalversammlung lassen aber Raum für berechtigte Zweifel, ob sie die französische Hürde genommen hätten, wenn parallel dazu ernsthafte und weitergehende sowjetische Verhandlungsvorschläge in die Öffentlichkeit gelangt wären. Eine dann in Washington, London und Bonn ins Auge gefaßte Lösung ohne Frankreich — darüber waren sich alle Beteiligten einig — war aber weder politisch noch militärisch auch nur annähernd so attraktiv für den Westen wie das Sicherheitspaket eines kombinierten westdeutschen NATO-WEUBeitritts. Nach ihrer verzögerten Reaktion auf das Scheitern der EVG Anfang September war das verspätete Umschalten auf eine flexiblere Taktik großzügigerer Entspannungsangebote im Spätherbst 1954 mithin das zweite, nachträglich nicht mehr hereinzuholende gravierende Versäumnis in den sowjetischen Gegenstrategien gegen eine Einbindung der Bundesrepublik in die westliche Allianz. Alles, was danach kam — die Erklärung in der amtlichen Nachrichtenagentur TASS von Mitte Januar 1955 über mögliche gesamtdeutsche Wahlen noch 1955, das zum Erfolg führende Verhandlungsangebot von Anfang Februar 1955 über einen österreichischen Staatsvertrag, schließlich der bisher weitestgehende sowjetische Abrüstungsvorschlag vom 10. Mai 1955 — , brachte zwar noch Turbulenzen in die Ratifizierungsprozesse der Pariser Verträge in Frankreich und der Bundesrepublik, konnte den Zug zur westlichen Blockkonsolidierung vor einer Wiederaufnahme von Ost-West-Verhandlungen jedoch nicht mehr anhalten. Gerade dieses schrittweise Nachlegen in den Angeboten bestätigte vielmehr diejenigen Annahmen im Westen, die — anders als von der Sowjetunion angedroht — den Verhandlungsfaden eben nicht abreißen sahen, sondern davon ausgingen, daß erst einem geschlossenen Westblock gegenüber wirklich

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weiterführende Entspannungsangebote aus Moskau offeriert werden würden. Deshalb begann man sich zwar auch in den westlichen Hauptstädten seit März/April 1955 immer intensiver auf eine neue Ost-West-Runde im Frühsommer des Jahres vorzubereiten und dazu auch die Vorabstimmungen der Westmächte untereinander und mit der Bundesregierung auf Arbeitsgruppenebene einzuleiten. Doch die Grundposition blieb unverändert: erst Aufnahme Bonns in WEU und NATO und dann ein neues Verhandlungsangebot an Moskau. War damit — wie die einen kritisieren — möglicherweise eine letzte Chance zur frühzeitigen Lösung der deutschen Frage im Rahmen einer europäischen Sicherheitslösung nach dem Vorbild des Wiener Staatsvertrages vergeben worden? Oder hatte umgekehrt — so die Gegenmeinung — erst jene Konsolidierung der internationalen Verhältnisse die Voraussetzungen für eine Entspannungspolitik des langen Atems aus sicherheitspolitisch geklärter Lage heraus geschaffen, die den revolutionären Wandel von 1989/90 möglich machte? Eine endgültige Antwort darauf wird der Historiker wohl erst nach voller Öffnung der Moskauer Archive geben können. Für die Bundesrepublik war jedenfalls mit der Vertagung einer neuen europäischen Sicherheitskonferenz auf den Sommer 1955 der Weg frei in die westliche Allianz. Nach Hinterlegung der Ratifizierungsurkunden aller Mitgliedstaaten wurde in feierlicher Form der Beitritt zur WEU am 7. und zur NATO am 9. Mai 1955 vollzogen. In diesem zeitlichen Nacheinander der Beitrittsakte wurde noch einmal sichtbar, daß nur über einen im westeuropäischen Rahmen (WEU) kontrollierten Zutritt die Tür in die größere atlantische Allianz (NATO) zu öffnen gewesen war. Über das 15. NATO-Mitglied Bundesrepublik schloß sich aber auch der Ring um die Staaten des kommunistischen Lagers an seiner westeuropäischen Flanke. Die von Präsident Harry S. Truman 1947 eingeschlagene Politik einer Eindämmung der Sowjetunion hatte damit ihren Abschluß in einem Bündnisgürtel gefunden, der beinahe lückenlos von Westeuropa (NATO/WEU) über den Bagdad-Pakt im Vorderen Orient bis nach Südostasien (SEATO) und in den Pazifischen Raum (ANZUS-Pakt) reichte. Die Sowjetunion reagierte darauf, indem sie nunmehr ihrerseits — wie seit Dezember 1954 mehrfach angekündigt — die Sicherheitsstrukturen in ihrem osteuropäischen Vorfeld weiter verdichtete. Auf einer Konferenz in Warschau beschlossen die Ostblockstaaten am 14. Mai 1955 die Schaffung eines integrierten Oberkommandos ihrer Streitkräfte (»Warschauer Pakt«), Die DDR wurde dazu schon jetzt als politisches Mitglied aufgenommen, ihre militärische Integration aber vorerst noch ausgesetzt. Der internationalen, aber auch der deutschen Öffentlichkeit sollte dadurch gezeigt werden, wer durch seine Allianzpolitik die Türen für eine Deutschlandlösung endgültig zu schließen begann: die Westmächte und ihr neuer westdeutscher Partner. Die Sowjetunion hielt dagegen zumindest optisch mit ihrer Abrüstungsinitiative vom 10. Mai 1955 und dem fortbestehenden Vorschlag für ein kollektives Sicherheitssystem in Europa noch bis zur Genfer Gipfelkonferenz (18. bis 23. Juli 1955) mehrere Bälle im Spiel.

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Schon vor Konferenzbeginn häuften sich jedoch die Hinweise aus Moskau und Ostberlin, daß man dort bei allem formalen Offenhalten der deutschen Frage nicht mehr ernsthaft daran dachte, die DDR nochmals in ihrem Bestand in Frage zu stellen. Auch der Vier-Mächte-Gipfel selbst bestätigte die westliche Einschätzung, daß sich die Sowjetunion mit der Verfestigung der beiderseitigen Paktsysteme unter Einbeziehung der Bundesrepublik und der DDR vorerst abgefunden hatte und jetzt mehr an einem allgemeinen Sicherheitsarrangement mit dem Westen als an einer verhandlungsfähigen Deutschlandlösung interessiert war. Auf ihrem Rückweg von Genf erhärteten die sowjetischen Führer dies noch zusätzlich bei einem Zwischenstopp in Ostberlin: Die historische Entwicklung nach 1945 habe auf dem Boden des ehemaligen Deutschen Reiches zwei Staaten mit gegensätzlichen Gesellschaftssystemen entstehen lassen. Die in diesem Prozeß erzielten »sozialistischen Errungenschaften« in der DDR seien unumkehrbar, eine Wiederannäherung der beiden deutschen Staaten nur noch über direkte deutsch-deutsche Verhandlungen in der Zukunft möglich. Im Herbst setzten daher nunmehr auch in der DDR die letzten Vorbereitungen für den militärischen Beitritt zum Warschauer Pakt ein, ein Prozeß, der am 18. Januar 1956 durch die Volkskammer mit der Verabschiedung des »Gesetzes über die Schaffung der Nationalen Volksarmee und des Ministeriums für Nationale Verteidigung« seinen formalen Abschluß fand. Zu diesem Zeitpunkt waren in der Bundesrepublik gerade die ersten 1000 Freiwilligen in die Kasernen einberufen worden; dem standen ca. 110 000 Mann der Kasernierten Volkspolizei in der DDR gegenüber, die lediglich noch zur Nationalen Volksarmee umfirmiert werden mußten! Aus der Rückschau betrachtet, haftet dem sehr stark von taktischen Gesichtspunkten geprägten Tauziehen zwischen den Westmächten und der Sowjetunion um die Einbindung der beiden Teile Deutschlands in die Militärallianzen von NATO und Warschauer Pakt 1954/55 ein negativer BeiBesuch des Bundeskanzlers bei den ersten Soldaten der Bundeswehr am 20. Januar 1956 in Andernach. V.l.n.r.: Theodor Blank, Dr. Konrad Adenauer, General Adolf Heusinger

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geschmack an. Die Scheidelinie zwischen legitimer und notwendiger Sicherheitsbefriedigung aus ernsthaften wechselseitigen Bedrohungsgefühlen heraus und einem rein propagandistisch-taktischen Wettlauf um die Weltmeinung ist auch im nachhinein oft nur schwer zu ziehen. Da war und blieb auf der einen — der sowjetischen — Seite die seit der Oktoberrevolution und dem unmittelbar folgenden Bürgerkrieg in Rußland nie auszuräumende Furcht vor äußerer Einkreisung und Invasion. Deshalb dominierte bei den Führern der Sowjetunion von Lenin bis Chruscev in jeden Falle ein extremer Sicherheitsreflex das außenpolitische Denken und internationale Handeln. Umgekehrt beförderte dieser Hang zu maximaler Sicherheitsbefriedigung auf der westlichen Gegenseite aber genau das, was damit eigentlich verhindert werden sollte: ein allianzpolitisches Zusammenrücken Westeuropas, transatlantisch verkoppelt mit dem nord amerikanischen Kontinent. Schließlich Fahnenübergabe an das 1. Mech. Regiment der NVA durch Generaloberst Willi Stoph am 30. April 1956

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wirkten auch im Westen historische Erinnerungen an die Konfrontation mit den Diktaturen in den 30er und 40er Jahren nach, bei der eigene Uneinigkeit und verspätete sicherheitspolitische Reaktion den Angreifern Deutschland, Italien und Japan erst wirklich die politisch-strategische Initiative zugespielt hatten. Unter diesem Gesichtspunkt wechselseitiger, aus der jeweiligen historischen Erfahrung gespeister Bedrohungsannahmen wurde für die politischen Akteure dieser Jahre sicherheitspolitische Risikominderung durch allianzpolitisches Zusammenrücken geradezu zur Grundbedingung, um aus einem beiderseits gesicherten und gegenseitig akzeptierten territorialen Status quo heraus die Möglichkeiten einer allgemeinen Entspannung abzutasten. Denn auch darüber bestand schon zu diesem Zeitpunkt kein Zweifel mehr bei Eisenhower, Churchill oder Chruscev: daß der Kalte Krieg unter der Vernichtungsdrohung thermonuklearer Waffen militärisch nicht mehr gewinnbar war.

Ausgewähltes Literaturverzeichnis: Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945-1956, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Bd 2: Die EVG-Phase. Von Lutz Köllner u.a. München 1990; Bd 3: Die NATO-Option. Von Hans Ehlert u.a. München 1993. Das Nordatlantische Bündnis 1949-1956, im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Klaus A. Maier und Norbert Wiggershaus, München 1993. Zwischen Kaltem Krieg und Entspannung. Sicherheits- und Deutschlandpolitik der Bundesrepublik im Mächtesystem der Jahre 1953-1956, im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Bruno Thoß und Hans-Erich Volkmann, Boppard am Rhein 1988. Stephan Tiedtke, Die Warschauer Vertragsorganisation. Zum Verhältnis von Militärund Entspannungspolitik in Osteuropa, München, Wien 1978.

Walter Schwengler Sicherheit vor Deutschland. Völkerrechtliche Bindungen der Bundesrepublik Deutschland nach den Pariser Verträgen von 1954 Die Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland wird bis heute von der Bindung an den Westen bestimmt. Diese Bindung geht zurück auf den Kalten Krieg. Zu dessen Beginn sahen die führenden westdeutschen Politiker für ihr Bestreben, in Deutschland eine freiheitlich-demokratische Staats- und Gesellschaftsordnung zu etablieren, nur eine Verwirklichungschance bei einer Anlehnung an die Westmächte, vornehmlich an die Vereinigten Staaten von Amerika als die politische und wirtschaftliche Führungsmacht. Nur an der Seite der Westmächte würde man effektive Sicherheit gewinnen gegen die politische und die zunehmend empfundene militärische Bedrohung durch die Sowjetunion. Zugleich — spätestens mit der ersten Verschärfung des OstWest-Konfliktes durch die Blockade Berlins 1948/49 — wurde führenden Politikern und Offizieren in London, Paris und Washington bewußt, daß der Westen es sich nicht leisten könne, Westdeutschland mit seinem beträchtlichen Potential an Menschen und Industrien an den politischen Gegner zu verlieren. Es für die eigene Sache zu gewinnen, würde eine erhebliche Stärkung der Abwehrkräfte bedeuten, wirtschaftlich und eventuell auch militärisch. Doch war Vorsicht geboten: Ein Wiedererstarken der deutschen Industrie und ein Wiedererscheinen deutscher Soldaten durfte keinesfalls die eigene Sicherheit gefährden. Obwohl seit Ausbruch des Krieges in Korea um Lösungen gerungen wurde, welche geeignet schienen, den mannigfachen Schwierigkeiten der Sicherheit mit Deutschland, fiir Deutschland und vor Deutschland Rechnung zu tragen, gelang dies erst mit den sogenannten Pariser Verträgen vom 23. Oktober 1954. Zu den Ecksteinen dieses Vertragswerkes gehörte die Beendigung der Besatzungsherrschaft in der Bundesrepublik. Der Deutschlandvertrag sprach dieser »die volle Macht eines souveränen Staates über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten« zu. Als souveräner Staat wurde die Bundesrepublik Mitglied des Nordatlantikpakts und des Brüsseler Vertrages in der Fassung vom Oktober 1954. Als souveräner Staat stellte sie Streitkräfte, die Bundeswehr, auf. Voraussetzung für Souveränität und Bewaffnung waren und sind freilich internationale Bindungen und Kontrollen. Ihre historischen Wurzeln und ihre Bedeutung sollen im folgenden untersucht und dargelegt werden, ihr heutiges Aussehen kann nur angedeutet werden. Als Bundeskanzler Konrad Adenauer im August 1950 den Regierungen Frankreichs, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten, den damaligen Be-

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satzungsmächten, einen militärischen Beitrag zur Verteidigung Westeuropas anbot, ging er von der Prämisse aus, daß dieser nicht die Gestalt einer deutschen »Wehrmacht«, also einer Nationalarmee, haben werde. Vielmehr dachte er an die Gestellung eines deutschen Kontingents für eine europäische Armee. Mit dieser Vorstellung kam Adenauer den Hauptbedingungen entgegen, unter denen die Westmächte eine Wiederaufrüstung Westdeutschlands zuzulassen bereit waren, nämlich der Fesselung deutscher Streitkräfte an die eigene Seite und der Kontrolle ihrer Größe und Kampfkraft. In der Tat waren die Mitgliedstaaten des Nordatlantikpakts, als sie die Möglichkeiten eruierten, unter denen deutsche Soldaten in die Abwehrfront gegen die Sowjetunion eingereiht werden könnten, sehr darum bemüht, die Sicherheit vor Deutschland zu erhalten. Sie lehnten die Entstehung homogener nationaler Streitkräfte ab. Sie schlugen vor, deutsche Einheiten etwa in Brigadestärke an alliierte Verbände anzugliedern. Auch sollte die Bewaffnung der deutschen Einheiten gewissen Beschränkungen unterliegen, insbesondere sollte die Bildung größerer Panzerverbände nicht zulässig sein. Eine Alternative zu solchen Überlegungen stellte der Vorschlag des französischen Ministerpräsidenten René Pleven dar, eine gemeinsame europäische Armee zu schaffen. In langwierigen Verhandlungen verständigten sich die Benelux-Staaten, die Bundesrepublik, Frankreich und Italien auf die Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG). Diese war als eine supranationale Organisation konzipiert; eigene Organe, ein eigener Haushalt und gemeinschaftliche Streitkräfte wären Ausweis ihres übernationalen Charakters gewesen. Die Mitgliedstaaten wollten in großem Umfang auf die Ausübung ihrer Wehrhoheit verzichten und die militärischen Angelegenheiten weitgehend von der Gemeinschaft regeln lassen. Durch die weitgehende Europäisierung alles Militärischen, in den Europäischen Verteidigungsstreitkräften Ausdruck findend, wäre die weit verbreitete Angst vor deutschen Streitkräften gegenstandslos geworden. Denn es hätte keine Renaissance einer deutschen Armee gegeben. Der Infanterie-, Panzer- und Panzerbegleit-Kampfverband mit einer Friedensstärke von maximal 13 000 Mann sollte die größte »national geschlossene«, d.h. nur Soldaten einer Nation umfassende, Einheit sein. Die (Armee-) Korps sollten sich aus Kampfverbänden (also kleinen Divisionen) verschiedener Nationalität zusammensetzen. Der Vertrag über die Gründung der EVG gestand der Bundesrepublik in politischer wie militärischer Hinsicht durchaus Gleichheit und Gleichberechtigung zu. Die vorgesehene Gewichtung der Stimmen im Ministerrat, dem leitenden Organ der Gemeinschaft, nach den nationalen Beiträgen an Soldaten und finanziellen Mitteln hätte der Bundesrepublik bedeutenden Einfluß gewährt, wahrscheinlich sogar eine bestimmende Stellung verliehen. Gleichwohl gab es auch Zurücksetzungen und Benachteiligungen. Während alle deutschen Kontingente (außer einem Wachregiment) einen europäischen Status haben sollten, wäre es anderen Mitgliedstaaten, vornehmlich Frankreich, möglich gewesen, in größerem Umfang nationale Kräfte zu unterhalten. Denn die Hochseestreitkräfte und

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Sicherheit vor Deutschland

tz betreifend den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zum Brüsseler Vertrag und zum Nordatlantikvertrag. vom Der Bundestag schlossen:

2.;-. hat

::

r~

das

1955.

folgende

Artikel

Gesetz

be-

1

D e m B e i t r i t t d e r B u n d e s r e p u b l i k Deutschland zu d e m V e r t r a g ü b e r w i r t s c h a f t l i c h e , s o z i a l e und kult u r e l l e Z u s a m m e n a r b e i t und ü b e r k o l l e k t i v e S e l b s t v e r t e i d i g u n g vom 17. M ä r z 1948 in der F a s s u n g d e s a m 23. O k t o b e r 1954 in P a r i s u n t e r z e i c h n e t e n Protok o l l s und den w e i t e r e n hierzu am 23. O k t o b e r 1954 in P a r i s u n t e r z e i c h n e t e n P r o t o k o l l e n und A n l a g e n wird z u g e s t i m m t . Artikel

2

D e m B e i t r i t t d e r B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d zum N o r d a t l a n t i k v e r t r a g vom 4. April 1949 in d e r Fass u n g v o m 15. O k t o b e r 1951 wird z u g e s t i m m t . Artikel

3

(1) Die V e r t r ä g e sowie die Protokolle Anlagen werden nachstehend veröffentlicht.

und

(2) Der T a g Ihres I n k r a f t t r e t e n s für d i e B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d ist im B u n d e s g e s e t z b l a t t b e kanntzugeben. Artikel D i e s e s G e s e t z tritt k ü n d u n g in Kraft.

am

4

Tage

nach

Die verfassungsmäßigen Redite des

seiner

Ver-

Bundesrates

sind gewahrt. D a s v o r s t e h e n d e G e s e t z "Wird h i e r m i t v e r k ü n d e t . Bonn, den 2 4 .

ΜϋΓΖ

1955. Der

SMS^

Der

Bundespräsident

Bundeskanzler

-

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die für Sondereinsätze (Kolonien, UN-Aufgaben) vorgesehenen Truppen sollten außerhalb der EVG bleiben. Insbesondere wurde der Bundesrepublik der Beitritt zum Nordatlantikpakt verwehrt und damit Sitz und Stimme im Nordatlantikrat, dem politisch und strategisch entscheidenden Gremium der westlichen Verteidigung, vorenthalten. Die EVG kam nicht zustande, weil sich Frankreich, das seine Grande Armée hätte opfern und auf eine nationale Atomrüstung hätte verzichten müssen, versagte. Neue Verhandlungen, die Konferenzen von London und Paris im Spätsommer 1954, hatten die Aufnahme der Bundesrepublik in den Brüsseler Vertrag und in den Nordatlantikpakt zum Ergebnis. Entgegen ursprünglichen Intentionen entstanden deutsche Streitkräfte in Gestalt der herkömmlichen Nationalarmee, deutsche Staatsgewalt verkörpernd und allein deutscher Staatsgewalt unterliegend. Durch die Pariser Verträge wurden die Bundesrepublik und die Bundeswehr freilich in das europäisch-atlantische Sicherheitssystem integriert; sie wurden politisch, militärisch und rechtlich internationalen Bindungen und Kontrollen unterworfen. Das Wiedererstehen deutscher militärischer Kraft machte — nicht nur in den Augen der Bündnispartner — politische und rechtliche Sicherungen vor Deutschland erforderlich. Es schien durchaus angezeigt, deutsche militärische Alleingänge, etwa die Drohung mit Gewalt oder gar den Einsatz militärischer Kräfte für nationale Ziele wie die Wiedervereinigung Deutschlands, zu verhindern, zumindest aber zu erschweren. Eine Beschränkung der deutschen Verfügung über die Streitkräfte war aber wegen des Beharrens der Bundesregierung auf Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung nur in dem Maße möglich, wie die Bündnispartner selbst Beschränkungen auf sich genommen hatten oder bereit waren, solche auf sich zu nehmen. Deutscherseits hatte man Verständnis für den Wunsch nach Sicherungen. Im Deutschlandvertrag vom 26. Mai 1952/23. Oktober 1954 verpflichtete sich die Bundesrepublik, »ihre Politik im Einklang mit den Prinzipien der Satzung der Vereinten Nationen und mit den im Statut des Europarates aufgestellten Zielen zu halten« (Art. 3 Abs. 1). Auf der Londoner Konferenz bekräftigte der Bundeskanzler die Bindung der deutschen Politik an die Grundsätze der UN-Charta. Adenauer erklärte ausdrücklich, die Bundesrepublik »nimmt die in Artikel 2 dieser Satzung enthaltenen Verpflichtungen an«. Zu diesen gehören bekanntlich u.a. die Gebote, internationale Streitigkeiten mit friedlichen Mitteln beizulegen und in den internationalen Beziehungen Gewalt weder anzudrohen noch zu gebrauchen. Weiterhin versicherte Adenauer, »die Bundesrepublik werde sich aller Maßnahmen enthalten, die mit dem streng defensiven Charakter sowohl des Brüsseler als auch des Nordatlantikvertrags unvereinbar« seien. Sie verpflichtete sich insbesondere, »die Wiedervereinigung Deutschlands und die Änderung der gegenwärtigen Grenzen der Bundesrepublik Deutschland niemals mit gewaltsamen Mitteln herbeizuführen«. Das Bekenntnis zum Gewaltverbot und zur Achtung des defensiven Charakters der Bündnisse sollte Befürchtungen in den Partnerstaaten entgegenwirken,

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eine nationale deutsche Armee könne eine militärische Lösung der Deutschen Frage heraufbeschwören. Das ausdrückliche Versprechen der Bundesrepublik, die Wiedervereinigung Deutschlands und die Änderung ihrer Grenzen niemals mit Gewalt herbeizuführen, war vor allem für die Sowjetunion und ihre Verbündeten von Bedeutung. Denn bis zum Beginn der neuen Ostpolitik der Regierung Brandt/Scheel achtete die Bundesrepublik die Deutsche Demokratische Republik nicht als Staat, sondern sah diese als ein undemokratisches und illegales De-facto-Regime an. Das deutsche Bekenntnis zum völkerrechtlichen Gewaltverbot war wichtig, reichte den Bündnispartnern aber nicht aus. Sie wünschten eine Einbindung der deutschen Streitkräfte, die über die im Sommer 1954 in der NATO übliche hinausging. Im Spätjahr 1950 waren die Mitgliedstaaten des Nordatlantikvertrags übereingekommen, aus den Streitkräften, die sie zur Verteidigung Westeuropas bereitstellen wollten, eine »integrated force under centralized command and control« zu bilden. Diese Streitmacht sollte in politischer und strategischer Hinsicht den Organen des Bündnisses unterstehen. Ein Supreme Commander mit ausreichenden Befugnissen sollte die nationalen (Groß-)Verbände zu einer »effective integrated force«, also zu einer kriegstüchtigen, zu gemeinsamen Operationen befähigten Streitmacht formen. Im Oktober 1954 wurden die Absprachen verdichtet (wobei erstmals Vertreter der Bundesregierung, freilich eher als Zuhörer denn als Verhandlungspartner, beteiligt waren). Man kam nunmehr überein, daß alle im Befehlsbereich Allied Command Europe stationierten Streitkräfte dem Obersten Alliierten Befehlshaber Europa (SACEUR) oder einem anderen angemessenen NATO-Kommando zu unterstellen seien und der Führung von NATO-Kommandobehörden unterliegen sollten (»shall be placed under the authority of the SACEUR [...] and under the direction of the NATO military authorities«). Man vereinbarte, die Dislozierung (deployments) aller SACEUR unterstellten Streitkräfte in Übereinstimmung mit der Bündnisstrategie zu halten, ihre Stationierung SACEUR im Benehmen mit den betroffenen Regierungen bestimmen zu lassen und die SACEUR unterstellten Streitkräfte ohne dessen Einverständnis weder umzudislozieren noch operativ einzusetzen. Weiterhin wurde beschlossen, die bewährte Integration der Land- und Luftstreitkräfte auf den Ebenen Army Group bzw. Allied Tactical Air Force (ATAF) fortzuführen und, wo angezeigt, auch auf niederer Ebene vorzunehmen. Die »Unterstellung« nationaler Streitkräfte unter SACEUR (»placed under the authority«) bedeutet keine Unterstellung in jeder Hinsicht. Im Frieden besitzen SACEUR und die ihm nachgeordneten NATO-Befehlshaber keine Befehlsgewalt über deutsche Verbände (abgesehen von Einheiten der Luftverteidigung), sondern nur Befugnisse, welche deren Eingliederung in die »integrated force« zur Verteidigung Westeuropas organisatorisch und ausbildungsmäßig sicherstellen. Bei zu treffenden Maßnahmen sind sie auf die Mitwirkung der Bundesregierung bzw. des Bundesministers der Verteidigung angewiesen. Erst mit der Übernahme des »operational command«, die die Zustimmung der Bundesregierung voraussetzt, erhält SACEUR Befehlsgewalt über die deutschen assignierten Verbän-

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de. Zudem gilt: »Operational command« ist beschränkt auf das Feld der militärischen Operationsführung, auch ist seine Überlassung grundsätzlich widerrufbar. Die Fesselung der deutschen Streitkräfte im Rahmen der NATO ist, strikt rechtlich gesehen, ausgesprochen schwach, um so mehr als die Beschlüsse des Nordatlantikrats völkerrechtlich nur den Rang von — unverbindlichen — Empfehlungen haben. De facto existieren freilich sehr enge Absprachen und Bindungen zwischen den verbündeten Regierungen, die über das für eine Koalition übliche Maß weit hinausgehen. Die Bundesrepublik unterlag und unterliegt hinsichtlich der Verwendung ihrer Streitkräfte mithin keinen anderen völkerrechtlichen Bindungen als die Bündnispartner. Diesen schien es, wie schon ausgeführt, generell angezeigt, die von einer Wiederbewaffnung Deutschlands ausgehende potentielle Gefahr zu begrenzen. Umfang, Zusammensetzung und Bewaffnung der deutschen Streitkräfte sollten limitiert und kontrolliert werden. Dazu dienten die Protokolle Nr. II, III und IV zum Brüsseler Vertrag, dessen Organisation seit 1955 den Namen »Westeuropäische Union« (WEU) führt. Das Protokoll Nr. II — formal noch in Kraft, tatsächlich aber von der politischen Entwicklung überholt — enthielt Vereinbarungen zur Begrenzung der Streitkräfte aller Mitgliedstaaten der WEU. Gemäß dessen Artikel 1 Abs. 1 waren die Land- und Luftstreitkräfte, welche die Mitgliedstaaten SACEUR in Friedenszeiten auf dem europäischen Festland unterstellen, »nach Gesamtstärke und Anzahl der Verbände« wie folgt limitiert: Die luxemburgischen auf eine Regimentskampfgruppe, die britischen auf vier Divisionen und die Second Tactical Air Force sowie die belgischen, deutschen, französischen, italienischen und niederländischen auf »die Höchstgrenzen, wie sie in dem Sonderabkommen zu dem am 27. Mai 1952 in Paris unterzeichneten Vertrag über die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft für Friedenszeiten festgelegt sind«. Der Rückgriff auf das »Militärische Sonderabkommen« zum EVG-Vertrag war eine in den Schlußverhandlungen der Pariser Konferenz gefundene Verlegenheitslösung, die mit dem großen Nachteil mangelnder Transparenz behaftet war. Denn bei dem Dokument, dem »Accord spécial militaire« — ebenfalls am 27. Mai 1952 unterzeichnet — handelte es sich um ein »très secret« eingestuftes Regierungsabkommen, das erst in den achtziger Jahren deklassifiziert wurde. Nach dem Sonderabkommen sollten die operativen Landstreitkräfte der EVG 57 V3 »Kampfverbands-« bzw. »Divisionsquerschnitte« umfassen; der deutsche Beitrag sollte zwölf solcher Querschnitte ausmachen. Eine vertragliche Festlegung der Kampfverbands- bzw. Divisionstypen war nicht erfolgt; konsensfähig schienen sechs Infanterie-, zwei Panzerbegleit- und vier Panzerdivisionen plus zugehöriger Kampfunterstützungs- und Versorgungstruppen. Auch der personelle Umfang der deutschen Kontingente war nur in Umrissen bestimmt. Die Gesamtzahl hätte je nach dem politisch und militärisch für erforderlich angesehenen Präsenzgrad der Truppe zwischen 304 000 und 407 000 Soldaten variieren können.

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Gemäß Artikel 1 Abs. 2 des Protokolls Nr. II konnte die Anzahl der (im Militärischen Sonderabkommen vorgesehenen) Verbände, soweit erforderlich, verändert und angepaßt werden, um den Bedürfnissen der NATO zu entsprechen. Doch durften eine gleichwertige Kampfkraft und die Gesamtstärken nicht überschritten werden. Auch war eine Erhöhung der Gesamtstärke der Streitkräfte über die festgelegten Grenzen hinaus möglich, wenn die Vertragsstaaten diese »einstimmig« billigten. Die vertragliche Flexibilität wurde genutzt; die Jahreserhebungen der NATO wurden zum Instrument einer Überwachung der Stärke der Streitkräfte. Zunächst fand der deutsche Plan vom November 1954, ein »Feldheer« von sechs Infanterie- und sechs Panzerdivisionen plus sieben selbständigen Brigaden aufzustellen (Personalstärke 368 000 Mann) im Bündnis keinen Beifall. Ein vorläufiger Kompromiß sah die Bildung von sechs Infanterie- und vier Panzerdivisionen vor. Aus den beiden unbestimmt gebliebenen Divisionen entwickelten sich später die Luftlande- und die Gebirgsdivision. Auch wenn aus den anfänglich als Grenadierdivisionen aufgestellten Großverbänden die zur beweglichen Kampfführung besser geeigneten und über mehr Panzer verfügenden Panzergrenadierdivisionen erwuchsen, so blieb die Zahl der Panzerdivisionen bis zur Verwirklichung der Heeresstruktur 4 (begonnen 1980) bei vier stehen. Das Militärische Sonderabkommen sah taktische Luftstreitkräfte der EVG in Stärke von 5110 Flugzeugen vor. Der deutsche Beitrag sollte 1326 Flugzeuge zählen und aus folgenden »Grundeinheiten« bestehen: vier Tagjagdgeschwader à 75 Flugzeuge, zwei Allwetterjagdgeschwader à 36 Flugzeuge, zehn Jagdbombergeschwader à 75 Flugzeuge, zwei Aufklärungsgeschwader à 54 Flugzeuge und zwei Transportgeschwader à 48 Flugzeuge. Deutscherseits war man mit diesen Festlegungen im Sommer 1954 nicht mehr zufrieden, insbesondere die Jagdwaffe schien zu schwach. Aber auf der Pariser Konferenz weigerten sich die Bündnispartner, die Zahl der Flugzeuge zu erhöhen. Einer wesentlich anderen Aufteilung der gestatteten 1326 Maschinen vermochte das Oberste Hauptquartier der Alliierten Mächte Europas (SHAPE) nicht zuzustimmen. Man gelangte zu dem Einvernehmen, mit der gleichen Zahl von Flugzeugen 22 Geschwader zu bilden: neun Jagd-, acht Jagdbomber-, drei Aufklärungs- und zwei Transportgeschwader. Die deutsche Luftwaffe stellte bis 1962 vier Jagdgeschwader und — wie von SHAPE vorgeschlagen und von der WEU genehmigt — acht Jagdbomber- und drei Aufklärungsgeschwader auf. Die Zurückhaltung bei den Jagdgeschwadern und deren spätere Reduzierung auf zwei erklärt sich wohl mit der Einführung der Ende der fünfziger Jahre frontreif gewordenen, sehr leistungsfähigen Flugabwehr-Lenkwaffen. Hinsichtlich der deutschen Marinestreitkräfte bestimmte das Protokoll Nr. II, daß sie aus denjenigen »Schiffen und Verbänden« bestehen sollten, die zur Erfüllung der der Bundesrepublik von der NATO zugewiesenen Verteidigungsaufgaben erforderlich seien; sie sollten sich in den Grenzen des Militärischen Sonderabkommens oder gleichwertiger Kampfkraft halten. Das deutsche Mari-

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nekontingent zu den — vertraglich auf den küstennahen Schutz der Mitgliedstaaten beschränkten — Seestreitkräften der EVG sollte im wesentlichen aus folgenden Einheiten bestehen: 24 große und 36 kleine Minensuchboote (M- bzw. R-Boote), 18 Geleitboote, 60 Torpedoschnellboote, 24 Flugzeuge und 30 Hubschrauber. Dieser Flotte mangelte es deutlich an Kampfkraft. Eine Verstärkung durch Zerstörer und U-Boote sowie eine Vermehrung der Flugzeuge schien den führenden deutschen Marineoffizieren dringend erforderlich. Die Partner in der WEU genehmigten 1955 im wesentlichen: 18 major units, also Zerstörer und Geleitboote, 54 Minensuchboote, 40 Schnellboote, 12 U-Boote sowie 54 Marineflugzeuge und -hubschrauber. Die Zahl der U-Boote und Kampfflugzeuge ist später erheblich erhöht worden. Die personelle Gesamtstärke der Land- und Luftstreitkräfte, welche die Unterzeichnerstaaten des EVG-Vertrages SACEUR im Frieden auf dem europäischen Festland unterstellten, durften die Höchstgrenzen, die im Militärischen Sonderabkommen für Friedenszeiten festgelegt worden waren, nicht überschreiten. Nach deutscher zeitgenössischer Interpretation, vom Vertragstext durchaus getragen, waren Gegenstand der Vereinbarung nur die operativen Land- und Luftstreitkräfte, nicht aber die Schulen, Einrichtungen der territorialen Organisation und der bodenständigen Verteidigung sowie die zentralen militärischen Dienststellen. Da das Militärische Sonderabkommen, wie schon erwähnt, keine klare zahlenmäßige Fixierung der Personalumfänge der nationalen Kontingente enthielt, beinhaltete auch das Protokoll Nr. II keine eindeutige Festlegung der personellen Stärke der deutschen operativen Land- und Luftstreitkräfte. Es setzte nur einen gewissen, vornehmlich von Art und Zahl der Verbände bestimmten Rahmen. Dagegen war die Personalstärke der deutschen Seestreitkräfte während der Verhandlungen über die Ausführung des EVG-Vertrages auf ziemlich genau 17 600 Mann fixiert worden. Die bei den Verhandlungen in London und Paris offengebliebene Festlegung der Stärke und Bewaffnung der Streitkräfte für die bodenständige Verteidigung und der Polizeikräfte erfolgte, wie in Artikel 5 des Protokolls Nr. II vorgesehen, durch das Abkommen der Mitgliedstaaten der WEU vom 14. Dezember 1957. Dem Abkommen unterworfen waren alle auf dem europäischen Festland unterhaltenen und nicht SACEUR unterstellten Streitkräfte, insbesondere die Einheiten der bodenständigen Verteidigung, sowie die Polizeien. Ihre personelle Stärke und ihre Bewaffnung durften die Höchstgrenzen nicht überschreiten, die in besonderen, vom Rat der WEU genehmigten Verzeichnissen fixiert waren. Die Quellenlage erlaubt noch keine Aussagen darüber, wie die personellen Höchststärken für die Einheiten der bodenständigen Verteidigung und für die Polizeien erstmalig festgesetzt wurden. Anfang 1957 war geplant, die Angaben der einzelnen Mitgliedstaaten »unter Berücksichtigung der eigentlichen Aufgaben und des Bedarfs sowie der vorhandenen Stärken« als Basis zu nehmen. Die Bundesregierung beabsichtigte damals folgende Pauschzahlen für die Einheiten der bodenständigen Verteidigung zu reklamieren: Heer 43 500, Luftwaffe 63 000 und Marine 13 500 Soldaten.

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Nach dem Scheitern der EVG war es Anliegen aller künftigen Bündnispartner, vorrangig aber Frankreichs, neben deutschen nationalen Streitkräften nicht auch noch eine unabhängige und unbegrenzte deutsche Waffenproduktion zuzulassen. Die französische Regierung schlug auf der Londoner Konferenz vor, die Herstellung der Waffen, die in Anlage II zu Artikel 107 des EVG-Vertrages verzeichnet waren, d.h. ABC-Waffen und eine Reihe moderner konventioneller Waffen, in den »strategisch gefährdeten Gebieten«, gemeint war vornehmlich Westdeutschland, zu verbieten. Die Produktion aller anderen Waffen sollte einer Rüstungsagentur im Rahmen des Brüsseler Paktes obliegen, welche die Herstellungsaufträge vergeben und die Verteilung der Waffen auf die Streitkräfte der Mitgliedstaaten vornehmen würde. Da dieser Vorschlag, der auf Elemente des EVG-Vertrages zurückgriff, keinen Beifall fand, machte sich Adenauer die britische Anregung freiwilliger deutscher Verzichte zu eigen. Der Bundeskanzler erklärte die Bereitschaft der Bundesrepublik, freiwillig auf die Herstellung von ABC-Waffen und bestimmter konventioneller Waffen »im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland« zu verzichten. Die Mitgliedstaaten der WEU nahmen die Verzichtserklärung, wie in Protokoll Nr. III vermerkt, zustimmend zur Kenntnis (Art. 1). Auf diese Weise kam eine vertragliche Bindung zustande, ohne der Bundesrepublik eine offensichtliche Diskriminierving, wie sie Verbotsklauseln dargestellt hätten, zuzumuten. Die Verzichtserklärung des Bundeskanzlers vom 3. Oktober 1954 war sehr sorgfältig abgefaßt. Die Bundesrepublik ging nur die Verpflichtung ein, ABCWaffen und einige genau beschriebene konventionelle Waffen in ihrem Hoheitsgebiet nicht herzustellen. Demgemäß blieben, strikt rechtlich gesehen, die Erforschung und Entwicklung dieser Waffen im Bundesgebiet unbeschränkt; ihr Erwerb und Besitz sowie ihr Einsatz durch die deutschen Streitkräfte wurden nicht untersagt. Auch eine Herstellung im Ausland oder eine Herstellung mit deutscher Beteiligung im Ausland wäre nicht vertragswidrig gewesen. Letzteres fand übrigens seine Bestätigung, als es im Herbst 1957 zu einer Verständigung zwischen der französischen, der italienischen und der Bundesregierung über die gemeinsame Entwicklung von Nuklearwaffen kam — eine Planung, der Charles de Gaulle bald nach seinem Amtsantritt als französischer Staatspräsident ein Ende setzte. Adenauer war aber nicht nur bemüht gewesen, seinen Verzicht auf die Produktion bestimmter Waffen eng zu begrenzen, sondern auch, für diesen die Möglichkeit einer Revision vorzubehalten. Dies gelang ihm hinsichtlich der konventionellen Waffen, nicht aber — entgegen dem Eindruck, den er in seinen »Erinnerungen« zu erwecken suchte — hinsichtlich der ABC-Waffen. Adenauers Bemühen, die nukleare Option offenzuhalten, zeigte sich übrigens noch einmal bei seinem Widerstand gegen den Beitritt der Bundesrepublik zum Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen. In der Tat besiegelte dessen Ratifikation das Ende aller deutschen Ambitionen hinsichtlich einer nationalen Verfügung über Nuklearwaffen.

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Zu den konventionellen Waffen und Waffensystemen, auf deren Herstellung die Bundesrepublik auf der Londoner Konferenz verzichtete, gehörten u.a.: »weitreichende« und »gelenkte Geschosse«, das hieß Flugkörper und Lenkflugkörper, Influenzminen für die Seekriegführung, Kriegsschiffe über 3 000 t und U-Boote über 350 t Wasserverdrängung, gewisse Kriegsschiffantriebe sowie Bombenflugzeuge. Im Vergleich zum EVG-Vertrag war eine Reihe von Erleichterungen erzielt worden. Von besonderer Bedeutung war der Wegfall der sogenannten »Pulverlinie«, so daß die Fabrikation von Pulver und Sprengstoffen im gesamten Bundesgebiet möglich wurde, und das Zugeständnis, alle für die deutschen Streitkräfte vorgesehenen Flugzeugtypen bauen zu dürfen. Wie schon angedeutet, war die Lockerung oder Aufhebung der Herstellungsverbote für konventionelle Waffen und Waffensysteme vertraglich vorgesehen. Der Rat der WEU konnte einen deutschen Antrag genehmigen, wenn der zuständige Oberste Befehlshaber der NATO dessen Annahme als im Interesse der Streitkräfte liegend empfahl. Die Bundesregierung machte von der Revisionsmöglichkeit mehrfach Gebrauch. Schon Ende der fünfziger Jahre wurde die Fertigung taktischer Lenkflugkörper weitgehend freigegeben, im Laufe der sechziger Jahre wurde die erlaubte Tonnage von Kriegsschiffen einschließlich U-Booten den Bedürfnisen der Marine angepaßt. Im Jahre 1984 hob der Rat der WEU die letzten noch verbliebenen Beschränkungen betreffend die Herstellung konventioneller Waffen (Flugkörper größerer Reichweite und Bombenflugzeuge für strategische Zwecke) auf. Auf der Londoner Konferenz beherzigte man die historische Erfahrung, daß es in der Regel nicht ausreicht, Rüstungsbeschränkungen zu vereinbaren, diese vielmehr überwacht werden müssen, wenn sie zur Gewährleistung der internationalen Sicherheit auf Dauer beitragen sollen. Deshalb vereinbarte man mit Protokoll Nr. IV zum Brüsseler Vertrag die Schaffung eines Amtes für Rüstungskontrolle der WEU. Es wurde im Mai 1955 gegründet. Dem Amt oblag die Kontrolle, daß die in der Bundesrepublik jeweils geltenden Herstellungsverbote und -beschränkungen eingehalten wurden. Seit 1984 vergewissert sich die WEU nur noch, daß im Bundesgebiet keine B- und C-Waffen hergestellt werden. Die Bundesrepublik unterlag nicht nur Beschränkungen und Verboten hinsichtlich der Fertigung gewisser Waffen und Waffensysteme, sondern auch einer Begrenzung und Überwachung ihrer Rüstungsbestände. Beiden Maßnahmen hatten sich, um den Anschein jeglicher Diskriminierung zu vermeiden, alle Mitgliedstaaten der WEU für ihre auf dem europäischen Festland gehaltenen Bestände unterworfen. Die Überwachung wurde ebenfalls dem Amt für Rüstungskontrolle der WEU übertragen (Protokoll Nr. III Art. 4 und Protokoll Nr. IV). Das Amt hatte die Aufgabe, die auf dem europäischen Kontinent vorhandenen Bestände bestimmter, in einem Verzeichnis aufgeführter Waffen und Waffensysteme festzustellen und mit den erlaubten zu vergleichen. Erlaubt waren für die der NATO unterstellten Streitkräfte bzw. Einheiten die Menge an Waf-

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fen und Waffensystemen, die als deren Bedarf anerkannt und in den im Rahmen der NATO-Jahreserhebung verabschiedeten Dokumenten gebilligt waren. Das hieß konkret, daß keine Division oder sonstiger Verband mehr Waffen besitzen durfte, als von der NATO als erforderlich angesehen. Mithin war deren Gesamtzahl abhängig von der Zahl und Art der Verbände, die wiederum im Protokoll Nr. II unter Bezugnahme auf das Militärische Sonderabkommen in etwa festgelegt war. Hinsichtlich aller unter nationalem Oberbefehl verbliebenen Streitkräfte hatte das Amt für Rüstungskontrolle sich zu vergewissern, daß deren Bestände an Waffen und Waffensystemen die Höchstgrenzen nicht überschritten, die in den vom Rat der WEU einstimmig genehmigten Verzeichnissen festgelegt worden waren (Abkommen vom 14. Dezember 1957). Grundlegende Voraussetzung für die dem Amt für Rüstungskontrolle übertragene Aufgabe, die tatsächlichen Rüstungsbestände mit den erlaubten zu vergleichen, war die Feststellung von Bestand, Produktion, Import und Export. Das Verfahren war im Protokoll Nr. IV weitgehend geregelt; in der Praxis aufgetretene Schwierigkeiten konnten — von dem Sonderfall französische Nuklearwaffen und ihre Trägersysteme abgesehen — überwunden werden. Erfaßt wurden im übrigen nicht alle Waffen, sondern nur die in Anlage IV zu Protokoll Nr. III aufgeführten. Zu ihnen gehörten u.a. ABC-Waffen und gewisse hauptsächliche Waffen und Waffensysteme wie Rohrwaffen über 90 mm Kaliber, Flugkörper, Panzerfahrzeuge über 10 t Gesamtgewicht, Kriegsschiffe über 1500 t Wasserverdrängung oder über 30 Knoten Geschwindigkeit, U-Boote sowie alle Kampfflugzeuge. Die Überwachung der Bestände an konventionellen Waffen wurde vom Rat der WEU mit Wirkung vom 1. Januar 1986 aufgehoben. Als die Außenminister der Mitgliedstaaten Ende Oktober 1984 diesen Beschluß faßten, äußerten sie als ihre Überzeugung, daß die freiwilligen Rüstungsbeschränkungen und ihre Kontrollen zum Aufbau von Vertrauen zwischen den Vertragsparteien beigetragen hätten, inzwischen aber »größtenteils überflüssig« seien. Denn, so der Bundesminister des Auswärtigen Hans-Dietrich Genscher, unter den in WEU und NATO Verbündeten sei »offener Einblick in die militärischen Fähigkeiten gewährleistet«. Versucht man ein Fazit, so ist zunächst zu sagen, daß die durchaus verständlichen Befürchtungen in manchen Bündnisstaaten, die Bundesrepublik könnte ihre Streitkräfte zur Verfolgung nationaler Ziele gebrauchen oder gar mißbrauchen, sich als völlig unbegründet erwiesen. Die deutsche Politik war immer bemüht, den Frieden in Europa zu wahren und — soweit mit der eigenen und der Sicherheit der Bündnispartner sowie mit dem Ziel der Wiedervereinigung Deutschlands vereinbar — zur internationalen Entspannimg beizutragen. Besonders klaren Ausdruck fand dieses Bemühen in der Ostpolitik der sozialliberalen Koalition. In allen sogenannten »Ostverträgen« wurde die Anerkennung des völkerrechtlichen Gewaltverbots und die Absicht, alle zwischenstaatlichen Streitfragen ausschließlich mit friedlichen Mitteln zu lösen, wiederholt. Auch

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im »Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland« (sogenannter »Zwei-plus-Vier-Vertrag«) vom 12. September 1990 findet sich die Verpflichtung, »daß das vereinte Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen« (Art. 2). Der Zwei-plus-Vier-Vertrag gestattet dem »vereinten Deutschland«, das ist staats- und völkerrechtlich die Bundesrepublik Deutschland, »Bündnissen mit allen sich daraus ergebenden Rechten und Pflichten anzugehören« (Art. 6). Die Bindungen an den Nordatlantikvertrag und an den Brüsseler Vertrag blieben bestehen. Die politisch-militärische Zusammenarbeit in der NATO wurde in bewährter Weise fortgeführt, die in der WEU zumindest ansatzweise vertieft. Die militärische Integration wurde beibehalten; sie erfuhr durch die Bildung multinationaler und binationaler (Armee-)Korps eine Verdichtung. Die Protokolle Nr. II, III und IV zum revidierten Brüsseler Vertrag in Verbindung mit dem Militärischen Sonderabkommen vom 27. Mai 1952 und dem Abkommen vom 14. Dezember 1957 begrenzten das Recht der Bundesrepublik zur Aufrüstung. Die Beschränkung der operativen Land-, Luft- und Seestreitkräfte nach Personalumfang sowie Zahl und zumindest in gewisser Weise auch Art der Verbände sowie die Beschränkung der Streitkräfte für die bodenständige Verteidigung nach Stärke und Bewaffnung stellten eine möglicherweise lästige, aber Aufbau und Entwicklung der Bundeswehr nicht wirklich beeinträchtigende Fessel dar. Beschränkungen, welche den Beitrag der deutschen Streitkräfte in unzweckmäßiger Weise zu behindern drohten, wurden beizeiten gelockert oder entfielen. Keine Lockerung, sondern eine Verschärfung erfuhren die deutschen Verzichte vom Oktober 1954 hinsichtlich der Massenvernichtungswaffen. Die Bundesrepublik trat 1975 dem Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen vom 1. Juli 1968 (freilich unter Vorbehalt ihrer Rechte und Pflichten als Mitglied der NATO) bei. Sie ist seitdem gebunden, »Kernwaffen und sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber von niemandem unmittelbar oder mittelbar anzunehmen [und] Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper weder herzustellen noch sonstwie zu erwerben [...]«· Im Zwei-plus-Vier-Vertrag bekräftigte sie »ihren Verzicht auf Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen« und stimmte der Fortgeltung der Rechte und Verpflichtungen aus dem Nichtverbreitungsvertrag ausdrücklich zu. Die Beendigung der Konfrontation zwischen Ost und West ermöglichte unter dem Dach der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) völkerrechtliche Vereinbarungen zur Reduzierung und Begrenzung der Rüstungen. Der »Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa« vom 19. November 1990, in Kraft seit 9. November 1992, limitiert die Zahl von Waffensystemen, die zur Führung von Überraschungsangriffen und großen Offensiven besonders geeignet sind, kollektiv wie national. Für die Bundeswehr gel-

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ten mit Ende der Reduzierungsphase folgende Höchstzahlen: 4166 Kampfpanzer, 3446 gepanzerte Kampffahrzeuge, 2705 großkalibrige Artilleriesysteme, 900 Kampfflugzeuge und 306 Kampfhubschrauber. Nachdem Deutschland schon im Zwei-plus-Vier-Vertrag eine Begrenzung seiner Streitkräfte auf insgesamt 370 000 Mann zugesagt hatte, erfolgte eine Festlegung der Personalstärken der Land- und Luftstreitkräfte der Vertragsstaaten in der »Abschließenden Akte der Verhandlungen über Personalstärken der Konventionellen Streitkräfte in Europa« vom 10. Juli 1992. Der Personalumfang der deutschen Land- und Luftstreitkräfte einschließlich landgestützter Marinefliegerkräfte und zentraler Stäbe darf 345 000 Mann nicht übersteigen. Verschiedene verbindlich vereinbarte Maßnahmen, u.a. der Austausch militärischer Informationen und die Überwachung der Bestände an vertraglich begrenzten Waffen, sollen Vertrauen und Sicherheit unter den Vertragsstaaten schaffen. Der Rückblick und der Ausblick zeigen: Die Bewaffnung und Rüstung der Bundesrepublik unterliegt seit 1954/55 völkerrechtlichen Beschränkungen. Zunächst als Mittel zur Gewährleistung von Sicherheit vor Deutschland ersonnen, vermochten multilaterale Rüstungsbeschränkungen und ihre Kontrollen im Rahmen der Westeuropäischen Union und der NATO das Vertrauen und die Sicherheit unter den westeuropäischen Staaten herzustellen und auf Dauer zu gewährleisten. Diese einmalige historische Erfahrung wird nunmehr im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa einem neuen, hoffentlich ebenso erfolgreichen Test unterzogen.

Ausgewähltes Literaturverzeichnis Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945-1956, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Bd 1-3, München 1982,1990,1993 (Bd 4 in Vorbereitung) Vgl. dort vor allem: Bruno Thoß, Der Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur YVEU und NATO im Spannungsfeld von Blockbildung und Entspannung, Bd 3; Christian Greiner, Die militärische Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in die WEU und die NATO 1954 bis 1957, Bd 3; Walter Schwengler, Der doppelte Anspruch: Souveränität und Sicherheit. Zur Entwicklung des völkerrechtlichen Status der Bundesrepublik Deutschland 1949-1955, Bd 4. Weißbuch 1994. Weißbuch zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Lage und Zukunft der Bundeswehr, hrsg. vom Bundesministerium der Verteidigung im Auftrag der Bundesregierung (Bonn 1994).

Johann Adolf Graf von Kielmansegg Militärischer Berater auf der Konferenz von London 1954 Der Herausgeber hat von mir persönliche Erinnerungen und Beobachtungen bei den Konferenzen in London und Paris im Herbst 1954 in Ergänzung seines eigenen Beitrages in diesem Sammelband erbeten, da ich neben Botschafter a.D. Wilhelm Grewe das einzige noch lebende Mitglied der damaligen deutschen Delegation bin. Grewe hatte mit dem Deutschlandvertrag zu hin, der das Besatzungsregime beenden sollte, während ich mit der Schaffung eines deutschen Verteidigungsbeitrages in einem westlichen Bündnissystem befaßt war. Zu diesen persönlichen Anmerkungen muß ich aber einen auf sie bezogenen Rahmen der Geschehnisse geben, weil sie sonst in der Luft schweben würden. Ich werde mich dabei mit einer Ausnahme auf die Londoner Konferenz beschränken, denn diese war politisch der entscheidende Vorgang und sicherlich einer der markantesten Wendepunkte der Nachkriegszeit, der im übrigen in einer fast atemberaubend kurzen Zeit erreicht wurde. Bundeskanzler Konrad Adenauer gewann die nur noch in der gesamtdeutschen Frage und im Hinblick auf den Status Berlins eingeschränkte Souveränität der Bundesrepublik und brachte diese in die NATO. Darin eingebunden war die Aufstellung von nationalen deutschen Streitkräften. Es war die Zeugungsstunde der Bundeswehr. Der Ausgangspunkt für dieses Ereignis lag damals zwei Jahre zurück. Am 27. Mai 1952 hatten die Außenminister Belgiens, der Bundesrepublik Deutschland, Frankreichs, Italiens, der Niederlande und Luxemburgs unter den Augen der offiziellen Beobachter der vorangegangenen Verhandlungen, USA und Großbritannien, den Vertrag über die Schaffung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) unterschrieben. Die Zeremonie fand im Uhrensaal des französischen Außenministeriums am Quai d'Orsay in Paris statt. Als Mitglied der deutschen Delegation stand ich hinter Adenauer, der damals sein eigener Außenminister war, und sah ihn unterschreiben. Der Vertrag legte die Schaffung einer integrierten Europa-Armee mit einem beträchtlichen deutschen Anteil fest und regelte deren Struktur in allen Einzelheiten. Das Entscheidende dieses Vertrages war, daß er eine bis heute nicht erreichte Neuformung des europäischen Staatensystems fast automatisch bewirkt hätte. Der Vorgang der Unterzeichnung hat sich mir als Bild unvergeßlich eingeprägt, denn er bedeutete fast Unglaubliches. Beinahe auf den Tag genau nur sieben Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, welches die Verdammung Deutschlands, seine Ausstoßung aus der Völkergemeinschaft und auf ewig gerichtete Entwaffnung gebracht hatte, wurde sein westlicher Teil, die Bundesrepublik, in diese Gemein-

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schaft zurückgeholt und sollte dann die nach Frankreich zweitgrößte Armee aufstellen. In diesem Augenblick dachte ich an den Mai 1945 zurück, als ich in englischer Gefangenschaft ohne Ergebnis darüber nachgrübelte, was aus Deutschland, was aus mir werden würde. An das, was ich jetzt miterlebte, auch nur entfernt zu denken, war kühnster Phantasie und größtem Wunschdenken nicht möglich. Und nun geschah es vor meinen Augen. Mehr aus der Nähe betrachtet war Adenauers Außenpolitik einen so großen Schritt vorangekommen, wie man es am Beginn der Verhandlungen im Februar 1951 nicht hatte erhoffen können. An diesem 27. Mai waren wohl alle Anwesenden, sicher aber wir Deutsche, mit dem Bundeskanzler der Überzeugung, daß der EVG-Vertrag ratifiziert und damit verwirklicht werden würde. Die Ratifizierungen kamen auch nacheinander, nur nicht in Frankreich. Hier wurden die parlamentarischen Verhältnisse immer unübersichtlicher. Außenminister Robert Schuman, der mit Jean Monnet den europäischen Gedanken vorantrieb, mußte Anfang 1951 seinen Posten aufgeben. Die Auseinandersetzungen in der französischen Kammer wurden mit antideutschem Akzent immer heftiger, bis schließlich unter der Regierung Pierre Mendès-France die französische Nationalversammlung am 30. August 1954 mit 319 gegen 264 Stimmen das Ratifizierungsgesetz nicht etwa ablehnte, sondern mit einem Geschäftsordnungstrick einfach von der Tagesordnung absetzte. Der Schock und die Enttäuschung, besonders bei uns Deutschen und gerade auch bei Adenauer, waren groß. Damit hatte Frankreich nicht nur den EVG-Vertrag praktisch beseitigt, sondern dessen Scheitern traf tief ins Zentrum Adenauerscher Außenpolitik. Zudem war es ein Erfolg der sowjetischen Politik. Die Gesamtlage schuf einen Zwang, dem sich auch Frankreich nicht entziehen konnte, so rasch wie möglich eine Ersatzlösung zu finden, die zum mindesten militärisch etwas der EVG Vergleichbares brachte. Es war der englische Außenminister Anthony Eden, der sofort mit Energie und Geschick die Initiative ergriff. Nur einen Monat später, am 29. September 1954, begann in London die Neun-Mächte-Konferenz der Außenminister, die nach vier Tagen die Londoner Schlußakte unterzeichneten. Sie legte fest, was dann im Oktober zu den Pariser Verträgen ausformuliert wurde. Sie blieben fast 40 Jahre bis zur Wiedervereinigung Deutschlands gültig. Es soll hier nicht abgehandelt werden, wie es zu der >Ersatzlösung< in London kam und auch nicht das gesamtpolitische Umfeld, der damalige Stand des Kalten Krieges und die fortdauernde Störungsstrategie der Sowjetunion, die alle bei den Verhandlungen sozusagen gegenwärtig waren. Ich war damals seit 1951 Leiter der militärpolitischen Unterabteilung des Amtes Blank, die zwar anders hieß, es aber tatsächlich war. Die zweite Unterabteilung der militärischen Abteilung unter General Adolf Heusinger, dem späteren ersten Generalinspekteur der Bundeswehr, wurde geleitet von Oberst a.D. Kurt Fett, dem besten organisatorischen Kopf, den ich je erlebt habe, und war für Planung und Organisation der zukünftigen deutschen Streitkräfte zuständig. Nach dem 30. August oblag es uns beiden, zu überlegen, welche Alternative zur gescheiterten EVG anzustreben sei und wie sie aussehen solle, um

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die deutschen Interessen zu wahren. Es wurde sehr rasch klar, daß es keine andere Lösung gab, als den Beitritt der Bundesrepublik zur NATO (was ja schon Zielrichtung der deutschen Seite bei den Petersberger Gesprächen 1951 gewesen war) und daß die deutschen Streitkräfte so eng wie möglich den im EVGVertrag vorgesehenen angeglichen werden sollten. Die größten Schwierigkeiten, und das hat sich später bestätigt, erwartete ich von französischer Seite in der Rüstungskontrollfrage im Zusammenhang mit der Rüstungsproduktion. Beschränkungen für Deutschland würden zwar unvermeidlich sein, aber sie sollten nicht über die des EVG-Vertrages hinausgehen und durften nicht einseitig und diskriminierend sein, jedenfalls nicht de jure. Aus diesen Überlegungen heraus entwarf ich Anfang September ein Arbeitspapier, wonach die Bundesrepublik freiwillig, also von sich aus, bestimmte Garantien anbieten sollte. Blank und Heusinger billigten es, und der Gedanke wurde in das deutsche Verhandlungskonzept aufgenommen. Es hat sich damit ein Weg eröffnet, der zur Lösung dieses wichtigen Problems führen sollte, ohne die, wie sich zeigen sollte, die Londoner Konferenz wohl ohne Erfolg geblieben wäre. Vielleicht war dieses Arbeitspapier der Anlaß, daß Theodor Blank überraschend entschied, daß ich ihn als militärischer Berater nach London begleiten sollte und nicht General Hans Speidel, der militärischer Delegationschef bei den EVG-Verhandlungen gewesen war. Die deutsche Delegation war klein: Adenauer als sein eigener Außenminister, Staatssekretär Walter Hallstein, Theodor Blank, Herbert Blankenhorn, Fett und ich sowie Grewe speziell für den parallel zu verhandelnden Deutschlandvertrag und einige Mitarbeiter aus dem Kanzleramt. Auch die Delegationen der anderen Länder waren nicht groß. Sie wurden von den Außenministern geführt mit Ausnahme der französischen, an deren Spitze Ministerpräsident Mendès-France stand. In den vier Wochen vor Beginn der Konferenz hatte es zunächst ein verwirrendes, von vielfältigem Mißtrauen gezeichnetes Bild von Überkreuzungen der Absichten und Ansichten über den Weg zum Ziel gegeben. Das hieß für die sogenannten Experten, also auch für mich, sich ständig mit neuen Analysen und daraus zu ziehenden sachlichen Folgerungen auseinanderzusetzen, um sie denen, die zu entscheiden hatten, an die Hand zu geben. Über das Ziel selbst gab es jedoch bis auf Frankreich weitgehende Übereinstimmung: eine Alternative zur EVG zu finden und die Bundesrepublik mit einem militärischen Beitrag kontrolliert in das neue System einzubinden. Ende September glaubte man, für alle akzeptable Grundlinien für einen Beitritt Deutschlands zur NATO und zum neu ins Spiel gebrachten Brüsseler Pakt, der geändert und der NATO gewissermaßen vorgeschaltet werden sollte, gefunden zu haben. Frankreich hatte erkennen lassen, daß es nicht grundsätzlich Nein sagen würde, aber wie es sich verhalten würde, war unsicher. So war die Stimmung am 28. September 1954, als die Konferenz im Londonder Lancaster House begann, gedämpft zuversichtlich, jedenfalls bei uns Deutschen. Es stellte sich bald heraus, daß das umfangreiche Bündel von Problemen nicht in der Frage nach dem >Was< bestand, sondern in dem >Wie< der Lösung.

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Das Spiel ging hin und her zwischen London und Washington, mehr oder weniger von Italien unterstützt, einerseits und Paris andererseits. Adenauer, der sich von der unverkennbaren Nervosität Edens und vor allem der von MendèsFrance nicht hatte anstecken lassen, hörte seelenruhig zu, sagte wenig und hielt sich zunächst in geschickter Weise ziemlich zurück. Das konnte er sich auch leisten, da die deutschen Interessen gegenüber Frankreich bei seinen angelsächsischen Partnern gut aufgehoben waren. Der eigentliche Konflikt mit Frankreich entzündete sich, wie wir es im Amt Blank als wahrscheinlich vorausgesehen hatten, an der für Deutschland besonders wichtigen Frage der Rüstungskontrolle und der Rüstungsproduktion. Hinter dieser schwebte, direkt kaum angesprochen, der Schatten der ja in den Bereich der Rüstung gehörenden ABC-Waffen. Die Verhandlungen liefen sich mehrfach fest, am Abend des 1. Oktober so sehr, daß ein Scheitern der Konferenz drohte, weil Mendès-France nicht zu bewegen war, seine überzogenen Forderungen bezüglich Rüstungskontrolle und nach einem überwölbenden Rüstungspool aufzugeben. Adenauer taktierte in aller Ruhe. Er wußte, daß es auf ihn ankam, auf das, was er anbot. Am Abend trennte man sich in einer allgemein schlechten und pessimistischen Stimmung. Am Morgen des 2. Oktober kam die Sache nicht weiter. Die Sitzung wurde immer wieder unterbrochen, um den Delegationsleitern zu ermöglichen, mit ihren Experten zu sprechen, die ihrerseits immer Einwendungen vorbrachten, natürlich in jedem der beiden Lager immer wieder verschiedene. In der deutschen Delegation fand so etwas kaum statt, der entscheidende Punkt der auf dem Rüstungsgebiet anzubietenden Garantien war ja, wie oben geschildert, vom Amt Blank ausgehend, schon Anfang September ziemlich genau umrissen festgelegt worden. Nur ausgesprochen hatte ihn Adenauer bis zum 2. Oktober nicht! Mir ist damals sehr deutlich geworden, daß er wirklich das war, was ihm nachgesagt wurde: ein schlauer Fuchs. Der Kanzler war auch entschlossen zu seinem Angebot, aber er wollte erst sicher sein können, daß die USA ihre EVGZusagen, starke Truppenkontingente ohne zeitliche Festlegung in Europa zu belassen, erneuern würden, daß Großbritannien der WEU, dem umgewandelten Brüsseler Pakt beitreten und damit seine Truppenpräsenz auf deutschem Boden festlegen würde, und daß — vor allem anderen — Frankreich sein Veto gegen eine Mitgliedschaft der Bundesrepublik in der NATO aufgeben würde. Am Morgen des 2. Oktober konnte Adenauer von all dem ausgehen, vorausgesetzt, auf dem Rüstungsgebiet konnte ein Konsens erzielt werden. Damit kam es nun auf ihn an. Auf diesen Moment hatte er gewartet. Er kam, als Eden einen letzten Versuch machte und abermals die Sitzung unterbrach, nachdem sein Vorschlag, daß die Außenminister allein mit nur jeweils einem Berater weitertagen sollten, angenommen worden war. Edens Absicht dabei war, die Delegationsleiter von den dauernden Einsprüchen ihrer Experten zu befreien. Alle gingen aus dem Saal, die Delegationen versammelten sich unter sich. Wir Deutschen hatten nicht viel zu besprechen, das Angebot des Kanzlers mußte jetzt kommen. Adenauer mußte entscheiden, wer ihn begleiten sollte. Er,

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Hallstein, Blank und ich standen in einer kleinen Gruppe zusammen. Hallstein gab unmißverständlich zu verstehen, daß er wohl der begleitende Berater sein solle oder sein würde. Daraufhin der Kanzler: »Nee, nee, Herr Hallstein, ich brauche jemand, der etwas davon versteht (Anmerkimg: für ihn ging es ja nur noch um den Verzicht auf bestimmte schwere Waffen und die ABC-Waffen) und das ist hier nur der Herr Blank.« Blank antwortete — und das ist sehr bezeichnend für ihn: »Herr Bundeskanzler, nicht ich. Der einzige von uns, der wirklich etwas davon versteht, ist der Graf Kielmansegg, nehmen Sie den mit.« Adenauer stimmte sofort zu, und so ist es gekommen, daß der Kanzler und ich als sein Berater allein in diese alles entscheidende Sitzung gingen. Nach dieser Szene war Hallstein sichtlich verärgert. Er nahm mich beiseite und sagte mir eindringlich, daß er mich dafür verantwortlich mache, daß der Kanzler sich bei dem Verzicht genau an das hielte, was zuvor festgelegt worden sei; wenn nötig, müsse ich mich einschalten. Vor allem müsse Adenauer zusätzlich dafür sorgen, daß eine Revisionsklausel von vornherein aufgenommen würde, was den Verzicht auf ABC-Waffen angehe. Zweitens ginge es darum, daß alle Möglichkeiten für eine zivile Nutzung der Kernkraft offengehalten würden. Als alle wieder Platz genommen hatten, wirkte der große Saal beinahe leer; es waren ja nur noch achtzehn Sitzungsteilnehmer. Adenauer und ich saßen an den zu einem länglichen Rechteck zusammengestellten Tischen so, daß Eden und Dulles uns gegenübersaßen und Mendès-France rechts von uns. Ich konnte ihre Gesichter gut beobachten. Mendès-France sah noch schlechter und gelber aus als an den Vortagen. Er hatte leichtes Fieber und zudem zusätzlichen Ärger. In Paris gab es einen Spionageskandal, und er bekam während der Sitzung zweimal eine Mitteilung darüber zugesteckt, wie mir später eines der französischen Delegationsmitglieder erzählte. Nach der Wiedereröffnung der Sitzung lief sich die Diskussion bald wieder fest, weil Mendès-France von seinen von ihm zu einem Paket zusammengeschnürten Forderungen auf dem Rüstungsgebiet nicht abging, was vor allem Eden immer wieder zu erreichen versuchte. Der Ton wurde immer gereizter. Eden warf Frankreich vor, durch die Torpedierung der EVG die gegenwärtige schwierige Lage allein herbeigeführt zu haben, und sagte, er verstünde immer noch nicht richtig, aus welchen Gründen dies geschehen sei. Darauf Mendès-France — ich höre ihn noch —: »Das kann ich Ihnen sagen. In der EVG gab es zuviel Integration und zu wenig England«. Damit wäre trotz der britischen Beteiligung an der WEU die Sicherheit Frankreichs, womit er die Sicherheit vor Deutschland meinte, nicht genügend gewährleistet gewesen. Daraufhin sprang Eden auf, ich habe nie vorher oder nachher einen Engländer bei einer Auseinandersetzung in solcher Erregung gesehen. Er schrie beinahe: »Mr. Prime Minister, es geht nicht um die Sicherheit Frankreichs. Die ist gegeben. Hier und jetzt geht es um unser aller Sicherheit, um die Sicherheit Europas.« Schweigen im Saal. Der Schatten der Sowjetunion lag plötzlich über ihm. Währenddessen hatte Adenauer, der völlig unbewegt dasaß, mir zugeflüstert: »Jetzt sage ich es.« Es war ganz genau der Moment, auf den er gewartet

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hatte. Er meldete sich zu Wort und gab nach einer kleinen Vorbemerkung, daß seine folgende Erklärung vielleicht weiterhelfen könne, den Verzicht der Bundesrepublik Deutschland auf Produktion und Eigentum von ABC-Waffen bekannt und verlas außerdem eine Liste. Dies war eine von Oberst Fett und mir vorher erarbeitete Positivliste derjenigen schweren Waffen, Flugzeug- und Kriegsschifftypen, die wir gern selber produzieren wollten. Auf die Produktion von allem, was darüber hinausging, verzichtete Deutschland. Adenauer ließ sich während der Sitzung diese Liste von mir zeigen, las sie aufmerksam durch und sagte dann: »Die ist sehr lang, können wir denen nicht noch etwas schenken?« Ich schlug ihm vor, die damals sogenannten strategischen Bombenflugzeuge (potentielle Atomwaffenträger!) zu streichen, die nach meiner Meinung für uns produzieren zu wollen politisch ebenso falsch wie sachlich überflüssig und zu teuer war — die Luftwaffenplaner hatten darauf bestanden und waren mir nachher sehr böse. Adenauer akzeptierte meinen Vorschlag sofort, nahm einen Bleistift und strich die strategischen Bombenflugzeuge durch. So einfach ging eine nicht unwichtige deutsche Entscheidung vor sich. Diese Liste wurde nachher die Grundlage für die Liste IV der Pariser Verträge, die ich dann im Einzelnen mit meinem französischen Counterpart Couve de Murville, dem späteren Außenminister de Gaulles, ausgehandelt habe. Der Kanzler hatte in seiner Erklärung nicht die beiden Punkte erwähnt, die Hallstein unbedingt hatte eingeschlossen wissen wollen, also Revisionsklausel für ABC-Verzicht und keine Behinderung bei ziviler Kernkraftproduktion. Ich erinnerte ihn daran. Darauf Adenauer zu mir: »Nee, nee, dat mit der Revision, dat sage ich nicht. Dat ärgert die bloß und irgendwie kommt das mal von allein. Aber das mit dem Zivilen, dat werde ich noch sagen. Schreiben Sie mir's mal auf« — was ich dann tat. Als Adenauer schwieg, war die Wirkung seiner Erklärung in dem zunächst entstandenen Schweigen zu spüren. Dann meldete sich Paul-Henri Spaak und schloß sich für Belgien dem deutschen ABC-Verzicht an. Die Sitzung wurde von Eden unterbrochen, ein Teil der Minister, dabei auch der Kanzler standen auf. Spaak kam auf ihn zu und sagte zu mir — ich mußte dolmetschen — »Sagen Sie Ihrem Kanzler, daß er ein viel größerer Europäer ist als ich«. Das war typisch Spaak. Kurz nach Spaak kam Dulles; auch hier mußte ich dolmetschen. Die nun folgende Szene, die Hans Peter Schwarz wegen ihrer schwerwiegenden Bedeutung den >berühmten Vorgang< nennt, beschreibt Adenauer selbst auf Seite 344 des zweiten Bandes seiner Erinnerungen. Hier muß sich etwas in seinem Gedächtnis verschoben haben; eine Aufzeichnung darüber gibt es außer meinen Notizen nicht. Es ist nicht richtig, daß beide dies Gespräch »mit lauter Stimme, so daß jeder im Saale es hören konnte« geführt hätten; es kam auch niemand vorbei, der es hätte hören können. Adenauer hat diese Ausschmückung wohl vorgenommen, um die außerordentliche Bedeutung des Gesprächsinhalts für alle Zeiten hervorzuheben. Dulles sprach zu mir und verlangte, daß ich dem Kanzler folgendes übersetze:

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»Ich möchte Ihnen sehr für Ihre Erklärung danken. Ich bin mir klar darüber, was dieser ABC-Verzicht für Sie und für Deutschland bedeutet und ich habe großes Verständnis dafür, daß Sie sich über die weitere Entwicklung Gedanken machen.« Adenauer schwieg einen Moment und erwiderte dann: »Dann sagen Sie mal dem Herrn Dulles, das wäre schon richtig. Wenn ich erst mal meine zwölf Divisionen habe, können wir weiter darüber reden.« Dulles lächelte, nickte leicht mit dem Kopf und ging aus dem Saal. Die Formel >rebus sie stantibusrebus sie stantibus< in dem »weiter darüber reden« ja deutlich drin. Wenn Dulles das, was Adenauer schreibt, wirklich gesagt hat, kann das nur bei dem gemeinsamen Abendessen der Außenminister geschehen sein, wo die beiden vielleicht die Sache noch einmal aufgegriffen haben. Wenn das so wäre, hätten sich beide Vorgänge in Adenauers Erinnerung vermischt. Angemeldet war die Revisionsmöglichkeit jedenfalls und Hallstein war einigermaßen beruhigt, als ich ihm dies berichtete und hinzufügen konnte, daß der Kanzler durch einfaches Übergehen ohne EinLondoner Neun-Mächte-Konferenz 1954. Unterzeichnung der Schlußakte durch die Außenminister. V.l.n.r.: Gaetano de Martino, Anthony Eden, Konrad Adenauer, Pierre Mendès-France, Lester Β. Pearson

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Wendungen der anderen die im EVG-Vertrag vorgesehenen Beschränkungen für die zivile Nutzung nuklearer Energie vom Tisch gewischt hatte. Der Durchbruch war erzielt, die fast tödliche Krise der Konferenz überwunden. Ich hatte unmittelbar erlebt, wie Geschichte gemacht wurde und ein ganz klein wenig dabei mitwirken können. In der restlichen Sitzung stimmte Mendès-France zu, daß die Rüstungskontrollprobleme und die Frage eines Rüstungspools von Experten geklärt und auf der bevorstehenden Pariser Vertragskonferenz endgültig reguliert werden sollten. Die Frage des NATO-Beitritts der Bundesrepublik wurde von ihm nicht mehr erwähnt. Damit waren die letzten Hindernisse aus dem Weg. Am 3. Oktober wurde die Schlußredaktion der Londoner Schlußakte erarbeitet und diese, welche eine Einladung an Deutschland enthielt, Mitglied der NATO zu werden, um 14.30 Uhr unterzeichnet. Die folgenden Wochen waren mit intensiver Arbeit in und zwischen den Hauptstädten mit einem zentralen Lenkungsausschuß und mehreren Unterausschüssen in Paris ausgefüllt. Es waren ja nicht nur die Sicherheitsfragen, also NATO und WEU, in Vertragstexte zu bringen, sondern auch der das Besatzungsrecht beendende Deutschlandvertrag und das sich als eine besonders harte Nuß erweisende Saarstatut. Herr Blank hatte wieder Oberst Fett und mich mitgenommen und dazu diesmal natürlich eine Anzahl von militärischen Spezialexperten, denn im Vertrag mußte ja alles über Umfang, Organisation usw. der zukünftigen deutschen Streitkräfte festgelegt werden. Es würde zu weit führen, hierüber zu berichten, zumal die militärischen Bestimmungen weitgehend denen des EVG-Vertrages entsprachen und grundlegende politische Beschlüsse der Londoner Schlußakte unverändert in die Vertragstexte eingingen. Es galt im wesentlichen nur noch, diese zu formulieren. Das war in vielen Fällen schwierig genug. Nur in der Rüstungsfrage versuchte Frankreich zunächst seinen in London nicht durchgesetzten Standpunkt aufrechtzuerhalten. In dem Rüstungsunterausschuß war ich der deutsche Vertreter. In zähen Verhandlungen gelang es, für die Bundesrepublik akzeptable Ergebnisse zu erzielen, sogar bei den sogenannten strategisch gefährdeten Zonen, ein Begriff, den die Franzosen erfunden hatten. In diesen Zonen sollte keine Rüstungsproduktion stattfinden. Die geforderte Abgrenzungslinie, von uns >Pulverlinie< genannt, weil sie gerade eine für uns wichtige Pulverfabrik ausschloß, war so gelegt, daß praktisch nur die Bundesrepublik strategisch gefährdetes Gebiet war. Mein Argument, daß bei den in der Sowjetarmee vorhandenen Fernwaffen alle Beneluxländer und große Teile von Frankreich ebenfalls strategisch gefährdet wären, konnte nicht widerlegt werden und so fielen die Pulverlinie und die Zone überhaupt. Schließlich mußte noch der deutsche ABC-Verzicht formuliert werden. Man hatte sich geeinigt, daß er in Form eines Briefes des Bundeskanzlers an die anderen Mächte festgelegt werden sollte, der Bestandteil des Vertrages sein sollte. Den Auftrag, diesen Brief zu entwerfen, bekam zu meiner Überraschung ich. Ich hatte gedacht, daß dieses wichtige und weittragende Dokument eine diplomatisch-juristische Sache des Auswärtigen Amtes sein müsse. So setzte ich

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mich mit ziemlichen Kopfschmerzen und einem unsicheren Gefühl hin und entwarf den Brief. Ich ging dann damit zu Blankenhorn, der nach einem flüchtigen Blick nur meinte, das würde schon in Ordnung sein. Anscheinend war es mir gelungen, den wichtigsten Passus im deutschen Interesse so zu formulieren, daß der Verzicht nur für Produktion und Eigentum, nicht aber für Besitz und Verwendung galt; wir wollten ja später in der Lage sein, sogenannte delivery means richtigen< politischen Einstellung durchgesetzt wurden. Die »Übung« wurde in den Rang einer »echten Klassenkampfaufgabe«, als ein Examen der »politischen Reife, psychischen Belastbarkeit, physischen Ausdauer und moralischen Standhaftigkeit« hochstilisiert. Am 29. Juli 1968, gegen 10 Uhr, erhielt Marschall Jakubovski die Meldung, daß die 7. PD und die 11. Mot.-Schützendivision der NVA im Rahmen der Übung »Donau« die befohlenen Räume bezogen und die Gefechtsbereitschaft hergestellt hatten. Noch am selben Tag trat der Nationale Verteidigungsrat der DDR unter Leitung von Ulbricht zusammen. Auf der Tagessordnung standen ausschließlich Fragen zur Koordination staatlicher Institutionen im Zusammenhang mit den Entwicklungen in der CSSR. Die sich dramatisch zuspitzenden Ereignisse wiesen Ende Juli 1968 auf einen unmittelbar bevorstehenden Beginn der militärischen Aktion gegen die Tschechoslowakei hin. Doch obwohl von militärischer Seite alle relevanten Vorbereitungen getroffen worden waren, erfolgte der Befehl zum Einmarsch zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Die Gründe dafür lagen vor allem im Ausgang der Treffen der kommunistischen Führer mit Dubcek in Cierná nad Tisou und in Bratislava, deren Ergebnisse alle Beteiligten Anfang August übereinstimmend als Zeichen der Normalisierung werteten. Die militärische Lösung des »Problems CSSR« war damit keinesfalls vom Tisch, wie nicht nur der Beginn weiterer Übungen in den folgenden Tagen demonstrierte. Die militärischen Aktivitäten der Sowjets und ihrer Verbündeten an den Grenzen zur CSSR blieben dem Westen natürlich nicht verborgen. Seit dem Frühjahr 1968 wurde der gesamte Funksprechverkehr der östlichen Streitkräfte im Grenzgebiet zur Bundesrepublik systematisch abgehört. Die westlichen Geheimdienste arbeiteten erfolgreich. Unterschiedliche Quellen hatten Mitte Mai 1968 übereinstimmend signalisiert, daß sich durch die gezielte Bildung starker sowjetischer militärischer Kräftegruppierungen nicht nur eine Gefahr für die Prager Reformer, sondern auch für die südöstliche NATO-Front ergeben konnte. Die Regierungen des Nordatlantischen Bündnisses wurden informiert. Ende Juli bestand in der militärischen NATO-Führung kein Zweifel mehr an der Absicht der Sowjets und ihrer Verbündeten, in der CSSR militärisch aktiv zu werden. Am 2. August 1968 bemühte sich deshalb der NATO-Oberbefehlshaber, General Lyman Lemnitzer, beim Ständigen NATO-Rat, dem übergeordneten politischen Führungsgremium, um eine politische Beurteilung der Situation. Wenige Tage später — im Ostblock herrschte nach dem Treffen von Bratislava geradezu trügerische Ruhe — urteilte der Politische Ausschuß des

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Ständigen Rates, daß keine Anzeichen für eine Aggression der Sowjetunion gegen Westeuropa vorlägen. Weder der Militärausschuß noch der Ständige Rat hielten es daher für notwendig, eine besondere Spannungs- und Alarmbereitschaft anzuordnen. In der NATO-Kommandozentrale bei Möns, 40 km südlich von Brüssel, war man sich offenbar ziemlich sicher, daß dem Westen von der aufmarschierten Armada der UdSSR keine Gefahr drohte. Eine inoffizielle Nachricht der Russen, daß der Aufmarsch im Ostblock auf keinen Fall gegen den Westen gerichtet sei, soll in den NATO-Führungskreisen der Hauptgrund für diese Ruhe und Gelassenheit gewesen sein. Ein Spiel mit dem Feuer, denn den Amerikanern blieb verborgen, wie sich erst später herausstellte, daß die Sowjets auch ihre nuklearen Streitkräfte, vor allem im Mittelstreckenbereich, in Alarmzustand versetzt hatten.

21. August 1968: Die Besetzung der CSSR In Prag tagte am 20. August 1968 seit den Nachmittagsstunden das Präsidium der KPC, um die letzten Vorbereitungen für den im September geplanten Parteitag zu treffen. Dubcek erinnerte sich später an diesen historischen Abend: »Ich beachtete die Gerüchte (über einen bevorstehenden sowjetischen Einmarsch, der Verf.) nicht weiter, da ich sie als Einschüchterungsmanöver betrachtete. Kurz vor Mitternacht jedoch wurde Ministerpräsident Cernik zum Telefon gerufen.Verteidigungsminister Dzúr teilte ihm mit, die Sowjets und vier ihrer Verbündeten seien einmarschiert. Cernik erfuhr außerdem, daß Dzúr in seinem Büro im Verteidigungsministerium von den Sowjets gefangengenommen war und nur die Erlaubnis bekommen hatte, den Ministerpräsidenten anzurufen und ihn über die Invasion zu informieren. Cernik kam zurück und überbrachte uns die Nachricht. Sie schlug ein wie eine Bombe.« Als die KPC-Führung die Nachricht vom Einmarsch erhielt, befanden sich schon Tausende ausländischer Soldaten auf dem Territorium der Tschechoslowakei. In einem Piratenakt hatten sowjetische Fallschirmjäger den Prager Flughafen Ruzynë besetzt und die Landung einer kompletten Luftlandedivision vorbereitet. In ähnlicher Manier waren die Grenzübergänge zur CSSR überfallen und für die ins Land strömenden Truppen geöffnet worden. Am 20. August, mit Einbruch der Dunkelheit, hatten die Kommandeure der entlang der Grenzen zur CSSR konzentrierten Verbände und Truppen der bereitstehenden Interventionsarmeen — insgesamt 30 Divisionen der Landstreitkräfte — den Marschbefehl erhalten. Die sogenannte »Prager Gruppierung« bildete dabei die stärkste Truppenvereinigung. Ihre Hauptstoßrichtung war — aus der DDR und aus Polen kommend — die Hauptstadt Prag. Dazu bestand die Gruppierung aus drei Armeen und der Reserve des Oberkommandierenden, in der Anfangsplanung insgesamt 13 Divisionen, davon acht sowjetische, drei polnische und zwei NVA-Verbände. Zu ihrer ersten operativen Staffel gehörten die 1. Gardepanzerarmee der GSSD (Dresden) mit vier Divisionen,

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die 20. Gardearmee der GSSD mit drei Divisionen und ein gemischter sowjetisch-polnischer Armeeverband mit ebenfalls drei Divisionen. Als Reserve verblieben drei Truppenverbände. Zwischen 22.30 Uhr und 24 Uhr überschritten die Spitzeneinheiten dieser Gruppierung die Staatsgrenzen zur CSSR und erreichten in der vorgesehenen Zeit die ihnen zugewiesenen Räume und Abschnitte. Die sowjetische 20. Gardearmee hatte den Befehl, direkt auf Prag vorzustoßen. Die ersten Einheiten erreichten in den frühen Morgenstunden ihr Ziel und bezogen danach an beherrschenden Plätzen der Hauptstadt Stellung. Starke polnische Truppen drangen unter ihrem Befehlshaber Generaloberst Florian Siwicki an der Seite der sowjetischen »Nordgruppe« in den Raum nordöstlich von Prag ein und besetzten ein ca. 20 000 Quadratkilometer großes Gebiet zwischen Mladá Boleslav und Ostrava. Die Kräfte der aus der DDR kommenden 1. Gardepanzerarmee der GSSD bewegten sich in südöstlicher Richtung und bezogen bis gegen Mittag des 21. August Bereitstellungs- und Sicherungsräume an der Grenze der CSSR zur Bundesrepublik. Parallel dazu okkupierten sowjetische Divisionen, unterstützt von ungarischen Truppen in Divisionsstärke, die Slowakei und besetzten u.a. Bratislava. Dazu kamen weitere Luftlandetruppen, Fliegerkräfte und Truppen der Luftverteidigung, insgesamt 18 Luftwaffengeschwader sowie Hubschrauber- und Aufklärungstruppenteile. Bulgarische Bataillone waren vor allem an der Luftlandung in Prag beteiligt. Die CSSR war in weniger als 12 Stunden von mehr als 200 000 Soldaten besetzt worden. Am Morgen des 22. August schlössen die Verbände der Interventionsstreitkräfte im wesentlichen ihre Konzentrierung in den festgelegten Räumen ab. In Milovice bei Prag richtete man den Stab der Besatzungstruppen ein, der von einem sowjetischen Armeegeneral geleitet wurde. In den folgenden Tagen waren zwar noch einige Umgruppierungen notwendig, so daß neue Soldaten und weitere Panzer ins Land kamen, der eigentliche »Einmarsch« war jedoch beendet. Die langfristige Vorbereitung und exakte Planung hatten es der militärischen Führung der Verbündeten ermöglicht, die Aktion blitzartig und überraschend durchzuführen. Kleinere Pannen beim Vormarsch und organisatorische Mängel im Nachschubsystem konnten den Ablauf der militärischen Handlungen nicht ernsthaft gefährden. Die Hauptziele der operativen Planung — die Blockierung und teilweise Entwaffnung der Tschechoslowakischen Volksarmee in ihren Kasernen, der »Schutz« und die Deckung der Westgrenze der CSSR sowie die Zerschlagung offenen Widerstands — wurden im Prinzip erfolgreich erreicht. Indirekte Unterstützung fanden die Okkupanten dabei beim CSSR-Verteidigungsminister und beim Chef der tschechoslowakischen Grenztruppen, die die Interventen ungehindert ins Land einfallen und gleichzeitig die Grenzen zur Bundesrepublik bzw. zu Österreich abriegeln ließen. Die einmarschierenden Truppen stießen somit auf keine nennenswerte Gegenwehr und hatten am ersten Tag — bis auf einige Leichtverletzte — keine Verluste zu verzeichnen. Vom militärischen Standpunkt

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Den sowjetischen Interventionstruppen schlägt eine Welle der Ablehnung und Empörung seitens der tschechoslowakischen Bevölkerung entgegen Sowjetische Panzer werden in der Prager Innenstadt von empörten Bürgern attackiert

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aus betrachtet funktionierte die seit dem Kriegsende gewaltigste Militäroperation in Europa nahezu fehlerlos. Die sowjetischen Marschälle und Generale hatten ihr Versprechen gehalten, daß die Besetzung der CSSR für sie kein Problem sei. Dennoch wurden die Soldaten der »Bruderländer«, insbesondere die Mannschaften aus der UdSSR, von der Realität völlig überrascht. Die meisten hatten — von der eigenen Propaganda seit Wochen so indoktriniert — ein von der »Konterrevolution« zermürbtes Land erwartet. In diesem Sinne glaubten sie als »Befreier« zu kommen. Sie malten sich einen Empfang der Bevölkerung mit Blumen, Brot und Salz als Dank für die Rettung von der »Konterrevolution« aus. Doch den einmarschierenden Truppen schlug seitens der tschechoslowakischen Bevölkerung eine Welle der Ablehnung, der Empörung und des Hasses entgegen. Vielerorts wurden spontan Wegweiser und Straßenschilder demontiert, um den ausländischen Militäreinheiten die Orientierung zu erschweren. Nicht selten lagen Bäume auf der Straße und blockierten die Wege der Marschkolonnen. Obwohl größere bewaffnete Zwischenfälle vermieden werden konnten, war die Bilanz des Einmarsches keinesfalls »unblutig«: sowjetische Soldaten erschossen 53 Bürger. 38 Tschechoslowaken wurden von Militärfahrzeugen überrollt und drei Personen kamen auf andere Weise um. Auf seiten der Interventen gab es 58 Tote.

Reaktionen im Westen Die westlichen Nachrichtenagenturen erhielten am 21. August 1968, wenige Stunden nach Mitternacht, Kenntnis über die Invasion und verbreiteten die Nachricht im Laufe des Tages in aller Welt. Die spontanen Reaktionen der Menschen im Westen drückten Bestürzung, Betroffenheit und Verachtung über das brutale Vorgehen gegen die Völker der Tschechoslowakei aus. Ungeachtet aller Aufklärungsergebnisse und Warnungen gaben sich aber Politiker und Militärs am 21. August überrascht. Die Überraschung bezog sich vor allem auf zwei Faktoren. Zum einen war es bis zuletzt nicht gelungen, den Tag und die Stunde des Überfalls exakt festzustellen. »Wir hätten ruhig einen V-Mann im Moskauer Politbüro oder im Warschauer Oberkommando haben können, er hätte uns kaum vorwarnen können, denn die geballte Militärmacht an der Grenze war mit einem einzigen Stichwort aus dem Kreml binnen kürzester Zeit in Marsch zu setzen«, so zitierte das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« im Herbst 1968 einen westdeutschen Geheimdienstler. Zum anderen machte die sowjetische Invasion intern und in der Öffentlichkeit schlagartig Versäumnisse in der westlichen Sicherheitspolitik deutlich. So fehlten eine exakte Lagebeurteilung des sowjetischen Potentials und entsprechende Vorsichtsmaßregeln des Westens. Offensichtlich besser und naturgemäß schneller informiert als seine NATOKollegen in Möns war der Befehlshaber der 7. US-Armee in der Bundesrepu-

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blik, General James H. Polk. Er befahl sofort erste Alarmmaßnahmen für seine Truppen. Ebenso schnell und konzentriert handelte der Kommandierende General des II. Armeekorps der Bundeswehr. Aus der Situation heraus entschied sich Generalleutnant Karl Wilhelm Thilo dafür, auch in seinem Verantwortungsbereich einige vorsorgliche Anordnungen zur Erhöhung der Einsatzbereitschaft der Truppe zu treffen. Dieses verantwortungsvolle Handeln stieß in Bonn aber nur auf wenig Verständnis. Hier beharrte man auf äußerster Zurückhaltung. In den folgenden Tagen liefen dann in den NATO-Landstreitkräften offizielle Teilmaßnahmen zur Stufe »Militärische Wachsamkeit« an, die u.a. ein kurzfristiges Verlegen von Truppen in Verfügungs- bzw. Einsatzräume möglich machen sollten. Die Aufklärung und die Beobachtung an den Grenzen zu Lande, zur See und in der Luft wurden wesentlich verstärkt. Arbeitsstäbe entstanden auf verschiedenen Ebenen. Im Bundesverteidigungsministerium bildete sich ein Krisenstab unter der Leitung von Flottillenadmiral Günter Poser. Im Mittelpunkt seiner Tätigkeit stand die Frage, ob aus dem Überfall auf die CSSR Anzeichen für eine direkte militärische Bedrohung der Bundesrepublik erkennbar waren. Nach eingehender Prüfung der Situation verneinte man dieses. Die Beobachtungen, vor allem zur Dislozierung und Bewegung der sowjetischen Divisionen, zur Haltung der Tschechoslowakischen Volksarmee sowie zur Problematik von Grenzübertritten, wurden aber weitergeführt und regelmäßig ausgewertet. Ahnliche Fragen bewegten in den ersten Tagen nach dem Einmarsch auch das südliche Nachbarland der CSSR, das neutrale Österreich. Gezielte militärische Aktivitäten des Bundesheeres sollten vor allem Grenzverletzungen durch sowjetische und tschechoslowakische Soldaten verhindern und etwaige Flüchtlingsströme — ähnlich denen während der Ungarn-Ereignisse im Jahre 1956 — geordnet lenken. Angesichts der möglichen Entstehung einer derartigen heiklen Situation zeigte die österreichische Regierung frühzeitig ihre Entschlossenheit, die Neutralität des Landes notfalls bewaffnet zu verteidigen. Nach dem 21. August 1968 konnte die sowjetische Führung sowohl mit dem militärischen Ablauf der Operation als auch mit den erwarteten — vorwiegend verbalen — Reaktionen des Westens zufrieden sein. Was jedoch nicht realisiert werden konnte, war die Erfüllung der politischen Zielsetzung der militärischen Intervention. Die KPC-Führung und die Regierung der CSSR waren, wie die überwiegende Mehrheit der Tschechen und Slowaken insgesamt, von Anfang an gegen die sogenannte Hilfeleistung der »Brüder« eingestellt. Deshalb mußte der sowjetische Plan eines politischen Umsturzes und der Installierung einer neuen »Arbeiter-und-Bauern-Regierung«, bestehend aus Kollaborateuren und moskautreuen Konservativen, scheitern. Daran konnte auch die Verhaftung der führenden Repräsentanten aus Partei, Regierung und Nationalversammlung nichts mehr ändern. Die sowjetische Führung stand so bereits unmittelbar nach dem Einmarsch — trotz einer erfolgreichen Militäroperation — vor der Wahl, entweder

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die Diktatur gewaltsam durchzusetzen oder einen vorläufigen Kompromiß mit den noch bestehenden demokratisierten Machtstrukturen zu suchen.

Die NVA und der Einmarsch Bereits am 18. August 1968 hatte die SED-Führung auf einer geheimen Beratung der fünf kommunistischen Parteichefs in Moskau der militärischen Variante der Konfliktlösung endgültig und vorbehaltlos zugestimmt. Am 20. August erließ Ulbricht in seiner Funktion als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates den entsprechenden Befehl über die Teilnahme der bewaffneten Kräfte der DDR an der Militäroperation. Der Befehl wies den Verteidigungsminister u.a. an, »die Vorbereitung und Durchführung aller der Nationalen Volksarmee in diesem Zusammenhang gestellten Aufgaben zu organisieren und zu leiten sowie den Einsatz der anderen bewaffneten Organe zu koordinieren«. Innenminister Friedrich Dickel hatte vor allem Maßnahmen im Zusammenhang mit den Einschränkungen des Reise- und Transitverkehrs zu gewährleisten. Und Stasi-Minister Erich Mielke wurde beauftragt, »alle Maßnahmen zur Verhinderung der sich verstärkenden Aufklärungstätigkeit ausländischer Geheimdienste und Militärverbindungsmissionen sowie zur Abschirmung der Truppen der Nationalen Volksarmee zu treffen«. Ulbricht ließ sich ab sofort über den Verlauf der Handlungen der NVA und über den Einsatz der anderen bewaffneten Kräfte täglich um 8 Uhr und um 20 Uhr berichten. Am 21. August 1968, ab 01.30 Uhr, wurden alle Grenzübergangsstellen für den zivilen Verkehr geschlossen und alle weiteren zivilen Kontakte wie z.B. der Telefon- und Postverkehr zwischen der DDR und der CSSR unterbrochen. Für Reisende richtete man sogenannte Sammelräume ein. Alle Sicherstellungs-, Transport-, Versorgungs- und Unterstützungsmaßnahmen wurden von der DDR-Führung im Auftrag der sowjetischen Stellen eigenverantwortlich geplant, vorbereitet und durchgesetzt. Zivile und militärische Institutionen arbeiteten dabei Hand in Hand. Die Aktivitäten der DDR-Organe bildeten damit zweifellos einen wichtigen integralen Bestandteil der militärischen Gesamtaktion. Ebenfalls kurz nach 1 Uhr morgens hatte DDR-Verteidigungsminister Armeegeneral Heinz Hoffmann nach Rücksprachen mit den verantwortlichen sowjetischen Marschällen sowie mit dem Sekretär des Verteidigungsrates, Erich Honecker, die Stufe »Erhöhte Gefechtsbereitschaft« für die gesamte NVA ausgelöst. Kurze Zeit später ertönten in den Stäben, Verbänden und Truppenteilen der Landstreitkräfte, der Luftstreitkräfte/Luftverteidigung (LSK/LV), der Volksmarine und der Grenztruppen die Alarmglocken: Die NVA stand in den frühen Morgenstunden des 21. August 1968 »Gewehr bei Fuß«. Sie war vorbereitet, bei Notwendigkeit unverzüglich in aktive Handlungen eingreifen zu können.

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Die meisten Einheiten der NVA verblieben aber in ihren Kasernen, nur einige Teile von Regimentern und Bataillonen verließen ihre Standorte und wurden feldmäßig untergebracht. Das betraf vor allem direkt unterstellte Spezialtruppenteile des Ministeriums. Zudem setzten sich am 21. August spezielle Propagandaeinheiten der PHV in Richtung Grenze DDR-CSSR in Marsch. In Dresden begann ein Lehrgang mit einer »Spezialaufgabenstellung«. Polit-Chef Admiral Waldemar Verner erläuterte den Teilnehmern — Offizieren aus verschiedenen Einheiten sowie einigen zivilen Spezialisten — ihren neuen Auftrag: Sie sollten erforderlichenfalls NVA-Militärkommandanturen im nordtschechischen Raum einrichten. Entsprechend den Planungen und langfristigen Vorbereitungen durch den Oberkommandierenden der Vereinten Streitkräfte sollten seitens der NVA vor allem Stäbe und Truppen der 7. PD und der 11. Mot.-Schützendivision direkt am Einmarsch teilnehmen. Beide Divisionen hatten frühzeitig die volle Gefechtsbereitschaft hergestellt und befanden sich seit Ende Juli 1968 in Verfügungsräumen im Süden der DDR. Die 7. PD mit einem Kampfbestand von etwa 7500 Mann, 1500 Kraftfahrzeugen und 300 Panzern unterstand operativ der 20. Gardearmee der GSSD und gehörte damit zur 1. Staffel der Interventionsstreitkräfte. Innerhalb der sowjetischen Armee sollte sie aber als 2. Staffel die Staatsgrenze zur CSSR überschreiten und im Raum Litomérice, Duba, Mimoft und Dëcin zur Unterstützung »fortschrittlicher Kräfte« und zur Zerschlagung »konterrevolutionärer« Zentren bereit sein. Die Entschlüsse des Kommandeurs der 7. PD w u r d e n durch den Befehlshaber der 20. Gardearmee bestätigt. Der Einsatz der 11. Mot.-Schützendivision mit ihren rund 9000 Soldaten, 1700 Kraftfahrzeugen, 349 Schützenpanzerwagen und 188 Panzern sah Handlungen in zwei Varianten vor: Einerseits die Sicherung der Grenze zur Bundesrepublik im Abschnitt »Plauener Pforte«, und andererseits Handlungen in Richtung Plzeñ für den Fall, daß die sowjetische 9. PD zur Verstärkung des Sicherungssystems an die Grenze vorgezogen und die 2. Staffel dieser Gruppierung wiederhergestellt werden mußte. Auch die Entschlüsse des Kommandeurs der 11. Mot.-Schützendivision fanden die Bestätigung des Oberkommandierenden der Vereinten Streitkräfte. Die Division bildete somit zusammen mit der 6. Mot.-Schützendivision der GSSD und der 4. mechanisierten Division der Polnischen Armee die Reserve der »Prager Gruppierung«. Obwohl aber die Einheiten der 7. PD noch am Abend des 20. August 1968 in Marschkolonnen aufgefahren waren, bewegte sich die Division in den folgenden Stunden keinen Meter in Richtung CSSR-Grenze. Eindeutige militärische Erfordernisse hatten die sowjetischen Marschälle und Generale offenbar veranlaßt, die bisherigen Planungen unmittelbar vor dem Einmarsch noch einmal zu verändern. Im Interesse des schnellen Vorstoßes einer kompletten Gruppierung nach Prag verzichtete man auf die ursprüngliche Einnahme und großräumige Kontrolle des nord tschechischen Raumes. Damit entfiel die ursprüngliche Aufgabe der 7. PD, diesen Raum mitzubesetzen und dort Militärkommandanturen

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einzurichten. Die NVA-Division wurde daher nur noch als Reserveverband eingestuft. Bis Mitte Oktober 1968 änderte sich nichts an dieser Aufgabenstellung. Ungeachtet dessen war die Division nach Feststellung der DDR-Führung jederzeit bereit, »beliebige Aufgaben auf Befehl des Oberkommandierenden der Vereinten Streitkräfte zu erfüllen«. Auch die 11. Mot.-Schützendivision unternahm am 20./21. August 1968 keinerlei Bewegungen aus ihrem seit Ende Juli eingenommenen Raum Eisenberg-Jena-Neustadt-Gera heraus. Am 22. August gegen 23.30 Uhr stellte ihr Marschall Jakubovski dann die Aufgabe, bis zum 24. August, 5 Uhr, direkt in das Grenzgebiet zur Tschechoslowakei in den Raum Oelsnitz-Eibenstock-Adorf-Plauen zu verlegen. Von dort aus sollte sie bereit sein, in die CSSR vorzustoßen. Am Nachmittag des 23. August begann auf vier Marschstraßen die Verlegung in den etwa 70 km entfernten neuen Unterbringungsraum. Während des Marsches ereignete sich ein schweres Vorkommnis. In den frühen Morgenstunden, gegen 3.30 Uhr, kam ein vollbesetzter SPW von der Fahrbahn ab und stürzte in der Ortschaft Schönheide, westlich von Eibenstock, in das Gewässer der Mulde. Durch die explodierende Munition wurden zwei Soldaten tödlich, vier schwer und sechs Armeeangehörige leicht verletzt. Der sowjetische Entschluß über den weiteren Einsatz der 11. Mot.-Schützendivision verzögerte sich jedoch am 24. August immer mehr, so daß in den operativen Verbindungsgruppen, im DDR-Verteidigungsministerium, in den Stäben des Militärbezirkes und der 11. Mot.-Schützendivision für einige Zeit sichtliche Verwirrung herrschte. Meldungen widersprachen sich zum Teil, aber im Prinzip rechnete man nunmehr doch wieder mit einem Betreten des CSSRTerritoriums durch NVA-Kampftruppen. Letztlich blieb auch die Lage der 11. Mot.-Schützendivision unverändert. Erst am 31. August wurde die NVADivision aus der Unterstellung unter die 11. sowjetischen Armee herausgelöst und als Reserve dem Oberkommandierenden der Front unterstellt. Die Division verharrte also bis Mitte Oktober 1968 nahe der Grenze zur CSSR — ausschließlich auf dem Territorium der DDR. Die Fakten über den Ablauf des Einmarsches verdeutlichen, daß die beiden vorbereiteten NVA-Kampfverbände weder am 20./21. August 1968 noch in den Tagen danach, weder im Bestand noch an der Seite sowjetischer Divisionen, in die Tschechoslowakei mit einmarschiert sind oder diese besetzt haben. Die 7. PD und die 11. Mot.-Schützendivision verließen entgegen allen vorherigen Planungen nachweisbar nicht den Boden der DDR. Dennoch ist der Aufenthalt von NVA-Soldaten in der Tschechoslowakei im August 1968 dokumentiert. Hierbei handelte es sich vor allem um Angehörige des NVA-Nachrichtenregiments 2 (Niederlehme), die am 23./24. August im Landmarsch im Bestand sowjetischer Truppen aus Polen kommend nach Milovice verlegten. Dort hatten sie die Funkverbindungen zwischen der im Stab der Interventen tätigen NVA-Verbindungsgruppe, die aus wenigen Offizieren bestand, und dem Ministerium in Strausberg zu sichern. In Milovice befanden

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sich bis Ende Oktober 1968 somit neben einigen Offizieren mindestens sechs Unteroffiziere und 13 Funker. Auf dem Boden der CSSR handelten zudem — oft nur kurzzeitig — offenbar einige Aufklärungs- und Versorgungskräfte in geringer Stärke. Wiederholt überschritten auch Grenzsoldaten die Grenze, um auf tschechischem Gebiet sogenannte Hetzlosungen und gegen die DDR gerichtete Plakate gewaltsam zu entfernen. Der Einsatz von Kampf- oder Besatzungstruppen der NVA in der CSSR ist dagegen zu keinem Zeitpunkt belegbar. Fast auf den Tag genau dreißig Jahre nach dem Münchener Abkommen hatten deutsche Soldaten sich der Bevölkerung der Tschechoslowakei als Symbole des Unrechts und der Unterdrückung in Erinnerung gebracht. Die DDR und die NVA waren von Anfang an fest in die Vorbereitung, Absicherung und Durchführung der militärischen Intervention des Warschauer Paktes integriert. Sie waren bereit, jeden Befehl aus Moskau zu erfüllen. Eine direkte Okkupation tschechoslowakischen Territoriums blieb aber der NVA letztlich erspart. Für die Beurteilung des Anteils der DDR und ihrer Streitkräfte an der Unterdrückung des »Prager Frühlings« dürfte es jedoch weitgehend unerheblich sein, wieviele NVA-Soldaten nun im wahrsten Sinne des Wortes in das Nachbarland einmarschiert waren. Mit ihrer Haltung unterstützte die DDR-Führung offen und in hohem Maße das brutale Vorgehen der sowjetischen Truppen, das klar im Widerspruch zu den Normen des Völkerrechts stand. Ihre Aktivitäten waren eindeutig gegen die Souveränität der CSSR gerichtet. Sie waren darüber hinaus in keiner Weise von der Volkskammer legitimiert und stellten zudem eine Verletzung des Artikels 8 (1) der DDR-Verfassung dar.

Vom »Prager Frühling« zum »Prager Herbst« Am 23. August 1968, zwei Tage nach der Invasion, begannen in Moskau sowjetisch-tschechoslowakische Gespräche. Scharfe Auseinandersetzungen bestimmten die Atmosphäre der Verhandlungen, zu denen auch die am 21. August verhafteten und verschleppten Reformer wie Dubcek, Oldrich Cernik und Josef Smrkovsky hinzugezogen werden mußten. Vor dem Hintergrund offener Drohungen blieb der tschechoslowakischen Seite kein anderer Ausweg, als sich letztlich dem Diktat Breznevs zu beugen. Die Verbündeten der UdSSR trafen sich am 27. August 1968 — letztmalig in der Runde als »Warschauer Fünf« — in Moskau. Die Partei- und Staatschefs waren sich darüber einig, daß die bis zum Sommer 1968 durch die tschechoslowakische Reformpolitik verlorengegangenen Machtpositionen der Altkommunisten zurückerobert werden mußten. Dazu sollten die seit Januar in der CSSR durchgesetzten Veränderungen Dubcekscher Prägung stufenweise demontiert und die Reformer ins politische Aus manövriert werden. Alle Demokratisierungstendenzen in der Gesellschaft wurden erstickt, die »Gefahren« für die Bevölkerung im eigenen Machtbereich schienen damit gebannt. Für einen Teil der sowjetischen Truppen war eine langfristige Stationierung in der Tschechoslowakei vorgesehen.

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Im militärischen Bereich hatte sich die Situation in der CSSR bis Anfang September 1968 weitgehend stabilisiert. Die sowjetischen Einheiten zogen sich schrittweise — nicht zuletzt auch unter dem zunehmenden moralischen Druck, dem sie seitens der Bevölkerung ausgesetzt waren — aus den Städten, so auch aus Prag, zurück. Im Zuge dieser »Stabilisierung« in der Tschechoslowakei erfolgten auch Veränderungen in der Aufgabenstellung für die NVA. Nachdem bereits durch einen Ministerbefehl vom 26. August 1968 bestimmte Maßnahmen der erhöhten Gefechtsbereitschaft in den Stäben und in der Truppe modifiziert worden waren, erlaubte am 11. September 1968 der Oberkommandierende der Vereinten Streitkräfte, »die erhöhte Gefechtsbereitschaft für die Nationale Volksarmee, mit Ausnahme der 7. Panzerdivision und der 11. Mot.-SchützenDivision, aufzuheben«. Am 16. Oktober 1968 unterzeichneten schließlich die UdSSR und die CSSR in Prag den Stationierungsvertrag. Seinen Bestimmungen folgend und den Festlegungen eines geheimen Protokolls entsprechend sollten nach dem Truppenabzug der Verbündeten rund 75 000 sowjetische Soldaten mit ihrer Kampftechnik sowie 200 Flugzeuge in anfangs zwölf Standorten auf dem Territorium der CSSR verbleiben. UdSSR-Staatsoberhaupt Nikolai V. Podgorny hatte die sowjetischen Absichten zuvor auf den Punkt gebracht: »Jetzt wollen wir die Frage lösen, daß die Truppen bleiben. Es geht um einen Vertrag über den ständigen Aufenthalt. Wenn wir einen Vertrag schließen, dann einen über den Aufenthalt.« Mit dieser offiziellen Truppenstationierung im Ergebnis der Invasion vom 21. August 1968 hatten die sowjetischen Militärs endlich das Hauptziel ihrer langjährigen Bemühungen erreicht: die Schaffung eines an der Grenze zur NATO liegenden eigenen Militärpotentials auf dem Boden der CSSR. Fünf Divisionen der Sowjetarmee, die bei Bedarf schnell durch weitere fünf Divisionen verstärkt werden konnten, standen nunmehr an der Trennlinie zwischen Ost und West zusätzlich dem »imperialistischen Feind« gegenüber. Dadurch verkürzte sich die Aufmarschzeit der Sowjets gegenüber dem Südteil der Bundesrepublik. Die Aufstellung sowjetischer Mittelstreckenraketen war programmiert. Insgesamt hatte Moskau die operativ-strategische Lage im Zentrum Europas nicht unerheblich zu seinen Gunsten verändert. Die politische Bedeutung des Verbleibs sowjetischer Truppen in der Tschechoslowakei bestand darüber hinaus vor allem darin, daß man nunmehr mittels des militärischen Machtfaktors direkt auf die politische Entwicklung in der CSSR Einfluß nehmen konnte, was nichts anderes als eine Einmischung in die Angelegenheiten der Tschechen und Slowaken auf lange Zeit bedeutete. Der Abzug der verbündeten Invasionstruppen aus der CSSR erfolgte in der Zeit vom 20. Oktober bis zum 15. November 1968. Er sollte nach den Worten Greckos genauso reibungslos verlaufen wie der Einmarsch. An der großangelegten Rückverlegungs- und Umgruppierungsaktion waren Hunderttausende Soldaten, 7000 Panzer und 3000 Geschütze beteiligt. Insgesamt befanden sich 28 Divisionen auf dem Marsch. Für die Verlegung der Truppen benötigte man

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etwa 600 Eisenbahnzüge, wobei allein von der DDR rund 240 Züge bereitgestellt werden mußten. Für den Rückmarsch der sowjetischen Truppen in die DDR — drei Divisionen der GSSD in den Raum Berlin und vier Verbände in die Südgebiete der Republik — waren zwölf Straßen über das Erzgebirge für etwa drei bis vier Tage freizuhalten. Armeegeneral Hoffmann versicherte den Verbündeten in Moskau, daß »seitens der Deutschen Demokratischen Republik alle Maßnahmen unternommen werden, um die Rückführung der Truppen allseitig zu unterstützen«. Rund 75 000 sowjetische Besatzungssoldaten verblieben im Herbst 1968 unter dem Namen »Zentralgruppe der sowjetischen Streitkräfte« in der CSSR. In den folgenden zwei Jahrzehnten verkörperten sie als »Schatten der Intervention« das Symbol der Erniedrigung und Unterdrückung. Am 13. Juni 1991 verließ der letzte Sowjetsoldat den Boden der Tschechoslowakei. Die Zeit der sowjetischen Besatzung, die Zeit der eingeschränkten Souveränität und der Demütigung des tschechischen und slowakischen Volkes war damit endgültig zu Ende gegangen. Der Ministerrat der NATO verurteilte im November 1968 die in den letzten Monaten deutlich gewordenen Machtansprüche der Sowjets vehement. Er warnte Moskau davor, den Frieden und die internationale Ordnung durch weitere Gewaltmaßnahmen erneut zu gefährden. Jede sowjetische Intervention, die die Situation in Europa oder im Mittelmeer mittelbar oder unmittelbar beeinflusse, so hieß es, würde zu einer internationalen Krise mit schwerwiegenden Folgen führen. Aber bereits Ende 1968 hatte sich im Westen, besonders in den USA, die Aufregung über das Vorgehen der Russen gegen die CSSR weitgehend gelegt. Die Besetzung der Tschechoslowakei löste in der westlichen Allianz keine generelle Wende ihrer Sicherheits- und Militärpolitik aus. Kritischer als bisher beleuchtete man jetzt aber Teilaspekte, z.B. die bisherigen Ansichten über Vorwarnzeiten. Die CSSR-Vorgänge bildeten auch den Anlaß dafür, die Fähigkeit der eigenen Streitkräfte zur Verteidigung »so weit vorn wie möglich« zu verstärken. Bestehende Forderungen zur Verbesserung der Ausrüstung und der Stärke der Truppen sowie zur Erhöhung ihrer Schlagkraft wurden nunmehr durchgesetzt. In der Politik setzte man primär weiter auf Ausgleich und Entspannung. Zwar kritisierten die Westmächte das Vorgehen des Kreml beharrlich und wiesen u.a. die sowjetische Auffassung über den Interventionsparagraphen der UN-Charta zurück. Sie betonten an anderer Stelle jedoch, daß die Entspannung weitergehen müsse. Der französische Außenminister Michel Debré prägte wenig später den Begriff vom »Verkehrsunfall auf dem Wege zur Entspannung«. Die UdSSR hatte mit der Militärintervention die Gefahr einer innenpolitischen Erosion in ihrem Einflußbereich gebannt. Die Machtstabilisierung im Osten bildete letztlich auch — als bittere Ironie der Geschichte — eine Voraussetzung für den dann relativ schnell fortschreitenden Entspannungsprozeß in Europa. In der kommunistischen Weltbewegung war zwar die Kritik an der Invasion nicht gänzlich zu unterdrücken, aber schon im Sommer 1969 traf man sich wieder mehr oder minder einmütig zu einer gemeinsamen Beratung. Dennoch stellte das Jahr 1968 zweifellos eine Zäsur in der Entwicklung des Kommunis-

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mus dar. Neben einer sich verstärkenden Differenzierung im kommunistischen Lager w u r d e n die Starre u n d Machtbesessenheit der Führer der Länder des »realen Sozialismus« deutlicher als je zuvor. Die Chance einer »Selbstreform« des kommunistischen Blockes w a r endgültig verspielt worden.

Ausgewähltes Literaturverzeichnis Alexander Dubcek, Leben für die Freiheit. Die Autobiographie, München 1993. Die Ereignisse in der Tschechoslowakei vom 27.6.1967 bis 18.10.1968. Ein dokumentarischer Bericht, hrsg. von Hanswilhelm Haefs, Bonn, Wien, Zürich 1969. Vojtëch Menci, Die Unterdrückung des Prager Frühlings, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Β 36/92,28. August 1992, S. 3-10. Lutz Prieß, Manfred Wilke, Die DDR und die Besetzung der CSSR, in: Ebd., S. 26-34. Harald Schott, Worte gegen Panzer. Der Prager Frühling 1968, Recklinghausen 1991. Jan Skala, Die CSSR. Vom Prager Frühling zur Charta 77, Berlin 1978. Jiïi Valenta, Soviet Intervention in Czechoslovakia, 1968. Anatomy of a Decision, 2. durchges. Aufl, Baltimore, London 1991. Rüdiger Wenzke, Die NVA und der Prager Frühling 1968. Die Rolle Ulbrichts und der DDR-Streitkräfte bei der Niederschlagung der tschechoslowakischen Reformbewegung, Berlin 1995.

Karl Wilhelm Thilo Die Tschechenkrise 1968, wie der Kommandierende General des II. Korps diese erlebt hat Das Jahr 1968 stellte an das II. Korps und dessen Kommandierenden General in zweierlei Hinsicht außerordentlich hohe Anforderungen: - Der Inspekteur des Heeres hatte dem Korps in seiner Ausbildungsweisung die Durchführung eines Großmanövers für den Herbst 1968 befohlen. Zwei bis drei Divisionen sollten daran teilnehmen, daneben Verbände der Luftwaffe und möglichst auch amerikanische Einheiten. - Zum anderen war der Einmarsch russischer Truppen und anderer Verbände des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei zu berücksichtigen. Dieser Krisenherd lag grenznah zum süddeutschen Raum und zur Krisenbewältigung waren von deutscher Seite entsprechende Reaktionen gefordert. Großmanöver sollen kriegsnah die Ausbildung der Truppe überprüfen, sollen deren Kommandeure in der Führung der Verbände schulen, letztlich auch der Bevölkerung zeigen, was die Soldaten leisten können und wie sie mit modernen Waffen ausgerüstet sind. Solche Manöver können auch politische Rückwirkungen haben, wie die Übung »Schwarzer Löwe« im Jahr 1968 bewiesen hat. Die Vorbereitung des Manövers hatte bereits im Winter 1967/68 begonnen und war im folgenden Juni im wesentlichen abgeschlossen; danach war für die Mitglieder des Stabes vorgezogene Urlaubsperiode. Der Planung nach sollte die Übung die Abwehr eines Angriffs östlicher Gegner über Böhmerwald und Oberpfälzer Wald hin zum Fränkischen Jura darstellen. Die Truppenübungsplätze Grafenwöhr und Hohenfels sollten in Schwerpunkte des Kampfgeschehens einbezogen werden, weil sich dort gepanzerte Verbände freier bewegen konnten und keine Flurschäden zu befürchten waren, zum anderen boten sich für den Einsatz verbundener Waffen im scharfen Schuß günstigere Möglichkeiten. Mit der Planung war auch die Absicht verbunden, den European Defense Plan (EDP) im Abschnitt des II. Korps zu überprüfen. In meinem Urlaubsort am Gardasee erreichte mich ein geheimnisvoller Telefonanruf: ich solle mich sofort zu meinem Korpskommando nach Ulm begeben. Von dort wurde ich zum Verteidigungsministerium nach Bonn befohlen. Minister Gerhard Schröder eröffnete mir in Gegenwart auch des Generalinspekteurs und des Inspekteurs des Heeres, das Manöver »Schwarzer Löwe« könne aus gewichtigen politischen Gründen nicht in Ostbayern durchgeführt werden, es sei in den württembergischen Raum zu verlegen. Als Begründung wurde angegeben, daß die Sowjetunion sich nicht etwa provoziert fühlen dürfe; Truppen des Warschauer Paktes befanden sich im Aufmarsch gegen die Tschechoslowakei.

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Einer knappen Vororientierung zufolge hatte ich in Ulm in Nachtarbeit, danach auf dem Boden meines Hubschraubers während des Fluges nach Bonn, zusammen mit meinem G3-Offizier, auf einer Karte in groben Strichen ein neues Übungskonzept entworfen. Diese schnelle »Reaktion« erregte bei den Führungsstäben in Bonn einige Bewunderung. Auch trug ich Gedanken vor für den Schutz der Ostgrenze von Bayern gegen etwaige Bedrohung durch Verbände des Warschauer Paktes oder etwa flüchtende Truppen aus der Tschechei. Ich wies auf den Zeitdruck hin; Minister Schröder klopfte mir auf die Schulter: »Sie werden es schon richtig machen, Herr General« — ein Blankoscheck des Vertrauens. Die Übung sollte Mitte September beginnen. Es waren nur noch knappe sieben Wochen Zeit zur Bearbeitung und Vorbereitung gegeben, für eine Aufgabe, an der mein Stab und ich in der ersten Konzeption ein halbes Jahr gearbeitet hatten. Auch die Truppeneinteilung verlangte Umdisponierung. Insgesamt waren von mir für die Übung in zwei Parteien drei Divisionen als Kampftruppe eingeplant, eine weitere Division wurde für Leitungs- und Schiedsrichterdienste benötigt; Fernmeldeverbände, Korpsartillerie und Pioniere für SonderaufgaDer Generalleutnant Karl Wilhelm Thilo (links) im Gespräch mit dem Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Josef Moll, im Juli 1968

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ben kamen hinzu. Zivile Behörden auf Landes- und Kreisebene waren ebenfalls neu für diesen Raum einzuschalten und zu beteiligen. Die Vorgeschichte zur Krise des Warschauer Paktes als Folge der »BreznevDoktrin« war mir durch jeweilige militärpolitische Lageberichte des Führungsstabes der Bundeswehr (FüB) in großen Zügen bekannt. Alexander Dubceks Reformpolitik im »Prager Frühling« hatte den Argwohn der Sowjets erweckt. Seit dem Frühjahr 1968 hatten wechselnd in der DDR und in Polen Stabs- und Fernmeldeübungen stattgefunden, auch breit angelegte Versorgungsübungen wurden registriert. Ende Juli wurde der Aufmarsch von Truppen aus der DDR Richtung Süden erkannt, so auch die Verlegung von Fallschirmjägern und Luftstreitkräften. Die militärischen Bewegungen des Warschauer Paktes waren kaum mehr getarnt, die Bedrohung der Tschechoslowakei war Anfang August deutlich geworden. Dieser Lage und der politischen Beurteilung durch die in Bonn Verantwortlichen entsprach der Befehl zur Verlegung der Ü b u n g »Schwarzer Löwe« in westlich gelegene Räume. In der Nacht vom 20. zum 21. August begann der Einmarsch verbundener Streitkräfte des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei. In Bonn sprach man von einer »taktischen Überraschung«. Eine »Vorwarnung« seitens der Kommandobehörden der NATO hatte — unverständlicherweise — nicht stattgefunden. Die Überraschung mußte letztlich auch ich ausbaden. Mein Stab und ich waren schon seit Juli gespannte Zuschauer des Unternehmens auf einem möglichen Kriegsschauplatz. Meine Bedenken gegenüber der Verharmlosung in Bonn waren gewachsen; als ich diese beim Inspekteur des Heeres zur Sprache brachte, wurde ich ärgerlich abgewiesen. Nun war die Krise ausgebrochen, die Folgen eines brisanten Unternehmens nicht abzusehen. Fraglich war, ob die politische und militärische Führung der Tschechen den Kampf annehmen würde. Zu befürchten war ein Überschwappen von Wogen auf Deutschland, wenn etwa tschechische Verbände nach Westen oder Süden auswichen und Schutz auf neutralem Gebiet suchen wollten; möglicherweise würden Russen nachstoßen. Auch mit Flüchtlingsbewegungen war zu rechnen. Stand uns, dem II. Korps, bisher nur eine tschechische Armee gegenüber, so waren es nun zusätzlich sechs russische Divisionen und auch Verbände aus Polen, der DDR und Bulgarien. Zur Beruhigung meiner Befürchtungen wurde mir mitgeteilt, die sowjetische Regierung habe die westlichen Regierungen in Washington, London und Paris unterrichtet, es handle sich um eine interne Aktion im Warschauer Pakt, die sich nicht gegen die NATO oder eines ihrer Mitglieder richte. Ich mußte meinen Stab teilen: Weitere Bearbeitung des Manövers »Schwarzer Löwe«, auf dessen Durchführung in einem nächtlichen Gespräch mit dem Generalinspekteur der Führungsstab der Bundeswehr — trotz mancher von mir geäußerter Bedenken — bestand; zum anderen »Bewältigung der Krise«, soweit sie meinen Verantwortungsbereich betraf. Wie sehr ich selbst, als Kommandeur einer grenznahen Truppe, von der Entwicklung betroffen war, zeigte sich in den folgenden vier Tagen sehr deutlich.

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Seitens des Bundesministers der Verteidigung wurde als einzige Vorsorgemaßnahme die nächste, sonst großzügig gehandhabte, »Wochenendbeurlaubung« der Soldaten ausgesetzt; eine Rückberufung von Urlaubern sollte nicht erfolgen, mit Ausnahme der Kommandeure. Erstaunlich und erfreulich war, daß zahlreiche Urlauber aus eigenem Antrieb spontan zu ihren Einheiten zurückkehrten. Mit einem der mir nachgeordneten Kommandeure bekam ich jedoch Schwierigkeiten. Nach einem vierwöchigen Kuraufenthalt bestand er auf dem »üblichen« (so seine Begründung) 14tägigen Nachurlaub; in Anbetracht der gespannten Lage habe ich den Urlaub nicht genehmigt; ich mußte erstmalig in meiner Dienstzeit Gehorsam erzwingen. Die Unruhe der Bevölkerung im Grenzgebiet wurde sehr schnell belastend, auch die der Behörden, Landräte, Bürgermeister. In der Nacht vom 23. zum 24. August kamen in meiner Wohnung mehrmals Anrufe des Befehlshabers im Wehrbereich VI an, daß gepanzerte Verbände gegen die bayerische Grenze vorrückten. Noch drastischer der Landrat von Weiden, auch unmittelbar zu mir: »Russische Panzer, mit hellen Lichtern, fahren auf uns zu; Herr General, unternehmen Sie etwas!« Die Bewegungen, hier nur wenige Beispiele, wurden in Kürze aufgeklärt: die tschechische Regierung hatte auf Weisung der Russen veranlaßt, die Grenzen am Böhmerwald gegen mögliche Angriffe der Deutschen zu schützen. Ein listenreicher Trick, um die tschechische Armee aus dem Zentrum des Landes zu entfernen. In diesem Zusammenhang ist auch folgende Episode zu sehen: Ein Horchtrupp meines Fernmeldeaufklärungsbataillons fing einen Spruch auf: »Die Deutschen bereiten vor, über den Böhmerwald hinweg auf Prag anzugreifen; der Kommandeur ist Gebirgsspezialist; der Mann muß weg!» Am 24. August suchte mich General James Polk, der Oberbefehlshaber von CENTAG (Central Army Group), in meinem Stabsquartier in Ulm auf. Im Kriegsfall sollte ihm mein Korps neben dem VU. und V. amerikanischen unterstellt sein. Noch war es nicht so weit, doch General Polk gab sich schon als mein Vorgesetzter. Normalerweise hatten wir enge freundschaftliche Beziehungen. Mein Generalstabsoffizier G2 trug über die Feindlage vor nach den Unterlagen, die uns FüB gegeben hatte. General Polk hatte aus seinem Stab andere Angaben mitgebracht, es gebe mehr Kräfte des Warschauer Paktes, wohl auch solche einer zweiten Welle in der Tiefe des Raumes. Es entstand eine Diskussion darüber und über die Beurteilung der Lage. Ich berief mich auf Bonn; General Polk: »Sie haben sich nach meinen Unterlagen zu richten.« Ich unterließ es zu entgegnen, er habe noch kein »operational command« und ich unterstehe bisher dem deutschen Bundesminister der Verteidigung. Und Polk schlug vor, einlaufende Meldungen und Nachrichten gegenseitig auszutauschen. Ungewöhlich war seine Anregung, meine Verbände »aufzumunitionieren«. Ich meinerseits hatte meinem G 4 bereits befohlen, die Munitionsbestände des Korps zu überprüfen und einige vorgezogene Vorratslager mit Munition und Treibstoff einzurichten. Auch einen vorgeschobenen Korpsgefechtsstand ließ ich erkunden. Ich nahm telefonische Verbindung mit dem Bun-

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desnachrichtendienst auf. Dessen Vizepräsident war ein Jahrgangskamerad von mir. Er kam zur persönlichen Kontaktaufhahme nach Ulm, und wir überprüften von da an gegenseitig unsere Unterlagen und Ergebnisse der Aufklärung. Nicht alle meine Maßnahmen fanden in Bonn ungeteilte Zustimmung, wenn auch Generalinspekteur Ulrich de Maizière — mein befreundeter Jahrgangskamerad — in wiederholten Ferngesprächen für meine Warnungen Verständnis zeigte. Konnte es nicht zu überraschenden örtlichen Übergriffen kommen? Konnten sich nicht aus der Intervention mit einer einmal mobil gemachten Eingreiftruppe doch noch Nachfolgemaßnahmen gegen die NATO entwickeln? Ich war mir der Verantwortung bewußt, erforderlichenfalls den bayerischen Grenzraum mit Waffeneinsatz schützen zu müssen. Wäre es etwa zu Grenzübertritten tschechischer Einheiten und überraschend in der Verfolgung auch sowjetischer Truppenteile gekommen, ohne erfolgreiche Gegenwehr unsererseits, so würde mir Versagen vorzuwerfen sein. Tatsächlich erließ der Verteidigungsminister dann auch seinerseits vorsorgliche Anordnung für denkbare Fälle von Grenzverletzungen. An den drei folgenden Tagen flog ich im Hubschrauber die Ostgrenze von Passau bis Marktredwitz ab, besuchte meine Soldaten in ihren Garnisonen, auch einige zivile Behörden. Stimmung und Haltung waren ausgezeichnet. Vom Offizier bis zum Wehrpflichtigen war man zur Grenzverteidigung eindeutig bereit. Ostwärts des Standortes Freyung hatten die Soldaten aus eigenem Antrieb Stellungen ausgehoben, befestigt und verdrahtet. »Die Russen sollen nur kommen, wir werden sie empfangen« — sagten die Landser. Für mich, als Kommandeur, waren es gute Stunden. Ich erlebte Verbundenheit in bester Form. Und bei der Bevölkerung war die Bundeswehr geachtet, auch beliebt wie selten zuvor. Die Entwicklung der Lage hielt noch eine andere Überraschung für mich bereit: Das Manöver »Schwarzer Löwe« sollte am 16. September beginnen, eine Woche dauern und im freien Verlauf durchgeführt werden. Anfang September erließ ich die Befehle für den Aufmarsch der an der Übung beteiligten Verbände. So sollte sich die 4. Panzergrenadierdivision im Raum ostwärts von Augsburg bereitstellen, um südlich der Donau und über eine imaginäre Landesgrenze hinweg nach Westen anzugreifen. Aber der Divisionskommandeur erhob Einwände. Die Division könne an der Übung nicht teilnehmen. Er sei für die Verteidigung Ostbayerns verantwortlich und könne in der gespannten Lage an seiner Grenze die Truppe von dort nicht abziehen. Ich erklärte dem General dagegen, die Lage in der Tschechoslowakei sei soweit gelockert, daß ein Angriff gegen unser Land und das Gebiet der NATO ausgeschlossen erscheine. Auch über die aus Bonn übermittelte Erklärung der sowjetischen Regierung an die westlichen Großmächte orientierte ich ihn. Dieser General war allgemein ein schwieriger Untergebener, tüchtig ohne Zweifel, aber auch ausgeprägt selbstbewußt. Und so führte er an, meine Erklärungen hätten ihn »nicht überzeugt« und wörtlich sagte zu mir: »Sie verspielen das Schicksal unseres Landes.« Ein

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erregtes Telefongespräch! Meine Entgegnung: »Ich bin mir meiner Verantwortung bewußt und Sie werden gehorchen!« Mit dem Schutz der Ostgrenze von Bayern hatte ich die 1. Gebirgsdivision beauftragt, von der eine Brigade ohnedies dort stationiert war, eine andere bereits auf dem Platz Hohenfels übte. Dazu wurde die im Nordabschnitt stationierte Brigade der 4. Division in ihren Garnisonen belassen und dem Kommandeur der Gebirgsdivision unterstellt. Nun schaltete sich, wohl entsprechend veranlaßt, auch noch der Bayerische Ministerpräsident ein und w u r d e in Bonn vorstellig für ein Verbleiben der 4. Panzergrenadierdivision im östlichen Grenzgebiet. Verteidigungsminister Schröder verwies Ministerpräsident Alfons Goppel an den »Kommandierenden General« als den Zuständigen. Trotz des Drängens der Ereignisse fuhr ich nach München, um Goppel zu beruhigen. Und noch in einem weiteren Fall mußte ich intervenieren. Im Korpsstab befand sich ein Verbindungsoffizier zur 2. Französischen Armee. Als Oberbefehlshaber dieser Armee residierte General Jacques Massu in Baden-Baden. Die französischen Verbände in Südbaden waren nicht NATO-assigniert, aber ich pflegte stets engen Kontakt zu Massu. Teilweise nahmen seine Truppen an unseren Übungen teil, so auch mit einem kleinen Kontingent am »Schwarzen Löwen«! Massu erbat meinen Besuch, ich orientierte ihn über die Lage im bayerischtschechischen Grenzgebiet. Auf meine vorsichtige Frage, wie sich die Franzosen verhalten würden, wenn es dort zum Kampf kommen sollte, antwortete er: »Meine Divisionen werden an den Lech vorrücken, Sie können sich auf uns verlassen.« Das Manöver des II. Korps verlief schließlich planmäßig. Es zeigte den guten Ausbildungsstand unserer Divisionen, wendige Führung, sowie große Leistungsbereitschaft der im Übungsverlauf stark geforderten Soldaten. Am Ende fand auf dem Truppenübungsplatz Münsingen ein Scharfschießen verbundener Waffen statt, dabei erstmalig Mehrfachraketenwerfer. Kampfflugzeuge der Luftwaffe trugen zu der überzeugenden Demonstration bei. Zahlreiche bei der Bundesregierung akkreditierte Militärattaches waren als Zuschauer bei der Übung zugegen. Sie zeigten sich von dem Geschehen beeindruckt. Ich selbst und viele meiner Offiziere waren aber in Gedanken noch bei der Lage in der Tschechoslowakei; bei uns jedenfalls war der Ernst möglichen weiteren Geschehens noch nicht ganz vergessen. Was wäre geschehen, wenn die Tschechen sich zum Kampf statt zur Kapitulation entschlossen hätten? Vorsorglich hatte ich durch den Transportoffizier meines Korpskommandos Pläne bearbeiten lassen, nach denen wir notfalls aus dem Manöver im fliegenden Start nach Osten hätten antreten können. Zum Problem »Krisenbewältigung«: Das Unternehmen des Warschauer Paktes war eine beispielhafte militärische Operation. Im Westen mußte man sich schon in den Monaten zuvor fragen, ob auch mit weitergehenden operativen Absichten zu rechnen sei. Die im Jahre 1956 machtvolle Unterdrückung der Ungarn durfte nicht vergessen sein. Und man mußte wohl auch darüber nach-

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denken, ob die »Abschreckung« der NATO deutlich genug war, um die Aktion des Warschauer Paktes überhaupt zu verhindern. War es schließlich im Zusammenhang damit wirklich notwendig gewesen, das Manöver »Schwarzer Löwe« zu verlegen?

Hans Ernst Der Sommer 1968 im Militärbezirk Leipzig Ich gehöre dem von den militärischen Ereignissen des Zweiten Weltkrieges schwer geprüften Jahrgang 1921 an. Mit 17 Jahren trat ich in das Artillerieregiment 19 (Hannover) ein. Den Beginn des Zweiten Weltkrieges erlebte ich in einer noch pferdebespannten Batterie und beendete ihn als Vorgeschobener Beobachter (VB) des Artillerieregiments 92 mit dem Dienstgrad Oberwachtmeister. Die letzten Kämpfe bis zur Kapitulation fanden für mich im Raum Bautzen, Dresden und dem Grenzgebiet Duchcov (Dux)-Chomutov (Komotau) statt. Einen Flüchtlingstreck mit Frauen und Kindern hinter uns herziehend, gingen wir bei Torflin über die Elbe. Ich erreichte Mitte Mai 1945 Erfurt. Die Stadt war noch geprägt von ausgehobenen Schützengräben und auf vielen öffentlichen Plätzen stehenden Flakgeschützen. Die Amerikaner hatte schon eine örtliche Selbstverwaltung zugelassen. Um die Ordnung und Sicherheit zu gewährleisten, die vor allem durch marodierende Banden gefährdet war, nahm die deutsche Polizei ihren Dienst auf. Meine Bewerbung zur Polizei wurde angenommen. Anfang der fünfziger Jahre entstanden die ersten Strukturen der Kasernierten Volkspolizei-Formationen (KVP); darunter Artillerie-, Panzer-, Infanterie- und Pioniereinheiten. Sie bildeten nach einer umfassenden Ausbildung die Grundlage für die späteren Panzer- und Mot-Schützendivisionen. Eine wichtige Rolle für die Erziehung und Ausbildung nahmen die in die Divisionen kommandierten Berater (Sovetniks) ein. Es waren kriegserfahrene und umsichtige Offiziere, welche die Arbeit der jungen Kommandeure unterstützten. In Mühlhausen war es meine Aufgabe, eine Artilleriebereitschaft aufzubauen. Die ersten Offiziere wurden an Offiziersschulen im Land herangebildet, aber auch in der Sowjetunion. 1952 kam ich mit dem dritten Lehrgang nach Wolsk an die Wolga. In russischer Sprache erhielten wir eine solide Ausbildung, die mit einer strengen und spartanischen Erziehung verbunden war. Es war eine »Schule«, die mich oft an meine Zeit im Hannoveraner Artillerieregiment erinnerte. Nach meiner Rückkehr wurde ich als Kommandeur der 1. Mechanisierten Division in Potsdam eingesetzt. Eine der Schwachstellen beim Aufbau der Division war, daß die Mehrzahl der jungen Kompanie- und Batteriechefs sowie Bataillons- und Abteilungskommandeure durch ihre kurze Ausbildung zu Offizieren ihren Aufgaben noch nicht gewachsen waren. Bei mir und anderen Kameraden fehlte die Ausbildung auf operativer und strategischer Ebene.

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Eine erste Gruppe mit dem späteren Verteidigungsminister Heinz Hoffmann studierte deshalb von 1955 bis 1957 an der Generalstabs-Akademie in Moskau. Die Lehrer waren Generäle und Marschälle des Zweiten Weltkrieges, die ihr Handwerk in großen Operationen und Offensiven mit Erfolg gelernt hatten. Nach dem Studium erhielt ich das Kommando als Divisionskommandeur der 4. Mot-Schützendivision für drei Jahre in Erfurt. Mit einer Einarbeitungszeit als Stellvertreter wurde ich 1962 Kommandierender und Chef des Militärbezirkes III in Leipzig. Zum Militärbezirk gehörten die 4. und 11. Mot-Schützendivision in Halle sowie die 7. Panzerdivision in Dresden. Dazu kamen drei Unteroffiziersschulen (als Reservedivisionen) und die südlichen Wehrbezirkskommandos. Als Vertreter des Vereinten Kommandos der Warschauer Vertragsstaaten war der zweifache Held der Sowjetunion Generaloberst Vasilij S. Archipov zugeordnet. Wir kannten uns eigentlich schon seit dem Frühjahr 1945, als sich Truppen des Generalfeldmarschalls Ferdinand Schörner mit der 1. Ukrainischen Front in Bautzen heftige Kämpfe lieferten. Die Aufgabe der Führung, der Verbände und Truppenteile des Militärbezirkes III war es, im Zusammengehen mit den sowjetischen Truppen die Sicherheit der DDR im südlichen Teil zu verteidigen. Ausgehend z.B. von der Annahme tiefer Einbrüche auf dem Gebiet der DDR wurden Gegenangriffe in verschiedenen Richtungen durch Feld- und Kommandostabsübungen erprobt. Das bedeutete keinesfalls, daß die NVA zu einer Angriffsarmee erzogen und ausgebildet wurde, wie einige Zeitgenossen kurzschlüssig behaupten. In diesem Zusammenhang trifft die auf dokumentarischer Grundlage von der Bundeswehrführung herausgegebene Publikation »NVA — Anspruch und Wirklichkeit« hinreichende Aussagen. Nach den damaligen Erkenntnissen der Militärwissenschaft ging man davon aus, daß eine Auseinandersetzung mit der NATO in Europa zu einem Raketenund Kernwaffenkrieg führen würde. Das Großmanöver »Dnepr« in Belorußland und der Ukraine im September 1967 stellte das Kommando des Militärbezirkes III daher vor die Aufgabe, ein stärkeres »kampfbezogenes Denken und Handeln« zu entwickeln. Das bedeutete eine neue Etappe in der Ausbildung sowie in der Anlage und Durchführung von Truppenübungen. Stärker als in der Vergangenheit waren Verbände und Truppenteile zu befähigen, sich möglichen Kernwaffenschlägen zu entziehen und unter diesen Bedingungen selbst aktiv zu handeln. So wurde die Beweglichkeit der Gefechtsstände durch eine neue Kampftechnik erweitert. Bei Übungen im Ausbildungsjahr 1967/68 mußte sofort realisiert werden, daß alle Kommandeure bis zum Regiment ihren Einfluß durch vorgeschobene Gefechtsstände erhöhten. Mobilmachungspläne wurden geprüft und durch Übungen ergänzt. Ein Regiment hatte z. B. die Garnison in einer Stunde gefechtsbereit zu verlassen. Die Standort-Konzentrierungsräume lagen in der Nähe der Garnisonen; von diesen Positionen wurden Wechselräume festgelegt. Kommandeure allein konnten das Pensum an konzentrierter Arbeit nicht leisten. Nur ein Stab mit hoher Sachkenntnis war in der Lage, die Ideen und Vorstellungen zum Erfolg führen.

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Es waren Verbindungen zur sowjetischen 8. Gardearmee (Nohra/Thüringen), der Polnischen Armee in Wrocjawer (Breslauer) Militärbezirk und der tschechoslowakischen 1. Feldarmee aufgebaut worden. Gemeinsamer Erfahrungsaustausch, Lehrvorführungen und Übungen auf allen Gebieten der Ausbildung und Erziehung brachten gute Ergebnisse. Das sollte sich auch bei der im Juni 1968 stattfindenden gemeinsamen Kommandostabsübung der Vereinten Streitkräfte zeigen. Stäbe und Sicherstellungstruppen der sowjetischen, polnischen, tschechoslovakischen, ungarischen Armee und der NVA übten in der CSSR, DDR, Polen und der Sowjetunion. Leitender der Übung war der Oberkommandierende der Vereinten Streitkräfte Marschall Ivan I. Jakubovski. Der aufgestellte Armeestab der NVA, als deren Befehlshaber ich eingesetzt wurde, befand sich in der Nähe von Schleiz im Thüringer Wald. Die teilnehmenden Truppenteile und Einheiten der NVA rekrutierten sich aus dem Bereich des Militärbezirkes III. Der überwiegende Teil der Bevölkerung wie auch die Soldaten der NVA verfolgten mit Besorgnis seit Anfang 1968 die Ereignisse in der damaligen CSSR. Viele Angehörige des Militärbezirkes III und auch ich persönlich sahen die Gefahr einer Veränderung der militärpolitischen Situation in Europa und die Verhinderung eines Weges zu einem militärstrategischen Gleichgewicht zwischen den beiden Systemen. Es war für mich deshalb nicht ungewöhnlich, daß der Armeestab der NVA über das Ende der Kommandostabsübung Ende Juni hinaus bei Schleiz verblieb. Bereits Mitte Juli gab es, ausgelöst durch einen gemeinsamen Brief der Staaten des Warschauer Vertrages, politische Signale für einen möglichen Einsatz des Militärbezirkes III im Nachbarland. Eingebettet in die Übung der Vereinten Streitkräfte »Donau«, die Marschall Jakubovski von Legnica (Liegnitz) aus leitete, wurden zwei Divisionen des Militärbezirkes in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Ende Juli verlegten die 7. Panzerdivision (Dresden) und die 11. Mot-Schützendivision (Halle) aus ihren Standorten in die festgelegten Verfügungsräume zum Truppenübungsplatz Nochten in der Lausitz und in den Raum Hermsdorf in Thüringen. Seit dem 29. Juli wurden beide Verbände sowjetischen Stäben operativ unterstellt. Die 7. Panzerdivision wurde der zweiten Staffel der sowjetischen 20. Gardearmee (Fürstenwalde/Brandenburg) zugeordnet. Die 11. Mot-Schützendivision verblieb bis Ende August in der Reserve der Nordfront (Heeresgruppe). Die Divisionsstäbe wurden unterstützt durch zwei sogenannte operative Gruppen aus dem Ministerium in Strausberg und dem Kommando in Leipzig. Bis Mitte August spitzte sich die politische Situation erneut zu. Auf Befehl des Verteidigungsministers der DDR, Armeegeneral Hoffmann, hatte ich den Oberkommandierenden der Vereinten Streitkräfte, Marschall Jakubovski, vom Feldflughafen bei Schleiz zu einer Entschlußmeldung abzuholen. Ich bat meinen sowjetischen Berater, Generaloberst Archipov, mitzukommen. Beide kannten sich seit dem Zweiten Weltkrieg als Kommandeure von Panzerverbänden unter Marschall Ivan St. Konjev. Der Marschall war mir nicht unbekannt; er war schon einige Male Gast des Kommandos in Leipzig gewesen und ich freute mich auf diese Wiederbegeg-

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nung. In fachlicher Hinsicht hatte er dem Militärbezirk als Kommandierender und Beobachter von operativen und Kommandostabsübungen hilfreich zur Seite gestanden. Es war ein strahlender Sommertag im August, wie man ihn in diesem Monat erwartete. Die »Iljusin« war sicher auf der provisorischen, aus Grasnarben bestehenden Landebahn niedergegangen. Ich meldete Marschall Jakubovski die Bereitschaft der 3. Armee zur Erfüllung aller gestellten Aufgaben. Uns bestand eine etwa einstündige Fahrt mit dem unverwüstlichen »Tatra«-PKW bevor. Die beiden alten Freunde Jakubovski und Archipov saßen im Fonds. Neben meinem bewährten Kraftfahrer sitzend, erläuterte ich in groben Zügen den Entschluß. Mein Berater sagte freundschaftlich zum Marschall: »Einen besseren als >Hans Georgewitsch< können Sie nicht haben!« Auf dem Hauptgefechtsstand angekommen, meldete Generalmajor Fritz Peter die Bereitschaft des Stabes. Bevor wir das vorbereitete »Entschlußzelt« betraten, nahm der Marschall mich beiseite und wünschte, mit mir kurz allein spazieren zu gehen. Bei diesem »Waldspaziergang« teilte er mir mit, daß Walter Ulbricht, das Politbüro und der Nationale Verteidigungsrat den Politisch-Beratenden Ausschuß des Warschauer Vertrages gebeten hatten, die Truppen nicht in die CSSR einmarschieren zu lassen. Das sei akzeptiert worden, und der DDR-Verteidigungsminister werde den entsprechenden Befehl erlassen. Diese Entscheidung sei noch geheimzuhalten. Wir waren zum Zelt zurückgekehrt, in dem Vertreter des deutschen Stabes und der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD) Platz genommen hatten. In militärisch kurzen Worten erläuterte Generalmajor Peter bis zur rückwärtigen Versorgung den Entschluß. Der Marschall fragte mich, ob ich einverstanden sei: Ich antwortete, daß der Entschluß bis in das »Kleinste« abgesichert sei. Darauf der Marschall: »Ich bestätige!« Anschließend wurde zu einem Essen eingeladen, bei dem es als Vorspeise zünftige Erbsensuppe mit Halberstädter Würstchen und dann die berühmten sibirischen Pel'meny (Fleischpasteten) gab. Beim Wodka sollte die Entscheidung zwischen Nordhäuser Doppelkorn und Moskauer Stolicnaja fallen. Ich wußte, daß der Marschall Nordhäuser bevorzugte. Noch im Speisezelt berichtete er dem Vereinten Kommando in Moskau und verabschiedete sich nach einer Stunde, um in das Ministerium nach Strausberg zu fliegen. Am 21. August 1968 erfolgte kein Einsatz beider NVA-Verbände auf dem Territorium der CSSR. Bis Mitte Oktober verblieb die 7. Panzerdivision im Raum Nochten und die 11. Mot-Schützendivision im Raum Auerbach (Vogtland). In dieser Zeit wurde eine sehr breite und differenzierte politische Arbeit unter den Soldaten geleistet. Eine besondere Rolle spielte die kulturelle Betreuung. Es kamen das Zentrale Orchester der NVA, das Erich-Weinert-Ensemble, das Stabsmusikkorps des Militärbezirkes. Schauspieler und Schriftsteller wie Helene Weigel, Anna Seghers und Hans-Peter Minetti traten vor den Soldaten auf. Die landwirtschaftlichen und gärtnerischen Genossenschaften versorgten die

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Divisionen mit frischem Gemüse, Obst und Milch. Die Brauereimitarbeiter von Wernesgrün verzichteten zugunsten der Soldaten auf ihr Deputat. Die Soldaten bedankten sich bei den Bauern durch die Hilfe bei der Einbringung der Ernte. Zum ersten Mal wurden in der NVA in den beiden Divisionen Militärpostämter eingerichtet. Wesentlichen Anteil an der Aufgabenerfüllung in den Verfügungsräumen hatten die Rückwärtigen Dienste des Militärbezirkes. Die in diesem Zeitraum gesammelten Erfahrungen bildeten einen Ausgangspunkt für künftige Veränderungen in diesem Bereich der NVA. Die Gefechtsausbildung der Truppen konzentrierten die K o m m a n d e u r e u n d Stäbe auf den Gefechtsdienst, die Schießausbildung, die technische und die Fahrausbildung sowie die Schutzausbildung. Ab Mitte September wurden Kompanie- und spezialtaktische Übungen sowie Feldexerzierbesichtigungen durchgeführt. In der NVA führten erstmalig die Kommandeure und Stäbe des Militärbezirkes über einen längeren Zeitraum die operativ-taktische und Gefechtsausbildung in einer Spannungsperiode unter feldmäßigen Bedingungen durch. Die operativ-taktische Ausbildung der Offiziere wurde weitgehend von den Aufgaben eines möglichen Einsatzes in der CSSR bestimmt. So wurden die Entschlußfassung und das Ausarbeiten von Gefechtsdokumenten, das Schießen mit allen Waffensystemen, die Ausbildung im Orts- und Waldkampf sowie die Handhabung der Nahkampfmittel erprobt.

Kurt Fischer Schmidt, Leber, Apel: Die Ära der sozialdemokratischen Verteidigungsminister In der Geschichte der Bundeswehr laden die 13 Jahre von Oktober 1969 bis Oktober 1982 unter der Verantwortung der sozialdemokratischen Verteidigungsminister zu einer zusammenhängenden Betrachtung ein. Nach den vier Ministern der CDU bzw. CSU Theodor Blank, Franz Joseph Strauß, Kai-Uwe von Hassel und Gerhard Schröder als Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt, die 14 Jahre und zwei Monate für die Bundeswehr verantwortlich waren, folgten drei sozialdemokratische Politiker. Mit Helmut Schmidt, Georg Leber und Hans Apel übernahmen drei herausragende Persönlichkeiten der deutschen Sozialdemokratie die Verantwortung auf der Hardthöhe, die in der Öffentlichkeit hohes Ansehen genossen und über langjährige Erfahrungen in herausgehobenen Staats- und Parteiämtern verfügten: Helmut Schmidt war Abgeordneter des Deutschen Bundestages von 1953 bis 1962 und wieder von 1965 an, dazwischen Innensenator in Hamburg, Fraktionsvorsitzender der Sozialdemokraten im Bundestag 1966 bis 1969, seit 1968 zugleich Stellvertretender Vorsitzender der SPD; Georg Leber war von 1957 bis 1966 Vorsitzender der IG Bau-Steine-Erden, seit 1957 auch Mitglied des Deutschen Bundestages, von 1966 bis 1972 Bundesminister für Verkehr, von 1969 bis 1972 zugleich Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen; Hans Apel war Mitglied des Bundestages seit 1965, Parlamentarischer Staatssekretär im Auswärtigen Amt von 1972 bis 1974 (zuständig für Europafragen), von 1974 bis 1978 Bundesminister der Finanzen. Wie ihre Vorgänger im Amt des Bundesverteidigungsministers brachten auch Schmidt, Jahrgang 1918, und Leber, Jahrgang 1920, Kriegserfahrungen mit: beide waren Soldaten der Luftwaffe gewesen, beide hatten in Rußland gekämpft. Schmidt erlebte das Kriegsende als Oberleutnant und Batterieführer einer Flak-Batterie und durfte anschließend in einem britischen Kriegsgefangenenlager in Belgien über seine Kriegserfahrungen nachdenken. Leber wurde 1942 zum Unteroffizier der Luftnachrichtentruppe befördert, erlitt im Frühjahr 1945 Verwundungen, mußte aber noch Ende April wieder an die Front. Apel gehörte zu einer anderen Generation. Bei Kriegsende war er 13 Jahre alt und lebte in dem durch alliierte Bomben stark zerstörten Hamburger Stadtteil Barmbek, aus dem auch Helmut Schmidt stammte. Im Gründungsjahr der Bundeswehr 1955 war Apel »im Kampf gegen die Wiederaufrüstung in die SPD eingetreten«. Als »weißer Jahrgang« wurde er nicht eingezogen, er entwickelte auch kein Interesse für militärische Dinge. Schmidt hingegen war durch seine Bücher

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und Artikel international ausgewiesen als Fachmann für Sicherheits- und Verteidigungsfragen. Sein 1961 erschienenes Buch »Verteidigung oder Vergeltung« war der erste umfassende und international beachtete deutsche Beitrag zur Nuklearstrategie. 1969 folgte »Strategie des Gleichgewichts«, ebenfalls durch hohe Auflage und internationale Reputation ausgezeichnet. Zudem erlangte Schmidt als verteidigungspolitischer Sprecher der SPD unter ihrem Wehrexperten Fritz Erler einen hohen Aufmerksamkeits- und Bekanntheitsgrad. Verkehrsminister Georg Leber war im Kabinett Brandt/Scheel ständiger Vertreter des Bundesministers der Verteidigung und Mitglied des Bundessicherheitsrats. Für Apel waren die Gelegenheiten, sich mit der Bundeswehr zu befassen, eher gering. Gewiß, am Kabinettstisch, in bestimmten Plenardebatten, in den »Chefgesprächen« zwischen den Ressortministern u n d dem Finanzminister, also in der abschließenden Beratung zu den Einzelplänen des Bundeshaushalts, wird sich das Kabinettsmitglied schon mit verteidigungspolitischen Fragen und Problemen der Bundeswehr beschäftigt haben, aber darüber hinaus darf man das Interesse des Politikers Apel an der Bundeswehr wohl, ohne ihn zu kränken, als gering entwickelt bezeichnen. In seinem politischen Tagebuch »Der Abstieg« schreibt er: »Mir ist das Militärische fremd [··•] Im Traum habe ich nicht daran gedacht, je Verteidigungsminister zu werden.« (S. 29). Sozialdemokratische Verteidigungspolitiker haben es in Deutschland schwer: Die Soldaten erwarten von ihnen kein sie überzeugendes Engagement, die Wähler räumen ihnen wie ihrer Partei nur geringe Kompetenz in Fragen der Landesverteidigung ein, die eigene Partei überläßt ihnen das Feld der Landesverteidigung, möchte mit deren Themen aber möglichst wenig zu tun haben. Diese Verhaltensweise der SPD von der Basis quer durch alle Gremien bis in den Parteivorstand und die Fraktion zieht sich wie ein roter Faden durch die Parteigeschichte seit ihrer Gründung. Sie hat auch Schmidt, Leber und Apel das Leben schwer gemacht. Bei allen dreien war nach der anfänglichen Entschlossenheit, die SPD und ihre Gremien kontinuierlich mit den Themen Bundeswehr und Landesverteidigung zu befassen, mehr und mehr Resignation über die abnehmenden Einwirkungsmöglichkeiten auf die eigene Partei zu beobachten. Helmut Schmidt übernahm am 21. Oktober 1969 mit militärischen Ehren auf der Hardthöhe das Amt des Bundesministers der Verteidigung von seinem Vorgänger Gerhard Schröder. Möglicherweise wäre er lieber Fraktionsvorsitzender geblieben oder Außenminister geworden. Doch die Aufgabenverteilung in der sozial-liberalen Koalition, vor allem aber sein nationales und internationales Renommee als Fachmann in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik ließen gar keine Wahl. Zudem genoß kein anderer Sozialdemokrat ein solches Ansehen in der Bundeswehr wie Helmut Schmidt. »Es rumorte im Offizierkorps«, so beschreibt Klaus v. Schubert die Situation, die Schmidt bei Amtsübernahme vorfand. (Wehrreport-D-1982, Nr. 11, S. 13). Es rumorte allerdings nicht, weil zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ein Sozialdemokrat Inhaber der Befehls- und Komman-

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dogewalt geworden war, dessen Vertreter im Kabinett, Verkehrsminister Georg Leber, ein Maurer und Gewerkschafter war. Gewiß mag für viele Offiziere diese neue Lage gewöhnungsbedürftig gewesen sein. Es war noch nicht lange her, daß einer der ranghöchsten Offiziere des Verteidigungsministeriums unwidersprochen im Offizierkreis seiner Auffassung Ausdruck hatte geben können, Stabsoffizier der Bundeswehr zu sein und Sozialdemokrat, das schließe sich aus. Das Rumoren, auf das sich Schubert bezieht, rührte von dem Streit im Offizierkorps zwischen den Vertretern eines Reformkurses in der Bundeswehr und denjenigen, die auf Restauration setzten. An sich zeigte dieser Streit am deutlichsten, in welchem Maße die Bundeswehr in den 15 Jahren ihres Bestehens — länger als Reichswehr und Wehrmacht — doch bereits in die westdeutsche Gesellschaft und ihr Wertesystem integriert worden war. So heißt es denn auch in der Einleitung zum Weißbuch 1970: »Die Bundeswehr erwies sich als ein brauchbares und verläßliches Instrument der Sicherheitspolitik unseres Staates. Schwierigkeiten, mit denen sie zu ringen hat, spiegeln weitgehend die Probleme der Gesamtgesellschaft wider, von der die Bundeswehr ein selbstverständlicher Teil ist.« Bundesminister der Verteidigung Helmut Schmidt bei seiner Vereidigung vor dem Deutschen Bundestag

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So wie sich in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre Widerstand gegen die Verkrustung der westdeutschen Gesellschaft und das Abgleiten in eine Restauration vor allem bei den Studenten erhob und in die »68er-Bewegung« einmündete, gab es, wenn auch zeitlich verzögert und in moderateren Ausdrucksformen, aber mit großer Härte ausgefochten, Richtungskämpfe im Offizierkorps der Bundeswehr über deren Weg in die Zukunft. Es mag nicht untypisch für die Situation gewesen sein, daß die Protagonisten, die sich eher an der Vergangenheit orientierten, Heeresuniform trugen. Nur wenige Wochen nach Dienstantritt fand der neue Verteidigungsminister die »Schnez-Studie« auf seinem Schreibtisch vor und konnte darin lesen, worum es in der Auseinandersetzung ging. Diese »Studie« war das Ergebnis eines Auftrags von Verteidigungsminister Schröder an den Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Albert Schnez, die Probleme des Heeres ohne Beschönigung darzulegen und Lösungen vorzuschlagen. Diese Vorschläge zeigten einen rückwärts gerichteten Blick, orientierten sich eher an Reichswehr und Wehrmacht. Der General hielt dreißig Gesetzesänderungen sowie eine Reform »an Haupt und Gliedern, an Bundeswehr und Gesellschaft« für erforderlich, um die Kampfkraft des Heeres zu verbessern. Damit stand Helmut Schmidt kurz nach Beginn seiner Amtszeit vor einer schwierigen Entscheidung. Sollte er den General entlassen, wie es vielfach öffentlich, gerade auch aus der SPD, aber auch aus dem Offizierkorps gefordert wurde, oder sollte er die Vorschläge als Teil der von ihm selbst geforderten Diskussion als ein Führungsmittel ansehen. Schließlich hatte der Inspekteur im Auftrag seines Vorgängers gehandelt, der möglicherweise angesichts des Richtungsstreits im Verteidigungsministerium auf Zeitgewinn und Entscheidungshilfe gehofft hatte. Schröder hatte sich gegen Ende seiner Amtszeit den Vorwurf zugezogen, auf der Hardthöhe in Deckung gegangen zu sein, um politisch zu überwintern. Doch trotz seiner konservativen Denkweise wird man ihm nicht ankreiden können, Gegner der Inneren Führung gewesen zu sein. Heißt es doch in »seinem« Weißbuch 1969: »In den zurückliegenden Jahren des Aufbaus ist die Bundeswehr nicht zuletzt dank dem Prinzip der Inneren Führung mit der gesellschaftlichen und politischen Ordnung unseres Staates verwachsen. Diese wünschenswerte und heute bestehende Integration zu vertiefen, bleibt eine ständige Aufgabe für die Bundeswehr und für den ganzen Staat.« (S. 50). Es kann für Schmidt nicht einfach gewesen sein, den Forderungen zur Entlassung von Schnez zu widerstehen. Hatte doch der junge Abgeordnete Helmut Schmidt zu denjenigen gehört, die die Innere Führimg als tragende Säule der neuen deutschen Streitkräfte nach den Erfahrungen mit der Wehrmacht in einem totalitären Staat Mitte der fünfziger Jahre erkämpft hatten. Auch benötigte Schmidt über den Vertrauensvorschuß hinaus, der ihm bei Amtsbeginn zuteil geworden war, die Bereitschaft besonders der Offiziere zu einem offenen Dialog, aus dem nur die in der Regierungserklärung von Willi Brandt vom 28. Oktober 1969 angekündigte »Kritische Bestandsaufnahme« und die augenfällig

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dringend notwendige Reform der Streitkräfte erwachsen konnte. So entschied er: Schnez bleibt! Die Antwort jedoch auf die »Schnez-Studie« und die unterschiedlichen Denkrichtungen war kurz und eindeutig, nachzulesen im Weißbuch 1970. Dort heißt es: »Das Grundgesetz hat die Bundeswehr demokratisch fundiert. Es hat — ohne es ausdrücklich zu nennen — das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform< verbindlich gemacht. Deswegen sind die Grundsätze der inneren Führung keine >Maskeveralteten< Unterrichtsmittel, mit denen das Personal der NVA der DDR und, wie er vermutete, auch das der Sowjetarmee im >Haß auf den Feind< erzogen würde. >Wenn Sie etwas Ähnliches in der Bundeswehr entdecken, lassen Sie mich das wissen.«< (S. 241 f.) Ich hatte, nachdem mir das Lehrbuch für den Unterricht in der Roten Armee mit dem Titel »Krieg und Frieden« mit einem breiten Kapitel »Erziehung zum Haß« in die Hände gekommen war, eine solche Erziehung in der Bundeswehr verboten. Unsere jungen Männner sollten nicht Soldaten gegen jemand sein und nicht zum Haß gegen jemand erzogen werden, sondern sie sind für etwas Soldat, für die Bewahrung unseres Friedens — im Zweifelsfall dafür, daß ihre Mütter ohne Angst schlafen können. Bei mehreren Gelegenheiten habe ich immer wieder betont: »Wir wollen, daß unsere Soldaten nach Osten sehen können und keinen Haß empfinden. Sie sollen daran denken, daß auch dort junge Männer aus dem glei-

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chen Fleisch und Blut, mit einem Herz im Leibe, wie sie eines haben und mit Hoffnungen und Sehnsüchten, die den ihren vergleichbar sind, Uniform tragen.« Über die damaligen Gespräche schreibt Falin in seinem Buch: »Mir glückte es, eine von Lebers Initiativen zum Leben zu verhelfen. Allerdings erst fünfzehn Jahre später. Es war im Jahre 1989, Michael Gorbatschow hatte eine Besprechung in kleinem Kreis angeordnet. In seinem Dienstzimmer befanden sich Alexander Jakowlew, Anatolij Tschernjajew, Georgi) Schachtnasarow, möglicherweise Eduard Schewardnadse und bestimmt ich.(...) (Falin:)... >Ich bitte ums Wort.< (Gorbatschow:) >Los Valentina (Falin:) >... Die neue Doktrin wurde angenommen, aber Stärke, Bestand, Dislozierung der Truppe — alles blieb unverändert, als ob die defensive Verteidigung nicht ihre eigene Spezifik hätte im Vergleich zur offensiven. Gibt es Reserven für die Verringerung der sowjetischen bewaffneten Übermacht im allgemeinen und der in der DDR und anderen Ländern des Warschauer Paktes im besonderen? Das ist die Frage. < (Gorbatschow:) >Du hast vorweggenommen, was ich zur Beratung vorlegen wollte. Welche Richtzahlen stellt du dir vor< (Falin:) >Die Volumen sind für mich schwierig zu benennen. Doch wenn die defensive Verteidigung sich der westlichen Richtung nicht verschließt, könnte man — strategische Kräfte und Kriegsmarine ausgenommen — ungefähr ein Drittel der Kampfverbände und der Logistik als Reserve bezeichnen. Rund eine Million Mann. Wenn nur eine Verringerung um Hunderttausend in Frage käme, dann ist es besser zu schweigen, damit kompromittieren wir nur die neue Doktrin. Und noch eine Bemerkung. 1973 bis 1976 führte ich eine Reihe von Gesprächen mit dem damaligen Verteidigungsminister der BRD, Georg Leber. Der Minister betonte die Möglichkeit, mit relativ bescheidenen Mitteln das Vertrauen in die Erklärungen über die defensiven Absichten zu stärken. In der vordersten Staffel unserer Gruppierung in der DDR sind starke Pioniereinheiten mit Pontonbrücken und anderer Ausrüstung zur Überwindung von Wasserhindernissen konzentriert. Die Reduzierung auf einen vernünftigen Stand wäre effektiver als der Abzug einiger Divisionen aus der DDR, meinte mein damaliger Gesprächspartner. Georg Lebers Überlegungen fanden vor Jahren kein Echo, vielleicht kann man heute (=1989, d. Verf.) darauf zurückkommen?< Gorbatschow forderte die Anwesenden auf, sich dazu zu äußern. Jakowlew solidarisierte sich mit meiner Ansicht (...). Tschernjajew war derselben Meinung. Am nächsten Tag stellten wir mit ihm für Gorbatschow ein Memorandum zusammen mit dem Vorschlag, alle im Zuge der beabsichtigten Truppen- und Waffenverminderung freiwerdenden Mittel für die Versorgung der demobilisierten Soldaten und die Unterbringung ihrer Familienangehörigen, darüber hinaus für die Verbesserung der sozialen Situation der diensttuenden Soldaten und Offiziere zu verwenden«. (...) Der Generalsekretär schloß die Besprechung mit den Worten: >Morgen rufe ich das Verteidigungskomitee zusammen. Dort werden wir entscheiden, was ohne Verlust für die Verteidigungsfähigkeit des Landes getan wer-

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den kann.< Es wurde, wie bekannt ist, beschlossen, den Bestand der Streitkräfte einseitig um 500 000 Mann zu verringern, zusammen mit der etatmäßigen Ausrüstung. Beschränkungen im großen Maßstab erfordern laut Gutachten des Verteidigungsministeriums erhebliche Kapitalinvestitionen und Zeit. Es erfüllte mich mit Genugtuung, daß Lebers Appell nun gewürdigt worden war.« (S. 242 ff.) Soweit Valentin Falin als »Zeuge von der anderen Seite«. 1974 herrschte in Moskau noch Leonid Breznev. Die Zeit war wohl noch nicht reif für solche Ideen, und Valentin Falin hatte mit seinen Anregungen auch zunächst noch keinen Erfolg. Der Wandel, der sich später ereignete, war 1974 von niemanden vorauszusehen. Für mich drängte sich damals eine andere Frage immer mehr in den Vordergrund. Sie galt der Glaubwürdigkeit des militär-strategischen Konzepts der Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft. Diese Frage kam voll in meinen Gesichtskreis, als in den Vereinigten Staaten Melvin Laird ausgeschieden und an seine Stelle James Schlesinger getreten war. Am 7. Juni 1973 war James Schlesinger erstmalig in eine Sitzung des Verteidigungsausschusses der NATO nach Brüssel gekommen. Wir waren alle gespannt. Er war ein angesehener Professor an der Harvard-Universität gewesen, hatte in der Leitung des CIA gewirkt und es war zu vermuten, daß er deswegen einen leichten Einstieg in seine und unsere Arbeit haben würde. Er gab uns einen Überblick über die Lage, so wie sie sich aus seiner Beurteilung darstellte. Sie mündete in der Feststellung, wir Europäer brauchten uns nicht unnötig zu sorgen. Wenn der Osten einen Angriff auf den Westen wagen sollte, sei der Westen 30 Tage nach dem Beginn des Angriffs so stark, daß der Angreifer in seine Schranken gewiesen werden könne. In dem großen Kreis um den Tisch herum hätte man während seines Vortrages hören können, wenn eine Nadel zu Boden gefallen wäre. Die meisten Teilnehmer waren überrascht und je nach Temperament auch erkennbar betroffen. Das galt sogar für die hinter Schlesinger sitzenden amerikanischen hohen Offiziere und Mitarbeiter. Aus diesem Kreis war durchgedrungen, daß Minister Schlesinger auf dem Flug von Amerika seinen Vortrag allein erarbeitet und niemand dabei zu Rate gezogen hatte. Mir persönlich war das wertvoller als ein im Ministerium erarbeiteter Text, den James Schlesinger vorgetragen hätte. Es war wichtig, die eigene Meinung des Ministers kennenzulernen. Joseph Luns leitete als Generalsekretär der NATO die Sitzung. Er dankte Minister Schlesinger und erkundigte sich in der Runde nach Wortmeldungen. Es meldete sich niemand. Luns ließ eine Weile vergehen und fragte abermals. Niemand meldete sich. Auch bei einer nochmaligen Wiederholung seines Versuchs hatte er keinen Erfolg. Dann sah er in die Runde um den Tisch und sein Blick verweilte bei Lord Carrington, der mir schräg gegenüber auf der anderen Seite des Tisches saß. Der Generalsekretär fragte ihn, ob der sehr ehrenwerte britische Verteidigungsminister sich nicht äußern wolle. Peter Carrington winkte ab. Auf nochmaliges Drängen von Luns sagte er, der Vorsitzende möge Georg Leber fragen und ihn bitten, »unsere Meinung« vorzutragen.

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Luns bat mich, trug mir das Wort an und ich hatte das Gefühl, daß einer von uns sich äußern mußte. Das war nicht nur von der Sache her geboten, es war sogar auch eine Frage der Höflichkeit im Umgang mit unserem neuen amerikanischen Kollegen, der uns in einem Vortrag seine Auffassung vorgestellt hatte und wohl erwarten konnte, daß wir dazu nicht einfach schwiegen. Ich dankte James Schlesinger, daß er so bald nach seinem Amtsantritt die erste Gelegenheit in unserem Kreis genutzt habe, seine Gedanken auszubreiten. Es sei für uns alle sehr wichtig zu wissen, wie unser amerikanischer Kollege die Lage einschätze. Ich hätte natürlich keine Gelegenheit gehabt, das, was ich zu sagen hätte, reiflich zu überlegen oder es gar mit den anderen hier anwesenden europäischen Kollegen abzustimmen. Ich könne daher nur das ausdrücken, was mir beim Anhören seines Vortrages in den Sinn gekommen sei. Ich müsse gestehen, ich sei schon vom Ansatz her völlig anderer Meinung. Es sei zwar nicht unbedeutend, aber doch absolut zweitrangig, wie stark der Westen dreißig Tage nach einem erfolgten Angriff aus dem Osten wäre. Die erste Priorität habe für uns an diesem Tisch immer die Frage gehabt, ob wir in der Gegenwart —- immer jetzt und nicht dreißig Tage danach — wenn möglich, drei Tage vor einem denkbaren Angriff des Ostens und bevor ein erster Schuß gefallen sei, auch erkennbar für einen denkbaren Angreifer, so stark seien, daß ein Angriff nicht erfolgen würde. Unsere Gedanken würden nicht zuerst um unser Verhalten in einem Krieg kreisen, sondern sich vorrangig und vor allem um die Frage drehen, wie wir seinen Beginn verhindern könnten. Wenn ein Krieg erst begonnen hätte, würde ich mich vielleicht sogar nicht zuerst fragen, wie man ihn gewinnen könne, sondern ob wir auch alles getan und nichts versäumt hätten, ihn zu verhindern. Als ich geendet hatte, erklärte der Vorsitzende die Sitzung für unterbrochen. Sie sollte nach der Mittagspause fortgeführt werden. Als die Sitzungsteilnehmer sich erhoben hatten, kam James Schlesinger um den Tisch herum auf mich zu. Er reichte mir seine Hand und sagte: »Ich möchte, daß wir Freunde werden und wir müssen bald miteinander sprechen. Ich komme gerne nach Deutschland.« Ich bedankte mich, willigte in ein baldiges Gespräch ein, hielt es aber für besser, daß wir nach Amerika kommen würden, weil wir dort alles zur Verfügung hätten, was für unser Gespräch vielleicht erforderlich wäre. Das war der Anfang eines hervorragenden Verhältnisses zwischen uns. Ich habe in der Zeit meines politischen Wirkens mit vielen Partnern zusammengearbeitet. Die Zeit mit Schlesinger war von der Sache her und im persönlichen Verhältnis zueinander eine besonders angenehme und fruchtbare Phase, an die ich gerne zurückdenke, über die Arbeit hinaus, besonders an diesen eindrucksvollen Mann, mit dem ich bald freundschaftlich verbunden war. Nur kurze Zeit später, am 16. Juli 1973 reiste ich mit einer kleinen Gruppe in die USA. Der Delegation gehörten an: der Generalinspekteur der Bundeswehr, Admiral Armin Zimmermann, der Leiter des Planungstabes, Hans Georg Wieck, vom Führungstab der Streitkräfte Brigadegeneral Jürgen Brandt, mein persönlicher Referent Walter Stützle und als Adjutant Oberstleutnant Peter

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Heinrich Carstens. Wir hatten uns auf die Gespräche vorbereitet und James Schlesinger hatte, wohl in Abstimmung mit dem Präsidenten in dessen persönlichem Domizil Camp David alles vorbereitet, was einer guten Begegnung hilfreich sein konnte. Die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion hatten gerade ein »Abkommen zur Verhinderung von Atomkriegen« abgeschlossen, aus dem sich für uns eine Reihe von Fragen ergaben. Sie betrafen u.a. die Glaubwürdigkeit des nuklearen Einsatzes und Ersteinsatzes. Die Fragen, die sich daraus für uns ergaben, sollte der amerikanische Verteidigungsminister klären. James Schlesinger war darauf vorbereitet. Auf amerikanischer Seite nahmen General Thomas A. Moorer, Vorsitzender der Vereinigten Generalstäbe der USA und andere hochrangige Persönlichkeiten an dem Gespräch teil. Sie erläuterten und belegten, um was es ging, so daß unsere Besorgnisse zerstreut wurden. Einen wichtigen Punkt der Gespräche bildete das konventionelle Kräfteverhältnis im Rahmen der NATO-Planung. Dabei spielte die Präsenz der vorhandenen Kräfte eine besondere Rolle. Wir sprachen in großer Offenheit darüber, ob unsere konventionelle Vorsorge und die unserer Bündnispartner angemessen sei. Mit einer ausreichend hohen konventionellen Schwelle würde mehr Klarheit geschaffen und die Sorge entkräftet, daß die nuklearen Potenzen sich wegen der Schwäche der konventionellen Vorsorge abkoppeln könnten. Ich berichtete meinem amerikanischen Kollegen, daß wir dabei waren, den Umfang der Bundeswehr zu erweitern, daß wir fast ihre gesamte Ausrüstung, die nun etwa zwanzig Jahre alt geworden war, rundum zu erneuern und dabei besonderen Nachdruck auf die Stärkung unserer Defensivfähigkeit legen würden. Einen weiteren Raum nahmen die in wenigen Wochen beginnenden Verhandlungen über beiderseitige ausgewogene Truppenreduzierungen ein. Wir erörterten schließlich Fragen bilateraler Zusammenarbeit, die sich aus der Stationierung amerikanischer Truppen in Deutschland ergaben, und anderes. Wir hatten über vieles gesprochen und waren uns am Ende bewußt, daß wir noch über vieles zu sprechen hatten. Wir trennten uns mit der Absicht, das Gespräch fortzusetzen. Unabhängig von diesen Fragen, welche die konventionellen Kräfte betrafen, hatte ich, je mehr ich mich mit diesen Fragen befaßt hatte, persönlich meine sehr subjektiven Schwierigkeiten. Sie betrafen die Glaubwürdigkeit des ganzen strategischen Konzepts der NATO. Dieses Konzept basierte auf der Annahme, daß die Vereinigten Staaten von Amerika, nach einem erfolgten Angriff des Ostens mit konventionellen Kräften, schon sehr bald und frühzeitig mit dem Einsatz nuklearer Waffen reagieren würden. Es hieß, um ein Signal zu setzen: Wenn du Angreifer deine Aggression jetzt nicht unverzüglich beendest und dich nicht wieder zurück begibst, dorthin, woher du gekommen bist, dann mußt du ab jetzt mit einer anderen Qualität des Krieges rechnen, als mit dem Krieg, den du begonnen hast. Das ist der Nuklearkrieg, dessen Eskalation dann, wenn er einmal begonnen hat, kaum noch jemand beeinflussen kann. Was du

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begonnen hast, ist nicht zu gewinnen. Es führt allenfalls in die Ausrottung des Lebens auf der Erde. Das sollte einen Angriff abschrecken. So war es jedenfalls in den Richtlinien der NATO festgelegt. Je mehr ich darüber nachgedacht hatte, desto fragwürdiger war mir diese Konzeption erschienen. Ich fragte mich immer wieder, ob ein amerikanischer Präsident einen solchen Befehl vor der eigenen Nation verantworten könne. Dieser lief doch darauf hinaus, daß er dem amerikanischen Volk das Risiko der Ausrottung zumuten müsse, um die europäischen Verbündeten, die nicht genügend für ihre Verteidigung vorgesorgt hatten, gegen einen mit konventionellen Kräften begonnenen Angriff zu schützen. War es denn denkbar, daß ein amerikanischer Präsident, bei dem die Entscheidung lag, sich mit dem Risiko für die Substanz der amerikanischen Nation so verhalten konnte? Wenn mir das schon zweifelhaft erschien, dann war es doch nicht auszuschließen, daß auch ein denkbarer Angreifer damit kalkulieren und es einmal versuchen könnte. Nuklearwaffen sind keine Waffen zur Führung eines Krieges. Sie sind allenfalls politische Instrumente zur Verhinderung von Kriegen. Sie machen den Krieg unführbar und nicht gewinnbar und sind ihrem Wesen nach kein Ersatz für nicht ausreichend vorhandene konventionelle Waffen. Diese Gedanken hatten mich beschäftigt und sie waren für mich persönlich auch der Hintergrund für unsere Gespräche. James Schlesinger kam am 17. Mai 1974 nach Deutschland. Wir trafen uns in Fürstenfeldbruck. Dort fanden wir eine gemeinsame Basis. Wenn es richtig war, daß die konventionelle Schwelle durch ein Stärkung angehoben werden mußte, um damit den inneren Zusammenhang zwischen konventionellen und nuklearen Kräften zu stärken, w ü r d e auch das Konzept zur Kriegsverhinderung glaubwürdiger werden. Das galt aber doch wohl nicht nur für die konventionellen Kräfte der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch für die der anderen Verbündeten, also auch für die USA. Es ging nicht nur um den Umfang der Kräfte. Die amerikanischen Streitkräfte waren nach meiner Überzeugung aus deutscher Sicht auch nicht optimal plaziert. Sie befanden sich im wesentlichen entlang des Bayerischen Waldes und in der Rhön im südlichen Teil Deutschlands. Es wäre doch einem Schildbürgerstreich vergleichbar, wenn der Osten einen Angriff über die panzerhemmenden Berge von Böhmerwald und Bayerischem Wald, oder durch Fichtelgebirge und Rhön, oder bei deren südlicher Umgehung vom Wiener Becken her über das neutrale Österreich hinweg planen würde. Wenn er eine Angriffsabsicht hatte, würde er dafür doch wohl seinen Angriff aus der DDR zwischen Kassel und Lübeck in das panzerfreundliche Terrain der norddeutschen Tiefebene hinein führen. Auf diese Weise könnte er seinen Weg, nach einer Wegnahme Hamburgs, über das Ruhrgebiet und Belgien hinweg bis an den Atlantik planen, ohne mit den Kräften der USA im Süden der Bundesrepublik in Berührung zu geraten. Da an eine andere Dislozierung der US-Army in der Bundesrepublik kaum zu denken war, lautete die Schlußfolgerung daraus, zusätzliche Kräfte der USA nach Norddeutschland zu bringen. Wir sprachen lange darüber, erörterten die

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brisante Thematik und Schlesinger sagte nicht nein. Er versprach nachzudenken und mir Bescheid zu geben. Wenn es dazu kam, hatten wir auch eine gemeinsame Basis gefunden, auf der wir unseren britischen, belgischen, vor allem auch den niederländischen Verbündeten gegenübertreten und sie bitten konnten, auf eine Verminderung ihrer Kräfte, die immer wieder erwogen wurde, zu verzichten. Schlesinger hielt sein Wort! Nachdem er zu Hause in den Vereinigten Staaten für Klarheit gesorgt hatte, kam die Nachricht, die USA wollten zusätzlich zwei Brigaden in die Bundesrepublik schicken und baten um unser Einverständnis. Eine Brigade sollte in der Nähe von Wiesbaden auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Erbenheim, eine andere bei Bremen angesiedelt werden. Wir hatten eine Lösung gefunden, die beiden Seiten gerecht wurde und die dem Bündnis und seiner Strategie einen besseren und glaubwürdigeren Gehalt gegeben hat. Die amerikanischen Soldaten bezogen ihre neuen Standorte. Sie sollten im Rotationsverfahren in einem Rhythmus von etwa sechs Monaten gegen andere ausgetauscht werden. Als das in Gang gekommen war, gingen wir zum zweiten Takt über. Es war nicht gut, daß die amerikanischen Soldaten immer nur für eine bestimmte Zeit in Deutschland waren und ausgetauscht wurden. Das roch nach Provisorium. Also suchten wir das Gespräch mit dem Ziel, daß die Vereinigten Staaten die Soldaten in Deutschland mit längeren Stehzeiten ansiedeln sollten. Sie sollten ihre Familien mitbringen und bleiben. Um das zu ermöglichen, mußten Unterkünfte für die Soldaten und ihre Familien gebaut werden. Das kostete Geld, in Garlstedt bei Bremen allein etwa 300 Millionen Mark und führte zu Debatten und heftigen Auseinandersetzungen mit dem Finanzminister und in den Ausschüssen des Bundestages, auch zwischen Helmut Schmidt, der inzwischen Bundeskanzler geworden war, und mir. Die Unterkünfte wurden gebaut. Als das erreicht war, bewegten wir uns auf die nächste Stufe der Verstärkung der amerikanischen Anwesenheit zu. Es sollte möglich gemacht werden, die zwei neuen amerikanischen Brigaden als Korsettstangen für ein zusätzliches amerikanisches Korps anzusehen. Das konnte dadurch erreicht werden, daß in einem Spannungsfall die fehlenden personellen Kräfte auf kurzem Wege durch die Luft über den Atlantik gebracht würden. Das erforderliche schwere Gerät sollte herübergebracht und in der Bundesrepublik in Depots eingelagert werden. Die Amerikaner würden bei ihrer Ankunft dann zur Verfügung haben, was sie benötigten. Das erforderliche rollende Material, vor allem Fahrzeuge, brauchten die USA nicht einzulagern. Es könnte aus zivilen deutschen Beständen in einem akuten Spannungsfall mit den Mitteln, welche die Notstandsgesetze boten, zur Verfügung gestellt werden. Wir verständigten uns. Danach stellte sich ein ganz anderes Problem ein, das in seiner Folgewirkung zu ungewöhnlichen politischen Auseinandersetzungen führen und über eine längere Zeit von höchster politischer Brisanz werden sollte. In der Nuklea-

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ren Planungsgruppe der NATO hatten sich aus den Berichten drei Sachverhalte ergeben. Die Sowjetunion hatte den letzten Personalaustausch in den Ländern ihrer europäischen Verbündeten auf dem Luftwege vorgenommen. Sie hatte dazu nur wenige Tage gebraucht. Das war eine sehr beachtenswerte Leistung. Sie war umso beachtlicher, als den Beobachtungen zufolge keine Flugzeuge der Aeoroflot, der größten zivilen Luftfahrtgesellschaft der Welt, in Anspruch genommen worden waren. Die Operation wurde nur mit eigenen Mitteln der Streitkräfte durchgeführt. Das zweite war die Tatsache, daß die Sowjetunion über eine wesentlich größere Kapazität zur Herstellung von Kampfpanzern verfügte als der Westen. Sie hatte, nach westlichen Erkenntnissen, zusätzlich noch eine beachtliche Kapazität zur Panzerproduktion, die nicht genutzt war. Diese stand einfach still und konnte in kurzer Zeit in die Produktion eingeschaltet werden. Das nicht auf wirtschaftliche Produktivität angewiesene System der sowjetischen Staatswirtschaft konnte sich das leisten. Damit wäre es möglich gewesen, vom Rüstungsvolumen her in kurzer Frist ein neues Ungleichgewicht im Kräfteverhältnis zwischen Ost und West herzustellen. Der Westen verfügte nicht über solche schlafenden Kapazitäten, die man nur zu wecken brauchte. Die dritte Neuigkeit war die wichtigste. Es war bekannt geworden, daß in der Sowjetunion an der Entwicklung neuer Raketen mittlerer Reichweite gearbeitet wurde. Die Entwicklungsphase war scheinbar abgeschlossen. Die neue Rakete befand sich in der Flugerprobung. Sie verfügte über ein Abschußgestell mit drei Köpfen. Jeder Kopf hatte eine nukleare Sprengkraft von 200 000 Tonnen herkömmlichen Sprengstoffs und konnte zweimal nachgeladen werden. Die Rakete konnte also in kurzer Frist neun nukleare Köpfe abfeuern. Sie war nicht ortsfest, sondern beweglich und deswegen nicht leicht zu bekämpfen. Sie besaß eine hohe Treffgenauigkeit und ihre Reichweite wurde mit 4500 km angenommen. Die Konferenz nahm die Nachricht gelassen entgegen. Man werde weiter beobachten, was in der Sowjetunion geschah und dann darüber beraten. Ich fuhr sehr beunruhigt nach Bonn zurück. Die Informationen waren im Verteidigungsausschuß der NATO (Defence Planning Committee, DPC) fast geschäftsordReichweiten sowjetischer Mittelstreckenwaffen

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nungsmäßig zur Kenntnis genommen worden. Ich stellte mir nachher immer wieder die Frage, ob es nicht richtiger gewesen wäre, wenn ich das Wort erbeten und, wie in anderen Fällen, eine Debatte vom Zaun gebrochen hätte. Mich beschäftigte nicht nur die neue Rakete. Ich nahm jeden der drei Vorgänge ernst, aber zusammen genommen wogen sie natürlich noch viel schwerer. Wenn die Sowjetunion einen Austausch von einigen hunderttausend Soldaten in so kurzer Frist vornehmen konnte, dann mußte sie über eine beachtliche militärische Lufttransportkapazität verfügen. War sie dazu in der Lage, dann mußte sie auch in der Lage sein, in kurzer Frist ein wesentlich anderes Kräfteverhältnis im europäischen Raum herzustellen, sofern die großen Kapazitäten der sowjetischen Zivilluftfahrt mit einbezogen wurden. Als Bundesverkehrsminister hatte ich einmal in Moskau, im Arbeitszimmer meines sowjetischen Kollegen Boris P. Bugajev, an einer großen Wand das darauf dargestellte riesige Netz der Aeroflot gesehen und bestaunt. Bugajev aber war nicht nur Minister für die Zivilluftfahrt, sondern zugleich auch Generaloberst der Luftwaffe. In seiner Person war die enge Koordinierung zwischen zivilen und militärischen Aufgaben erkennbar. Die NATO ging seit Jahren immer von einem bestehenden Kräfteverhältnis zwischen Ost und West aus, das kurzfristig nicht leicht zu verändern sei. Das war unter diesen Umständen eigentlich doch nur noch eine Illusion. Wir durften bei unseren Überlegungen künftig also noch weniger nicht nur von den Kräften ausgehen, die sich in den mit der Sowjetunion verbündeten Sowjetische SS-20 Mittelstreckenrakete

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Ländern in Osteuropa und in den westlichen Militärbezirken der Sowjetunion befanden. Wir mußten auch die Möglichkeiten von kurzfristigen Veränderungen mitbetrachten, die aus der Tiefe des gewaltigen sowjetischen Raumes möglich waren, mit denen in kurzer Frist eine neue Lage geschaffen werden konnte. Im gleichen Maße konnte, gewissermaßen aus dem Stand, ohne Vorlauf in der Produktion, in vergleichsweise kurzen Fristen durch eine gewaltige Vermehrung der sowjetischen Panzerkräfte eine für den Westen veränderte, neue, sehr problematische Lage geschaffen werden. So wichtig wir das alles nehmen mußten, viel stärker wogen die Nachrichten von der fast produktionsreifen Entwicklung einer neuen Mittelstreckenrakete. Sie mußte die gesamte bisherige NATO-Strategie sprengen und ad absurdum führen. Künftig würde ein Angreifer aus dem Osten wahrscheinlich nicht warten, bis der Westen eine nukleare Waffe zünden würde, um ein Signal zu geben. Er wäre in der Lage, eine der neuen Mittelstreckenraketen, die den Namen SS 20 erhalten hatten, auf Westeuropa zu feuern und einen der ersten drei Gefechtsköpfe politisch wirken zu lassen. Die Sprengkraft eines einzigen dieser Köpfe besaß etwa die zehnfache Sprengkraft der Bombe auf Hiroshima, welche die Kraft von 20 000 Tonnen herkömmlichen Sprengstoffs besessen hatte. Ich hatte weder in der Sitzung noch danach von einem meiner Kollegen aus den NATO-Ländern vernommen, daß er das, was wir gehört hatten, als beunruhigend empfand. Sah ich die Sache zu pessimistisch, sah ich sie zu gründlich deutsch und zu wenig großzügig und besonnen? Später habe ich mich oft gefragt, was wohl geschehen wäre, wenn ich mich auch so verhalten hätte wie die übrigen Verteidigungsminister und wie alle Außenminister, von denen auch keine Reaktion zu hören war, als ihnen etwas später eine gleiche Lagebeschreibung gegeben wurde. Ich hatte von keiner Seite eine Reaktion gehört. Was ich gehört hatte und wie ich dies einschätzte, konnte ich nicht einfach mit mir abmachen. Ich wäre vermutlich auch mißverstanden, auf jeden Fall mißdeutet worden, wenn ich die nach meiner Ansicht entstandenen Probleme öffentlich angesprochen und auf eigene Faust für eine Lösung gekämpft hätte. Ich stand sowieso nicht mehr nur bei den Linken in meiner eigenen Partei im Ruf, ein Aufrüster zu sein. In der eigenen Fraktion hätte ich wahrscheinlich nicht übermäßig viele Verbündete gefunden. Viele meiner Kollegen in der eigenen Fraktion wären ihrem Herkommen und ihrer Einstellung nach am liebsten für eine Verkleinerung der Bundeswehr eingetreten. Die Bundeswehr war unter ihren Augen und mit ihrer Billigung aber vergrößert worden und sie wurde neu ausgerüstet und ausgestattet. Der SPD-Fraktion war von mir also einiges zugemutet worden. Sie verhielt sich unter der Führung von Herbert Wehner in diesen Fragen in ihrer Mehrheit in der Regel aber aufgeschlossen und »passiv wohlwollend«. Sie ist mir kaum einmal in den Arm gefallen. Ich durfte sie aber auch nicht unbedacht herausfordern. Bis dahin war ich selten mit einem Problem zum Kanzler gegangen. Sowohl in der Zeit der Kanzlerschaft von Willy Brandt als auch seit Juli 1974 unter Hei-

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mut Schmidt hatte ich einen sehr großen Freiraum, in dem ich walten und schalten konnte. Ich hatte immer versucht, selber mit meinen Problemen fertig zu werden. Vielleicht hatte das nicht nur Vorteile. Dieses Mal ging ich in das Palais Schaumburg. Helmut Schmidt empfing mich in vertrauter Weise und ich berichtete ihm, was ich von Brüssel mitgebracht hatte. Wir saßen uns gegenüber. Rechts und links neben seinem Sessel stand eine große Aktentasche. Beide Taschen waren randvoll mit Akten gefüllt. Während ich vortrug, nahm der Kanzler unentwegt Akten aus einer der beiden Taschen, ordnete sie, schichtete Papiere hin und her und von einer Tasche in die andere. Ich ließ mich in meinem Vortrag dadurch nicht beirren. Der Kanzler hörte sich bei seiner Arbeit an, was ich vorzutragen hatte. Als seine Beschäftigung mit den Akten und Taschen beendet war, nahm er einen Zettel und schrieb, wie ich während meines Vortrages erkennen konnte, synonyme Begriffe untereinander: Regen, Wasser, Näße, Feuchtigkeit usw. Wenn ich ihn nicht gekannt hätte, hätte ich wahrscheinlich vermutet, daß er mir nicht aufmerksam zuhörte. Es störte mich zwar, aber ich dachte mir, so gut wie ich vortragen und gleichzeitig mitlesen konnte, was er aufschrieb, mindestens so gut konnte er sicher auf einem Zettel Worte kritzeln und mir gleichzeitig zuhören. Fein war das nicht gerade. Aber so liebevoll gingen wir miteinander um. Als ich geendet hatte, ließ der Kanzler sich einen Augenblick Zeit, ehe er sich äußerte. Nach einer Weile holte er tief Atem und sagte: »Das ist alles Militaristengeschwätz!« Mit dieser Bemerkung konnte ich mich nicht abfinden. Ich war davon überzeugt, daß die Nachrichten solide waren und versuchte dem Kanzler die Bedeutung der Sache vor Augen zu führen, wie ich sie sah. Ich wußte, Helmut Schmidt war in wichtigen Dingen nicht für ein schnelles Urteil. Er wollte und mußte überzeugt werden. Bei meinen eigenen Überlegungen war ich zu einem Vergleich gekommen, der fast ungeheuerlich war. Während des ganzen Zweiten Weltkrieges waren über alle Kriegsjahre verteilt zusammengerechnet ca. 1 600 000 Tonnen Sprengstoff über dem Deutschen Reich abgeworfen worden. Das hatte genügt, weite Teile des Landes, seine Städte, Fabriken und Verkehrswege, zum Teil bis auf die Fundamente, abzureißen. Eine einzige dieser Mittelstreckenraketen, die in der Sowjetunion in der Erprobung waren, verfügte mit ihren drei Köpfen, nach zweimaliger Nachladung, über die Sprenggewalt von 1 800 000 Tonnen herkömmlichen Sprengstoffs. Das waren 200 000 Tonnen mehr als die Sprengkraft aller während des ganzen Zweiten Weltkrieges über Deutschland abgeworfenen Bomben oder 90 mal soviel wie die Atombombe von Hiroshima. Wenn das so war, konnte diese sowjetische Entwicklung für Europa und besonders für die Bundesrepublik einmal existenziellen Rang erhalten. Das konnte keine Sache nur für den Verteidigungsminister sein. Das berührte die deutsche Politik schlechthin und die Sicherheit Westeuropas und es mußte, über die Ressortverantwortung des Bundesministers der Verteidigung hin-

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aus, wegen seiner weittragenden Bedeutung vom Bundeskanzler in seine Verantwortung genommen werden. So sehr ich mich auch bemühte, meinem Bundeskanzler die Bedeutung des Ereignisses vor Augen zu führen, ich sah nach einiger Zeit ein, daß ich in diesem Gespräch nichts erreichte. Ich verließ das Bundeskanzleramt an diesem Tage sehr unbefriedigt, insbesondere auch, weil ich doch wußte, daß Helmut Schmidt strategisch denken und deshalb die Dimension der Gefährdung, die aus dieser Waffe für Europa entstand, nicht übersehen konnte. Es konnte aber auch sein, daß der Bundeskanzler die Tragweite des Vorganges sehr wohl erkannt hatte, sich aber noch nicht festlegen wollte. Ich hatte mehr als einmal erlebt, daß er bei all seiner ungewöhnlichen Fähigkeit, Zusammenhänge schnell zu übersehen und sie einzuordnen, in wichtigen Fragen kein Mann von raschen oder gar übereilten Entschlüssen war. Vielleicht brauchte er nur Zeit, eine Art von Inkubationszeit, um seine Haltung reifen zu lassen. Die Vereinigten Staaten verhandelten in dieser Zeit mit der Sowjetunion über ein weiteres Begrenzungsabkommen, das später als SALT II in die Geschichte eingegangen ist. In dieser Abmachung wurde nur eine Begrenzung der strategischen Waffen mit interkontinentaler Reichweite vorgenommen, mit denen Amerika und die Sowjetunion sich gegenseitig bedrohten. Bei mir war der Eindruck entstanden, daß man in den USA die Gefährdung Europas durch eine Rakete mit kontinentaler Reichweite, die Europa bedrohte, aber Amerika nicht erreichen konnte, durchaus sah. Aber man zog in den Verhandlungen keine Folgerungen daraus. Die Sowjets hatten in dieser Phase, unter dem Schirm der Verhandlungen, die Entwicklung der neuen SS 20 vorangetrieben. Die praktische Erprobung wurde aufgeklärt und fortan beobachtet. Ich fand zunächst keinen Schlüssel für einen Weg, auf dem ich weiterkommen konnte. Nach unserem Gespräch im Kanzleramt hatten Helmut Schmidt und ich kein Wort mehr über das Thema gewechselt. Dann kam plötzlich, wie oft in der Geschichte, ein fast nebensächliches Ereignis, das eine große Wirkung gewinnen sollte. In London sollte der Geburtstag des Instituts für Strategische Studien gefeiert werden. Der Leiter des Instituts, Christoph Bertram, hatte Helmut Schmidt gebeten, den »Alastair-Buchan-Memorial-Vortrag« zu Ehren des Gründers des Instituts zu halten, dem er persönlich nahegestanden hatte. Helmut Schmidt hatte die Einladung angenommen und gebeten, ihm für seine Rede im Verteidigungsministerium einen Entwurf zu erarbeiten. Der Leiter des Planungsstabes, Walter Stützle, entwarf einen Text für die Festrede. Darin nahm die neue Gefährdung Europas durch die in der Erprobung befindliche neue Mittelstreckenraketen SS 20 in der Sowjetunion einen gehörigen Raum ein. Helmut Schmidt redete am 28. Oktober 1977 in London und erreichte bald eine weltweite Aufmerksamkeit. Nun war die Sache auf der richtigen Schiene. Von da an kam das Thema nicht mehr aus der öffentlichen Diskussion und Helmut Schmidt hielt sie mit Energie und Beharrlichkeit im Gange. Es verging fast

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keine Sitzung der SPD-Fraktion, in der er in seinem Lagevortrag nicht auf die SS 20 und die davon ausgehende Gefährdung hinwies. Die Sache wurde bei internationalen Begegnungen zum Thema und befaßte die Regierungen der verbündeten Staaten. Der Vorgang entfachte eine über mehrere Jahre reichende, zum Teil dramatische Auseinandersetzung. Er erfaßte die NATO, entwickelte sich als Thema zwischen NATO und Warschauer Pakt und wühlte in der Bundesrepublik Parteien, Jugend, Kirchen, die ganze Gesellschaft auf, führte zur Bildung von Friedensbewegungen und über eine lange Zeit hinweg zu mächtigen Demonstrationen. Es gab keinen Zweifel, diese Bewegung wurde auch vom Osten gefördert. Als die andauernden Wellen des Protestes immer wieder hochschlugen, hatte der Osten vermutet, daß der Westen nicht die Kraft aufbringen würde, im Widerspruch zu diesen »Volksbewegungen« politische Entscheidungen zu treffen. Er hatte sich verrechnet. Nicht viel länger als zwei Jahre nach der Rede von Helmut Schmidt in London wurde von der NATO am 12. Dezember 1979 der sogenannte NATO-Doppelbeschluß gefaßt. Auf eine kurze Formel gebracht lautete er: Entweder die Sowjetunion läßt die Hände von den Mittelstreckenraketen und wrackt ab, was sie aufgestellt hat, oder der Westen rüstet nach und stellt in Europa, damit vor allem auch in der Bundesrepublik, Mittelstreckenraketen als Gegengewicht gegen die sowjetischen SS 20 auf. Dieser Beschluß der NATO entfachte erneut Widerspruch und Widerstand und führte anhaltend zu einer Fülle von Demonstrationen im Land, an denen sich quer durch die ganze Gesellschaft breite Gruppen von Pazifisten, Gewerkschaften, Kirchenleuten und neu gebildeten Friedensorganisationen beteiligten. In überquellenden Großkundgebungen hagelte es pausenlos Proteste und lautstarke Kritik. In der SPD hatte sich ein regelrechter Kampf bis in die Nähe einer Zerreißprobe entfacht. Er erreichte seinen ersten Höhepunkt auf einem Parteitag in Berlin im Herbst 1979. In manchen Reden auf diesem Parteitag wurden von Delegierten aus Fehleinschätzung, Pazifismus oder mit handfesten politischen Argumenten wahre Schreckensbilder in schillernder Buntheit an die Wand gemalt, in denen der Untergang der Menschheit nicht fehlte. Am Ende fand sich nur eine schwache Mehrheit für unsere Überzeugung. Der Kampf in der Öffentlichkeit ging weiter. In der politischen Führung fand die Auseinandersetzung über die Raketenfrage weniger in der Regierungskoalition zwischen SPD und FDP, als vielmehr in der SPD und nach draußen weniger auffallend, so auch in der FDP statt. Sie wurde aber um so heftiger von der CDU-Opposition, die immer wieder an der zerstrittenen SPD bohrte, gegen die Regierung geführt. Dazu kamen dann schließlich Streitigkeiten, die von der FDP ausgingen und sich an Fragen der Finanzen und der Sozialpolitik festmachten. Sie wurden künstlich hochgespielt und bildeten den formalen Anlaß für den Austritt der

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FDP aus der Regierungskoalition. Damit verlor die SPD nach sechzehn Jahren die Basis für die von ihr geführte Regierung. Sie verschwand in der Opposition, in der sie keine unbequemen Entscheidungen mehr zu fällen brauchte. Das zeigte sich auf dem Parteitag 1983 in Köln. Hier waren wir in der Frage der sogenannten Nachrüstung in einer fast lächerlichen Minderheit und mit unserer Auffassung so gut wie isoliert. Im Gegensatz zur großen Mehrheit des Parteivorstandes und gegen eine übergroße Mehrheit der Delegierten stimmten nur noch 14 Sozialdemokraten einem Beschluß zu, der einmal ein sicherheitsund außenpolitisches Kernstück einer von Sozialdemokraten angeführten Regierung gewesen war. Die Mächte im atlantischen Bündnis bekannten sich zu ihrem Beschluß vom Dezember 1979 und der Westen stellte Mittelstreckenraketen auf. Damit hatten die Sowjets in der Breznev-Ära nicht gerechnet. In der Phase danach wurde nicht eine einzige der schlimmen Ankündigungen wahr, die in vielen stimmungsvollen Reden ausgemahlt worden waren. Der Kalte Krieg brach nicht erneut aus! Die Welt ging nicht unter! Es kam alles ganz anders! Die sowjetischen Politiker hatten sich verkalkuliert. Sie, die erfahrenen Schachspieler, hatten eine wichtige Folge ihres Zuges nicht bedacht. Das Bild wird deutlich, wenn man die Mittelstreckenraketen als einen Turm auf dem politischen Schachbrett betrachtet. Mit der SS 20 hatte die Sowjetunion einen Turmzug gegen den Westen gemacht. Sie hatt e n damit einen Gegen-

Mittelstreckenraketen vom Typ Pershing IA in Feuerstellung

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Der Turm des Westens bedrohte von Westeuropa aus die Sowjetunion und damit die Königin des Ostens. Er bedrohte ihre Hauptstadt, ihre großen Städte und Industriezentren westlich des Urals. Die sowjetischen Unterhändler verließen sechs Jahre nach der Schmidt-Rede in London und fast exakt vier Jahre nach dem NATO-Doppelbeschluß im November 1983 mit verstörtem Gesicht den Verhandlungstisch in Genf. Acht Jahre nach dem Doppelbeschluß der NATO und vier Jahre nach der Aufstellung der Raketen durch den Westen, im Dezember 1987, unterschrieben beide Seiten eine Vereinbarung über die Vernichtung aller Mittelstreckenraketen auf beiden Seiten unter gegenseitiger Kontrolle. Und drei Jahre nach der Unterschrift unter diese Verträge wurde, wieder in einem Dezember, der erste gesamtdeutsche Bundestag gewählt. Die Spaltung Deutschlands und Europas war überwunden. Heute, nachdem sich die Welt durch die Veränderungen im Osten neu darstellt, mögen diese Vorgänge schon Geschichte geworden sein und sich aus der Erinnerung verdrängen. Damals hatten sie Bedeutung. Die Festigkeit des Westens hat sicher dazu beigetragen, daß Europa unabhängig blieb und nicht unter sowjetische Pressionen geriet, bis schließlich der Kalte Krieg zu Ende gegangen war und dem friedlichen Zusammenleben der Völker der Weg geöffnet wurde. Der Westen hat die Zeiten Stalins, Chruscevs und Breznevs überdauert. Dann kamen kurz hintereinander in der Sowjetunion Andropov und Cemenko, danach schließlich Michail Gorbacev und die Wende. Michail Gorbacev hat im Juli 1990, beim Besuch Helmut Kohls, auf die Frage des Bundeskanzlers, wo die Wende im Denken in der Sowjetunion ihren Ansatz gehabt habe, geantwortet, es sei die feste Haltung des Westens in der Rüstungsund in der Raketenpolitik gewesen. Eine gleiche Auskunft erhielt Helmut Schmidt in einem Gespräch mit Michail Gorbacev. Es wäre gewiß zu kurz gegriffen, wenn man die Wende in der Sowjetunion allein auf diesen Vorgang zurückführen würde. Die Ursachen sind vielfältiger und umspannen Vorgänge, die von der systemaushöhlenden Unproduktivität in der Sowjetunion und den sich deswegen türmenden ökonomischen Problemen, über das Aufbegehren der Arbeiter in Polen, über mögliche Auswirkungen der KSZE-Politik bis hin zu dem schnellen mehrfachen Wechsel in der Führungsspitze der Sowjetunion reichen. Das alles zu klären, bleibt einer künftigen Geschichtsschreibung vorbehalten. Wie erheblich die feste Haltung des Westens als Triebkraft der Wende auch eingestuft werden mag, entschieden und sicher hat sie dazu beigetragen, daß der Westen unversehrt durchstehen und durchhalten konnte, bis Wandel und Wende sich schließlich einstellten.

Hans Apel Sicherheitspolitik und Parteiräson1 Im Dezember 1976 nehmen die Verteidigungsminister erstmals kritisch zur Aufstellung der neuen sowjetischen Mittelstreckenrakete SS 20 Stellung. Diese neue Waffe spielt in der Entwicklung und der Durchsetzung des NATO-Doppelbeschlusses eine immer größere Rolle, um so mehr, als die Sowjetunion allen Warnungen zum Trotz kontinuierlich die Produktion und die Aufstellung ihrer SS 20 fortsetzt. Im Mai 1978 wird auf dem NATO-Gipfel in Washington die Nachrüstung beschlossen, in der Erwartung, daß es spätestens bei SALT III zu rüstungskontrollpolitischen Abmachungen in der Sowjetunion für die Mittelstreckenwaffen kommen werde. Anfang 1979 erklärt Herbert Wehner in der »Neuen Gesellschaft«: »Es entspricht nicht der realen Lage der Bundesrepublik, mit der vorgeblichen Notwendigkeit zusätzlicher Waffensysteme zu argumentierten und dabei die Gefahr heraufzubeschwören, daß die Bundesrepublik zum Träger dieser Waffen gemacht würde, statt die Kräfte in die Waagschale von Rüstungsbegrenzungen zu bringen.« Das richtet sich gegen eine etwaige NATO-Nachrüstung und damit gegen Bundeskanzler Helmut Schmidt. Ich melde mich zu Wort und erkläre: »Man kann nur aus einer Position gesicherter Verteidigungsfähigkeit heraus verhandeln, nicht aus einer Position offensichtlicher Schwäche.« Da die US-Mittelstreckenraketen erst in Jahren einsatzbereit sein werden, bietet sich eine Lösung an. Warum nicht diese Jahre benutzen, um mit der Sowjetunion über den Abbau ihrer SS 20-Raketen zu verhandeln? Und so wird Ende Januar 1979 auf einem Treffen der großen Vier — Jimmy Carter, Valéry Giscard d'Estaing, James C. Callaghan, Helmut Schmidt — auf der Insel Guadeloupe der NATO-Doppelbeschluß geboren. Helmut Schmidt sagt uns später, er sei der »Vater« dieser Entscheidung gewesen. Leitet der NATO-Doppelbeschluß eine neue Dimension in der Rüstungskontrollpolitik ein, ist er eine progressive Entscheidung, wie es viele von uns behaupten? Unsere Argumentation: Zum ersten Male werde eine Vorrüstung, diesmal der Sowjetunion, nicht einfach mit einer Nachrüstungsentscheidung des anderen Militärbündnisses beantwortet. Der Doppelbeschluß gibt den beiden Supermächten und ihren Alliierten vielmehr die Zeit, vor der Nachrüstung Auszüge aus: Hans Apel, Der Abstieg. Politisches Tagebuch eines Jahrzehnts, Stuttgart 1990.

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über die Beseitigung der Vorrüstung der Sowjetunion möglichst so erfolgreich zu verhandeln, daß nicht mehr nachgerüstet werden muß. Im Februar 1979 geht die kontroverse Debatte über und mit Herbert Wehner weiter. Er bezeichnet in einem NDR-Interview die Rüstung der Sowjetunion als defensiv, auch wenn sie ein größeres Militärpotential habe, als sie zur Verteidigung benötige. Herbert Wehner argumentiert in einem Vieraugengespräch mit mir auf zwei Ebenen. Die eine ist sachbezogen. Hier erkennt er die Probleme in der NATO und im Ost/West-Verhältnis, obwohl er sich bewußt davor bewahrt, durch Sachwissen zu einem kühlen Urteil zu kommen. Auf der anderen Ebene redet er wie in Endzeitstimmung und läßt dabei auch sowjetische Positionen in seine Betrachtungen einfließen. Auf mich wirkt das naiv. Die UdSSR betreibt Machtpolitik. Dem ist mit Gefühlen und historischen Reminiszenzen nicht beizukommen. Deshalb geht der Streit auch weiter. Die Debatte um den ΝΑΊΌ-Doppelbeschluß erreicht nun die Partei. Entspannungspolitik auf der Basis gesicherter Verteidigungspolitik — diese Formel unserer Sicherheitspolitik noch aus der Zeit des Außenministers Willy Brandt wird von der SPD in ihrer Allgemeinheit akzeptiert. Wenn es dann aber konkret um die Nachrüstung, den NATO-Doppelbeschluß geht, hört die allgemeine Zustimmung sehr schnell auf. Es ist klar, daß wir auf unserem Bundesparteitag im Dezember 1979 mit kräftiger Opposition rechnen müssen. Anfang September, nach der Vorlage des neuen Weißbuchs, rede ich auf Versammlungen in Bremen und Nordhessen. Ich spüre es förmlich, wie unangenehm es den Genossen ist, daß ich auch über diese Fragen rede. Sie wollen etwas zur Entspannungspolitik hören, doch bitte nicht über die Kehrseite der Medaille. Ich werde gut behandelt. Typisch ist aber, daß ich in zwei Tagen gleich dreimal öffentlich gebeten werde, mein derzeitiges Amt aufzugeben und, wenn möglich, in das Finanzressort zurückzukehren. Dort wäre ich klasse gewesen. Verteidigungsminister könne doch jemand anders werden. Wenn sie vor Ort über unsere Sicherheitspolitik sprechen, dann wird sichtbar, wie sehr Herbert Wehner ihnen mit seiner Feststellung vom defensiven Charakter der Rüstung der Sowjetunion aus dem Herzen gesprochen hat. Sie sind von einer echten, tiefen Friedenssehnsucht beherrscht. Sie schätzen die aktuelle Politik der Sowjetunion anders ein als ich. Von sowjetischer Machtpolitik wollen sie nichts hören. Für mich sind sie unpolitisch, wenn sie über Sicherheitspolitik reden. Das Unangenehme wollen sie nicht zur Kenntnis nehmen. Und fast niemand in der SPD hat sie ja auch bisher dazu gezwungen. Im Oktober 1979 setzt die langerwartete Gegenoffensive Moskaus voll ein, um den NATO-Doppelbeschluß zu verhindern. Breznevs Rede zum 30jährigen Jubiläum der DDR in Ostberlin ist allerdings taktisch viel klüger angelegt, als wir das erwartet hatten. Mit diesem raffinierten Machwerk hatte wohl niemand gerechnet. Wer keine Atomwaffen auf seinem Tentorium zuläßt, erhält von den Sowjets die Garantie, niemals atomar bedroht zu werden. Das zielt auf die beabsichtigte Dislozierung von US-Mittelstreckenwaffen auf dem Boden unserer

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kontinentalen Nachbarn ohne eigene Atomwaffen, insbesonders auf Belgien und die Niederlande. Damit soll auch unsere Bedingung für die Beteiligung an der Nachrüstung erschüttert werden: nur dann zu stationieren, wenn sich auch andere europäische NATO-Länder, die keine eigenen Atomwaffen haben, bereit finden, die neuen amerikanischen Waffen bei sich aufzunehmen. Brejnev kündigt keinen massiven politischen und militärischen Druck auf die Länder an, die die neuen Nuklearwaffen der USA stationieren werden. Das Bündnis soll erschüttert werden, seine Solidarität und sein Zusammenhalt stehen auf dem Spiel. Ich selbst fahre in unserem Lande die Linie: Breznev will verhandeln, wir wollen verhandeln, doch nicht mit leeren Händen. Deshalb müssen die Brüsseler Beschlüsse integral verwirklicht werden. »Wir sollten die Modernisierung der weitreichenden US-Mittelstreckenwaffen mit dem Ziel beschließen, durch Verhandlungen möglichst zur Null-Lösung zu kommen.« Doch in unserer Partei geht die Weichmacherei schon los. Egon Bahr könnte ihr Anführer sein. Er sieht politisch-militärische Prozesse immer wieder aus der Sicht der Sowjetunion. Und Wehner hat sich während unserer Kabinettssitzung zu diesen Fragen auch nur apokryph geäußert. Auf unserem Berliner Parteitag wird es genügend Genossen geben, die nur mit der Sowjetunion verhandeln wollen und hoffen, so den unangenehmen Beschlüssen zur Modernisierung aus dem Weg zu gehen. Anfang Dezember 1979 treffen sich die Sozialdemokraten in Berlin zu ihrem Bundesparteitag. Er findet zehn Monate vor den nächsten Bundestagswahlen statt. Diese Tatsache und das überragende Ansehen des Bundeskanzlers bei unseren Wählern, aber auch weltweit, dämpft die Lust der Delegierten, Beschlüsse zu fassen, die der eigenen Regierung die politische Arbeit über Gebühr erschweren. Dem Parteitag war eine intensive politische Arbeit in den beiden »Fraktionen« der SPD, dem »Frankfurter Kreis« der Linken und dem »Seeheimer Kreis«, vorangegangen. In zwei zweitägigen Zusammenkünften in Seeheim, im Schulungszentrum der Lufthansa, haben wir die kritischen Themen, vor allem die friedliche Verwendung der Kernenergie und den NATO-Doppelbeschluß, aufgearbeitet und uns für die inhaltliche Debatte auf dem Parteitag vorbereitet. Allein die Probleme des NATO-Doppelbeschlusses haben uns mehr als fünf Stunden beschäftigt. Auf dem Parteitag muß der Eindruck vermieden werden, die Partei diskutiere gegen den Bundeskanzler und die Regierungsmitglieder, sie beuge sich bei den Abstimmungen nur dem Druck der Regierungsfähigkeit der SPD, sei aber eigentlich in der Sache nicht überzeugt. Auch wenn natürlich der überragende Einfluß des Bundeskanzlers das bestimmende Element dieses Parteitages sein muß. Dennoch muß auch ich immer wieder »in die Bütt«. Allein zweimal greife ich in die Beratungen der Arbeitsgruppe I »Sicherheits- und Abrüstungspolitik« ein. Die Argumente sind so neu nicht: Es sei nicht der Westen, der an der Rüstungsspirale drehe, sondern die Sowjetunion habe mit ihrem durch nichts be-

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gründeten Rüstungsprogramm im Mittelstreckenbereich den Westen dazu gezwungen, Gegenmaßnahmen vorzubereiten. Wer glaube, den Kreml zur Rüstungsbegrenzung bewegen zu können, ohne daß die NATO ihrerseits ein Verhandlungspfand in der Hand habe, gebe sich naiven Illusionen hin. Karsten Voigt ist einer meiner intelligenten Gegenspieler. Er plädiert dafür, daß wir das Gleichgewicht auf einem niedrigen Niveau sichern, Rüstungswettläufe stoppen. Die kritische Diskussion in der Partei über den NATO-Doppelbeschluß müsse deshalb auch weitergehen. Wir haben eine sehr ernste, kontroverse, aber menschlich solidarische Debatte. Im Parteitagsplenum am nächsten Tag geht es härter zu. Henning Scherf sagt in klarer Ablehnung des NATO-Doppelbeschlusses: »So nicht und jetzt nicht. Es geht nicht um Nachrüstung, sondern um Aufrüstung, alles andere ist Irreführung.« Willy Brandt greift ein. Er unterstützt Helmut Schmidt, fügt aber warnend hinzu: »Wir werden diesen Beschluß wachsam begleiten, denn es wäre gefährlich, wenn wir unser Gesamtkonzept der Entspannungspolitik im (militärischen) Gleichgewicht verkümmern ließen.« Auch das sichert uns für unseren Leitantrag eine große Mehrheit, verlagert aber gleichzeitig auch Probleme der Akzeptanz unserer Sicherheitspolitik in die Zukunft. Den Schlußpunkt setzt Helmut Schmidt mit einer überzeugenden Rede. Die Linken ziehen nach dem Parteitag, wenn man Pressemeldungen glauben darf, für sich folgende Quintessenz: »Wir haben uns noch nicht durchsetzen können. Aber beim übernächsten Parteitag sind wir dran.« Am Ende des Jahres 1979 halten 17 Prozent unserer Bevölkerung einen Krieg für möglich. Angesichts der scharfen Auseinandersetzungen um den NATODoppelbeschluß ist das ein erstaunlich niedriger Prozentsatz. Gut einen Monat später zeigen uns die neuesten Meinungsumfragen, daß nun mehr als die Hälfte unserer Bevölkerung von einer akuten Kriegsangst umgetrieben wird. Natürlich hat der Einmarsch der Sowjets in Afghanistan diese Angst ausgelöst. Die Alarmschreie der Politiker kommen hinzu. Wenn Deutschlands angesehenster Politiker öffentlich davon spricht, daß unsere aktuelle Lage durchaus mit den Tagen und Wochen des Sommers 1914 vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges zu vergleichen sei, so muß das entsprechende Reaktionen auslösen. Da ist es nicht leicht, die wachsende Irrationalität einzugrenzen und an unserer bisherigen Sicherheitspolitik festzuhalten. Anfang Februar 1980 rede ich auf der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland in Garmisch-Partenkirchen. »Ich warne auch die Christen davor zu meinen, es wäre eine christliche Tat, einseitig vorzuleisten. Eine christliche Tat schon deshalb nicht, weil dies den Frieden nicht bewahrt, sondern den Krieg näherbringt [...] Aber ich sage mit der gleichen Deutlichkeit, auch Rüstungswettläufe regeln die Probleme nicht. Die Herausforderung dieser Zeit ist die Herausforderung außerhalb Europas. Sicherheit auf dieser Erde ist unteilbar. Wir müssen auf diese Herausforderung antworten. Unsere Antwort heißt: Entwicklungshilfe als Teil einer wohlverstandenen Sicherheitspolitik.«

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Meine öffentlichen Versammlungen überall in der Bundesrepublik zeigen mir, daß sich der Wind dreht. Wenn ich mit den sogenannten Experten rede, findet noch die übliche Sicherheitsdebatte auf dem bekannt hohen, abstrakten Niveau statt. Ansonsten nimmt die Emotionalisierung deutlich zu. Das hat vielleicht auch etwas damit zu tun, wie wir in Bonn unsere politischen Entscheidungen vorbereiten. Mein Ansehen in der SPD steht auf tönernen Füßen. Ich bin der Verteidigungsminister und damit leicht einzuordnen. Ich beteilige mich nicht an der Beförderung der latenten antiamerikanischen Strömungen, stehe zur NATO und zur Bundeswehr. Der >Vorwärts< macht mich zu einem der Falken in Bonn und spricht damit nur das aus, was viele in der Partei von mir denken. Ich fordere den >Vorwärts< auf, Beweise dafür vorzulegen, daß ich ein Falke sei. Dazu ist die Redaktion nicht in der Lage. Aber das muß ja auch nicht sein. Irgend jemand muß doch schuld daran sein, daß die SPD nicht mehr ungestört ihre Träume von der Entspannungspolitik träumen kann. Und so verschieben sich die Perspektiven. Am 1. Mai 1980 während meiner Rede in Stade werde ich als Kriegstreiber bezeichnet. Nachmittags bei einem Kinderfest in Langenhorn demonstrieren sie gegen mich und für den Frieden. Von Afghanistan und von der Bedrohung durch das sowjetische Militärpotential ist nicht mehr die Rede. Am 6. Mai dieses Jahres jährt sich zum 25. Male der Beitritt der Bundesrepublik zur NATO. Seit Monaten denken wir darüber nach, wie wir diesen Tag begehen können. Der Bundespräsident möchte nach Bremen gehen, weil er hier seine politische Arbeit begann. Dafür spricht auch, daß Bürgermeister Wilhelm Kaisen vor 23 Jahren erstmalig in Bremen, allerdings gegen den Willen der SPD, ein öffentliches Gelöbnis von Wehrpflichtigen durchgesetzt hatte. So fragen wir in Bremen an, ob wir mit einem öffentlichen Gelöbnis mit anschließendem Zapfenstreich am 6. Mai in der Hansestadt willkommen wären. Hans Koschnick lädt uns mit Freuden ein. Ab Anfang April mehren sich die Zeichen, daß es in Bremen zu Protesten gegen diese Veranstaltung kommen werde. Der Bremer Landesjugendpfarrer schreibt an Bürgermeister Koschnick: »Viele überzeugte Demokraten fühlen sich jedoch durch die geplante Veranstaltung so tief verletzt, daß aggressive Reaktionen unvermeidbar erscheinen.« Der SPD-Unterbezirk Bremen-Ost protestiert gegen »überflüssiges Säbelrasseln« und »militärisches Brimborium in Krisenzeiten«. Die Vereidigung soll am besten auf dem Kasernenhof stattfinden. Die »Grünen«, der Landesjugendring, die Jungdemokraten, die Kriegsdienstgegner, viele evangelische Pastoren, Kommunisten und auch Radio Bremen wollen die Bundeswehr und Bundespräsident Karl Carstens nicht in Bremen sehen. Am 23. April sende ich ein Fernschreiben an die SPD in Bremen-Ost. Darin heißt es unter anderem: »Jede Demonstration gegen diese Veranstaltung verkennt ihren Charakter. Es handelt sich keineswegs um eine martialische Demonstration, sondern um eine Stunde, die unterstreicht, daß Wehrdienst Friedensdienst ist. Wir können unsere

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Friedens- und Entspannungspolitik nur auf der Basis unserer festen Verankerung im westlichen Bündnis und dem Gleichgewicht der Kräfte sichern und fortsetzen.« Am 6. Mai vormittags ist in Bremen bei unserer Ankunft noch alles in Ordnung. Nachmittags und abends herrschen in der Stadt bürgerkriegsähnliche Zustände mit brennenden Autos, Hunderten von Verletzten. Straßenschlachten toben rund um das Stadion. Carstens und ich müssen mit dem Hubschrauber ins Weserstadion eingeflogen werden. Die Veranstaltung kann trotz Radaus von außen durchgeführt werden. Hans Koschnick kommt mit uns ins Weserstadion. Zur gleichen Zeit flaniert sein Jugendsenator Henning Scherf bei den Demonstranten herum. Am 7. Mai, noch unter dem Eindruck der Bremer Krawalle, fliege ich für einige Tage nach Tunesien. Wir leisten den tunesischen Streitkräften im Sanitätsbereich Ausrüstungshilfe. Wieder zu Hause, muß ich zur Kenntnis nehmen, daß der Kommandeur des II. Korps ein öffentlichen Gelöbnis in Emden abgesagt und in die Kaserne verlegt hatte. Ich kann das nicht billigen. Wir dürfen nicht zurückweichen. Ich entschließe mich, am 14. Mai in Emden selbst zu den Wehrpflichtigen zu sprechen: »Wer Emden als Trotzreaktion auf Bremen versteht, übersieht, daß die Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland, unsere Bundeswehr, gerade nicht eine Armee im Getto sein darf und daß wir eben nicht einen Staat im Staate haben wollen. Sie ist als Armee in der Demokratie begründet worden und hat sich als zuverlässiger Schutz unserer Demokratie erwiesen. Sie hat keinen Grund, sich ausgerechnet in dem Augenblick vor den Bürgern zu verstecken, da sie durch Gelöbnis oder Eid die Pflicht bekräftigt, die Freiheit der Bürger zu sichern, so wie das Grundgesetz es befiehlt.« Trotz allgemeiner Zustimmung weiß ich genau, was das alles für mich bedeutet: Die Rechten bleiben davon überzeugt, daß ich als »weißer Jahrgang« und Sozi sowieso nicht ganz »echt« bin. Bei den Linken verstärkt sich der Eindruck, daß ich zunehmend nach rechts abdrifte und mich von meinen Generalen vereinnahmen lasse. Ich muß mir ja nur anhören, was manche der wirklich wohlmeinenden Genossen zu mir sagen. Sie können nicht begreifen, daß ein Mindestmaß an Rollenverständnis unabdingbar für jedes Amt ist. Im Parteivorstand stelle ich im November 1980 eine Entschließung zum 25jährigen Geburtstag der Bundeswehr zur Abstimmung. Horst Ehmke lehnt eine Zustimmung der SPD zum öffentlichen Gelöbnis ab. Hans-Jochen Vogel macht einen Vermittlungsvorschlag, und wir werden uns einig. Da meldet sich der Kanzler zu Wort, um mitzuteilen, daß er bereits 1970 in seinem ersten Weißbuch das öffentliche Gelöbnis abschaffen wollte. Zitat: »Die Bundesregierung beabsichtigt, dem Deutschen Bundestag vorzuschlagen, das feierliche Gelöbnis der Wehrpflichtigen durch eine förmliche Belehrung über Rechte und Pflichten zu ersetzen.« Geschehen ist zwar nichts. Das öffentliche Gelöbnis blieb. Aber ich stehe nun politisch »im Regen«. Denn natürlich geht es darum, wer die Verantwortung

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dafür trägt, falls es bei unserem öffentlichen Gelöbnis am 12. November auf dem Bonner Münsterplatz zu Krawallen kommt. Wochen vorher kündige ich eine umfassende, von mir gewollte Debatte an über das Verhältnis »Bundeswehr und Gesellschaft«, die inneren Strukturen und die Traditionen der Bundeswehr. Doch uns hilft nichts mehr. Die Linke tritt an. In Bad Godesberg findet eine Gegenveranstaltung zum Bonner Münsterplatz statt. Horst Ehmke, Willi Piecyk von den Jusos und Wolf Graf von Baudissin sprechen. Piecyk sagt dort ohne Widerspruch: »Es muß damit Schluß sein, daß der sozialdemokratische Verteidigungsminister Stück für Stück den Ansprüchen reaktionärer Militärs nachgibt. Der Kampf gegen den Militarismus ist eine Erfahrung und Verpflichtung der Arbeiterbewegung. Wir stehen in dieser Tradition [...] Demokratie und Frieden können auf Trommelwirbel gerne verzichten. Aber ohne Abrüstung ist es um den Frieden schlecht bestellt.« Damit sind die Zeichen gesetzt. Auf dem Münsterplatz versammeln sich also Militaristen, die die Abrüstung blockieren. Lügen werden zum Instrument der politischen Auseinandersetzung innerhalb der SPD. Der Kampf um unsere Westbindung, gegen die NATO und die Bundeswehr beginnt. Ulrich de Maizière, einer meiner in jeder Hinsicht untadeligen Berater, sagt nach den Ereignissen auf dem Münsterplatz: »Vor 25 Jahren hatten wir schon einmal eine Bewegung >ohne michflexible response< wird nun eine Affäre, die nicht nur unsere Bündnisfähigkeit in Frage stellt, sondern auch den Koalitionszusammenhalt gefährdet. Denn wer kann bis Ende 1983 an die Verwirklichung der Null-Lösung glauben? In einem Gespräch mit Willy Brandt rege ich an, daß die SPD ein Forum »Bundeswehr« veranstaltet, u m den Gesprächsfaden neu zu knüpfen u n d Mißverständnisse auszuräumen. Brandt stimmt zu. Unsere Veranstaltung am 11. März im Ollenhauer-Haus wird auch deshalb gut, weil er eine gute Rede hält. Er bekennt sich ohne Wenn und Aber zur Bundeswehr und nimmt sie gegen Anfeindungen in Schutz. Er unterstreicht als eine Grundlage unserer sicherheitspolitischen Konzeption die »Sicherung eines annähernden Gleichgewichts und Aufrechterhaltung der militärischen Fähigkeit zur Abschreckung bei konsequenter Verfolgung einer Politik des Gewaltverzichts und der Entspannung«. Brandt lehnt das Streben nach einseitiger Überlegenheit ebenso ab wie eine Politik der einseitigen Abrüstung. »Eine nachhaltige Verschiebung des militärischen Gleichgewichts zu unseren Ungunsten würde zu mehr Instabilität und damit zu weniger Sicherheit führen.« Vorsichtig geht er auf ein etwaiges sowjetisches Angebot eines Moratoriums ein, ohne sich festzuzurren. Er ist dafür, solche Angebote genau auszuloten. Unsere Haltung zur Friedensbewegung beschreibt er so, daß damit auch die Soldaten der Bundeswehr leben können. Da habe ich es leicht, in meinem Beitrag deutlich zu machen, daß meine Überzeugungen auf der Linie der Mehrheitsmeinung unserer Partei liegen. Aber dringen derartige Veranstaltungen und ihre Aussagen überhaupt noch in die Köpfe der vielen Sozialdemokraten draußen im Lande? Nehmen sie überhaupt noch die Bedingungen, die Voraussetzungen unserer Sicherheits- und Entspannungspolitik in dieser Zeit zur Kenntnis? Zwei von den hohen Militärs sagen mir bei meinem Abschied von der Hardthöhe im Oktober 1982 gute, persönliche Worte — der Inspekteur des Heeres, General Meinhard Glanz, und der stellvertretende Generalinspekteur, General Helmut Heinz. Mich wundert das nicht. Dafür kommen viele Mitarbeiter mit Tränen in den Augen, um Adieu zu sagen. Wir packen unsere Siebensa-

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chen. Mein Büro und meine Dienstwohnung sind geräumt. Bleibt mir noch die Zeremonie bei Fackelschein und Zapfenstreich. Ich verlasse die Hardthöhe, nach außen gelassen und heiter, im Inneren tiefer getroffen, als ich es mir erlaubt hatte.

Teil III Militär und Gesellschaft Die Bundeswehr als Armee in der Demokratie

Detlef Bald Militärreformen in Deutschland — zum historischen Stellenwert der Integration von Militär und Gesellschaft Die Lage in Deutschland war verwirrend. Die Unruhe in der Gesellschaft um die Ausrichtung der Politik, angestoßen durch die Greuel eines ungerechten Krieges in Vietnam, das Bewußtsein von sozialen Ungleichheiten im eigenen Lande sowie die drängende politische Motivation, die grundgesetzlichen Werte der Demokratie fundamental zu begreifen und in die Praxis umzusetzen, führten zu spannungsgeladenen Auseinandersetzungen in der parlamentarischen und außerparlamentarischen Opposition. Die Regierung hatte Mühe, eine übersichtliche Politik in Gang zu halten. Unübersichtlich zumal war die Lage der Bundeswehr. Gerade hatten die ausgiebigen Debatten um Sinn und Funktion der Notstandsgesetzgebung auch ihre Fundamente der Legitimation angekratzt, hatte die Bündnispolitik der Solidarität mit den USA die Glaubwürdigkeit der Sicherheitspolitik auf die Probe gestellt, als geradezu explosionsartig innere Vorgänge das Militär ins Rampenlicht der Öffentlichkeit zwangen. Erstaunen breitete sich aus. Das Jahr 1969 bot unverhofft Einblicke in das militärische Gefüge, deren Befund katastrophal erschien. Einmütig stellten die Beobachter ein allgemeines Unbehagen über die Entwicklung der Bundeswehr fest. Die Konsolidierungspolitik der Minister Kai Uwe von Hassel und Gerhard Schröder seit Mitte der sechziger Jahre konnte mit lapidaren Worten als restlos gescheitert abgetan werden. »Konsolidiert haben sich die Anarchie, das Mißverhältnis zwischen Befehl und Gehorsam, der Richtlinienwirrwarr, der Papierkrieg, der Mangel an Vertrauen in die Führung, das organisatorische Chaos im Verteidigungsministerium«. (H.-G. v. Studnitz, Rettet die Bundeswehr! Stuttgart 1967, S. 156). So schallte es aus der rechten Ecke. Vernichtende Urteile deckten schonungslos die innermilitärischen Hintergründe von Affären und Skandalen auf, wie ein anderes Beispiel zeigt: Die Bundeswehr »ist organisatorisch und technisch zurück. Die Vorstellungen von Führung und Ausbildung sind nicht modern. Uns fehlen militärische Führungskräfte. Wir kennen kein militärisches Management. Der Zufall, nicht die planvolle Analyse, beherrscht die bewaffnete Macht.« (Studnitz, S. 156). Öffentlich wurde die Bundeswehr angeprangert, sie verfehle ihren militärischen wie den politischen Auftrag. Nicht nur Pessimisten ahnten, wie krank an Haupt und Gliedern die gesamte Institution Bundeswehr war. Die Zuspitzung

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der bundesdeutschen Auseinandersetzungen mußte nicht lange auf sich warten, als der gerade gewählte Bundespräsident Gustav Heinemann die Problematik auf den Punkt brachte, grundsätzlich müsse sich die Bundeswehr in Frage stellen lassen. Die Emotionen in der Bundeswehr gingen hoch; die Formierung der Kräfte konzentrierte sich auf die Grundlagen des Militärs, auf die Traditionen und die Tugenden des Soldatischen, auf den Beruf und die Professionalität angesichts des gesellschaftlichen Wandels. Leitbilder einer militärischen Vergangenheit wurden beschworen, die allerdings den Reformidealen der zielsetzenden Gründungsphase der Bundeswehr massiv entgegengesetzt waren. Die >Gedanken zur Verbesserung der inneren Ordnung des HeeresBürgers in Uniform< sowie der >Inneren Führung< programmatisch bestanden, von Generalmajor Hellmut Grashey offen gesucht wurde, wenn er die Bundeswehr aufforderte, »diese Maske« der Inneren Führung »nun endlich« abzulegen. Das war der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Die Restaurateure hatten zum letzten Gefecht geblasen. Unabhängig von den in politischen Kontroversen engagiert vorangetriebenen Erörterungen über Fakten, Realität und Befindlichkeit der Bundeswehr schälte sich eine Art sachlich-neutrales Feld der Übereinstimmung in technischfunktionaler Hinsicht heraus, wie es Luftwaffengeneral Johannes Steinhoff vorgetragen hatte. Seine Kritik schockierte, weil sie ebenso fachlich solide wie auch sehr weitreichend schien. Knapp skizzierte er, »daß wir mit unseren Gesamtvorstellungen hinter den Erfordernissen von Gegenwart und Zukunft zurückstehen«. Den militärischen Führungsstäben und den politisch Verantwortlichen für die Bundeswehr wurden geradezu die Leviten gelesen, als Steinhoff deutlich die Quintessenz zog, »ganz sicher aber entspricht das überkommene Leitbild des Offiziers nicht mehr einer Gesellschaft, die sich bereits in der zweiten industriellen Revolution, nämlich der Umwandlung zur Dienstleistungsgesellschaft, befindet.« Das waren keine Provokationen, die als politisch motiviert beiseite geschoben werden konnten, wie sie sich im Widerwillen eines Teils des Offizierskorps gegen die Bundeswehrreform der fünfziger Jahre widergespiegelt hatten, sondern

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Analysen der Struktur und Organisation des Militärs, vor deren Sachlogik man die Augen nicht verschließen konnte. Die beiden Pole — zum einen Distanziertheit und Ressentiments gegenüber der Inneren Führung und zum andern die organisatorischen wie technischen Dilemmata des Militärsystems — nährten den Krisenbefund der Bundeswehr am Ende der sechziger Jahre. Tatsächlich, die Lage war ernst für die Bundeswehr. Helmut Schmidt, der Sicherheitsexperte der SPD, hatte schon vor Jahren die Entwicklung der Bundeswehr mit Sorgen verfolgt, Krisensymptome angemahnt und auf Defizite hingewiesen. Unterstützt von Fritz Erler, hatten beide »einen lebendigen Kontakt« der parlamentarischen Opposition zum Militär aufgebaut und systematisch Ursachenforschung betrieben, um die Verteidigungsadministration ebenso wie die Streitkräfte zu optimieren. Sicherheitspolitisch brachte Schmidt Unruhe, aber auch Akzeptanz mit, als er die Widersprüche einer Verteidigimg, die auf der Glaubwürdigkeit des Einsatzes von Atomwaffen gründete, offenlegte. Noch allerdings setzte er seine Schwerpunkte auf praktische Richtlinien für die Reorganisation des Militärs, als er — immerhin schon im September 1965 — »erste Maßnahmen des Verteidigungsministers einer sozialdemokratischen Bundesregierung« in einem bemerkenswerten Sofortprogramm vorlegte. Weder diese parlamentarischen Aktivitäten noch die Zunahme der Krisensymptome (Skandale, Unfälle, Berichte des Wehrbeauftragten usw.) in der Innenpolitik oder die sicherheitspolitische Akzentuierung im Bündnis, das nach dem Harmel-Bericht der NATO die Öffnung nach Osten durch Entspannung einforderte, brachten die Bundesregierung zur notwendigen Handlungsfähigkeit. Die Zeichen kündeten unübersehbar: in Sachen Bundeswehr meldeten Helmut Schmidt und in Sachen Ostpolitik (mit großer Wirkung auf die Sicherheitspolitik) Willy Brandt ihre Kompetenz an. Anmaßend und provokativ empfanden viele im etablierten System der Bonner Republik diesen Anspruch der Sozialdemokraten auf Regierungsfähigkeit und auf Gestaltung der Sicherheits- und Militärpolitik. Jedenfalls ist sicher, daß die sozialdemokratische Fraktion im Deutschen Bundestag seit vielen Jahren ein militär- und bündnispolitisches Expertentum aufgebaut hatte, bevor im Herbst 1969 die politischen Umstände zur Bildung der sozialliberalen Koalition führten. In den Grundsätzen wie in praktischen Einzelfragen hatte sich der neue Verteidigungsminister auf sein Amt vorbereitet. Er war um Klarheit und Deutlichkeit bemüht. Programmatisch machte Helmut Schmidt sogleich Furore, indem er seine Regierungszeit unter die Devise der neuen NATO-Politik stellte, wie sie zuvor im Harmel-Bericht formuliert worden war. Obwohl die NATO seit beinahe zwei Jahren die Entspannung zum Grundpfeiler ihrer neuen Politik erklärt hatte, betrachteten große Kreise der konservativen Öffentlichkeit und noch mehr der Kern des Offizierskorps in Deutschland diese Ausrichtung mit ablehnender Skepsis als unzuträgliche Aufweichung gegenüber dem Osten. Schmidt griff

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nicht nur solche Verkrustung des Kalten Krieges an, sondern er zog Konsequenzen daraus für den Soldatenberuf, forderte Umbesinnung und setzte selbst Maßstäbe für die Orientierung. Diese Neubestimmung brachte zusätzliche Irritationen. Im Einklang mit dem Bundespräsidenten Gustav Heinemann, der in seiner Antrittsrede am 1. Juli 1969 jene berühmten Worte gesprochen hatte, wandte sich der Minister an Soldaten und Öffentlichkeit: »Nicht der Krieg ist der Ernstfall, in dem der Mann sich zu bewähren habe, wie meine Generation in der kaiserlichen Zeit auf den Schulbänken lernte, sondern der Frieden ist der Ernstfall, in dem wir alle uns zu bewähren haben.« Minister Schmidt folgerte daraus für Auftrag und Selbstverständnis des Soldaten: »Wir haben es heute mit einem neuen Typ des Soldaten zu tun. Seine Aufgabe ist in ein völlig neuartiges Spannungsfeld gestellt: Er wird zwar an Waffen großer Zerstörungskraft ausgebildet — jedoch einzig zu dem Zweck, zu verhindern, daß sie je eingesetzt werden.« (Weißbuch 1970, S. 115). Bei einer derartigen Deutlichkeit hinsichtlich der Realitäten und Rahmendaten, die von manchen als gravierender Einschnitt für das Militär verstanden wurde, suchte der Minister sogleich die personelle Kontinuität der obersten militärischen Führung; deren Loyalität versicherte er sich direkt nach der Wahl im Herbst 1969. Die breite »Bestandsaufnahme« der Bundeswehr mit ihrer bekannten Mängelliste, deren administrative Abarbeitung zur Lösung der akutesten Fälle mancherlei Nutzen brachte und die Managementfähigkeiten des Ministers anerkanntermaßen als Macher mit Weitblick herausstellte, begründete seine Reputation, zählte aber eigentlich unter die tagespolitischen Aktivitäten. Die Bewertung der Leistung des Ministers Schmidt gewinnt in einem anderen Bereich ihren historischen Stellenwert als fundamentale Politik der Militärreform. Mit der Wende in der Rekrutierungs- und Ausbildungspolitik der Offiziere und Unteroffiziere einen epochalen Einschnitt zur Neukonstituierung von Geist u n d Sozialstruktur des Militärs angelegt zu haben, gewährt diesem Aspekt des politischen Handelns ihren Rang — vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Bonner Republik hatte ihre Armee nicht wie die Weimarer Republik von dem Vorgängerstaat übernommen, sondern sie durch die Reformgesetzgebung in der Mitte der fünfziger Jahre »in das Gefüge von Verfassung und Staat« (Weißbuch 1970, S. 115) formal und institutionell nach demokratischen Prinzipien eingebunden. Die Erkenntnis hatte sich jedoch bestätigt, daß die militärisch-gesellschaftlichen Beziehungen in einer doppelten Weise, nämlich als »erfolgreiche Einbettung der Bundeswehr in unsere gesellschaftliche und staatliche Struktur« gestaltet werden müßten. Daher mußte das in 15 Jahren entstandene Defizit an gesellschaftlicher Integration und an sozialer Durchlässigkeit im Militär zum entscheidenden Brennpunkt der Reformpolitik werden. Die Militärreform von 1969 baute auf der gesetzlichen und grundgesetzlichen Festlegung der fünfziger Jahre auf. Den ersten Bereich bildete die Politik der sozialen Auslese der

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Soldaten, die seit jeher von höchster Relevanz für die Aufmerksamkeit der politischen und militärischen Spitzen gewesen ist. Historisch gesehen war der Zugang zum Offizierberuf ein wichtiger Teil der Macht- und Herrschaftssicherung in Deutschland gewesen. Nach dem grundgesetzlich verbrieften Recht auf Gleichheit, Gleichberechtigung und freie Berufswahl mußte der Zugang zu diesem militärischen Beruf für alle Schichten der Bevölkerung geöffnet werden. Sozial und politisch bedeutete dies, die Reste althergebrachter Strukturen zu beseitigen und in einem evolutionären Vorgang pluralistisch zu bestimmen. Dies jedoch ging nicht ohne Widerstände ab. Die Rekrutierungspolitik des Personals galt von jeher als Kernpunkt der militärischen Korpsbildung. Hier wird (nur) das Beispiel der Offiziersrekrutierung vorgestellt. Die Rekrutierungspolitik aus dem Kaiserreich (»erwünschte Kreise«) hatte in der Weimarer Republik aufgrund der bewußten politischen Abkapselung des Offizierskorps und seiner selbst gewählten sozialen Distanz zur Gesellschaft zum berüchtigten antidemokratischen, zumal antiparlamentarischen »Staat-imStaate-Syndrom« geführt. Schon früh hatte daher die Sozialdemokratie in der Bonner Politik auf die Notwendigkeit der »Respektierung der Menschenwürde und eine sorgfältige Personalauslese« hingewiesen und den »veränderten soziologischen Hintergrund« (Fritz Erler) angemahnt. Weitgehend unbeachtet blieb, daß bereits seit Anfang der sechziger Jahre der Arbeitskreis Sicherheitsfragen der SPD-Bundestagsfraktion detaillierte Vorstellungen zur Reform der Rekrutierungspolitik konzipiert hatte und im Mai 1963 mit dem damaligen Verteidigungsminister Kai Uwe von Hassel »ganz offenbar« Einvernehmen in den Grundsätzen hatte herstellen können — mit weitreichenden Folgen. Innerhalb des Bundesministeriums der Verteidigung gelang es, nach eingehenden Analysen der Politik der sozialen Auswahl seit über hundert Jahren die entscheidende Grundlegung für eine Revision der Auswahlkriterien für Offizieranwärter vorzubereiten. Angestoßen durch Probleme bei der Einstellung aller Offizierjahrgänge seit Beginn der Bundeswehr wurde zunächst ein neues Personalprofil für die Bundeswehrführung festgelegt. In diesem Zusammenhang wurde kritisch die Aussage getroffen, die Einstellung der Offiziere noch in der Wehrmacht hätte »teilweise ganz andere Beurteilungskriterien« zum Tragen kommen lassen, »als dies heute gerechtfertigt erscheint«. Damit war die Wende in der Personalpolitik unvermeidbar. Die bis dahin gültige traditionalistische Bewertung der Qualifikation eines Offiziers sollte für den Soldaten der kommenden Jahrzehnte kaum anderes als »nur einen sehr geringen Aussagewert« behalten. (E. von Krosigk, U. Czisnik, Die militärische Personalführung in der Bundeswehr, Heidelberg, Hamburg 1977, S. 58). Die Revision der militärinternen Personalauswahl gelangte 1967 zu einer richtungsweisenden Festlegung, die die praktizierten Bewertungskriterien radikal abänderte. Dabei verwarf man den seit einem Jahrhundert bestehenden Primat der Homogenität, nämlich der ideologischen Konsistenz mit einem ent-

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sprechenden Unterbau an >sozialer SelektionBürgers in Uniformzivile< Qualifikationen quasi von Amts wegen eingefordert und eine weitgehende Selbständigkeit für Verantwortungssowie Urteilsfähigkeit im militärischen Alltag bildeten Elemente freiheitlicher Einwirkungen, das innere Gefüge des Militärs auf einen Stand im Einklang mit der politischen Kultur der Bundesrepublik zu setzen. Die Bindungen der Ziele der Reform von 1969 an die Reformideale der frühen fünfziger Jahre des Grafen Baudissin sind evident. Die Traditionslinien belebten die Weiterentwicklung; sie boten aber auch die Chancen für die Anpassung an den Wandel der Gesellschaft und ihrer Werte. Die Umstrukturierung des gesamten militäreigenen Bildungssystems von der Rekruten- bis zur Generalstabsausbildung ging von einer breiten Erhöhung der Leistungsqualifizierung aus; wissenschaftliche oder wissenschaftlich gestützte Ausbildung gewährten ungeahnte Wirkungsmöglichkeiten der fachlichen Innovation und des zivilen Denkens, der Offenheit und der Vielfalt. Der Damm, der den Berufsstand sui generis gesinnungsmäßig sichern sollte, wurde eingerissen, obwohl natürlich nicht eliminiert. Darin liegt der historische Stellenwert der militärischen Bildungsreform zu Beginn der siebziger Jahre. Unumkehrbar konnte ein Werk angepackt werden, das für die neue Bundeswehr der Bonner Republik und für einen gelungenen »vierten Anfang« in der deutschen Militärgeschichte steht. Das Wissen um den historischen Stellenwert der Militärreform hatte bereits 1950 Graf Baudissin zur Mitarbeit am Aufbau der deutschen Streitkräfte bewegt. Ihm stand ebenso wie dem pragmatischer vorgehenden Adolf Heusinger, der als Generalinspekteur 1959 mit Nachdruck auf die Gefahren einer partiellen und unvollendeten Reform hingewiesen hatte, die lange Kette vergeblicher Bemühungen in der neueren Geschichte vor Augen, das Militär in Geist und Struktur mit einer freiheitlichen Verfassung zu versöhnen. Nicht umsonst war Gerhard von Scharnhorst zum Gründungspatron der Bundeswehr erkoren worden, hatte er doch mit Hilfe liberaler Gleichheits- und Gleichberechtigungsprinzipien den preußischen Drill-Militarismus u.a. auch mit einer großartigen Bildungsreform gemäß dem proklamierten Ideal des Bürgers in Uniform< überwinden wollen. Restauration und Untertanengeist führten zum Bruch; die Reformen des zweiten Anfangs nach 1848, gekennzeichnet durch den Namen Eduard von Peucker, hatten ihre Wirkung und Chance, bis der nationalistische Wilhelminismus ihnen endgültig den Garaus machte.

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Der dritte Anfang, eine liberal-bürgerliche Konstitution des Militärs zu begründen, scheiterte in der Weimarer Republik, weil Reichswehrminister Gustav Noske nur die gesetzlichen Formen für die Streitkräfte der Republik renovieren konnte, in die Hans von Seeckt, der militärische Chef der Reichswehr, die monarchischen Gegenkräfte der Demokratie und der Republik einschleuste; gemäß seinem Diktum, alten Wein in neue Schläuche zu füllen. Die Lehre aus der Geschichte der zwanziger und dreißiger Jahre lautete, einen solchen Typ des Gesinnungsoffiziers (»Adel der Gesinnung«), wie ihn Kaiser Wilhelm II. gesetzt hatte, nicht weiter für die Bonner Republik zuzulassen. Die Kongruenz der politischen und gesellschaftlichen Werte der Demokratie mit den militärischen Normen galt es nach 1945 im vierten Anlauf der neueren Geschichte zu sichern. Eine zentrale Bedeuj¿. m . tung für die Entwicklung von >civil mind< oder von >military mind< in den Streitkräften kommt dem ^ c i 1 1 α $ c militäreigenen ( A u s b i l dungssystem zu. Doch dies — das Resultat nach den ersten 15 Jahren Bunâkicuétiutfl einiger © n t u b l a g c n deswehr — hatte in der Praxis mehr das Vorbild für bit îlinfiiflt der Wehrmacht kopiert als sich die Impulse aus HieÌ)imfrtJ!ìmg I c u t f d j l m t V s dem weiteren Bildungsbegriff der liberal-pluralistisch verfaßten Bundesrepublik zu holen. In ©cttetaliitalov Doit Reliefer, diesem historischen Konι c!üctotíinádjíigten 6íi btc ORItitairc ícíniijt id» = 'Drru^ifdj text findet die Bildungsiti !DeutfFortbildungsstufe C< nunmehr den Grundlehrgang der Stabsoffizierausbildung, den alle Offiziere unabhängig von der bisherigen Verwendung pflichtgemäß zu absolvieren hatten, an die sich der Aufbau des dreistufigen Fortbildungssystems der späteren Verwendungslehrgänge (einschließlich eines ergänzenden Systems ausgewählter Funktions- und Sonderlehrgänge) anschloß. Die Struktur der Offizierausbildung erhielt mit der Übernahme wesentlicher Vorschläge der Bildungskommission eine grundlegend neue Form. Die Ausbildungsabschnitte außerhalb der Führungsakademie, aber mit großem Einfluß auf ihr Programm, trieben mit der Errichtung der Hochschulen der Bundeswehr in Hamburg und München die Akademisierung des soldatischen Berufs voran. Viele Auseinandersetzungen kreisten um die konkreten Veränderungen des Bestehenden, wie die verzwickten Argumentationen um die »Hochschulähnlichkeit« der Führungsakademie ausweisen. Am 5. April 1973 nahm der Aufstellungsstab für die neue Führungsakademie der Bundeswehr seine Arbeit auf. Nach mehreren Übergangs- und Zwischenlösungen erhielt ihr Kommandeur letztlich die Zuständigkeit und Verantwortlichkeit für die gesamte Ausbildung übertragen. Die Gliederung der Führungsakademie zeichnete sich nun dadurch aus, daß ein zusätzlicher Bereich Ausbildung und Lehre — anfänglich mit der nicht zufälligen und symbolischen Bezeichnung: Ausbildung, Lehre und Forschimg — neben den Bereich Lehrgänge gestellt wurde. Mit dieser Lösung sollte die früher vorherrschende Dominanz des Militärischen mit dem Schwerpunkt in der taktischen und handwerklichen Ausbildung — das sogenannte Teilstreitkraft-Denken — überwunden, aber dennoch die erforderliche Berücksichtigung und Integration der Interessen von Heer, Marine und Luftwaffe gewährleistet werden. Darüber hinaus bestand die Aufgabe darin, allgemeinbildende und wissenschaftsorientierte Lehrinhalte zu bestimmen, deren betriebe- und organisationswissenschaftliche, sozialwissenschaftliche sowie sicherheitspolitische Akzentuierungen als Offenheit zu einer neuen Diskursfähigkeit der Offiziere verstanden werden kann. Es spricht für die Behutsamkeit der Reformumsetzungen, daß etwa im Jahre 1978 Ziele, Struktur und Inhalte für die Ausbildung und Lehre an der Führungsakademie im wesentlichen von den Beteiligten anerkannt wurden. Ein

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Jahrzehnt dauerte es, bis die erste Offiziergeneration mit abgeschlossenem Hochschulstudium auf den Universitäten der Bundeswehr den auf ihre Qualifikationen hin zu beziehenden und entsprechend zu verändernden Grundlehrgang in Hamburg besuchen konnte. In dem Ringen um dieses Reformkonzept für die Ausbildung der Offiziere der Bundeswehr spielte Generalinspekteur Ulrich de Maizière eine ganz zentrale Rolle. Ihm war es vergönnt, sowohl innerhalb der militärischen Führung als auch in den politischen Gruppierungen Gehör zu finden. Man nahm ihm seinen Einsatz für die Erhaltung des militärhandwerklichen Könnens und die Pflege des Wertes der charakterlichen Eigenschaften ebenso ab wie seine Befürwortung der akademischen und universitären Ausbildung. In Loyalität zu Minister Schmidt machte er sich den Vorschlag der Bildungskommission zu eigen, auch wenn ihm die »Risiken« durchaus bewußt waren. Damit verknüpfte er seinen Namen mit dem Werk der Reform. Sie ist politisch von Helmut Schmidt in Gang gesetzt, fachlich von Thomas Ellwein untermauert und militärisch von Ulrich de Maizière verantwortet worden. Die Militärreform von 1969 hat ihren singulären Stellenwert, da sie mehr ausmachte als »durchgreifende Anstrengungen zur Erhaltung und Verbesserung der Kampfkraft der Bundeswehr«, wie es zeitgenössisch bewertet wurde, weil man darin hauptsächlich eine »Voraussetzung neuer sicherheits- und entspannungspolitischer Überlegungen« erkannte. Sicher ist unstrittig: die Leistungsfähigkeit des Systems sollte optimiert werden. Doch es waren insbesondere die Träger der traditionellen soldatischen Wertvorstellungen, die mit dem wissenschaftlich-akademischen Bildungsansatz die Unterminierung der militärischen Substanz befürchteten. Nach alter Manier wurde der Anspruch auf Gehorsam, Pflicht, Einheitlichkeit, Unterordnung usw. gegen Gleichheit, Pluralität, Mitbestimmung usw. gestellt, klischeehaft verkürzt in der Formel Charakter versus Bildung. Diese Scheinalternative, die immer dazu führte, liberale Bildungsbemühungen zu reduzieren, und noch in den fünfziger JahBlick auf den Campus der Universität der Bundeswehr in Hamburg

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ren die Reform des Grafen Baudissin unterlaufen hatte, konnte überwunden werden. Die Einheit von fachlicher, allgemeiner und politischer Bildung wurde seitdem als Voraussetzung zur Berufsbefähigung des Offiziers als Aufgabe des militäreigenen (Aus-)Bildungssystems angelegt; in Verbindung mit dem gesellschaftlich offenen Rekrutierungsmodell nach Maßgabe der Pluralität differenzierter Industriegesellschaften waren dem Militär wesentliche Merkmale entzogen, die seit dem 19. Jahrhundert die Politik der Abkapselung, des militärischen Sonderwegs, der Eigengesetzlichkeit ermöglicht hatten. Das erprobte Modell des preußisch-deutschen Militarismus wollte mit Hilfe sozial-protektionistischer Selektion (»erwünschte Kreise«) und einer gezielten Ausbildung (»Adel der Gesinnung«) den bürgerlichen Untertan in Uniform, eben mit Gesinnung. Das demokratische, bürgerlich-freiheitliche Modell setzt statt dessen auf einen pluralistischen gesellschaftlichen Zugang zu diesem leistungsbestimmten Beruf, in dem die Pluralität der Bewertungen, Einstellungen, Haltungen auch im (Aus-)Bildungssystem garantiert sein müsse. Dieser Schritt wurde mit der Militärreform nach 1969 getan, damit der >Bürger in Uniform< existieren kann. Dieser Schritt ist tatsächlich mehr als nur eine technisch-reorganisatorische Verbesserung. Denn jene Politik seit dem Kaiserreich repräsentiert ein Staats- und Gesellschaftsverständnis, welches mit dem des Grundgesetzes unvereinbar ist. Diesen antagonistischen Charakter hatte Ralf Dahrendorf in einer frühen Untersuchung festgestellt und auf den historischen Zusammenhang hingewiesen, daß das Militär gegenüber den Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft zurückgeblieben war. Er vermutete, daß es zu einer Entwicklungsverzögerung von vielen Jahrzehnten gekommen war, bevor im Militär jener Grad an sozialer Mobilität und Leistung, also jener Grad der Professionalisierung erreicht wurde, der in der Wirtschaft bereits vor der Jahrhundertwende in Deutschland gegeben war. Gegenüber dieser Beobachtung kann für die letzte Phase der Bundeswehr festgestellt werden, daß sich das heutige Militär diesem säkularen, strukturellen Wandel angepaßt wie nie zuvor in der neueren Geschichte. Der vierte Versuch in Deutschland seit Beginn des 19. Jahrhunderts, eine Militärreform nach liberalen und demokratischen Prinzipien zu installieren, gelang in der Phase nach 1949 in der Bonner Republik zunächst weitgehend formal, weil sie die grundrechtlichen Bestimmungen des Grundgesetzes in einem Reformgesetzeswerk (1955-1956) auch für die Bundeswehr anzuwenden fähig war. Gleichwohl zählt es zur Signatur der Bundeswehr, wesentliche inhaltliche und strukturelle Implikationen ihrer gesellschaftlichen und politischen Legitimation, die ihr Wolf Graf von Baudissin in den frühen fünfziger Jahren programmatisch mit den Begriffen der >Inneren Führung< und des >Bürgers in Uniform< mit auf dem Weg gegeben hatte, vernachlässigt, ausgeblendet, gar nicht realisiert zu haben. Daher galt der »vierte Anfang« der Militärreform, um mit den Worten von Adolf Heusinger als einem der >Gründungsväter< der Bundeswehr zu sprechen, am Ende der sechziger Jahre eigentlich als »gescheitert«. Es

Militärreformen in Deutschland

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bedurfte der weiteren breiten Initiative von 1969, um unverzichtbare Essentials der Militärreform erneut zu entwerfen und zu verwirklichen. In Etappen fand die Ausweitung der bundesdeutschen Konstitution auf das staatliche Instrument der Macht statt — gewissermaßen eine nachholende Reform des Militärs. Die Militärreform prägt die Bundeswehr insgesamt, zeichnet ihre zeitgemäße Gestalt einer modernen Armee in der Republik. Vor dem Hintergrund der eigenen Geschichte der Bundeswehr und der besonders >geladenen< Militärgeschichte ist das Gelingen der Militärreform eines der herausragenden Kennzeichen für das Militär in Deutschland überhaupt. Dies gehört zur Tradition der politischen Kultur nach 1945 und zum Sinn dessen, was Neuanfang oder Stunde Null genannt wurde. Um so überraschender fällt auf, daß nicht nur in der Bundeswehr das historisch Einmalige dieser Armee in ihrer Beziehung zu Staat, Politik und Gesellschaft mancherorts nicht angemessen (selbst-)bewußt ist, sondern auch außerhalb an manch Wesentlichem vorübergegangen wird. So in dem renommierten Werk über die »Geschichte der Bundesrepublik Deutschland«, in dessen Band über »Die Ära Brandt« die Bundeswehr mit ihrer Reform einfach fehlt. Eine Bilanz der inneren Reformen der sozial-liberalen Koalition wird aufgemacht, auch die Bildungspolitik analysiert, Erwartungen den Realitäten gegenübergestellt, der theoretische Eifer beklagt — aber das Militär wird, wie so häufig in der universitären Perspektive der Geschichte, ausgeklammert. Die Militärreform der Bonner Republik hat die Verhältnisse gewandelt, die zum Sonderleben des Militärs gegenüber der Politik, aber vor allem gegenüber der Gesellschaft geführt hatten. Hans Herzfeld hat das historische Defizit ziviler Elemente wegen der mangelnden gesellschaftlich-militärischen Integration herausgearbeitet und mit Bezug auf Leopold von Ranke darauf hingewiesen, »daß die Struktur des Heeres und das gesamte innere Leben der Staaten auf das engste zusammenhängen«. Während das Verhältnis von Staat und Heer »aus dem charakteristischen Wurzelboden« Preußen-Deutschlands eines der großen Themen gewesen sei, habe »allerdings die gesellschaftliche Seiten der Entwicklung demgegenüber bis in die neueste Zeit verhältnismäßig im Schatten« gestanden. Seit 1950 stand der »vierte Anfang« der Militärreform, nämlich der Entwurf für die Streitkräfte in der Demokratie unter dem Signum der Kongruenz von Militär-, Staats- und Gesellschaftsverfassung; mit der sozialen und bildungspolitischen Öffnung durch die Reform von 1969 trat die gesellschaftliche Intregation des Militärs aus ihrem Schatten heraus. Ein Meilenstein der Militärreformen wurde errichtet.

Ausgewähltes Literaturverzeichnis Detlef Bald, Der deutsche Offizier. Sozial- und Bildungsgeschichte des deutschen Offizierkorps im 20. Jahrhundert, München 1982.

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Detlef Bald

Ders., Militär und Gesellschaft 1945-1990. Die Bundeswehr der Bonner Republik, BadenBaden 1994. Innere Führung. Zum Gedenken an Wolf Graf von Baudissin, hrsg. von Hilmar Linnenkamp und Dieter S. Lutz, Baden-Baden 1995. Mathias Jopp, Militär und Gesellschaft in der Bundesrepublik. Das Beispiel der Bildungsreform, Frankfurt a.M. 1983. Militär als Lebenswelt. Streitkräfte im Wandel der Gesellschaft, hrsg. von Wolfgang R. Vogt, Opladen 1988. Die Neuordnung von Bildung und Ausbildung in der Bundeswehr, hrsg. von Karl-Ernst Schulz, Baden-Baden 1982. Tradition und Reform im militärischen Bildungswesen. Von der Preußischen Allgemeinen Kriegsschule zur Führungsakademie der Bundeswehr. Eine Dokumentation 18101985, hrsg. von Detlef Bald u.a., Baden-Baden 1985.

Willi Weiskirch Staatsbürger in Uniform Als ich Anfang der fünfziger Jahre — Konrad Adenauer war seit einem knappen Jahr Bundeskanzler in Bonn — zum ersten Mal von einer möglichen »Wiederbewaffnung« der jungen Bundesrepublik Deutschland hörte, gab es für mich nur eine Antwort: Alles daransetzen, um so etwas zu verhindern. Ich war als 22jähriger schwerverwundet aus dem Krieg heimgekommen; meine gleichaltrigen Kameraden hatten in der Mehrheit das Ende gar nicht mehr erlebt. Es bot sich mir auch sofort eine Gelegenheit, in aller Öffentlichkeit gegen neue deutsche Streitkräfte anzugehen; denn ich war ausersehen worden, als Student der Zeitungswissenschaft die Chefredaktion des — so hieß es — »Zentralorgans« des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend mit dem Titel »Die Wacht« zu übernehmen. Die Schrift im Zeitungsformat hatte — so um die 200 000 — eine beachtliche Auflage und auf die von mir mitrepräsentierte Nachkriegsgeneration einen großen Einfluß. Was also lag für mich, den an Krücken daherhumpelnden und immer wieder einmal operierten Ex-Soldaten, näher, als in immer neuen, scharfen Artikeln gegen neue deutsche Truppen zu polemisieren? Ich habe weder in Leserbriefen, noch in Aussprachen mit meinen Freunden aus der katholischen Jugendbewegung auch nur ein einziges Widerwort erfahren; im Gegenteil: ich konnte mir des Beifalls immer sicher sein. Indes: die Geschichte nahm ihren Lauf. Noch gab es vorerst keine Bundeswehr. Aber 1954 trat unser Land der NATO bei, weil damit unsere Solidarität mit dem freiheitlichen Westen dokumentiert und ein Signal gegen den hochgerüsteten kommunistischen Osten gesetzt werden sollte. Für mich selbst trat ein Ereignis ein, mit dem ich zu allerletzt gerechnet hätte. Ich erhielt aus dem Palais Schaumburg einen Anruf, daß mich der Bundeskanzler einmal sprechen möchte. Ein Termin wurde vereinbart und ich erschien bei Konrad Adenauer. Ohne Umschweife kam er zur Sache. Er habe deshalb besonderes Verständnis für mich, sagte er zu Beginn unseres Gespräches, weil er wisse, daß ich als engagierter Katholik — ich hieß überall nur »der katholische Weiskirch« — unter normalen Umständen den Kriegsdienst wohl verweigert hätte. Und meine schwere Verwundung habe ja wohl ein übriges dazu beigetragen, daß ich mich jetzt mit aller Macht der Schaffung neuer deutscher Streitkräfte widersetze. Dann jedoch erklärte mir Konrad Adenauer in aller Ausführlichkeit, warum es eine Bundeswehr im westlichen Bündnis geben müsse: ausschließlich zur Sicherimg des Friedens und zur Wahrung unserer noch so jungen Freiheit. Meine gelegentlichen Einwände konnte er überzeugend entkräften. Nachdem anderthalb

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Willi Weiskirch

Stunden vergangen waren, bat ich den Kanzler, zwei Freunde hinzuzuziehen, die stets meine Meinung vertreten hätten und die ich nun seine, des Kanzlers Argumente hören lassen möchte. Der eine: Heinrich Köppler, der allzu früh verstorbene spätere CDU-Oppositionsführer in Düsseldorf. Der andere: der ebenfalls in noch jungen Jahren gestorbene CSU-MdB Emil Kemmer. Beide waren dann mit von der Partie; und am Ende hatte uns Konrad Adenauer überzeugt: Wir brauchen deutsche Soldaten. Aber — das war die Frage, die wir auch dem Bundeskanzler stellten: Wie sollen diese Soldaten aussehen? Eines stand für uns von vornherein fest: den Typ, den die Reichswehr der Weimarer Republik oder die Wehrmacht HitlerDeutschlands hervorgebracht hatte, durfte es unter keinen Umständen wieder geben. Der Soldat der neuen Bundeswehr sollte zwar alle Pflichten eines Staatsbürgers erfüllen, aber auch alle ihm zustehenden Rechte behalten. Der vom Bundeskanzler Konrad Adenauer (r.) nach einem der Gespräche über die deutsche Wiederbewaffnung. Neben ihm (ν. r. nach l.) der verstorbene CSU-MdB Emil Kemmer, Willi Weiskirch und Heinrich Köppler, der früh Oerstorbene CDU-Oppositionschefin Düsseldorf

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Grafen Baudissin geprägte Begriff vom »Staatsbürger in Uniform« traf exakt unsere Vorstellung. Ich habe, nachdem mich das Kanzler-Gespräch von der Notwendigkeit des deutschen Verteidigungsbeitrages im westlichen Bündnis überzeugt hatte, eine Broschüre geschrieben, die große Beachtung und eine weite Verbreitung gefunden hat. Ihr Titel: »Nie wieder Kommiß«. Daraus ein kleiner Ausschnitt: »Wer ein wenig vom Geist der Demokratie mitgekriegt und wer begriffen hat, daß sie im Grunde nichts anderes bedeutet als die gemeinsame Verantwortung aller Bürger für das gemeinsame Wohl, der wird die allgemeine Wehrpflicht weder für ein Überbleibsel aus Diktatorenzeiten noch für einen ungebührlichen Eingriff in die privatesten Rechte, sondern für eine Notwendigkeit halten. Selbst die >demokratischsten< Demokratien — die Schweiz an der Spitze — holen ihre jungen Bürger zu den Waffen, ob es ihnen gelegen kommt oder nicht, ob sie es für notwendig halten oder nicht. Und auch wir werden uns dieser Notwendigkeit nicht verschließen können. Seit neunzehnhundertfünfundvierzig ist — wie gesagt — allerhand passiert. Wir leben nicht in einem Wolkenkuckucksheim. Wir können die bitteren Tatsachen nicht aus der Welt reden. Und wir können ebensowenig verlangen, daß notfalls die Amis und die Engländer, die Franzosen und die Holländer unser Haus vor Dieben und Einbrechern schützen. Wir müssen uns die Freiheit schon ein wenig kosten lassen. Sie wird uns nicht geschenkt — uns so wenig wie den anderen. Verlangen können wir nur eines: daß die neuen Soldaten nicht erst wieder das Lazarett aufsuchen müssen, wenn sie für ein paar Tage einmal richtige Menschen sein wollen. Wenn schon die Technisierung einen neuen Typ des Soldaten fordert — um wieviel mehr dann das Instrument, das zur Verteidigung der Menschenrechte geschaffen wurde, das keinen anderen Ausgang und kein anderes Ziel kennt als die Freiheit! Wenn schon die technische Apparatur der neuen Truppe auf dem guten, ehrlichen und anständigen Teamwork begründet ist — um wieviel mehr dann jene neue Truppe, die ohne den Geist der >guten Nachbarschaft und der Menschlichkeit sinnlos wäre. Wenn schon die Technik den schnauzbärtigen Spieß und den Schinder ad absurdum führt — um wieviel mehr dann die neue Verteidigungsgemeinschaft; denn wenn in ihren Reihen die Freiheit und die Menschenwürde mit Füßen getreten werden — ausgerechnet jene Werte, um deren Verteidigung willen sie überhaupt geschaffen wurde, dann sollten wir alle Hoffnung fahren lassen! Als ich mich vor vielen Jahren mit einem Freund, der es zum Hauptmann gebracht hatte, über derlei Dinge unterhielt, bekam ich eine merkwürdige Antwort. >Du vergißtdaß es bei >Preußens< so etwas wie Disziplin und Härte geben muß. Und wo ein Soldat zurechtgehobelt wird, da müssen auch Späne fliegen. Ich denke doch, daß du mit einiger Überlegung ebenfalls zu dieser Meinung gelangst.* Ich bin nie zu dieser Meinung gelangt. Ich werde auch nie begreifen, weshalb — beispielsweise der Umgangston — den simpelsten Gesetzen des Anstandes widersprechen muß, wenn es um die Disziplin geht. Als ich eines Tages das zwei-

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feihafte Vergnügen hatte, mich wegen eines neuen Malariaanfalls im Krankenrevier melden zu müssen, ereignete sich folgendes merkwürdiges Episödchen. >Was wollen Sie?< >Ich habe Malaria, Herr Feldwebel!< >Was haben Sie?< >Malaria, Herr Feldwebel!< >Sie lügen. Ich sehe schon mit einem Blick, daß Sie schlimmstenfalls eine leichte Angina haben. Wahrscheinlich haben Sie aber gar nichts, sondern wollen sich bloß drücken. Das kennen wir ja, mein Lieber! < >Ich möchte Sie bitten, mich dem Arzt vorzustellen, Herr Feldwebel!< >Halten Sie gefälligst den Mund! Ob Sie dem Arzt vorgestellt werden, entscheide ich. Verstanden?< >Jawoll, Herr Feldwebel! < >Machen Sie mal den Mund auf!< >Ich habe keine Angina, ich habe Malaria! < >Sie sollen den Mund aufmachend Ich machte den Mund auf. Während der Feldwebel meinen Rachen musterte, betrat der Stabsarzt das Revier. > Achtung! < rief der Feldwebel und meldete. Mit mir standen alle anderen wie die Puppen. >Der hier behauptet, Malaria zu haben, Herr Stabsarzt! Leichte Angina hat er. Aber durchaus dienstfähig! < Der Arzt nickte. >Wenn Sie Malaria hätten, sähen Sie anders aus. Angina also!< Ich habe wirklich Malaria, Herr Doktor! < Stabsarzt und Feldwebel zerstörten mich gleichzeitig mit harten Blicken am Boden. Ich hatte >Herr Doktor!< gesagt. Ich mußte erklären, wer mich ausgebildet habe, mußte mehrere Male schneidig: >Jawoll, Herr Stabsarzt! < üben und wurde zur Kompanie zurückgeschickt. Ich hatte wirklich Malaria. Drei Tage später war ich im Lazarett. Als ich dort erzählte, was sich auf dem Revier zugetragen hatte, grinsten sie. >Alles wegen der Disziplin! < meinte der Chefarzt: >Und wenn hundert Mann krepieren: Disziplin muß sein!< Dabei schüttelte er den Kopf. >Wie heißen Sie?< erkundigte er sich dann. Ich nannte meinen Namen und sagte: >Herr Doktor! < Wir müssen begreifen lernen, wie wenig sich Menschlichkeit und Disziplin gegenseitig ausschließen. Der junge Staatsbürger, der morgen oder übermorgen die Uniform anziehen muß, darf nicht zum Spielball von Verordnungen, Dienstvorschriften und überkommenen Vorstellungen werden. Er bleibt Bürger — mit allen Pflichten, aber auch mit allen Rechten, die er hatte, als er noch den Graugestreiften oder den Trenchcoat trug. Er muß sich rechtfertigen und beschweren, er muß anklagen und sich verteidigen können. Der Staatsbürger in Uniform ist ein Bürger, den die Sorge um das Wohl der Allgemeinheit zwingt, für etliche Monate unter besonderen — nicht immer gerade angenehmen und erstrebenswerten — Umständen zu leben. Diese besonderen

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Umstände — und wer wäre nicht einsichtig genug, das zu begreifen? — erfordern gewisse Einschränkungen, gewisse Umstellungen, gewisse Rücksichten.« (Anmerkung: Die geschilderte Episode aus seiner Broschüre »Nie wieder Kommiß« hat folgenden Hintergrund: Weiskirch war tatsächlich 1942 in Südrußland an einer schweren Malaria erkrankt und wurde ins Tropenlazarett nach Berlin verlegt. Nach einem Rückfall [so die geschilderte Szene] mußte er dort ein zweites Mal stationär behandelt werden.) Ich selbst habe mich von 1985 bis 1990 als der vom Parlament mit der gebotenen absoluten Mehrheit (»Kanzlermehrheit«) gewählte Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages aktiv um die Wahrung dieser Prinzipien kümmern können und gekümmert. Und das ist der Wehrbeauftragte: eine wichtige Institution. Wer in den fünfziger Jahren die damals für unser Land noch neuartige und ungewohnte Einrichtung mit Skepsis betrachtet haben sollte, dürfte inzwischen seine Meinung geändert haben. Mit dem Wehrbeauftragten ist — zum Nutzen der Soldaten — ein großer Wurf gelungen, und zwar vor allem für die jungen Wehrdienstleistenden, die mit 47 Prozent praktisch die Hälfte aller Bundeswehrsoldaten stellen und die besondere Fürsorge beanspruchen können. Wer die jährlichen Berichte des Wehrbeauftragten gelesen hat, der weiß, wieviel er in den vergangenen Jahren an Mißständen in den Streitkräften aufgedeckt, an Fehlleistungen angeprangert, an direkten Hilfen geleistet und vor allem an wichtigen Revisionen und Veränderungen bewirkt hat. Ich möchte aber einige allgemeine Bemerkungen hinzufügen. Der Wehrbeauftragte ist in erster Linie der Anwalt der Soldaten, wenn sie sich in ihrer menschlichen Würde verletzt oder ungerecht behandelt fühlen. Er hat darüber zu wachen, daß in unseren Streitkräften die Prinzipien der Inneren Führung geachtet werden. Von ihm erwarten die Soldaten unbeeinflußten Rat und — wenn es darauf ankommt — Fairneß und Stehvermögen. Zu seinen Obliegenheiten gehört aber auch die Sorge um ein gutes und ungestörtes Verhältnis zwischen den Streitkräften und ihrer gesellschaftlichen Umwelt. Und da wird niemand mehr so ohne weiteres sagen wollen, daß in dieser Hinsicht noch alles in Ordnung, noch alles im Lot wäre. Zwar hat es in den letzten Monaten — gottlob — keine spektakulären oder gar gewalttätigen Aktionen gegen Gelöbnisfeiern mehr gegeben. Aber die Diskussion aus der Gründerzeit der Bundeswehr, ob und wie sich die Streitkräfte in die Gesellschaft einordnen ließen, ist plötzlich wieder aufgeflammt. Der Wehrbeauftragte Alfred Biehle hat in seinem Bericht auf diesen beunruhigenden Sachverhalt hingewiesen. Er meinte wörtlich: »Der in den Streitkräften nie ganz verschwundene Zweifel, ob die Gesellschaft sie tatsächlich angenommen habe, hat neue Nahrung erhalten.« Es ist sicherlich vor allem die Aufgabe der demokratischen Parteien, darüber hinaus aber auch aller gesellschaftlichen Kräfte im Lande, die Bundeswehr davor zu bewahren, in eine nichtgewollte und gefährliche Isolierung zu geraten. Manche Friedensdiskussionen begünstigen, bewußt oder unbewußt, eine solche Entwicklung, indem sie die friedenssichernde Funktion unserer Streitkräfte und

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ihrer Soldaten ignorieren oder verzerren. Aber wenn es auch in den Medien wie in der Öffentlichkeit — Gott sei Dank — einen zunehmenden Trend gegen eine solche Fehlzeichnung der Bundeswehr und ihrer Aufgaben gibt, so ist es doch beruhigend zu wissen, daß eine Institution sozusagen von Amts wegen Wache hält und notfalls Alarm schlägt: eben der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages. Ich möchte noch einmal nachdrücklich betonen, daß sich der Rang des Wehrbeauftragten vor allem auf die große parlamentarische Mehrheit stützt, die den Amtsinhaber legitimiert.

Helmuth Möhring Reservist — Reservistenverband Kriegsende Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt: »Seit Mitternacht schweigen nun an allen Fronten die Waffen«. 9. Mai 1945. Die allerletzte offizielle Mitteilung an die noch nicht besetzten Teile deutscher Bevölkerung. Dann schweigt endgültig auch dieser »Großdeutsche Rundfunk« mit seinen Fanfaren und Sondermeldungen, die bis dato Mut machen sollten. Ich stehe am Fenster des Stabsgebäudes Oberkommando Dänemark und schaue irritiert auf eine unübersehbare Menschenmenge, die seit gestern abend in allen Straßen zusammenströmt, ununterbrochen jubelt, sich in die Arme fällt. Befreit — endlich befreit. Von uns — ihrer Kriegsbesatzung. Mir ist elend zumute — was wird aus mir? Zum ersten Male denke ich an mich. Bin bereits 23 Jahre alt. Schon als Schüler 1938 freiwillige Bewerbung — Berufswunsch: Soldat. Nichts »Ordentliches« gelernt. An der Front ausgewählt zum Reserve-Offizier. Im Landserjargon: VOMAG = Volksoffizier mit Arbeitergesicht. Dann »Reserve-Offizier-Bewerber« (ROB) und Fahnenjunker. Zugführer. Nach Kriegsschulende sollte ich zum Leutnant der Reserve ernannt werden. Nun ernennt hier niemand mehr — auch nicht zum »d.R.«. Vorbei 6 Jahre Krieg, vorbei Illusion Soldatenberuf — dafür Gefangenschaft.

Neuanfang Entlassung, Bäckerlehre im väterlichen Betrieb — Geselle. Neu: Demokratie, Parteien, Abwägen politischer Angebote, Entscheidung — Engagement. 1948 Wahl zum Bürgermeister meines Heimatdorfes in der Lüneburger Heide. Man munkelt von neuen deutschen Soldaten. Nicht zur Eroberung, zum Schutz von Demokratien. Auch unserer. Es gilt, Europa zu verteidigen. Welches Europa? Das vereinigte nach Vorstellung Churchills oder das der Vaterländer von de Gaulle? Alles ist furchtbar unsicher. Besonders auch die eigene Lebensplanung.

»Nie wieder Krieg« Frage mich, ob ich wieder dabei sein sollte — beim Schutz der Demokratien. Aber — falle ich wieder auf Demagogen rein? Uns fehlt jegliche Erfahrung. Bin

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Helmuth Möhring

aber, wie viele der Frontsoldaten, äußerst mißtrauisch. Die Briten drücken mir bei der Entlassung ein Merkblatt in die Hand: »Deutschland führt nie wieder Krieg!« Einverstanden — dies ist auch mein fester Wille. Mein »Wieder-Dabeisein« könnte einen Sinn bekommen, würde der Auftrag lauten, Kriege zu verhindern!

Bewerbung Wir schreiben 1952. Am 18. Juni Bewerbung um Einstellung in »aufzustellende Einheiten des Deutschen Truppenkontingents der Europa-Armee«. So soll man an die Bundesregierung schreiben, habe ich irgendwo gelesen. Es antwortet: »Bundeskanzleramt. Der Beauftragte des Bundeskanzlers für die mit der Vermehrung der alliierten Truppen zusammenhängenden Fragen«. »Zur Zeit stehen der Dienststelle leider noch nicht genügend Kräfte für eine Bearbeitung der Bewerbungen zur Verfügung. Die Dienststelle Blank hat nicht die Aufgabe und Befugnis, auf personellem Gebiet Entscheidungen vorwegzunehmen, die erst dann getroffen werden können, wenn ihr nach Abschluß der außenpolitischen Verhandlungen über einen Verteidigungsbeitrag durch die gesetzgebenden Organe der Bundesrepublik ein entsprechender Auftrag erteilt worden ist. Falls es zu einer Aufstellung deutscher Kontingente kommt, wird rechtzeitig durch öffentliche Bekanntmachung [...]« usw. Kurze Zeit später folgen umfangreiche Frage- und Bewerbungsbogen. Dann drei Jahre Schweigen. Rückfragen sinnlos — so im Anschreiben. Erst 1955 teilt mir das »Bundesministerium für Verteidigung« meine unverbindliche Vormerkung mit.

Neue Lebensplanung — politische Verantwortung Da hat sich mein Berufsleben bereits verändert: Meine neue Tätigkeit ist die eines hauptamtlichen Parteigeschäftsführers. »Soldat — ade?« Beruflich: ja — der Reserve: nein. Die volle gesellschaftliche Integration des Soldaten und die Anwendung von Artikel 1 unserer Verfassung — »die Würde des Menschen ist unantastbar« — auch auf ihn. Dies treibt mich um. Und die Möglichkeit des Bürgers, dies jederzeit kontrollieren zu können. Erinnerungen an meine eigene, oft menschenverachtende Behandlung als Rekrut sind mir warnender Hintergrund. »Nagold« ist später erstes Negativ-Beispiel.

Soldatenrechte? Andernach — Einberufung der ersten Soldaten der Deutschen Bundeswehr. Die alte Garnisonsstadt Lüneburg beherbergt seit einiger Zeit den Bundesgrenzschutz (BGS). Der nahen Zonengrenze wegen. Die Bundeswehr ist entfernter

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stationiert — in Munster/Lager. Auch wegen der Zonengrenze. Ich möchte wissen, wie es um die Rechte des Soldaten bestellt ist. Zeitungen berichten von der Gründung eines »Bundeswehr-Verbandes« in Munster. Mit Gewerkschaftlern statte ich der neuen Panzer-Truppen-Schule einen Besuch ab. Stehe zum ersten Male einem Bundeswehr-Offizier gegenüber. Mausgraue Uniform Marke Dorfpostbote — ohne jedes »Lametta«. Brigadegeneral Pape. Höre nur Gutes vom »Soldaten der Demokratie« — kein Wunder, gehört er doch zu den Gründern des Deutschen Bundeswehr-Verbandes (DBwV). Aber auch ungewohnt Kritisches zum »gebrochenen Verhältnis der Zivilisten und Parteien zum Wehrgedanken und den Soldaten«. In der Wehrmacht undenkbar. Beeindruckend, die erste Begegnung mit diesem eigenwilligen General. Höre aber auch, daß sich die ersten Soldaten noch kaum in Uniform auf die Straße wagen. Setzen sich manchmal regelrechtem Spießrutenlaufen aus. Man will noch nicht wieder Soldaten sehen — erinnern zu sehr an Krieg.

Staatsbürgerlicher Unterricht Nun hat auch Lüneburg Soldaten. Eine Gruppe »Meinungsbildner und öffentliche Personen« darf einem »Staatsbürgerlichen Unterricht beiwohnen«. Zum ersten Male nach dem Kriege betrete ich wieder Kasernenräume. Ausbilder-Gebrüll weitgehend verschwunden, Bohnerwachsgeruch wie gehabt. Im U-Raum wie eh und je unausgeschlafene, uninteressierte Montags-Rekruten, kerzengrade auf mitgebrachten Stubenschemeln ohne Lehne. »Achtung« vom Spieß, Meldung an den uns begleitenden Chef, — auch wie früher. Dieser junge, vom BGS konvertierte Berufssoldat erklärt »Demokratie«. Ein bißchen holperig — aber auch wir haben noch Defizite. Derweil schläfriges Rekrutenblinzeln, ein Auge zum Chef, eins zu uns. Gerade, als wir wieder gehen wollen, da dieser Unterricht sich von einer langweiligen Schulstunde nur durch Uniformträger unterscheidet, wird es lebhaft. Chef: »Was macht ihr, wenn plötzlich der Feind auftaucht?« Stille, Ratlosigkeit. Da zieht er seine Pistole, schießt gegen die Decke — eine Platzpatrone verbreitet Knall und Rauch in Raum und Ohren. Unwillkürliches Zusammenzucken kriegsungewohnter öffentlicher Personen. Die Rekruten schlagartig flach unter den Schemeln — anscheinend vorgeübt. Zufrieden verabschiedet uns der Chef: »Meine Herren, Sie haben soeben das Beispiel unserer kampfnahen Ausbildung auf dem Hintergrund konzeptionell demokratischer Begründung erleben dürfen. Ich wünsche Ihnen einen guten Heimweg«. Den künftigen Reservisten wird dieses Ausbildungserlebnis haften geblieben sein. Mir auch.

Erste Wehrübung Solche Art neuer inhaltlicher Dienstgestaltung weckt meine Neugier — wage die erste Wehrübung. Zweimal vier Wochen, der nachzuprüfenden soldatisch-

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Helmuth Möhring

demokratischen Eignung wegen. Einplanung: Zugführer und Chef-Stellvertreter. Später S-4. Begrüßungsbemerkung des Chefs bei Dienstantritt: »Hören Sie etwas vom >Inneren GewürgeKonzeptaktiver Wehrmachtsgeistlichen wieder entstehen.« Neben den Verhandlungen mit der Dienststelle Blank über alle Fragen einer zukünftigen Militärseelsorge hatte der Rat der EKD im Mai 1953 einen Ausschuß bestellt, der die notwendige Beteiligung der Landeskirchen sicherstellen sollte. Dieser Ausschuß wurde jeweils von den Ergebnissen der Verhandlungen mit der Dienststelle Blank unterrichtet, entwickelte seinerseits Vorstellungen, die dann über den Rat der EKD in die Verhandlungen eingebracht wurden. Während dieser Verhandlungen trat am 6. Mai 1955 die Bundesrepublik Deutschland offiziell der NATO bei. In dieser militärischen Blockbildung wurde nicht nur von der evangelischen Kirche, sondern von einer breiten, über die

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Kirche hinausgehenden Opposition in Gewerkschaften, Parteien und im Parlament die Gefahr gesehen, die Wiedervereinigung endgültig zu verspielen. Dazu erklärte die Synode der evangelischen Kirche am 11. März 1955 in Espelkamp: »Wir sind nicht in der Lage, in der Vollmacht der Kirche den politischen Weg aufzuzeigen, der die Erreichung dieses Ziels (der Wiedervereinigung, der Verf.) verbürgte. Es bereitet uns auf dieser Synode große Not, daß unsere Ansichten über den politischen Weg auseinandergehen. Vor allem aber können wir nicht eine politische Erkenntnis, und sei sie noch so wichtig, in der Autorität des Wortes Gottes geltend machen. Wir müssen auch vielmehr davor warnen, eine politische Meinung als Gottes Wahrheit ausgeben zu wollen.« Mit dieser Unterscheidung zwischen politischer Meinung und politischer Ermessensentscheidung auf der einen Seite und dem Anspruch, Gottes Wahrheit zu verkündigen, auf der anderen Seite hat die evangelische Kirche auch später immer wieder versucht, ihre kirchliche Einheit zu bewahren. Am 27. Februar 1957 unterzeichneten in Bonn für die EKD der Ratsvorsitzende, Bischof Otto Dibelius, und der Präsident der Kirchenkanzlei, Heinz Unterzeichnung des Militärseelsorgevertrags am 22. Februar 1957. Am Tisch sitzend von links: Bischof Otto Dibelius, Präsident Heinz Brunette, Verteidigungsminister Franz Josef Strauß, Bundeskanzler Konrad Adenauer

Eine Debatte mit offenem Ausgang: das Ringen um den Militärseelsorgevertrag

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Brunotte, und für den Staat Bundeskanzler Konrad Adenauer und Verteidigungsminister Franz Josef Strauß den Militärseelsorgevertrag. Im Jahr davor hatte die praktische Arbeit der Militärseelsorge schon damit begonnen, daß der Rat der EKD am 16. und 17. Januar 1956 Prälat Hermann Kunst zum vorläufigen Militärbischof ernannte. Am 4., 6. und 10. April 1956 wurden die ersten Wehrbereichsdekane berufen und am 10. April 1956 wurde durch Erlaß des Bundesverteidigungsministeriums das Evangelische Kirchenamt für die Bundeswehr geschaffen. Gefährdet wurden die gesamten Verhandlungen noch einmal auf der außerordentlichen Synode der EKD vom 27. bis 29. Juni 1956 in Berlin, auf der über die allgemeine Wehrpflicht verhandelt wurde. Auch hier standen die Auswirkungen der allgemeinen Wehrpflicht in Ost und West im Blick auf die Einheit Deutschlands im Mittelpunkt. Es gab in diesem Zusammenhang eine Eingabe, alle bisher zum Aufbau der Militärseelsorge unternommenen Schritte rückgängig zu machen, die dann allerdings nicht verhandelt wurde.

Der Vertrag Die wesentlichen Bestimmungen des Vertrages der Bundesrepublik Deutschland mit der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Regelung der Evangelischen Militärseelsorge sind: »Die Militärseelsorge als Teil der kirchlichen Arbeit wird im Auftrag und unter Aufsicht der Kirche ausgeübt (Art. 2, Abs. 1).« »Der Staat sorgt für den organisatorischen Aufbau der Militärseelsorge und trägt ihre Kosten (Art. 2, Abs. 2).« »Die kirchliche Leitung der Militärseelsorge obliegt dem Militärbischof (Art. 10).« »Die Militärgeistlichen stehen in einem geistlichen Auftrag, in dessen Erfüllung sie von staatlichen Weisungen unabhängig sind [...] (Art. 16).« »Nach der Erprobungszeit werden die Militärgeistlichen in das Beamtenverhältnis auf Zeit berufen; soweit sie dauernd für leitende Aufgaben in der Militärseelsorge verwendet werden sollen, werden sie in das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit berufen (Art. 19, Abs. 1).« »Die [...] Militärgeistlichen werden für sechs bis acht Jahre in das Beamtenverhältnis berufen. Mit Ablauf der festgesetzten Amtszeit endet das Beamtenverhältnis. Die Amtszeit kann um höchstens vier Jahre verlängert werden; [...] (Art. 19, Abs. 3).« Auf der Synode der EKD vom 3. bis 8. März 1957 in Berlin-Spandau wurden der Militärseelsorgevertrag sowie das erforderliche Kirchengesetz zur Regelung der Evangelischen Militärseelsorge in der Bundesrepublik Deutschland diskutiert. Es kam erneut zu einer kontroversen Grundsatzdiskussion, die darin begründet war, daß die Synode, wie bei Staatsverträgen üblich, dem Vertrag nur noch als Ganzes zustimmen oder ihn ablehnen konnte ohne die Möglichkeit,

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Peter H. Blaschke

Einzelheiten zu verändern. Die mit dem Militärseelsorgevertrag verbundene grundsätzliche Sorge vieler Synodaler kam noch einmal am Schluß des Berichtes zum Ausdruck, den der Berichterstatter des betreffenden Synodalausschusses, Dekan Dipper gab: »Wenn es mit diesem Vertrag zu einer Überfremdung des kirchlichen Dienstes in der Militärseelsorge kommt, so ist ernstlich zu fragen, ob dies deshalb geschieht, weil der Vertrag ein ungeeignetes Instrument für ihren Dienst ist, oder nicht vielleicht deshalb, weil es in der Kirche selbst an der geistlichen Kraft fehlt, um ihren Brüdern in der Militärseelsorge mit einem klaren Zeugnis in helfender und zurechtbringender Art, aber auch mit wachsamen Ernst nah zu sein. Wenn es aber daran fehlt, dann wird auch keine andere rechtliche Form der Militärseelsorge das Unheil aufhalten können, das dann die Kirche bedroht.« Die Abstimmung im Plenum der Synode ergab sowohl für den Vertrag als auch für das Kirchengesetz eine überwältigende Mehrheit. Für den Militärseelsorgevertrag stimmten am 7. Mai 91 Synodale bei 18 Gegenstimmen und fünf Enthaltungen. Dem Kirchengesetz zur Regelung der Evangelischen Militärseelsorge stimmten am 8. Mai 1957 87 Synodale bei drei Gegenstimmen und 7 Enthaltungen zu. Im Kirchengesetz zur Regelung der Evangelischen Militärseelsorge in der Bundesrepublik Deutschland wird der Artikel 10 des Militärseelsorgevertrages, nach dem die kirchliche Leitung der Militärseelsorge dem Militärbischof obliegt, dahingehend erläutert, daß im § 10 ausgeführt wird: »Der Militärbischof übt im Auftrag der Gliedkirchen die Leitung der Militärseelsorge und die kirchliche Dienstaufsicht über die Militärgeistlichen aus. Das Amt des Militärbischofs wird nebenamtlich wahrgenommen.« Im Zusammenhang mit der Beschlußfassung über den Militärseelsorgevertrag und das Kirchengesetz wurde von der Synode dann noch der folgende Beschluß gefaßt: »Im Gehorsam gegen ihren Herrn ist die Kirche zu seelsorgerlichem Dienst an allen ihren Gliedern verpflichtet. Diesen Dienst schuldet sie auch den evangelischen Christen in den Streitkräften unseres geteilten Vaterlandes. Darum kann sich die Synode nicht damit abfinden, daß der Kirche die Erfüllung ihres Auftrages gegenüber den Angehörigen der Nationalen Volksarmee in der Deutschen Demokratischen Republik verwehrt wird. Die Synode stellt sich hinter den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland bei seinen Bemühungen, eine Änderung dieses Zustandes zu erreichen.« Damit hatte die Synode auf einen Brief des Ministers für nationale Verteidigung der DDR, Generaloberst Willi Stoph, an den Ratsvorsitzenden der EKD vom 4. März 1957 reagiert, in dem dieser es abgelehnt hatte, über eine Tätigkeit der evangelischen Kirche in der Nationalen Volksarmee zu verhandeln. Da sowohl der Militärseelsorgevertrag als auch das Kirchengesetz zur Regelung der Evangelischen Militärseelsorge Auswirkungen für die beteiligten Gliedkirchen hatten, war nach Artikel 106 der Grundordnung der EKD das Ein-

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Verständnis der einzelnen Gliedkirchen erforderlich. Vier Gliedkirchen hatten ihr Einverständnis schon vor der Spandauer Synode erklärt. Die restlichen gaben ihre Zustimmung im Laufe des Jahres 1957. Einzige Ausnahme war die Kirche von Hessen-Nassau. Die endgültige Zustimmung dieser Kirche verzögerte sich, bedingt durch Vorbehalte der Synode gegen Vertrag und Kirchengesetz, bis zum 26. April 1960. Das Bundesverteidigungsministerium hatte seinerseits dem Bundeskabinett Anfang 1957 den Entwurf eines Gesetzes über die Militärseelsorge vorgelegt, der am 11. April 1957 verabschiedet wurde. Von seiten des Bundesrates wurde zusätzlich eine negative Saarklausel in den Gesetzentwurf eingefügt. Am 24. Mai beschäftigte sich der Bundestag in erster Lesung mit dem Gesetz und überwies es an die Ausschüsse. Auf seiner Sitzung am 5. Juli 1957 wurde dann das Gesetz in dritter Lesung einstimmig vom Bundestag angenommen. Am 26. Juli 1957 wurde das Militärseelsorgegesetz vom Bundespräsidenten Theodor Heuss verkündet und im Bundesgesetzblatt veröffentlicht.

Die atomare Frage Im Herbst 1957 begann in der Bundesrepublik eine leidenschaftliche Diskussion über die Frage einer atomaren Bewaffnung auch der Bundeswehr. Sie zog sich über das ganze Jahr 1958 hin. Mit dieser Thematik beschäftigte sich auch die Synode der EKD vom 26. bis 30. April 1958 in Berlin. Der Synode lag eine Erklärung der Kirchenkonferenz vor, in der es hieß: »Durch den Beschluß des Bundestages vom 25. März 1958 ist für den Fall, daß alle Bemühungen um eine allgemeine kontrollierte Abrüstung scheitern, die Möglichkeit einer atomaren Aufrüstung der Bundeswehr geschaffen. Die Kirchenkonferenz hält es danach für erforderlich, daß die sich daraus für die Militärseelsorge ergebenden Folgerungen von den beteiligten Gliedkirchen überprüft werden.« In dem Synodalausschuß, der sich mit der Frage der Atombewaffnung beschäftigen mußte, standen sich zwei Gruppen gegenüber: Die eine Gruppe hielt es von vornherein für Sünde, diese Waffen in den Dienst der politischen Gewalt zu stellen. Deshalb müßten die Menschen auch dann auf diese Waffen verzichten, wenn sie möglicherweise für sich selbst und das eigene Volk Leben und Freiheit opferten. Die andere Gruppe hielt es für politisch zumindest erlaubt, angesichts der Tatsache, daß die andere Seite solche Waffen schon besitze, den Gegner mit diesen Waffen abzuschrecken, um so Freiheit und Frieden zu erhalten. Diese grundsätzlichen Positionen kommen in dem Beschluß der Synode noch einmal deutlich zum Ausdruck, der die Verwerfung des mit Massenvernichtungsmitteln geführten totalen Krieges enthält, den Aufruf an die Politiker zu einer allgemeinen Abrüstung, die Bitte um den Stopp aller Atombombenversuche.

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Er schließt mit den Worten: »Wir bleiben unter dem Evangelium zusammen und mühen uns um die Überwindimg der Gegensätze. Wir bitten Gott, er wolle uns durch sein Wort zu gemeinsamer Erkenntnis und Entscheidung führen.« Gleichzeitig wurde der Rat der EKD beauftragt, einen Ausschuß einzusetzen mit dem Auftrag, den Militärseelsorgevertrag zu überprüfen und gegebenenfalls die Militärseelsorge in die ausschließliche Zuständigkeit der beteiligten Landeskirchen zu überführen. Dieser Beschluß war vor allem von den Gliedkirchen der DDR veranlaßt worden. Der daraufhin vom Rat der EKD eingesetzte Ausschuß legte auf der Synode vom 21. bis 26. Februar 1960 in Berlin einen Bericht vor, in dem zunächst festgestellt wurde, daß eine Änderung bzw. Kündigung des Militärseelsorgevertrages nur über die Freundschaftsklausel möglich sei. Artikel 27 des Vertrages lautet: »Die Vertragschließenden werden eine etwa in Zukunft zwischen ihnen entstehende Meinungsverschiedenheit über die Auslegung einer Bestimmung dieses Vertrages auf freundschaftliche Weise beseitigen. In gleicher Weise werden sie sich über etwa notwendig werdende Sonderregelungen verständigen.« Eine Kündigung ist nicht vorgesehen. Man könne sich aber auf Artikel 27 nur berufen, wenn sich die Geschäftsgrundlage entscheidend geändert hätte. Da jedoch schon 1957 bei Abschluß des Vertrages die Möglichkeit einer atomaren Bewaffnung im Blick gewesen sei, könne von einer Änderung der Geschäftsgrundlage nicht geredet werden. Im übrigen unterlägen Staatsverträge in besonderer Weise der Vertragstreue. Im Blick auf die Mitverantwortung der Kirchen der DDR für den Militärseelsorgevertrag bot der Ausschuß den Kompromiß an, daß der Rat der EKD seine die Militärseelsorge betreffenden Befugnisse einem nur aus Mitgliedern westdeutscher Kirchen bestehenden Ausschuß übertragen solle. Einen entsprechenden Beschluß hatte der Rat der EKD schon im März 1959 gefaßt. Auch die Kirchenkonferenz übertrug ihre Befugnisse im Dezember 1959 an die westdeutschen Gliedkirchen. Folgerichtig beschloß dann die Synode 1960: »Der Militärseelsorgevertrag gilt nur für die Gliedkirchen in der Bundesrepublik Deutschland, die ihm zugestimmt haben. Er hat für die Gliedkirchen in der Deutschen Demokratischen Republik keine Wirksamkeit.«

Die Heidelberger Thesen Auf Anregung von Militärbischof Kunst nahm parallel zu diesen innerkirchlichen Diskussionen 1957 eine unabhängige Kommission aus wissenschaftlichen, politischen, militärischen, theologischen und juristischen Fachleuten der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg die Arbeit auf, um zu untersuchen, welche Bedeutung und Auswirkung das Aufkommen der Atomwaffen für die Verantwortung des Soldaten und die Seelsorge an den Soldaten habe.

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Am 29. April 1959 legte diese Kommission ihre Ergebnisse der Öffentlichkeit vor, die als »Heidelberger Thesen« bekannt geworden sind. Die für die Verantwortung des Soldaten entscheidenden Thesen sind: »Wir müssen versuchen, die verschiedenen im Dilemma der Atomwaffen getroffenen Gewissensentscheidungen als komplementäres Handeln zu verstehen (These 6).« »Die Kirche muß den Waffenverzicht als eine christliche Handlungsweise anerkennen (These 7).« »Die Kirche muß die Beteiligung an dem Versuch, durch das Dasein von Atomwaffen einen Frieden in Freiheit zu sichern, als eine heute noch mögliche christliche Handlungsweise anerkennen (These 8).« Was komplementäres Handeln bedeutet, ein aus der Physik abgeleiteter Begriff, hat der evangelische Theologe Edmund Schlink in seinem Beitrag so formuliert: Weder die Ablehnung der Atomwaffen, noch die Bereitstellung zum Zwecke der Friedenssicherung könnten als alleinige Wege des Glaubensgehorsams verstanden werden. Beide Wege könnten den Menschen schuldig werden lassen. Keiner der Wege biete die letzte Sicherheit, das Leben zu erhalten. Nach Schlink würde die ausschließliche Ablehnung der Atomwaffen in der Konsequenz zu einer »staatsauflösenden Schwärmerei« führen und zur Verachtung der Gebote Gottes, des Erhalters. Die ausschließliche Befürwortung dieser Waffen würde die Preisgabe an die Zwangsläufigkeit technischer Macht bedeuten: »Von größter Bedeutung ist die volle kirchliche Gemeinschaft der Christen, die sich in der Verantwortimg vor Gott so oder so entscheiden. Nur in dieser Gemeinschaft bewahrt der eine den anderen vor den spezifischen Gefahren seines Weges. Beide Entscheidungen gehören zusammen. Die Isolierimg je einer von beiden wäre ein Irrweg. Nur in diesem Miteinander brüderlicher Gemeinschaft werden wir neue Wege zur Verhinderung eines Atomkrieges zeigen, die man dann Schritt für Schritt weitergehen kann.« Die Beschwörung dieser Gemeinschaft von Christen, die eigentlich sich gegenseitig ausschließende Gewissensentscheidungen getroffen haben, ist die wegweisende und großartige Leistung dieser »Heidelberger Thesen». Heute wird man rückwirkend feststellen müssen, daß die Kirche allerdings nicht in der Lage war, die Spannungen auszuhalten, die damit für die Gemeinschaft der Christen verbunden waren und sind. Vor allem in den 80er Jahren zerbrach diese Gemeinschaft. Und an ihre Stelle trat die Konfrontation von Christen, die sich ihr Christsein gegenseitig streitig machten und absprachen.

Die beginnende Aushöhlung der »Komplementarität« 1965 war die Evangelische Militärseelsorge erneut Hauptthema der Arbeitstagung der 3. Synode der EKD vom 8. bis 10. November in Frankfurt/Main. Dazu

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hatte der Rat der EKD einen Vorbereitungsausschuß gebildet, der sich über die Lage der Militärseelsorge orientieren und eine Arbeitsgrundlage für die Tagung der Synode erstellen sollte. Aus der Einleitung dieser Arbeitsgrundlage, die vom Vorsitzenden dieses Vorbereitungsausschusses, Präses D. Hans Thimme, vorgetragen wurde, ging deutlich hervor, daß es eigentlich um eine erneute Überprüfung des Militärseelsorgevertrages gehen sollte: »Eine kirchliche Ordnung ist im Wandel der Verhältnisse stets neu hinsichtlich ihrer Angemessenheit und Sachgemäßheit auf Überprüfung und gegebenenfalls auf eine dem eigentlichen Auftrag besser gerechtwerdende Neugestaltung angewiesen». Durch die ganze Vorlage zieht sich mehr oder weniger deutlich das Mißtrauen gegenüber der Militärseelsorge, das zunächst allgemein formuliert wurde: »Gefahr und Versuchung einer Gruppenseelsorge der Kirche besteht darin, daß sie in ihrer Bemühung um Solidarität und Identifizierung mit den ihr je in besonderer Weise anvertrauten Gruppen den um der Freiheit ihrer Verkündigung und ihres Dienstes willen gebotenen Abstand verliert und über das Eingehen auf besondere Gruppenanliegen den Blick auf das Ganze und die Unbefangenheit des nur an Gottes Wort gebundenen Gewissens verliert.« Als Ergebnis seiner Überprüfung der Militärseelsorge mußte der Ausschuß dann allerdings abschließend feststellen: »Bisher sind keine Fälle bekannt geworden, die darauf schließen lassen, daß es zwischen dem, was zum kirchlichen Leben< gehört, und den Obliegenheiten des allgemeinen Dienstes zu schwerwiegenden Reibungen gekommen ist. Es darf der Hoffnung Ausdruck gegeben werden, daß guter Wille, gegenseitiges Vertrauen und die Anerkenntnis dessen, was die Freiheit der Kirche für die Ausrichtung ihres Dienstes bedeutet, dahinführt, daß auch in Zukunft die Botschaft der Kirche uneingeschränkt ausgerichtet werden kann. [...] Bisher hat es unter seiner Gültigkeit (des Militärseelsorgevertrages, der Verf.) geschehen können, daß Verkündigung und Seelsorge der Kirche ungehemmt und unverkürzt unter den Soldaten haben ausgerichtet werden können.« In dem Bericht des Synodalausschusses selbst, der sich dann auf der Arbeitstagung der Synode mit der Militärseelsorge befaßte, wird noch einmal konkret die Sorge vieler Synodaler deutlich, die Militärpfarrer könnten zu Aufgaben herangezogen werden, die nicht ihres Amtes seien, sie könnten in die ideologische Kampfführung einbezogen werden trotz der vertraglich zugestandenen Freiheit. Der Ausschuß würdigt jedoch ausdrücklich die Bedeutung des Dienstes, der in der Militärseelsorge geleistet wird und ruft die Evangelische Kirche in Deutschland und die Gliedkirchen auf, alles zu tun, was die Militärseelsorge unterstützen könne. Daß die mit dem Stichwort »Komplementarität« der Heidelberger Thesen ausgedrückte Gemeinschaft von Christen in der Kirche mit unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Gewissensentscheidungen immer schwerer auszuhalten ist, zeigt sich auf dem 13. Deutschen Evangelischen Kirchentag, der vom 21. bis 25. Juni 1967 in Hannover stattfand. »Friedensdienst mit und ohne Waffen« — das war

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noch einmal eine eingängige Formel für die Gemeinschaft von Christen in der Kirche mit unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Gewissensentscheidungen. Wieweit die Polarisierung jedoch schon fortgeschritten war, zeigt sich in der Feststellung von Klaus von Bismarck, einem der Diskussionsleiter auf diesem Kirchentag: »Wie groß ist z.B. — und das frage ich die Herren der Bundeswehr unter uns — in der heutigen Bundeswehr der Anteil derjenigen, die die kleine Minderheit der Wehrdienstverweigerer nicht nur für arme Irre, sondern für Drückeberger halten? [...] Wie groß ist unter den überzeugten Anhängern des Pazifismus und der Wehrdienstverweigerer der Anteil derjenigen, die im Grunde dem, was hier über eine auf den Frieden gerichtete verantwortliche militärische Führung gesagt wurde, in keiner Weise trauen, weil sie überzeugt sind, daß der Apparat einer bewaffneten Einheit immer wieder einen friedensbedrohenden Soldatengeist hervorbringt?« Zwei Jahre später, 1969, versucht die evangelische Kirche in Deutschland in der Thesenreihe »Der Friedensdienst der Christen« noch einmal, die Komplementaritätstheorie der »Heidelberger Thesen« zu unterstreichen, vor allem was ihren zentralen theologischen Inhalt angeht: »Denen, die den Wehrdienst leisten und denen, die ihn verweigern, ist das Evangelium von der Vergebung zu bezeugen als die Befreiung von aller Selbstrechtfertigung und als Ermutigung zu prüfen, welches der Wille Gottes in diesem politischen Bereich ist.« Zugleich zeichnet sich jedoch in dieser Thesenreihe die dann in den 80er Jahren in der evangelischen Kirche immer deutlicher ausgesprochene Forderimg von der Überwindung des Abschreckungssystems ab, wenn es heißt: »Die Logik der Abschreckungspolitik verliert für den Fall eines atomaren Krieges ihren menschlichen Sinn und ihre sittliche Grundlage: sie diente ja dazu, mit der größtmöglichen Kriegsdrohung gerade den Frieden zu bewahren.« Die zunehmenden Schwierigkeiten in der Kirche, die mit der Komplementaritätsthese verbundenen Spannungen zwischen Christen mit unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Gewissensentscheidungen auszuhalten und eine Polarisation der Gruppen zu verhindern, haben ihre politischen Ursachen in der sich verschärfenden Ost-West-Konfrontation, der damit verbundenen »Rüstungsspirale« und als einem wesentlichen Datum dieser Rüstungsspirale dem NATO-Doppelbeschluß. Angelegt sind sie jedoch in der Formulierung der Heidelberger Thesen selbst. Denn die These 7, »Die Kirche muß den Waffenverzicht als eine christliche Handlungsweise anerkennen«, wird als zeitlose, immer gültige Wahrheit formuliert. Die These 8, in der es um den Versuch, »durch das Dasein von Atomwaffen einen Frieden in Freiheit zu sichern« geht, bezeichnet dies als eine »heute noch mögliche christliche Handlungsweise«. Und in der Friedensdiskussion der 80er Jahre wurde dann die Forderung immer lauter und aggressiver vertreten, daß die Zeit zu Ende sei, wo der Auftrag des Soldaten in der Bundeswehr weder im Sinne eines Friedensdienstes noch als christliche Handlungsweise anerkannt werden könne.

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Die Friedensdiskussion der 80er Jahre Zwar wird in der im November 1981 veröffentlichten Friedensdenkschrift der EKD »Frieden wahren, fördern und erneuern« die Gültigkeit der 8. Heidelberger These noch einmal ausdrücklich bestätigt: »Die Kirche muß auch heute, 22 Jahre nach den >Heidelberger ThesenNuclear Guidelines< — eine wichtige Etappe bei der Suche nach einem strategischen Konsenz im Bündnis.« (Haftendorn, S. 51.) Die Diskrepanz im Bündnis veranlaßte vor allem den Führungsstab der Streitkräfte sowie die Bundesregierung, ihre eigenen Vorstellungen zur Entwicklung der NATO-Strategie auszuarbeiten und auf diese Weise mehr vom Objekt zum Subjekt der Bündnisstrategie zu werden. Der Führungsstab der Streitkräfte erstellte ein Grundsatzpapier mit dem Titel »Strategische Auffassungen in der NATO und der deutsche Standpunkt«. Dieses wurde noch einmal überarbeitet, und Verteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel veröffentlich-

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te im Mai 1965 einen Artikel in den Foreign Äffairs, der die deutsche strategische Grundhaltung verdeutlichte. Hassel forderte eine stufenweise Abschreckung, die er »graduated deterrence« nannte. Er hatte nichts gegen eine flexible Antwort einzuwenden, wollte aber die Schwelle zum Nukleareinsatz nicht zu hoch angesetzt wissen. Der Minister fürchtete ebenso wie sein Führungsstab, daß eine konventionelle Kampfhandlung länger dauern könnte und dann nicht nur die eigenen Kräfte schnell aufgerieben sein würden, sondern vor allem auch die generelle Bereitschaft zum Einsatz nuklearer Mittel in Frage gestellt werden könnte. Deshalb müßten taktische Nuklearwaffen, seien es Gefechtsfeldwaffen, Sprengmittel oder Luftverteidigungssysteme, rechtzeitig bereitgehalten werden. Daß in diesem Zusammenhang von seiten des Generalinspekteurs Heinz Trettner eine Art nuklearer Verminung der deutsch-deutschen Grenze mit Hilfe von Atomic Demolition Munition (ADM) geringen Sprengwerts vorgesehen sei, berichtete die bundesrepublikanische Presse. In den Quellen läßt sich allerdings eher eine Abneigung Trettners gegen ADM nachweisen, die von den USA für den Einsatz im rückwärtigen westdeutschen Gebiet eingeplant war. Das Bemühen der Bundesrepublik, die Verbündeten zu einer neuen, gültigen Strategie anzustoßen, um die operative Planung und die Streitkräfteplanung der NATO danach ausrichten zu können, machte Hassel deutlich. Entscheidend beschleunigt wurde die Bereitschaft der Bündnispartner, an einem strategischen Strang zu ziehen, weil Staatspräsident de Gaulle im März 1966 ankündigte, Frankreich werde sich aus der NATO-Integration zurückziehen. Um einen weiteren Zerfall des Bündnisses zu vermeiden, wuchs die Kompromißbereitschaft. In vielen informellen Gesprächen auf der Ebene der Stabschefs und der Minister der Bundesrepublik, Großbritanniens und der USA wurde ebenso an einem Kompromiß gearbeitet wie in den NATO-Ausschüssen. Hieraus ergab sich schließlich eine Annäherung des deutschen und des amerikanischen Standpunktes. Generalinspekteur Ulrich de Maizière hielt eine stufenweise Eskalation für kaum möglich und strebte durchaus eine Lösung nach der Verhältnismäßigkeit der konventionellen wie der nuklearen Mittel an. Die USA signalisierten, daß sie den Einsatz taktischer Nuklearwaffen weiterhin für den Fall vorsehen wollten, daß die konventionelle Verteidigung der Lage nicht mehr Herr werden konnte. Taktische Nuklearwaffen für diesen Fall lagerten in Westeuropa reichlich, denn ausgerechnet unter Verteidigungsminister McNamara war ihre Zahl auf über 7000 angewachsen. Die Bundesrepublik erklärte sich bereit, um den von den USA befürchteten frühzeitigen Einsatz von Nuklearwaffen zu vermeiden, stärkere konventionelle Reaktionen einzuplanen und dafür ihre konventionelle Kampfkraft deutlich zu steigern. Als politische Bedingung forderte sie jedoch, den nicht-nuklearen Bündnismitgliedern größere Mitbestimmung auf die Zielplanung und den Einsatz nuklearer Waffen einzuräumen. Da Großbritannien und die USA auch die Fragen der Truppenstationierung und des Devisenausgleichs klären wollten und aus Haushaltsgründen auch klären mußten — die USA befanden sich im Vietnam-Krieg, Großbritannien suchte den Kursverfall des Pfundes zu beenden — durchliefen die Entwürfe für die

V o n der »massive retaliation« zur »flexible response«

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neue Strategie relativ schnell die NATO-Gremien. Die durchaus noch auftretenden Meinungsverschiedenheiten wurden auf bi- und trilateraler Gesprächsebene zwischen den USA, Großbritannien und der Bundesrepublik rechtzeitig beigelegt. Auf der Ministertagung des Nordatlantikrats vom 13. bis 14. Dezember 1967 wurde die neue Strategie als MC 14/3 verabschiedet. Sie hatte im Kern zum Inhalt, einer Aggression mit Maßnahmen der direkten Verteidigung, der vorbedachten Eskalation oder einer nuklearen Reaktion zu begegnen. Auch eine Kombination dieser Maßnahmen war möglich, um die Sowjetunion selbst für den Fall einer Aggression, die noch unterhalb eines nuklearen Großangriffs lag, mit einer glaubwürdigen Abschreckung zu konfrontieren. Zu der schon in der alten Strategie ausgedrückten Bereitschaft, einen Angriff gegen einen Allianzpartner sofort und wirksam zurückzuweisen, trat jetzt die ausdrückliche Flexibilität der einzusetzenden Mittel. Auf eine »limited hostile action« mußte nicht mehr gleichsam automatisch der nukleare »general war« folgen. Neben der Direktverteidigung und der vorbedachten Eskalation, dem bewußten Steigern der einzusetzenden Mittel, verblieb dem Bündnis immer noch die »general nuclear response« als stärkstes Abschreckungsmittel. Die operative Umsetzung der »flexible response«, wie die neue Strategie bald hieß, erfolgte mit einer Neufassung der MC 48/2 durch die MC 48/3 im Mai 1969. Die politischen und militärischen Fachleute im Auswärtigen Amt, im Bundeskanzleramt sowie im Bundesministerium der Verteidigung waren den Weg zur neuen Strategie, wenn auch nur teilweise aus voller Überzeugung, mitgegangen. Niemand konnte und wollte mehr die Auslösung eines großen nuklearen Krieges als einzige Antwort auf eine lokale Aggression verantworten, wie sie eine Ausweitung der Berlin-Krise hätte darstellen können. Als politisch wesentlich für die Bereitschaft der Bundesrepublik, der »flexible response« zuzustimmen, muß jedoch die Gründung der Nuklearen Planungsgruppe der NATO angesehen werden. Auf eine Anregung McNamaras aus dem Jahre 1966 zurückgehend, suchte sie einen neuen Mechanismus für nukleare Beratungen im Bündnis zu schaffen. Sie bestand zunächst aus den vier ständigen Mitgliedern USA, Großbritannien, Italien und Bundesrepublik sowie drei bis vier rotierenden Mitgliedern. Damit erfolgte eine, wenn auch späte Antwort auf den schon 1960 von Bowie konstatierten, keineswegs unverständlichen Wunsch der nicht-nuklearen Bündnispartner, in den nuklearen Angelegenheiten des Bündnisses eine gewisse Mitbestimmung zu erlangen, ohne allerdings das Recht des amerikanischen Präsidenten auf »den Finger am Abzug« ernsthaft in Frage zu stellen. Die von der Nuklearen Planungsgruppe im November 1969 erstellten »Politischen Richtlinien für das Konsultationsverfahren bei Freigabe und Einsatz von Atomwaffen« und die »Politischen Richtlinien für den taktischen defensiven Ersteinsatz nuklearer Waffen« unterstrichen in besonderer Weise diese Mitbestimmungsmöglichkeiten und das neue partnerschaftliche Verhältnis im Bündnis.

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Hiermit aber konnte die Bundesregierung, ohne es wohl zu ahnen, endlich an eine f r ü h e W u n s c h v o r s t e l l u n g ihres ersten B u n d e s k a n z l e r s a n k n ü p f e n . Schließlich hatte Adenauer mit Blick auf den westdeutschen Verteidigungsbeitrag im europäischen Rahmen bereits 1952 ausgeführt: »Wenn ich mir vorstelle, [...] man w ü r d e uns mit einigen Atombomben beglücken, was würde von Deutschland übrig bleiben? Deshalb haben wir das allergrößte Interesse, herauszukommen aus diesem Zustand, und zwar so schnell wie möglich, um damit auch Einfluß zu bekommen. Es ist ja auch so eminent wichtig, daß Deutschland Einfluß bekommt auf die Strategie der Verteidigung und daß es die Möglichkeit bekommt, dafür zu sorgen, daß unser Land nicht mehr der Schauplatz einer solchen furchtbaren Auseinandersetzung wird.«

Ausgewähltes Literaturverzeichnis Helga Haftendorn, Kernwaffen und die Glaubwürdigkeit der Allianz. Die NATO-Krise von 1966/67, Baden-Baden 1994. Christoph Hoppe, Zwischen Teilhabe und Mitsprache. Die Nuklearfrage in der Allianzpolitik Deutschlands 1959-1966, Baden-Baden 1993. Johannes Steinhoff, Reiner Pommerin, Strategiewechsel. Bundesrepublik und Nuklearstrategie in der Ära Adenauer-Kennedy, Baden-Baden 1992. Jane E. Stromseth, The Origins of Flexible Response: NATO's Debate over Strategy in the 1960s, New York 1988. Das Zeitalter der Bombe. Die Geschichte der atomaren Bedrohung von Hiroshima bis Heute, hrsg. von Michael Salewski, München 1995.

Gerd Schmückle Auf der Suche nach einer neuen NATO-Strategie Um mich aus Bonn loszuwerden, bot mir der Personalchef der Bundeswehr, Ministerialdirektor Karl Gumbel, 1963 wahlweise zwei Posten in Paris an: einen im alliierten Hauptquartier, einen anderen in der NATO-Delegation. Ich fragte ihn, welcher der beiden Posten der unwichtigere sei. Er antwortete, die Aufgabe »Militärberater des NATO-Botschafters« zu sein, sei marginal. Ich entgegnete ihm: »Dann nehme ich diesen Posten!« Er schaute mich an, als zweifele er, ob meine fünf Sinne noch beisammen wären. Einen guten zugunsten eines minderwertigen Postens auszuschlagen, sei ihm noch nicht vorgekommen, brummte er. Dabei täuschte ihn der Eindruck, ich hätte altruistisch gewählt. In Wahrheit wollte ich nur Gegner abschütteln. Auch keinen neuen Neid wecken. Denn als langjähriger Pressesprecher von Verteidigungsminister Franz Josef Strauß hatte ich genug vom »Gift der Kameradschaft« abbekommen. Nun wollte ich Ruhe haben. Bei meiner Wahl war mir allerdings entfallen, daß ich auch beim Ständigen NATO-Vertreter der Bundesrepublik Deutschland, Wilhelm Grewe, und seinem Vertreter Ulrich Sahm in der Tinte saß. Ein Jahr zuvor hatte ich nämlich in Bonn einen Aufsatz »Wandel der Apokalypse« veröffentlicht, der für Aufregung sorgte. In ihm war beschrieben, wie riskant bestimmte strategische Ideen des USPräsidenten John F. Kennedy für Europa sein könnten, sollte es zur Nagelprobe eines Ernstfalls kommen. Dieser Artikel hatte Grewe, damals noch deutscher Botschafter in Washington, beim US-Präsidenten in Turbulenzen gebracht. Und in Bonn warf mir Sahm vor, mein Aufsatz hätte mühselige diplomatische Aufbauarbeiten des Auswärtigen Amts in den USA »niedergerissen«. Kein Wunder, daß mein Amtsantritt in der Pariser NATO-Delegation keinen Begeisterungssturm auslöste. Er begann, vorsichtig formuliert, holprig. Zunächst wollte ich wissen, was es mit der »Minderwertigkeit« dieses NATOPostens auf sich hatte. In Bonn war mir lediglich gesagt worden, dort gäbe es eine Arbeitsgruppe, an der teilzunehmen eines »Brigadegenerals nicht würdig« sei. Dieser Appell, die Würde meines militärischen Ranges nicht zu beschädigen, reizte mich, es damit doch zu versuchen. So setzte ich mich — still und bescheiden — unter die Gruppe der »Hinterbänkler«, die den Sprechern der Arbeitsgruppe zuarbeiteten. Was ich zu hören bekam, fand ich aufregend: es ging um die Entwicklung einer neuen NATO-Strategie. Dabei machte der britische Diplomat den Vorsitz, den er innehatte, zu einer Art Kanzel, von der aus er das Wort des Herrn verkündete: der Herr saß, wie ich heraushörte, im Pentagon und seine Apostel in London. Die kontinentalen Europäer schwiegen.

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Zugegeben: das Raffinement dieser Verhandlungsführung imponierte mir. Doch glaubte ich, ihre Zielsetzung entspräche zwar dem Interesse angelsächsischer Atommächte, nicht aber dem der nuklearen Habenichtse. Also auch nicht deutschen Notwendigkeiten. Dabei war die Tendenz klar: auf Arbeitsebene sollte die neue NATO-Strategie so festgeschrieben werden, daß sich daran hinterher kaum mehr etwas würde ändern lassen. Mit Wortgetöse wurde vernebelt, daß die Unbedingtheit des US-Atomschutzes für Europa relativiert werden sollte. Das Bild der bisher senkrecht gestellten »Atomwaffen-Leiter« wurde umgezeichnet in eine nach rückwärts ansteigende Treppe. Bevor ein potentieller Angreifer jede Stufe dieser Treppe beträte, müsse ihm eine »Pause« eingeräumt werden. Sie solle ihm die nötige Zeit geben, einen kühlen Kopf und die Einsicht zu gewinnen, den Waffengang zu beenden. Dieses theoretische Gebäude, das der US-Verteidigungsminister Robert McNamara mit viel Verve aufbaute, ähnelte der Gedankenspielerei der Kriegsphilosophen des 18. Jahrhunderts: auch sie wollten Krieg berechenbar machen. Demgegenüber war ich so altmodisch zu glauben, Kriegsleidenschaften, politische Fehlgriffe, militärische Pannen und Friktionen aller Art würden dies unmöglich machen. Jeder Krieg würde zum Äußersten treiben: in unserer Situation also zum Atomkrieg und damit zu einer unvorstellbaren Katastrophe für Das NATO-Hauptquartier in Paris

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Europa. Daher dürfte, meinte ich, die kriegsverhindernde Abschreckung nirgendwo abgeschwächt oder gar durchlöchert werden. Wer weniger an Kriegsverhinderung und mehr an Kriegsführung dachte, war gefährdet, Fehlschlüssen zu erliegen. Glaubte ich. Wenn wir einem potentiellen Angreifer »Pausen« einräumten und sie — schon im Frieden — öffentlich verkündeten, mußte dies die Moskauer Militärplaner geradezu dazu einladen, diese Haltesignale im westlichen Verteidigungsplan für ihre Ziele auszunutzen. Das extrem gefährdete Westberlin bot sich dazu an: zuerst militärisch kassieren, dann nach Verhandlungen rufen. Natürlich wollten dies die amerikanischen Strategiephilosophen nicht. Im Gegenteil. Sie glaubten vielmehr, die Sowjets hätten mit ihrem atomaren Waffenarsenal nun ein »Gleichgewicht des Schreckens« erreicht, das den USA nahelegen müßte, die Strategie der »massiven Vergeltung« zu verabschieden. Ungeschminkt gesagt: die USA wollten, sollte Westeuropa angegriffen werden, die atomare Verwüstung nicht sofort aufs eigene Land lenken. Dachte man diese, aus amerikanischer Sicht verständliche Absicht zu Ende, dann bedeutete sie eine Schwächung der NATO-Abschreckung. Zugleich dämmerte ein Kriegsbild herauf, das einen Krieg auf Westeuropa konzentrieren konnte: die Idee vom begrenzten Atomkrieg. In einer der nächsten Sitzungen nahm ich am Verhandlungstisch Platz. Als deutscher Sprecher. Wie immer sprach der Vorsitzende mit pontifikalem Anspruch. Am Ende der Sitzung bat ich ums Wort. Dann lehnte ich das gesamte Strategie-Dokument, wie es bislang abgesegnet war, ab. Rundheraus, ohne Wenn und Aber. Dem Vorsitzenden blieb die Spucke weg. Doch wahrte er die Ruhe, die Briten in Krisen so bewunderungswürdig macht. Schließlich brach es aber dann doch aus ihm heraus: man habe monatelang an dem Dokument gearbeitet, verbessert, gefeilt. Als Neuling in der Runde hätte ich kein Recht, es zu zerfetzen. Mit diesem Vorwurf wollte er die Arbeitsgruppe für sich gewinnen. Schließlich hätten alle dem Entwurf zugestimmt. Doch der niederländische Vertreter rief ihm zu: »Sie sehen doch, daß General Schmückle auf Weisung hin spricht — Sie müssen die Sitzung vertagen.« Der Vorsitzende klappte seinen Aktendeckel zu und entgegnete kühl: »Dann müssen die Botschafter entscheiden, wie es weitergehen soll.« Damit schloß er die Sitzung. Nun war der Ball in meinem Tor. Ich hatte nämlich gar keine Weisung. Daran hatte ich — diplomatisches Greenhorn, das ich war — überhaupt nicht gedacht. Beim Minister Strauß hatte ich auf eigenes Risiko arbeiten dürfen. Doch hier in Paris war ich nur ein Rädchen in einem komplizierten Mechanismus, bei dem Verteidigungsministerium, Außenamt und NATO-Botschaft ineinandergriffen. Störungen waren unerwünscht. Zwar hielt ich die Drohung mit der Botschafter-Sitzung für leere Kraftmeierei, doch melden mußte ich den Eklat. Wie würden die Bonner reagieren? Im Verteidigungsministerium wußte man nicht einmal, daß ich als Sprecher fungierte: dort würde die Geschichte nur mein ohnedies beträchtliches Sündenregister verlängern. Schon deshalb, weil ich den Ruf hatte, unbußfertig zu sein. Das Außenamt würde, vermutete ich, den hei-

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klen Fall dem Botschafter zuschieben. Und Grewe? Würde er mich, gleich zu Beginn, abstürzen lassen? Ihm und Sahm erläuterte ich die Tendenzen, die in dem Strategiedokument bereits feste Formen angenommen hatten. Sie verknoteten, sagte ich, Verwerfungen im US-Atomwaffenschutz für Europa mit kriegsfernen Militärtheorien. So verständlich es sei, daß Washington seinen strikten Atomschutz lockern wollte, so sehr spräche unser Interesse dagegen. Ich glaubte, alle Nichtnuklearen in der Arbeitsgruppe auf meine Seite ziehen zu können, falls der Botschafter meine Meinung akzeptiere. Dann allerdings müßten wir auf allen Ebenen standfest bleiben. Grewe und Sahm stimmten sofort zu. Ich fiel allerdings aus allen Wolken, als Grewe hinzufügte: »Der Generalsekretär hat bereits die Sondersitzung der Botschafter einberufen.« In dieser Sitzung erlebte ich Grewe zum ersten Mal als Repräsentanten der Bundesregierung. Er überzeugte die Runde deshalb, weil er den Eindruck vermied, jemanden überreden zu wollen. Bereits nach zehn Minuten war die Sitzung beendet: das Dokument war neu zu überarbeiten. Grewe hatte mich nicht abgehängt. Im Gegenteil. Von nun an entwickelte sich mit ihm und Sahm eine Zusammenarbeit, wie ich sie mir besser nicht hätte wünschen können. Beide widersprachen dem Klischee vom aalglatten Diplomaten. Ihre Berichte waren mutig. Grewe war ein Mann, wie ich ihn mir an der Spitze des Auswärtigen Amtes gewünscht hätte. Wie einst Charles M. de Talleyrand die geschlagenen Franzosen auf dem Wiener Kongreß wieder aufrichtete, so Grewe die besiegten Deutschen in der NATO. Nur aus der Bonner Zentrale klang manchmal ein Murren bis nach Paris. Dort ärgerte man sich darüber, daß Grewe den Trick benutzte, immer wieder zu drahten: »Wenn ich bis zu diesem Termin keine Weisung erhalten habe, werde ich wie folgt argumentieren ...«. Dann diktierte er die Weisung, wie er sie sich wünschte, in seinen Bericht. Unsere Arbeitsgruppe wurde zum »Ausschuß für Verteidigungsüberprüfung« umbenannt. Neuer Vorsitzender wurde der Brite Arthur Hockaday, ein Glücksfall für die Allianz und ein »ehrlicher Makler« zwischen Amerika und Westeuropa. Amerikanischer Sprecher wurde Tim Stanley, britischer John Sabbatini. Wir wurden ein Team, das freundschaftlich zusammenarbeitete: gute Kompromisse waren uns wichtiger als nationalistischer Krimskrams. Wir waren uns einig, daß die Atomwaffen nicht nur das wichtigste Abschreckungsmittel der NATO, sondern auch ein Sprengsatz innerhalb des Bündnisses war. Daher mußten wir ihre Wirkung nach außen erhalten und nach innen entschärfen. Dabei kam uns in die Quere, daß McNamara energisch darauf drängte, die Europäer sollten ihre konventionellen Streitkräfte massiv erhöhen. Wir befürchteten im Ausschuß, dadurch könne die US-Atomwaffenkulisse zum Versatzstück werden. Auch gab es keine Aussicht, daß sich Westeuropa dem Wunsch des US-Verteidigungsministers beugen würde. Daher mußten Stanley und ich im Ausschuß manchmal aneinander vorbeireden, wie zwei Ringer, die ihre Griffe simulieren, aber nicht ausführen. Dabei hatte ich die Sprecher der kleineren NATO-Staaten, alle nukleare Habenichtse, stets auf meiner Seite. Das »innere

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Gleichgewicht« der NATO: eine Weltmacht, vier mittlere Mächte, zehrt kleinere Staaten, wirkte sich hilfreich aus. Wir richteten im Miteinander, teilweise auch im Gegeneinander, die »Atomwaffen-Leiter« wieder auf: nicht senkrecht wie bei der »massiven Vergeltung«, doch in einem extrem steilen Winkel. Allerdings störten uns drei Querschläger bei der Arbeit: die beiden ersten weniger, der dritte stark. Es begann mit der amerikanischen Idee einer multilateralen Atomflotte, dann kam die deutsche Idee, einen Atomminengürtel entlang der deutsch-deutschen Grenze zu ziehen, schließlich beunruhigten die französischen Extravaganzen General Charles de Gaulies. Wir hielten diese barocken Einfälle, so gut es ging, von unseren Beratungen fern. Die amerikanische Idee, eine multilaterale Atomflotte ins Leben zu rufen, kannte ich schon aus meiner Bonner Zeit. Damals ging ich davon aus, sollte diese Flotte jemals in See stechen, dann würden die Amerikaner — durchaus berechtigt — die Kapitäne stellen und wir Deutschen die Köche. Da ich dieses Projekt für eine Wahnvorstellung hielt, bat ich Botschafter Grewe, mich von dessen Bearbeitung in Paris zu befreien. Auch Ulrich Sahm, nachdenklich geworden, drückte sich davor, so gut es eben ging. Bonn schickte uns einen Kapitän, der die Sache vorantreiben sollte. Wie der Flottenbau ausging, ist bekannt: die geplanten U-Boote gingen auf dem Reißbrett unter. Die danach neu aufgelegten Überwasserschiffe schössen Briten, Franzosen — zuletzt die Amerikaner selbst — politisch auf den »Meeresgrund«. Schließlich lehnte nur noch der deutsche Verteidigungsminister an den Masten dieser Flotte — bis die Wellen darüber zusammenschlugen. Der Untergang der Atomflotte wurde in der NATO bewitzelt. Ungläubiges Kopfschütteln dagegen löste die Idee deutscher Generale aus, das eigene Territorium für atomare Verwüstungen anzubieten. Damit machten sich die Deutschen — wieder einmal — zum Welträtsel. Denn kein Repräsentant einer anderen NATO-Nation hätte ein solches Angebot gemacht. Die Sache begann damit, daß der deutsche General Johann Adolf Graf von Kielmansegg, Oberbefehlshaber Europa Mitte, einem internationalen Gremium von Spitzenmilitärs vorschlug, die deutsch-deutsche Grenze mit Atomminen zu sichern. Nicht nur diese Minen, auch atomare Gefechtsfeldwaffen müßten die NATO-Befehlshaber eigenmächtig freigeben dürfen. Deren Einsatz erfolge ohnedies »nur auf unserer Seite«, allerdings bereits bei einem Feindangriff von »drei Brigaden«. Das Gremium hörte wie versteinert zu. Dann widersprach der französische General Charles Ailleret. Was da vorgeschlagen werde, bedeute in der dichtbesiedelten Bundesrepublik, daß dort mehr Zivilisten als feindliche Soldaten getötet würden. Folgerichtig müsse sich die Bevölkerung weniger gegen den Feind als gegen die Verteidiger wenden — eine Unmöglichkeit. Ailleret wurde von anderen Generalen unterstützt. Diese Gegenstimmen beeindruckten wohl auch den Deutschen etwas. Denn nach der Sitzung sagte mir Kielmansegg, man müsse eben die Bevölkerung aus den gefährdeten Gebieten rechtzeitig in Städte evakuieren. Ich sah keine Chance mehr, den Grafen von dem Plan abzubringen. Wohl aber vielleicht den Generalinspekteur, der nach ihm sprechen sollte. Ich beschwor General Heinz Trettner, sich von dieser Idee zu distanzieren. Doch er

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ließ mich ablaufen. Dann unterstützte er den Grafen »strongly«. Ich war entsetzt. Anschließend machte mich besorgt, der eine oder andere unserer Verbündeten könnte dies gar nicht so übel finden. Doch weit gefehlt. Unser Ausschuß verwarf diese Ideen als unzumutbar für Deutschland. Natürlich hatte ich Botschafter Grewe sofort diese Idee gemeldet. Darm warnte ich eindringlich und wiederholt die Spitzen der Bundeswehr: würde diese Idee bekannt, käme die Regierung ins Schleudern. Meldete ich. Doch Bonn plante ungerührt weiter. Nun wurde geschrieben: nicht nur an der Grenze, nein, auch an den Zugängen zu lebenswichtigen Gebieten, seien Atomminen »beim Überschreiten des Abwehrraums« unverzüglich zu zünden. Auch die atomaren Gefechtsfeldwaffen müßten in einer Kampfzone von 30-40 Kilometer Tiefe, die in unserem eigenen Territorium liege, eingesetzt werden: »Sie würden das Gebiet ostwärts des Eisernen Vorhangs völlig unberührt lassen und lediglich feindliche Streitkräfte, die auf NATO-Gebiet vorgedrungen seien, und unsere eigene Bevölkerung treffen.« Hieß es wörtlich. Für mich war diese Planung — allen Warnungen zum Trotz — nicht mehr zu stoppen: bis der international angesehene Militärkorrespondent Adelbert Weinstein sie in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« veröffentlichte. Damit kochte der Skandal hoch. Zunächst dementierte das Verteidigungsministerium mit einem Spiel aus Verdrehung und Verneinung. Dann aber hielt es dem Druck der Öffentlichkeit nicht mehr stand. Der »Trettner-Plan« wurde zum öffentlichen Skandal. Trettner nahm alles auf sich, während Graf Kielmansegg schwieg. Persönlich allerdings sagte er mir, er hätte ja etwas ganz anderes gemeint als Trettner. Auch der Minister drehte bei: einen Plan, Atomminen an der Grenze zu verlegen, habe es nicht gegeben, gäbe es nicht und werde es nicht geben. Ein deutsches Trauerspiel war damit beendet. Die Vernunft hatte gesiegt. Viel mehr schmerzten in unserem Ausschuß die Nadelstiche, die General de Gaulle der NATO versetzte. Denn niemand wußte in Paris zu sagen, was hinter der hochgewölbten Stirn des Generals vorging. Manche meinten, seine Politik streife die Grenze zum Größenwahn. Andere hielten ihn für eine Sphinx: Löwengestalt mit Menschenkopf, die Uräusschlange vor der Stirn. Würde er die NATO verlassen? Ich glaubte, ja. Meine französischen Freunde meinten, dies werde er nicht wagen. Doch schon immer hatte dieser Mann die Welt mehr herausgefordert als entwaffnet, mehr gereizt als beruhigt. Auch dieses Mal entschied er, was niemand erwartete: er nahm Frankreich militärisch, nicht aber politisch aus der NATO. Dazu sein Bann-Strahl: innerhalb eines knappen Jahres müßten alle NATO-Einrichtungen französischen Boden geräumt haben. Mit soviel Raffinement hatte in der NATO niemand gerechnet: de Gaulle demütigte die NATO, ließ aber Frankreich weiterhin von ihr beschützen. Denn vor Frankreich lag die konventionelle NATO-Barriere. Dahinter manövrierten im Atlantik die NATO-Flotten. Im Süden wachten US-Flugzeugträger, und über ganz Frankreich blieb der US-Atomwaffenschirm aufgespannt. Der General hatte seinen Auszug nicht nur ange-, sondern auch durchdacht. Er hatte, wie im-

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mer, seine Aktion mit viel Dramatik aufgebaut. Den meisten Franzosen gefiel seine aristokratische Art, sich unbeliebt und gleichzeitig unentbehrlich zu machen. Ja, auf Frankreich konnte in der NATO niemand verzichten. Doch für unsere Strategiediskussion wurde sein Teilaustritt heikel. Denn wir hatten im Ausschuß unsere Aufgabe inzwischen erweitert: wir entwickelten ein NATOSystem, mit dem wir Strategie, Streitkräftepotential und Geld im Einklang miteinander halten wollten. Doch nun brachen uns die französischen Streitkräfte weg und mehr noch: alle NATO-Einrichtungen, die auf französischem Boden installiert waren: Flugplätze, Fernmeldeeinrichtungen, Depots und anderes mehr. Das meiste mußte in das schmale »Handtuch Bundesrepublik« vorverlegt werden. Damit fehlte unseren Strategieüberlegungen die nötige Tiefe. Statt wie bisher von Ost nach West, verliefen nun die »Lebenslinien« der NATO von Nord nach Süd. Ein Angreifer konnte sie leicht und vielerorts durchschneiden. Was war zu tun? Die seriöse Antwort konnte nur lauten: Verstärkung der kriegsverhindernden Abschreckung. Doch den Rückweg zur »Massiven Abschreckung« blockierten die Amerikaner und die Verstärkung der konventionellen Streitkräfte lehnten die Europäer ab. Wir saßen in der Klemme. Schließlich fanden die Amerikaner eine Formel, die für beide Seiten akzeptabel war. Noch immer stand die Atomwaffenleiter, steil angelehnt. Allerdings fragte ich mich, ob die neue Strategie, die uns das französische Hinterland kostete, nicht zu teuer erkauft worden war. Doch damit nicht genug: eines Tages kam Hockaday in mein Büro. Er, der sonst die Ruhe selbst war, wirkte empört. Er sagte, auf der Ebene der Stabschefs sei den Amerikanern nun doch ein Einbruch in unsere Strategieüberlegungen geglückt. Ihm sei unverständlich, wie europäische Generale und Admírale dem potentiellen Gegner solche Chancen einräumen könnten. Nun seien wir gezwungen, unseren Regierungen zu berichten, an welchen Stellen die Stabschefs von unseren Strategieüberlegungen abgewichen seien. Nur die Regierungen, nicht mehr wir, könnten korrigierend eingreifen. Ich entwarf einen Bericht mit den Sorgen Hockadays, die ich teilte. Wie üblich ging dieser Entwurf über den Schreibtisch des Gesandten zum Botschafter. Inzwischen war Dirk Oncken, ebenfalls ein Spitzendiplomat, Ulrich Sahm nachgefolgt. Als mein Bericht zurückkam, sah ich, daß Oncken ihm einen unwichtigen Satz vorangestellt hatte. Ich fragte ihn, weshalb. Er antwortete, wenn er einem Bericht diesen Einleitungssatz vorsetze, dann wisse der Staatssekretär im Auswärtigen Amt — so sei es vereinbart — daß dessen Inhalt zum Bundeskanzler müsse. Mir schwante Schlimmes. Denn ich kannte die Mimosenhaftigkeit hoher Generale, wenn ihre Fehler ganz oben bekannt werden. Daran war nun nichts mehr zu ändern: der Bericht war, vom Botschafter abgezeichnet, bereits abgesetzt. So kam es, wie es kommen mußte. Die Sache schaukelte sich hoch und mich drückte sie nach unten. Mir wurde unterstellt, der Bericht enthalte gar nicht Hockadays Kritik, sondern die meine. Also eine Art Majestätsbeleidigung. Nun war mein Sündenregister voll. Die Zeit der Abstrafungen war für mich gekommen.

Andries Schlieper Die Wechselwirkung Taktik — Technik — Mensch. Die Einführung des Flugzeuges F-104 G in die deutsche Luftwaffe und die »Starfighterkrise« von 1965/66 Die Einführung der F-104 G — eine politische oder taktisch-technische Entscheidung? Das Flugzeug Lockheed F-104 G Starfighter war von 1961 bis zur Einführung von Phantom F-4 F und Tornado tragender Bestandteil des Hauptangriffwaffensystems der deutschen Luftwaffe. Die Bereitstellung von vier Strike-Jagdbombergeschwadern als Träger nuklearer Waffen aus dem Verfügungsbestand der USA stellte einen wesentlichen Teil des deutschen NATO-Beitrages dar. Neben diesen Angriffsverbänden waren zwei Tagjagdgeschwader, ein Allwetterjagdgeschwader, zwei taktische Aufklärungsgeschwader sowie zwei Geschwader der Seeluftstreitkräfte mit dem Flugzeug F-104 G ausgerüstet. Die Vor- und Nachteile des Flugzeuges F-104 G haben seit der Entscheidung für seine Einführung in die deutsche Luftwaffe im November 1958, vor allem in den 60er Jahren, Diskussionen von Fach- und Nichtfachleuten angeregt, die Spalten der Fach- und Boulevardpresse gefüllt und mehrmals den Bundestag beschäftigt. Die Verantwortlichen für die Auswahl dieses Flugzeuges waren lang anhaltenden Angriffen ausgesetzt. Die Vorwürfe und Zweifel an der Richtigkeit der Einführung gerade dieses Waffensystems in die deutsche Luftwaffe konzentrierten sich hauptsächlich auf zwei Fragenbereiche: - War die Auswahl dieses Flugzeuges vom taktisch-technischen Gesichtspunkt aus gesehen richtig oder stand die Auswahl vorwiegend im Zeichen der Erfüllung politischer und wirtschaftlicher Verpflichtungen der BRD ihrem Hauptverbündeten USA gegenüber? - Haben sich die Luftwaffe und die wiedererstandene deutsche Luftfahrtindustrie übernommen mit der Einführung dieses anspruchsvollen Waffensystems und sind daraus etwa die zahlreichen Flugunfälle mit der F-104 G, vor allem in den Jahren 1965/66, zu erklären? Wie intensiv und aktuell diese Diskussion gerade zum ersten Punkt geführt wurde, zeigte eine Äußerung General Werner Panitzkis in den letzten Wochen vor seinem Rücktritt aus dem Amt als Inspekteur der Luftwaffe. In einem Interview bezeichnete er die Auswahl der F-104 G als politische Entscheidung. Auch die später erfolgte Richtigstellung, daß selbstverständlich technisch-taktische

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Gesichtspunkte im Vordergrund gestanden hätten, läßt immerhin den Schluß zu, daß diese Frage seinerzeit selbst in der Spitze der Luftwaffe noch nicht ausdiskutiert war. Die Wahrheit dürfte auch in diesem Falle etwa in der Mitte liegen. Eine Auswertung der Äußerungen und Veröffentlichungen der Verantwortlichen für die Auswahl der F-104 G aus den Jahren 1955 bis 1960 sowie eine Durchsicht der Fachveröffentlichungen bekannter Militärwissenschaftler zum Thema des Aufbaus der deutschen Luftwaffe aus der gleichen Zeit läßt zunächst folgenden Schluß zu: »Zur Auswahl und Einführung des Flugzeuges F-104 G führte die taktisch-technische Erfüllung einer militärischen Forderung, die ihrerseits auf dem Auftrag der politischen Führung der BRD an die Bundeswehr beruhte.« Um aber die engen gegenseitigen Beziehungen von Politik, Technik und Taktik bei der Einführung der F-104 G besser erkennen zu können, muß man versuchen, die Voraussetzungen und Annahmen zu rekonstruieren, die zu ihrer Auswahl und Einführung führten.

Die Luftlage Etwa im Jahre 1950 begann die Bundesregierung, von militärischen Fachleuten Studien erstellen zu lassen über eine mögliche Wiederaufstellung deutscher Streitkräfte. Anregungen, die bei einer Konferenz bekannter deutscher Offiziere des Zweiten Weltkrieges in Maria Laach aufgestellt wurden, entwickelten sich in den folgenden Jahren in der Dienststelle Blank zu konkreten Aufstellungsvorhaben. Wie schwierig das Klima war, in dem diese Vorarbeiten geleistet werden mußten, zeigt z.B. die Forderung der Westalliierten bei den Verhandlungen zum Deutschlandvertrag (Februar 1952), wonach Deutschland sich verpflichten solle, nie wieder Flugzeuge zu bauen. Diese Forderung wurde vom damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer abgelehnt! Am 5. Mai 1955 trat Deutschland in die NATO ein: Der Weg für die Aufstellung deutscher Streitkräfte war frei! Für diese Streitkräfte wurden politisch als Aufgaben gesehen: »Die Bundeswehr soll weitgehend in die NATO integriert werden. Ihre Streitkräfte sollen Teile der sogenannten >Schildaufgaben< der NATO übernehmen. Auf die Rheinlinie zurückweichend sollen sie den über die Zonengrenze vorgetragenen Angriff des angenommenen Gegners UdSSR verzögern, um den USA Zeit für den vergeltenden nuklearen >Schwertstreich< zu geben.« Gleichzeitig waren die USA auf lange Sicht an einer Verringerung ihrer Truppenstärke in der Bundesrepublik Deutschland interessiert. Truppenstärke sollte hier durch atomare Feuerkraft (7. US Armee) ersetzt werden. Die Bundesrepublik Deutschland sollte zur Unterstützung dieser Feuerkraft Träger für atomare Waffen bereitstellen. Dies lag auch im Interesse der deutschen Regierung, die von der Wirksamkeit einer glaubhaften Abschreckung durch Atomwaffen überzeugt war.

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Im Zuge der Verzögerungsoperationen von Ost nach West waren selbstverständlich auch Aufgaben der Luftverteidigung und der Erringung der Luftüberlegenheit zum Schutz der eigenen Bodenoperationen zu erfüllen. Die Luftverteidigungsaufgabe sollte national gehandhabt werden. Die zu planende Luftwaffe sollte schließlich auch über Aufklärungskapazität, Möglichkeiten zur Direktunterstützung des Heeres, Einsatzfähigkeit über Ostsee und Deutscher Bucht sowie über eine kontinentale Lufttransportkapazität verfügen. Der Ausgangspunkt für die Konzeption der deutschen Luftwaffe, insbesondere für ihre Angriffs-, Verteidigungs- und Aufklärungskräfte, war das Kriegsbild der 50er Jahre. Dieses Kriegsbild, das letztlich bis Mitte der 60er Jahre gültig blieb (MC 14/2), war das des nuklearen Vernichtungskrieges (»nuclear retaliation«). In der zweiten Hälfte der 50er Jahre galt der nukleare Gegenschlag als die einzige Form der Verteidigung, die beim Stande der Aufklärungsmöglichkeiten und des Nachrichtenwesens noch ein ausreichendes Überraschungsmoment in sich barg, um zu einer Überrumpelung des Angreifers führen zu können. Der entschieden geführte nukleare Gegenschlag sicherte auch dem materiell Schwachen nach damaliger Auffassung eine Erfolgschance, denn er vermied die Materialschlacht. Von diesen Feststellungen blieben damals die großen Zweifel an der endlichen politischen Zielsetzung eines solchen Vernichtungskampfes unberührt. Gerade aus diesem Kriegsbild erwuchs jedoch scheinbar paradoxerweise die Forderung nach einer hinreichenden konventionellen Rüstung. Der französische General Pierre Gallois schrieb 1957, daß mit zunehmenden Vorräten an atomaren Waffen, mit der wachsenden Möglichkeit der totalen Zerstörung also, die Kriegsgründe, die zum tatsächlichen Einsatz dieser Mittel bewegen würden, immer schwerwiegender werden müßten. Er leitete daraus die Forderung ab, Europa müsse sich konventionell um so mehr rüsten, je stärker die UdSSR und die USA sich atomar rüsteten. Gallois räumte aber ein, daß die zukünftige Entwicklung atomarer Gefechtsfeldwaffen dieses Bild ändern könne. Unter dem Eindruck dieser Ungewißheit über die Art des tatsächlichen Verlaufs von Kampfhandlungen in Europa ergab sich der Auftrag der Bundeswehr als: »Beitrag zur Abschreckung des Gegners im Frieden durch Bereitstellung entsprechender Kräfte, verzugsloses Reagieren mit Angriffs- und Verteidigungskräften im Falle eines Angriffs auf NATO-Territorium.« Zur Beurteilung von Bemessung und Auswahl der eigenen Mittel und Kräfte zur Erfüllung dieses Auftrages ist die Kenntnis der damaligen gegnerischen Mittel, ihrer Einsatzmöglichkeiten und Leistungen notwendig. Bei der gültigen Freund-Feind-Vorstellung der 50er Jahre, die sich schließlich erst 1990 geändert hat, waren aus westlicher Sicht als Angreifer die UdSSR und ihre Satellitenstaaten, als Verteidiger die NATO-Staaten zu betrachten. In der zweiten Hälfte der 50er Jahre verfügten die Luftangriffsverbände der UdSSR und ihrer Satelliten im frontnahen und anschließenden rückwärtigen

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Raum vorwiegend über bemannte fliegende Waffensysteme. Die Jagdflugzeuge MiG 15 »Fagot« und MiG 17 »Fresco« waren die hauptsächlichen Typen für Tagjagd und Direktunterstützung des Heeres. Die MiG 19 »Farmer« befand sich in der Einführung, sie war in ihren Leistungen weitgehend mit der North American F-100 »Super Sabre« zu vergleichen. Für 1960 rechnete man damit, daß zunächst die Russen selbst ihre Verbände mit der neuen MiG 21 »Faceplate«/»Fishbed« ausgerüstet haben würden. Dieser Interceptor sollte nach Schätzungen der Fachpresse von 1957 etwa Mach 1,5 erreichen und mit ungelenkten oder gelenkten Luft-Luft-Flugkörpern ausgestattet sein. Für den gegnerischen Luftangriff rechnete man für den Anfang der 60er Jahre mit dem Einsatz des Tupolev 16 »Badger« als A-Waffenträger. Daneben waren bereits die Yakovlev Yak 25 »Flashlight« als Tag- und Allwetterjäger sowie als strategischer Fernbomber die Tupolev TU 20 »Bear« und IL 38/MYA4 »Bison« bekannt. Namhafte Luftkriegstheoretiker und bekannte ehemalige Luftwaffengenerale wie z.B. General a.D. Adolf Galland rechneten seinerzeit für den gegnerischen Angriff ausschließlich mit dem Einflug in großer Höhe. Georg W. Feuchter schrieb 1956 in einem Aufsatz über die Mittel moderner Luftverteidigung, daß für den nuklearen Angriff nur mit dem Einsatz von Bombern in Höhen von 12 000 bis 15 000 m zu rechnen sei. Wegen der starken Zunahme der Vernichtungskraft der einzelnen Waffen des Bombers im Vergleich zum Zweiten Weltkrieg wurde im übrigen auch vorwiegend mit dem Einflug nur einzelner Bomber an verschiedenen Punkten zur gleichen Zeit gerechnet. Neben den bemannten Angriffssystemen durfte man zumindest seit dem Start des »Sputnik« damit rechnen, daß die UdSSR auch über einsatzfähige IRBMs (Intermediate Range Ballistic Missile) verfügen würde. Wie im Westen bestand jedoch auch im Osten noch kein tatsächlich truppenreifes Boden-Boden-FK-System für Reichweiten in der Größenordnung von bis zu 1000 km. Diese Waffensysteme waren zwar technisch schon vorhanden, aber noch nicht bei der Truppe. In der Luftverteidigung verfügten die UdSSR und teilweise auch ihre Satelliten über eine bekannt gute Rohrflak aller Kaliber für den unteren Luftraum bis etwa 5000 m. Das erste in großen Stückzahlen eingeführte Lenkwaffensystem Boden-Luft des Ostens, die SA 2 »Guideline«, befand sich in den Jahren 1956/57 gerade in der Einführung. Seine Leistungen waren mit dem damaligen Stand der Nike-Ajax zu vergleichen. Für den mittleren und oberen Luftraum standen als Abwehrmittel die schon erwähnten Jagdflugzeuge zur Verfügung. Für den Verteidiger galt es also, hoch und einzeln anfliegende Bomber mit einer Fluggeschwindigkeit von bis zu Mach 1 abzuwehren. Den eigenen Angriffsmitteln stellte sich eine gegnerische Luftverteidigung entgegen, die in ihren Leistungen gut mit der eigenen vergleichbar war. Für die Lage der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere für die Lage ihrer Luftstreitkräfte, waren ihre geographische Lage und Gestalt, die Bündnissituation, die Versorgungslage, die im Aufbau befindlichen Luftstreitkräfte und deren Dislozierung sowie das eigene Bevölkerungs-, Organisations- und Wirt-

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schaftsgefüge zu beachten, um die richtige Auswahl des Hauptwaffensystems der Luftwaffe für den Anfang der 60er Jahre zu treffen. Bei einer Tiefe von rund 300 km in Ost-West-Richtung im nördlichen und mittleren Raum der Bundesrepublik Deutschland sowie von bis zu 450 km im südlichen Raum und einem durchschnittlichen Abstand der gegebenen und vorgesehenen deutschen Militärflugplätze vom »Eisernen Vorhang« von 150200 km ergab sich einerseits der Eindruck einer großen Gefährdung dieser Basen selbst, daneben aber auch einer geringen Schutzdistanz über eigenem Gebiet. Die Abwehr von hochfliegenden Bombern mit einer Anfluggeschwindigkeit von bis zu Mach 1 in Höhen von wenigstens 12 000 m stellte hohe Anforderungen an das Frühwarn-, Melde- und Leitsystem für die Luftverteidigung sowie an Interceptor oder Flugkörper selbst. Der erwartete Einsatz atomarer Waffen von bemannten Bombern aus gegen Ziele in der Bundesrepublik Deutschland machte es notwendig, das Abwehrsystem so auszulegen, daß möglichst jeder dieser Bomber vor Auslösung seiner Waffen erreicht und vernichtet werden konnte. Die Bedingungen für den Einsatz der Abwehrkräfte wurden noch erschwert durch das Konzept der NATO, das eine elastische Verteidigung im Bereich der BRD vorsah. Ein Blick auf die Karte zeigt, daß die Masse der deutschen Flugplätze rechtsrheinisch, d.h. auf dem Gefechtsfeld, im Verzögerungsund Abwehrraum lagen. Die Waffensysteme für Angriff und Verteidigung der deutschen Luftwaffe mußten also so ausgewählt werden, daß sie sowohl reaktionsschnell als auch auflockerungs- bzw. verlegungsfähig sein würden. Der zumindest zeitweise zu erwartende Verlust eines großen Teiles der BRD machte grundsätzlich die Planung rückwärtiger, d.h. in Frankreich gelegener Versorgungs- und Ausweichbasen notwendig. Die Versorgungsplanung sah eine nationale Kriegsbevorratung für 30 Tage vor, die Anschlußversorgung für bis zu 90 Kriegstage sollte aus den USA erfolgen. Die damit verbundenen Versorgungsprobleme kann man sich deutlich machen, wenn man den Wert von 70 kg/Tag und Soldat (SHAPE-Angabe) zugrunde legt und berücksichtigt, daß allein die Bundeswehr eine Mobilisierungsstärke von ca. 2 Millionen Soldaten haben sollte. Die Frage einer Bevorratung für 90 Tage unter der Voraussetzung eines nuklearen Krieges wird allerdings von nicht sehr hohem Interesse gewesen sein. Zumindest für die eigenen Angriffswaffensysteme dürfte hier entscheidend gewesen sein, daß der Schlag aus dem Stand geführt werden würde. Mehr Angriffskapazität, als tatsächlich bei diesem ersten Schlag oder Gegenschlag eingesetzt werden würde, würde sowieso von den Basen der Bundesrepublik Deutschland aus nicht einzusetzen sein. Die zurückkehrenden bemannten Waffenträger hätten vermutlich meistens zerstörte Flugfelder vorgefunden. Die im Aufbau befindlichen Luftstreitkräfte der BRD waren für die Aufstellungs- und Ausbildungsphase von den USA mit Flugzeugen ausgerüstet worden, die 1956 — und teilweise auch noch 1960 — dem Standard in Ost und West entsprachen. Dies galt zumindest für den Jagdbomber und A-Waffen-Träger Republic F-84 F »Thunderstreak«. Für die Direktunterstützung wurde schon früh

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die Auswahl eines besonderen Waffensystems beschlossen (G 91). Die Ausstattung der Heimatluftverteidigung, die von General Josef Kammhuber als nationale Aufgabe betont wurde, erfolgte zunächst mit den Tag- und Allwetterjägern der North American/Canadair/Fiat F-86-Reihe (Sabre V und VI sowie F-86 K). Die Ausstattung mit Flugkörpern für den mittleren Höhenbereich, Nike-Ajax, war in Aussicht gestellt worden. Boden-Boden-Flugkörper für die Angriffsaufgabe, d.h. also Flugkörper mit einer Reichweite von bis zu 1000 km, waren für die Bundeswehr zunächst noch nicht in Sicht. Anfang der 60er Jahre sollte dazu der ferngelenkte unbemannte Bombenträger Martin Matador M 61 eingeführt werden. Die Tieffliegerabwehr sollte zunächst hauptsächlich von 4-cm-Rohrflak, Bofors L70, mit Radar-Such- und Leitgeräten durchgeführt werden.

Militärische Forderungen an die Waffensysteme der deutschen Luftwaffe Aus dieser Betrachtung zeichnet sich bereits ab, daß die Auswahl eines A-waffentragenden Angriffssystems sowie eines Höhenabfangjägers vordringlich waren. Aus dem skizzierten Auftrag, der Feind- und der eigenen Lage, galt es nun, die militärische Forderung für das Waffensystem bzw. die Waffensysteme zu entwickeln, die bei der Luftwaffe die Nachfolge der Erstausstattung antreten sollten. Dabei mußte soweit vorgehalten werden, daß das oder die neuen Waffensysteme wenigstens für ein Jahrzehnt nutzbar waren. Das Leistungsspektrum mußte also nicht den in der UdSSR für 1960 vorgesehenen Einsatztypen, sondern ihrer Nachfolgegeneration entsprechen. Dabei war abzusehen, daß die Entwicklung der Flugabwehr sowohl nach der Höhe als auch in den Tiefflugbereich hinein fortschreiten würde. Das Angriffssystem mußte also anpassungsfähig genug sein, um sowohl im Einsatz in der Höhe als auch im später notwendigen Tiefflugeinsatz das gegnerische Frühwarnsystem zu durchbrechen bzw. zu unterfliegen, um seine Ziele erreichen zu können. Diese Ziele lagen von den westdeutschen Absprungbasen zwischen 500 und maximal 900 km entfernt (die Westgrenze UdSSR sollte nicht überschritten werden). Reichweite, Geschwindigkeit, Tragfähigkeit und Reaktionsgeschwindigkeit eines solchen Waffenträgers ließen ein entsprechend kompliziertes Gerät erwarten. Für den langen Anflug über feindlichem Gebiet bis zu den Zielen im feindlichen Hinterland mußte zudem auch eine von außen nicht störbare, also bodenunabhängige Navigationsanlage gefordert werden, 1957 für bemannte Waffensysteme ein absolutes Novum. Für die Rückführung zu den Ausgangsbasen nach erfülltem Auftrag mußte als Sicherheitsforderung ein passives Bordnavigationsgerät gegeben sein, das die zu erwartenden Kursfehler der bodenunabhängigen Navigationsanlage auch unter schwierigen Wetterbedingungen erkennbar machte und dem Flugzeugführer die Chance gab, mit seinen geringen Treibstoffreserven einen eigenen Landeplatz zu erreichen.

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Das Waffensystem der Luftverteidigung sollte — wie ausgeführt — Luftziele mit einer Eigengeschwindigkeit von bis zu Mach 1 in Höhen zwischen 12 000 und 15 000 m orten, verfolgen, identifizieren und vernichten können. Bei der geringen Tiefe der Bundesrepublik und den zu erwartenden Frühwarnzeiten von wenigen Minuten mußte hier neben schneller Reaktionsfähigkeit eine extreme Steigleistung erreicht werden. General Galland forderte Steig- und Zielanflugzeiten in der Größenordnung von etwa 8-10 Minuten für eine Abwehr in Höhen von ca. 17 000 m. Gleichzeitig war ein Führungssystem notwendig, das den Interceptor zuverlässig und wirtschaftlich, d.h. in einem Minimum an Zeit und mit einem Minimum an Flugmanövern, um Zeit und Treibstoff zu sparen, bis auf Reichweite seines bordeigenen Ortungs- und Zielsystems an den Gegner heranbringen konnte. Während Galland dazu ein Nur-Jagdflugzeug forderte, das eine Lenkwaffe trug, von kurzen Pisten starten konnte und ein eigenes Zielauffassungs- und Leitsystem für seine Lenkwaffe mit etwa 30 km Reichweite besaß, hielt der bekannte Luftkriegstheoretiker Feuchter eine Kombination mit dem Angriffswaffensystem für nötig. 1958 kam Feuchter bereits auf die Republic F-105 »Thunderchief« zu sprechen, die ihm als das vielversprechende Angriffs- und Verteidigungssystem erschien. Allwetterfähigkeit im Hoch- und Tiefflug, eine Vielzahl von Bewaffnungsmöglichkeiten, Verwendbarkeit als Photoaufklärer und eine Gipfelhöhe von 21 000 m schienen diesen Typ zu prädestinieren. Feuchter forderte auch von vornherein die Luftbetankungsfähigkeit, um bei Zerstörung der frontnahen Basen in der BRD die Flugzeuge nachtanken und auf weiter zurückliegenden Basen landen lassen zu können. Bei Galland und Feuchter standen sich also zwei sehr entgegengesetzte Meinungen gegenüber. Galland sah in den damaligen europäischen Entwicklungen von Leichtbaujägern mit Mischantrieb, wie Saunders Roe SR 177, Trident II, Mirage III und Griffon (Raketen-/Staus trahi-/Turbinenstrahl trieb werk) die Lösung des Interceptorproblems. Feuchter wollte durch Verwendung der seinerzeitigen, wesentlich schwereren US-Flugzeuge, wie F-105, F-107 und der projektierten F-108, beide Probleme gleichzeitig lösen: Angriff und Verteidigung. Beide Autoren sprachen hier vom Prinzip der fliegenden Abschußrampe, die allein die unbedingt notwendige Schwerpunktbildung in der Luft ermöglichen würde. Neben diesen rein waffentechnischen Gesichtspunkten betonten die Verantwortlichen für die Ausrüstung der Luftwaffe, der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Strauß und der Inspekteur der Luftwaffe, General Kammhuber, aber auch ganz besonders den Gesichtspunkt der Wiedereinrichtung einer deutschen Luftfahrtindustrie. Minister Strauß erklärte bei der Jahrestagung des Bundesverbandes der deutschen Luftfahrtindustrie im Juni 1957, daß in unserer Zeit der Lebensstandard und die internationale wirtschaftlich-technische Stellung einer Nation ganz wesentlich von dem Stande ihrer Luftfahrtindustrie abhänge. Dazu müßten wir qualitativ den Rückstand, der durch die Zwangspause von zwölf Jahren bedingt war, in wenigen Jahren wieder einholen. Quantitativ

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seien die Grenzen durch den Bedarf gezogen. Von der zunächst militärischen Fertigung würden Impulse für zivile Anschlußprojekte ausgehen. Zur wirtschaftlichen Ausnutzung der Entwicklungs- und Fertigungskapazität forderte Strauß die aus den früheren Firmen wiederentstehende Luftfahrtindustrie zu Zusammenschlüssen auf. Dieser Ruf verhallte leider zunächst unbeachtet. Für die Luftwaffe forderte Strauß den Einheitstyp als Interceptor, Aufklärer mit 1000 km Eindringtiefe und Strike-Jabo mit mehreren 100 km Eindringtiefe. Er erkannte die Vorteile des Spezialflugzeuges gegenüber dem Mehrzweckflugzeug an, stellte sich jedoch auf den Standpunkt, daß die BRD sich den logistischen und personellen Aufwand für mehrere Spezialtypen wirtschaftlich nicht leisten könne. Der damalige Oberst Panitzki vertrat inhaltlich etwa die gleiche Forderung; er hat insbesondere den Wiederaufbau einer deutschen Luftfahrtindustrie, als technisches Rückgrat der Luftwaffe, schon im Mai 1956 öffentlich gefordert. General Kammhuber begründete 1957 seine Ansicht zur Einführung eines Mehrzweckflugzeuges mit den technischen Möglichkeiten der austauschbaren Elektronik und der beim Mehrzweckflugzeug gegebenen wesentlichen Vereinfachung der Logistik sowie auch sämtlicher Leit- und Einsatzverfahren, die dann optimal auf dieses eine Flugzeug zugeschnitten werden könnten. In einem Artikel vom August 1966 bekräftigte er noch einmal seine damalige Entscheidung, da ein entscheidender Vorteil des bemannten Flugzeuges in seiner durch den Menschen gegebenen Flexibilität läge: Zielwechsel, Angriff mehrerer Ziele und Rückruf ohne Waffeneinsatz seien mit dem Flugzeug möglich, mit der Rakete nicht. Neben diesen taktisch-technischen Überlegungen und der wirtschaftlichen Notwendigkeit des Wiederaufbaus einer deutschen Luftfahrtindustrie ergab sich seinerzeit noch die günstige Parallele, daß andere europäische Länder, wie Holland, Belgien, Italien und Dänemark, ebenfalls vor der Entscheidung für ein Nachfolgesystem für die gleichen bisherigen Einsatztypen ihrer Luftstreitkräfte standen. Die Chance für eine Standardisierung in einem einmaligen und bisher nicht gewesenen Umfang bot sich an.

Die Auswahl eines Mehrzweckwaffensystems Versucht man nun die damalige militärische Forderung an das Material als den Ausgangspunkt der Entwicklung dieses Mehrzweckflugzeuges zu rekonstruieren, so ergibt sich etwa folgendes Bild: Mehrzweckflugzeug für die Verwendung - als Strike-Jabo mit einer Bombenlast von 1000 kg, einem Aktionsradius von etwa 800 km beim Einsatz in Höhen zwischen 10 000 und 15 000 m: In diesen Höhen soll eine hohe Überschallgeschwindigkeit geflogen werden können. Beim Einsatz in Bodennähe, z.B. z u m Unterfliegen feindlicher RadarFrühwarnketten, muß Fliegen im transsonischen Bereich möglich sein. Die Reichweite muß bei gleicher Bewaffnung wie im Höheneinsatz immer noch

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möglichst groß, ein Rückflug mit hoher Fluchtgeschwindigkeit in größeren Höhen denkbar sein. Bodenunabhängige Navigationsanlage ist erforderlich; - als Interceptor für den Heimatschutz, sowohl für das Sperrefliegen in großen Höhen als auch für den Objektschutz bei kurzfristiger Alarmierung: 10 000 m Höhe müssen nach etwa drei Minuten vom Anrollen an erreicht werden. Die Bewaffnung sollte aus einem oder mehreren aktiv oder passiv gelenkten Luft-Luft-Flugkörpern bestehen. Der Angriff auf das Ziel soll mit hoher Überschallgeschwindigkeit erfolgen, die Bordfeuerleitanlage ist entsprechend in ihrer Reaktionsgeschwindigkeit und Reichweite auszulegen. Der Einsatz wird bis auf Reichweite der Bordfeuerleitanlage vom Boden aus gesteuert. Die Einsatzdauer soll wenigstens 45 Minuten beim Objektschutz, wenigstens 100 Minuten beim Sperrefliegen betragen. Überschallgeschwindigkeit muß im Steigflug erreicht und überschritten werden; - als Photoaufklärer mit einer Eindringtiefe von etwa 1000 km bei hoher Überschallgeschwindigkeit im Höhenflug und transsonischer Geschwindigkeit, wenigstens für Teile der Strecke, im Tiefflug: Der Hinflug zum Aufklärungsziel kann subsonisch in geringer Höhe erfolgen. Die Photoausrüstung muß in Verbindung mit der Navigationsanlage des Flugzeuges ein Finden und Aufnehmen des Ziels im ersten Überflug gestatten. Die Photoausstattung soll wenigstens die gleichen Forderungen erfüllen wie bei den seinerzeit eingesetzten taktischen Photoaufklärern Republic RF-84 F »Thunderflash«. Als Selbstschutzbewaffnung soll das Flugzeug eine Kanonenbewaffnung besitzen (auch für Gewaltaufklärung). Der Rückflug soll mit hoher Überschallgeschwindigkeit in größeren Höhen erfolgen können. Zusatzforderungen für alle drei Rüstzustände gemeinsam: - die drei Rüstzustände sollen sich mit einem Zellen- und Triebwerkgrundtyp erfüllen lassen. Die Navigations-, Feuerleit-, Waffen- bzw. Photoausrüstung muß in Einschubbauweise feldmäßig austauschbar sein; - mit Ausnahme der Einschübe für die verschiedenen Rüstzustände sollen die Ersatzteile für alle drei Untertypen möglichst identisch sein; - die Bewaffnung des Strike-Jabos und des Interceptors muß konventionell und nuklear möglich sein; - der gewählte Grundtyp muß in Deutschland in Lizenz hergestellt werden können. Dies gilt auch für die Einschübe für die verschiedenen Rüstzustände; - das Flugzeug muß in allen drei Rüstzuständen notfalls von kurzen, nicht betonierten Rollbahnen starten können, Starthilfen — soweit notwendig — müssen im System enthalten sein; - die Materialerhaltungsstufen 1 und 2 müssen feldmäßig durchgeführt werden können. Das gesamte Bodengerät muß mobil bzw. wenigstens transportabel sein. Wartung und Störbehebung müssen unter freiem Himmel bzw. in Feldhallen oder ähnlichem durchführbar sein. Die Störbehebung muß sich als Austausch von einfach zu montierenden, fertig eingestellten Komponenten gestalten;

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das Flugzeug muß unter europäischen Witterungsbedingungen eingesetzt werden können. Diese sehr hohen Forderungen erinnern in zeitgemäß weiterentwickelter Form interessanterweise an den Schnellbombervorschlag des Franzosen Rougeron, der in den frühen dreißiger Jahren viele Fachleute beschäftigte. Während der Aufbau und die Ausbildung der ersten Einsatzverbände der deutschen Luftwaffe anlief und mit der Aufstellung von drei Jabo-Geschwadern bis Ende 1958 gute Fortschritte machte, gingen die Offiziere des Führungsstabes der Luftwaffe, die Abteilung Technik im BMVg und das Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung an die Auswahl des geforderten Ablösemusters für die Erstausstattung der Luftwaffe. Hier ist eine Anmerkung in bezug auf den sogenannten Materialentstehungsgang notwendig. Während später, genauer gesagt erstmals 1960, Verfahren für die Auswahl, Entwicklung, Erprobung, Erklärung der Einführungsreife und endgültige Einführung von Wehrmaterial festgelegt worden sind, war ein solches System 1956/57 noch nicht gegeben. Im BMVg war man der Auffassung, daß es darum ging, ein fertiges Flugzeug zu finden, dessen Lizenzfertigung in Deutschland so rechtzeitig anlaufen konnte, daß Anfang der 60er Jahre die Umrüstung der Verbände beginnen konnte. Entwicklung, Erprobung und Produktion mußten also in einer Art und Weise zeitlich verbunden verlaufen, daß die Form des später geschlossenen »Entwicklungs- und Produktionsvertrages« mit der Firma Lockheed verständlich wird. Welche Auswahl bot sich nun an? In den Jahren nach dem Koreakrieg hatten eine ganze Reihe von Flugzeugherstellern in Europa und in den USA aufgrund der jüngsten Erfahrungen, teilweise im staatlichen Auftrag, teilweise auf eigene Faust begonnen, militärische Hochleistungsflugzeuge zu entwickeln. Hierbei waren ganz klar zwei Schulen zu unterscheiden: - Die amerikanische Schule, die aufgrund der Lage und Größe der USA zu schweren Flugzeugen mit hohen Reichweiten, großen Nutzlasten und entsprechend hohen Start- und Landebahnanforderungen führte. Bis 1956 war in den USA nur ein echtes Leichtbauflugzeug für den taktischen Einsatz verwirklicht worden, der Flugzeugträger-Jagdbomber Douglas A 4 »Skyhawk«. Nach amerikanischen Maßstäben galt aber auch ein Flugzeug wie die seit 1955 in Flugerprobung stehende Lockheed F-104 Starfighter mit ihren zunächst 7-8 t Startgewicht durchaus als Leichtgewicht! - Die europäische Schule, die in Anbetracht der Frontnähe aller europäischen Länder im Konfliktfall zu einem wirklichen Leichtbauflugzeug extrem hoher Steiggeschwindigkeit bei gleichzeitig kurzen Start- und Landestrecken tendierte. Für diese Entwicklungsrichtung gab es in Europa 1956/57 eine ganze Reihe von interessanten Prototypen. Serienreif war 1957 allerdings noch keines dieser Flugzeuge. Neben diesen Hauptmerkmalen der Entwicklung auf den beiden westlichen Kontinenten war zu beachten, daß der Begriff des Waffensystems in Europa noch nicht wirklich erfaßt und durchgeführt wurde. Das hing auch damit zu-

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sammen, daß die Entwicklung von leistungsfähigen Bordfeuerleitanlagen, bodenunabhängigen Navigationsanlagen und Flugzeugwaffen in Europa nach dem Koreakrieg gegenüber den USA etwas in Rückstand geraten war. Die europäische Luftfahrtindustrie, der die diesbezügliche Befruchtung durch eine intensive Raumfahrtentwicklung fehlte, hatte sich auf die aerodynamische Gestaltung der Flugzeugzelle sowie auf die Triebwerkentwicklung konzentriert. In den USA befand sich aber seit 1955 das erste wirklich transsonische Waffensystem, die North American F-100 Super Sabre, in Einführung und auch bereits im Einsatz bei der Truppe. Ein Faktor, der zu dieser Entwicklung geführt haben kann, mögen auch die verhältnismäßig höheren Kosten der Entwicklung von Elektronik und Waffen gegenüber der Entwicklung von Zelle und Triebwerk gewesen sein. Hier beeinflußte die Finanzkraft der USA stark das technische Leistungsverhältnis zwischen den USA und Europa. Eine Kommission der Luftwaffe und der Abteilung Technik des BMVg besichtigte, prüfte und flog fast alle zur Auswahl stehenden Typen europäischer und amerikanischer Anbieter. Im November 1958 fiel die Entscheidung für die Lockheed F-104 Starfighter in ihrer vorgeschlagenen Weiterentwicklung F-104 G Superstarfighter. Was waren die Gründe für diese Entscheidung? - Das Waffensystem F-104 A stand bei der United States Air Force (USAF) bereits im Einsatz. Bei diesem Flugzeug konnte wirklich vom Vorhandensein eines Waffensystems gesprochen werden. - Das Flugzeug hatte beim Vergleichsfliegen die Leistungen der Konkurrenten erreicht oder übertroffen. Seine Steig- und Beschleunigungsleistung als Interceptor übertraf die der Konkurrenten klar. - Lockheed war bereit, einer deutschen Firma bzw. einer Firmengruppe Lizenz auf die Herstellung von Flugzeug und Einbauten zu geben. Dabei wollte Lockheed zentral die Abwicklung der Lizenzen zu den Unterauftragnehmern im Rahmen seiner bereits bestehenden Geschäftsbeziehungen durchführen. Mangels eigener Erfahrung, speziell auf dem amerikanischen Markt, war dies für Deutschland von besonderer Bedeutung. - Lockheed bot als einziger Konkurrent in der F-104 G ein Navigationssystem an, das in der Lage war, die deutsche Forderung nach einer zuverlässigen bodenunabhängigen Navigation über Feindgebiet zu erfüllen. Durch die Kombination eines zentralen Luftwerterechners mit einem Autopiloten, der von einer kreiselstabilisierten Plattform (Trägheitsnavigator Litton LN-3) aus mit Beschleunigungswerten um alle drei Achsen des Flugzeuges versorgt wurde, wobei am Boden mehrere Zielpunkte festgelegt (programmiert) werden konnten, sollte die F-104 G tatsächlich das erste einsitzige Kampfflugzeug mit einer selbsttätigen programmierten Dreiachsenkurssteuerung werden. Für Zielsuche, Zielverfolgung, Zielerfassung und Entfernungsmessung ergänzte das NASARR Bordradar und Feuerleitgerät diese Navigationsausrüstung auf dem Gebiet der Interception. Das gleiche NASARR sollte auch eine wertvolle Hilfe beim Finden von Bodenzielen sowie für die Navigation

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sein. Durch die Anwendung der »Radar Prediction« (Erzeugung von synthetischen Radarbildern mit Hilfe von Geländemodellen als Navigationshilfen) unterstützte das NASARR die Navigation im Tiefflug vor allem bei Nacht und schlechter Sicht. In Verbindung mit dem PHI (Position Homing Indicator)-Flugwegrechner sollte der bereits erwähnte Trägheitsnavigator Litton LN-3 ständig Flugwegrichtung und Distanz zu einem der vorgewählten Ziele liefern. Als weitere Navigationsmöglichkeit stand eine komfortable Navigation mit Hilfe des bodenabhängigen TACAN (Tactical Air Navigation) zur Verfügung. Für die verschiedenen Bewaffnungsmöglichkeiten sollte die F-104 G mit Einschüben auszustatten sein, die jeweils die notwendigen Rechenanlagen enthielten. Durch diese Einschubbauweise sollte auch in gewissem Rahmen die Ausstattung des Flugzeuges mit neuen, ursprünglich nicht vorgesehenen Waffen möglich sein.

Die versorgungs- und waffentechnische Weiterentwicklung Im März 1959 unterzeichnete die Bundesrepublik Deutschland, nach Zustimmung von Koalition und Opposition im Bundestag, den kombinierten Entwicklungs- und Lizenzbauvertrag für die F-104 G. Lockheed verpflichtete sich, binnen 18 Monaten die endgültige Version G für die Erprobung bereitzustellen. Dies geschah auch vertragsgemäß zum Oktober 1960. In diesem später sehr umstrittenen Vertrag übernahm die Firma die sogenannte »Design-Responsibility« für einen längeren Zeitraum. Das bedeutete, daß Lockheed die Verantwortung für das Änderungswesen des Flugzeuges auch noch über den Abschluß der europäischen Fertigung hinaus tragen würde. Dies entsprach einem deutschen Wunsch, der durch den Mangel an Erfahrung bei der gerade erst wieder entstehenden deutschen Luftfahrtindustrie begründet war. Zur fachlichen Beratung für das Änderungswesen richtete die USAF die sogenannte SMAMA (Sacramento Air Materiel Area) ein, eine Dienststelle, die Änderungswünsche und -Vorschläge sowohl von Lockheed als auch von deutscher Seite vorprüfen, empfehlen oder verwerfen sollte. Hauptlizenznehmer in Deutschland wurde der sogenannte Entwicklungsring Süd, eine gemeinsame Gründung von Bölkow, Messerschmitt, Siebel und Heinkel. Auf die drei letzteren Betriebe wurde die Fertigung der deutschen F-104 G verteilt. Der EWR Süd vergab seinerseits wiederum Unteraufträge für das Zubehör und die Einbauten des Flugzeuges, für Boden- und Prüfgerät, für Werkzeuge und Bodeneinrichtungen an zahlreiche deutsche und europäische Auftragnehmer. Für die Endmontage wurde u.a. die Flugzeugwerft Messerschmitt Manching eingerichtet. Schon im Dezember 1959 schlössen sich die Holländer der deutschen Entscheidung an. Im April 1960 unterzeichneten sie den Lizenzbauvertrag mit

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Lockheed. Belgien folgte mit dem Vertragsabschluß im Juni 1960 und letztlich auch Italien im März 1961. Insgesamt betrug der Erstbedarf dieser vier Staaten 849 F-104 G, wozu noch 100 Stück aus Lieferungen des Military Aid Program (MAP) an Italien, Belgien und die Niederlande kamen. Auch Dänemark erhielt F-104 aus MAP-Mitteln, ohne sich jedoch an der europäischen Gemeinschaftsproduktion zu beteiligen. Um die sich anbietende logistische Schwerpunktbildung der NATO-Luftwaffen im europäischen Raum zu verwirklichen, wurde im Mai 1960 in Koblenz die NATO-Dienststelle »Organisme de Direction et Control« (ODC) gebildet. Nachdem ein erstes Produktionsprogramm zwischen Belgien, Holland und der BRD ausgehandelt worden war, stieß Italien im Juni 1960 ebenfalls zu der Gemeinschaft. Das Programm wurde wieder geändert, da nun auch italienische Auftragnehmer berücksichtigt werden mußten. Eine endgültige Einigung über den Ablauf und die Verteilung der Lizenzfertigung wurde erst nach zwei Verteidigungsministerkonferenzen der vier Staaten und den USA im April 1961 erzielt. Da im ODC für jeden Detailbeschluß die Zustimmung aller vier Staaten erreicht werden mußte, die zudem noch in zwei verschiedenen Führungsgremien zu entscheiden hatten, entschloß man sich, zum Oktober 1961 eine Umbildung der Organisation durchzuführen. Am 1. Oktober 1961 unterzeichneten der NATO-Generalsekretär Dirk Stikker und der Generalmanager der neugebildeten NASMO (NATO Starfighter Management Office) einen Vertrag, der den endgültigen Startschuß zum bis dahin größten wirtschaftlichen Gemeinschaftsprojekt der NATO gab. Die Fertigung von 849 Flugzeugen zu einem zunächst vereinbarten Stückpreis von 4 683 000 DM ergab einen Gesamtauftragsumfang von ca. 6 Milliarden DM. Wie gut diese Preiskalkulation war und wie gut die Zeitplanung eingehalten wurde, war klar zu erkennen, als das Nachbauprogramm Ende 1966 seinen Abschluß fand. Über 90 Prozent der geplanten Termine waren gehalten worden, die Preisangaben hatten sich trotz der Lohn- und Materialpreiserhöhungen in vier Jahren als richtig erwiesen. Es würde zu weit führen, das Nachbauprogramm in diesem Rahmen näher zu beschreiben und nach den Gründen für sein Funktionieren zu suchen. Vom technischen Standpunkt aus muß man seine Anerkennung besonders auch für die Leistung der Fertigung von 849 Flugzeugen in vier verschiedenen Staaten, bei vier Zellenbauhauptauftragnehmern, zwei Triebwerkbauauftragnehmern und einer wahren Unzahl von Unterauftragnehmern aussprechen, die ein Produkt fertigten, das tatsächlich im Rahmen dieser vier Staaten austauschbar wurde. Abgesehen von allen Schwierigkeiten muß man General Johannes Steinhoff zustimmen, der im November 1965 schrieb: »Heute fliegen in Europa rund 1000 F-104 (einschließlich Dänemark und Norwegen). Was vor Jahren noch ein aufregender Versuch war, ist Routine geworden. Die Kritik an der Einführung dieses Flugzeuges muß verstummen, angesichts der Tatsache, daß die NATO-Wettbewerbe der Jagdbomber eindeutig unter Beweis stellen, daß die F-104 G zum Taktischen Flugzeug Nummer 1 geworden ist!«

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Zwischen der Auswahl des Flugzeuges F-104 G für die europäischen Konsortiumsländer und dem Abschluß des Nachbauprogramms sind rund 6 Jahre vergangen, die technische Entwicklung der Waffen des Luftkrieges war in dieser Zeit nicht stehengeblieben. Auch am Starfighter war die Zeit nicht spurlos vorübergegangen. Erfahrungen aus den ersten Einsatzjahren führten zu insgesamt 1200 technischen Änderungen gegenüber dem Grundtyp. 750 davon hat die gemeinsame »Logistic Working Group« der Konsortiumsländer mit SMAMA und Lockheed bis 1966 abgewickelt und durchgeführt. Die ständigen Änderungen des Flugzeuges machten eine internationale Configuration-Control (Bauzustandskontrolle) notwenig, um die Einheitlichkeit zu erhalten. Bis zum Jahre 1970 sollten zumindest die deutschen F-104 G die vorgesehene Zellengrundüberholung durchlaufen haben. Im Rahmen dieser Überholung sollten die letzten dann noch ausstehenden Änderungen durchgeführt werden. Gleichzeitig kündigten sich aber bereits notwendige Ergänzungen des Waffensystems an. Betrachten wir aus Sicht des Jahres 1966, wie die ursprünglichen Forderungen an das Flugzeug seinerzeit, unter bereits geänderten Bedingungen, noch erfüllt wurden: - Der Strike-Jabo-Einsatz mußte wegen der Entwicklung der feindlichen Abwehrwaffen aus der Höhe in den Tiefflug verlegt werden. Bei der Ausrüstung der Verbände wurde in Erfüllung der NATO-Einsatzaufgabe »Strike« auf eine Bereitstellung moderner konventioneller Waffen verzichtet. Unter Ausnutzung des gesamten verfügbaren Startgewichts des Flugzeuges kortnF-104 »Starfighter«

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te die geplante Schwerpunktwaffe an die vorgesehenen Ziele gebracht werden. Die Jabo-Verbände F-104 G waren von ihrer Aufgabe her und durch ihre Bewaffnung voll NATO-integriert und dem nationalen Einfluß für den Einsatz entzogen. - Die Schwächen des Abfangjägersystems F-104 G lagen in seiner Bewaffnung mit Infrarot-suchenden Raketen Sidewinder AIM-9B. Die ursprünglichen Einsatzbeschränkungen dieser Flugkörper sind mittlerweile bekannt. Es erscheint darüber hinaus fraglich, ob tatsächlich im Ernstfall noch nennenswerte Ziele in den anfänglich vorgesehenen Einsatzhöhen der F-104 G eingeflogen wären. Das Führungssystem des Abfangjägers bedurfte noch der Verbesserung der Gefechtsstände durch halbautomatische Lageerstellung und -führung. Ein Wechsel der Bewaffnung auf die radargesteuerte Sparrow III wurde erwogen. - Die Kameraausstattung des Photoaufklärers war unzureichend. Der Kameraträger war, verglichen mit der Republic RF-84 F »Thunderflash«, zwar wesentlich schneller geworden, die mögliche Bildqualität war aber zurückgegangen. Eine Ergänzung des Aufklärungssystems durch Seitensichtradar (SLAR) war beabsichtigt. Bei der Bedeutung der Aufklärung für den mutmaßlich Schwächeren, mußten bald modernere Aufklärungsverfahren und -mittel eingeführt werden. Die wichtigste Änderung war aber in den ersten sechs Jahren des Einsatzes der F-104 G in der Art der Bedrohung durch den Gegner vor sich gegangen. Nicht Badger, Bear oder Bison waren noch die Hauptbedrohung unserer Absprungbasen für den nuklearen Gegenschlag, sondern mehrere hundert mobile Abschußrampen für taktische Raketen vom sowjetischen Typ »Scud«. Mit einer Reichweite von wenigstens 300 km, taktischen nuklearen Gefechtsköpfen und der damals für solche Waffen zu erwartenden Einzeltrefferwahrscheinlichkeit ließen sie die Benutzung unserer F-104-G-Basen, die nahezu alle in ihrer Reichweite lagen, im Kriegsfall zumindest als sehr fragwürdig erscheinen. Abwehrmittel für diese mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit anfliegenden und relativ kleinen Ziele gab es noch nicht. Da dies zu befürchten war, enthielten die ursprünglichen Forderungen an das Waffensystem F-104 G bereits die Null- bzw. Kurzstartfähigkeit. In Zusammenarbeit mit dem United States Marine Corps wurde das Feldflugplatzsystem SATS (Short Airfield for Tactical Support) mit Katapult und Fanganlage bis zur Truppenversuchsreife entwickelt und erprobt. Das Jagdbombergeschwader 32 sollte diesen Truppenversuch ab Herbst 1966 durchführen. Mit den auch einzeln zu verwendenden Komponenten des Systems ließen sich vorhandene kleinere Flugplätze kurzfristig zu Lande- oder/und Startplätzen für die F-104 G machen. Auch diese Plätze wären Ziele gewesen, wenn auch viel kleinere als die festen Haupteinsatzbasen, aber ihre vermutlich wesentlich größere Anzahl hätte es dem Gegner schwer gemacht, sie wirkungsvoll zu bekämpfen. Nur für den nuklearen Strike-Einsatz wurde das ZELL (Zero Length Launch)-Verfahren, der raketenunterstützte Nullstart, bis zur Truppenversuchsreife entwickelt. Die Basis, ein kleines, transportables oder sogar mobi-

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les Startgestell hätte es erlaubt, wahrhaft flexibel den überraschenden Schlag mit nuklearen Waffen örtlich, zeitlich und kräftemäßig schwer durch den Gegner lokalisierbar zu führen. Sieben bemannte Versuchsstarts, vier davon mit voller Strike-Konfiguration, haben in Lechfeld erfolgreich stattgefunden. Die Zulassung zum Truppenversuch war nur noch eine Frage von Wochen, als im Lichte des Strategiewandels der NATO von der »massive nuclear retaliation« (MC 14/2) zur »flexible response« (MC 14/3) General Steinhoff im Oktober 1966, kurz nach seinem Amtsantritt als Inspekteur der Luftwaffe, beide Entwicklungen einstellen ließ. Bei Betrachtung der Gründe, die zum Waffensystem F-104 G geführt haben, war vom politischen Auftrag an die Streitkräfte und von der 1957 gültigen Planung der Kriegführung in Europa mit nuklearen Waffen als Abschreckungsund Vernichtungsmittel auszugehen. Für diese Angriffsaufgäbe wurde aus dem Interceptor F-104 A der Strike-Jabo F-104 G entwickelt. Hier schien sich 1966 eine Änderung anzubahnen, die nicht ohne technisch-taktische Folgerungen für das Waffensystem bleiben konnte. Eigentlich bereits seit der Kubakrise und dem damaligen Abzug der amerikanischen Jupiterraketen aus der Türkei hatten die Amerikaner eine langsame »Entnuklearisierung« Europas begonnen. Die Ausstattung der Bundeswehr mit nuklearen Waffen, auch wenn diese dem nationalen Zugriff der BRD entzogen waren, führte zu ständigen internationalen Reibereien zwischen der UdSSR und den USA. Mitte der 60er Jahre verfügten die USA mit der Minuteman-Rakete und den Polaris-U-Booten über nukleare Abschreckungsmittel, die eine Stationierung größerer A-Waffen auf europäischem Gebiet unnötig erscheinen ließen. Nachdem sich hier technisch die Möglichkeit zu einer entspannenden Geste anbot, deutete der US-Verteidigungsminister 1966 auf der Ministerkonferenz der NATO an, daß die Versorgung der Strike-Verbände der Luftwaffe mit den nuklearen Waffen nur noch eine Frage der Zeit sei. Vorgeschoben wurde hierbei die mangelnde Sicherheit und Effektivität der Waffen beim Einsatz von deutschen Basen aus. Aus wirtschaftlichen Gründen wurde auch eine Umrüstung der Angriffsverbände der Luftwaffe auf das unbemannte Flugkörper-Waffensystem Pershing empfohlen. Die damalige Zahlungsbilanz USA/BRD mag teilweise die Begründung im Hintergrund geliefert haben. Inzwischen war die Einführung des Waffensystems F-104 G Starfighter praktisch vollzogen und Betriebserfahrungen waren gewonnen worden. Dieses Waffensystem war zum Modell für Standardisierung in der NATO geworden. Wie aber war die Einführung in die junge deutsche Luftwaffe und in die Seeluftstreitkräfte verlaufen? Neben der bereits geschilderten Schaffung der Nachbauorganisation erforderte diese vor allem die Festlegung einer Umrüstungszeitfolge der deutschen fliegenden Verbände und die Ausbildung von Flugzeugführern und technischem Personal. Die Ausbildung deutscher Flugzeugführer begann im Frühjahr

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1960 bei Lockheed mit der sogenannten »Conversion Flight F-104 F«. Unter der Führung des damaligen Oberstleutnant Günther Rail flogen in diesem 1. Lehrgang fünf weitere Flugzeugführer, nämlich der Hauptmann Hans Ulrich Flade, die Oberleutnante Berthold Klemm, Edmund Schultz, Wolfgang von Stürmer und Hans-Jörg Kuebart. Oberstleutnant Rail, der spätere Inspekteur der Luftwaffe, war zu dieser Zeit Leiter des Arbeitsstabes F-104 im Bundesministerium der Verteidigung. Der 1959 aufgestellte Arbeitsstab hatte die Aufgabe, alle mit der Einführung der F-104 zusammenhängenden Maßnahmen zwischen dem Führungsstab Luftwaffe und den Abteilungen Technik und Wirtschaft sowie dem Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung zu koordinieren. Außerdem war der Leiter des Arbeitsstabes auch »chairman« des F-104 Air Staff Meeting, an dem Vertreter der Niederlande, Belgiens, Italiens und Deutschlands teilnahmen, um alle Änderungen an der F-104 unter den Nutzerluftwaffen abzustimmen. Ständiger beratender Teilnehmer an diesen Treffen war Kanada. Der Arbeitsstab F-104 wurde 1964 aufgelöst, weil man die Einführung der F-104 für abgeschlossen erachtete. Am 24. Februar 1960 absolvierte Oberstleutnant Rail als erster deutscher Flugschüler einen Alleinflug mit der F-104 F. Er war somit der erste von weit über 2000 Bundeswehrpiloten, die bis 1986 eine Starfighter-Ausbildung erfolgreich abschlössen. Mit diesen ersten Flugzeugführern wurden auch erste Luftwaffentechniker in den USA in das neue Waffensystem eingewiesen und anschließend begannen in Kaufbeuren an der TSLw 1 (Technische Schule der Luftwaffe 1) die ersten Einweisungslehrgänge. Im Frühjahr 1960 wurde dann in Nörvenich die vierte Staffel der Waffenschule 10 aufgestellt.

Die »Starfighter-Krise« In diese Aufbauzeit fiel auch der erste Starfighter-Verlust der Luftwaffe. Am 29. März 1961 befanden sich Hauptmann Hans Ulrich Flade und sein Flugschüler Wolfgang Strenkert auf einem Ausbildungsflug in mittleren Höhen, als wegen eines technischen Fehlers das Triebwerk ausfiel. Die Besatzung rettete sich mit dem Schleudersitz und blieb unverletzt. Mit diesem Unfall begann eine lange Kette von Abstürzen, die in den kommenden Jahren den Starfighter in der Öffentlichkeit immer mehr in Verruf bringen und die Luftwaffe in eine schwere Krise stürzen sollte (vgl. Klaus Kropf, Deutsche Starfighter, Köln 1994, S. 25 f.). Die Jahre 1961 bis 1964 waren angefüllt mit der Umrüstung der Geschwader und der Umschulung der Luftwaffenpiloten von der F-104 F auf die F-104 G. Ende 1963 traten die Probleme der schnellen Umrüstung auf das neue Waffensystem jedoch deutlich zu Tage. Alle umzurüstenden Verbände litten unter einem Mangel an Bodengeräten, Ersatzteilen, ausgebildeten Technikern und umgeschulten Piloten. Trotzdem ging die Umrüstung im Zeittakt der Auslieferung

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der Flugzeuge weiter. Das Jahr 1965 brachte dann aber vermehrte technische Probleme mit dem neuen Waffensystem. Hauptfahrwerke, C2-Schleudersitze und Kabinendächer bereiteten immer wieder Sorgen und hatten Zwischenfälle, Unfälle, Sonderprüfungen und Unterbrechungen des Flugbetriebes zur Folge. Nachschubprobleme der Technik konnten oft nur durch gesteuerten Ausbau, sogenannte »Kannibalisierung« anderer Maschinen gelöst werden. Fehlender Hallenraum und das hierdurch bedingte Abstellen der Flugzeuge im Freien bei Nacht und schlechtem Wetter drückten die Klarstände besorgniserregend herab. 1965 war das Jahr der beginnenden Krise, der sogenannten »Starfighter-Krise«. In der Zeit vom 11.-29. Juni 1965 stürzten allein 5 F-104 G ab. Es verging nun fast keine Woche mehr ohne Absturz. Die Luftwaffe suchte Hilfe, wo sie Hilfe finden konnte und Rat bei ihren Verbündeten. Im Herbst 1966 wurde der Deputy SACEUR, Marshal of the Royal Air Force, Sir Thomas Pike, um eine Beurteilung der Lage gebeten. Sein Fazit: »Hoher politischer Druck, einen entsprechend hochwertigen Beitrag auch im Rahmen der nuklearen Abschreckung zu leisten, geringe Erfahrung mit Waffensystemen der F-104-Generation auf Grund der Unterbrechung zwischen 1945 und 1956 sowohl im fliegerischen als auch im technischen Bereich und zu wenige verfügbare Flugstunden für das tägliche Training. Dazu bestand die Führung der Luftwaffe nicht aus auf modernen Mustern erfahrenen Flugzeugführern. Dies war nach seiner Meinung eine gefährliche Kombination, die zu einer hohen Verlustrate führen mußte« (Kropf, S. 41). Das Jahr 1966 ging als Krisenjahr der Luftwaffe in die Geschichte ein. Die nicht abreißende Folge von Starfighter-Abstürzen und die durch die Medien angeheizte öffentliche Empörung darüber gipfelten im September in einem Wechsel an der Spitze der Luftwaffe. Generalleutnant Johannes Steinhoff wurde nach dem Rücktritt von Generalleutnant Panitzki neuer Inspekteur der Luftwaffe. Bereits im Januar 1966 hatte der Bundesminister der Verteidigung, Kai-Uwe v. Hassel, den Kommandeur der 4. Luftwaffendivision, Brigadegeneral Diether Hrabak, auf Vorschlag Panitzkis zum Sonderbeauftragen für den Starfighter bestellt. Die von ihm geleitete Arbeitsgruppe war für alle Maßnahmen zur Verbesserung des Waffensystems zuständig.

Wie hatte sich die Starfighter-Krise entwickelt? Wie schon dargestellt, hatte die Luftwaffe am 29. März 1961 ihren ersten Starfighter F-104 F verloren. Zum Glück ohne Schaden für die Besatzung. Der erste tödliche Unfall ereignete sich am 25. Januar 1962 in Nörvenich. Beim Formationsstart von zwei F-104 F der Waffenschule 10 versagte bei der taktischen Nr. 2 der Nachbrenner. Die F-104 F mit Hauptmann Tyrkowski und Oberleutnant Völter hob dennoch kurz vor dem westlichen Ende der Startbahn ab, konnte jedoch kaum Höhe gewinnen und flog in eine hinter der Fliegerhorstgrenze stehende Lagerhalle. Der im vorderen Cockpit sitzende Oberleutnant Völter verließ

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kurz vor dem Aufschlag in etwa vier Meter Höhe das Flugzeug mit dem Schleudersitz und landete unverletzt auf einem Feld. Hauptmann Tyrkowski, der auf etwa 140 Stunden F-104-Flugerfahrung nach seiner Umschulung von der F-84 F zurückblicken konnte, unternahm keinen Ausstiegsversuch und kam ums Leben. Der erste Verlust einer F-104 G stellte sich am 22. Mai 1962 ein. Nach dem Start in Nörvenich versagte beim Flugzeug des Oberleutnants Siegfried Heltzel vom JaboG 31 das Triebwerk durch Kompressorstall. Oberleutnant Heltzel verließ das Flugzeug mit dem Schleudersitz und blieb unverletzt. Insgesamt brachte das Jahr 1962 sieben Verluste von Starfightern. Während das Jahr 1963 ohne Unfälle verlief, brachte 1964 neun weitere Starfighter-Verluste. Bis Ende 1964 waren insgesamt zehn Flugzeugführer bei diesen Flugunfällen getötet worden. Davon allein vier bei dem Flugunfall vom 19. Juni 1962 in der Nähe von Nörvenich, bei dem eine Viererformation F-104 F nach einer Steilkurve Bodenberührung mit katastrophalen Folgen hatte. 1965 brachte einen steilen Anstieg der Unfallzahlen: 27 F-104 gingen verloren, 17 Flugzeugführer im Dienst der Luftwaffe, davon zwei der US Air Force, verloren ihr Leben. Das Jahr 1966 brachte mit 21 weiteren Verlusten an Flugzeugen und 13 getöteten Flugzeugführern noch keine Wende. Fieberhaft wurde nach den Ursachen dieser Unfallserie und nach Möglichkeiten zu ihrer Behebung gesucht. Es gab jedoch keinen typischen F-104-Unfall. Die Unfallursachen streuten, ausgehend von vielerlei technischen Problemen und dem immer wieder auftretenden Faktor »Mensch«: Zusammenstösse in der Luft; Abkommen von der Startbahn, Bodenberührung beim Landeanflug, immer wieder Triebwerkausfälle, räumliche Desorientierung, Nachbrennerausfall beim Start, Steuerungsprobleme, immer wieder Schubverluste durch offene Schubdüsen, Sauerstoffprobleme, mögliche Fehlfunktionen des Aufbäumreglers und bei schlechtem Wetter mißlungene Anflüge, waren typische Unfallursachen dieser Jahre. General Panitzki antwortete in einem Interview mit dem Spiegel vom 24. Januar 1966 auf die Frage: Wie erklären Sie die häufigen Unfälle im letzten Jahr? »Das Ansteigen der >F-104F-104F-104< aus Sicherheitsgründen so lange f ü r den Flugbetrieb zu sperren, bis alle Flugzeuge untersucht u n d die Mängel behoben waren«. »Diese Schwierigkeiten bestehen natürlich auch bei anderen Luftwaffen und anderen Flugzeugtypen, nur trifft dieses Problem die junge deutsche Luftwaffe besonders schwer, weil es sich in zweifacher Hinsicht auswirkt: Technische Mängel können einmal flugsicherheitsgefährdend sein, z u m anderen fällt bei Sperrungen ein hoher Prozentsatz an Flugstunden aus, der wiederum fehlt, um den Flugzeugführern die fliegerische Erfahrung zu verschaffen.« Auf die Frage, bis w a n n m a n eine Konsolidierung erwarten könne, antwortete General Panitzki: »Ein Teil dessen, was wir zur Verbesserung der Lage für erforderlich halten, geschieht bereits. Zu einem anderen Teil brauchen wir die Bewilligung des Bundestages. Die Voraussetzungen werden sich also laufend verbessern. In die Überlegungen fließen die Erkenntnisse und Erfahrungen ein, die sich aus der Umrüstung der Verbände — in der Mehrzahl in den Jahren 1964-65 — ergeben haben. Die Umrüstung wird voraussichtlich Ende 1966 abgeschlossen sein. Bis dahin hoffen wir also, weiter zu sein.« In der gleichen Ausgabe des Spiegels hieß es unter d e m Titel »Die StarfighterAffäre«: »Das teuerste Waffensystem der Bundeswehr, nach den Wunschträumen der Strategen >Speerspitze der deutschen Luftverteidigung< (FAZ) und >mächtigste Streitmacht innerhalb der NATO< (Interavia), entpuppt sich als verhängnisvolle Planungs-Pleite. Mindestens acht Milliarden Mark haben Westdeutschlands Steuerzahler bislang für Anschaffung und Erhalt der Starfighter-Armada aufgewendet — so viel, wie die Amerikaner für den Bau der ersten Atombombe aus-

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gaben. Dafür haben die Bundesdeutschen eine Streitmacht erstanden, die (nach dem Urteil des SPD-Abgeordneten Wienand) bislang allenfalls >bedingt einsatzfähig< ist.« Zusammenfassend urteilte der Spiegel: »Die beängstigenden Verluste an Maschinen und Piloten — von Fliegergeneral Johannes Steinhoff mit dem kernigen Wort >Blutzoll< umschrieben — und nicht zuletzt die Tatsache, daß für das Starfighter-Programm, unabhängig von den Verlusten durch Abstürze, bislang ungefähr 750 Millionen Mark vermeidbare Mehrkosten aufgewendet werden mußten, sind Folge einer beispiellosen Selbstüberschätzung deutscher Rüstungsplaner.« Ein zentraler Vorwurf der Kritiker war, daß die F-104 G nicht das Flugzeug sei, das die Deutschen 1959 in Kalifornien ausgewählt zu haben glaubten: »In Wahrheit wurde die US-Version des Starfighters für die Deutschen so grundlegend und vielfältig abgewandelt, als würde man etwa alle Komfort-Knöpfchen und technischen Finessen des Mercedes 600 nachträglich in das 200er Serienmodell einbauen.« Diesen Vorwurf erläuterte der Spiegel wie folgt: »Die deutsche Starfighter-Version >F-104 G< erhielt zusätzlich: den Autopiloten (der die Maschine ohne Zutun des Piloten auf Kurs hält), das Vielzweck-Radarsystem >NasarrLittonNeuen Ruhrzeitung< ein Interview, in dem er u.a. von einer »politischen Entscheidung« für die Auswahl der F-104 sprach. Er wurde am 25. August 1966, nach Rückkehr des Ministers aus den USA, in den einstweiligen Ruhestand versetzt.

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Dieser Vorgang, zusammen mit dem nahezu zeitgleichen Rücktritt des Generalinspekteurs der Bundeswehr, General Heinz Trettner, führte u.a. am 1. September 1966 zu einer Sitzung des Verteidigungsausschusses des deutschen Bundestages. In der ausführlichen Debatte legten Bundesminister von Hassel und Generalleutnant Panitzki ihre Standpunkte gründlich dar. Insgesamt konnte der Konflikt ihrer Auffassungen und Anschauungen über die Vorgänge, die zur F-104-Krise geführt hatten und schließlich den Rücktritt General Panitzkis auslösten, nicht aufgelöst werden. Der Minister erklärte: »Herr Panitzki hat dargelegt, daß er seinen Auftrag wegen organisatorischer Probleme nicht lösen konnte, und daß er daher seinen Rücktritt erklären und um die Entlassung aus dem Dienst bitten müsse. Damit weicht General Panitzki völlig von dem ab, was der eigentliche Grund für meine Entscheidung gewesen ist, die ich ihm in dem Gespräch am 2. August und in der Fortsetzung am 5. August eindeutig dargelegt habe: nämlich der Vorwurf, daß er in den entscheidenden Fragen nicht orientiert worden ist, und daß er in den entscheidenen Fragen daher auch seinen Minister nicht hätte unterrichten können.« General Panitzki faßte seine Gründe wie folgt zusammen: »Zwischen dem 5. und 11. August habe ich nach reiflicher Überlegung und Beratung mit erfahrenen Generalen den Entschluß gefaßt, den Herrn Minister um Entbindung von meinem Amt zu bitten, da — der Herr Minister hat mein Gesuch vorgelesen — erstens, meine langjährigen Bitten um organisatorische Änderungen erfolglos geblieben seien, zweitens, der Minister vor Luftwaffeneinheiten am 28. und 29. Juli und am 9. August 1966 in Anwesenheit, zum Teil sogar Unfallrate F-104 G pro 10 000 Flugstunden

Jahr

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von Zivilbediensteten, und in einem Falle vor Kommunalvertetern, Vorwürfe gegen die Luftwaffenführung erhoben habe und drittens, ich auf Grund dieser Vorwürfe und meiner Unterredungen vom 2. und 5. August zu der Auffassung gelangt sei, daß ich nicht mehr das Vertrauen des Ministers besäße und ohne sein Vertrauen eine erfolgreiche Arbeit nicht mehr möglich war. Darüber hinaus habe ich aus diesen Besprechungen den Eindruck gewinnen müssen, daß nunmehr der Luftwaffe und mir die Hauptschuld an der F-104-Situation gegeben werden sollte. Am 12. August 1966 habe ich dem Minister den Brief mit der Bitte um Entbindung von meinem Amt übergeben.« Nachdem bei der Beratung der Berichte Minister von Hassel und Generalleutnant Panitzki im Verteidigungsausschuß am 1. und 5. September 1966 die unterschiedlichen Positionen und Betrachtungsweisen unvereinbar blieben, wurde zum neuen Inspekteur der Luftwaffe der bisherige Chef des Stabes der Alliierten Luftstreitkräfte Europa Mitte, AIRCENT, General Johannes Steinhoff, ernannt. Er trat am 12. September 1966 sein Amt an. In der Fachpresse, hier der Flugwelt, w u r d e der gesamte Vorgang abschließend wie folgt kommentiert: »Die mit den Abschiedsgesuchen der Generale Trettner und Panitzki zu Tage getretene Führungskrise der Bundeswehr hat ihren Kern offenbart. Er liegt in der überforderten Organisation und im mangelhaften Management der Bundeswehr und ihres Ministeriums mit einer überforderten Managementspitze. Der Starfighter als Waffensystem war der Prüfstein. Als komplexes Waffensystem, dessen Entwicklung wie die eines jeden Flugzeugs nie abzuschließen ist, fordert er ein reibungsloses Zusammenwirken aller beteiligten Stellen bis in das Parlament. Wen wundert es darum, daß ein überholtes, kameralistisches Organisationssystem ohne Einzelverantwortlichkeiten in Schwierigkeiten geriet, wie sie sich in den Starfightereinheiten dokumentieren. Bedauerlich war nur, daß ein Flugzeug, auf das die meisten seiner Piloten schwören, zum Sündenbock gestempelt wurde, weil es neue Maßstäbe setzte.« Unter dem neuen Inspekteur wurden nach einer kurzen Unterbrechung des Flugbetriebes aller F-104-Verbände auch die seit dem 1. Oktober 1965 unterbrochenen Nachttiefflüge über der Bundesrepublik wieder aufgenommen. Die vom Sonderbeauftragten für den Starfighter, Brigadegeneral Hrabak, schon in der ersten Jahreshälfte 1966 noch unter Generalleutnant Panitzkis Führung angeregten Verbesserungen wurden nun schnellstmöglich realisiert. Hierzu gehörten u.a. zunächst der Einbau eines stärkeren Raketentreibsatzes in den Schleudersitz C2, die Installation von Hakenfanganlagen und Anflugblitzbefeuerungen auf den Fliegerhorsten, die Verbesserung der Seenotausrüstung der Flugzeugbesatzungen sowie die vorgezogene und beschleunigte Auflösung verbliebener F-84F-Staffeln zur Freisetzung von Personal für die umgerüsteten F-104-Verbände. Die Flugzeugführerstellen in den Geschwadern wurden vermehrt und höher dotiert, sowie die Industrie stärker in die Materialerhaltung der F-104 eingebunden. Schon 1967 griffen die zur Erhöhung der Flugsicherheit getroffenen Maßnahmen. Die F-104-Unfallrate fiel auf den niedrigsten Stand seit der

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Einführung des Waffensystems vor sieben Jahren und lag am Ende des Jahres mit 2,4 pro 10 000 Flugstunden nicht höher als bei anderen NATO-Luftwaffen. Eine weitere wichtige Entscheidung fiel noch vor Ende 1967. Der Ersatz der C2-Schleudersitze durch Martin-Baker-GQ7A-Sitze sollte ab sofort erfolgen. Flugunfallrate Bundeswehr

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Mit dem neuen Schleudersitz war für die F-104 G die Fähigkeit des Ausschusses aus dem Stand gegeben. Die Umrüstung lief schließlich im März 1968 sowohl bei Messerschmitt in Manching als auch bei der Luftwaffenwerft in Erding an. Nach Abschluß der im Jahre 1966 begonnenen Untersuchungen der technischen Komponente des JaboG 31 durch Spezialisten der Firma Lockheed, und darauf aufbauend durch Mitarbeiter der deutschen Industrie beim JaboG 34, wurde 1968 die Umsetzung der vorgeschlagenen Veränderungen bei den Luftwaffen· und Marinefliegerverbänden vollzogen. Beim JaboG 31 konnte man schon nach Abschluß der Lockheed-Untersuchung die Verfügbarkeit an einsatzklaren Flugzeugen um über 50 Prozent erhöhen. Die Anzahl der Flugstunden war um etwa ein Drittel gestiegen. Schwerpunkte der Verbesserungen der »rationalisierten, zentralisierten Technik« bildeten die - Einführung eines zentralen technischen Gefechtsstandes, - Modernisierimg der Führungsmittel durch Einsatz moderner Funk- und Gegensprechanlagen, - verbesserte Ausbildung technischen Personals, - Einführung neuer Teileinheiten zur systematischen Stördatenerfassung und -auswertung, sowie die - Einrichtung einer technischen Nachflugbesprechung. Auch die nach dem tödlichen Flugunfall des Oberleutnant Siegfried Arndt, JG 71 »R«, am 18. Juli 1966 erhobene schwerwiegende Kritik an den Seenotrettungssystemen der F-104 G und der Rettungsorganisation der Bundeswehr, zeitigte nun ihre Folgen: Im Einzelnen wurden - eine SAR (Search and Rescue)-Leitstelle See eingerichtet, - die Rettungshubschrauber mit modernen Peilgeräten ausgerüstet, - neue Schwimmwesten, Fallschirmtrennschlösser sowie orange-farbene Fliegerkombinationen eingeführt, und - die Teilnahme aller Flugzeuführer an speziellen Lehrgängen »Überleben See« angeordnet und durchgeführt. Ende 1967 kommentierte die Fachpresse (Flugwelt 12/67, S. 795) die inzwischen erreichten Fortschritte wie folgt: »Dank General Steinhoffs Bemühungen ist das Starfighterproblem seiner bisherigen Hektik entkleidet. Nunmehr kann man, gemessen an den Einsatzaufgaben und den dafür erforderlichen Flugstunden bei einer normalen Materialermüdung den Augenblick voraussehen, wo die F-104 ersetzt werden muß. Das wird etwa 1975 der Fall sein. Inzwischen wird aber die Luftwaffe es schaffen, dieses eigentlich nur für den atomaren Einsatz vorgesehene Flugzeug auch für die konventionelle Kriegführung zu verwenden. Eigentlich war diese Notwendigkeit schon bei der Einführung des Starfighters gegeben, aber jetzt ist man so weit, daß man sie erfüllen kann. Die Flugzeugführer haben nun ausreichende Flugerfahrung, um zu ihrer atomaren Aufgabe eine weitere zu übernehmen und können sich durch entsprechende Übungen darauf vorbereiten.«

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Natürlich ereigneten sich auch weiterhin Flugunfälle mit der F-104 G. Es waren aber — gemessen an den geflogenen Flugstunden — nunmehr weit weniger, und aufgrund der verbesserten Rettungs- und Sicherheitseinrichtungen kamen viel weniger Flugzeugführer dabei ums Leben als vor dem Wirksamwerden aller beschriebenen Maßnahmen. Die gesamte Zielrichtung der Erhöhung der Flugstundenzahlen zur Verbesserung des Erfahrungsstandes sowohl der Piloten als auch der Techniker, bei gleichzeitiger Verbesserung der infrastrukturellen und technischen Rahmenbedingungen, hatte sich als richtig erwiesen. Die in der Organisation des Verteidigungsministeriums mit der Einrichtung des Sonderbeauftragten für den F-104 G Starfighter begonnene Entwicklung setzte sich Anfang der 70er Jahre mit der Einrichtung von Waffensystembeauftragten für alle wichtigen Waffensysteme der Teilstreitkräfte fort. Nunmehr vorhandene gewachsene Erfahrung aller militärischen und zivilen Mitarbeiter sowie eine vernünftige Zuordnung von Verantwortlichkeiten und Kompetenzen zu allen an den Rüstungs- und Betriebsaufgaben Beteiligten stellte das Vertrauen her, das für einen sicheren und erfolgreichen Betrieb der Streitkräfte und ihrer Waffensysteme erforderlich ist. Die Luftwaffe war nun reif für die Einführung und den erfolgreichen Einsatz weiterer moderner Waffensysteme. Weder bei der Phantom F-4F oder dem Fotoaufklärer RF-4E, dem Alpha-Jet oder dem Tornado haben sich Vorgänge, wie sie bei dem F-104 G Starfighter aufgetreten sind, wiederholt. Heute liegt die Luftwaffe mit ihrer Flugunfallrate im positiven Sinne mit an der Spitze aller westlichen Luftstreitkräfte.

Zusammenfassende Bewertung Abschließend kann man sich im Rückblick auf die Starfighterkrise der Luftwaffe nur den Worten von Generalmajor Peter Vogler anschließen, die er unter dem Titel »Offener Brief an die F-104« in dem Buch »Deutsche Starfighter« von Klaus Kropf zum Ausdruck bringt: »Um ihrem Auftrag wirklich gerecht werden zu können, um ebenbürtig zu werden, mußte die Luftwaffe in kürzester Zeit mehrere flugtechnische Entwicklungsebenen durcheilen. Sämtliche Piloten auf der F-84, F-86, G-91 und in der F-104 G haben im Bewußtsein, in der Garantie einer Zukunft in Frieden und Freiheit Höheres zu bewahren, Opfer in der Hoffnung auf eine bessere Welt erbracht. Auch wir, auf der 104, haben hin und wieder fliegerische Fehler gemacht. Nicht mit Absicht oder Bedacht, sondern in der Erlerntes verwerfenden instinktiven Reaktion eines im Grunde genommenen nur auf Fußgängergeschwindigkeit angelegten Wesens. Manche dieser Fehler konnten wir nicht wieder beheben. Dennoch haben wir nie Angst vor ihr gehabt. Sie war weder launisch, noch unberechenbar, noch tückisch oder gar gefährlich. Sie hat schlechten Ruf nicht verdient. Sie stellt >nur< das Höchstmaß dessen dar, das ein sorgfältig ausgewählter und ausgebildeter, im Vollbesitz seiner geistigen und körperlichen Kraft

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befindlicher einzelner Mensch zu meistern vermag. Für uns war, ist und bleibt sie schlicht die >GustavFull Command< aus. Der Anteil >Operational Command< wird künftig durch den Bundesminister der Verteidigung über ein TSK-übergreifendes Führungszentrum der Bundeswehr ausgeübt werden. Der Somalia-Einsatz der Bundeswehr war hierfür ein aktuelles Beispiel. Es hatte sich erwiesen, daß besonders beim VN-Einsatz aller drei Teilstreitkräfte im Ausland nicht nur eine nationale, sondern auch eine TSK-übergreifende Führungsstruktur (JOINT) notwendig wird. Mit Wirkung vom 1. Januar 1995 wurde deshalb im Führungsstab der Streitkräfte auf Stabsabteilungsebene das Führungszentrum der Bundeswehr (FüZBw) eingerichtet. Das FüZBw besteht zunächst aus drei Arbeitsbereichen mit folgenden Aufgaben: -

Einsatzplanung:

Erarbeiten von Grundlagen und Optionen für Einsätze der Bundeswehr im Frieden als Beitrag zur Entscheidungsfindung der Leitung; -

Einsatzführung:

Vorbereitung und Umsetzung von Leitungsentscheidungen gegenüber durchführenden Kommandobehörden der Streitkräfte und Dienststellen der Wehrverwaltung, Überwachen und Auswerten der Umsetzung; -

Lageführung:

Zentrale Ansprechstelle des BMVg, Informationszentrale (Sammlung und Bewertung einsatz- und leitungsrelevanter Informationen, Informationsverbindungen zu anderen Bundesressorts und internationalen Organisationen). Das FüZBw wird auf die Wahrnehmung der ministeriellen Kernaufgaben ausgelegt. Für Auslandseinsätze im Frieden sind operative Belange auch auf der ministeriellen Ebene in geeigneter Form abzubilden. Zur Zeit wird deshalb untersucht, wie eine enge Verzahnung von ministerieller und operativer Führungsebene bei geringstmöglichen Reibungsverlusten zu realisieren ist. Man denkt an

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ein zentrales, TSK-übergreifendes Führungselement (ZFE), das diese Forderung erfüllen soll. Die konkrete Ausgestaltung des ZFE (Teil des FüZBw oder eigene Ebene) wird zur Zeit noch diskutiert.

Krisenreaktionskräfte Deutschland ist heute ein souveräner Staat in der Völkergemeinschaft. Zum ersten Mal in seiner Geschichte ist es von Verbündeten und Partnern umgeben. Angesichts wachsender globaler Interdependenzen und Verpflichtungen genügt es nicht, Sicherheit auf Europa zu beschränken. Es gilt vielmehr, Sicherheit für Europa zu gestalten, d.h. Konflikte, Kriege oder Krisen von Europa fernzuhalten. Deutschland ist eingebettet in das transatlantische Bündnis und die WEU — die entscheidenden Stabilitätsanker in Europa. Sicherheit im Bündnis ist aber keine Einbahnstraße. Daher wird von Deutschland erwartet, daß es Bündnisverpflichtungen im multinationalen Rahmen auch außerhalb Europas erfüllt und sich an gemeinsamen Friedensmissionen und Krisenreaktions-Einsätzen der Vereinten Nationen beteiligt. Die Mitgliedschaft Deutschlands im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen unterstreicht diese Verpflichtungen im besonderen Maße. Das bedeutet aber nicht, daß sich Deutschland automatisch an jedem Krisenherd der Welt humanitär oder im Rahmen des Krisenmanagements beteiligt. Jeder Einzelfall bedarf — wie auch bei allen Demokratien — sorgfältiger Bewertung und muß mit Blick auf Folgen und Risiken entschieden werden. Auch wird Deutschland nicht allein handeln, sondern immer im multinationalen Einsatz mit Verbündeten und Partnern. Diese Folgerungen bedingen auch strukturelle Änderungen für die Bundeswehr, denn sie kann nicht mehr ausschließlich auf Landesverteidigung ausgerichtet bleiben. Wie bereits erwähnt, ist die Bundeswehr auf die neuen Einsatzaufgaben und Herausforderungen auf dem Gebiet der Krisenbewältigung noch wenig vorbereitet. Die unterschiedlichen Bedingungen und Erfordernisse der traditionellen Landesverteidigung und der neuen Krisenreaktion verlangen jeweils unterschiedlich auftragsbezogene Streitkräfte. Die militärpolitische Lage Deutschlands erlaubt es, die Präsenz der Streikräfte für die Landesverteidigung zu reduzieren. So können große Teile der Hauptverteidigungskräfte (HVK) hinsichtlich ihrer Einsatzbereitschaft im Frieden zurückgenommen werden. Dagegen behalten die für Krisenreaktionskräfte (KRK) vorgesehenen Truppenteile eine hohe Einsatzbereitschaft. Um die Aufgaben zur Krisenreaktion im NATO-Bündnis erfüllen zu können, wird das Heer fünf präsente Brigaden und den deutschen Anteil an der deutsch-französischen Brigade bereithalten. Die Luftwaffe sieht sechs fliegende Staffeln, zwei bodengestützte Luftverteidigungsverbände und zwei bis drei Lufttransportgeschwader vor. Die Marine unterhält zwei hochseefähige Einsatzverbände, die in ihrer Zusammensetzung (Fregatten, Versorger, Minen-

VN-Missionen — humanitäre Hilfe — Krisenreaktionskräfte

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Streitkräfte, U-Boote, Marineflieger, Kampfschwimmer) das gesamte Spektrum einer verbundenen Seekriegführung abdecken können. Die Krisenreaktionskräfte sind nach den Bereitschaftskriterien der NATO gruppiert. Kleinere Kontingente sind bereits nach drei Tagen, das Gros der Kräfte innerhalb von 30 Tagen verlegefähig. Die Forderung nach schneller Verfügbarkeit und hohem Ausbildungsstand dieser Kräfte bedingen vorrangig den Einsatz von Berufsund Zeitsoldaten.

Ausblick Während dieser Artikel geschrieben wird, stoßen russische Truppen auf die Hauptstadt Tschetscheniens vor, um diese Republik mit Gewalt der russischen Förderation einzuverleiben. Die Weltöffentlichkeit verfolgt das Geschehen mit Kritik, dabei wird auch die Forderung nach einem Einsatz von Blauhelmen in Tschetschenien erhoben. Gegenwärtig sind täglich rund 70 000 Soldaten, Militärbeobachter und Polizeikräfte aus 77 Nationen in 17 verschiedenen VN-Missionen weltweit im Einsatz, um in den Krisenregionen den Waffenstillstand zu garantieren, um Konfliktparteien zu trennen oder den Frieden zu bewahren. Darüber hinaus sind ca. 50 OSZE-Beobachter in vier Ländern eingesetzt. Am 21. Dezember 1994 hat das Bundeskabinett der NATO nach einer entsprechenden offiziellen Anfrage vom 13. Dezember 1994 Unterstützung bei einem eventuellen Abzug der VN-Truppen aus Bosnien zugesagt. Deutschland erklärte sich bereit, Sanitätseinheiten, Tornado-Kampfflugzeuge, TransallTransportflugzeuge, Breguet-Atlantik-Aufklärungsflugzeuge sowie Minenabwehrboote und Schnellboote zur Verfügung zu stellen. Die dargestellten Gegebenheiten verdeutlichen zweierlei: Einmal ist die Welt nach dem Zerfall des Sowjetimperiums nicht friedlicher geworden. Im Gegenteil, ein neues Risikospektrum beginnt wirksam zu werden: Krieg und Bürgerkrieg, Zerfall staatlicher und gesellschaftlicher Ordnungen — auch in Europa — Proliferation von Nuklearmaterial und Waffen, anhaltende Aufrüstung der Entwicklungsländer und der Beginn gewaltiger weltweiter Migrationsströme von Wirtschafts- und Kriegsflüchtigen. Zum anderen beginnt das souveräne Deutschland seiner neuen Verantwortung und Verpflichtung — gerade nach der Klarstellung der Verfassungsfrage zum Einsatz der Bundeswehr — in der Völkergemeinschaft gerecht zu werden. Die Zusage zur Unterstützung mit Einheiten der Bundeswehr bei einem Abzug der VN-Truppen aus Bosnien ist ein aktueller Beleg für ein gewandeltes politisches Selbstverständnis. Langsam gewöhnen sich die Menschen in Deutschland an die Souveränität ihres Landes und vor allem an die globale Dimension gegenwärtiger und künftiger Sicherheitspolitik, bei der es um multinationale militärische Einsätze im Rahmen humanitärer Hilfe, Friedensmissionen und Krisenmanagement geht.

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Ausgewähltes Literaturverzeichnis Klaus Dau, Richterrecht und Wehrverfassung, Bemerkungen zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Auslandsverwendungen deutscher Streitkräfte; in: Truppenpraxis, 38 (1994), S. 378-381. Klaus Naumann, Sicherheit in Europa — Konsequenzen für die Bundeswehr; in: Europäische Sicherheit, 44 (1995), S. 8-14. Senatsentscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zur »Verfassungsmäßigkeit des Auslandseinsatzes der Bundeswehr«, in: Neue Juristische Wochenschrift, 47 (1994), S. 2207-2219. »Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994 — Kurzauswertung —«, in: Bundeswehr. Öffentlichkeitsarbeit. Informationen zur Sicherheitspolitik. Beteiligung der Bundeswehr an Missionen der Vereinten Nationen — 1992 bis 1994 —, hrsg. vom Bundesministerium der Verteidigung, Informationsstab Referat Öffentlichkeitsarbeit, Bonn, Februar 1995, S. 11-13. Weißbuch 1994. Weißbuch zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Lage und Zukunft der Bundeswehr, im Auftrag der Bundesregierung hrsg. vom Bundesministerium der Verteidigung, Bonn 1994.

Peter Κ. Fraps Deutscher Sanitätsdienst unter der Flagge der Vereinten Nationen — Kambodscha 1992/93 Mit der Erdbebenhilfe in Agadir/Marokko im Jahre 1960 begann eine lange und erfolgreiche Tradition humanitärer Unterstützungsmaßnahmen der Bundeswehr im Ausland. Im Auftrag der Bundesregierung half die Bundeswehr seither bei Naturkatastrophen in Süditalien, in der Türkei und im Iran. Sie leistete 1991 einen bedeutenden Beitrag zur Linderung der Not kurdischer Flüchtlinge in der Türkei und im Iran. Seit 1992 beteiligen sich Kontingente aller drei Teilstreitkäfte aktiv an Friedensmissionen der Vereinten Nationen. Am 8. April 1992 beschloß die Bundesregierung, der Bitte des Generalsekretärs der Vereinten Nationen entsprechend, ein Kontingent aus 145 Ärzten und Sanitätspersonal der Bundeswehr zur Friedensmission UNTAC (United Nations Transitional Authority in Cambodia) nach Kambodscha zu entsenden. Am 22. Mai trafen die ersten Soldaten zum Aufbau eines Feldlazarettes zusammen mit 400 t Material in der Landeshauptstadt Phnom Penh ein. Bereits am 8. Juni konnten die ersten Patienten in dem mit 60 Betten ausgestatteten »UNTAC Field Hospital« ambulant und stationär behandelt werden. Als das Deutsche Feldlazarett am 31. Oktober 1993 nach 17 Monaten ununterbrochenen Einsatzes seine Pforten zur Rückverlegung schloß, konnte eine stolze Bilanz gezogen werden: Im stationären Bereich waren 3 489 Patienten und im Ambulanzbereich 95 409 Patienten behandelt worden. Der Anteil der kambodschanischen Bevölkerung, der humanitäre Hilfe im Rahmen freier Kapazitäten zuteil wurde, betrug in beiden Behandlungsbereichen etwa 25 Prozent. Beispielhaftes Engagement und uneingeschränkte Leistungsbereitschaft der drei eingesetzten Personalkontingente verschafften dem »German Hospital« sowohl bei den Vereinten Nationen als auch bei der Bevölkerung Kambodschas einen hervorragenden Ruf. Überschattet wurde der erste Einsatz eines deutschen Kontingentes unter der Flagge der Vereinten Nationen durch die sinnlose und für uns alle unfaßbare Ermordung unseres Kameraden Feldwebel Alexander Arndt am 14. Oktober 1993, wenige Tage vor Einsatzende. Ihm, der sein Leben verlor, indem er in seiner Funktion als Intensivpfleger aktiv um die Rettung anderer Menschenleben bemüht war, sei an dieser Stelle besonders gedacht. Der folgende persönliche Bericht basiert auf Tagebuchaufzeichnungen, die ich während meines 18monatigen Einsatzes als »Chief Medical Officer UNTAC« und gleichzeitig Dienstältester Deutscher Offizier in Kambodscha im Zeitraum 17. Mai 1992 bis 17. November 1993 angefertigt habe. Er ist all denen gewidmet,

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die vor Ort und in der Heimat tatkräftig, unermüdlich und in idealistischer Weise zum Gelingen unseres außergewöhnlichen Einsatzes beigetragen haben.

Flug nach Stung Treng — Erinnerungen an 547 Tage Kambodscha Ein im Herbst 1992 bereits nostalgisch anmutendes »CCCP« am rußgeschwärzten Heck des ansonsten weiß gestrichenen UN-Hubschraubers vom Typ Mi-17 weist auf die Herkunft des schon etwas »abgeflogenen« Luftfahrzeuges hin. Die russische Besatzung befördert heute eine Gruppe von Soldaten, zwei Zivilisten und einen Berg Versorgungsgüter in den Nord-Osten des Landes. Eine kanadische Firma — mit dem bedeutungsträchtigen Namen SKYLINK — hat im Rahmen eines »Leasingvertrages« eine ganze Flotte von gecharterten Mi17 und Mi-26-Hubschraubern für die Vereinten Nationen nach Kambodscha zur Friedensmission UNTAC abgestellt. Man war schon sehr früh am Morgen vom militärischen Teil des Flughafens Pochentong bei Phnom Penh gestartet, um das kleine Städtchen Stung Treng in der an Laos angrenzenden Provinz gleichen Namens anzufliegen. Als Passagier findet man sich im allgemeinen zwischen Benzinfässern, Trinkwassertanks, Nahrungsmitteln, Ersatzteilen und Medikamentenkisten eingeklemmt. So auch heute. Aber niemand beschwert sich darüber. Desolate Straßenverhältnisse und eine ständige Gefährdung der spärlichen Verkehrswege durch Minen machen Versorgung und Transport per Luft unentbehrlich. Nach zahlreichen Beschüssen niedrig fliegender Luftfahrzeuge der Vereinten Nationen in den vergangenen Monaten ziehen es die Piloten vor, bereits kurz nach dem Start die Sicherheit des Luftraumes oberhalb der Reichweite gängiger Handfeuerwaffen aufzusuchen. Besatzungen und Passagiere haben es sich nach den ersten Zwischenfällen mit unangenehmen Schußverletzungen in den Weichteilen der unteren Körperpartie zur Angewohnheit gemacht, die obligatorische Splitterschutzweste als Sitzkissen zu verwenden. UNTAC-Neulinge konnte man deshalb sehr einfach identifizieren: Sie trugen ihre Weste vorschriftsmäßig, aber unzweckmäßig.

Größtes Minenfeld der Welt Die in der Morgensonne spiegelnden Wasserflächen der Reisfelder lagen hinter uns. Aus der Vogelperspektive kann man gut erkennen, daß ein Großteil dieser landwirtschaftlich genutzten Areale an der Peripherie der Millionenstadt Phnom Penh von Kratern durchsetzt ist. Diese wurden durch Minenexplosionen gerissen. Man spricht davon, daß die 181 000 km2 der Landesfläche von Kambodscha im Verlauf der fast 25 Jahre anhaltenden Kriegswirren durch mehr als fünf Millionen Minen im wahrsten Sinne des Wortes »verseucht« wur-

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den. Im Jahresdurchschnitt verlieren 300 Kambodschaner monatlich durch Minen Extremitäten oder ihr Leben. Die Anzahl derer, die verstümmelt und als Außenseiter der Gesellschaft ihr Leben zu fristen haben, ist in Kambodscha so hoch wie in keinem anderen Land der Welt. Von den rund neun Millionen Einwohnern machte inzwischen laut einer Statistik der Vereinten Nationen jeder 236. Bekanntschaft mit der brutalen Wirkung von planlos über das Land verstreuten Minen chinesischer, russischer oder mitteleuropäischer Bauart. Technik und Wirksamkeit der hinterhältigen »Billigwaffe des kleinen Mannes« wurden ständig verbessert, während die Möglichkeiten des Auffindens und Räumens im reziproken Verhältnis abnahmen. Würde das durch UNTAC ins Leben gerufene »Mine Clearance«-Programm, in dessen Verlauf 180 UN-Minenräumspezialisten 3 000 Kambodschaner zu Experten ausbildeten, u n d mehr als 25 000 Minen a u f g e n o m m e n wurden, mit gleicher Intensität fortgeführt werden, könnten in 15-20 Jahren die wesentlichen Siedlungsgebiete Kambodschas als einigermaßen sicher betrachtet werden. Im Deutschen Hospital in Phnom Penh gehörten Beinamputationen nach Minenexplosionen zum täglichen Routineprogramm der Chirurgen. Zwölf Minenräumspezialisten, davon drei UNTAC-Angehörige, bezahlten ihr Engagement mit dem Leben. Viele der mehr als 30 000 Opfer sind Kinder. Zerstörtes UN-Fahrzeug,

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Border Check Point »Charly Victor 10« Ein junger australischer Funker ist auf dem Weg zu einem sogenannten »Border Check Point« an der kambodschanisch-vietnamesischen Grenze in der Provinz Ratanakiri: Luftlinie von Phnom Penh bei direktem Anflug 390 km oder eine Stunde und 38 Minuten. Für Hin- und Rückflug ergab sich wegen einer notwendigen Zwischenbetankung des Hubschraubers bei Rettungseinsätzen in dieser Ecke Kambodschas eine Gesamtflugzeit von drei Stunden und 40 Minuten. In zwei Fällen waren nachts Patienten zu evakuieren. In beiden Fällen handelte es sich glücklicherweise nicht um lebensbedrohliche Krankheitsbilder. Diese Grenzposten lebten und hausten teilweise unter sehr abenteuerlichen Bedingungen. Gesundheitliche und sonstige Risiken w u r d e n kompensiert durch außergewöhnlich hohe Bezahlung. Geld und die Einbindung in ein gut organisiertes Hubschrauber-Versorgungssystem hielt diese kleinen »Kampfgruppen« im allgemeinen bei guter Laune, wenngleich Ablösungen aus psychischen Gründen in Einzelfällen vorgenommen werden mußten. Probleme gesundheitlicher Art waren bei den insgesamt 32 Teams, die den Grenzverkehr mit den Nachbarländern Vietnam, Laos und Thailand gemäß UN-Mandat bezüglich Einfuhr von Waffen und Ausfuhr von Edelhölzern zu kontrollieren hatten, relativ selten. Und dies, obwohl teilweise sehr enger Kontakt zu der mit zahlreichen Infektionskrankheiten behafteten Bevölkerung bestand, und es durchaus üblich war, sich mit Lebensmitteln »aus dem Lande« zu ernähren.

Sanitätsdienst im Dschungel Rechts neben mir sitzt ein kleiner drahtiger Bursche mit brauner Hautfarbe und tiefschwarzem Haar, der in ziviler Freizeitkleidung auf den ersten Blick wie ein Tourist aussieht. Sein Reisegepäck besteht aus einigen Kartons mit Medikamenten, die er sich draußen auf dem Gelände des Deutschen Feldlazarettes bei der gigantischen Zentralapotheke von »Medical Services UNTAC« besorgt hat. Er kommt aus Burma, und ist einer von insgesamt 15 Ärzten, die die Vereinten Nationen auf meinen Antrag dort zum Einsatz gebracht haben, wo unser multinationales sanitätsdienstliches Versorgungsnetz, an dem insgesamt 20 Nationen beteiligt waren, Lücken aufwies. Diese Ärzte und Ärztinnen, die ausnahmslos aus Ländern der Dritten Welt rekrutiert waren, betrieben kleine Erste-Hilfe-Stationen in C o n t a i n e r n oder in d u r c h UNTAC angemieteten Häusern, in luftiger Höhe auf Pfählen. Eine standardisierte ärztliche Ausstattung und ein kambodschanischer Helfer vervollständigen die Sanitätseinrichtung, deren Patienten vorwiegend aus Angehörigen des administrativen »Außendienstes« von UNTAC bestanden oder aus der örtlichen Bevölkerung kamen.

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Deutsch-Indisches Sanitätsbataillon Ein indischer Sanitätsoffizier, im Range eines Oberstleutnantes, mit einem schmucken, hellblauen Turban mit dem UN-Emblem an der Stirnseite, sitzt an meiner linken Seite u n d blättert in der neuesten Ausgabe des »UNTAC Peacekeeper«, einer gut aufgemachten Monatszeitschrift des UNTAC-Hauptquartiers. Sein Ziel ist, wie meines übrigens auch, Stung Treng, ein kleines dörfliches Städtchen im Norden von Kambodscha. Er ist Spezialist für Innere Medizin in einem der drei »Forward Field Hospitals«, errichtet von einem 370 Ärzte und Assistenzpersonal umfassenden Sanitätskontingent aus Indien. Zusammen mit dem deutschen Kontingent von 145 Sanitätsoffizieren und Sanitätspersonal in Phnom Penh bildet es das Sanitätsbataillon oder die »Medical Unit« der UNTAC. Im Rahmen des Gesamtsystemes medizinischer Versorgung für die rund 36 000 Mann starke UN-Friedenstruppe waren die drei indischen Sanitätseinrichtungen zuständig für die primäre chirurgische und internistische Behandlung im nördlichen Bereich des Landes. Sie verfügten über eine Bettenkapazität von insgesamt 90 Betten. Man hatte die Stationierungsorte Battambang, Siem Reap und Stung Treng gewählt, weil sich in deren Einzugsbereich mehrere UNTAC-Infanteriebataillone befinden, und einigermaßen brauchbare Flugplätze von dort jederzeit den Abtransport schwer erkrankter oder kritisch verletzter Patienten nach Phnom Penh zum Deutschen UNTAC-Feldlazarett ermöglichen.

Medical Air Evacuation (MEDEVAC) — Lebensrettung unter riskanten Bedingungen Die Flüge Richtung Süden wurden fast ausschließlich durch zwei in Bàttambang — im Nord-Westen von Kambodscha — stationierte französische Hubschrauber Bell-212 durchgeführt. Die Flugzeit zu dem seit 8. Juni 1992 vom ersten deutschen UN-Kontingent in einem ursprünglich total verwahrlosten Gebäudekomplex auf dem Universitätsgelände von Phnom Penh betriebenen »UNTAC Field Hospital« betrug etwas mehr als eine Stunde. Einer effektiven sanitätsdienstlichen Betreuung der Patienten während des Transportes kam daher große Bedeutung zu. Diese Aufgabe wurde meist von hervorragend ausgebildeten weiblichen Luftrettungshelfern aus Frankreich, in seltenen Fällen auch durch indische Ärzte wahrgenommen. Bei der Mehrzahl der echten Notfalleinsätze startete ein MEDEVAC-Hubschrauber französischer Herkunft jedoch vom Flughafen in Phnom Penh, da hier in idealer Weise eine verzugslose Koppelung mit erfahrerenen Intensivmedizinern des Deutschen Feldlazarettes rund um die Uhr gewährleistet war. Entsprechende medizintechnische Ausstattung und deutsch-französisches Luftretter-Teamwork ermöglichten mitteleuropäischen Einsatzstandard. Immer wieder habe ich mich gefragt, wie es wohl den französischen Piloten und unseren deutschen MEDEVÄC-Teams an Bord der eigentlich nicht nacht-

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flugtauglichen Rettungshubschrauber bei ihren zahlreichen Notfalleinsätzen in dunkler Nacht, teilweise von Monsunböen durchgerüttelt, allein auf die Richtigkeit von Koordinaten vertrauend, zu Mute sein muß. Während des 18monatigen Einsatzes wurden insgesamt 804 Rettungsflüge innerhalb Kambodschas oder zur medizinischen Anschlußversorgung nach Bangkok in Thailand durchgeführt, davon in 152 Fällen als Nachteinsätze. Um Leben zu retten, riskierten sie, von den schon kurz nach Beginn des UN-Einsatzes vertragsbrüchig gewordenen Khmer Rouge beschossen und eventuell in unwegsamem Gelände zu einer Notlandung gezwungen zu werden. Da die für den Sanitätsdienst fliegenden Hubschrauber (wegen des ständigen Maschinenwechsels) nicht mit dem Zeichen des Roten Kreuzes versehen waren, muß man es als glücklichen Zufall betrachten, daß in keinem der insgesamt 48 registrierten Luftzwischenfälle ein Patiententransport betroffen war. In meiner Funktion als Leiter des multinationalen Sanitätsdienstes »Medical Services UNTAC«, zu dem 20 Nationen insgesamt 171 Ärzte und mehr als 1 000 Sanitäter beisteuerten, hatte ich in jedem Einzelfall einer nächtlichen MEDEVAC-Anforderung aus medizinischer Sicht die Notwendigkeit für den Einsatz eines Hubschraubers dem »Force Commander UNTAC« gegenüber zu begründen. Diese nächtlichen Hilfeersuchen, vor allem die von den außerhalb des medizinischen Versorgungsnetzes unserer insgesamt 118 Sanitätseinrichtungen geKambodschanischer Krankentransport. Auf dem Weg zum »German Hospital«

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legenen Außenposten, bereiteten oft banges Warten und schlaflose Nächte. Dies vor allem dann, wenn es galt, große Entfernungen zu überwinden. Der Ruf »Charly Mike Oscar«, die UNTAC-Funkkennung für den CMO (Chief Medical Officer) bedeutete nach Sonnenuntergang meistens die Aktivierung einer eingespielten Alarmierungskette, an deren Ende nach etwa 45 Minuten der Start eines mit einem deutschen Rettungsteam besetzten Hubschraubers stand.

Anschlußversorgung im »German Hospital« Abhängig vom Anlaß des Rettungsfluges liefen zwischenzeitlich die Vorbereitungen im Feldlazarett für die Aufnahme des Patienten an. Im allgemeinen ging es um die chirurgische Versorgung von lebensbedrohlichen Verletzungen durch Straßenverkehrsunfälle, Waffeneinwirkung oder Minenexplosionen. Das diensthabende Operationsteam bereitete einen der beiden hervorragend ausgestatteten Operationscontainer vor, Labor und Röntgenabteilung stellten Arbeitsbereitschaft her, ein Ambulanzfahrzeug bewegte sich Richtung Pochentong-Airport, um nach Rückkehr des Hubschraubers den oder die angekommenen Patienten ohne Zeitverzug mit Blaulicht innerhalb von zehn Minuten zum »UNTAC Field Hospital« zu bringen. In einigen Fällen mußten auch beide Operationscontainer aktiviert werden, um — was tagsüber Regelfall war — auch nachts gleichzeitig an zwei Operationstischen arbeiten zu können. Dies war z.B. notwendig, als bei einem Feuerüberfall der Khmer Rouge auf das Zeltcamp einer bulgarischen Kompanie südlich von Phnom Penh sechs Schwerstverletzte anfielen, wovon drei bereits am Ort des Geschehens verstarben. Ein andermal wurden an einem frühen Abend nach einer Handgranatenexplosion — ein Kambodschaner hatte mitten in Phnom Penh von einem fahrenden Motorrad aus eine Granate auf die vollbesetzte Terrasse einer vietnamesischen Teestube geworfen — gleichzeitig 16 durch Splitter verstümmelte Frauen und Männer angeliefert. Drei von ihnen hatten keine Überlebenschance. Im Rahmen humanitärer Hilfe für die Zivilbevölkerung, einer wichtigen Komponente im beeindruckenden Leistungsspektrum des deutschen Sanitätskontingentes, operierten zwei Chirurgenteams bis zum frühen Morgen des nächsten Tages, um Leben oder Extremitäten der anderen 13 Menschen zu retten.

Luftrettungsteams : Deutsch-Französische Zusammenarbeit humanitärer Art Ich kenne sie fast alle: die französischen Hubschrauberbesatzungen, die meist noch sehr jungen, jedoch sehr gut ausgebildeten, vor Ehrgeiz brennenden Sanitätsoffiziere unseres Kontingentes, und nicht zuletzt unsere erfahrenen Luftrettungsassistenten oder hochmotivierten Rettungssanitäter. Wenige von ihnen sprechen von Angst. Kaum einer ist unter ihnen, der sich selbst unter extremen

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Bedingungen weigern würde, zu nächtlichen Rettungsflügen in den Hubschrauber zu klettern, in welchem meist schon eine der uniformierten französischen »Flight Nurses« auf ihre deutschen Teamkameraden wartet. Die uneingeschränkte Bereitschaft, sich für andere Menschen in Gefahr zu begeben, ist sicherlich bewundernswert. Viel höher schätze ich an ihnen jedoch die Fähigkeit, selbst unter widrigsten und außergewöhnlichen Bedingungen ihr ärztliches oder notfallmedizinisches Wissen und Können effektiv zum Einsatz zu bringen. Durch die zeitgerechte und qualifizierte Erstversorgung von Verletzten am Unfallort, sowie durch eine optimale Betreuung während des Lufttransportes zur chirurgischen oder sonstigen Behandlung im »UNTAC Field Hospital« wurde im Verlauf des 17monatigen Einsatzes das Leben vieler Soldaten und ziviler Mitarbeiter der Vereinten Nationen gerettet. Nicht unerwähnt bleiben sollte in diesem Zusammenhang, daß trotz verständlicher Restriktionen von Seiten der Vereinten Nationen bezüglich des Einsatzes von Luftrettungsmitteln für Zivilbevölkerung, eine große Anzahl von lebensbedrohlich verletzten oder erkrankten Kambodschanern per MEDEVAC nach Phnom Penh kam und nach mehr oder weniger langer Behandlung im Deutschen Feldlazarett als dankbare Patienten den Heimweg wieder »per pedes« angetreten hat.

Der Notarztdienst Phnom Penh, eine deutsche Domäne Ambulanzfahrzeuge des Deutschen Feldlazarettes und seiner im Zentrum der Millionenstadt gelegenen »Zweigstelle«, dem für ambulante und notärztliche Behandlung von UNTAC-Angehörigen zuständigen »Medical Centre«, waren rund u m die Uhr im Einsatz. Sie w u r d e n selbstverständlich nicht nur zu UNTAC-verursachten Unfällen gerufen, sondern übernahmen die Funktion des Notarztdienstes in einer medizinisch total unterversorgten Stadt, in welcher man — vor allem nachts — in den vorhandenen »Krankenhäusern« meist vergeblich nach einem Arzt sucht. Den 20 Verkehrstoten — von insgesamt 72 Todesfällen — aus den Reihen von UNTAC, standen in der traurigen Statistik mindestens doppelt soviele Kambodschaner gegenüber, die mit einem der mehr als 8 000 UN-Fahrzeuge in einen schweren Unfall verwickelt waren und dies mit dem Leben bezahlten. Todesfälle und Unfallfolgen wurden von den Vereinten Nationen durch pauschale Kompensationszahlungen an die Hinterbliebenen bzw. an die Betroffenen finanziell geregelt. Dieses »unbürokratische« Verfahren mag in einzelnen Fällen ein willkommenes Trostpflaster dargestellt haben, bei lebenslanger Invalidität wurden ohne jeden Zweifel hoffnungslose Sozialfälle vorprogrammiert.

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Zwischenstops auf abenteuerlichen Landeplätzen Bei der Zwischenlandung in Mondulkiri City läuft der Rotor des Hubschraubers weiter. Der Arzt aus Burma klettert die Treppen hinunter und verläßt mit eingezogenem Kopf den Gefahrenbereich unter den Rotorblättern. Ein Bordmechaniker, im typischen »Dress« der russischen Besatzungen — SKYLINKT-Shirt, Freizeit-Shorts u n d Badesandalen — wuchtet einige Kisten und Wasserkanister aus der Maschine. Neugierige Kinder rennen aus allen Himmelsrichtungen zur weißgestrichenen Lärmquelle. Im Hintergrund wartet ein UN-Fahrzeug auf die Übernahme der angekommenen Luftfracht. Der ganze Vorgang dauert nicht länger als fünf Minuten. Wir fliegen weiter zur kambodschanisch-vietnamesischen Grenze, um den australischen Funker beim Grenzkontrollposten CV-10 abzusetzen und seinen Kameraden zurück in die Zivilisation mitzunehmen. Erste Anlaufstation nach Rückkehr wird ein ausführlicher Malariatest sein. Wir befinden uns nun unmittelbar über dem Gebiet, durch welches auf dem berühmt-berüchtigten Ho-Chi-Minh-Pfad während des Vietnamkrieges der Nachschub für die Vietkong-Kämpfer in Südvietnam Nacht für Nacht durch Menschenstafetten wie auf einem Förderband bewegt wurde. Die von den Amerikanern gelegten Bombenteppiche und die hartnäckigen Versuche, das Dschungeldickicht durch »Agent Orange« transparenter zu gestalten, waren vergeblich. Die Ameisenstraße von Nord nach Süd überwand alle Hindernisse und Angriffe. Hauptleidtragende waren Kambodschaner, die im Grenzgebiet wohnten, und die Natur, die sich bis heute nicht erholt hat. Der Hubschrauber zieht eine Schleife über dem spärlich markierten Landeplatz. Die Verweildauer am Boden ist wiederum nicht länger als notwendig. Ein Soldat mit australischem Fleckentarnanzug wird durch einen anderen ersetzt. Flinke Hände werfen Versorgungsgüter auf das abgeerntete Maisfeld, ein Postsack segelt herein, die Einstiegsluke wird geschlossen. Eine gewaltige Staubwolke aufwirbelnd zieht der Rotor die Maschine fast senkrecht nach oben. Nach etwa 25 Minuten landen wir in der Nähe eines kleinen Dorfes, auf halbem Weg zwischen Lomphat und Stung Treng, um die zwei Soldaten aus Uruguay bei ihrer dort stationierten Kompanie abzusetzen. Nach weiteren 20 Minuten überqueren wir den weitverzweigten und sehr breiten Oberlauf des Mekong. Auf der rechten Seite des Hubschraubers kann man am Horizont Laos ausmachen, auf der linken Seite tauchen die ersten Reisfelder und bäuerlichen Pfahlbau-Hütten von Stung Treng auf. Der Hubschrauber baut Höhe ab und steuert den etwas außerhalb von Stung Treng gelegenen Flugplatz an, der mit UNTAC-Dollars in einen auch für C-160-Landungen geeigneten Zustand gebracht wurde.

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Ein ungewöhnlicher Auftrag Auf mich wartet der Kommandeur des uruguayischen Infanteriebataillons, den ich bereits kennengelernt hatte, als wir vor einigen Monaten über die sanitätsdienstliche Versorgung seines auf acht verschiedene Standorte verteilten Truppenkontingentes diskutierten. Hauptproblem war dabei die Zuordnung ausreichender »Sanitätspakete« zu den jeweils 50 bis 100 Mann starken Truppenteilen unter dem Aspekt einer effizienten medizinischen Erstversorgung gewesen. Unter Abstützung auf den vorhandenen russischen Verbindungshubschrauber des Bataillons hatten wir eine brauchbare, wenn auch nicht ideale »Flying-Doctor«- Lösung gefunden. Der Anlaß für unsere heutige Begegnung hat nichts mit dem Sanitätsdienst zu tun. Wir sprechen auch nicht über Malaria. Im Auftrag von »Force Commander UNTAC«, Generalleutnant John Sanderson aus Australien, bin ich — für einen deutschen Sanitätsoffizier sicherlich etwas ungewöhnlich — als offizieller Repräsentant der militärischen Komponente UNTAC zum Demobilisierungs-Festakt einer Division der Regierungstruppen CPAF (Cambodian People's Armed Forces) unterwegs. Dort habe ich eine Rede zu halten und der anschließenden Einladung zu einem landesüblichen Mittagessen im Hause des ehemaligen Divisionskommandeurs zu folgen. Im Jeep des uruguayischen Bataillonskommandeurs erreichen wir nach einer halben Stunde abenteuerlicher Fahrt durch sehr unwegsames Gelände eine große Waldlichtung, in der sich zahlreiche halbverfallene Baracken um ein großes scheunenartiges Zentralgebäude scharen. Durch einen Seiteneingang werden wir auf ein bühnenartiges Gerüst im Inneren der fähnchen- und girlandengeschmückten »Festhalle« geführt. Eingerahmt von einer Abordnung safrangewandeter buddhistischer Mönche nehmen wir an einem langen Tisch hinter unseren Namensschildern Platz. Neben uns die Generalität der im Rahmen des Friedensprozesses demobilisierten Division, vor uns Hunderte von Frauen und Männern, die sich, nachdem sie ihre Waffen an UNTAC übergeben haben, zum letzten Male in dunkelgrüner CPAF-Uniform versammelt haben. Die selbstverfaßte Rede aus der durchgeschwitzten Uniform ziehend, begebe ich mich an das mit einem Mikrofon versehene Pult, um den anwesenden Soldaten — viele von ihnen haben sicherlich langjährige, leidvolle Kriegserfahrung hinter sich — Dank und Anerkennung der UNTAC-Friedenstruppe auszusprechen. Die durch die das konsekutive Ubersetzen bedingten Pausen geben mir ausreichend Gelegenheit, in den Gesichtern der am Boden Kauernden zu lesen. Bei den älteren Soldaten sind sie von verständlicher Skepsis geprägt. Bei den jüngeren meine ich jedoch durchwegs Freude, Erleichterung und Hoffnung zu entdecken. Für mich ein wunderbares Gefühl, für das kambodschanische Volk eine Keimzelle, vielleicht sogar ein Garant für eine Zukunft in Frieden und Freiheit.

Waldemar Benke Sommer 1994 in der Adria. Der Einfluß des Karlsruher Urteils auf den Einsatz der Fregatte »Lübeck« Kurz nach eins klingelt das Telefon: »Boardingauftrag«, meldet der Wachoffizier von der Brücke. Ende der Nachtruhe. Nächtliche Anrufe sind für den Kommandanten einer in See stehenden Einheit nichts Ungewöhnliches, muß er doch jederzeit über außergewöhnliche Ereignisse informiert sein. Fregatte »Lübeck« steht südwestlich des albanischen Hafens Dürres, Abstand ca. 7 Meilen. Boardingauftrag, das heißt Anhalten eines Handelsschiffes, Übersetzen eines Sicherheits- und Inspektionsteams, Prüfen von Schiffspapieren und Ladung. Auf der Brücke ist es drückend heiß, von nächtlicher Kühle keine Spur; sternklare Nacht und Windstille; es ist Mitte August 1994. Die Lichter von Dürres sind am Horizont gut auszumachen, dazwischen ein auslaufendes Schiff. Es ist eine Fähre mit Ziel Split in Kroatien. Unmittelbar nach der Meldung über ihr Auslaufen kam der Auftrag vom Commander Task Group (CTG), das Schiff zu untersuchen. An Bord läuft jetzt eine häufig geübte Routine ab, Zeit genug, den Gedanken ein wenig freien Lauf zu lassen. Am 28. April 1994 waren wir mit der Fregatte »Lübeck« aus Wilhelmshaven ausgelaufen. Ziel: Adria; Auftrag: Teilnahme an der Embargokontrolle gegen Rest-Jugoslawien. 218 Mann, darunter 35 Wehrpflichtige, wurden von ihren Angehörigen verabschiedet. Probleme mit dem Auftrag gab es nicht. »Lübeck« wurde wenige Tage später in die Standing Naval Force Atlantic (SNFL) eingegliedert, die zusammen mit der Standing Naval Force Mediterranean (SNFM) und der WEU-Force die Embargokontrolle durchführen, insgesamt 19 Schiffe sind dazu eingesetzt. Ihr Auftrag legitimierte sich aus der UNResolution 820. Neun Schiffe stehen ständig in den Einsatzräumen vor Montenegro und in der Straße von Otranto, der Rest ist auf dem Marsch, führt Verbandsausbildung durch oder kommt in den Genuß eines Hafenaufenthalts. Im Durchschnitt dauern die Einsätze für die deutschen Schiffe fünf Monate. Nichts Ungewöhnliches für die Einheiten der Zerstörerflottille. Einsätze in den beiden NATO-Verbänden gehörten schon seit Jahren zur Routine. Mit Beginn der Embargokontrolle gegen Rest-Jugoslawien, an der jeweils zwei deutsche Einheiten beteiligt sind, hat sich jedoch einiges geändert. Die Nachtruhe ist für die Besatzung dahin. Das Boardingteam macht sich klar, die Seeleute bereiten den Kutter vor, der das Boardingteam auf die Fähre übersetzen soll. Inzwischen ist der Kapitän der Fähre davon unterrichtet wor-

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den, daß sein Schiff im Rahmen einer Routineinspektion gestoppt, Papiere und Ladung untersucht werden sollen. Es erstaunt uns nicht, daß er keinerlei Einwände erhebt. Nach mehr als zwei Jahren Embargokontrolle hat sich die Handelsschiffahrt in der Adria an solche Untersuchungen gewöhnt. Kooperation ist immer noch der beste Weg für jeden Handelsschiffer, um schnell weiterzukommen. Der Kapitän wird gebeten, die Mannschaft und die Passagiere zu wecken und sie mit Ausnahme einer minimalen Brücken- und Maschinenwache auf dem Achterdeck zu versammeln. Auch das bringt keine Probleme, lediglich zwei Kleinkinder bittet er in der Koje belassen zu können. Das Versammeln der Besatzung der Fähre dient dem Schutz des Boardingteams vor Überraschungen während der Phase des An-Bord-Gehens. Die Fähre ist auf zwei Meilen herangekommen. Ihre Oberdeckbeleuchtung ist eingeschaltet, auf dem Achterdeck ist eine große Menge Menschen zu erkennen. Der Befehl zum Stoppen wird verzugslos ausgeführt. Was bei uns ebenfalls langsam zur Routine wird, war bis zum Juli 1994 noch völlig unmöglich. Die deutschen Einheiten, die bis dahin an der Embargokontrolle teilnahmen, durften lediglich Handelsschiffe abfragen und die Ergebnisse an die zuständigen Dienststellen weitermelden. In der Besatzung wurde das mit gemischten Gefühlen gesehen. Man fühlte sich im Verband als nicht vollwertig und nur für weniger wichtige Aufgaben abgestellt. Dies wurde noch durch den ausschließlichen Einsatz ganz im Süden der Straße von Otranto verstärkt. Von seiten der vorgesetzten Offiziere war von einer solchen Zurücksetzung nichts zu spüren. Die den deutschen Einheiten auferlegten Beschränkungen wurden akzeptiert. Auf der Ebene der Besatzungen, insbesondere bei gemeinsamen Hafenaufenthalten mit Schiffen anderer Nationen wurde das schon kritischer gesehen. Die »Volksseele« reagierte da etwas empfindlicher. Bis in den Juli 1994 hinein war »Lübeck« in der Straße von Otranto eingesetzt, als »Wächter an der Tür zur Adria«. Die Straße von Otranto ist ca. 40 Meilen breit. Täglich passieren zwischen 50 und 75 Schiffe die Straße nordwärts. Um diese Schiffe geht es. Was haben sie geladen, wohin sind sie unterwegs, besteht der Verdacht, daß eines davon ein möglicher Blockadebrecher mit kriegswichtigen Gütern für Rest-Jugoslawien ist? An Oberdeck der »Lübeck« ist Stimmengewirr zu vernehmen, die Vorbereitungen für das Übersetzen des ersten Teils des Boardingteams sind nicht zu überhören. Die Fähre aus Dürres hat inzwischen gestoppt, »Lübeck« nimmt eine Position an Steuerbord achteraus der Fähre ein, Abstand 100 Meter. Von hier aus sind die Menschen drüben gut zu zählen. 55 Personen hat der Kapitän bei der ersten Abfrage gemeldet. Zieht man die Maschinenwache, die Brückenwache und die Kinder in der Koje ab, könnten diese mit den an Oberdeck Gezählten übereinstimmen. An der uns zugewandten Schiffsseite läßt man auf der Fähre eine Lotsenleiter herunter, alles ist klar zum Empfang.

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Auf der Brücke der »Lübeck« bekommen der Führer des Sicherheitsteams und der Boardingoffizier eine letzte Einweisung. Vorgehensweise beim AnBord-Gehen, Verhalten gegenüber der Besatzung und den Passagieren, Aufenthaltsort der unter Deck beschäftigten Besatzungsangehörigen und Angaben über die Ladung werden nochmals durchgesprochen. Das Sicherheitsteam meldet sich ab. Kurz darauf wird der Kutter »klar zum Aussetzen« gemeldet. Die Ausbildung für einen Boardingeinsatz begann für die Besatzung der »Lübeck« bereits im Januar 1994. Im Rahmen der sechswöchigen Ausbildung beim Flag Officer Sea Training (FOST) in Portland, England, gehörte wie selbstverständlich auch die Rolle »Boarding« zum Ausbildungsprogramm. Daß die deutschen Schiffe in der Adria zu der Zeit überhaupt nicht an solchen Einsätzen teilnehmen durften, hatte auf das Ausbildungsprogramm keinen Einfluß. Es wurde ja nur geübt. Für die ausgewählten Besatzungsangehörigen waren die Boardingsübungen eine willkommene Abwechslung. Körperliche Fitness und Mut gehörten schon dazu, sich an einem Seil aus dem Hubschrauber herabrutschen zu lassen. »Fast Roping« heißt das Verfahren zum schnellen An-Bord-Bringen eines Boardingteams mit dem Hubschrauber. Mit den auf der Fregatte »Lübeck« eingesetzten Lynx-Hubschrauber können so bis zu sieben Mann aus mehr als 10 Metern Höhe innerhalb von 30 Sekunden abgesetzt werden. In Portland erschien es uns noch sehr ungewiß, ob aus diesen Übungen einmal ein richtiger Einsatz werden würde. Bis zum Auslaufen im April 1994 war eine Entscheidung über die Beteiligung der Bundeswehr an Missionen der Vereinten Nationen vom Bundesverfassungsgericht nicht gefallen, aber die wurde für den Sommer erwartet. Der vollbesetzte Kutter hat die Fähre gerade erreicht und das Ausbooten beginnt. Ein sensibler Zeitpunkt, denn in dieser Phase ist das Team leicht zu überraschen. Aber es passiert nichts. Der Erste Offizier der Fähre steht oben an der Lotsenleiter und hilft beim An-Bord-Gehen. Die Begrüßung ist höflich und entspannt, soweit man das von der eigenen Brücke aus erkennen kann. Das Sicherheitsteam besteht aus acht Mann. Je zwei besetzen die Brücke und die Maschine, zwei bleiben bei den versammelten Mannschaften und den Passagieren und zwei gehen mit dem Ersten Offizier durch alle Schiffsräume, um sicherzustellen, daß sich keine überzähligen Personen versteckt halten oder außerhalb der Laderäume Güter gestaut sind. Über eine Stunde zieht sich das hin. Unser Kutter dümpelt derweil auf der anderen Seite der Fähre. Ein gutes Seeboot, aber für diesen Einsatz hätten wir uns ein schnelleres Fahrzeug gewünscht. Bei ruhigem Wetter und einem völlig gestoppt liegenden Handelsschiff ist das Verbringen des Boardingteams noch unproblematisch, aber nicht alle Schiffe bleiben trotz gestoppter Maschinen auf der Stelle liegen. Dann ist auch der geübteste Bootssteuerer irgendwann mit seinem Latein am Ende, obwohl die 17 PS der Kuttermaschine zornig an der Kurbelwelle reißen.

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Die Ausrüstung für einen Boardingeinsatz, zu dem auch ein schnelles Boot gehören sollte, kam vor Auslaufen aus Deutschland nicht an Bord. Es war nicht angezeigt, im April 1994 durch materielle Vorbereitung einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vorzugreifen. Die Ausbildung der Besatzung und materielle Vorbereitungen an Bord beschränkten sich auf Vorhandenes. Spätestens nach dem Besuch von Staatssekretär Peter Wiehert im Mai 1994 war dann auch für den letzten Mann an Bord klar, daß mit einer Änderung der Einsatzrichtlinien im Sommer zu rechnen war. In der Besatzung spürte man gespannte Erwartung ob der Entscheidung in Karlsruhe. Zwar war nach den ersten Wochen des Einsatzes in der Straße von Otranto das Selbstbewußtsein gegenüber den Besatzungen der übrigen Schiffe deutlich gewachsen, immerhin konnten wir auf eine erfolgreiche Zeit zurückblicken. Darüber hinaus sparten die uns besuchenden NATO-Vorgesetzten nicht mit Lob. Trotzdem merkte man in den Gesprächen mit der Besatzung, daß ein deutliches Wort aus Deutschland dringend erwartet wurde. Warten. Eine Stunde ist lang, wenn man seine Männer auf einem fremden Schiff weiß und noch keinen endgültigen Überblick über die Situation hat. Zwischenzeitlich reißt die Funkverbindung zwischen den vier Gruppen und der eigenen Brücke immer wieder ab. Folge der Ausrüstung mit Handfunkgeräten, die für diesen Einsatz eigentlich gar nicht gedacht sind. Aber wir haben nichts anderes. Ruhe bewahren und Nerven behalten und für jeden möglichen Fall Alternativen bereit haben. Gut gesagt, solange man nicht in der Verantwortung des Kommandanten steht. Endlich die erlösende Nachricht: Der Führer des Sicherheitsteams meldet sich wieder. Das Schiff ist sicher, der zweite Teil des Unternehmens kann beginnen. Wie eine erlösende Nachricht ging auch die Entscheidung aus Karlsruhe durch die Besatzung. Endlich heraus aus der öffentlichen Diskussion um Legalität oder Illegalität unseres Einsatzes. Dann ging es Schlag auf Schlag: 22. Juli 1994: Entscheidung im Deutschen Bundestag über die volle Teilnahme der Bundeswehr am Adriaeinsatz und mit dem 27. Juli 1994: Übernahme des vollen Einsatzspektrums, das Waffeneinsatz und Boarding einschloß. Von vielen Offizieren anderer Nationen wurden wir beim Eintreffen der Nachricht beglückwünscht. War es mit dem Verständnis für unseren Einsatz unter Einschränkung doch nicht so weit her, oder teilten sie unsere Erleichterung? Die Zeitungen der nächsten Tage wurden an Bord mit viel Kopfschütteln gelesen. Dort las es sich so, als würden wir nun »wild um uns schießend« unseren Einsatz weiterführen. Nichts von alledem geschah. Erst einmal ging es zurück in die Straße von Otranto. Das Boardingteam allerdings sah seinem ersten Einsatz entgegen. Mit vorhandenem und nachträglich geliefertem Material wurde weiter ausgebildet, das Team wurde nochmals auf die richtige Personalauswahl hin geprüft. Besonnene Männer mußten es sein, professionell auftretend und Ruhe ausstrahlend. Für kleine »Rambos« gab es keinen Platz.

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Private Ausrüstung tauchte im Boardingteam auf. Von halbmeterlangen Taschenlampen über Schlagstöcke und Baseballschläger bis zu langen Messern reichte das Arsenal. Scheinbar waren doch zu viele Rambo-Filme in der Besatzung gelaufen. Mit einer »Entwaffnungsaktion« wurde dann aber noch weit vor dem ersten richtigen Einsatz der Normalzustand wieder hergestellt. Der Kutter ist mit dem Inspektionsteam unterwegs. Es werden jetzt die Ladungspapiere überprüft und mit der tatsächlich vorhandenen Ladung verglichen. Auch das ist zeitaufwendig. Diesmal müssen zwanzig Lastwagen geöffnet und inspiziert werden. Während der ganzen Zeit warten Mannschaft und Passagiere geduldig auf dem Achterdeck, das macht die Aufgabe für unsere Männer leicht. Kurz nach 5 Uhr meldet der Boardingoffizier den Abschluß der Prüfung. Alle Papiere und die Ladung sind in Ordnung. Die Boardingtruppe zieht sich an der Lotsenleiter zusammen, wird nochmals gemustert und verläßt die Fähre. Noch während der Kutter zum eigenen Schiff zurückkehrt, kann dem Kapitän der Fähre die Weiterfahrt gestattet werden. Er bedankt sich und fragt, ob wir ihn nächste Woche wieder überprüfen würden. Wer weiß, und weiterhin gute Fahrt. Sein Logbuch weist eine Vielzahl von Boardings auf, normales Tagesgeschäft in der Adria. Am 2. September 1994 war die »Lübeck« zurück im Heimathafen Wilhelmshaven. Viereinhalb Monate Adriaeinsatz lagen hinter uns, 2608 Schiffe wurden abgefragt und sechs geboardet. Die Entscheidung von Karlsruhe gehört mit zur Geschichte dieses Einsatzes. Die Rahmenbedingungen hatten sich dadurch geändert, die Einstellung und Haltung der Besatzung nicht. Nach wie vor handelten wir mit Augenmaß und Gespür für die jeweilige Situation, un wi jümmers, den Rest maakt wi mit de Winsch.

Peter Putz (K)ein ganz normaler Flug. Die Luftbrücke nach Sarajevo Der Tag fängt morgens um 6.30 Uhr an. Frühstück im Hotel, dann Abfahrt mit dem Bus zum Flugplatz. So, oder so ähnlich beginnt der Tag immer bei ganz normalen Auslandsflügen. Spätestens bei der Ankunft am Flughafen Falconara wird klar, daß es diesmal anders sein wird: unser Zielflugplatz heißt Sarajevo. Seit dem Morgengrauen wird an unserer Transall C-160 vom Lufttransportgeschwader 61, die zwischen einer britischen und einer schwedischen Hercules steht, gearbeitet. Der Luftumschlagzug belädt das Flugzeug mit ca. 8 Tonnen Hilfsgütern, nachdem die Techniker die morgendliche Wartung abgeschlossen haben. An Bord befinden sich heute Lebensmittel, überwiegend Mehl. 200 g Verpflegung pro Tag und Person soll die UNO-Versorgung für die 380 000 Einwohner von Sarajevo gewährleisten. Nach der Meldung beim Kommandoführer werden die Flugunterlagen empfangen. Unser Einsatzplan sieht den ersten Start für 7.30 Uhr, den zweiten für 11.40 Uhr vor. Während Kommandant und Navigator den Flugplan aufgeben und die Wetterberatung einholen, empfängt der Copilot Waffen sowie die Überlebens- und Splitterschutzwesten. Bordtechniker, Ladungsmeister und Feuerwerker sind bereits mit ihren Vorflugarbeiten beschäftigt: Kontrolle des technischen Zustandes der Maschine, Überprüfen der Ladung und Aufmunitionieren mit Radar- und Infrarottäuschkörpern. Unsere Transall entspricht bei weitem nicht dem »normalen« Ausrüstungszustand. Sie ist mit modernen Radarstör- und Raketenwarnsystemen ausgerüstet. Für die Besatzung erfordert dies eine besondere Zusatzausbildung. Von außen für den Laien kaum zu erkennen sind die winzigen Antennen des Raketenannäherungswarnradars. Wie kleine Warzen sitzen sie an der Rumpfvorderseite unter dem Cockpit und hinten, unterhalb des Höhenleitwerks. Beim Blick ins Cockpit bemerkt man anhand einer Vielzahl zusätzlich eingebauter Instrumente und Anzeigen jedoch schnell, daß es sich hier nicht um ein gewöhnliches Transportflugzeug handelt. Das vorhergesagte Wetter für Sarajevo verspricht gute Sicht und hohe Wolkenuntergrenzen. Etwa eine Stunde nach Dienstbeginn trifft sich die gesamte Crew zum S-2-Briefing. Ein Sicherheitsoffizier des internationalen Kommandos erklärt uns in einem geheim eingestuften Vortrag die heutige Lage im Kriegsgebiet, genauer eingehend auf den Bereich Sarajevo. Gestern war wieder mal ein »busy day«. Im Jargon der S-2-Experten bedeutet dies etwa 1000 Geschosse bzw. Einschläge pro Tag. Einhundert gelten als normal, fünfhundert sind Mittelmaß.

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Für heute sind keine Besonderheiten bekannt, also ein »normaler Tag«. Es werden noch bestimmte Verfahrensweisen für den Fall einer Notlandung oder eines Notabsprunges mit Fallschirm bekanntgegeben, geheimgehaltene Codes, die sich täglich ändern und bestimmte Sammelpunkte im Kriegsgebiet. Eine Besonderheit dieses Konfliktes ist, daß hier Serben gegen Moslems, Kroaten gegen Serben und Serben zusammen mit Kroaten gegen Moslems kämpfen, erklärt uns der diensthabende S-2-Offizier der Royal Swedish Air Force und schüttelt dabei verständnislos den Kopf. Doch das ist es wohl, was diesen Krieg so undurchschaubar macht. Schnell noch eine Tasse Kaffee, dann geht man gemeinsam zur Maschine. Spätestens jetzt kommt wieder dieses leicht mulmige Gefühl in der Magengegend auf, denn anstatt wie üblich die Lederjacke abzulegen und relativ bequem in seinem Sitz Platz zu nehmen, zwängt man sich in die Überlebens- und die Splitterschutzweste und zieht darüber noch den Fallschirm. Beengt wie in einer Rüstung sitzt man nach einigen Mühen endlich auf seinem Platz. Der Copilot liest die Checkliste, die Flugunterlagen für den relativ komplizierten Anflug auf Sarajevo werden in Griffnähe verstaut. »Falconara Tower, United Nations 381 request start up.« Die Triebwerke werden angelassen und nach kurzer Zeit rollen wir zur Startposition. Die Abwehrkörper der elektronischen Selbstschutzausrüstung werden scharf gemacht. Pünktlich um 7.30 Uhr hebt unsere C-160 ab in Richtung Osten. Ein genaues Einhalten der Startzeit ist erforderlich, da die verschiedenen Flugzeuge, die an der Luftbrücke teilnehmen, fest vorgegebene Landezeiten für Sarajevo haben, sogenannte Slot-times. Der erste Teil des Fluges verläuft ruhig, das Wetter ist gut und wir befinden uns in etwa 6000 m Höhe über der Adria. Es fallen ein paar lustige Bemerkungen untereinander, um die unterschwellig doch vorhandene Anspannung zu überspielen. Gedanken macht sich jeder. »Stimmt es eigentlich, daß das Militär bis zu 40 Prozent der Hilfslieferungen bekommt?«, fragt der Ladungsmeister. »Keine Ahnung, aber das scheint zumindest nicht abwegig, von irgend etwas müssen die ja auch leben«, antwortet jemand aus der Crew. Der Gedanke ist befremdend, wenn man sich das genauer überlegt. Wir fliegen humanitäre Einsätze und versorgen damit vielleicht, zumindest teilweise, auch das Militär. Solche Themen sind immer wieder Bestandteil unserer Cockpitgespräche. Auch die Sorge um die Familien beschäftigt mich; was wäre denn, wenn ... Der Copilot (27), jung verheiratet; der Bordtechniker (30), frisch verheiratet, seine Frau ist schwanger; der Navigator (41), Vater von drei Kindern und der Ladungsmeister mit 45 Jahren der älteste an Bord, verheiratet, zwei Kinder. Ich selbst bin 31, verheiratet und habe eine einjährige Tochter. Meist ist es so, daß sich die Familien zu Hause größere Sorgen machen als wir. Daneben haben wir noch einen sogenannten Electronic Warfare Officer (EWO) an Bord, der uns bei der Überwachung der Radarwarnanlage unterstützt; auch er ist mit 30 Jahren recht jung und auch seine Frau ist schwanger. Der Feuerwerker, Mitte 30, Vater von zwei Kindern, ist zum eventuellen Nachladen von Chaff- und Flare-Kartuschen,

(K)ein ganz normaler Flug. Die Luftbrücke nach Sarajevo

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zur Täuschung von radar- und infrarotgelenkten Raketen, als zusätzliches Besatzungsmitglied eingeteilt. Wir nähern uns der Position TORPO, ein imaginärer Punkt über der Adria, der die Grenze zwischen Italien und Ex-Jugoslawien kennzeichnet. Funkkontakt mit AWACS, dem fliegenden Frühwarnsystem, das uns Informationen über »feindliche« Radarstellungen oder eventuell angreifende Jets geben kann, wird hergestellt. In Codeworte verschlüsselt gibt uns der Controller an Bord der Überwachungsmaschine zu verstehen, daß keine Radarstellungen am Boden oder gar anfliegende, nicht identifizierte Jets eine Gefahr für uns darstellen. TORPO, dieser Punkt bedeutet auch »combat entry«. Frei übersetzt bedeutet dies Einflug ins Kriegsgebiet. In einer besonderen Checkliste handelt die Crew Schritt für Schritt die vorgegebenen Punkte ab. Das elektronische Abwehrsystem ist voll einsatzbereit, spätestens jetzt hat jeder die Überlebensausrüstung und den Fallschirm zu tragen. Der Druck in der Kabine wird möglichst niedrig gehalten, um bei eventuellem Beschuß das Risiko allzu großer Beschädigungen zu minimieren. Das ist etwa wie bei einem Luftballon: ist er stark aufgeblasen, so zerplatzt er, wenn man mit einer Nadel hineinsticht, bei geringerem Druck verliert er nur langsam Luft. Durch die große Kabinendruckhöhe ist weniger Sauerstoff in der Atemluft vorhanden, das bedeutet, der menschliche Organismus ermüdet schneller. Bei dieser Art von Einsätzen ist man allerdings viel zu beschäftigt, um müde zu werden. Die jugoslawische Küste mit ihren vielen vorgelagerten Inseln erscheint langsam am Horizont, ein idyllisches Bild, hier habe ich als Kind schon öfter Urlaub gemacht. Man kann sich kaum vorstellen, daß die so schön anzusehende Landschaft zum Kriegsgebiet gehört. Wir nehmen Funkkontakt mit Zagreb-Radar auf, der für uns zuständigen Flugsicherungskontrollstelle, und bekommen die Freigabe zum Weiterflug in Richtung Sarajevo. Die Strecke führt uns über Split, in einer leichten Linkskurve geht es weiter nach Vrana. Hier überkommt uns ein ungutes Gefühl, erst vorgestern hat an dieser Position unser Raketenannäherungswarnradar Alarm ausgelöst und automatisch Hitzeraketen abgefeuert. Es war hinterher nicht eindeutig nachzuvollziehen, ob es sich tatsächlich um ein Geschoß in unserer unmittelbaren Nähe, oder nur um eine Fehlwarnung handelte. Beim Blick nach unten sieht alles ruhig aus, aber aus einer Flughöhe von 19 000 Fuß lassen sich kleine Stellungen nicht mit dem Auge ausmachen. Wir reduzieren die Geschwindigkeit um 20 Knoten. Serbische Forderungen zwingen die Hilfsflugzeuge, exakte Landezeiten einzuhalten. Ebenso ist die Flugstrecke über dem Kriegsgebiet genau vorgegeben: ein Korridor von fünf nautischen Meilen Breite, den es unter keinen Umständen zu verlassen gilt. Werden diese Vorgaben nicht eingehalten, so lehnt die serbische Seite jegliche Garantien für die Sicherheit der UN-Flüge ab, was immer dies auch bedeutet. Probleme gibt es vor allem im Sommer, wenn Gewitterwolken in diesem Korridor stehen, die aus oben genannten Gründen nicht umflogen werden können. Solche Wolken dürfen auf Grund ihrer gefährlichen Wettererscheinungen und ihrer extrem starken elektrischen Entladungen, Turbulenzen und Hagel nicht durchflogen werden, was die Crew dann zum Umkehren

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zwingt. Eine unbefriedigende Situation für die Besatzung, wenn wieder mit den Hilfsgütern an Bord unverrichteter Dinge zurückgekehrt werden muß. Über Vrana angekommen, melde ich mich bei Zagreb-Radar ab und rufe Sarajevo-Tower. Ein eindeutig am Dialekt zu erkennender französischer UN-Soldat ist für die Anflugkontrolle zuständig. »UN 381 good morning, the airfield condition is green.« Für uns bedeutet dies, daß die Sicherheitslage ruhig ist und keine Beschüsse auf Luftfahrzeuge bzw. Schießereien in der unmittelbaren Umgebung des Flugplatzes bekannt sind. Die UNPROFOR, also die Blauhelm-Schutztruppe für Sarajevo, hat drei verschiedene Sicherheitsstufen festgelegt. Yellow bedeutet, daß der Flugplatz geöffnet ist, jedoch Gefechte in unmittelbarer Nähe stattfinden, die nicht als direkte Bedrohung für UN-Flüge zu verstehen sind. Bei condition red< ist der Flughafen Sarajevo geschlossen, es besteht Gefahr für anfliegende UN-Maschinen. Das Wetter wird mit mehr als acht Kilometern Sicht und einer Hauptwolkenuntergrenze von 10 000 Fuß angegeben, Temperatur minus 10 Grad Celsius. Die niedrige Temperatur hat für uns einen positiven Aspekt, beim Start sorgt sie für höhere Triebwerksleistung. »You are cleared for the approach runway 12«, meldet sich der UN-Soldat vom Tower. Wir bestätigen die Freigabe zum Anflug auf Sarajevo und setzen ihn in Kenntnis, daß die Flughöhe von 19 000 Fuß erst bei einem Abstand von 15 Meilen zur Landebahn aufgegeben wird. Der Anflugwinkel ist bei diesem sogenannten »Sarajevo approach« viermal so steil wie bei einem normalen Anflug, die Fluggeschwindigkeit liegt etwa 60 Knoten höher als sonst. Ziel dieses Verfahrens ist es, dem Wirkungsbereich von Waffen möglichst lange fern zu bleiben. Nur die Transall hat durch Luftbremsen, im Gegensatz zu den Hercules-Maschinen, die Möglichkeit, so steil anzufliegen. Allerdings wünschen wir uns oft die vier Triebwerke dieser Flugzeuge, um beim Start größere Leistungsreserven zu haben, denn der »Kessel« von Sarajevo ist umgeben von hohen Bergen, die für uns nicht zu unterschätzende Hindernisse darstellen. Kritisch wird es erst im kurzen Endanflug, der unmittelbar über zerstörte Wohnblocks hinwegführt, denn von dort aus wurden schon oft Maschinen mit Handfeuerwaffen beschossen, was bisher immer glimpflich ausging. Bis auf ein paar Einschußlöcher am Flugzeug gab es keine größeren Zwischenfälle. Erst letzte Woche wurde unsere Vorgängerbesatzung von Gewehrkugeln in Rumpf und Tragfläche — durch den Tank — getroffen. Bei einem Abstand von etwa 10 Meilen, Sarajevo ist steil unter uns zu sehen, meldet sich der Tower: »United Nations 381, do you agree visual separation?« Unsere Antwort: »Affirm, as usual.« Wir wurden gefragt, ob wir damit einverstanden sind, daß eine bereits entladene UN-Maschine, in diesem Fall eine amerikanische Hercules, Starterlaubnis bekommt, obwohl wir uns im Anflug befinden. Da die Startrichtung aus Sicherheitsgründen entgegen der Landerichtung erfolgt, kommen sich an- und abfliegender Verkehr entgegen. Dies ist nur möglich, wenn gute Sichtverhältnisse herrschen. Selbstverständlich willigen wir ein, auf diese Art und Weise werden die Aufenthaltszeiten für am Boden befindliche Flugzeuge möglichst gering gehalten.

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Der Flugverkehr ist rege, bis zu vierzig Anflüge pro Tag auf den Flugplatz von Sarajevo. Alle zehn bis fünfzehn Minuten landet ein Militärtransporter mit Hilfsgütern an Bord aus Falconara, Split, Zagreb und Frankfurt. Noch fünf Meilen zum Platz, wir sind immer noch sehr hoch und haben die startende Hercules in Sicht. Plötzlich meldet der amerikanische Pilot einen Granateinschlag etwa 50 Meter links von seiner Maschine, direkt im Moment des Abhebens. Damit hatten wir nicht gerechnet, nachdem uns das morgendliche Briefing einen ruhigen Tag versprochen hatte. »Na gratuliere, da wo der abgehoben ist, wollen wir landen«, denke ich mir. Um den Anflug abzubrechen, ist es jetzt zu spät, wir sind schon zu tief und zu dicht am Platz. Ein Durchstarten hieße, mit voll beladener Maschine über der Stadt zu kurven und zurückzufliegen und sich so einer relativ hohen Gefährdung durch Heckenschützen auszusetzen. Die Hercules hat uns bereits passiert, wir setzen den Anflug fort, unter uns völlig ausgebrannte Wohnblocks. Mit ungutem Gefühl überfliegen wir den Landebahnkopf und setzen etwa 200 Meter später auf. Es bleibt ruhig, bei der Granate handelte es sich offensichtlich um ein Versehen, Gott sei Dank. Schnell rollen wir von der Landebahn in Richtung Entladepiatz, der durch aufgeschüttete Schutzwälle etwas gesichert ist. Es herrscht reges Treiben, weiße Gabelstapler mit der blauen UN-Aufschrift fahren mit hoher Geschwindigkeit über das Vorfeld. Die UN-Soldaten bewegen sich im Laufschritt, auch sie wurden von dem Granateinschlag auf dem Flugplatz überrascht. Noch während des Rollens öffnet Blick durch die geöffnete Heckrampe der C-160 »Transall« auf dem Flugplatz Sarajevo

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der Ladungsmeister die Rampe. Von einem Blauhelm-Einwinker mit Splitterschutzweste werden wir in die Entladeposition eingewiesen. Der Kontrollturm informiert uns, »UN 381 be advised, airfield status is yellow«. Die Transall ist zum Stillstand gekommen, die Triebwerke werden abgestellt, schon steht der erste Gabelstapler an der Laderampe. Absolut routiniert werden die Paletten in kürzester Zeit entladen. Das Zusammenspiel zwischen Ladungsmeister und UNBodenpersonal ist perfekt. Beim Blick aus dem Cockpit bemerkt der Bordtechniker eine Rauchwolke in einer Siedlung gegenüber dem Flugplatz. Wohl wieder ein Granateinschlag. Die Häuser sind ausnahmslos stark beschädigt, meist ausgebrannt. »Wir sind entladen«, meldet der Ladungsmeister, die Triebwerke werden angelassen. »Sarajevo Tower 381 request taxi and take off«, so der Funkspruch des Copiloten. »UN 381 cleared taxi and take off«. Wir rollen über das Vorfeld in Richtung Startbahn 30. Die UN-Soldaten laufen vom Entladepiatz zum stark beschädigten Flughafengebäude. Meterhohe Sandsackwälle sollen das Innere vor Beschuß schützen. »Mit denen möchte ich nicht tauschen, die laufen ja als lebendige Zielscheiben rum«, sagt der Navigator beim Blick aus seinem Fenster. Die Buchstaben der Aufschrift SARAJEVO AIRPORT fehlen teilweise und sind nur noch durch ausgebleichte Stellen zu erkennen. Der Glanz dieses Gebäudes aus der Zeit der olympischen Winterspiele ist längst verblaßt. Ich rolle unsere Transall über den taxiway zur Startbahn. Aus Sicherheitsgründen nutzen wir nur etwa zwei Drittel der runway. Der südöstliche Teil liegt ungeschützt und sehr dicht an einer verlassenen Häusergruppe und man weiß nie, ob sich nicht so ein »slivovitzgesteuerter Heckenschütze« einen Freizeitspaß daraus macht, auf ein startendes Flugzeug zu schießen. Unsere C-160 steht in Startrichtung auf der Bahn, letzte Checks an Bord werden durchgeführt. Der Tower fragt an, ob wir damit einverstanden sind, wenn eine andere UN-Maschine den Anflug beginnt, während wir Sarajewo auf der vorgegebenen Abflugroute verlassen. Nachdem der Copilot mit dem Wort »affirm« dies bejahte, schiebe ich die Gashebel nach vorn, vor uns das Ende der Startbahn, wo vor etwa 10 Minuten noch eine Granate eingeschlagen hatte. Nach dem Lösen der Bremsen rollt die Transall mit hoher Beschleunigung los, die Maschine ist leer und es ist sehr kalt, so daß durch die hohe Triebwerksleistung und das geringe Gewicht die Startstrecke sehr kurz sein wird. Hoffentlich war die Granate wirklich nur ein Irrläufer, denke ich mir. Weit vor der Stelle, an der die amerikanische Hercules ihren Zwischenfall hatte, heben wir ab und gewinnen schnell an Höhe. Gerade sechs Minuten hat unser Aufenthalt von der Landung bis zum Start gedauert, neuer Rekord. Etwa drei Meilen links der Flugstrecke liegt der Berg Igman, Stützpunkt einer Stellung, von der aus in den letzten Monaten immer wieder in Richtung der Stadt geschossen wurde, genau über den An- und Abflugkurs hinweg. Erst nachdem ein paar tausend Fuß unter uns sind, löst sich die angespannte Stimmung etwas, trotzdem stehen uns noch etwa 20 Flugminuten über dem Kriegsgebiet bevor.

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Die vor dem Start angekündigte, entgegenkommende UN-Maschine entpuppt sich als Hercules, vielleicht die Schweden, wir wissen es nicht genau. Beim Abstand von etwa einer Meile schießt sie Flares, das sind Wärmetäuschkörper gegen anfliegende Raketen mit Infrarotsuchkopf, der auf die Hitze des Abgasstrahles der Triebwerke ausgerichtet ist. Ein imposantes Bild, die Hercules sieht aus wie ein beleuchteter Christbaum. Vermutlich hat das Raketenannäherungswarnradar uns als anfliegende Rakete geortet und so den automatischen Mechanismus ausgelöst. Nach etwa 15 Minuten haben wir unsere Reiseflughöhe von 18 000 Fuß erreicht. Hier oben ist man relativ sicher vor Beschuß, nur größere Flugabwehrraketen, die alle im Besitz des »organisierten Militärs« sind, können gefährlich werden; dieses hingegen hält sich weitestgehend an die UN-Absprachen zur Sicherheit der Luftkorridore. Außerdem könnte uns AWACS, mit dem wir direkt nach dem Start wieder Funkkontakt aufgenommen haben, warnen. Das Zielsuchradar einer solchen Stellung würde diese sofort verraten. Der Navigator ist ständig mit der Überwachung des ELOKA (Elektronische Kampfführung)-Radars beschäftigt, so daß er feindliches Suchradar an einem optischen und akustischen Warnsignal erkennen könnte. Das Abschießen von Täuschkörpern, sowohl gegen infrarot- als auch gegen radargestützte Raketen, mit einem gleichzeitigen Ausweichmanöver wären dann erforderlich. Split erscheint vor uns, der Anblick der wunderschön gelegenen Hafenstadt läßt die Anspannung langsam verschwinden. Das ELOKA-Radar wird abgeschaltet und endlich können wir diesen lästigen Fallschirm und die Splitterschutzweste wieder ablegen. Die zusätzliche Ausrüstung wiegt etwa 20 kg. Wenn man wieder im Cockpitsessel Platz nimmt, kommt man sich federleicht vor. Aber nicht nur wir persönlich sind »gepanzert«, neben der ELOKA-Ausrüstung der C-160 ist das Flugzeug im vorderen Bereich mit Panzerplatten ausgelegt und seitlich mit kugelsicheren Kevlar-Matten ausgekleidet. Anfangs bestand dieser Schutz nur im Cockpit. Nach dem Beschuß einer Transall des Lufttransportgeschwaders 62, bei dem ein Ladungsmeister durch Splitter, die die Außenhaut der C-160 durchschlagen hatten, schwerste Verletzungen erlitt, wurde auch der vordere Teil des Laderaumes geschützt. Damals war Zagreb noch Stützpunkt der Luftbrücke, wo nach der Notlandung der stark beschädigten Maschine der Ladungsmeister in einem amerikanischen Feldlazarett notoperiert wurde, was ihm vermutlich das Leben rettete. Der Navigator meldet sich bei AWACS ab, »Tschüs, bis später«, meldet sich der deutsche Operator aus der NATO-Boeing, deren Besatzung sich aus verschiedenen Nationalitäten zusammensetzt. Der Copilot ruft Padova-Radar, die für den italienischen Luftraum bis Ancona zuständige Flugverkehrskontrollstelle. Über Funk setzen wir Joint air operations cell (JAOC), die Koordinationszentrale für die Hilfsflüge, von unserer geplanten Landezeit in Kenntnis, fordern die neue Slot-Zeit für den zweiten Flug am Nachmittag an und bestellen Kraftstoff, etwa 6 Tonnen. Etwa eineinhalb Stunden wird unsere Bodenzeit betragen, bevor wir zum zweiten Male am heutigen Tage in Richtung Sarajevo starten.

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Padova-Radar gibt uns die Freigabe zu einem Direktanflug nach Sicht auf den Flugplatz Falconara. Bei laufenden Triebwerken springen Ladungsmeister und Feuerwerker über die geöffnete Rampe nach draußen, um die Sicherungsstifte einzuführen, die eine Fehlauslösung der Hitzetäuschkörper am Boden verhindern. Das Abschießen eines Flares mit Temperaturen von über 1000 Grad wäre lebensgefährlich für am Luftfahrzeug arbeitendes Personal, insbesondere beim Betanken. Die Nachmittags-Mission verläuft relativ reibungslos, irgendwie ist auch diese Art der Fliegerei zur — wenn auch traurigen — Routine geworden. Der notwendige Respekt vor der Sache bleibt und Routine darf nicht zu Unvorsichtigkeit werden. Vor ein paar Jahren noch hätte niemand von uns geglaubt, einmal solche Einsätze zu fliegen, doch seit dem Golfkrieg hat sich unser Aufgabenspektrum völlig gewandelt und Flüge in Krisen- und Kriegsregionen sind an der Tagesordnung, ob nach Tel Aviv während des Golfkrieges, zur UN-Unterstützung nach Bagdad, Hungerhilfe in Somalia oder Einsätze ins ehemalige Jugoslawien. Diese Art der Fliegerei ist vielleicht nicht ganz ungefährlich, aber sie befriedigt in besonderem Maße, denn sie ermöglicht es uns, Menschen in Not direkt zu helfen. Abends auf dem Nachhauseweg — pardon, auf dem Weg ins Hotel — merkt man doch, wie kaputt man eigentlich nach so einem Tag ist. Doch beim gemeinsamen Abendessen kommt bald wieder gute Laune auf. Und morgen auf ein neues.

Kurt Arlt Zum Engagement der NVA in der »Dritten Welt« Vorbemerkung Relativ wenige gesicherte Informationen liegen bislang über die Aktivitäten der Nationalen Volksarmee (NVA) im außereuropäischen Raum vor. Wie in anderen Bereichen verfolgte die politische und militärische Führung der DDR auch hier langfristige Ziele unter Anwendung vielfältigster Formen und Methoden. Dabei war sie bemüht, mit Hilfe eines feinmaschigen Netzes der Geheimhaltung jeden Blick hinter die Kulissen zu verwehren. Handverlesene Informationen in den Medien der DDR, z.B. über notwendige Solidaritätsleistungen, Ergebnisse von Besuchen offizieller Militärdelegationen der NVA in Staaten der »Dritten Welt« und die Bedeutung einzelner Hilfslieferungen für den wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung, sollten vor der Welt und der DDR-Bevölkerung das Bild zeichnen, die NVA unterstütze sehr wohl progressive Nationalstaaten und Befreiungsbewegungen, leiste aber vorrangig Hilfe bei der friedlichen Entwicklung und engagiere sich nicht direkt vor Ort. Die überwiegend im »Halbdunkel«, d.h. außerhalb jeder öffentlichen Stellungnahme und Kontrolle, praktizierte Unterstützung verschiedener Länder der »Dritten Welt« und nicht zuletzt die bekanntgewordenen Fälle umfangreicher Waffenlieferungen in Krisengebiete brachten aber jene immer wieder betonten humanen Aspekte des Engagements der NVA in Mißkredit und boten zudem vielfachen Anlaß für Spekulationen und unseriöse Unterstellungen.

»Sie brauchen unsere Hilfe...« Der Ende der 50er Jahre einsetzende weltweite Zerfall des Kolonialsystems und die sich auf nahezu allen Kontinenten vollziehende Herausbildung junger Nationalstaaten wurden in der DDR mit großem Interesse verfolgt. Die Veränderungen in Kuba, Algerien und weiteren Ländern schienen eindeutig zu signalisieren, daß nunmehr zahlreiche Staaten den sozialistischen Entwicklungsweg beschreiten und dem realen Sozialismus als wichtige Partner zur Seite treten würden. Sehr bald jedoch stellte sich heraus, daß diese neuen Staaten vor gewaltigen inneren Schwierigkeiten standen und der Hilfe und Unterstützung auf fast allen Gebieten bedurften. Nicht wenigen drohte der wirtschaftliche Kollaps, und sie erwiesen sich als politisch äußerst instabil. Bewaffnete Kräftegruppierungen unterschiedlichster politischer Orientierungen führten zum Teil über die Grenzen der soeben entstände-

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nen Staaten hinweg erbitterte Auseinandersetzungen um Macht und Einfluß, erste militärische Konflikte zwischen Entwicklungsländern kündigten sich an. Die sozialistischen Länder schrieben sich zwar den Zerfall der Kolonialreiche als Sieg ihrer Politik auf die Fahnen, waren auf die nachfolgende Entwicklung in der »Dritten Welt« aber eher unzureichend vorbereitet. Wollten sie in absehbarer Zeit einen spürbaren Einfluß erlangen, mußte ihr Ziel darin bestehen, über umfangreiche Unterstützungsmaßnahmen ein Abnabeln der jungen Staaten von den einstigen Mutterländern zu fördern, eine attraktive Perspektive sozialistisch orientierter Entwicklung anzubieten und eine Hinwendung zu den wirtschaftlich potenten Staaten der westlichen Welt zu verhindern. Die DDR-Führung war aus prinzipiellen Überlegungen heraus zu Hilfeleistungen bereit, sie erhoffte sich davon aber auch breitere internationale Anerkennung und zumindest mittelfristig wirtschaftlichen Gewinn. Die ökonomische Situation der DDR ausgangs der 50er Jahre setzte unentgeltlichen Hilfslieferungen — und um solche konnte es sich gerade bei den Staaten mit prosozialistischer Orientierung nur handeln — freilich erhebliche Grenzen. Diese Solidaritätslieferungen wurden daher aus zwei Quellen gespeist: über die Bereitstellung von Waren u n d Dienstleistungen aus dem Staatshaushalt und durch Spenden der Bevölkerung. Breit angelegte Solidaritätsaktionen, die sich mit ihren Aufrufen zu Sach- und Geldspenden auf die tatsächlich vorhandene Not in der »Dritten Welt« beriefen und auf ein ausgeprägtes Solidaritätsgefühl der DDR-Bevölkerung trafen, erbrachten alljährlich erhebliche Summen. Solidarität galt als ehrenvolle Pflicht, der man sich nicht entzog; andererseits mußte gerade sie nicht selten zur Begründung für manches eigene wirtschaftliche Problem und zur Rechtfertigung zwielichtiger Transaktionen herhalten. Erst in den letzten Tagen der DDR sollte offensichtlich werden, wie mißbräuchlich die Führung der DDR mit Solidaritätsspenden der Bevölkerung umgegangen war. Sehr früh schon wurde die NVA in die Unterstützungsleistungen einbezogen, die sich vorerst im wesentlichen auf zwei Bereiche erstreckten: die Bereitstellung von Ausrüstung und Gerät aus den Beständen der Armee sowie die Solidaritätsspenden der NVA-Angehörigen. Das war nicht weiter verwunderlich, verfügt doch ein militärischer Organismus immer über bestimmte Vorräte und Reserven für den Ernstfall. Der Solidaritätsbeitrag der Armeeangehörigen hingegen stellte eine beachtliche Größenordnung dar und ließ sich gewissermaßen militärisch exakt erfassen. Der nachweislich erste Auftrag zur Zusammenstellung einer Hilfslieferung erging an die NVA im Februar 1959. Vor allem Maschinen für den Straßen- und Brückenbau, Fernmeldemittel und medizinisches Gerät, aber auch entbehrliche Waffen und Munition sollten bereitgestellt werden. Unter strenger Geheimhaltung — sämtliche Hinweise auf die Herkunft der Ausrüstung waren zu entfernen, der vorgesehene Verwendungszweck durfte den mit der Vorbereitung Beauftragten nicht bekanntgegeben werden und Transportpolizisten in Zivil begleiteten die Lieferung bis in den Abgangshafen — wurden Hilfsgüter für ca. 700 000 DDR-Mark nach Guinea geliefert. In diesem Zusammenhang dürfte

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auch der erste Einsatz von Angehörigen der NVA in einem Staat der »Dritten Welt« erfolgt sein: Als das Schiff mit der Ausrüstung in Guinea eintraf, wartete schon eine Gruppe von Fernmeldespezialisten auf die Übernahme der Ladung. Sie hatte den Auftrag, die Fernmeldetechnik zu installieren und einheimische Soldaten daran auszubilden. Der Charakter der von der NVA zur Verfügung gestellten Hilfslieferungen und ihr Engagement in der »Dritten Welt« sollten sich in den folgenden Jahren vom Umfang und vom Profil her kaum verändern. Hierfür sind mehrere Ursachen zu benennen: Noch vermeinte die DDR-Führung mit Solidaritätsleistungen hinreichend helfen zu können. Zudem war die NVA bis in die frühen 60er Jahre hinein zu sehr mit eigenen Entwicklungsproblemen belastet, als daß sie bereits Ambitionen für größere Aktivitäten außerhalb des ihr zugedachten Einsatzraumes genährt hätte. In diese Zeit fiel ihre Ausrüstung mit moderner Bewaffnung und militärischer Technik (Raketen, elektronische Waffenleitsysteme, neue Generationen von Strahlflugzeugen, Schiffen, Panzern und Geschützen). Dieser Prozeß erlegte der DDR-Wirtschaft erhebliche Belastungen auf, da die notwendigen Mittel für den Kauf der Waffensysteme — vor allem in der Sowjetunion — nur über vermehrte Exporte zu erlangen waren und parallel dazu verstärkt eigene Betriebe auf die Produktion von Rüstungsgütern (Handfeuerwaffen, Munition, Ausrüstungsgegenstände, Fernmeldetechnik u.a.) umgestellt wurden. Andererseits eröffneten sich erst damit größere Möglichkeiten, um der wachsenden Nachfrage seitens der jungen Nationalstaaten und Befreiungsbewegungen, insbesondere nach Waffen und militärischer Ausrüstung, entgegenzukommen. Während bislang derartiges Gerät bestenfalls in ausreichendem Maße für den Eigenbedarf der NVA zur Verfügung stand — die erste Hilfslieferung für Guinea erbrachte nur wenige entbehrliche Waffen —, konnte nun unter Umständen auf die in Lagern zusammengeführte ältere Militärtechnik zurückgegriffen und zudem Rüstungsgut aus DDR-Produktion angeboten werden. Mit dem eskalierenden Vietnamkrieg schnellten die Hilfslieferungen in die Höhe. Jahr für Jahr erreichten die aus dem Staatshaushalt finanzierten Unterstützungsleistungen und die Spenden der Bevölkerung Millionenbeträge. Es lag auf der Hand und war unausgesprochenes Geheimnis, daß trotz der schlimmsten Not der vietnamesischen Bevölkerung militärische Güter einen wesentlichen Teil der Unterstützung ausmachten.

Hilfe bei der Entwicklung der Infrastruktur und im humanitären Bereich Die Nationale Volksarmee sah sich bereits in den 60er Jahren mit zahlreichen Anforderungen aus Ländern der »Dritten Welt« konfrontiert, im infrastrukturellen und humanitären Bereich Unterstützung zu gewähren. Über die Handelsvertretungen der DDR sowie später über die Botschaften und Militârattachés in den betreffenden Ländern und in der DDR wurden nicht wenige Bitten direkt

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an das Ministerium für Nationale Verteidigung gerichtet; sicherlich spielte hier auch der Umstand eine Rolle, daß die Nationalstaaten häufig von Militärregierungen geführt wurden, die verständlicherweise den direkten Kontakt zu Militärs bevorzugten. Da die NVA in der Mehrzahl der Fälle nicht über die notwendigen Kapazitäten — diese Bitten reichten von der Entsendung von Kinderärzten bis zur Einrichtung kompletter Lehrwerkstätten — verfügte und die NVA-Führung zudem nicht die entsprechende Entscheidungsbefugnis besaß, wurden die Anfragen nach Entscheidung im Politbüro des ZK der SED an die entsprechenden zivilen Ministerien und Dienststellen weitergeleitet. Nicht von der Hand zu weisen ist auch die Vermutung, daß die staatliche Führung der DDR komplexe Einsätze von NVA-Angehörigen zum damaligen Zeitpunkt nicht für angebracht hielt. Die NVA trat daher in der Regel nur dort auf den Plan, wo bestimmte Fachleute oder spezielle Ausrüstungen benötigt wurden, die in der DDR nur in der NVA vorhanden waren. So half sie verschiedenen Ländern auf dem Gebiet des Verlagswesens, der Kartographie, des Vermessungswesens und der Seehydrographie sowie beim Aufbau und bei der Modernisierung des staatlichen Fernmeldenetzes. Mehrfach wurden Militärmediziner der NVA herangezogen, um Unterstützung bei der Organisation und Durchführung der medizinischen Betreuung in den Streitkräften von Staaten der »Dritten Welt« (z.B. in Äthiopien, Angola und in der Jemenitischen Arabischen Eine Hilfssendung aus der DDR wird im Juni 1967 von syrischen Soldaten übernommen. Medikamente und medizinisches Gerät sollen die Auswirkungen des Sechstagekrieges überwinden helfen

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Republik) zu leisten oder aber im Rahmen von Ärztegruppen ihre speziellen Erfahrungen für den Aufbau des zivilen Gesundheitswesens verschiedener Länder zu vermitteln. So geschätzt diese Hilfeleistung und ähnlich gelagerte Einsätze von NVA-Angehörigen im Einzelfall auch waren, konnte damit lediglich punktuell Hilfe geleistet werden. Zudem bleibt gerade bei der Entsendung von Militärmedizinern ein bitterer Beigeschmack, lieferte doch die DDR neben der medizinischen Hilfe in nicht geringem Maße mit den Waffen — darauf wird später noch zurückzukommen sein — auch die Vernichtungsmittel, die vielfaches Unheil säten und die die an sich schon unterentwickelten Gesundheitseinrichtungen hoffnungslos überforderten. Ähnliches gilt auch für die Behandlung von verwundeten und erkrankten Angehörigen der Streitkräfte Äthiopiens, Afghanistans, Nord- und Südjemens in der DDR. Zudem kann man sich beim Studium der Akten des Eindrucks nicht erwehren, daß eben jene Behandlungen in der DDR in der Realität nicht nur der Linderung menschlichen Leids dienten, sondern angesichts der medizinischen Versorgung nicht befugter Personen auch zur Sicherung der Ansprüche und Privilegien einzelner Streitkräfteführungen genutzt wurden. Erst in den 80er Jahren, als nach der internationalen Anerkennung der DDR gewachsene Stärke und Leistungsfähigkeit demonstriert werden sollte, entschied man sich, geeignete Gelegenheiten für den Einsatz geschlossener NVA-Einheiten im außereuropäischen Raum zu testen. 1984/85 wurde eine Fliegerstaffel — aber auch hier nur im Zusammengehen mit der DDR-Fluggesellschaft »Interflug« — im Rahmen der internationalen Hilfeleistung für die Dürreopfer nach Äthiopien entsandt, wo sie über einen längeren Zeitraum unter schwierigen Bedingungen wirkte. Einen echten und wirksamen Beitrag im humanitären Bereich leistete die NVA vor allem dann, wenn mit besonderer Dringlichkeit größere Mengen bestimmter Hilfsgüter zusammengestellt werden sollten. Während eine Produktion unter den Bedingungen der Planwirtschaft mit erheblichen Schwierigkeiten, zumindest aber doch mit entscheidendem Zeitverlust verbunden gewesen wäre, konnten so Ausrüstungsgegenstände und Gerät unverzüglich versandt werden, die in ausreichender Stückzahl in den Lagern der NVA abrufbereit vorhanden waren. Zelte, Wäsche, bestimmte Lebensmittel, Medikamente und Verbandsmaterial, Wolldecken, Wasseraufbereitungsanlagen, Pumpen u.a. wurden als Solidaritätsgeschenke unentgeltlich an Staaten der »Dritten Welt«, die von Dürren, Überschwemmungen und anderen Naturkatastrophen betroffen waren oder sich in einer besonders schwierigen Lage befanden, geliefert und von diesen jederzeit dankbar angenommen.

Als Dauerauftrag im Pflichtenheft der NVA Bis zum Beginn der 70er Jahre hatte sich die »Dritte Welt« ungeachtet der Erwartungen und der zahlreichen mehr oder minder direkten Vorstöße der sozialisti-

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sehen Staaten im politischen, wirtschaftlichen und militärischen Bereich insgesamt nicht näher zum realen Sozialismus hin entwickelt. Vereinzelte Versuche, einen besonderen nationalen Sozialismus aufzubauen, stagnierten oder waren bereits gescheitert. Klar zu erkennen war das Bemühen vieler Nationalstaaten, sich dem Schwerefeld der beiden Supermächte USA und Sowjetunion durch Blockfreiheit und gewisse Distanz zu entziehen. Nicht ohne schwerwiegende Auswirkungen auf die konfliktgeladene Situation in der »Dritten Welt« blieb die sogenannte Breznev-Doktrin, mit deren Hilfe die Sowjetunion zuerst ein Ausbrechen einzelner Staaten aus dem kommunistischen Machtbereich verhindern wollte, die aber gleichzeitig auch in allen Teilen der Erde zum unbedingten Halten und Erweitern der Positionen des Sozialismus zur Anwendung gelangte. Die Unterstützung für die Nationalstaaten und die Befreiungsbewegungen und hierbei insbesondere die militärische Komponente waren zu einem ständigen Begleitelement der Politik der Warschauer Vertragsstaaten gegenüber den Entwicklungsländern geworden, denn zu einem großen Teil ließen sich nur so an der Macht befindliche Regime halten. Andererseits hatten die sozialistischen Staaten bereits soviel Entwicklungshilfe — welcher Art auch immer — geleistet, daß ein Rückzug mit riesigen ökonomischen Verlusten gleichbedeutend gewesen wäre; daher blieb letztlich nur dieser Ausweg: die immer aufwendigere Unterstützung fortzusetzen in der Hoffnung auf einen irgendwann einsetzenden Umschwung. Schon lange reichte das Potential allein der Sowjetunion nicht mehr aus, deshalb wurden alle Staaten und Armeen des Warschauer Vertrages auf der Basis von Abstimmung und Arbeitsteilung innerhalb des Bündnisses einbezogen. Wie aus den Akten hervorgeht, nahm der Hauptstab der NVA fast in jedem Falle sich anbahnender Kontakte zu Nationalstaaten und Befreiungsbewegungen Rücksprache mit dem Generalstab der Streitkräfte der UdSSR und sandte bei wichtigen Verhandlungsergebnissen oder grundlegenden Schlußfolgerungen für weitere Hilfsleistungen Berichte bzw. Informationen nach Moskau. Eine Abstimmung erfolgte in wichtigen Fragen auch mit den Verteidigungsministerien in Warschau und Prag, seltener mit Budapest und Sofia, kaum jedoch mit Bukarest. Die NVA befand sich inzwischen in den Beziehungen zu den Streitkräften der Entwicklungsländer in einer deutlich günstigeren Position. Die Zurückhaltung bestimmter Staaten gegenüber den Großmächten ließ diese einen vermeintlichen Ausweg in der Zusammenarbeit mit kleineren sozialistischen Ländern suchen, wobei auch der Wunsch nach einer gleichberechtigteren Verhandlungsbasis eine Rolle gespielt haben dürfte. Der NVA fiel damit in einer gewissen Weise eine Stellvertreterfunktion für die Streitkräfte der UdSSR zu, die sie in Abstimmung mit diesen bewußt und offensichtlich nicht ungern wahrnahm. So konstatierte Verteidigungsminister Heinz Hoffmann in einem Redekonzept für das Politbüro zu den Ergebnissen einer Afrikareise im Mai 1978: »Es gibt in verstärktem Maße Tendenzen, über uns gute Beziehungen zur Sowjetunion zu pflegen oder die guten Beziehungen zu der relativ kleinen DDR zu entwickeln, die nicht im Rufe einer Großmacht steht.«

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Zudem hatte sich die NVA zu einer der am besten ausgerüsteten, organisierten und ausgebildeten Armeen des Warschauer Vertrages entwickelt und schickte sich an, in bestimmten Bereichen den zweiten Platz im Bündnis nach der Sowjetarmee einzunehmen. Das wirkte sich natürlich auch auf das Selbstbewußtsein der NVA-Führung aus, die wesentlich sicherer gerade in der »Dritten Welt« auftrat, wie unter anderem die zahlreichen offiziellen und inoffiziellen Militärdelegationen der NVA in Ländern nahezu aller Kontinente seit den 70er Jahren belegen. Ein Bericht über den Aufenthalt einer offiziellen Militärdelegation unter Leitung des Verteidigungsministers Heinz Hoffmann in mehreren arabischen Staaten im Oktober 1971 sagt aus, Ziel der Reise sei es u.a. gewesen, »die Autorität der NVA zu erhöhen«. Die Zeiten, da sich die NVA gegenüber Entwicklungsländern bescheiden hinter der Sowjetarmee im Hintergrund hielt, waren vorüber. Mit Geschick wurde versucht, das Image einer »kleinen, aber feinen« Armee aufzubauen und dieses zu vermarkten, indem die NVA als effizientes Modell für Länder mit begrenzten finanziellen und ökonomischen Möglichkeiten angepriesen wurde. Und selbst ein scheinbar hiermit nicht im Zusammenhang stehender Umstand sollte in ähnlicher Richtung wirken: Mit gewissem Erstaunen registrierten führende NVA-Generale bei ihren Reisen in verschiedene arabische und lateinamerikanische Länder die Tatsache, daß die einstige »deutsche militärische Tüchtigkeit« immer noch in hohem Ruf stand. Mochten sie auch auf den anderen Charakter der NVA und ihre neuen Traditionslinien verweisen, wußten sie doch sehr wohl, daß DDR und NVA vielfach mehr oder weniger direkt davon profitierten. Angesichts der von den politischen Entscheidungsträgern der DDR bekräftigten Notwendigkeit eines aktiveren Engagements der NVA in der »Dritten Welt« nahmen die Kontakte zu Streitkräften in Entwicklungsländern von Jahr zu Jahr an Intensität zu. Parallel dazu entstanden klare Regelungen für die Einbeziehung der NVA in diese Unterstützungsmaßnahmen sowie ein festes Gefüge der Zuständigkeiten und Koordinierungsaufgaben. Über die Realisierung eines Hilfeersuchens im militärischen Bereich wurde nach wie vor zentral, d.h. im Politbüro oder sehr oft sogar persönlich durch den Generalsekretär der SED, Erich Honecker, entschieden. Die notwendigen Verantwortlichkeiten und Verfahrenswege innerhalb der NVA bestimmten ein spezieller Befehl (Nr. 02/1975) des Ministers für Nationale Verteidigung und später die sogenannte Unterstützungsordnung. In aller Regel waren Abstimmungen mit anderen Ministerien und Dienststellen der DDR zur grundsätzlichen Zweckmäßigkeit, zur Auftragserteilung für die Produktion bestimmter Geräte und Ausrüstungsgegenstände, über Sicherheitserwägungen, zu Ausbildungsfragen, zur medizinischen Hilfeleistung u.a. erforderlich. Folgende Hauptbetätigungsfelder der NVA bildeten sich dabei heraus: 1. Lieferung von Waffen und Munition, Ausrüstungsgegenständen, Fahrzeugen usw. Die NVA stellte überwiegend Teile ihrer als Mobilmachungsreserve eingelagerten Bestände zur Verfügung (vermittelte aber auch bei der Lieferung von

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Waffen und Munition, die sich in der Ausstattung der Ministerien des Innern und für Staatssicherheit befanden) und leistete Unterstützung bei der Installation und Nutzung der gelieferten Ausrüstung. Daneben wurde modernes Gerät aus DDR-Produktion angeboten, sofern der Bedarf der NVA gedeckt war. Allerdings konnte die NVA Wünschen nach Lieferung moderner schwerer Waffensysteme und nach Ausbildung an diesen nur selten nachkommen, da sie in der Mehrzahl der Fälle weder über die Produktions- noch über die Ausbildungsbasis verfügte — hier setzte dann die arbeitsteilige Abstimmung zwischen den Staaten des Warschauer Paktes ein. In zunehmendem Maße und gewiß nicht zufällig wurden Material und Leistungen für die politische Arbeit in den Streitkräften offeriert: Lieferung von Ausrüstungen für Druckereien und Mitteln für die politische Arbeit, Annahme von Druckaufträgen bis zur Bereitstellung von Publikationen in den entsprechenden Fremdsprachen. 2. Vermittlung von Erfahrungen beim Aufbau und bei der Führung von Streitkräften. Hierzu entsandte die NVA Spezialisten zu Teilfragen der Organisation, der Planung und der Führung von Streitkräften in verschiedene Länder, wo sie zumeist in den Verteidigungsministerien oder in höheren Stäben zum Einsatz kamen. Aus der Sicht der NVA war jedoch die Gewährung sogenannter Konsultationen in der DDR selbst günstiger, weil der organisatorische A u f w a n d geringer ausfiel, praktische Vorführungen möglich waren und gleichzeitig Absprachen mit anderen staatlichen Stellen zur weiteren Gestaltung der Beziehungen geführt werden konnten. In bestimmten Fällen — wie z.B. bei der Unterstützung der PLO — gab es auch keine andere Möglichkeit. 3. Unterstützung bei der Ausbildung von Einheiten sowie an Schulen und in Ausbildungscamps. Nach ersten Versuchen auf diesem Gebiet, die in den jeweiligen Ländern (Syrien, Kongo-Brazzaville u.a.) unter Anleitung von DDR-Ausbildern erfolgten und vielerlei Probleme aufwarfen, wurde später fast ausnahmslos zur Ausbildung in der DDR übergegangen. Diese Form der Unterstützung bewährte sich jedoch insgesamt nicht, sie wurde Mitte der 70er Jahre durch die effektivere Ausbildung von Offizieren und Unteroffizieren aus Streitkräften der »Dritten Welt« an Lehreinrichtungen der NVA sowie durch die Bereitstellung von Ausrüstung und durch praktische Hilfe von Fachleuten der NVA bei der Schaffung oder Modernisierung von Militärschulen und Ausbildungscamps (z.B. in Vietnam, Nicaragua, Äthiopien und Angola) ersetzt. Nur in Einzelfällen wie bei der Ausbildung von libyschen Kampfschwimmern wurde die Einheitsausbildung beibehalten. 4. Ausbildung an Lehreinrichtungen der NVA. Beginnend in den 70er Jahren ging die NVA dazu über, an mehreren bereits vorhandenen bzw. speziell für diesen Zweck geschaffenen Lehreinrichtungen »ausländische Militärkader« auszubilden. In Abstimmung mit den anderen Armeen des Warschauer Vertrages übernahm die NVA die Heranbildung von Offizieren und Unterofffizieren für alle Teilstreitkräfte. Bei den Unteroffizieren lag

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der Schwerpunkt auf technischen Verwendungen. Der Ausbildung, deren Dauer je nach den Wünschen des entsendenden Landes variiert werden konnte, ging ein einjähriger Deutschkurs (meist in Verbindung mit sogenannter Grundlagenausbildung) voraus. Ausgebildet wurden im Rahmen des Vollstudiums oder von Kurzlehrgängen nicht nur Angehörige der Streitkräfte aus Entwicklungsländern, sondern auch Mitglieder von Befreiungsbewegungen und — bei strenger Abschirmung — »ausländische Parteikader«. Es gibt Hinweise darauf, daß die NVA auch bestimmte Anteile der in der Verantwortung des Ministeriums für Staatssicherheit durchgeführten Ausländerausbildung übernahm. Neben der Ausbildung von Unteroffizieren und Offizieren für die Truppe sicherte die NVA weiterhin die Aus- und Weiterbildung von Militärärzten für verschiedene Armeen und koordinierte die in breitem Maße praktizierte Entsendung von Angehörigen der Streitkräfte aus Entwicklungsländern zum Studium an zivilen Universitäten und Hochschulen der DDR. 5. Medizinische Betreuung von verwundeten oder erkrankten Angehörigen der Streitkräfte aus Nationalstaaten und Befreiungsbewegungen, medizinische Untersuchungen von Flugzeugführern und anderem militärischen Personal. 6. Bereitstellung von Plätzen in Urlaubseinrichtungen der NVA für Angehörige der Streitkräfte junger Nationalstaaten bzw. Urlauberaustausch. In Prora (Insel Rügen) wurde 1980 eine speziell für die Ausbildung ausländischen Militärpersonals vorgesehene Offiziershochschule der NVA geschaffen. Die Lehrgangsteilnehmer — hier Angehörige der äthiopischen Streitkräfte — trugen zumeist NVA-Uniform ohne Hoheitsabzeichen

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7. Unterstützung im Bereich des Militärsports durch Entsendung von Trainern, Übergabe von Sportgerät oder Einladung von Mannschaften zu Trainingslagern in der DDR. In Anbetracht des wesentlich gewachsenen Umfangs und der Intensität der Beziehungen war die NVA seit den 70er Jahren bemüht, der Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern und ihrem Engagement in der »Dritten Welt« eine bestimmte vertragliche Basis zu verleihen. Dadurch sollten eine größere Planmäßigkeit in den Beziehungen hergestellt, die in der NVA geschaffenen Ausbildungsplätze rationell ausgelastet, immer wieder auftretende juristische Probleme überwunden und nicht zuletzt eine engere Bindung der Entwicklungsländer an die sozialistischen Staaten erreicht werden. Mit den Vereinbarungen strebte die DDR-Seite aber auch bereits an, auf längere Sicht und im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten gewisse eigene militärische und militärtechnische Zielstellungen zu verankern. So bekundete die NVA gegenüber mehreren Staaten ihr Interesse an der gemeinsamen Entwicklung bestimmter Waffen und Geräte bzw. an der Erprobung von in der DDR hergestelltem Gerät unter subtropischen und tropischen Einsatzbedingungen. Sie vereinbarte weiter mit den Armeeführungen einiger Länder den Austausch von Informationen über den »Gegner« (westliche Staaten, NATO, Israel u.a.), die Übermittlung von Kampferfahrungen nach Kriegen und militärischen Konflikten sowie die Übergabe erbeuteter Waffen, Sprengmittel, Minen, Fernmeldetechnik u.a. zur Auswertung in der NVA. Die praktischen Ergebnisse aus der Realisierung der Vereinbarungen schienen für die NVA jedoch zumindest in diesen Fragen erheblich unter den Erwartungen gelegen zu haben. Der Umfang und das nicht absehbare Ende der Lieferungen und Leistungen in die »Dritte Welt« zwangen die DDR und speziell die NVA auch in anderer Hinsicht zu bestimmten Konsequenzen. Die eigene wirtschaftliche Situation ließ sich nicht länger mit der bisherigen Praxis relativer Großzügigkeit und unentgeltlicher Lieferungen vereinbaren. Zudem lagen bestimmte Erfahrungen darüber vor, daß zumindest im Bereich der Ausbildung von militärischem Personal nicht zu unterschätzende Einnahmen zu erzielen waren. Die NVAFührung strebte daher im Zusammenwirken mit anderen Ministerien der DDR eine schrittweise Reduzierung unentgeltlicher Lieferungen an. Es galt genauer zu prüfen, bei welchen Staaten auf Grund besonders schwieriger Bedingungen die Form der unentgeltlichen Hilfe weitergeführt und wo eine »Entwicklung der Zusammenarbeit auf kommerzieller Basis« durchgesetzt werden sollte. Damit war es möglich, Länder wie Äthiopien und Afghanistan nahezu völlig von Zahlungen freizustellen, in anderen Fällen bestimmte Anteile der militärischen Hilfe in Rechnung zu stellen oder eine weitgehende Verrechnung der Leistungen zu verlangen (z.B. gegenüber Libyen, Algerien und Syrien). Der Zwang zur Erwirtschaftung frei konvertierbarer Währung, unter dem sich letztlich auch die NVA befand, die desolate finanzielle Lage einzelner Entwicklungsländer und die Preisspirale auch im Bereich militärischer Leistungen belasteten zweifellos die Zusammenarbeit und ließen einige vertraglich vereinbarte Projekte

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scheitern. Andererseits ist es kennzeichnend, daß die politische und militärische Führung der DDR in den 80er Jahren über bestimmte Unwägbarkeiten in der Politik Libyens und an dessen Adresse gerichtete internationale Vorwürfe hinwegsah, um eine in ihrem Umfang einmalige (1 Mrd. US-Dollar) langfristige Regierungsvereinbarung zwischen der DDR und Libyen über die militärökonomische und militärtechnische Zusammenarbeit abzuschließen und sich diese reiche Quelle von Valutamitteln zu erschließen (die Vereinbarung kam schließlich doch nicht zustande).

Auslandseinsätze in Steingrau? Immer noch bereitete jedoch der politischen und militärischen Führung der DDR die Frage erhebliche Probleme, ob man sich offen oder besser verdeckt in der »Dritten Welt« militärisch engagieren solle. Im wirtschaftlichen Bereich war eine derartige Rücksichtnahme nicht erforderlich: Zahlreiche »Spezialisten« und »FDJ-Brigaden« wirkten inzwischen in vielen Ländern der Erde. Im militärischen Bereich wurde zwar nicht mehr abgestritten, sondern eher nachdrücklich und mit gewissem Stolz betont, daß man nicht mehr nur Zelte und Decken für den »antiimperialistischen Kampf« der Nationalstaaten und der Befreiungsbewegungen liefere, sondern auch mit Fachleuten und militärischen Lieferungen unterstütze. Verteidigungsminister Hoffmann erklärte nach dem Aufenthalt einer Militärdelegation der NVA in Sambia, Moçambique und Äthiopien in einem Interview im Juli 1979, er habe »tausende Söhne ehemaliger Sklaven und landloser Bauern mit der Maschinenpistole und dem Stahlhelm aus der DDR den Sturmangriff üben sehen«. (Fügen wir der Exaktheit halber hinzu, was der Minister verschwieg: Die DDR hatte seinerzeit auch Panzer, Geschütze und Minen geliefert.) Beweise für Waffenlieferungen waren ja zwischenzeitlich im Westen gesammelt worden und nicht mehr zu entkräften. Die DDR-Führung hegte jedoch vor allem Befürchtungen, daß ihr im Falle der Entsendung von Beratern und Ausbildern ein direktes Eingreifen in militärische Auseinandersetzungen in der »Dritten Welt« vorgeworfen würde und die anlaufende internationale Anerkennung des zweiten deutschen Staates durch eine derartige offene und direkte Parteinahme für bestimmte Konfliktparteien aufs Spiel gesetzt werden könne. Diffizil war das Problem des Einsatzes von NVA-Angehörigen zudem sowohl aus völkerrechtlicher Sicht wie auch wegen der befürchteten Reaktion bei der eigenen Bevölkerung und in der Bundesrepublik. Die politische und militärische Führung der DDR lehnte daher alle Anfragen ab, die etwa auf einen Einsatz von militärischen Beratern aus der NVA an vorderster Front oder deren direkte Beteiligung an Kampfhandlungen hinausliefen. So wurde von einer Entsendung von NVA-Instrukteuren für Ausbildungslager in einzelnen heftig umkämpften Provinzen Moçambiques Abstand genommen, denn — so die Schlußfolgerungen des für Sicherheitsfragen

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zuständigen Politbüromitgliedes Egon Krenz in einem Schreiben vom 6. März 1985 an Erich Honecker — »ihre Verwicklung in militärische Auseinandersetzungen wäre nicht auszuschließen«. Ebenso verfiel eine Anfrage Sambias der Ablehnung, das den Einsatz von NVA-Flugzeugführern mit zu liefernder Flugzeugtechnik auf sambischer Seite wünschte. Generell kann gesagt werden, daß die politische und militärische Führung der DDR aus verschiedenen Beweggründen heraus (Devisenknappheit, Sicherheitsrisiko, Aufwand u.a.) nur dem unbedingt notwendigen Umfang von Einsätzen zustimmte. Zudem legte man Wert darauf, mit den Aktivitäten von NVA-Angehörigen in der »Dritten Welt« nach Möglichkeit außerhalb des Rampenlichts der internationalen Öffentlichkeit zu bleiben. Strengste Geheimhaltung, detaillierte Verhaltensregeln und regelmäßige Berichterstattung galten als erste Voraussetzungen dafür. Aus dem gleichen Grunde erfolgten derartige Einsätze nur selten im »Steingrau« der NVA, sondern eher in Zivil, in Bekleidung der Gesellschaft für Sport und Technik oder sonstigen Phantasieuniformen.

Sonderfall: Bewaffnete FDJ-Brigaden in Moçambique Eine gefährliche Situation für die in Moçambique tätigen Entwicklungshelfer der DDR, die mit aktivem Einsatz von Offizieren der NVA analysiert und bereinigt werden sollte, war Ende 1984 entstanden. Die DDR-Führung hatte sich in Erwartung und zur Unterstützung einer prosozialistischen Entwicklung in diesem Land bereits frühzeitig engagiert und einen beträchtlichen Teil ihrer Hilfe auf Moçambique konzentriert. Insgesamt etwa 600 DDR-Bürger waren zur damaligen Zeit im Gesundheitswesen, in der Landwirtschaft, im Steinkohlenbergbau, im Fischereiwesen, bei der Eisenbahn, bei der Errichtung einer Textilfabrik, als Regierungsberater und an der Botschaft der DDR in Moçambique tätig. Ihr Einsatz erfolgte zum Teil dezentralisiert und in abgelegenen Gebieten. Die Macht der Regierung Samora M. Machel war jedoch noch nicht gefestigt, es herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände. Die desolaten Streitkräfte und Milizen Macheis erwiesen sich trotz der Anwesenheit von Militärinstrukteuren aus der UdSSR, aus Kuba und aus Nordkorea vor allem im Landesinneren nicht in der Lage, die Handlungen der Guerillaorganisation »Nationaler Widerstand Moçambiques« (Renamo) zu unterbinden. Die Renamo hatte angedroht, Entwicklungshelfer zu entführen, um auf diese Weise die Einstellung der Unterstützung für Machel zu erreichen. Nachdem unter den als Entwicklungshelfer tätigen DDR-Bürgern erste Opfer zu beklagen waren, drohte die Lage außer Kontrolle zu geraten. Im Dezember 1984 wurde daher beschlossen, eine aus zwei Generalen und drei Offizieren der NVA bestehende Arbeitsgruppe (neben einer Gruppe des Ministeriums für Staatssicherheit) nach Moçambique zu entsenden. Ihr Auftrag und der Auftrag weiterer im Verlaufe des Jahres 1985 entsandter Gruppen be-

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stand darin, in Abstimmung vor allem mit den sowjetischen und kubanischen Militärinstrukteuren Einfluß auf die Durchsetzung geeigneter militärischer Maßnahmen durch die moçambiquanische Seite zu nehmen, um die Sicherheit der DDR-Bürger zu erhöhen und somit unter allen Umständen die weitere Präsenz der DDR in Moçambique zu garantieren. Gleichzeitig sollte Unterstützung bei der Organisation des militärischen Einsatzes der Streitkräfte Moçambiques in der Nähe der Arbeitsstellen der Entwicklungshelfer, in höheren Stäben und im Verteidigungsministerium Moçambiques gegeben werden. Die einzelnen Arbeitsgruppen der NVA bereisten während ihres Einsatzes alle Orte, an denen DDR-Bürger tätig waren, machten sich mit den Bedingungen im Wohnbereich, an den Arbeitsstellen und auf den Transportwegen vertraut und analysierten den Grad der Gefährdung bei eventuellen Angriffen der Renamo. Sie organisierten ein Melde- und Alarmierungssystem insbesondere für die einzelnen Entwicklungshelfer, statteten diese teilweise mit Waffen aus und führten selbst Schießausbildung mit ihnen durch. Die Verbindungsaufnahme zu den Kommandeuren der umliegenden Einheiten der moçambiquanischen Armee ergab ein beunruhigendes Bild: Ein zuverlässiger Schutz der DDR-Bürger war wegen erheblicher Mängel in der Ausrüstung, Ausbildung und Dislozierung der Kräfte in vielen Fällen nicht garantiert. Die NVA-Offiziere nahmen daher auf der Grundlage entsprechender Vollmachten zum Teil direkten Einfluß auf die Rekognoszierung der näheren Umgebung, die Erarbeitung von Einsatzbefehlen und Verteidigungsplänen, die Ausbildung und die Zuführung von Ausrüstung aus der DDR u.a. Die Tätigkeit im Verteidigungsministerium Moçambiques diente nicht — wie mit Nachdruck erklärt wurde — »Besuchen und Besichtigungen«. Die besondere Aufmerksamkeit galt der Struktur und Arbeitsorganisation des Ministeriums und des Generalstabes sowie der Planung der Ausbildung. Ziel der Unterstützung sollte es sein, der moçambiquanischen Armee größere Schlagkraft und Einsatzbereitschaft zur Abwehr der Renamo und zur Stabilisierung der Lage zu verleihen. Ein Bericht vom Dezember 1985 stellte darin auch fest, daß »aus militärischer Sicht die Tätigkeit der DDR-Spezialisten weitergeführt werden kann« und die energischen Maßnahmen mehrerer sozialistischer Länder Erfolge zeitigten. Zumindest im Januar 1986 waren jedoch noch immer zusätzliche Offiziere der NVA an der DDR-Botschaft in Maputo tätig.

Panzer für Äthiopien — verzweifeltes Anstemmen gegen eine Entwicklung Die von der Sowjetunion unter Michail Gorbacev eingeleitete Politik der »Perestroika« hatte selbstverständlich Auswirkungen auf die Entwicklung in der »Dritten Welt«. Da es die Sowjetunion tatsächlich ernst damit meinte, reduzierte sie bald drastisch die bislang umfangreiche Militärhilfe. Dem schlössen sich

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sukzessive weitere Staaten des Warschauer Vertrages an. Entwicklungsländer, die sich in militärischen Auseinandersetzungen mit ihren Nachbarn oder im Bürgerkrieg befanden, gerieten so innerhalb kürzester Zeit in erhebliche Bedrängnis, weil ihnen die materiellen Mittel zur Fortsetzung der Kriegführung zu fehlen begannen. Besonders kennzeichnend hierfür war die Situation in Äthiopien. Das Regime in Addis Abeba unter Mengistu Haile Mariam führte seit mehreren Jahren einen an Intensität ständig zunehmenden Krieg gegen die um Selbständigkeit ringenden Kräfte der damaligen Provinz Eritrea. Nach dem Ausscheiden des bisherigen Hauptwaffenlieferanten, der Sowjetunion, wandte sich der äthiopische Präsident im Frühjahr 1989 mit einem dringenden Hilferuf an die DDR-Führung. Wie in der Vergangenheit immer in solchen Fällen, sagte diese auch hier unverzügliche Unterstützung zu. Erich Honecker persönlich traf die Entscheidungen. Die erste Hilfslieferung wurde kurzfristig am 27. März 1989 mit einem Sonderflugzeug nach Addis Abeba transportiert. An Bord befanden sich 396 Splitterspreng- bzw. Hohlladungsgranaten für Panzer! Im weiteren wurden Lieferungen vorbereitet, die es im bisherigen Engagement der NVA in der »Dritten Welt« nicht gegeben hatte: Neben anderem Gerät wurden im Mai 1989 auf dem Seewege 30 Panzer geliefert, weitere 70 Panzer und 25 800 Panzergranaten standen Anfang Juni 1989 zum Abtransport bereit, 50 Panzer sollten bis zum 31. August 1989 und noch einmal 50 Panzer bis zum 15. Dezember 1989 geliefert werden. Ob alle diese recht modernen Panzer vom Typ T-55 tatsächlich noch nach Äthiopien gelangten, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen — die Wende in der DDR könnte es verhindert haben. Aufgehellt werden soll jedoch zum besseren Verständnis noch einmal das Umfeld der Aktion: Entsprechend den Vereinbarungen der europäischen Staaten über eine Begrenzung der Streitkräfte und Rüstungen sollte auch die NVA einer Reduzierung und Umstrukturierung unterworfen werden. Im Mai 1989 begann schrittweise die Auflösung von Panzerregimentern. Nun wird erklärlich, woher diese beträchtliche Anzahl entbehrlicher Panzer stammte u n d w a r u m eine Lieferung im mehreren Etappen vorgesehen war. Sie sollten zudem erst im Instandsetzungswerk »zum Export vorbereitet« werden. Die Ereignisse in Äthiopien und anderswo in der »Dritten Welt« waren indessen nicht aufzuhalten. Bei der letzten spektakulären Aktion der NVA für die »Dritte Welt« verwundert das merkwürdige Verständnis der politischen und militärischen Führung der DDR von Sicherheit und Zusammenarbeit, das offensichtlich Friedensbemühungen und Abrüstung in Europa mit »gerechten« Kriegen in anderen Teilen der Welt für durchaus vereinbar hielt. Erkannte diese nicht oder wollte sie nicht wahrhaben, daß sie sich mit Waffenlieferungen auch hier einer Entwicklung entgegenstemmte, deren Zeit abgelaufen war? Die NVA hatte von 1959 bis 1989 für mindestens 29 Länder und Befreiungsorganisationen Lieferungen und Leistungen im Umfang von mehr als einer Milliarde DDR-Mark erbracht. Die Bilanz ist bisher unvollständig, zwiespältig wird die Bewertung der damit erzielten Ergebnisse bleiben. Mit den weltweiten Ver-

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änderungen gerät das militärische Engagement der NVA für die Entwicklungsländer so schnell in Vergessenheit wie die in Iraks Wüsten zerschossenen Militärlastkraftwagen aus DDR-Produktion. Der von den Angehörigen der NVA geleisteten echten humanitären Hilfe hingegen wird man sich erinnern, auch wenn sie nicht so augenfällig und umfänglich war. Auf dem Höhepunkt des indisch-iranischen Golfkrieges: Während sich die DDR offiziell für eine Beendigung des Krieges einsetzt, werden gleichzeitig Angebote für Waffenlieferungen geprüft. MINISTERIUM FÜR NATIONALE VERTEIDIGUNG

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