Vom Gottesgericht zur verhängnisvollen Natur: Darstellung und Bewältigung von Naturkatastrophen im 18. Jahrhundert 9783787327683, 9783787327676

Im Zeitalter der europäischen Aufklärung gab es verheerende Naturumwälzungen, auf die die Menschen mit Bewältigungsstrat

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German Pages 414 [416] Year 1928

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Vom Gottesgericht zur verhängnisvollen Natur: Darstellung und Bewältigung von Naturkatastrophen im 18. Jahrhundert
 9783787327683, 9783787327676

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CH R IS TOPH DA N I E L W EBE R Vom Gottesgericht zur verhängnisvollen Natur

S T U DI E N Z U M ACH TZ EH N T E N JA H R H U N DE RT Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts Band 36

FELIX MEINER VERL AG · HAMBURG

CH R IS TOPH DA N I E L W EBE R

Vom Gottesgericht zur verhängnisvollen Natur Darstellung und Bewältigung von Naturkatastrophen im 18. Jahrhundert

FELIX MEINER VERL AG · HAMBURG

Für Jennifer und meine Eltern •

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-2767-6 ISBN eBook: 978-3-7873-2768-3

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Department of World Languages, ­Literatures, and Cultures, des College of Arts and Sciences und des Office of ­Research and Economic Development an der University of North Texas. © Felix Meiner Verlag, Hamburg 2015. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Bookfactory, Bad Münder. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.www.meiner.de

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 I.  Naturk atastrophen als diskursives Problem . . . . . . . . . . . . . . 21 A. Die Entwicklung der symbolischen Felder der gefallenen und der ökonomischen Natur im 17. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 B. Deutung und Darstellung der Erdbeben in der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . 30 1. Senecas Aufhebung der Naturfurcht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2. Die frühneuzeitliche Begriffsbestimmung der Erdbeben . . . . . . . . . . . 32 3. Die Disseminierung seismologischer Theorien im 16. Jahrhundert . . . 40 4. Die Instrumentalisierung des Schreckens in den frühneuzeitlichen ­Erdbebenschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 5. Narrative Konventionalität in der Darstellung des singulären Schreckens: Erdbeben in den frühneuzeitlichen Augenzeugenberichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 a) Erdbebenberichte aus dem 16. Jahrhundert im Lichte antiker Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 b) Paradigmatische Erdbebenberichte aus dem 17. Jahrhundert . . . . . . 65 (i) Das Erbeben von 1667 in Ragusa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 (ii) Das Erdbeben von 1693 in Sizilien und Kalabrien . . . . . . . . . . 68 C. Reflexionsbeben: Naturkatastrophen und Theodizee . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 1. Die philosophische Rechtfertigung des physischen Übels: Pierre Bayle und Gottfried Wilhelm Leibniz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 2. Die Rechtfertigung des physischen Übels in der Physikotheologie . . . 86 3. Erdbeben entmystifiziert: Christlob Mylius’ Wochenschrift Der Naturforscher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 4. »[E]r winkt, dann fliehn Elemente / Aus ihren Grenzen, zerstören und ­tödten.« Jakob Michael Reinhold Lenz’ Gedicht Die Landplagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

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Inhalt

D. Glück im Unglück: die mediale Darstellung des Erdbebens von Lissabon am 1. November 1755 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 1. Das Erdbeben von Lissabon – die unerhörte Begebenheit . . . . . . . . . . 109 2. Das Erdbeben von Lissabon – moderne Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . 111 3. Reaktionen deutschsprachiger Naturwissenschaftler auf das Erdbeben von Lissabon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 a) Immanuel Kants wissenschaftlich-philosophische Rechtfertigung des Naturübels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 4. Die Langlebigkeit des frühneuzeitlichen Katastrophendiskurses: ­formelhafte Darstellungsmuster in den Berichterstattungen über das Lissabonner Erdbeben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 a) Das Erdbeben von Lissabon in den deutschsprachigen Schriftmedien 126 b) Schreckenstableaus in den Augenzeugenberichten über das Erdbeben von Lissabon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 c) Legendenbildungen um das Lissabonner Erdbeben . . . . . . . . . . . . . 144 5. Die literarische Bewältigung des Lissabonner Erdbebens . . . . . . . . . . . 151 a) Christoph Martin Wielands »Hymne auf die Gerechtigkeit Gottes«. 151 b) Johann Georg Zimmermanns Lehrgedicht »Ueber die Zerstörung von Lisabon« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 c) Die Appropriation und Unterminierung tradierter Erdbebenberichte: Heinrich von Kleists Das Erdbeben in Chili . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 6. Die Darstellung des Lissabonner Erdbebens in den Bildmedien . . . . . 174 a) Panoramas des Schreckens: Vogelschaubilder des Lissabonner Erdbebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 b) Nahansichten des Lissabonner Erdbebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 c) Gottes Präventivschlag gegen die Ungläubigen: die bildliche Darstellung der Erdbeben von Fez und Meknès . . . . . . . . . . . . . . . 184 d) Der entrückte Schrecken: Jacques-Philippe Le Bas’ antikisierende Druckgraphiken der Ruinen Lissabons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 7. Das ruinierte Lissabon in Reiseberichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 E. Naturkatastrophen als Faszinosum und moralische Herausforderung: ­ Reaktionen deutschsprachiger Autoren auf die Erdbeben in Sizilien und ­Kalabrien von 1783 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 1. Die Zürcher Geistlichkeit meldet sich zu Wort: Johann Caspar Lavaters Erdbebenpredigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198

 Inhalt

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2. Berichterstattungen über die Zerstörung von Messina . . . . . . . . . . . . . 200 3. Die Erdbeben in Kalabrien: Berichterstattungen von Friedrich Christian Carl Münter und Johann Heinrich Bartels . . . . . . 205

II.  Naturk atastrophen als ästhetische Her ausforderung . . . 219 A. Das Erhabene als Inbegriff der beherrschten Natur? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 B. Die Genese des Erhabenheitsgefühls im Gefüge des nachkopernikanischen ­Weltbilds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 1. Giordano Bruno: die ideelle Entgrenzung des Universums . . . . . . . . . 234 2. Galileo Galilei: die Stellarisierung der Erde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 3. Blaise Pascal: die Grenzziehung des menschlichen Erkenntnisvermögens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 4. Göttliche Vorsehung und Geognosie: Thomas Burnets heilige Theorie der Erde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 5. Bernhard Le Bovier de Fontenelle: die Ästhetisierung des Infiniten . . . 250 6. Erhabenheit und Theodizee: Johann Georg Sulzers moralische ­Betrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 C. Das Erhabene im poetologischen und philosophischen Diskurs des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 1. Die Gewalt des Pathos: das »Longinische« Erhabene in Peri hypsous . . 267 2. Gewaltsame Naturmächte enmystifiziert: dichtungstheoretischer und p ­ hilosophischer Widerstand gegen das Schrecklicherhabene in der Dichtkunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 a) Das Wunderbare und Erhabene in den Dichtungstheorien des ­französischen Klassizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 b) Die ungestüme Natur in Johann Christoph Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 c) Der Reiz des Numinosen: analytische Erklärungsversuche des ­Wunderbaren in den Schriften Bernhard le Bovier de Fontenelles, David Humes und Karl Friedrich Pockels’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 d) Der eingedämmte Naturschrecken: Joseph Addisons Essay On the Pleasures of Imagination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280

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Inhalt 

3. Der schreckliche Gott in der Natur: die wirkungsästhetische ­ Akzentuierung des Schrecklicherhabenen in den Poetiken der ­Frühaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 a) Ravishment and Astonishment: das Erhabene in den kritischen ­Abhandlungen von John Dennis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 b) Das Wunderbare und Erhabene in Johann Jacob Bodmers Critische Betrachtungen über die poetischen Gemählde der Dichter . . . 296 c) Die schrecklicherhabene Natur in Michael Conrad Curtius’ Kritische Abhandlung von dem Erhabenen in der Dichtkunst . . . . . . . 304 4. Die Wende zum subjektorientierten Begriff des Erhabenen . . . . . . . . . 308 a) Edmund Burkes empirisch-psychologische Auslegung des Erhabenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 b) Das Naturübel im Rahmen von Moses Mendelssohns ­Vollkommenheitsästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 c) Johann Georg Schlosser: das Erhabene als energetische Seelentätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 d) Carl Grosse: Ueber das Erhabene 5. Im Widerstreit mit der Natur: die Selbsterhebung des Vernunftwesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 a) Immanuel Kant: das Erhabene in der Kritik der Urteilskraft . . . . . . 335 b) Friedrich Schiller: Pathos und Erhabenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 R esümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409

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aturkatastrophen ereignen sich dort, so könnte man lapidar behaupten, wo es Menschen gibt. Oder wie Max Frisch (1911–1991) in seiner Alterserzählung Der Mensch erscheint im Holozän (1979) aphoristisch behauptet: »Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt; die Natur kennt keine Katastrophen« (271). Außergewöhnliche Naturphänomene wie Vulkanausbrüche, Erdbeben und Überschwemmungen werden kaum als ein Unglück empfunden, wenn dabei nicht Menschen samt ihren Einrichtungen und Besitztümern zu Schaden kommen. Die in den folgenden Tagen kursierenden Bilder und Berichterstattungen über die Verwüstungen rufen Gefühle der Anteilnahme, Betroffenheit, wenn nicht gar Ehrfurcht vor der Übermacht der Natur hervor. Überschreiten die Verheerungen ein quantifizierbares Ausmaß, schlägt die Bestürzung oftmals in Sprachlosigkeit um. Die objektive Aufarbeitung der außerordentlichen Begebenheit, die Zeit- und Lokalangaben mitsamt der Proto­kollierung der Verluste erscheinen in Anbetracht des immensen Leids als unzulänglich. Infolge ihrer nicht zu bändigenden Destruktivität haben die gewaltsamen Naturkräfte seit jeher unseren Verstand und Selbsterhaltungstrieb herausgefordert. Als Betroffene verspüren wir das Bedürfnis, diesen plötzlich in den geregelten Alltagsverlauf hereinbrechenden Zäsuren eine tiefere Bedeutung beizumessen. Auf ein vielschichtiges Kulturarsenal bildlicher und textueller Darstellungen zurückgreifend, bemühen wir uns, den Extremereignissen einen Sinn abzuringen. Heutzutage werden Naturkatastrophen oftmals zu Bewährungsproben für das praktische Handeln in Krisensituationen stilisiert. Im günstigsten Falle raffen sich die Überlebenden zum Wiederaufbau auf, während die karitativen Mitmenschen und Staatsorgane ihnen die notwendigen Hilfsmittel bereitstellen. Das Unglück schweißt die Menschheit sozusagen zu einer solidarisierenden Wohltätigkeitsgemeinschaft zusammen. Wenn die Abwehrkräfte gegen bestehende oder kommende Desaster jedoch zu scheitern drohen, kann ein Extremereignis, das den Tod tausender bringt und weite Gebiete verwüstet, das subjektive Sicherheitsgefühl ungemein beeinträchtigen und destabilisierend auf das Gesellschaftsgefüge wirken. Diese eingeübten Verhaltensmuster haben sich über weite Zeitläufte entwickelt. In vorindustriellen Epochen haben die Menschen anders auf die Naturverheerungen reagiert. Vom Standpunkt der technologisierten Gesellschaft betrachtet, lebten unsere Vorfahren scheinbar unter einem viel größeren Angstdruck. Bis zur Frühen Neuzeit waren die Prozesse der Natur in Dunkel gehüllt und wurden entweder als animistische oder als göttliche Kräfte wahrgenommen. Die schutz­

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bedürftigen Menschen suchten ihr Heil im Gebet und in der Verehrung von Kultobjekten. Hingegen stellen für die gegenwärtigen Naturwissenschaften die seismischen Erschütterungen und vulkanischen Eruptionen keine undurchschaubaren Rätsel mehr dar. Der gewaltige Ausbruch des Krakatau am 27. August 1883, der eine ganze Insel in der Sunda-Straße wegsprengte und enorme Flutwellen auslöste, zählt beispielsweise zu den ersten Naturkatastrophen, deren Wirkungsgrad weltweit durch Messinstrumente erfasst werden konnte. Simon Winchester, ein studierter Geologe, hat diese epochale Wende in der Vulkanologie in seinem Bestseller Krakatoa (2003) ausführlich nachgezeichnet. Interessanterweise kommt der Autor bezüglich der Frage, weshalb die unvergleichbaren Verwüstungen an den Küstenregionen Javas geschehen seien, auf den von den Naturwissenschaften erbrachten »Weitblick« zu sprechen. In den folgenden Passagen wird der Schrecken dieser Jahrhundertkatastrophe mit dem Begriff eines ausgewogenen Naturhaushalts relativiert: Yet geology, which is an unemotional and rational science, allows us to step back from our shock and dismay at such events, to accept a longer view – and to be awed by something rather different: that despite her seemingly cruel caprices, this planet in fact enjoys by and large an extraordinarily fortunate situation. (298)   And then there are the volcanoes – just the right number, of just the right size, for our own good. The deep heat reservoir inside the earth is not so hot, for instance, as to cause ceaseless and unbearable volcanic activity on the surface. The amount of heat and thermal decay within the earth happens to be just perfect for allowing convection currents to form and to turn over and over in the earth’s mantle, and for the solid continents that lie above them to slide about according to the complicated and beautiful mechanisms of plate tectonics.   Plate movement and convection and the volcanic activity that is their constant handmaid may not seem, to the victims of eruptions and tidal waves, to be in any way benign, or to be good for the planet as a whole. And yet, taking the long view once again, they most certainly are: The water, carbon dioxide, carbon, and sulfur that are so central to the making and maintenance of organic life are all being constantly recycled by the earth’s volcanoes – which were also the probable origins of the earth’s atmosphere in the very first place. It is not merely that volcanoes bring fertile volcanic soils or useful minerals to the surface; what is more crucial is their role in the process of bringing from the secret storehouses of the inner earth the elements that allow the outer earth, the biosphere and the lithosphere, to be so vibrantly alive. (299)

Winchesters Argumentation, sein Sprung von den partikulären Naturphänomenen zum harmonischen, für den Menschen vorteilhaften Naturganzen ist brüchig, da er den naturwissenschaftlichen Diskurs mit metaphysischen Konzepten vermengt. Ist eine Welt, dessen Naturgeschichte das Aussterben ganzer Gattungen vorzuweisen

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hat, wirklich auf unsere Bedürfnisse abgestimmt? Es ist erstaunlich, dass die von Winchester angeführte Denkfigur, die im populärphilosophischen Optimismus des frühen 18. Jahrhunderts ihre Prämisse besitzt, heute noch gegenwärtig ist. Die Notwendigkeit eines relativierenden bzw. ästhetisierenden Weitblicks zeugt davon, dass wir es weiterhin mit Aspekten der Natur zu tun haben, die sich den menschlichen Machtansprüchen widersetzen und sich mittels technologischer Innovationen weder domestizieren noch kontrollieren lassen. Insofern basieren die Deutungsmuster von Naturkatastrophen oftmals auf Motiven, die sich bis in die Gegenwart als resistent gegen den gesellschaftlichen Mentalitätswandel erwiesen haben. Angela Stock und Cornelia Stott haben aufgezeigt, »that a historical disaster may not only have been experienced but also described in terms of well-known textual or visual representations of previous disasters« (11). Des Weiteren ermöglichen die Zeitdokumente vergangener Desaster einen Einblick in die soziokulturelle Entwicklung von Rationalitätsstrukturen, die den chaotischen Naturmächten einen übergeordneten Zweck oder Sinngehalt zuzuordnen versuchten. Im Hinblick auf die durch die Naturwissenschaften herbeigeführten paradigmatischen Umbrüche im Naturverständnis mussten während der Frühen Neuzeit neue Strategien konzipiert werden, um sich gegen die Bedrohung der Naturkatastrophen behaupten zu können. Basierend auf der Analyse und diskursiven Kontextualisierung repräsentativer Texte aus dem deutschsprachigen Raum des 18. Jahrhunderts gehe ich dem Spannungsfeld von Kontinuität und Wandel in der Deutung der so genannten Umwälzungen in der Natur nach.1 Berücksichtigt werden die pluralistischen Vorgehensweisen und Strategien in der Sinnstiftung dieser außergewöhnlichen Ereignisse, die neben literarischen Werken auch theologische, philosophische und naturwissenschaftliche Quellen miteinbezieht. Anhand dieser bewusstseinsgeschichtlichen Aufarbeitung soll veranschaulicht werden, dass die Deutungsmuster sich nicht auf eine lineare Weise voneinander abkoppelten, sondern synchron aufeinander wirkten und miteinander konkurrierten. Akute Krisen lösten damals eine Vielzahl von Reaktionen aus. Materialistische Theorieansätze, die ihren metaphysischen Boden bereits in Epikur (341–270 v. Chr.) und Lukrez (um 99–55 v. Chr.) besaßen, stießen im Kontext der deutschen Aufklärung auf scharfe Kritik. Die Vorstellung kontingenter und unzweckmäßig operierender Naturprozesse ließ sich nur schwer mit 1  Heutzutage

wird der Begriff »Naturkatastrophe« in Bezug auf Erdbeben, Vulkanausbrüche und Sturmfluten, die sich während der Frühen Neuzeit ereigneten, eigentlich anachronistisch verwendet. Der Terminus »Katastrophe« stammt aus der griechischen Dramentheorie und bedeutet soviel wie »Umkehr« oder »Wendung« (vgl. Nowosadtko und Pröve 212 f.). Es wird vermutet, dass die »alltagssprachliche Grundbedeutung« von »Katastrophe« als Synonym für »Unglück«, »Unheil«, »Verhängnis« sich erst im 19. Jahrhundert eingebürgert hat (Groh, Kempe und Mauelshagen 16 f.). Während des 18. Jahrhunderts findet unter den Naturgelehrten und Philosophen der Sammelbegriff »Revolution« eine breite Verwendung.

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der vorherrschenden metaphysischen Konzeption eines vollkommenen Weltganzen in Einklang bringen. Obgleich in den Gelehrtenkreisen akzeptiert wurde, dass die Sekundärwirkungen verheerender Erdbeben und Vulkanausbrüche auf naturimmanenten bzw. empirisch begründbaren Gesetzmäßigkeiten beruhen, war es ein gewagter Schritt, den Vorsehungsglauben – Gott als Primärursache der Naturrevolutionen – zu diskreditieren. Es ist das Aufeinandertreffen dieser konfligierenden Diskurse, das Bemühen der Geistes- und Naturwissenschaften, dem Schädlichen und Inkongruenten in der Natur einen übergeordneten Sinn beizumessen, was eine bewusstseinsgeschichtliche Untersuchung der Darstellungs- und Deutungsmuster von Naturkatastrophen im 18. Jahrhundert so fruchtbar macht. Verschiedenste Forschungsarbeiten haben in den vergangenen Jahrzehnten Rückblicke in die kulturelle Aufarbeitung und Bewältigung von Naturkatastrophen verschafft. Allerdings gilt es zu erwähnen, dass die sozial-, geistes- und kulturwissenschaftlichen Untersuchungen des Katastrophendiskurses ein relativ neues Forschungsgebiet ausmachen. Der Ethnologe Andreas Schmidt hat in seiner Habi­ litationsschrift »Wolken krachen, Berge zittern, und die ganze Erde weint …«: Zur kulturellen Vermittlung von Naturkatastrophen in Deutschland von 1755 bis 1855 (1999) konstatiert, dass »die Geschichtswissenschaft lange Zeit ihren Schwerpunkt in der Ereignisgeschichte hatte, wobei sie bevorzugt die politische Geschichte untersuchte« (16). Auch Michael Kempe und Christian Rohr begründen die lange Nichtberücksichtigung historischer Naturkatastrophen mit dem Verweis auf die eingebürgerte Tendenz in der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, »to externalize natural phenomena as accidental facts, by focusing on man as the only or decisive actor of history.« In der Zwischenzeit hat sich die Forschungssituation verändert. Neue Disziplinen wie die Umweltgeschichte haben sich, angespornt von der gegenwärtigen Debatte über die drohende, vom Menschen mitverursachte Klimaerwärmung, dieses Themas angenommen. In den Kultur- und Sozialwissenschaften gelten Naturkatastrophen »as initiators for technical innovations, as exemplars of human strategies of coping with contingency, or as parts of cultural memories providing collective identity or solidarity« (Rohr et al. 123). Weiterhin hat der 250. Jahrestag des Erdbebens von Lissabon, das sich am 1. November 1755 ereignete, wie kaum eine andere Naturkatastrophe zu einer wahren Flut von Tagungen und Sammelbänden geführt. Hierdurch sind die sozialkulturellen und literarischen Reaktionen des 18. Jahrhunderts auf die verheerenden Naturumwälzungen vermehrt in das Blickfeld der Geisteswissenschaften gerückt. Allerdings beruhen die Forschungsergebnisse über Lissabons Untergang allzu oft auf einer oberflächlichen Kenntnisnahme der vielfältigen Deutungsmuster der Naturübel während des Aufklärungszeitalters. Einen wegweisenden Beitrag zur historischen Katastrophenforschung hat der Historiker Arno Borst mit seinem Aufsatz »Das Erdbeben von 1348« geliefert, wo-

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rin er die These vertritt, dass wir im heutigen Denken kaum ein Gedächtnis für vergangene Erdbeben besäßen: Erdbeben als dauernde Erfahrung der Gesellschaft und der Geschichte anzunehmen, widerstrebt dem modernen europäischen Selbstgefühl zutiefst. Es isoliert Katastrophen in der Gegenwart und eliminiert sie aus der Vergangenheit, weil sie die Zukunft nicht definieren sollen. (532)

Borst stellt einen entscheidenden Wandel in der Betrachtungsweise von Naturkatastrophen zwischen dem Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit fest. Der vorherrschende Glaube, dass gegen die Unbeständigkeit des diesseitigen Daseins bloß die »Ausrichtung der Hoffnungen auf das Jenseits helfe«, wurde durch »die Hinwendung zur tätigen Aneignung des Diesseits, ohne die Weltherrschaft Gottes anzutasten« abgelöst. Vorarbeit zu dieser bewusstseinsgeschichtlichen Umkehr leisteten die mittelalterlichen Chronisten, insofern sie die in der Mitte des 14. Jahrhunderts stattgefundenen Erderschütterungen und das Aufkommen der Pestepidemie zu einem Geschichtsbild einer universalen Krise zusammenfügten. Die verheerenden Einzelereignisse, das Erdbeben zu Villach (1348) und das Erdbeben von Basel (1356) gewannen dadurch »historisches Gewicht.« Weil Gott das Zusammenleben der Menschen mit weiteren Landplagen prüfen könnte, rief diese »generelle Bedrohung der Zukunft […] vielerlei Abwehrkräfte« wach (559). Mit der Einbindung der zerstörerischen Naturmächte in die Menschheitsgeschichte wurden die Voraussetzungen für die Kontrolle über Naturkatastrophen erarbeitet. Nach dem verheerenden Lissabonner Erdbeben von 1755 haben die Philosophen den Menschen von der Herrschaft Gottes über die Natur und Geschichte freigesprochen: Nun verstand Europa erst recht Natur als die eingewohnte Welt, Geschichte als das Machbare und das Durchgeführte. Das Ziel irdischen Daseins, die Utopie vom perfekten Leben, zwang freilich dazu, die alltägliche Wirklichkeit immer mehr zu zerstückeln; doch halfen Medizin und Industrie des 19. Jahrhunderts, immer mehr Teile der Utopie zu realisieren. Die alten Geißeln der Menschheit wurden voneinander isoliert und einzeln unschädlich gemacht; Epidemien schienen für immer der Vergangenheit anzugehören. Wenngleich Erdbeben, zumal im pazifischen Raum, sich nicht ausrotten ließen, verwundeten sie die von Menschen geschaltete und verwaltete Welt nicht mehr ernstlich. (563)

Dieser Fortschrittsoptimismus wurde im späten 20. Jahrhundert jedoch von einem neuen Krisenbewusstsein abgelöst: »Vor die Drohungen der ungezähmten Natur treten die Risiken der gebändigten Natur, etwa die Zerstörungspotentiale von Atomwaffen und Kernkraftwerken« (563). Die Furcht vor zukünftigen Katastrophen mit apokalyptischen Ausmaßen habe laut Borst das menschliche Selbstvertrauen grundlegend verändert und ihre Abwehr werde größere Anstrengungen

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beanspruchen: »Die Herausforderung wäre ähnlich wie im Spätmittelalter zu beantworten, durch gemeinschaftliche Bemühung vieler, mit langem Atem und im Blick auf den ganzen Menschen« (564). Freilich wird das 18. Jahrhundert bevorzugt als eine Übergangsperiode dargestellt, in der die naturwissenschaftlich-rationale Naturaneignung die traditionellreligiösen Deutungsmuster verdrängt hat. Wie Jutta Nowosadtko und Ralf Pröve aufgezeigt haben, gilt es zu präzisieren, inwiefern die Auffassungen von Naturkata­ strophen in der Frühen Neuzeit (1500–1800) einem Sinneswandel unterzogen ­waren: Soziologische Studien neigen dazu, die Gegensätze hervozuheben. Bis weit ins 18. Jahrhundert seien die Menschen Naturkatastrophen hilflos ausgeliefert gewesen. Die kausalen Faktoren seien undurchschaubar, meteorologische, biologische und geologische Gewalten unkontrollierbar gewesen. Seit der Aufklärung seien im säkularisierten Europa ›magische‹ durch ›natürliche‹ Erklärungen für Naturereignisse abgelöst worden. In der Folgezeit habe der technische Fortschritt zwar eine größere Sicherheit vor Naturkatastrophen bewirkt, gleichzeitig aber auch eine neue Gefahr, die der menschlich verursachten Katastrophe heraufbeschworen. Der menschliche Faktor wird tendenziell für die Vormoderne bestritten, während er für die Moderne überbetont wird. (215 f.)

Von Seiten der deutschsprachigen Forschung haben Ruth und Dieter Groh (1932– 2012) entscheidend zu einem differenzierteren kulturhistorischen Verständnis des Naturbilds in der Frühen Neuzeit beigetragen. In unserem Zusammenhang ist ihre Rekonstruktion des konzeptuellen Übergangs von einer des kontinuierlichen Eingriffs Gottes bedürftigen Natur zu einem sich überwiegend selbst regulierenden Naturhaushalt bedeutend. Mit der Einbindung der Naturphänomene in nachvollziehbare Gesetzmäßigkeiten geht eine Teleologisierung des Negativen in der Natur einher. An die Forschungsergebnisse der Grohs und Christian Begemanns2 anknüpfend hat Michael Kempe mit seiner ausführlichen Untersuchung über den Polyhistor Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) einen Einblick in die Neutralisierung der Naturfurcht während der Frühaufklärung verschafft. Entscheidend für diesen paradigmatischen Sinneswandel war Scheuchzers Vorsatz, die ungewöhnlichen Erscheinungen als natürliche Ereignisse zu entlarven. Mithilfe chronologischer Auflistungen gelang es ihm, die Sonnenfinsternis und die Blitzeinschläge von ihren numinosen Prädikaten zu entbinden. Dadurch gewannen die Naturabläufe an Transparenz und benötigten nicht mehr den Eingriff einer supranaturalen Macht. Die moraltheologische Interpretation wurde somit durch eine naturtheo2 

Christian Begemanns Studie Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung (1987) wird in der Einführung des zweiten Teils der Arbeit genauer behandelt.

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logische ersetzt und der Akzent von der providentia specialis verlagerte sich hin zur providentia generalis: Direkte Eingriffe Gottes, unmittelbare Setzungen numinoser Wunderzeichen, sind zwar prinzipiell immer noch möglich, generell aber nicht mehr notwendig und faktisch äußerst selten. Nur in Ausnahmefällen interveniere der Allmächtige unmittelbar im Weltgeschehen, etwa um die globalen Naturkatastrophen der Heilsgeschichte, Sintflut und Weltenbrand auszulösen. […] Offenbarte sich auf diese Weise der Wille Gottes in den Prozessen und Gesetzen der Natur, so war er damit durchschaubar, mit Hilfe einer wissenschaftlichen Dechiffrierung der Naturgesetze sogar im buchstäblichen Sinne ›berechenbar‹ geworden. Außergewöhnlich waren Phänomene nur deshalb, weil sie noch nicht erklärt werden konnten, nicht aber, weil sie auf einem prinzipiell unergründlichen Willen Gottes beruhten. Damit wandelte sich auch das Gottesbild: Der strenge, zürnende, moralinsaure Gottvater wurde so zu einem wohlmeinenden Schöpfergott, der alles in der Welt zum Besten eingerichtet hat – einschließlich der Übel, die zur Verwirklichung des mundus optimus notwendig sind. Zugleich verschob sich die Semantik des Wunderbegriffes. Nicht mehr die ungewöhnlichen Ereignisse, sondern die gleichförmigen Naturgesetze galten jetzt als göttliche Wunder. Damit verschwand Gott nicht etwa aus der Natur, sondern wurde im Gegenteil mit ihr nahezu identisch. (176 f.)3

Die von Kempe aufgeführte Ablösung der Deutungsmuster hat sich allerdings nicht uniform und flächendeckend im deutschsprachigen Raum vollzogen. Seine Darstellung der gebannten Naturfurcht nimmt den verflachenden geistesgeschichtlichen Fortschrittsgedanken an, dass im Kontext einer ratiozentrierten Aufklärung die Herrschaft des Menschen über die Natur bewerkstelligt wurde. Wie ich am Beispiel von einschlägigen, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts erschienenen physikotheologischen Schriften zeigen werde, schloss das Postulat eines zweckmäßigen Naturhaushalts die gelegentlich eintreffenden Strafgerichte Gottes nicht aus. Die religiösen Denkfiguren setzten sich gerade in Verbindung mit den gewaltsamen Naturphänomenen hartnäckig fort. Gewiss entstand u. a. mit Benjamin Franklins (1706–1790) Erfindung des Blitzableiters im Jahre 1752 eine effektive Vorrichtung gegen den Blitzschlag. Die Menschen sind allerdings bis zum heutigen Tag trotz aller Schutzmaßnahmen der Gefahr seismischer Erderschütterungen hilflos ausgesetzt geblieben. Selbst im Vollzuge einer teleologischen Entübelung der Natur machten die Naturrevolutionen eine schwerwiegende epistemologische und moralische Herausforderung im Aufklärungszeitalter aus. 3  Zitiert

wird aus Kempes Artikel »Von ›lechzenden Flammen‹, ›geflügelten Drachen‹ und anderen ›Luft=Geschichten‹. Zur Neutralisierung der Naturfurcht in der populärwissenschaftlichen Druckmedien der Frühaufklärung«, der im Wesentlichen den Inhalt seiner Monographie Wissenschaft, Theologie, Aufklärung. Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) wiedergibt.

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In der jüngeren Forschungsliteratur ist auf das kontinuierliche Nebeneinander, Miteinander und Gegeneinander konkurrierender Denkfiguren in der Frühen Neuzeit hingewiesen worden. Christian Pfister hat in seinem Überblick »Strategien zur Bewältigung von Naturkatastrophen seit 1500« konstatiert, dass der Eindruck einer zeitlichen Ablösung von Deutungsmustern an sich verfehlt sei: »In Wirklichkeit treten überholte Deutungsmuster nur in der öffentlichen Diskussion zurück, bleiben aber in manchen Milieus erhalten« (215). Ferner war der Mensch im vorindustriellen Zeitalter nicht allen Naturgefahren schutzlos ausgeliefert. Nach Möglichkeit wurde ihnen ausgewichen und wenn dies nicht möglich war, so schützte man sich beispielsweise »mit einfachen Mitteln wie hölzernen Schwellen und Dämmen sowie Ablenkmauern auf den Schwemmkegeln gegen kleinere Hochwasser.« Behördliche Maßnahmen zur Prävention von Großbränden lassen sich bis ins Altertum nachweisen und seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts greifen die Staatsgewalten »in immer stärkerem Masse regulierend in die Lebensverhältnisse ihrer Untertanen« ein (238). Pfisters Ansichten werden von Dieter Groh, Michael Kempe und Franz Mauelshagen geteilt. In der stichhaltigen Einleitung der Anthologie Naturkatastrophen äußern sie den Standpunkt, das 18. Jahrhundert sei »mehr von der Pluralität als von der Ablösung verschiedener Theorien« geprägt (26). Selbst die vermeintliche Jahrhundertkatastrophe, das Erdbeben von Lissabon, brachte das Diktum der besten aller möglichen Welten nicht zum Einstürzen. Vielmehr führte Lissabons Untergang zur »Vervielfältigung und Differenzierung der Interpretationsangebote« (22). Weiterhin haben Manfred Jakubowski-Tiessens vergleichende soziokulturelle Betrachtungen über die Sturmfluten von 1570, 1634 und 1717 einen Einblick in die geistigen Erklärungsmuster für diese Extremereignisse verschafft. Nicht allein in der Gesellschaft, sondern »selbst in der Person« konnten zur gleichen Zeit »sehr ungleiche, ja geradezu konträre Vorstellungen unvermittelt nebeneinander stehen« (107). François Walter hat in seiner kulturhistorischen Monographie Katastrophen (2008) hingegen auf die Beständigkeit der religiösen Deutungsmuster verwiesen: Im Grunde bleibt der Rückbezug auf das Religiöse das einzige Mittel der inneren Unruhe einen Sinn zu geben und sie zu beschwichtigen. Diese Rituale sind in den kulturellen Gewohnheiten so stark verankert, dass die Quellen, die immer darauf bedacht sind, Fremdartiges und Überraschendes festzuhalten, es nicht unbedingt für nötig erachten, sie zu erwähnen. Tatsächlich bleiben sie bis ins 20. Jahrhundert recht lebendig, da sich die kollektiven Liturgien und Gebete nahtlos in gesellschaftliche und kulturelle Formelemente einfügen, die entwickelt wurden, um Krisenzeiten zu bewältigen. (51 f.)

Obschon der Vorsehungslaube und die Naturwissenschaften in Europa in einem Widerstreit lagen, koexistierten die divergierenden Diskurse miteinander bis weit über das 18. Jahrhundert hinaus (72). Resümierend stellt Walter die These voran,

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dass die Vorsehungstheorie »resignative und passive Verhaltensweisen« hervorgebracht habe, hingegen habe die »rationale Betrachtung der Naturerscheinungen« die »verantwortungsvolle Tat« vorausgesetzt, die »die Folgen der Verwundbarkeit« zu lindern versucht habe (117). Tendenziell verlagerte sich in diesem Säkularisierungsprozess die Frage nach dem Ursprung des Übels hin zu den moralischen Vergehen des Menschen und wie diese den Geschichtsverlauf beeinträchtigten. So umfassend die von Walter angeführten Quellentexte sind, ist seine Besprechung der »Stereotypen tragischer bzw. dramatischer Szenen« in der Literatur des 18. Jahrhunderts zu kurz geraten (83 ff.). Neben Johann Jacob Bodmers (1698– 1783) Erzählgedichten Die Sundflutz (1751) und Noah (1751) findet der 1762 erschienene Text Ein Gemäld aus der Sündfluth von Salomon Gessner (1730–1788) besondere Erwähnung. Die vom Dichter herbeigezogenen Klischees – »[d]er gebeugte Greis, der seinen Sohn vergeblich zu retten sucht, und der an den Busen der Mutter gedrückte Säugling« – bilden, so betont Walter, »von nun an den ikonographischen Stereotyp der Katastrophe (83). Allerdings vereint Gessners Schreckensbild der erbärmlich ertrinkenden Menschenmassen Darstellungskonventionen und -motive, die bereits über Dezennien von Berichterstattern und Augenzeugen angeeignet und zu erneuten Katastrophenberichten verflochten wurden. Der persistierende Rekurs auf einen bestimmten Motivfundus gründet sich auf die fundamentale Schwierigkeit, das ungeheure Ausmaß hereingebrochener Naturverheerungen zu versprachlichen. Wie Peter Utz schlüssig umrissen hat, sei das »eigentliche katastrophische Geschehen ein Dazwischen, das sich der Darstellung tendenziell entzieht.« Zwischen Darstellung und Ereignis bestehe immerzu ein »Zeitverzug« (117). Korrelierend dazu hat Grégory Quenet konstatiert, dass die Katastrophe ein Diskurs im Nachhinein sei: »La catastrophe est […] un discours de l’après qui s’insère dans un récit, car il n’ a y pas de catastrophe perçue comme telle au moment où elle fait irruption« (227). Die angesprochene Einbettung widerfahrener Extremereignisse in eine Erzählung erweist sich als eine fruchtbare Richtlinie für eine vertieftere Erforschung von Kataststrophendarstellungen. Die vergleichende Analyse von Katastrophenberichten erhellt den Umstand, dass bestimmte Erzählmuster einen normierenden Einfluss auf die bewusstseinsgeschichtliche Aufarbeitung und Bewältigung von Naturgefahren in der Frühen Neuzeit ausübten. Ungeachtet des differenzierten raumzeitlichen Umfelds scheinen ihre verheerenden Auswirkungen gemäß einem prototypischen Handlungsbogen zu verlaufen. Es gilt zu klären, welche Strategien entwickelt wurden, um die aufgerissene Lücke zwischen dem vor- und nachkatastrophalen Zeitpunkt zu überbrücken und inwiefern die Schreckensmeldungen und -bilder intertextuell miteinander verbunden sind. Um den heterogenen Vorgehensweisen in der Sinnstiftung und Darstellung verheerender Naturkräfte gerecht zu werden, ist diese Arbeit in unterschiedliche thematische Kapitel gegliedert. Der erste Teil beschäftigt sich mit dem theoretischen

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und literarischen Diskurs über Naturkatastrophen und der Frage, welche Bezüge diese auf die bestehenden Deutungsfelder nehmen. Von den plötzlich eintreffenden Naturgefahren nehmen Erdbeben eine herausragende Rolle in den frühneuzeitlichen Unglücksberichten ein, da sie als Vorboten weiterer Kalamitäten den Weltuntergang einläuteten. Wie ich aufzeigen werde, setzten Geistliche den Schrecken der seismischen Phänomene im 16. und 17. Jahrhundert gezielt als gesellschaftsdisziplinierendes Instrument ein. Im Unterschied zu den nachfolgenden Epochen wurden diese beispielsweise in der Schweiz als eine ernstzunehmende Bedrohung rezipiert.4 Weiterer Schwerpunkt der Untersuchung ist der von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) formulierte Theodizeegedanke, die philosophische Rechtfertigung des Übels in der besten aller möglichen Welten, die maßgeblich zur optimistischen Grundstimmung in der deutschen Aufklärung beigetragen hat. Wesentliche metaphysische Verankerung für diese Malitätsbonisierung besteht im teleologischen Gottesbeweis, der aus der Zweckmäßigkeit der Natur die Existenz eines moralischen Welturhebers deduziert. Die anfallenden Übel im göttlichen Bauplan sind als putativ zu beurteilen. Ihr reeller Nutzen ist dem Menschen wegen seines beschränkten Erkenntnisvermögens – zu einer vollkommen klaren und deutlichen Erkenntnis ist bloß das höchste Wesen befähigt – nur bedingt einsehbar. Um diese epistemologische Lücke zu schließen, bemühen sich die Physikotheologen während der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die für den geordneten Naturhaushalt vorteilhaften Aspekte der Erdbeben, Wasserfluten und Vulkane zur Veranschaulichung zu bringen. Mit ihrem Brückenschlag zwischen den Naturwissenschaften und dem Glauben erhofften sie sich, den atheistischen Argumenten von kontingenten und demzufolge autonomen Naturabläufen Gegenwehr zu leisten. Inwiefern gängige, aus der Antike herrührende Erdbebentheorien einem Laienpublikum vermittelt wurden, behandle ich am Beispiel der von Christlob Mylius (1722–1754) herausgegebenen Wochenschrift Der Naturforscher (1747–1748) Seiner abgeklärten und belustigenden Darstellung des Erderschütterungen stelle ich den Verszyklus Die Landplagen (1769) von Jakob Michael Reinhold Lenz (1751–1792) entgegen, um aufzuzeigen, dass eine straftheologische und dementsprechend schreckenerregende Repräsentation der Naturrevolutionen parallel existieren konnten. 4  Peter

Utz hat darauf hingewiesen, dass im Verlauf des 19. Jahrhunderts die »grenzüberschreitende, […] universelle Bedrohung durch Erdbeben« in der Schweiz verdrängt wurde. Stattdessen wurden im Gefüge des erstarkenden Nationalbewusstseins Katastrophenszenarien wie Lawinen, Überschwemmungen und Erdrutsche thematisiert, die an die »spezifische Gegebenheit der ›schweizerischen Topographie‹« geheftet werden konnte (32). Bezeichnenderweise sind es die Versicherungsgesellschaften, die gelegentlich die Furcht vor kommenden Erderschütterungen erneut entfachen. Im Zusammenhang mit der Erdbebenserie in Norditalien (Mai 2012), Neuseeland (Februar 2011) und Japan (März 2011) verschickte die Gebäudeversicherung Bern (GVB) im April 2013 ein Informationsblatt, um die Kunden ausführlich über das Erdbebenrisiko im Kanton Bern zu informieren.

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Die unterschiedlichen Deutungsstränge trafen während zweier Megadesaster aufeinander, die den europäischen Kontinent in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts heimsuchten. Das bereits oben erwähnte Erdbeben von Lissabon entwickelte sich wie die spätere Französische Revolution zu einer Metapher des Umbruchs in der europäischen Bewusstseinsgeschichte. Den in der Forschungsliteratur hartnäckig vertretenen Standpunkt, Lissabons Untergang habe das Ende des philosophischen Optimismus bewirkt, unterziehe ich einer kritischen Reevaluierung. Nachdem eine Serie von Erderschütterungen Kalabrien und Sizilien im Frühjahr 1783 ebenfalls schwerwiegend verwüstet hatte, reiste eine Vielzahl von Gelehrten in die betroffenen Regionen, um sich über die Erdbebenwirkungen und das Ausmaß der Verwüstungen verlässlich zu informieren. Die Berichte von Friedrich Münter (1761–1830) und Johann Heinrich Bartels (1761–1850) bezeugen die Bereitschaft, die Erdrevolutionen faktisch, ohne weiterführende Bezüge auf theologische oder philosophische Spekulationen zu dokumentieren. Allerdings bleibt der moralische Gestus, der die traditionellen straftheologischen Darstellungen geprägt hat, bestehen. Nicht die Erklärung, weshalb die Erdbeben die süditalienischen Regionen zerstört haben, sondern die Aufklärung der verantwortlichen Behörden und der Notleidenden bestimmt die Berichterstattung beider Autoren. Ziel ist es, ein zweites, diesmal moralisches Desaster zu verhindern. Im zweiten Teil der Arbeit beschäftige ich mich der ästhetischen Reaktion auf die Umwälzungen der Natur. Das ästhetische Konzept des Erhabenen entwickelt sich zu einem grundlegenden poetologischen und philosophischen Topos in den Schriften von Literaturkritikern sowie von Denkern wie Johann Jacob Bodmer, Moses Mendelssohn (1729–1786), Immanuel Kant (1724–1804) und Friedrich Schiller (1759–1805). Christian Begemann hat in seinem Standardwerk Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung die These aufgestellt, dass dem ästhetischen Genuss ein von den Naturwissenschaften dargebrachtes immanentes Naturverständnis vorangehen müsse. Das Erhabene und die Demystifizierung gingen Hand in Hand. Konträr zu dieser These biete ich eine andersartige Explikation der im 18. Jahrhundert weit gefächerten Popularisierung des Erhabenen. Auf den nachkopernikanischen Kosmologien des 17. Jahrhunderts basierend, ist das Erhabenheitsgefühl allgemein religiöser Natur, insofern das Gemüt von der Idee der unermesslichen Größe und Allmacht Gottes leidenschaftlich affiziert wird. Aufgrund der möglichen Auflösung des Selbst wird das ergriffene Subjekt einerseits mit Schrecken erfüllt, andererseits empfindet es auch Erhabenheit, da es eine übersinnliche Kraft in sich wahrnimmt. Das Erhabene bezieht sich demzufolge auf Naturelemente, die sich dem Erkenntnis- und Begehrungsvermögen widersetzen. Der von ihnen provozierte Orientierungsverlust, den der naturwissenschaftliche Diskurs nicht zu kompensieren vermag, wird durch die Erhabenheitserfahrung punktuell aufgehoben.

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Ein einschneidender Paradigmenwechsel vollzieht sich mit Immanuel Kants kritischer Philosophie. In seiner Kritik der Urteilskraft (1790) streitet er die Möglichkeit ab, jemals objektive Urteile über teleologische Gesetzmäßigkeiten fällen zu können, die die Natur als Ganzes betreffen. Kant gibt damit zu erkennen, dass es Aspekte in der Natur gibt, die chaotisch seien und dem Menschen immer fremd bleiben; ein Zugeständnis, das dem Theorem des populärphilosophischen Optimismus entgegengesetzt ist. Das von Kant aufgeführte Erhabene verweist nicht auf die Übermacht in der äußeren Natur, sondern auf diejenige im denkenden Subjekt. Allein dieses ist dazu befähigt, im Widerstreit mit der Natur gemäß den ewigen Moralgesetzen frei zu handeln. Obgleich die Verheerungen der gewaltsamen Naturkräfte unter diesem Gesichtspunkt nicht mehr als eine Gottesstrafe gedeutet werden, verbleiben sie ein grundlegendes moralisches Problem. Die Menschen werden zur Rechenschaft gezogen, wie sie während und nach dem Katastrophenereignis agieren und sich vor weiteren katastrophischen Zwischenfällen zu schützen wissen.

I. Naturk atastrophen als diskursives Problem

A. Die Entwicklung der symbolischen Felder der gefallenen und der ökonomischen Natur im 17. Jahrhundert Wegweisend für die Ausdifferenzierung der Deutungsmodelle verheerender Naturgewalten in der Frühmoderne ist die bereits im 17. Jahrhundert auftretende Divergenz zwischen den von Rolf Peter Sieferle formulierten »symbolischen Feldern« der gefallenen Natur (natura lapsa) und der ökonomischen Natur (oeconomia naturae) (11 f.). Die Grundannahme der pessimistischen Naturauffassung der natura lapsa ist, dass die zu erleidenden physischen Übel in der Welt – Hungersnöte, Seuchen und Naturkatastrophen – Folgen menschlicher Verfehlungen seien. Durch den Sündenfall ist Gottes vollkommene Schöpfung korrumpiert und der Verfallsprozess der Natur in Gang gesetzt worden. Zur temporären Erhaltung der zerbrochenen Welt ist Gottes ständiges Wirken im Weltgeschehen notwendig, sonst würde alles Sein dem Chaos anheim fallen und wieder ins Nichts versinken. Seinem fürsorglichen Handeln entspringt auch die Hoffnung auf Vergebung. Dank der providentia Dei eröffnet sich dem Menschen die Möglichkeit zum Wiedererlangen des Paradieszustandes in den unterschiedlichen Stadien der Heilsgeschichte, deren Verlauf sich oftmals im Zusammenspiel verheerender Naturkräfte offenbart. Exemplarisch dafür ist der Schulderlass des begangenen Sündenfalls durch den Kreuzestod Christi und das gleichzeitig geschehene Erdbeben, das die Präsenz der göttlichen Allmacht an diesem Wendepunkt sinnfällig machte.5 Was ausbleibt, ist das Eintreffen der Apokalypse, wenn die Welt endgültig erschüttert und untergehen wird. Weitere Katastrophenerzählungen, besonders aus dem alten Testament – man denke nur an die Sintflut und die Zerstörung von Sodom und Gomorra – haben über Generationen emblematisch als Zeichen des göttlichen Zorns gedient. Für Martin Luther (1483–1546) bleibt die natura lapsa aufgrund seiner historischen Auslegung der Schöpfungsgeschichte ein entscheidendes Element in seiner Naturauffassung. Die lutherische Orthodoxie hat die physischen Übel als ein göttliches Strafmittel gedeutet, das die Menschen züchtigt und ermahnt, dass sie ohne die im Evangelium geoffenbarte Gnade Gottes verloren seien. Ein direkter Zugang zur Natur bleibt der menschlichen Vernunft verwehrt, weil sie seit dem Sündenfall 5 

Vgl. dazu Matthäus 27, 52 und bes. 54: »Als aber der Hauptmann und die mit ihm Jesus bewachten, das Erdbeben sahen und was da geschah, erschraken sie sehr und sprachen: Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!«

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korrumpiert ist. Das göttliche Wirken in der Welt kann nur mittels der Autorität der Heiligen Schrift erschlossen werden und verbleibt somit in der Naturordnung im Dunkeln. Ein weiterer Grund für diese Verborgenheit ist, wie Udo Krolzik in seiner Abhandlung Säkularisierung der Natur (1988) aufgezeigt hat, in der Souveränität des göttlichen Handelns festzustellen: Auch Luther sah, wie sich in der providentia Dei die Vaterliebe kundtut. Der sich in Christus offenbarende Gott ist derselbe wie der in der Natur wirkende […]. Gott hat in einem freien Akt der Schöpfung die Welt mit ihrer prima causa gesetzt, und er bleibt darüber hinaus auch der gegenwärtig handelnde Gott […], der somit auch ein unmittelbares Verhältnis zu den causae secundae, also der Welt als Naturzusammenhang hat. Das Verhältnis Gottes zu den causae secundae ist durch Gottes Freiheit gekennzeichnet, so daß die unpersönlichen Naturgesetze nicht mit Gottes Gegenwart in der Welt gleichgesetzt werden können. Diese Ungleichheit ist Ausdruck von Gottes Verborgenheit. (21)

Der Versuch, Gottes Vorsehung in der Regelmäßigkeit der Naturabläufe, also teleo­ logisch zu ergründen, bleibt angesichts seiner absoluten Freiheit fruchtlos und führt nur zu einer gefährlichen Überschätzung der menschlichen Vernunft. Luther warnt in seiner 1525 verfassten Abhandlung De servo arbitrio (Vom unfreien Willen) vor voreiligen Rückschlüssen im Studium der Natur: Siehe Gott der Herr wirkt und regiert in äußerlichen Dingen in dieser Welt also, daß wenn man es nach Vernunft sollte ansehen und richten, sagen müßte, daß entweder kein Gott wäre, wie jener Poet sagt: Es ficht mich oft an, daß kein Gott sei. Denn siehe, wie es den Gottlosen und Bösen in der Welt aufs allerbeste geht; wiederum wie es den Frommen und Christen so ganz allenthalben übel geht. (337)6

Zur Popularisierung des moraltheologischen Deutungsmodells leistete die Erbauungsliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts einen wesentlichen Beitrag. Johann Arndts (1555–1621) Vier Bücher vom wahren Christentum (1605–1610) zählten bis ins 18. Jahrhundert zu den meistgelesenen christlichen Erbauungsbüchern. Seine Bücher fanden seit ihrer ersten Auflage einen regen Absatz. Gemäß Hans Schneider wurde das Werk »nicht nur mehrmals ins Lateinische, sondern in viele europäische Sprachen übersetzt und zählte bald zu den verbreitesten und meistgelesenen Werken der christlichen Weltliteratur« (89). Von besonderer Bedeutung ist das vierte Buch, in dem Arndt die Herrschaft Gottes über die Natur bekräftigt. Auf den Einwand, ob das Buch der Natur überhaupt zum wahren Christentum gehöre, antwortet er, dass »ein wahrer Christ die Creaturen GOttes gebrauchen soll, zur Erkenntniß, Lob und Preis GOttes, auf daß 6 

Vgl. dazu Krolzik 55.

Die Entwicklung der symbolischen Felder

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in allen Dingen GOtt gepriesen werde, durch Christum JEsum, unsern HErrn« (4. Vorrede 4).7 Die Kreaturen versinnbildlichen die Fürsorge Gottes, die er als liebender Vater dem Menschen freigebig austeilt.8 Gott hat den Menschen gerade deswegen »so mangelhaft, so dürftig, so elend erschaffen«, damit er ihn mit seinen »Wohlthaten, Gaben und Geschenken« zu sich ziehen kann (4. Vorrede 6). Demzufolge bezweckt die göttliche Vorsehung die Glückseligkeit des Menschen. Diese anthropomorphe Teleologie impliziert aber auch, dass das Menschendasein von der Gnade Gottes abhängt. Ohne sie wäre eine fortdauernde Existenz überhaupt nicht möglich. Dennoch kommt der materiellen Natur nach dem sechstägigen Schöpfungsprozess eine gewisse Eigenständigkeit zu. Arndt verweist auf den in Gang gesetzten, beständigen Verlauf der Natur, der sich insbesondere in den Gestirnen manifestiert. Diese großen und lichthellen Kugeln besitzen »ihre lebendige Bewegung in ihnen selbst« (4.I.4.7), und durch den »wunderbaren Lauf des Himmels« sei »die Zeit der Welt ganz weislich von dem allein weisen Schöpfer« geordnet worden, in der sich »GOttes wunderbare Vorsehung, Regierung und Weisheit klärlich« abnehmen lasse (4.I.4.17). Die Wirkung der Sterne auf die »unteren Elemente« bzw. auf die sublunare Ebene nimmt eine zentrale Funktion in der Erhaltung der Naturordnung ein, da der »getreue Schöpfer« verordnet hat, dass die unteren Kräfte den Einfluß von oberen empfangen müssen. Hervorzuheben ist, dass Arndt jenen weisen Zusammenhang aller Naturdinge mithilfe der tradierten Metapher der »goldene[n] Kette der Natur« (4.I.4.39) versinnbildlicht. Eines direkten Eingriffs der providentia Dei bedarf es in diesem System nur dann, wenn Störungen auftreten: [W]enn in großer dürrer Zeit der Himmel vor Hitze brennt, und die Sterne ihre Wirkungen nicht haben, daß sie fruchtbare Zeiten geben können; da will Ich [= Gott] den Himmel erhören, und denselben mit Wolken bedecken, und die Sterne ihre natürliche Wirkung vollbringen lassen. Denn wenn Sonne und Mond verfinstert werden, geben sie unnatürlich Wetter. Und der Himmel soll die Erde erhören, das ist die andere Ordnung der Natur. Denn die untersten Kräfte der Erde hangen alle an den obern Kräften des Himmels. Wenn der Himmel in seiner Wirkung verhindert wird, und nicht gütig ist, so kann auf Erden nichts wachsen. So ruft die Erde in ihrer Angst, und durch dieselbe den Himmel an in dürrer Zeit, wenn sie ihren Mund aufthut, von einander spaltet und nach dem Regen dürstet. (4.I.4.39) 7  Zitiert (Buch. Teil. Kapitel. Abschnitt) wird aus folgender Ausgabe: Johann Arndt. Sechs Bücher vom wahren Christenthum. Philadelphia: T. Kohler, 1854. 8  »GOtt thut gleich als ein liebreicher Vater, der ein Kind zu sich rufet und gewöhnet mit süßen Worten; will es denn nicht bald kommen, so wirft er ihm einen Apfel oder Birne zu, oder einen schönen bunten Rock, wie Israel seinem Sohn Joseph, 1. Mos. 37, 3. nicht aber darum, daß das Kind den Apfel oder das schöne Kleid soll so lieb haben, daß es an der Gabe hangen und kleben bleibe, sondern es soll an der Liebe des Vaters hangen, und des Gebers« (4. Vorrede 5).

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Naturkatastrophen als diskursives Problem

Zur Frage, wie es zu den Plagen, wie »unnatürliche Hitze und Kälte, unnatürliche Nässe und Dürre, unnatürlicher Donner, Hagel und Feuer[n], viel Geschmeiß und Gift in der Luft«, überhaupt kommen könne (4.I.4.24), gibt Arndt eindeutig Auskunft. Nicht der Himmel und die Gestirne seien Schuld an diesen unnatürlichen Vorkommnissen, sondern die Sünde, Laster und Bosheit der Menschen sind die Ursachen, daß GOtt die Kreaturen zur Rache rüstet, […] und zur Strafe wider die Gottlosen gebraucht gegen die Gottlosen. Denn also strafte GOtt die Sünden der ersten Welt mit einem 40tägigen Regen, daraus die Sündfluth ward […]. (4.I.4.23)

Den »Kindern GOttes« wird jedoch kein Schaden zugefügt, solange »sie in Gottesfurcht und im Glauben leben« (4.I.4.24). Wirksame Maßnahmen gegen die Plagen und Strafgerichte seien allein Buße und Gebet. Außerdem sollten die »unnatürlichen Warnzeichen« des Himmels aufmerksam verfolgt werden, denn »unser lieber GOtt strafet nicht plötzlich, sondern warnet zuvor durch Zeichen, wie in großen Landstrafen zu sehen ist« (4.I.4.22). In Abhebung zu Luthers Naturbegriff, äußert sich Gott in der materiellen Natur auf direkte Weise: Auf diese Weise reden alle Elemente mit uns, verkündigen uns unsere Bosheit und Strafen. Was ist der schreckliche Donner anders, denn eine gewaltige Stimme des Himmels davor die Erde zittert, dadurch uns GOtt warnet? Was ist das Erdbeben anders, denn eine erschreckliche Sprache der Erde, die ihren Mund auftut und große Veränderung verkündiget; also auch die reißenden und tobenden Sturmwinde und das Brausen des Meers? (4.I.4.56)

Die feste Verankerung theologischer Moralvorstellungen in der Deutung schreckenerregender Naturkräfte, wie sie in Arndts Erbauungsbüchern unmissverständlich ausgedrückt wird, liefert die argumentative Basis, anhand derer sich die andauernde Wirkung der partikulären Vorsehung bestätigen lässt. Anthropomorphisiert als wohltätiger wie auch strafender Vater nimmt Gott Anteil am Weltgeschehen. Falls nach der Ursache der hereinbrechenden Plagen gesucht wird, trägt ausschließlich der sündige Mensch die Verantwortung. Ein weiteres Medium für die Popularisierung der moraltheologischen Deutung verheerender Naturkräfte im 16. und 17. Jahrhundert waren Unglückschroniken und Flugblätter. Bedeutend ist, dass die in ihnen geschilderten göttlichen Strafgerichte sich auf typologische Tableaus stützen, die ebenfalls auf die Darstellung der ungestümen und wundersamen Natur in der Dichtkunst des 18. Jahrhunderts normierend gewirkt haben. Laut Rosmarie Zeller waren die so genannten Wunderbücher nicht bloß eine historiographische Aufarbeitung außergewöhnlicher Naturereignisse, sondern bezweckten einerseits »die moralische Besserung durch die Betrachtung der Wunderzeichen« und dienten andererseits auch »zur Unterhaltung

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und zur Stillung der Sensationslust« (»Wahrnehmung« 30). Als Beispiel unter vielen sei die von Eberhard Werner Happel (1647–1690) verfasste Straff und Unglücks Chronick zu nennen, die 1682 in Hamburg erschienen ist. Darin werden akribisch die großen Überschwemmungen von uralten Zeiten bis zu der »Niederländischen See-Fluth« anno 1682 aufgelistet und kommentiert. Im Vorbericht erwähnt Happel nebst den verheerenden Naturelementen (Sturmwinde, Überschwemmungen und Feuersbrünste) auch die schrecklichen Erderschütterungen. Auffällig ist der Gebrauch der Metapher des alles verschlingenden Erdenrachens, die in den Berichten des Lissabonner Erdbebens 1755 ebenfalls auftaucht: Die Erden ist zwar bevestiget und gegründet/ daß der Mensch seine Wohnung darauff haben/ und seine Nahrung in derselben suchen soll/ aber grausam und erschröcklich ist es an zu sehen/ wan sie sich erschüttert/ wan sie ihren grossen Rachen auffsperret/ gantze Städte verschlinget/ und vieltausend Menschen in ihren Abgrund reisset/ wan sie steinerne grosse Palläste darnieder reisset/ wan sich als dan Berge und Felsen zerspalten/ ungeheure Grüffte und Schlunde eräugen/ gifftige Dampflöcher entstehen oder ungewöhnliche Pfühle an Statt der in Abgrund verfallenen Erde erwachsen. (3)

Im letzten Kapitel über die außerordentliche Wasserflut, die die Niederlande Ende Januar 1682 heimsuchte, schildert Happel über mehrere Seiten das Leid der betroffenen Bevölkerung. In seiner Aufführung der Schreckensszenerien thematisiert er an verschiedenen Stellen die Schwierigkeit, die außerordentliche Begebenheit überhaupt angemessenen zur Darstellung zu bringen: Dann es fast unmüglich zu beschreiben/ und nicht auszusprechen scheinet/ das Jammer und Leidwesen/ so sich daherum/ und selbiger Landschafft aller Orten an Ersäuffung und elenden Tode der Menschen ereignet und begeben. Wo man nur sich hinkehrte/ da sahe und hörte man ein überhäufftes Lamentiren/ Seufftzen/ Wehklagen und umb Hülffe schreyen; und kunte auch gleichwol den wenigsten darvon/ (wie gerne man auch gewollt hätte) unmüglich geholffen werden. (143)   Und wer wollte oder könnte alle solche erbämliche Begebenheiten doch genug erzehlen und ausreden? Keine Redners-Zunge ist kaum mächtig genug/ solchen Jammer auszusprechen; Keine Feder vermag denselben nach Genüge zu beschreiben; Und keine Sinnen können einen elenden Jammer Zustand nimmermehr so erbärmlich und lamentabel sich einbilden/ oder in den Gedancken also vorstellen/ daß es nicht noch jämmerlicher/ weit grausahmer und erbärmlicher/ in dem Wesen und Augenschein selbst gewesen/ und jedem/ wer es sahe/ Hertz und Augen weinen/ und von Thränen gantz übergehen musten. (146)

Angesichts der empfundenen Sprachnot rekurriert der Chronist auf ein Arsenal gängiger Erzählmuster, deren fortdauernde Breitenwirkung u. a. in dem von Bart-

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hold Heinrich Brockes (1680–1747) verfassten Lehrgedicht »Das Wasser« und Jakob Michael Reinhold Lenz’ Verszyklus Die Landplagen (1769) feststellbar ist. Folgende Auswahl von Bildern verschafft einen Einblick in die rhetorischen und künstlerischen Stilmittel der bis weit ins 18. Jahrhundert reichenden Unglücksdarstellungen. Augenfällig ist die Verwendung deiktischer Ausdrücke und die Häufung leidenschafts­erregender und teilweise makabrer Einzelschicksale. Die typisierte Beschreibung der Verunglückten hebt insbesondere den gewaltsamen Tod von Schutzbedürftigen – Säuglingen, Kindern, Müttern und alten Menschen – hervor: Dort trieben und führten die grausamen und tobenden wilden Wellen/ einen todten und schon halb vermorderten Leichnam/ daher/ hier reckte ein schon halb Todter noch die Hände/ und ein anderer der Kopff hervor/ dieser schwamme und bemühete sich/ als mit dem Tode selbst wettringende/ und ein Stück Holtz/ welches daher getrieben kam (sein Leben damit zu salviren) zu erlangen/ kunte es aber nicht erreichen/ sondern muste also/ vor Mattigkeit/ sincken/ jämmerlich untergehen. (143 f.)   Ein schon halb verhungerter und Krafftloser Sohn/ erblickte auff einen Baum/ seinen alten abgelebten Vatter/ in den Wellen Zappeln/ und die schwache Arme empor heben/ welcher dann solchem kläglich und mit Hertz-beweglichen Worten zuschreyen und trösten wollte/ indem aber/ als er sich’s am wenigsten versahe/ wurde er von einer Welle/ welche so hart an den Baum schluge/ herab gerissen/ und elendiglich vollend auch seines jungen Lebens beraubet. […] Bald sahe man die Kinder in den Wiegen/ auff den wagenden Wellen Pfeil-geschwind dahee- und vorbey rauschen; Bald kamen zwey hertzgeliebte Ehegatten/ welche weil sie einander im Leben nicht verlassen/ sich auch im Tode zusammen-halfende/ und in dem Armen/ vest aneinander geschrencket/ haltende/ einher schwummen; Bey deren Schmertz- und Hertz-beweglichen Anschau/ man freylich wol auch hätte sagen und heraus brechen mögen: Die Liebe ist starck/ wie der Todt. Oder auch: Die Liebe ist starck in und nach dem Tode. (146 f.) 9

Was mit diesen Schreckensszenerien beabsichtigt wird, ist die moraldidaktische Besinnung auf die eigene Beschränktheit und Ohnmacht vor der göttlichen Allmacht, die analog zu den hereinbrechenden Verheerungen das menschliche Sinnes- und Erkenntnisvermögen weit übersteigt: »Woraus dann klar genug erhellete und am Tag 9 

Vgl. folgende Darstellung einer typisierten Wassernot in Barthold Heinrich Brockes’ Lehrgedicht »Das Wasser«, das aus der Anthologie Auszug der vornehmsten Gedichte aus dem Irdischen Vergnügen in Gott (1738) stammt: »Hier sieht man, samt seiner Wiegen,/ Einen zarten Säugling liegen,/ Und mit wimmernden Geschrey/ Schiesst er, wie ein Pfeil vorbey./ Hier wird ein Paar Ehe-Leute,/ Das sich noch umfaßt und druckt,/ Der erzürnten Fluth zur Beute,/ Und vom Strudel eingeschluckt:/ Dort ersaufen ganze Heerden« (Strophen 41–42, V. 325–333). »Einer, der, was zu erreichen,/ Die halb-todten Finger schloß,/ Griff nach einer faulen Leichen,/ Die den Augenblick zerfloß:/ Must’ er also trostlos sinken,/ Und mit Wust und Schlamm ertrincken;/ Einer streckt die Hand empor:/ Dort ragt noch ein Kopf hervor« (Strophe 44, V. 345–352).

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lag/ die unaussprechliche/ ja aller Menschen Sinnen und Verstand unbegreiffliche Wunder-Allmacht des grossen GOttes/ wann selbiger durch seine hierzu verordnete Werck-Zeuge die Elementen und andere Creaturen mehr/ (die ihme nur auff sein blosses Wincken alle zu Gebot stehen müssen/) der sichern und ruchlosen Welt seinen gerechten Zor[n]/ hören/ sehen/ und fühlen lassen will« (128). Am Schluss der Chronik hebt Happel nicht bloß den strafenden Gott hervor, sondern verweist ebenfalls auf sein gütiges Wunderwirken, das die erlittenen Entbehrungen wieder zu kompensieren vermag. Nach der Überschwemmung im »Nord Horn im Stifft Münster« seien beispielsweise bereits zur Winterzeit Früchte und Gräser auf höchst ungewöhnliche Weise aus der Erde gekeimt. Auf diese Weise gab die »WunderHand GOttes« sinnfällig zu erkennen, »daß sie noch nicht verkürtzet sey, uns wiederum zu helffen, und Gnade erweisen, und also in einem andern gedoppelt wieder zu gebe[n], was sie durch diesen grausamen Wasser-schaden genomen, willig und bereit sey; wann wir es nur erkennen, und von unserm bösen Leben abstehen wolten« (157). Das Vertrauen in die weise Leitherrschaft Gottes begünstigt die Wiederkehr geordneter Lebensumstände. Allerdings ist das Heilsversprechen davon abhängig, dass das sittliche Betragen der betroffenen Bevölkerung sich auch wirklich verbessert hat. Aufgrund der inhärenten Fallibilität des Menschen ist das nächste Unglücksereignis bereits vorprogrammiert. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts verdrängte das optimistische Weltbild der oeconomia naturae zunehmend das symbolische Feld der natura lapsa. Statt des Sündenfalles rückt in der oeconomia naturae das positive Urteil über Gottes Schöpfungswerk – »Und siehe da, es war sehr gut« (Genesis 1, 31) – und dessen harmonisch geordneter Aufbau in den Vordergrund. Wichtige Impulse für den Perspektivenwandel von einem decay- zu einem design-orientierten Weltbild lieferten die Philosophen und Theologen aus England, die sich von den dort aufkommenden millenaristischen Strömungen leiten ließen.10 Wesentliche naturphilosophische Grundlage der oeconomia naturae ist die natürliche Theologie, die in ihrer strik10 

Dieter und Ruth Groh haben diese historische Entwicklung in ihrem Artikel »Kulturelle Muster und ästhetische Naturerfahrung« wie folgt zusammengefasst: »In England entstanden seit Beginn des Jahrhunderts millennaristische Strömungen, was mit der Tatsache zusammenhängt, daß der Druck der Gegenreformation sich lockerte. Signal dieses Vorgangs war die Vernichtung der spanischen Armada 1588, die man als Eingriff Gottes zugunsten der protestantischen und gegen die katholischen Mächte interpretierte. Noch deutlicher wurde die Befreiung empfunden nach Beendigung des 30-jährigen Krieges und mit dem Ende des englischen Bürgerkrieges 1660. Vor allem in England, der Vormacht der reformatorischen Länder, bereitete sich ziemlich rasch die Glaubensgewißheit aus, das grenzenlose Wohlwollen eines allmächtigen Schöpfers manifestiere sich in der natürlichen Welt ebenso wie in der Geschichte. Da nimmt es dann kein Wunder, daß im Streit der Richtungen der Reformation um das Decay-Argument sich die optimistisch-calvinistisch-puritanistische Richtung mit ihrem Design-Argument gegen die pessimistisch-lutheranische durchsetzte« (31).

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ten Ablehnung des Atomismus der Epikuräer auf die stoische Lehre zurückgreift. Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.) nimmt in seiner Darstellung der stoischen Lehre De natura deorum (45 v. Chr.) den schon bei Aristoteles (384–322 v. Chr.) und Platon (428–348 v. Chr.) vorkommenden anthropomorphen Analogieschluss vom Haus- und Baumeister zu Hilfe (vgl. Groh et al., »Religiöse Wurzeln« 23 f.): Wenn nun alle Teile des Weltalls so eingerichtet sind, daß sie unter dem Gesichtspunkt des Nutzens und für das Auge nicht schöner sein könnten, dann laßt uns einmal sehen, ob sie zufällig so sind oder ob sie sich in dem Zustand, der alles zusammenhält, nur befinden könnten, wenn sie einem denkenden Wesen und der göttlichen Vorsehung unterstehen. Sind somit die Leistungen der Natur besser als die der Kunst und bringt die Kunst ohne planerische Vernunft nichts zustande, dann darf man auch die Natur nicht für vernunftlos halten. (II, 87)

Frühneuzeitliche Theologen haben in Anlehnung an das stoische Weltbild die Schönheit, Ordnung, Zweckmäßigkeit der Welt als ein Zeichen der providentia Dei gedeutet, die sich in Gottes Erhaltung (conservatio) der Welt und seiner Regierung (gubernatio) und Mittäterschaft (concursus) im Weltgeschehen manifestiert (vgl. Krolzik 75; Sieferle 12 f.). Thomas von Aquin (um 1225–1274) bringt in seinem Kommentar zur aristotelischen Physik die enge Übereinstimmung der äußeren Natur mit dem Dasein Gottes auf den Punkt, indem er dem Telos der Natur, im Unterschied zu Aristoteles, eine göttliche Absicht zuspricht (vgl. Krolzik 42). In diesem Sinne fungiert die a posteriori zur Veranschaulichung gebrachten Zweckmäßigkeit der Natur als ein Beweisgrund für die Existenz Gottes; eine religiös-philosophische Form der Naturaneignung, die für die Physikotheologie im 18. Jahrhundert bestimmend sein wird. Die von Gott erschaffenen Kausalzusammenhänge in der Natur sind veranschaulichbar und den Befürwortern des atomistischen Weltbildes, die an einen zufälligen und daher unzweckmäßigen Verlauf der Naturdinge glaubten, konnten handfeste Gegenargumente geliefert ­werden. Es ist nicht verwunderlich, dass sich die Denkfigur der oeconomia naturae in den empiriegeleiteten Naturwissenschaften, besonders in der Astronomie, etablieren konnte. Wie ich im zweiten Teil der Arbeit genauer erläutern werde, zeichnete sich mit Nicolaus Kopernikus’ (1473–1543) Schrift Über die Umläufe der Himmelskreise (1543) der epochale Umbruch vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild ab. Die sich eröffnenden Weiten des Weltalls lösten beim Betrachter nicht nur Schrecken vor der schier unfassbaren Unendlichkeit, sondern auch Begeisterung für die gesetzmäßigen Bewegungsabläufe der Himmelskörper aus. Um den Einwänden der Religionswächter vorzukommen, betont Kopernikus, dass durch die Mathematik die Bewunderung für die Schöpfung Gottes nicht geschmälert werde (vgl. Groh et al., »Religiöse Wurzeln« 18):

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Wer würde denn nicht, wenn er forschend verweilt bei dem, was er in bester Ordnung erstellt und von göttlichem Walten gelenkt sieht, bei beständiger Betrachtung dessen und einer Art Gewöhnung an es, zum Besten herausgefordert und würde nicht bewundern den Meister von allem, in dessen Hand alles Glück und alles Gute liegt? Denn nicht grundlos wird jener gotterfüllte Psalmensänger ja wohl von sich sagen, daß er vor der Schöpfung Gottes und den Werken seiner Hände jauchze, wenn wir nicht durch sie als Mittel, wie auf einer Art Gefährt, zur Betrachtung des höchsten Guts hingeführt würden. (83)

Während des 17. Jahrhunderts hatten die neu erschlossenen physikalisch-kausalen Zusammenhänge im Mikro- und Makrokosmos, bzw. im Verlauf der Naturkräfte und der Planetenbahnen der Vorstellung eines teleologisch geordneten Weltenbaus zur weiteren Akzeptanz verholfen.11 Gemäß der populären Metapher der Weltmaschine leistet jedes einzelne Rädchen einen notwendigen Beitrag zur harmonischen Selbstregulation. Selbst Störungen werden sich mit der zunehmenden Transparenz der Kausalzusammenhänge als nützlich erweisen. Schließlich sind die aufgetretenen Unglücksfälle bislang nicht dermaßen gravierend gewesen, dass sie das ganze Räderwerk zu Fall gebracht hätten. Die Welt hat nach Sieferle »ein Stück Autonomie gewonnen, jedoch nur unter den Bedingungen, die Gott ihr gesetzt hat und deren Einhaltung und Permanenz er garantiert« (17). Demzufolge beriefen sich die Philosophen und Theologen im beginnenden 18. Jahrhundert nach wie vor auf Gottes fürsorgliche Wartung seiner Weltenmaschine, die er als Uhrmacher ab und zu wieder aufzieht. Besonders in Deutschland ist an der Lehre der providentia Dei 11 

Festzuhalten ist, dass die naturwissenschaftlichen Theorien sich nach wie vor der Autorität der Heiligen Schrift beugten. Exemplarisch ist folgende Passage aus dem dritten Teil von René Descartes’ (1596–1650) Prinzipien der Philosophie (1644), in der er seine Erklärung des nach Naturgesetzen entstandenen Weltenbaus vorsichtshalber als eine Hypothese, die wohlmöglich falsch sein könnte, darlegt: »Es kann nämlich kein Zweifel bestehen, daß die Welt vom Anfang an mit all ihrer Vollkommenheit geschaffen wurde, so daß in ihr die Sonne, die Erde, der Mond und die Sterne existiert haben, und ebenso auf der Erde sich nicht nur Vorformen der Pflanzen, sondern die Pflanzen selbst befunden haben, und daß Adam und Eva nicht als lallende Säuglinge geboren, sondern als erwachsene Menschen geschaffen wurden. Dies lehrt uns der christliche Glaube, und davon überzeugt uns auch die natürliche Vernunft völlig. Wir können nämlich, wenn wir auf die unermeßliche Macht Gottes aufblicken, nicht annehmen, daß er jemals irgend etwas getan hat, das nicht in jeder Hinsicht vollkommen gewesen ist. Um die Natur der Pflanzen oder der Menschen einzusehen, ist es gleichwohl allerdings weitaus besser, zu überlegen, auf welche Weise sie nach und nach aus ihren Vorformen sich entwickelt haben können, als auf welche Weise sie durch Gott im ersten Ursprung der Welt geschaffen wurden, so daß, wenn wir uns solche äußerst einfachen und im Prozeß des Erkennens leicht verwendbare Prinzipien ausdenken und beweisen würden, daß aus ihnen gleichsam wie aus einer Art von Samen die Gestirne, die Erde und zuletzt alles was wir in dieser sichtbaren Welt entdecken, abstammen könnte, auch wenn wir sehr wohl wissen, das sie niemals auf diese Weise entstanden sind, wir auf diese Weise gleichwohl deren Natur weitaus besser erklären werden; als wenn wir sie lediglich so beschreiben würden, wie sie bereits sind« (219 f.).

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unter dem Einfluss der lutherischen Orthodoxie noch festgehalten worden. Die Bonisierung von Naturübeln, die nach wie vor intensive Angstgefühle hervorriefen, gestaltete sich jedoch als äußerst schwierig. Wie nachfolgende Besprechung der frühneuzeitlichen Erdbebenwahrnehmung aufzeigen wird, stellte der Versuch, die Verwüstung seismischer Umwälzungen mit dem Theorem eines harmonischen Naturhaushalts zu vereinbaren, eine große Herausforderung für die Gelehrten dar.

B. Deutung und Darstellung der Erdbeben in der Frühen Neuzeit 1.  Senecas Aufhebung der Naturfurcht Unter den Naturübeln zählten in der Frühen Neuzeit die Erdbeben zu den unheilvollsten, die mit einem außerordentlichen Angstdruck beladen waren. Prägend für die kulturelle Deutung und Darstellung dieser Extremereignisse waren die seismologischen Ausführungen im sechsten Buch der Naturales quaestiones (um 65 n. Chr.) von Lucius Annaeus Senecas (4 v. Chr. – 65 n. Chr.). Anlass für die naturphilosophischen Überlegungen war die Heimsuchung Kampaniens durch ein heftiges Beben, welches der Stoiker zum schlimmsten Unglücksfall erhebt, der die Menschheit jemals befallen könne.12 Dem plötzlichen Wanken des Boden haftet gleich zu Anbeginn seiner affektgeladenen Schreckensdarstellung eine Doppelbedeutung an: Im eigentlichen Sinne ist es nichts als ein geophysikalisches Phänomen; hingegen versinnbildlicht es auch die ontologische Vergänglichkeit von allem Bestehenden. Augenblicklich vermag die als beständig angenommene Erde sich umzukehren und das auf ihr Existierende niederzureißen. Seneca beschreibt gleichnishaft, wie der Mensch den Erdbeben komplett ausgeliefert sei: Was sage ich, ist noch fest und stark genug, um einen anderen und sich selbst zu schützen? Den Feind kann ich mit Mauern zurückweisen und Burgen auf schroffer Höhe werden selbst mächtige Heere durch die Schwierigkeit ihres Zugangs aufhalten; vor dem Sturm rettet uns der Hafen und vor dem Wolkenbruch und endlos fallendem Wasser schützt uns ein Dach; wenn ich fliehe, kommt mir das Feuer nicht nach; gegen Donner und Dräuen des Himmels bieten die Hauskeller und tief eingegrabene Höhlen Schutz (denn das Feuer vom Himmel durchdringt die Erde nicht, sondern prallt schon von einer dünnen Erdschicht ab), bei der Pest kann ich auswandern – es gibt kein Übel, dem man nicht entkommen kann. Noch nie hat der Blitz ganze Völker verbrannt; verpestete Luft hat Städte zwar entvölkert, doch nie zerstört. Dieses Unheil aber dehnt sich weit aus, ist unentrinnbar, unersättlich und trifft ganze Völker. (325) 12 

Das von Seneca erwähnte Erdbeben in Kampanien ereignete sich um 62 n. Chr. (vgl. dazu Waldherr 74).

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Mit rhetorischer Finesse relativiert er daraufhin das entsetzliche Unheil, indem er auf die unumstößliche Todesgewissheit eines jeden Menschen verweist. An sich mache es keinen Unterschied, wie und wo man stirbt, denn jegliches Schicksal führe zum demselben Ziel: »Neben anderem ist dies ein besonderer Zug der Gerechtigkeit in der Natur, daß es dann, wenn es zum Letzten kommt, uns allen gleich ergeht« (327). Dem Stoiker mutet die Furcht vor den Erdbeben als eine Dummheit an, da man beständig einer Unzahl von Gefahren ausgesetzt sei. Selbst die unbedeutendsten Dinge können das sofortige Lebensende herbeiführen: Was ist denn unsinniger, als bei Donner hinzusinken und aus Angst vor Blitzen unter die Erde zu kriechen? Was ist noch so dumm, als das Wanken der Erde zu fürchten, den plötzlichen Bergrutsch und den Einbruch des aus seinen Ufern geworfenen Meeres, wo doch der Tod überall bereitsteht, uns von allen Seiten angreift und nichts so klein ist, daß es nicht Kraft hat, die Menschheit zu verderben? (332 f.)

Zur Dämpfung der Todesangst bedarf es paradoxerweise die vollumfängliche Vergegenwärtigung der eigenen Verwundbar- und Sterblichkeit. Entgegen der anfänglichen Leseerwartung fungiert Senecas vorangestellte Veranschaulichung des größtmöglichen Schreckens als eine Art von Propädeutik, um letztlich die Sinnlosigkeit der Naturfurcht einprägsam herauszukehren. Bedeutend ist, dass der stoische Appell an die innere Seelenruhe sich gegen jegliche supranaturale Wirkursache der Erdbeben wendet. Es sei hilfreich, so behauptet Seneca, sich vorzustellen, »daß die Götter an all diesem keinen Anteil haben und Erde oder Himmel nicht durch den Zorn der Götter auf den Kopf gestellt werden« (333). Ein argumentativer Standpunkt, den die Spätaufklärer Immanuel Kant und Friedrich Schiller in ihren Abhandlungen über das Erhabene teilen werden. Seneca konstatiert, die äußere Natur solle man nicht bloß mit den Augen, sondern mit »der Vernunft« wahrnehmen. Ungewöhnliche Naturphänomene vermögen Empfindungen wie »heilige Scheu«, Bewunderung und Erschauern zu erregen, solange ihre eigentlichen Ursachen verborgen bleiben (335). Anhand der eingehenden Naturerforschung lasse sich das Nichtwissen und demzufolge auch der Grund der Furcht aus der Welt schaffen. Die stoische Aufhebung der Naturfurcht setzt ein hohes Maß an Sublimation und Kultivierung der körpergebundenen Affekte voraus. In der unmittelbaren Gegenwart der Todesgefahr diktiert wohl eher das Triebhafte als das Vernünftige das menschliche Handeln. Wie sich in der folgenden Besprechung der frühneuzeitlichen Deutungs- und Darstellungsmuster seismischer Umwälzungen zeigen wird, rief die von Seneca propagierte Furchtverminderung eine heftige Gegenwehr von Seiten der geistlichen Obrigkeiten hervor. Bezeichnenderweise fand seine Passage der unentrinnbaren Erderschütterungen breite Zustimmung, um die stupende Allmacht des erzürnten Richtergottes aufzuzeigen. Eine derartige selektive Aneignung

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antiker Quellentexte ist in den Erdbebenschriften des 16. und 17. Jahrhunderts federführend. Der heraufbeschworene Schrecken vor den numinosen Naturerscheinungen und -gewalten resultierte allerdings nicht aus der Unkenntnis über die naturimmanenten Kausalzusammenhänge. Vielmehr verwendeten die Theologen ihn als Abwehr gegen die naturphilosophischen Denkströmungen, welche die Ursache der Naturübel der fatalistischen »Zwingherrschaft des Schicksals« bzw. der Willkür des Zufalls zuschrieben (329). Gerade die von den Erdbeben bewirkte Angst wurde unter dem Leitbegriff der Gottesfurcht gezielt als gesellschaftsbindenes Instrument inszeniert und kultiviert. Von Seiten der Augenzeugen wurde die Einzigartigkeit der seismischen Heimsuchungen gleichermaßen herausgestrichen. Die darin verortbaren Schreckensdarstellungen verlaufen gemäß narrativen Mustern, die ebenfalls in Senecas paradigmatischer Schilderung der Erdbebenkatastrophe bestimmend sind: Wo sollen unsere Körper eine Zuflucht finden, wohin in ihrer Sorge fliehen, wenn die Furcht von unten emporsteigt und aus dem Erdgrund heraufzieht? Die Bestürzung ist allgemein, wenn die Häuser krachen und der Einsturz sich ankündigt. Da rennt jeder über Hals über Kopf hinaus, läßt seine Hausgötter im Stich und vertraut auf das freie öffentliche Gelände. Wo finden wir einen bergenden Winkel, wo Hilfe, wenn die Erde selbst den Einsturz will und der Boden, der uns schützt und trägt, auf dem unsere Städte stehen und den manche das Fundament des Erdkreises nannten, aufreißt und wankt? (325)

2.  Die frühneuzeitliche Begriffsbestimmung der Erdbeben Mit knappen Worten eruiert der Schweizer evangelische Theologe Johann Ulrich Ragor (1534–1604) in seiner Abhandlung Von den Erdbidem (1578), was die seismischen Aktivitäten an sich seien. Was wir Teutschen nennen ein Erdbidem/ das nennen die Lateiner Terræmotum. Ein Erdbidem ist nicht anders dann ein Erdbidmung/ erzitterung/ erschütterung vnd ungewohnliche bewegung des Erdtrichs. (21)

Hinsichtlich der erweiterten Fragestellung, warum die Erde überhaupt bebe, wandelt sich das bündig umrissene Ausnahmeereignis zu einem schwerwiegenden metaphysischen Problem. Der vorherrschenden Lehrmeinung folgend postuliert Ragor, dass der Kern des Erdkörpers an sich fest und unverrückbar sei. Demzufolge müssen die verspürten Erschütterungen widernatürlich sein. Für die Erklärung dieser Phänomene stellt die Naturphilosophie aus der Antike eine Fülle von Theorieansätzen bereit, die jedoch mit dem christlichen Deutungsmuster in einem Spannungsverhältnis stehen:

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Warumm aber das hart vnenpfindlich Erdrich/ so nach seiner art vnnd Natur steiff vnnd stet an einem ort bleibt/ ja das mittel vnnd vest centrum ist aller dingen so sich bewegen/ sich also wider sein Natur bewege vnnd erschütte/ haben vorzeiten die Philosophi der Heiden vil vnnd mancherley vrsachen angezeiget/ deren vrsachen wir zum ersten vernemen wöllen/ vnd dann weiter sehen was wir Christen hievon halten sollen. (21)

Die eigentliche Krux liegt nicht im Wissensdefizit, im kognitiven Vermögen, den geophysischen Verlauf der Erdbeben überhaupt begrifflich festzulegen, sondern darin, wie das Erbe der antiken Seismologie rezipiert werden sollte. Wesentlich für den Theologen ist die semantische Kodifizierung, dass die seismischen Vorkommnisse einen Zeichencharakter besitzen. Mit Rücksicht auf die Autorität der Heiligen Schrift führt Ragor eine umfassendere und endgültige Definition an: Der Erdbidem ist ein ein bewegung vnd erzitterung des erdtrichs/ welches Gott der Allmechtig allein würcket/ etwan durch Natürliche vrsachen/ etwan ohne dieselbigen/ darmit er vns menschen seinen zorn anzeiget/ vnser verrucht leben strafft/ zur bußfertigkeit vermanet/ vnd zuküfftige grössere straffen vnd vbels verkündiget/ wann wir vns nicht besseren. Diese beschreibung ist volkommen/ vnd also sollen die gleubigen halten vnd urtheilen von den Erdbidem. (27)

Als überragende causa efficiens regiert der Schöpfergott über die Natur. Die causae secundae, welche die natürlichen bzw. geophysikalischen Erdbewegungen bewirken, werden in der theologischen Kausalitätszuordnung der causa prima, unter den allmächtigen Gott subsumiert. Die Auffassung der »Heiden«, dass die seismischen Umwälzungen eine naturimmanente Ursache besitzen, wird dem Wunderglauben untergeordnet. Gott steht es frei, willkürlich die geordneten Naturprozesse aufzuheben und diese als züchtigende Strafinstrumente einzusetzen. Insoweit ist die Erdbebendeutung an die causa finalis gebunden: Jegliches seismisches Ereignis bezweckt dem Menschen den göttlichen Zorn vor Augen zu führen. Dadurch verschleift sich jedoch der qualitative Unterschied zwischen einer natürlichen und übernatürlichen Ursache vollends. In der vom Zürcher Diakon Hans Jakob Gessner (1639–1704) verfassten Abhandlung Gottselige Betrachtung von den Erdbiden (1671) wird die Differenzierung zwischen profanen und religiösen Begriffsbestimmungen explizit thematisiert. Anhand von sieben Dialogen führt der streng orthodoxe Theologe die unterschiedlichen Deutungsansätze aus der Bibel, Philosophie und Historiographie zusammen, wobei die straftheologische Auslegung der Erdbeben sich als die einzig zulässige herauskristallisiert. Caspar, ein Student der Linguistik, präsentiert seinen Gesprächspartnern eine mehrsprachige Definition, die mit Stellenangaben aus der heiligen Schrift verzahnt ist:

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Erdbidem heißt auf Griechisch σεισμός, auf Lateinisch Terræ motus, vnd auf Französisch Tremblement de Terre. Derenthalben in Heiliger Schrift/ Matth. 24.v.7. Marc. 13.8. Matth. 28.v.2. gedacht wird/ vnd rührt her von einem Wort/ das so viel heißt als bewegen/ erzittern. (11)

Im gleichen Atemzug werden die Lexeme mit der Endzeitverkündigung und der Auferstehung Jesu in Verbindung gebracht. Laut dem Matthäus- und Markusevangelium offenbart sich der Anfang der Wehen, wenn ein Volk sich gegen das andere erhebt und viele Orte von Erdbeben und Hungersnöten heimgesucht werden.13 Das eschatologische Geschichtsbild ist für die Wahrnehmung außergewöhnlicher Naturereignisse im 16. und 17. Jahrhundert ausschlaggebend.14 Neben den Kometenerscheinungen gilt das verspürte Wanken der Erde als sicheres Vorzeichen von Pestseuchen und weiteren verheerenden Landplagen, die letztendlich im Untergang der bestehenden Weltordnung kulminieren werden. Der Theologiestudent Heinrich führt den Dialog weiter, indem er präzisierend hinzufügt, dass der Erdbebenbegriff in der Bibel zwei Bedeutungen beinhalte: Du hast wol geredt/ aber es ist noch darzu zu wüssen/ daß das Wörtlein Erdbidem in Heiliger Schrift genommen wird in zween Wege/ erstlich figürlicher/ demnach eygentlicher Weise/ figürlicher Weise werden durch das Wörtlein Erdbidem verstanden ins gemein grosse Trübsalen/ ausmachende Gerichte vnd Strafen GOttes/ als Apoc. 6.v.12. Apoc.8.v.5. Eygentlich aber bedeutet dieses Wörtlein Erdbidem eine Bewegung vnd Erschüttung des Erdbodens. (11 f.)

Die Differenzierung zwischen einer metaphorischen und wortwörtlichen Bezeichnung widerspiegelt den Disput, ob die seismischen Aktivitäten eine natürliche oder übernatürliche Ursache besitzen. Je nach theologisch-philosophischer Perspektivierung wird die Kausalitätszuordnung anders gewichtet. Trotz der artikulierten Sicherheit bezüglich der Endursache – Erdbeben konstituieren ein Zornzeichen Gottes – birgt die seismologische Begriffsbestimmung eine inhärente Unsicherheit in sich. Bei welchen Unglücksfällen ist das unmittelbare bzw. wundersame Einwirken Gottes evident? Wann handelt es sich beim gewaltsamen Hereinbrechen eruptiver Naturkräfte um ein Schreckensereignis, das durch den Umweg der von Gott angestoßenen Sekundärursachen herbeigeführt wurde? Der Theologiestudent spricht hinsichtlich der »figürlichen« Deutung von großen Trübsalen, jedoch stellen für die Religionswächter selbst belanglose Erderschütterungen, die keine ernstzu13 

Im Lukasevangelium werden neben den Hungersnöten und Erdbeben auch Seuchen und die Verfinsterung des Himmels als gewaltige Zeichen der Endzeit erwähnt (Lk. 21.11). 14 François Walter hat darauf hingewiesen, dass »der Protestantismus die Bevölkerung eschatologischen Erklärungen« gegenüber empfänglicher gemacht habe (41). Dieser Sachverhalt erklärt sich aus der Tilgung katholischer »Riten und Sicherheit gewährenden Fürbitten« (40).

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nehmenden Schäden bewirken, ominöse Prodigien dar. Bei den Gelehrten führt die Vorherrschaft des straftheologischen Diskurses zu vorsichtigen Formulierungen. Der Lateinlehrer Wolfgang Linder, der Augenzeuge des Erdbebens von 1590 in Niederösterreich war, lässt sich in seinen Erklärungen zum Ausnahmeereignis von den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen aus der Antike leiten. Bevor er die natürliche Ursache im verhängnisvollen Zusammentreffen einer Hitzewelle, heftiger Regenfälle und ausbrechender Winde festlegt, bekennt er sich apologetisch zum Prodigienglauben: »Auch wenn es eine deutliche Strafe Gottes war und ein Vorzeichen für den folgenden Krieg gegen die Türken, so ist dennoch aus natürlichen Ursachen sein Ursprung zu erklären« (zit. nach Gutdeutsch et. al. 135; vgl. auch Oeser 18). Die schwankende Kausalitätsauffassung trifft den neuralgischen Kern in der dogmatischen Vorstellung der creatio continuata (vgl. Lipsius 298). Wenn die göttliche Allmacht einerseits die natürliche Ordnung jederzeit aufzuheben vermag, so geraten die naturimmanenten Gesetzmäßigkeiten ins Abseits. Andererseits, wenn der Kausalzusammenhang der Dinge an Beständigkeit gewinnt, besteht die Gefahr, dass die Präsenz Gottes sich zu einer Zuschauerrolle schmälert. Von Seiten der wissenschaftlichen Betrachtung kommt es im ersten Falle nicht darauf an, »ob man alles Geschehen bis ins Einzelnste hinein auf persönliche göttliche Willkür oder (›epikuräisch‹) auf das Walten eines blinden Zufalls zurückführt.« Im zweiten Falle ist es für die religiöse Betrachtung gleichgültig, »ob Gott durch den Weltzusammenhang nur ›zur Ruhe‹ gesetzt, oder ob gradezu eine blinde (›stoische‹) Notwendigkeit an die Stelle des göttlichen Waltens getreten ist« (Lipsius 298). Um dem »blinden Ohngefähr« in den Naturprozessen Einhalt zu gebieten, muss aus theologischer Sicht die Erdbebenursache supranaturaler Art sein. Diesbezüglich konstituiert sich die Kontingenzbewältigung durch den Grundsatz, dass die Materie nicht aus sich selbst zu bewegen vermag: ein axiomatischer Standpunkt, der die Wortprägung seismischer Phänomene wesentlich mitbestimmt hat. In der 1670 in Nürnberg erschienenen Abhandlung Terra Tremens wird argumentiert, dass die lateinische Bezeichnung terrae motus eigentlich eine Fehlbenennung sei, da sie eine eigenständige Erdbewegung impliziere. Als Referenzquelle hat der anonyme Autor das posthum veröffentlichte Werk Ortus medicinae, id est Initia physicae inaudita (1648) des flämischen Universalgelehrten Johan Baptista van Helmont (1580– 1644) herbeigezogen: Was Erdbeben eigentlich seye/ ist zuvor aus H. Schrifft Psal. 89 und andern Orten bekandt/ daß GOtt die Erde gegründet. Wie auch/ 1. Chron. 17.v.30. Er fürchte den HErrn alle Welt. Es hat den Erdboden bereit/ daß er nicht bewegt wird. Derowegen dann auch die Erde vor sich natürlich unbeweglich bestehe. Dahero auch theil Gelehrte/ das Lateinisch Wort Terrae motus, oder Erden Bewegung/ nicht wollen gelten lassen; Wie dann Ioh. Bapst. von Helmont, in seinem Ortu Medicinae saget:

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Motus Terrae ein nomen improprium und zu viel geredet sey; dann die Erde vor sich/ nicht activè (oder selbst thunlich), sondern passivè (als leidend) gleichsam als furchtsam und erschrecket/ beweget werde. Wie solches der 104. Psalm/ mit den Worten weiset: Für den HERREN (als erzitternd) bebede die Erde. Dahero etliche das Wort Motus, (Bewegung) Tremor, eine Zitterung genommen/ so auch Helmont behält. (unpag.)

Helmonts seismologische Betrachtungen gerieten im 18. Jahrhundert unter Beschuss, da er in seiner Verwerfung der aristotelischen Grundsätze Zuflucht in sonderbare supranaturale Ursachen genommen hat. Die Erde werde einer Glocke gleich vom Engel des Herrn angeschlagen und erzittere daraufhin, »damit sich die Sünder bekehren, die Gerechten aber für Ausschweifungen hüten solten« (M. J. A. W. 175). Im Zeitalter der Aufklärung verfestigt sich die Tendenz, dass seismische Ereignisse nach gesonderten Perspektivierungen behandelt und gedeutet werden. Unter der Leitherrschaft der new sciences spaltet sich der naturwissenschaftliche Diskurs von den religiösen Deutungsansätzen ab. In diesem Zusammenhang hat Ulrich Löffler darauf hingewiesen, dass »für den Beginn und die Mitte des 18. Jahrhunderts eine Problemverschärfung in der Kausalitätsdiskussion« angenommen werden müsse (244). Die zugenommene »Empirieorientierung naturwissenschaftlichen Denkens« habe maßgeblich »die Auseinandersetzungen um den Kausalbegriff« geprägt (243). Entsprechend sei es zu einem »Schwanken […] des Kausalitätsverständnisses« bezüglich seismischer Phänomene gekommen (244). Löffler illustriert die Herausbildung einer unschlüssigen Erdbebenbestimmung am Beispiel des Zedlers Universal Lexikon aus dem Jahr 1734. Der ausführlichen enzyklopädischen Zusammenführung antiker und neuer seismologischer Hypothesen folgt eine separate, weit kürzere Abteilung, die sich ausschließlich mit der biblischen Erd­bebendeutung befasst. Bezeichnenderweise beginnt der letztere Lexikoneintrag mit folgender Differenzierung: Erdbeben, geschiehet theils aus natürlichen, theils aus übernatürlichen Ursachen, welches alleine Gottes Werck ist, das er gebrauchet, für denen Menschen seine Majestät, Macht und Herrlichkeit sehen zu laßen […] und ist bißweilen ein Zorn=Zeichen, die Menschen ihrer Sünden halben damit zustraffen […]. (1527)

Löfflers herausgestrichene Unterschiedlichkeit der Perspektiven in der obigen Passage – »[d]ie Bestimmungen zu den natürlichen Ursachen der Erbeben ersetzen die Aussagen über göttliches Wirken im Erdbeben nicht, werden ihnen aber doch beigestellt« – hebt sich nicht grundlegend von den Argumentationsmustern ab, die die Geistlichen im 16. und 17. Jahrhundert verwendet haben (245 f.). In ihren seismologischen Abhandlungen wurden die natürlichen und übernatürlichen Erdbebenursachen stets gegenübergestellt. Die sinnliche Erfahrungswelt stößt an den Bereich

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des Übersinnlichen, wobei das Lexikon sich nicht in weiterführende Überlegungen versteigt, inwiefern die beiden Ebenen kausal miteinander verbunden seien. Das Stillschweigen verweist insofern auf die prekäre Schnittstelle, die für Löffler den »Austragungsort eines schwankend gewordenen Kausalitätsverständnisses« ausmacht (245). Allerdings hat dieses Schwanken bereits weit früher eingesetzt, als der Versuch unternommen wurde, die antiken Theoriegerüste, die den Erdbeben eine natürliche Ursache zusprechen, in die christliche Dogmatik einzuverleiben. Die Ausgrenzung des Wunderbaren in der naturwissenschaftlichen Begriffsbestimmung der Erdbeben manifestiert sich auf pragmatische Weise in Georges-Louis Leclerc de Buffons (1707–1788) Histoire et théorie de la terre. Der erste Teil des mehrbändigen Monumentalwerks erschien 1750 in deutscher Sprache unter dem Titel Allgemeine Historie der Natur nach allen ihren besonderen Theilen mit einem Vorwort des Schweizer Gelehrten Albrecht von Haller (1708–1777). Im 16. Artikel »Von den feuerspeyenden Bergen, und den Erdbeben« behandelt Buffon seismische und vulkanische Aktivitäten als verwandte Phänomene, da sie die gemeinsame Ursache im unterirdischen Feuer besitzen. Emphatisch schildert er dessen schreckliche Wirkungskraft: »Das Feuer ist so stark, und dessen Ausbruch so gewaltsam, daß dadurch so harte Stöße entstehen, welche die Erde erschüttern, das Meer bewegen, und ziemlich weit entlegene Berge, Städte, und die festesten Häuser umstürzen« (264). Die ungeheuren Verheerungen versetzen den Menschen in Erstaunen, was der Franzose mit sachlichen Erklärungen der empirischen Kausalzusammenhänge zu unterbinden bestrebt. Folgende Passage verdeutlicht die unterschiedlichen Perspektiven in der Wahrnehmung ausbrechender Vulkane: So natürlich diese Wirkungen auch sind, so hat man sie doch als Wunder anzusehen. Und ob man gleich im Kleinen eben solche Wirkungen des Feuers antrifft, so hat doch alles, was groß ist, ein so starkes Recht, uns in Erstaunen zu setzen, daß es mich nicht befremdet, wenn verschiedene Schriftsteller diese Berge vor Luftlöcher eines im Mittelpuncte der Erde befindlichen Feuers, und der Pöbel für den Mund der Höllen gehalten haben. Erstaunen bringt Furcht, und Furcht zeuget Aberglauben. Die Ißländer nehmen das Brausen ihres brennenden Berges vor das Geschrey der Verdammten, und sehen sein Feuerspeyen als eine Wirkung der Wuth und Verzweiflung dieser Elenden an. Alles dieses ist indessen nichts als Knall, Feuer und Rauch. (264 f.)

Es mag nicht überraschen, dass Buffons provokativer Appell an die Furchtverminderung und Kritik an den Wunderglauben in der deutschen Fassung abgeschwächt wurde. Im französischen Original wird am Zitatanfang deutlich eine Opposition zwischen einer wissenschaftlichen und wundersamen Naturbetrachtung ausgedrückt: »Ces effets, quoique naturels, ont été regardés comme des prodiges […]« (Histoire 40). Anhand analogischer Vergleiche veranschaulicht Buffon, wie der Naturwissenschaftler die gewaltsamen Naturkräfte auffasst. Dieser erhebt sich selbst

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zur causa efficiens, wenn er in Anlehnung an die chemischen Versuche von Nicolas Lémery (1645–1715) einen Vulkanausbruch im Kleinen kreiert: Da sieht man, was für ein Ding ein feuerspeyender Berg in den Augen des Naturforschers ist. Es ist ihm ein leichtes, diese unterirdische Feuer nachzumachen. Er mischet Schwefel und Feilstaub unter einander, vergräbt es auf eine gewisse Tiefe, und bringt ein Feuerspeyen zuwege, welches, nach seinem Maaße, eben das im Kleinen thut, was im Großen geschieht. Denn es entzündet sich durch die bloße Gährung, wirft Erde und Steine, womit es bedecked ist, in die Höhe, und giebt Rauch, ­Flamme und Knall. (Allgemeine Historie 265)

Die Anziehungskraft des Numinosen zerfällt, wenn die scheinbar furchteinflößenden Naturphänomene auf die Augenhöhe des menschlich Nachvollziehbaren reduziert werden. Dadurch vollzieht sich eine Substitution in der Selbsteinschätzung des Subjekts: Nicht die ungebändigte Natur ist Ursache des Erstaunens, sondern der verständige Naturwissenschaftler, der die verborgenen Kausalzusammenhänge ans Licht rückt und dadurch Herrschaft über die Natur zu erlangen vermag. Infolge der empirischen Erforschung der Naturzusammenhänge entschwindet das Staunen: Den bedrohlichen Naturgefahren wird das semantische Übergewand des Wunderbaren entzogen. Unter diesem abgeklärten Gesichtspunkt signifiziert das Wort Erdbeben realiter nichts Weiteres als eine Bewegung des Erdbodens. Die sogenannte Entmystifizierung der Natur stößt jedoch an ihre Grenzen. Mit der Entäußerung der moraltheologischen Endursache, dass die seismischen Ereignisse ein Zornzeichen Gottes konstituieren, verringert sich die ontologische Ohnmacht des Menschen vor den eruptiven Naturgewalten allerdings nicht. Dieses Dilemma wird vom Naturgelehrten und Physikotheologen Johann Jacob Scheuchzer in der Natur=Geschichte des Schweitzerlandes aufgegriffen. Das im Jahre 1746 von Johann Georg Sulzer (1720–1779) herausgegebene und annotierte Werk beinhaltet den Artikel »Von den Erschütterungen des Glarnerlandes«, bei dem es sich um eine Zusammenstellung der ursprünglich 1705 im Wochenblatt Seltsamer Naturgeschichten des Schweizer=Lands wochentliche Erzehlung erschienenen Erdbebenabhandlungen handelt. Scheuchzers naturkundliche Betrachtungen umfassen neben einer knappen Bestimmung der natürlichen Ursache – der Leser solle »mit gleichen Augen« wie alle zeitgenössischen Naturverständigen die seismischen Erschütterungen als die Folge eines »unter der Erde angezündete[n] Feuer[s]« auffassen – einen ausführlichen Katalog von den sich in der Schweiz ereigneten Beben (179). Gewisse Regionen und Ortschaften wie Glarus, Eglisau und Basel seien besonders gefährdet, weil unter ihnen sich entzündbare Gewölbe befinden, die sich nach der postdiluvianischen Erneuerung der Erde gebildet haben. Im Schlussabsatz des Artikels gibt Scheuchzer zu bedenken, dass ein naturbezogener Erdbebendiskurs bzw. die empirische Naturaneignung an sich keine existentielle Sicherheit verschaffe. Vielmehr

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bedürfe es der beständigen Gottesfurcht. Auf Senecas Schreckensschilderung verweisend gibt es kein Entrinnen, wenn die Grundfeste der Erde plötzlich zu wanken beginnen und einstürzen: Es sol uns billich die Betrachtung solcher Natur=Gewölben in eine heilige Forcht setzen, und zu einem beständig frommen Leben anmahnen, weil wir niemalen, natürlicher Weise davon zu reden, sicher sind; denn, lieber, wo wollen wir hinfliehen, wenn die Erde, welche uns tragen soll, selbst wancket? was vor Mittel wollen wir ergreiffen, wenn die schwanckende Pfeiler dieser Gewölben einfallen? Hierüber kan mit Lust gelesen werden, was der gelehrte Seneca schreibet Lib. VI. Quæst Nat. cap. 1. (194)15

Scheuchzers Kopplung der empirischen Erwägungen an die moralischen Ermahnungen ist zeittypisch für die physikotheologische Naturaneignung. Die natürlichen Ursachen werden rückgebunden an die eschatologische Erwartung der Apokalypse, deren finales Eintreffen durch die vom Menschen begangenen moralischen Verfehlungen provoziert wird: Um so vielmehr haben wir hohe Ursache, mit unserm Gott uns zu versöhnen, weil unser Schweizerisches mit Bergen überdiß beschwerte Erden=Gewölbe bereits viele Stösse ausgehalten hat, und wir, so wol aus diesen natürlichen Ursachen, als auch aus Causis moralibus, ich verstehe, die überhand nehmenden Sünden und Boßheiten, 15 Monika

Gisler unterschlägt in ihrer Besprechung des obigen Zitats Scheuchzers Verweis auf die unumgehbare Vulnerabilität vor übermächtigen Naturgefahren. Selbst wenn durch die Wissensvermittlung die Furcht vor den Naturübeln vermindert wird, verliert das plötzlich eintreffende Schwanken der Erde nichts an ihrem Schrecken. Gislers Schlussfolgerung, »[z]u fürchten ist nun nicht mehr die – rational erklärbare – Erschütterung der Erde, sondern das Erdbeben als Zeichen Gottes«, sollte präzisierend hinzugefügt werden, dass rationale Denkmuster im Moment der unmittelbaren Gefahr an Wirksamkeit verlieren und die betroffenen Menschen auf vorherrschende, habitualisierte Bewältigungsstrategien rekurrieren (64). Zu beachten ist, dass die in der Beschreibung der Natur=Geschichten des Schweizerlands (1706) abgedruckte mehrteilige Erstfassung »Von denen Erschütterungen im Glarnerland« keine straftheologischen Äußerungen enthalten. Vielmehr stammen Scheuchzers erbauliche Schlussreflexionen aus dem am 30. Dezember 1705 in demselben Wochenblatt erschienenen Artikel »Von denen Erdbidmen/ welche in unseren Landen gespürt worden den 13. und 17. Nov. biß laufenden Jahrs.« Die eigene Erfahrung und das überlappende Zeitfenster der Beben – jeweils am 4. November 1704 und 13. November 1705, zwischen drei und vier Uhr morgens – haben mit aller Wahrscheinlichkeit zu Scheuchzers Appell an die Bußfertigkeit seiner Mitbürger beigetragen. Die obigen Schlussworte komplementieren die einstimmenden Überlegungen am Artikelanfang: »Es stellet uns Gott täglich vor augen so vil Spiegel seiner unumschrenkten Güte/ Weißheit und Allmacht/ als vil natürliche Cörper/ und deren Eigenschaften/ oder Wirkungen sein/ dardurch uns zuveranlasen/ Ihne/ als den ursprung alles guten/ zukennen/ und zupreisen. Wann wir aber dise unsere schuldige Pflichten gegen Ihme/ dem grossen Gott/ verabsaumen/ so befihlet er disen sonst natürlichen Cörperen/ daß sie uns dienen sollen zum Schrecken/ oder zur Straff« (185). Diese Passage fehlt in der von Sulzer herausgegebenen Fassung.

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vermuthlich mercken können, daß der Terminus fatalis nicht mehr weit von uns abstehe, da Gott nach seiner strengen Gerechtigkeit, und unerforschlichen Weißheit, die Pfeiler unsers Landes kan einsincken, und uns durch die Erde selbst verschlingen lassen. (194 f.)

Mit der Abwendung des moralischen Übels vermag das bedrängte Subjekt handlungskräftig gegen die verspürte Ohnmacht anzutreten. In der Hoffnung zukünftige Kataklysmen vorzubeugen, strebt es nach innerer Vervollkommnung. Der von Scheuchzer in seiner Physica oder Natur=Wissenschaft (1701) geäußerte Optimismus, mithilfe der Naturwissenschaft die »Lust- und Nutzbarkeiten« des Weltgefüges aufzudecken und dadurch die Furcht vor bedrohlichen Naturphänomenen zu vermindern, zerbricht angesichts der stupenden Zerstörungsmacht der Erdbeben (12). Die seismischen Ereignisse sperren sich gegen ihre Entsemantisierung und verharren in ihrer Rolle als göttliche Warnzeichen. Von einem anfänglich naturwissenschaftlichen Kuriosum wandeln sie sich in Scheuchzers überarbeiteten Betrachtungen letztlich zu einer vom Menschen verschuldeten Gottesstrafe. Statt der supranaturalen Wirkungskraft werden den natürlichen Erdbebenursachen diesmal die moralischen Gründe, die ausufernden Bosheiten, gegenübergestellt.

3.  Die Disseminierung seismologischer Theorien im 16. Jahrhundert Obschon in der Frühen Neuzeit der moraltheologische Diskurs in der Wahrnehmung der Erdbeben vorherrschte, lässt sich während dieser Epoche eine Vielfalt in den Deutungs- und Bewältigungsstrategien nachweisen. Ein wegweisender deutschsprachiger Quellentext ist das 1582 publizierte Traktat Von Erdbidem des »Organisten und Schriftstellers am Wiener Schottenstift« Johannes Rasch (um 1540– 1612/15) (vgl. Gutdeutsch et al. 8). Inspiriert von Conrad Lycosthenes’ (1518–1561) Wunderbuch Prodigiorum ac Ostentorum Chronicon (1557) stellte er eine Sammlung einschlägiger Erdbebenschriften zusammen, die von »hocherleuchtete[n] und bewärte[n] Scribenten« stammten. Der Beweggrund für die Publikation war eine Serie von Erdschütterungen, die in der Umgebung von Wien in den Jahren 1536 und 1581 registriert wurden. Ein Jahr nach dem Erdbeben von 1590 in Nieder­ österreich veröffentlichte Rasch eine ergänzende Erdbidem Chronic. Dieses Werk, das in der historischen Seismologie eine Vorreiterrolle spielte, katalogisierte die seismischen Vorkommnisse von 1569 v. Chr. bis zu dessen Erscheinungsjahr.16 16 

Die Geologen Jan Kozák und Vladimìr Čermák berücksichtigen Raschs Erdbebenkatalog in ihrer Liste »Milestones of Seismology« (Illustrated History 187). Statt der Erdbidem Chronic (1591) führen sie jedoch fälschlicherweise das vorangegangene Traktat Von Erdbidem (1582) an. Letzteres Werk enthält keine chronologische Zusammenstellung vergangener Erdbeben. Als

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Rasch, der die begrenzte Anzahl der deutschsprachigen Erdbebenabhandlungen beklagte,17 fertigte für seine Anthologie Übersetzungen der in Latein verfassten Traktate an und verhalf dadurch dem Laienpublikum zum vertiefteren Verständnis der seismologischen Extremereignisse.18 Im Vorwort gibt er zu bedenken, dass die »Physicis, Meterologis, Historicis« bezüglich der natürlichen Wirkursachen der Erdbeben im Streit liegen. Die Naturlehre sei an sich nichts als »ein rathspfleg oder rathgeb nach geschehenen dingen«, da sich den Sinnen die entfernten Räume des Himmels und des Erdinneren entziehen (unpag). Jedoch verstellt Rasch den Blick auf die Pluralität der seismologischen Deutungsmuster nicht. Neben den naturphilosophischen Physici führt er geflissentlich die Standpunkte der Wahrsager, Prediger und Astrologen an. Dieselbe Vielfalt der angeführten Erklärungsansätze zeigt sich in den berücksichtigten Abhandlungen von dem katholischen Bischoff Friedrich Nausea (1496–1552), dem italienischen Humanisten Filippo Beroaldo der Ältere (1453–1505), und dem Gelehrten Konrad Megenberg (1309–1374). Filippo Beroaldos Traktat, ursprünglich unter dem Titel Opsculum Philippi Beoraldi de Terraemitu et Pestilentia erschienen, stieß im 16. und 17. Jahrhundert auf breites Interesse und wurde selbst noch im 18. Jahrhundert »als eine der besten der Art« gewürdigt.19 Ausgehend von der eigenen Erfahrung der Erderschütterungen, die seine Heimatstadt Bologna im Januar 1505 heimgesucht hatten, kommentierte der gefeierte Latinist die vielseitigen seismologischen Theorieansätze aus der Antike. Sachlich schildert er die Hysterie der aufgeschreckten Masse: »Es ist den leuten ein lehr vnd erinderung gewesen/ zu gedencken, daß sie Menschen sein/ daß sie als dann Gott am maisten ehren vnd förchten/ wann sie in gefahr stecken oder ein gefahr bald zugewarten haben. (unpag.)« Als herausragende Autoritäten der Seismologie werden der Polyhistor Aristoteles, Seneca und Plinius (23–79 n. Chr.) angeführt. Beroaldo berücksichtigt aber auch unvoreingenommen die materialisersten Katalog historischer Erdbeben führen Emanuela Guidoboni und John E. Ebel den zweiten Teil der Schrift De terraemotu an, die der italienische Humanist Giannozzo Manetti (1396– 1459) 1457 in Anschluss an das Erdbeben von Neapel 1456 verfasst hat (vgl. 158–160). 17  Vgl. Raschs Anmerkung, die er der Bibliographie der für seine Erdbidem Chronic konsultierten Erdbebenschriften beilegte: »Meines wissens haben jhr wenig in vnser Mutter Sprach/ von dieser Materi geschriebe/ ob dann solcher Scribenten/ historicos, phyisicos, meteorologos/ oder astrologos, mehrer zusamblen/ oder aber (zvvermeidung alles der newen Autorn vberflüssiges schreibens vnd festes widerholens) die angezogenen Lateinischen inn hoch Cantzleyisch zierlichest Teutsch vmbzusetzen/ jemands so lustig würde vnnd so arbeitsam sein wolte/ dem wird diser Index zur anreitzung vnnd behelff oder vortheil guter meynung fürgestellt« (unpag.). 18  Rienk Vermij hat darauf verwiesen, dass eine »rationalere Betrachtung von Erdbeben« in der Frühen Neuzeit durch bessere Kommunikationsmittel wie der Buchdruck, »welche eine sachliche Beschreibung der Ereignisse ermöglichten«, maßgeblich gefördert wurde (241). 19  Vgl. folgende kritische Beurteilung im 1756 erschienenen Werk Historisch kritisches Verzeichnis alter und neuer Schriftsteller von dem Erdböben: »Es ist solche seine [Beroaldos] Schrift unstreitig eine von der besten der Art, zumal nach damaligen Umständen der Zeiten« (23).

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tischen Naturphilosophen Demokrit (um 460–370 v. Chr.) und Lukrez, die von den Theologen der Frühen Neuzeit als sträfliche Atheisten verschrien wurden. Im Hinblick auf die vorherrschende Doktrin, Gottes Zorn sei die Ursache des physischen Übels, äußert er die unterschwellige Skepsis, ob der begrenzte Erkenntnishorizont des Menschen zu einem solchen Urteil überhaupt befähigt sei: Ich halt/ das vbel/ wie gemaingklich auch andere dergleichen/ lige in hoheit der natur vnd gehaimnussen zu jinnerist verborgen/ vnnd so sie ja etwo auff ein weiß bekandt vnd bewust seyen/ so seind sie doch noch nit vorbewust/ ob schon durch lange dunckele bearbeitung die schärpff des natürlichen verstands/ vnd der sinnreichen scharpfflistigkeit zu den gehaimnussen der warheit/ die inn der innern Sacristey oder Schatzkammer versperret gehalten werden/ zu kummen sich bemühet vnd versuchet hat. (unpag.)

Der Mensch besitze, so moniert Beroaldo, noch keine derartige Freundschaft mit Gott, die ihm einen Einblick in seine Geheimnisse ermöglichte. Gleichermaßen bekundete Aulus Gellius (um 130–180 n. Chr.) in den Attischen Nächten (um 170 n. Chr.), dass das römische Volk bei den Festen, die nach den Erdbeben gefeiert wurden, auch keinen Götternamen nannten, da sie nicht die Gewissheit besaßen, welche Gottheit die Unglücksfälle verursacht hatte (vgl. Attische Nächte, 2. Buch, 28. Kap.). Während der italienische Humanist die Textstelle als Kritik gegen vorschnelle Urteilsschlüsse anführte, sahen in ihr die deutschsprachigen Geistlichen den Beleg dafür, dass den Heiden die wahre Ursache im christlichen Gott verborgen blieb. Im Gegensatz zur angesprochenen Unschärfe in der seismologischen Ursachenbestimmung gibt es für Berolado keine Zweifel an der Einzigartigkeit der von den Erdbeben bewirkten Verderbnisse. Sie seien ein graussam/ erschröcklich/ verderblich/ laidig vnd kläglich ding […]/ vol schauriges zitterens vnd gemaines schadens/ das wir mit allerley bitten vnd beten/ abitten/ abwenden/ abtreiben/ vnd daß ich der altheit wörtlein brauch/ abtragen sollen/ fürnemblich also schreyend: O Gott verhüt die trölich mähr/ O Gott wend ab solch böslich gfähr. (unpag.)

In Anklang an Senecas Schreckensdarstellung vermag das Übel durch aufgerissene Klüfte Äcker, Stadtmauern und sogar ganze Städte spurlos zu verschlingen.20 Der Humanist unterstreicht die ungeheuren Verwüstungen mit Belegen aus der Römerzeit, u. a. dem Bericht des römischen Historikers Ammianus Marcellinus (um 330–395/400 n. Chr.) über den Untergang der Stadt Nikomedia 358 n. Chr. Trotz der scheinbar unentrinnbaren Zerstörungswucht räumt er die Möglichkeit ein, sich 20 Die

unpag.).

Stelle wurde in anderen Erdbebenabhandlungen ausgiebig zitiert (vgl. Höpfner

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vor den Erderschütterungen zu schützen oder ihnen zu entfliehen. Genannt werden die Maßnahmen von Plinius, der den Bau von Ziegelsteinmauern empfiehlt und die Gewölbe in den Gebäuden als sicheren Zufluchtsort angibt. Beroaldo seinerseits empfiehlt in Länder zu ziehen, »die gegen Mitternacht ligen/ sonderlich in denen die vnder dem sibenden Erdcirckel oder landschaid begriffen sein/ do entweder gar keine oder doch selten erdbiden geschehen« (unpag.). Auch an dieser Stelle distanziert er sich von der fatalistischen Lehrmeinung der Religionswächter, dass es für den sündhaften Menschen kein Entkommen vor den göttlichen Strafgerichten geben könne. Das dritte Traktat »von Erdbiden vnd Erdspaltungen« besticht durch seine Objektivität und offene Rezeption der seismologischen Theorien aus der Antike. Es handelt sich dabei um einen ins Frühneuhochdeutsche übertragenen Auszug aus dem Buch der Natur des Regensburger Domherrn und Gelehrten Konrad Megenbergs, dessen 1349 verfasstes Werk zu den ersten deutschsprachigen Zusammenstellungen naturwissenschaftlichen Wissens zählt.21 Den Abschnitt »Von dem ertpidem« situierte er als letzter unter die Rubrik »Von den Himmeln und von den sieben Planeten«, was von der archaischen Annahme herrührt, dass unheilvolle Planetenkonstellation außergewöhnliche Naturereignisse bewirkten. Der Auslöser der erschütternden Ausdehnung unterirdischer Dünste sei die »Stern Krafft«, »allermaist der streit Gotzs/ der zu Latein Mars haist/ und des Helffuatter der Iuppiter haist/ und des Saciar (Sortispars) oder Saturnus, wann die in jren aignen häusern seind/ und wann sie gesämet werden.« Gleich zu Anbeginn der Schrift distanziert sich Megenberg von volkstümlichen Mythen, welche die Ursache der Erdstöße dem Riesenfisch Celebrant zugeschrieben haben. Einzelne Angaben über die seismischen Auswirkungen verdeutlichen, dass er mit den naturphilosophischen Texten von Plinius und Aristoteles vertraut war. Wie letzterer legt er die Relation zwischen den mikro- und makrokosmischen Ebenen dar, indem er das Zittern der Erde analog mit derjenigen des Menschenkörpers vergleicht: »Also beschüttet sich offt ein Mann/ wann er sich seines paums (leibs nottdurfft) hat begangen/ wann der kaltlufft schleicht in den leib/ vnd sagt die haissen geist umb/ und darumb muß sich der Mensch beschütten (schütteln)« (unpag.). Von besonderem Wert sind Megenbergs Aufzeichnungen über das Villacher Erdbeben, das sich am 25. Januar 1348 in Kärnten ereignete. Gemäß seinem Theoriengerüst besaßen die Erderschütterungen und die zeitgleich im Alpengebiet grassierende Pestepidemie die gemeinsame Ursache in den gärenden Dünsten – eine Hypothese, die in Einklang mit der im 16. Jahrhundert verbreiteten Überzeugung stand, dass seismische Aktivitäten Vorboten von Pestilenz, Hungersnöten und Krie21 

Megenbergs Erdbebenaufzeichnungen fußen auf den scholastischen Schriften von Albertus Magnus (1193–1280) und Thomas von Aquin (vgl. Rohr 112).

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gen seien. Entsprechend wurde die Unglückserie von 1348 in den nachfolgenden Erdbebenkatalogen stets vermerkt und in Erinnerung behalten. Megenbergs weiterführende Betrachtungen über das erlittene Menschenleid beinhalten, wie Arno Borst erkannt hat, »praktische Folgerungen«, die sich vom straftheologischen Deutungsmuster auf erhellende Weise abzusetzen erscheint: Gott hätte die Welt in einem Augenblick zerschlagen können, aber zur Zeit wollte er es nicht und ließ den Menschen Fluchtwege offen, den schuldigen wie den braven. Konrad schrieb, im Alpenraum seien auch fromme Christen gestorben, zumal solche, die viel hungerten, dagegen seien wohlgenährte Schurken, vor allem bei rechtzeitiger Abreise, am Leben geblieben. (541 f.)

Borsts eigenwillige Paraphrasierung der gewichtigen Textstelle gilt es zu präzisieren. Folgend sind die betreffenden Äußerungen im Original: [D]ie andern sprâchen, ez waer gotes gewalt. sicherleichen, daz was wâr, wann alliu dinch würkent in der kraft gotes, ân den sünder allain: der würkt wider got und ist sein werch ân got. ich sprich aber mit urlaub, daz got die welt möht niderslahen in aim augenblick ân aller siechtagen hilf, wenne er wolt und wâ er wolt. des tet er niht in den zeiten, wan die pei der zeit auz den landen fluhen die genâsen, waz ritterschaft in Püllen was mit küng Ludweigen auz Ungern, dô er seins pruoder tôt rach, die fruo âzen und trunken und in der füll lebten, den geschach nihts. welhe aber sich hungerten, sam die Walhen pflegent, die sturben, wan der poes luft durchgieng si. nu waiz ich wol, daz got den vollen vinden kann sam den laeren. (Megenberg 112)

Bezeichnenderweise fehlen im von Rasch edierten Traktat die ersten zwei Sätze, in denen Megenberg sich über die göttliche Allmacht äußert. Im argumentativen Zusammenhang bezieht sich die obige Passage nicht auf das Erdbeben, sondern auf die Ursache der Pest. Der allmächtige Gott verfügt absolut über seine Schöpfung und ohne Beihilfe der Seuchen vermag er sie jederzeit auszulöschen. Ein universales Strafgericht trat damals aber nicht ein, da ein rechtzeitiges Entfliehen vor der Pandemie möglich war, wie es sich am Beispiel von König Ludwigs (1326–1382) schwelgerisch feiernder Ritterschar zeigte. Ihr passierte nichts, als sie 1348 die von der Pest heimgesuchte Stadt Neapel belagerte. Die hungernden Italiener hingegen wurden von der Seuche hinweggerafft. Letztlich lässt der höchste Richter aber niemanden entkommen und der dogmatische Anspruch der Souveränität Gottes bleibt vor allfälligen Zweifeln bewahrt. Beachtenswert ist Megenbergs objektive Veranschaulichung der Kontingenzerfahrung im Geschichtsverlauf, der aufzeigt, dass die moralische Disposition des einzelnen keine eindeutige Überlebenschance in Katastrophenzeiten garantiert. Gleichermaßen reißen die Kalamitäten Schuldige und Unschuldige in den Tod. Für die Verschonten eröffnet sich die Möglichkeit, die verbleibende Lebenszeit im Hinblick auf das drohende Gottesgericht auf eine

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sittlich angemessene Weise zu gestalten. Megenbergs differenzierte Betrachtung unterminiert die eindimensionale Deutung der Unglücksfälle als unentrinnbare Gottesstrafen. Im Bestreben, das deutschsprachige Laienpublikum sachlich über die seismischen Aktivitäten zu belehren, verfängt sich sein Text nicht in pathetischen Schreckensbildern des göttlichen Zorns. Diesbezüglich weist er auf die naturwissenschaftlichen Abhandlungen der Aufklärungszeit voraus. Christian Rohr hat in seiner Untersuchung zur frühneuzeitlichen Auffassung extremer Naturereignisse im Alpenraum festgestellt, dass in den mittelalterlichen Textquellen, die sich mit dem Villacher Beben befassten, die Verweise auf ein göttliches Strafgericht weit weniger dominant ausfielen als in den Berichten über das niederösterreichische Erdbeben von 1590. Als Gründe für die mentalitätsgeschichtliche Zuspitzung des straftheologischen Denkmusters im ausgehenden 16. Jahrhundert nennt er die »Gegenreformation« und die »Kleine Eiszeit« (Naturereignisse 178). Neben »den theologischen Auseinandersetzungen der Reformationszeit« sei der »›Bruch‹ in der Deutung« ebenfalls durch das »Vordringen de[s] Humanismus« vorangetrieben worden (179). Diese von Rohr als paradox befundene Entwicklung gründet sich auf die unbefangene Aneignung und Popularisierung der antiken Seismologie durch die Renaissancegelehrten wie Filippo Beroaldo. In Abgrenzung zu den konkurrierenden Deutungsmodellen aus dem Altertum, die ohne den Verweis auf die providentia Dei auskamen, wurden die Erdbeben sowohl von den katholischen als auch von den protestantischen Obrigkeiten als furchterregende Gottesstrafen und -zeichen beschrieben.

4. Die Instrumentalisierung des Schreckens in den frühneuzeitlichen Erdbebenschriften Zentral in den Erdbebenschriften und -predigten des 16. und 17. Jahrhunderts ist die Evokation der Gottesfurcht. Dies geschah aber nicht aufgrund der Unkenntnis über die Ursachen plötzlich eingetroffener Erderschütterungen. Die Verfasser waren mit der aus der Antike überlieferten Seismologie bestens vertraut. Zu den autoritativen Naturphilosophen, die ausführlich kommentiert wurden, zählen Plinius, Seneca und insbesondere Aristoteles. Argumentativer Streitpunkt ist die Beschreibung der Erdbeben als rein immanente Naturphänomene. Der christlichen Leserschaft müsse schlüssig aufgezeigt werden, dass Gott als absoluter Regent über die von ihm verordneten Naturprozesse herrsche. Somit fungieren die beschriebenen Unglücksereignisse als sinnfällige Vergegenwärtigung providenziellen Wirkens. Die vorgefallenen Schrecknisse werden nicht beschwichtigt, sondern gezielt vor Augen geführt. Obschon die seismischen Umwälzungen als eine Chiffre des Gotteszorns figurieren, haben Geistliche ungeachtet ihrer konfessionellen Ausrichtung die Vali-

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dität der natürlichen Kausalursachen eingehend besprochen und dadurch – wenn in manchen Fällen auch unbeabsichtigt – zur Wissensverbreitung der antiken Naturphilosophie beigetragen. Beispielhaft ist die Hochachtung des evangelischen Rehberger Pfarrers Michael Bernhertz für Aristoteles, »der aller gelerteste/ dessen gleichen kaum inn der Welt gelebet hat« (23). Dieser habe »die vrsachen der Erdbeben« in der Luft, dem Wind und den Dämpfen festgelegt: [W]enn der Wind oder die Lufft/ inn den Klüfften/ Löchern und Gängen des Erdreichs eynbeschlossen ist/ so suche es seinen Außgang vnnd breche endlich mit gewalt/ vnnd bewege also das Erdreich/ daß es zerreiß/ vnd ein grossen schall oder hall von sich lasse/ wie denn alle Erdbeben mit einem grossen Gethön/ als eines grossen vnd gewaltigen Windes geschehen und gehöret werden. (23)

Unmissverständlich hat die aus der Meteorologie stammende Beschreibung die Wahrnehmung zeitgenössischer Beben entscheidend gefärbt. Anlass für Bernhertz’ Schrift Terraemotus war mit höchster Wahrscheinlichkeit die Erderschütterung von 1615 in Niederösterreich, deren Auswirkungen exakt nach der Vorlage der überlieferten Seismologie widergegeben werden: Zum andern/ allhier bey vnns in Oesterreich/ so wol auch in Ungern vnd Böhmen/ ist den 20. Februarii in der Nacht/ zwischen drey vnd vier Vhr gegen Morgens ein Erdbeben entstanden/ vnnd mit einem grossen gethön/ als ein brausen eines grossen Windes/ seinen Anfang genommen hat/ nit lang gewäret/ vnd ist/ Gottlob/ ohne schaden abgegangen. (110)

Allerdings geraten die Lehrmeinungen von Aristoteles und weiteren »heidnischen« Gelehrten in Konflikt mit der wortgetreuen Bibelexegese. Signifikanter Grundsatz der Geistlichen ist die Doxologie, die Lobpreisung der absoluten Herrschaft Gottes über die von ihm erschaffene Natur. Jegliche Hypothese, die den Naturprozessen eine Autarkie einräumt, stößt auf Gegenwehr. Eigenmächtig vermag der Weltschöpfer in den Naturverlauf einzugreifen, um den Menschen ein Wunderzeichen zu setzen. Als namhaftes Referenzereignis gilt das simultane Aufeinandertreffen des Kreuztodes Christi mit der Himmelsfinsternis und bebenden Erde. Eine weitere, in den moraltheologischen Erdbebenbetrachtungen vielfach angeführte Thematik ist die Kontingenzerfahrung. Die Plötzlichkeit der Erderschütterungen wird mit der Unvorhersehbarkeit des Todes und des Jüngsten Gerichts allegorisierend verschränkt. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Mensch den Naturgefahren völlig ausgeliefert. Als von Gott verordnete Strafruten können sie ihn überall und jederzeit treffen.22 22  Vgl.

Michael Kempes Schlussfolgerung, dass es in einer Natur, die mit dem göttlichen Willen gleichgesetzt wurde, kein ausreichender Schutz vor furchterregenden Phänomenen geben

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Mit Kalkül beschwören die Religionswächter den Schrecken verheerender Naturgewalten herauf. Die evozierte Furcht dient als disziplinarisches Instrument, den Menschen zur Buße und Frömmigkeit zu bewegen. Zur genaueren Erläuterung, was Gott mit den Erdbeben bezweckt, setzt der evangelisch-lutherische Pfarrer Michael Bapst (1540–1603) in seiner Schrift Kurtzer vnd warhafftiger Tractat/ Von dem jüngstgehörten erschrecklichen vnd brausenden Erdbeben (1599) den menschlichen Körper in ein analoges Verhältnis zur Erde. Während Aristoteles die mikro- und makrokosmischen Bezüge zum besseren Verständnis seismischer Aktivitäten angeführt hat, versinnbildlichen diese nun die von der Sünde hervorgerufenen Bewegungen im Natur- und Menscheninnern: Gleich wie die sumusae exhaltationes, dempffe vnd Winde/ in der grossen Erden oder Centro der Welt/ wenn sie darrinnen rege werden/ Erdbeben erregen: Also erregen auch die verdamlichen dünste und winde der Sünden/ die der Teuffel reglich in vns (die wir in der heiligen Schrifft auch Erde genennet werden) blesset/ Gott den Herrn/ das er vns also mit obgedachten Wetter und Erdbeben/ heimsuchet.   Gleich wie die Erde/ die vnser aller Mutter ist/ wie sie Gott/ der sie erschaffen vnd gegründet hat/ wegen vnser Sünde anrüret/ bebet/ […] [a]ls will die Erde/ vns ihre Kinder/ hiemit auch lernen beben und zittern/ vber vnsere Sünde/ auff das wir dieselbigen/ mit heissen Zehren und nassen Augen/ beweinen.   Denn gleich wie Gott wegen vnser Sünde/ dergestalt gegen dem Erdboden entbrinnet/ das er in dermassen anrüret/ das die Berge rauchen/ vnd Fewerflammen von sich gegen/ wie der Berg AEthna in Sicilia: Also wird auch sein grimmiger Zorn/ wie Fewer un vnsern irdischen Cörper angehen und brennen/ wenn wir uns nicht mit rechtschaffener wahren busse zu Gott wenden/ und bekehren werden. (unpag.)

Die ausgeprägte Körperbezogenheit in den Vergleichen mag davon herrühren, dass Bapst neben seiner Pfarrtätigkeit sich auch der Medizin widmete. Emphatisch nennt er die Erdbeben eine Strafpredigt Gottes, die auch die Herzen der Unbußfertigen zum Erzittern bringe. Gleichermaßen solle der Christgläubige von den Kalamitäten lernen, in ständiger Gottesfurcht zu leben. Kennzeichnend ist Bapsts Verweis auf Sprichwörter 28.14: »Wohl dem Menschen, der stets Gott fürchtet;/ wer aber sein Herz verhärtet, fällt ins Unglück.« Die verspürte Furcht müsse aber, so gibt der Pfarrer zu bekennen, »nicht eine knechtische/ sondern eine kindliche« sein (unpag). Wegweisend in der theologischen Ausformulierung der von Bapst erwähnten knechtischen und kindlichen Furcht (timor servilis und timor filialis) ist Thomas von könne: »[E]s durfte gar keinen geben, da Naturfurcht in Gottesfürchtigkeit aufgehen sollte« (»Zur Neutralisierung der Naturfurcht« 165).

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Aquins Morallehre im zweiten Teil der Summa Theologia (1265–1274).23 Der Scholastiker argumentiert, dass zum Gegenstand der Furcht das Übel der Strafe gehöre. Dieses sei an sich etwas Gutes, weil das eigentliche Übel, die Schuld des Menschen, Gott dazu bringe, den Sünder zu bestrafen. Wenn jemand Gott ehrt, weil er sich vor seiner Strafe fürchtet, so verspürt dieser Mensch knechtische Furcht. Hingegen konstituiert sich die kindliche Furcht in der Vergegenwärtigung der eigenen Verschuldung. Die vorherrschende Kraft in der Vermeidung der Sünde ist nicht die Furcht, sondern die Liebe zum göttlichen Vater, den man nicht hintergehen und enttäuschen möchte. Aquinas konnotiert die knechtische Furcht negativ, da sie dem freien Handeln entgegensteht. Ein Mensch, der von Liebe erfüllt ist, handelt aus eigenem Antrieb und wird nicht durch Androhung der Strafe dazu gezwungen. Bedeutend ist, dass die kindliche Furcht mit dem Anwachsen der heiligen Liebe bestehen bleibt: »Denn je mehr jemand seinen Vater liebt, desto mehr hat er Furcht ihn zu beleidigen« (Wahrheit 132). In den protestantischen Erdbebenschriften nimmt das Konzept der knechtischen und kindlichen Furcht in der Legitimierung der Gottesstrafe eine prominente Stelle ein. Gleichnishaft wird dargestellt, dass die Menschen sich wie undankbare Kinder verhalten, wenn sie den fürsorglichen Gott nicht ehren und lieben. Der evangelische Theologe Johann Ulrich Ragor veranschaulicht eindrücklich die graduelle Eskalation der Strafmaßnahmen, um den Zöglingen die notwendige Ehrfurcht einzubläuen. Wenn die Kinder die väterlichen Guttaten nicht anerkennen wollen, »so zeiget jnen der Vatter die Ruten/ er strafft sie mit worten/ ja so sie darumb nichts wöllen geben/ so streicht er sie auch/ vnnd sucht hiemit den wolstand der kinder« (19). Die Maßregelungen gestalten sich zu einem weiteren Akt der göttlichen Liebe. In der im Jahre 1650 gehaltenen Erdbebenpredigt argumentiert der Basler Pfarrer Theodor Zwinger (1597–1654), dass für denjenigen, der sich durch die Zornzeichen Gottes zur Buße bewegen lasse, seien diese ein »Zeichen seines Vätterlichen Zorns«, die zur »Liebe Gottes« gehörten. Gleichermaßen zeige der Vater »seine Vätterliche liebe gegen seinen Kinderen«, wenn er »vber jhr vbelhalten vnd Vngehorsam zörnet/ vnd sie züchtiget vnd straffet.« Analog dazu verweist der Geistliche auf die Stelle in Offenbarung 3.19: »Welche ich liebe/ die züchtige ich auch: also will auch Gott seine Väterliche liebe den seinigen zu erkennen geben durch Zornzeichen und Züchtigungen« (62). Die Maximierung des Furchtgefühls verläuft gemäß Redestrategien, die Aristoteles in seiner Rhetorik erörtert hat. Dieser definiert Furcht »als eine gewisse Art von Kummer und Beunruhigung auf Grund der Vorstellung eines bevorstehenden verderblichen oder schmerzhaften Übels«, das »großes Leid oder Vernichtung« her23 

Weiterführend zur Begriffsbestimmung der christlichen Gottesfurcht in timor servilis und timor filialis siehe Andreas Bähr 79–95.

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beiführt und den Anschein hat, in der Nähe befindlich zu sein (89 f.). Deswegen genügen bereits die Anzeichen von gefährlichen Dingen, Aristoteles nennt »Feindschaft und Zorn derer, die etwas dahingehend ausrichten können«, um Furcht zu bewirken. Zudem ist es entscheidend, dass der Zuhörer sich mit den Opfern des eingetroffenen Übels identifiziert: Daher muß der Redner, immer wenn es vorteilhafter ist, daß die Zuhörer sich fürchten, sie in einen solchen Zustand versetzen, indem er sagt, daß gerade sie Leute sind, denen Leid bevorsteht, denn schon andere, größere als sie, hätten Leid erfahren; ferner soll der Redner die Zuhörer darauf hinweisen, daß Menschen, die ihnen ähnlich sind, zur Zeit leiden oder schon gelitten haben, und zwar von Leuten, von denen sie es nicht vermutet, ein Unglück, das sie nicht vermutet, und zu einem Zeitpunkt, an dem sie es nicht vermutet hätten. (92)

Wesentlich für die Furchterzeugung ist der Überraschungseffekt, das plötzliche Eintreffen der angedrohten Unglücksfälle. Aristoteles nennt als Auslöser eine Person, die den Mitmenschen unangefochten Gewalt anzutun vermag. In den theologischen Erdbebenabhandlungen hingegen konstituiert die alttestamentarische Vorstellung des zornigen Gottes, der jederzeit die Welt aus den Angeln heben kann, einen schier inkommensurablen Gegenstand der Furcht. Als Beleg für das kontinuierliche Einwirken Gottes auf das Weltgeschehen werden den Abhandlungen Historien bzw. Register beigefügt, welche die überlieferten Erdbebenkatastrophen anführen. Die mit Kalamitäten durchzogenen Unglückschroniken fungieren als weiteres Abschreckungsmittel gegen die unbußfertigen Übeltäter und als Ermahnung zur frommen Umkehr. Zu den wegweisenden Texten gehört das im Jahre 1557 veröffentlichte Werk Prodigiorum ac ostentorum chronicon des Polyhistors und Enzyklopädisten Conrad Lycosthenes (eigentlich Wolffhart), der in Basel Dialektik und Grammatik unterrichtete. Das im Erscheinungsjahr ins Frühneuhochdeutsche übersetze Prodigienbuch beinhaltet eine chronologische Zusammenstellung der Wunderzeichen vom Beginn der Zeitrechnung bis zur damaligen Gegenwart. Über die Erdbeben schreibt Lycosthenes folgendes in der Vorrede zum Wunderwerck: Vom Erdbidmen moecht man auch der gleichen reden/ do der eingschlossen vnd inn der erden klüfften behaembt dunst/ vßgang suochet/ vnd dardurch baebet/ wo das gestirn vnder Juppiters vnd Saturni nammen bezeichnet/ die selbigen taempff fast an sich ziehend. Aber zuo der zeyt des leydens Christi/ hatt es der vrsachen nitt gehapt/ ist allein ein wharnung zeychen gewesen/ der grossen vnwürfe Gottes vor gangen/ vnd ein wichtige anmhanung dem groben vndanckbarn volck. (unpag.)

Die Passage verdeutlicht wiederum die schwankende Deutung zwischen Naturbegebenheit und Zornzeichen Gottes. Eine derartige Differenzierung findet bezeich-

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nenderweise im Textkorpus nicht statt. Die aus den Geschichtsquellen zusammengestellten Erdbebenereignisse vermengen sich willkürlich mit den wundersamen Erscheinungen von Blutregen, Himmelskreuzen und Mischwesen. Während der zwanzigjährigen Entstehungszeit des Wunderwercks hat Lycosthenes die Werke namhafter Gelehrter frequentiert, zu denen sowohl die Reformatoren Martin Luther und Philipp Melanchthon (1497–1560) wie auch Theophrastus Paracelsus (1493–1541) gehören. Aufgeschreckt durch ein Beben, das am 10. Oktober 1531 in St. Gallen die Häuser zum Erzittern brachte, hat der Arzt und Mystiker die Kurzschrift »Uslegung der Erdbidem, beschehen nach usgang des Cometens in den Alpischen birgen im M.D. xxxi« verfasst, in der er zur Deutung außergewöhnlicher Naturphänomene Stellung nimmt. Wie Lycosthenes unterscheidet Paracelsus zwischen einer profanen und einer theologischen Auslegung, wobei er letzterer sich klar verschreibt. Erdbeben gehören neben den Kriegen, Seuchen und Hungersnöte zu den im Neuen Testament verkündeten Anfängen der Wehen bzw. der Endzeit. Freilich vermöge die »fantasie« ein Ding als natürlich aufzufassen und zu beurteilen, was aber nicht bedeutet, dass es wirklich auch so beschaffen sei (398). Gleichermaßen könnte man Christus rein als Menschen betrachten und über seine »complexion« schreiben, was aber aufgrund seiner Göttlichkeit nicht statthaft wäre. Lapidar konstatiert Paracelsus, dasjenige »was natürlich bschehen mag, ist kein weisagung der zit.« Wenn Mond und Sonne in ihrem natürlichen Lauf bleiben, so komme es zu keiner Pestilenz und Teuerung. Statt in der »gewalt der natur« befinde sich der Schlüssel zu den Weissagungen Christi im »text« des Evangeliums. Wann immer die Wunderzeichen auftreten, so gedenke man, dass nicht »unser redlichkeit« daran schuld sei, sondern »eins verfurten elenden lebens«, welches »die sel und nit die natur antrift« (399). In diesem moraltheologisch geprägten Weltbild trägt alleine der sündhafte Mensch die Verantwortung an den erlittenen Kalamitäten. Die systematische Verknüpfung örtlich verspürter Erderschütterungen mit schwerwiegenden Umwälzungen aus aller Welt vermittelt den Eindruck einer ständigen Bedrohung, vor der sich die Gläubigen in steter Bereitschaft zu halten haben. Worauf sich das bedrängte Subjekt einzig verlassen kann, ist das Heilsversprechen des ewigen Lebens in der neuen Welt, deren Gerüst das existierende, korrumpierte Weltgefüge bildet. Als Konsequenz ist der größte Übeltäter in den straftheologischen Erdbebenabhandlungen der verstockte Mensch, der sich nicht vor den Zornzeichen Gottes fürchtet. Eine derartige Disposition zeugt von Hochmut und, in Bezug auf die Lebenspraxis, von mangelnder Autoritätshörigkeit. Um das verhaltensregulierende Prinzip der Gottesfurcht zu konsolidieren, polemisieren die Geistlichen gegen die materialistische Naturbetrachtung und die stoische Relativierung der Todesfurcht. Nachdem Wien am 15. September 1590 von einem der stärksten Beben Mittel­ europas erschüttert wurde, warnte der Bischoff Johann Caspar Neubeck (1545– 1594) die im beschädigten Stephansdom versammelte Kirchgemeinde vor der hoch-

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schädlichen Blindheit der Herzen. Die Christen, »die solcher heimbsuchung Gottes nit achten/ deß Erdtbidems halben kein forcht oder entsetzung haben« setzt er mit den unvernünftigen Tieren gleich, die unbekümmert ihren Begierden nachgehen (33). Den Einwand, die Erdbeben seien natürlich und deswegen weniger zu fürchten, kontert Neubeck mit dem dogmatischen Einwand, dass obschon diese »von der Natur operiert« und »Natürliche vrsachen« haben, »das dannoch der Allmechtig Gott/ durch solche Werck die böse Welt offtermalen gestrafft/ vnd seind solche Natürliche Mittel/ eben die Instrument, vnd Werckzeug Gottes/ mit welchen er seinen Zorn demonstriert […]« (40). Der Bischoff verwirft die Lehrtradition der antiken Naturphilosophen nicht vorweg, jedoch unterbindet er jegliche Intention der Schreckensverminderung, da sie unweigerlich zu einer Schmälerung der Gottesfurcht führen würde. Dies zeigt sich, wenn er das Kernargument aus Senecas Quaestiones Naturales paraphrasiert: [D]as beste Remedium vnd Hilffmittel/ wider die schrecken vnd forcht der Erdtbidem sein/ das einer den Tod verachte/ die forcht der Erdtbidem sein/ das einer den Todt verachte/ die forcht vnd schrecken deß Todts von sinn vnd gedancken vnd auß dem Hertzen schlahe/ ein solcher/ der den Todt veracht/ werde nit allein/ ohne scheuch vnd schrecken sehen/ wann sich die Erdt erzittert vnd erschüttet/ sonder wann auch sein Hauß vnd Hoff versuncken/ vnd von den Erdtklüfften verschlickt/ Ja wann gleich die gantz Welt vndergieng. (48)

Auch wenn sich diese Philosophie »schön/ scharpff vnd starck« anhöre, so laufe der Mensch Gefahr, aufgrund seiner Furchtlosigkeit nicht den natürlichen, sondern den geistigen Tod zu missachten (47). Ihm drohe gerade dies, wenn er plötzlich in der Ungnade Gottes ums Leben komme. Selbst wenn der natürliche Tod nicht ängstige, so resümiert Neubeck, müsse man dennoch der Weisung des 128. Psalms folgend »den HERREN fürchten/ vnd in seinen wegen wandlen« (48). Die Angst vor der körperlichen Auflösung wird insoweit mit derjenigen vor der ewigen Verdammnis substituiert. Wie der französische Historiker Jean Delumeau aufgezeigt hat, war »in den Augen der Kirche Schmerzen und die (vorläufige) Zerstörung des Körpers weniger furchtbar […] als die Sünde und das Fegefeuer.« Dem Tod ist der Mensch restlos ausgeliefert, doch der Gottesglaube verspricht ihm eine Errettung vor dem Seelentod: »Von diesem an ersetzte eine – theologische – Angst eine andere, die älter, tiefsitzender und spontaner war« (45). Anders als Bischoff Neubeck rechtfertigt der Zürcher Professor der Theologie und Kirchengeschichte Johannes Müller (1629–1684) die semantische Kodierung der Erdbeben als furchterregende Zornzeichen nicht mittels einschlägiger Bibelsentenzen. In seiner Predigt, am 4. September 1661 anlässlich der im vorangegangenen Frühjahr verspürten Beben gehalten, nehmen vielmehr »landtliche« Gleichnisse aus der Erfahrungswelt der Zuhörerschaft eine Vorrangstellung ein (101). Mit einem Sei-

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tenhieb gegen »etliche der blinden Heiden« negiert der Kirchendiener die archaische Lehrmeinung, dass die Erde wie ein Schiff auf Wellen hin und her getrieben und erschüttert werde (100). Trotzdem lässt er die seismologischen Theorien des nicht namentlich erwähnten Aristoteles gelten, um über die natürlichen Erdbebenursachen zu referieren. Auf die naturphilosophischen Erklärungen folgt die rhetorische Frage, warum man »die Menschen also erschrecken« wolle, wenn derartige Extremereignisse »nach der Natur« geschehen. Müller gibt den »Einfältigen« zu verstehen, dass »natürlich seyn« und »ein Schreck=gebott seyn« sich nicht gegenseitig ausschließen (101). Folgende Überlegungen, die bei weiteren evangelisch-orthodoxen Geistlichen auf großen Widerhall gestoßen sind, verschaffen einen Einblick, inwiefern in der Frühen Neuzeit über die gesellschaftliche Konditionierung der Wahrnehmung von Krisensituationen reflektiert wurde.24 Gewisse Sinneseindrücke rufen im Menschen bestimmte habitualisierte Affekte und Handlungsweisen hervor: Wann bey uns etwan nach Mittag in dem Münster gezogen vnd getretten wird die Blutglock/ daß der Kahl an beyden seiten anschlägt/ was könt dann natürlicher seyn/ als daß die Glock von sich gebe einen Thon/ vnd macht ein Geläute; Wolte dann darumb/ daß es natürlich ist/ der arme Sünder in der Gefangenschafft nicht erschrecken/ solte die Burgerschafft darbey nicht abnehmen/ es geschehe auß sonderbarem Befehl der Obrigkeit/ die willens sey/ einen Vbelthäter nach verdienen zu straffen. Wann der Wächter auff dem Thurm das Feurhorn nimbt/ setzt es an den Mund vnd bläset/ so ist nichts natürlichers/ als daß es gebe einen Thon/ solte man deßwegen darob nicht erschrecken/ sondern gedencken/ es ist natürlich/ es deutet nichts böses. Noch deutlicher: Wann du an einem Morgen gehest vor eines schlaffenden Kammer/ schlägst mit der Faust an die Thür/ so ist es natürlich/ daß die Thür erzittere/ daß es klopffe vnd thöne. Wäre aber das nicht ein Spottvogel oder ein Mensch verruckter Sinnen/ der in dem Bett gedencken wolte/ das geschicht natürlich/ es ist nicht/ daß man mich auffwecken wolle. (101 f.)

Die Passage beinhaltet metaphorische Bezüge, die in den moraltheologischen Unglücksschilderungen vorherrschen. Das durch die Beben bewirkte Ertönen der Kirch- und Feuerglocken wird als ominöse Warnung vor der kommenden Apokalypse gedeutet. Entsprechend ermahnt Gottes widerhallendes Anklopfen an die Erde die unachtsamen Sünder zur demütigen Bußfertigkeit. Müllers Beispielreihe unterbreitet ideologisierend die Direktive, dass der gemeine Mensch sich den von der Obrigkeit sanktionierten Verhaltensregeln zu unterziehen hat. Als gesellschaftsübergreifendes Druckmittel figuriert dazu die Furcht. Dass die Erdbeben von ihrer Zeichenhaftigkeit entbunden werden könnten, ist für ihn schlicht widersinnig. 24  Dieselben

metaphorischen Vergleiche wurden von den Geistlichen Hans Jakob Gessner (41 f.) und Jakob Ziegler (6) angeführt.

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Apodiktisch gehören sie zum Instrumentarium des allmächtigen Gottes, der »sein Blut=glock, sein Feur=horn/ sein Anklopffen« einsetzt, um »die Menschen zu wecken vnd zu schrecken.« Wären derartige Umwälzungen Teil des regulären Naturhaushalts, dann würden die »Dünst und Dämpff ein und alle Jahr Erdbidem verursachen/ wie sie ein und alle Jahr verursachen Reiffen vnd Nebel/ Schnee vnd Regen/ Wind/ Donner/ vnd anders dergleichen« (102). Enthoben vom profanen Erfahrungsbereich affirmiert das Wanken des vermeintlich beständigen Erdreichs die souveräne Majestät und Herrlichkeit Gottes. Die aufgeheizte Gottesfurcht beförderte den Umstand, dass selbst schwache Erderschütterungen mit größter Besorgnis aufgefasst wurden. Eine Vielzahl der im deutschsprachigen Raum erschienenen Erdbebenabhandlungen und -predigten reagierten nicht auf Großkatastrophen, die mit scheinbarer Regelmäßigkeit in der Peripherie südländischer Gefilde auftraten, sondern auf örtlich verspürte Beben, die kaum größere Schäden anrichteten. Um 1650 gab es in der Eidgenossenschaft eine Reihe von Erdbewegungen zu beklagen, was Gelehrte wie den Schaffhauser Arzt Johann Burgauer und den bereits oben erwähnten Basler Pfarrer Theodor Zwinger veranlasste, längere Bußschriften über das drohende Gottesgericht zu verfassen. Über Jahrzehnte blieb die Erdbebenserie in Erinnerung, da sie als Vorbote zum Schweizer Bauernkrieg von 1653 gedeutet wurde. Sowohl die rhetorische Dras­ tik als auch der voluminöse Umfang der Abhandlungen stehen in einem Missverhältnis zum begrenzten Ausmaß der Erderschütterungen. Burgauer gibt an, wie durch Gottes plötzlichen »zufahl« die Erde am 8. September 1651 »grausam vnd schröcklich« erzitterte und dass in Schaffhausen Kamine auf die Gassen und Nachbardächer prasselten (8). Um die Bedrohungswahrnehmung derartiger Zufälle zu maximieren, konterkariert er jeglichen Deutungsversuch, der den Erdbeben etwas Wohlwollendes attestieren wollte. Chronisten führten historische Belege an, in denen berichtet wurde, dass nach den Umwälzungen reiche Ernten folgten (208). Dem Apostel Paulus und seinem Begleiter Silas ermöglichte ein Beben die Flucht aus dem Gefängnis (206). Die Bonisierung des physischen Übels, die maßgeblich in den Schriften der Physikotheologen im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert vorangetrieben wurde, lässt sich mit der straftheologischen Gesinnung des Schaffhauser Arztes nicht vereinbaren. Sämtliche für den Menschen vorteilhaften Wirkungen der Beben seien als rein zufällig zu betrachten: Ist dann nun das die vrsach der fruchtbarkeit vnd wolfeile/ alsdann sein diese ort so heiter erwisen/ so folget/ daß wann auff einen Erdbibem dieselbige erfolget/ es nit eigentlich vnd für sich selber/ sonder per accidens, wie die Dialectici reden/ das ist/ durch ein zufahl geschehe/ vnd derowegen ein eitele Consequentz seye/ daß/ weil auff obgenannte Erdbibem für ein vrsach solicher guten Jahren zuhalten seigind. (217)

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Die Alltagserfahrungen zeigen vielmehr auf, dass die wirklichen Folgen Teuerungen und Hungersnöte seien. Entgegengesetzte Einwände, die den Nutzen der Erdbeben herausstreichen, würden das Übel der inneren Verstocktheit befördern: »was kan aber dem menschen schädlichers jemahl begegnen« (215). Ähnlich wie bei Paracelsus lässt sich Burgauers Sinndeutung ausschließlich von der Heiligen Schrift leiten, die autoritativ verkündet, »Gott der Herr [stellet] den menschen seinen zorn für augen/ in Erdbidmen« (221). Akribisch hat der Schaffhauser Arzt aus Geschichtsbüchern ein Schreckensregister von zehn verschiedenen »Plagen vnd vnfähl« zusammengestellt, welche die Menschheit unmittelbar nach den Erderschütterungen heimsuchten (223). Bedeutend ist, dass er im Abschnitt über die kläglichen »Leibschaden/ vnd verderben der Menschen« eigens angefertigte Übersetzungen der Berichte von Cassius Dio (um 155–235 n. Chr.) und Ammianus Marcellinus einfügte (vgl. 273–278). Daraus erschließt sich der Bekanntheitsgrad der römischen Historiker, die mit ihren sachlich-ergreifenden Unglücksschilderungen über Jahrhunderte einen präskriptiven Einfluss auf den Erdbebendiskurs ausübten. Theodor Zwinger hielt seine Bußpredigt »Von dem Erdbidem/ als einem grossen gewaltigen Werck vnd Zorn-zeichen Gottes des Allerhöchsten« am 15. September 1650, vier Tage nachdem Erdstöße die Stadt Basel erschüttert hatten. Die höchsten Türme gerieten ins Wanken, Glocken schlugen an, Ziegel und Kamine rutschten von den Dächern. Verletzte gab es keine zu beklagen. Trotz der geringen Schadenswirkung löste der Zwischenfall einen großen Schrecken aus. Erinnerungen an das Beben vom 8. Oktober 1356, das einen Großteil der Stadt mitsamt dem Münster zu Fall gebracht hatte, wurden wach gerüttelt. Gemäß dem calvinistischen Gelehrten Bartholomäus Keckermann (1572–1609) existiere neben Konstantinopel keine seismisch aktivere Ortschaft in Europa als Basel (vgl. Terra Tremens unpag.). Grund dazu sei die Nähe des Rheins und die warmen Wasserquellen bei Baden, die von einem unterirdischen Feuer zeugen. Angesichts des allseits bekannten Gefahrenpotentials nutzt Zwinger die Gunst der Stunde, verbal gegen die Glaubensfeinde anzukämpfen. Vehement verurteilt er jegliche materialistische Ausführung, die die seismischen Umwälzungen als rein immanente Naturphänomene behandelt. Den Befürwortern einer derartigen Sichtweise gehört einerseits Seneca an, der in Naturales quaestiones die Gottesfurcht abstritt: »Der beste Trost soll dem Menschen seyn wider alle forcht der gefahren/ daß keine von Gott komme/ vnd daß weder der Himmel/ noch die Erde durch Gottes zorn beweget werden.« Verärgert resümiert der Theologe, dass es kein Wunder sei, wenn »vber solchen worten das Erdrich in seinem Zorn erbebete!« (16). Insoweit mutet seine Verdammung ironisch an, zumal der Stoiker mit seiner Veranschaulichung des Erdbebens als schlimmstmöglichstes Unglück den Religionswächtern eine oft paraphrasierte Schreckensdarstellung bereitstellte. Zum anderen richtet sich Zwingers Argwohn gegen die »gottlose[n] Atheisten«, die die göttliche Providenz als eine »Fabul« bezeichnen und »alles der

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blinden Fortun/ oder dem Glück und Unglück« überlassen wollen (36). Solche Menschen geraten unweigerlich in ein »Epicureisches Leben«, würden allerlei »sünden vnd lasteren« nachhängen und sich über ihre Unbußfertigkeit und die daraus provozierten Gottesstrafen keine Gedanken machen (36 f.). Weiterer Kritikpunkt sind die von den Naturkundigen vorgeschlagenen Schutzmaßnahmen. Anders als der italienische Humanist Filippo Beroaldo lässt Zwinger Plinius’ Anweisungen für erdbebensicheres Bauen nicht gelten, weil schlichtweg nichts der unaufhaltbaren Zerstörungswucht Gottes widerstehen könne (51). In den moraltheologischen Erdbebenbetrachtungen und -predigten des 16. und 17. Jahrhunderts lässt sich eine ausgeprägte Krisenstimmung ausmachen. Oder andersherum formuliert: die geistlichen Obrigkeiten fabrizieren bzw. instrumentalisieren die Krise, um die von ihnen beschworene Gottesfurcht aufrecht zu erhalten. Zwinger verweist mit den in den Jahren 1628 bis 1630 erlittenen Pestepidemien, der großen Hungersnot von 1634 und den zahllosen Gräueln des Dreißigjährigen Krieges auf die allgegenwärtige Verwundbarkeit des menschlichen Daseins. Bezeichnenderweise befürchtet er mit der angebrochenen Friedenszeit, dass die Leute sich einer liederlichen Lebensführung hingeben: Nunmehr habe es mit uns keine noht mehr/ wir seyen schon vber den Graben/ man habe sich keiner gefahr mehr zu besorgen. Fahren deßwegen fort in ihrem gott­losen/ lasterhafften vnd unbüßfertigen wandel/ grad/ alß wann sie einen bund mit dem Tode/ vnd einen verstand mit der Höllen gemacht hetten/ wie dorten bey dem Propheten geklagt wird. (48)

Die Kodifizierung der Erdbeben zu unheilschwangeren Warnzeichen führt dazu, dass räumlich und zeitlich disparat auftretende Ereignisse miteinander verknüpft werden. Burgauer bringt in seiner Schrift die am 10. April 1572 in Schaffhausen registrierte Erderschütterung mit der Bartholomäusnacht im gleichen Jahr »die grausamme vnmenschliche/ vnerhörte vnd Kaynische würgerey in Frankreich«, und dem im darauffolgenden November erschienenen »Wunderstern« als Vorboten der Endzeit in Verbindung (416). Bei Burgauers Vater, der von Philipp Melanchthon im Gebiet der Astronomie unterrichtet wurde, stieß die von Tycho Brahe (1546–1601) beobachtete Supernova auf großes Interesse und verleitete den ebenfalls praktizierenden Arzt eine Schrift über die neue »Creatur Gottes« zu verfassen (417 f.). Die temporale Nähe wundersamer und verheerender Begebenheiten trägt grundlegend zu einer größeren Sensibilisierung in der Wahrnehmung seismischer Vorkommnisse bei. In Paracelsus’ Deutung des St. Galler Erdbebens spielte der Ausbruch des Zweiten Kappelerkrieges am 9. Oktober 1531 eine entscheidende Rolle. Einen Tag nach dem Beben, am 11. Oktober, kam der Zürcher Reformator Ulrich Zwingli (1484–1531) bei den Kämpfen ums Leben. Weiterhin hat die Forschungsliteratur auf das Lissabonner Erdbeben vom 26. Januar 1531 und die Explosion des Pulver-

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hauses in St. Gallen am Morgen des 10. Oktobers verwiesen (vgl. Schwarz-Zanetti 147). Eine derartige Ballung von Unglücksereignissen bekräftigt und affirmiert die moraltheologische Katastrophendeutung. Die akribische Katalogisierung der Verheerungen, die ebenfalls in den Erdbebenschriften von Ragor und Bapst bestimmend ist, kann aus mentalitätsgeschichtlicher Sicht als Reaktion auf die klimatisch bedingte »Krisenzeit von 1570« gewertet werden. Unverkennbar lässt sich in den Abhandlungen die Häufung der mittlerweile von Klimatologen und Historikern rekonstruierten Ernte­ausfälle, Teuerungen und Pestepidemien nachzeichnen. Eingeflochten in den escha­tologischen Geschichtsverlauf, werden die sporadisch auftretenden seismischen Vorfälle Teil eines transzendentalen Ordnungssystems.25 Dadurch schmälert sich ihr Angstdruck jedoch nicht. Vielmehr nehmen die örtlich verspürten Beben eine universale Bedeutung an, die an die existentielle Vergänglichkeit des gegenwärtigen Seins gemahnt. Die Singularität des von den Erdbeben entfachten Schreckens wird nicht nur in den theologischen Schriften, sondern auch in den zeitgleich entstandenen Augenzeugenberichten stets thematisiert.

5. Narrative Konventionalität in der Darstellung des singulären Schreckens: Erdbeben in den frühneuzeitlichen Augenzeugenberichten Gerrit Jasper Schenk übersetzte in seinem Beitrag zum Erdbeben von Neapel 1456 einen Brief Bindo Bindis an die Stadtväter Sienas, worin er seine Eindrücke des am 5. Dezember hereingebrochenen Desasters für die Nachwelt festhielt. Der Botschafter am Hof des Königs widmete ein besonderes Augenmerk auf die aufgebrachte Menge, die um 3 Uhr nachts von einem starken Erdstoß unsanft geweckt wurde: Zu jener Stunde wurde das ganze Volk aus dem Schlaff gerissen. Oh meine Herren, wer nicht die heftigen Schreie erlebt hat, das tränenreiche Heulen, die großen Klagen und Rufe der Männer, Frauen und Kinder, die nachts aus den Häusern rannten, nackt, ihre Kinder geschultert, um das Leben zu retten, noch ohne von ihren getöteten Brüdern, Schwestern und Schwägern zu wissen, für den ist es schier unmöglich, dieses mit der Feder zu beschreiben oder mit der Zunge zu erzählen. Es schien in diesem Moment wirklich, als sei der Himmel offen, um die bittersten, härtesten und tränenreichsten Klagen zu hören, als sich alle Gott empfahlen […] es war zum Gotterbarmen, Priester, Ordensbrüder, Frauen, Jungen und Mädchen jeden Alters 25 

Vgl. wegweisend dazu Wolfgang Behringers Studie »Die Krise von 1570. Ein Beitrag zur Krisengeschichte der Neuzeit«, in der die ungünstige Witterung und die daraus folgenden Missernten und Hungersnöte in den Jahren 1569–1574 besprochen wird (77–101). Ergänzend dazu hat Rüdiger Glaser die extremen Wetterverhältnisse Mitteleuropas in den Jahren 1569–1573 detailliert rekonstruiert (119–121).

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zu sehen, wie sie mit fortschreitendem Tag orientierungslos in hellen Scharen, laut ›Erbarmen, Erbarmen!‹ rufend, durch die ganze Stadt liefen, wirklich wie Schäfchen ohne den Hirten, verletzt von Wölfen; so heftig waren die Schreie, dass die Steine zu weinen schienen […]. (67 f.)

Der betroffene Augenzeuge beabsichtigt mit seinem Bericht, die Schreckenseindrücke und den Verlauf des Unglücks unmittelbar und wahrheitsgemäß zu vermitteln. Ein Vergleich mit weiteren Erdbebenschilderungen aus der Frühen Neuzeit zeigt auf, dass die Berichterstatter immer wieder auf bestimmte rhetorische Muster und stilisierte Bilder zurückgreifen, die sich ungeachtet der raumzeitlichen Umstände stets wiederholen. Dies ist besonders in Texten augenfällig, die aus dem italienischen Sprachraum stammen. Die scheinbar subjektiven Wahrnehmungen der Extremereignisse verlaufen gemäß überlieferten narrativen Schemata.

a)  Erdbebenberichte aus dem 16. Jahrhundert im Lichte antiker Quellen Am 13. Juni 1542 wurde ein Reisender zusammen mit seinen zwei Mitgefährten in Scarperia, einer Ortschaft bei Florenz, von einem Erdbeben überrascht. Nachdem er sich aus dem einstürzenden Wirtshaus gerettet hatte, wurde er Zeuge von der aufgebrachten Masse, die Misericordia schreiend aus der Trümmerstätte flüchtete: Ach Gott was jammer und geschrey was da/ von Mann vnnd schwangeren/ vnd anderen weybern. Vil volcks ist hynder holtz vnd stein gelegen/ den man vor forcht nit hatt helffen können/ man ihn syder geholffen sein worden/ wayß ich noch nicht/ Ich kan euch von straff vnnd warnung Gottes nicht genug schreyben/ vnnd anzeygen. Weytter haben sich nachmals erhebt jnn derselben stundt/ sechs Erdtbidem nach einander/ Die waren so grausam wann sie anhuben/ Das sich das erdrich mit zittern so beweget/ nit anderst als wölt sich das Erdreich auffthun/ vnnd vnns alle verschlücken. Es war auch so gar kein lufft/ Das sich doch nicht ein bletlein an einem baum gerürt hett/ so gar winddt still war es ob dem Erdreych. Der Hymmel was so schwartz vnnd so grausam/ das ich/ meins theyls/ all augenblick des fewrs vom Hymel wartet. Vnnd in Summa alle ding/ sind hefftiger vnnd grausamer/ weder ich euch sollichs schreyben vnnd anzeygen kan. (unpag.)

Angesichts der widerfahrenen Schrecknisse drückt der Augenzeuge wiederholt seine Sprachlosigkeit aus: ein rhetorisches Stilmittel, das sich ausnahmslos in den Unglücksberichten der Frühen Neuzeit durchzieht, um die nicht quantifizierbare Ungeheuerlichkeit des hereingebrochenen Unglücks anzudeuten. Das Schweigen drückt sozusagen das Zuviel in der Wahrnehmung aus und verweist auf den von der Katastrophe herbeigeführten Bruch in der Alltagsroutine. Wiederholt wird die

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verspürte Sprachlähmung an stereotype Schilderungen der in Aufruhr gebrachten Menschenmasse gekoppelt. Die obige Wiedergabe der erblickten Kalamitäten vereinbart eine geballte Reihe von heterogenen Bezügen. Zum einen gehört die Metapher der alles verschlingenden Erde zum Standardrepertoire der Erdbebenberichte. Ihre präskriptive Formulierung ist in Senecas Naturales Quaestiones aufzufinden: [Das Übel] verschlingt ja nicht nur Häuser oder Familien oder einzelne Städte, nein, es reißt ganze Völker und Regionen in die Tiefe und begräbt sie bald unter Schutt, bald versenkt es sie in einen tiefen Schlund und läßt nicht einmal eine Spur übrig, an der man sehen kann, daß hier, was nicht mehr da ist, wenigstens da war. (326 f.)

Mit der detaillierten Beobachtung der fehlenden Luftbewegung beruft sich der Reisende anderseits auf Aristoteles, der in der Meteorologie postulierte, dass »die meisten und heftigsten Erdbeben bei Windstille« auftreten (65). Des Weiteren handelt es sich bei der Himmelsfinsternis um ein Zeichen der kommenden Apokalypse, wie sie exemplarisch im Markusevangelium verkündet wird: »Aber in jenen Tagen, nach der großen Not, wird sich die Sonne verfinstern, und der Mond wird nicht mehr scheinen; die Sterne werden vom Himmel fallen und die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden« (Mark. 13.24). Überschneidende Darstellungsmuster sind im Brief eines Obersten enthalten, der mit seinem Heereszug am 6. Juni 1564 in der erschütterten Hafenstadt Cattaro (heute Kotor in Montenegro) eintraf: Da bin ich gantz und gar erstummet/ als ich gesehen die unglaubliche zerstörung der Stat Cattaro/ vnd vmbligender Flecken/ mit sampt dem Niderfal und zerrüttung der Bergen. Vnd als bald ich angeschifft sind mir allederselben Stat/ Edel vnnd Vnedel entgegen geloffen/ vnd mit grosem weinen vnd heulen den laidigen fähl angezeiget/ auch auff ihre Knye nidergefallen vnd mit solchem Eyfer/ hilff vnd Rath begeret/ das es hette mögen ein Stein erbarmen. […] Man hört nichts anders in der Stat dann heulen vnd weinen/ Die Eltern vmb die Kinder/ vnd die Kinder vmb ire Eltern. Es ist ein erbärmlich ding solches zu hören vnd zu sehen/ die verderbte Stat in welcher mehr dann der drittheil Heuser zu grund gangen ist/ vnd ein grosser theil dermassen erschittert vnd bewegt/ das sie sonst bald fallen werden. (unpag.)

Die anfangs weitumspannte Sicht auf die angetroffenen Verheerungen verkürzt sich auf das Spektakel der herbeieilenden Stadtbewohner. Ihre Panik äußert sich maßgeblich in lautem Wehklagen und ritualisierten Demutsgebärden. Der akute Zusammenbruch der Gesellschaftsordnung wird durch zwei im Katastrophendiskurs verankerte Topoi – die Nivellierung der Ständeordnung und das Auseinanderbrechen der Familienbande – signalisiert. Abschließend kommt es zu einer erneuten Erweiterung des Sichtrahmens, wenn der Oberst die Unglücksszenerie innerhalb der immensen Trümmerstätte der zusammengestürzten Wohnbauten situiert. Sein

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unaussprechliches Schockerlebnis umschreibt er anhand der blitzlichtartigen Aneinanderreihung visueller und akustischer Eindrücke. Eine weitere Variante der sich verschiebenden Fokusierung eröffnet sich in einem am 17. August 1564 angefertigten Sendbrief, dessen deutschsprachige Fassung als Pamphlet in Nürnberg erschien. Der Italiener Frantzesco Mogiol bekundet darin die Singularität des Erdbebendesasters, das am 20. Juli 1564 die in den Seealpen gelegene Ortschaft Sacrena und die umliegenden Gebiete verwüstete. Zu den ersten eingestürzten Gebäuden gehörte eine baufällige Kirche, deren Trümmer die schutzsuchenden Menschen unter sich begruben. Zwei Berge, auf denen eine Stadt lag, barsten gänzlich in Bruchstücke. Ein anderer sehr großer Berg brach auseinander und aus dessen Kluft schossen »gleich wie der berck ETNA« Flammen weit in den Himmel, »darob auch ein ygliches groß hertz Erschrecken mag.« Selbst das Mittelmeer geriet so stark in Bewegung, dass noch nie gesehene Fischarten in Erscheinung traten. Als Novum in der Seismologie gilt der im oberen Bereich des Druckblatts eingefügte kolorierte Holzschnitt, der die einzelnen Verheerungen exakt abbildet (vgl. Guidoboni et al. Earthquakes, 195 f.). Die kartographische Vogelschausicht entspricht in toto der Absicht Mogiols, die »erschröcklichen« Begebenheiten zu einem umfassenden Schreckensbild zu verdichten. Nachdem Mogiol das Ausmaß der seismischen Umwälzungen behandelt hat, rückt er die Erzählperspektive auf die Ebene der Überlebenden und deren Leids­ erfahrung. Bezeichnenderweise ist es diesmal nicht der Berichterstatter, sondern die geflüchtete Völkerschar, die von der Sprachlähmung betroffen wird. Die um sich greifende Furcht vermag wie das sich ereignete Beben die traumatisierten Menschen hinwegzuraffen: Vnd das vbrige volck so in diesem betrübten Jamer und Elendt nit ist vmb komen/ seind vor grossem schrecken eins theylß in die gebirg vnd in die thal gelauffen sich zu Erretten/ Eyns theilß bekleidt vnd vnbekleidet/ vnd das volck in den ummligenden stetten vnd flecken/ haben die arme leuth bespracht vnd beklagt/ so haben sie sich anderst nit erzeygt/ Dan das sie in jhrer redt gar verstockt sein gewest/ vnd jhrer vernunfft Vnd verstands beraubt/ Auch anderst nit geantwort/ Als Jhesus SANCTA MARIA MISERICORDIA. dz ist in teutsch/ Jhesus junckfraw Maria Erbarme dich vnser etc. Vnd haben nit essen nach trincken wöllen/ Sondern sein lieber gestorben vor grosser forcht die sie gehabt haben/ vnd bey vil tage/ hat man groß jemerlich weeklagen/ Vnd seüfftzen der personen So in den hölen oder gruben verfallen sind gehört/ Das es zu Erbarmen ist. (unpag.)

Obschon Mogiol sein Entsetzen ausdrückt, verbleibt der Erzählerstandpunkt von den Kalamitäten entrückt. Ob sein Wohnsitz Nizza vom Beben erschüttert wurde oder ob er bei den aufgezeigten Verheerungen tatsächlich anwesend war, geht aus der Nachricht nicht hervor. Insoweit beinhaltet sie eine hyperbolische Ausarbeitung des

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paradigmatischen Darstellungsmotivs, dass Erdbeben wundersame topographische Veränderungen bewirken: ein seismologisches Phänomen, das Seneca zur Erklärung anspornte, warum die Erde »manchmal Feuer durch die vorher unbekannte Öffnungen eines Berges oder Felsens ausspeit, manchmal aber auch bekannte und durch Jahrhunderte berühmte Vulkane erlöschen läßt« (336 f.). Sie bringe, so äußerte sich der Stoiker emphatisch, tausend Wunder hervor, »gibt ganzen Landschaften ein neues Gesicht, trägt Berge ab, schiebt ebene Flächen hoch, hebt Talböden an und läßt neue Inseln aus der Meerestiefe steigen« (337). Im beigefügten Titel und Kommentar zu Mogiols Sendbrief wird das SeealpenErdbeben als unmissverständliches Straf- und Wunderzeichen des allmächtigen Gottes präsentiert. Bemerkenswert ist, dass trotz der überschwänglich geschilderten Kalamitäten jegliche religiöse Sinngebung im Bericht fehlt. Diese wurde erst nachträglich paratextuell aufgepfropft, um sicherzustellen, dass die Leserschaft den unerhörten Zwischenfall als warnende Maßregelung rezipiert. Die abschreckende Schilderung verängstigter und wegsterbender Menschenmassen fungiert als gesellschaftslenkendes Instrument, die Furcht vor weiteren Strafgerichten zu schüren. Augenzeugen und Berichterstatter gleichermaßen lenken den Blick auf inhaltlich überschneidende Szenerien des Grauens, die sich mit überkommenen Gestaltungselementen beliebig variieren lassen. Exemplarisch ist das Schreckensbild aus der »Waare[n] Zeytung« von dem »grossen vnnd grusammen Erdbidem«, das 1570 die norditalienische Renaissancestadt Ferrara heimgesucht hat: Derhalben yederman vermeint der tag deß letsten vnnd erschrockenlichen gerichts Gottes were vorhanden. Das geschrey hülens vnnd weinens ließ sich biß in den himmel hinuf/ doch von wägen deß ynfallens vnd brastelns der heüseren mocht man söliches nit allein nit hören/ sonder es verstuond niemands daß ander wie nach doch eins by dem anderen was. In sölichem jämmerlichen vnd erschrockenlichen handel sind vil schwangere frouwen jrer burt zuo frü genäsen/ vil ouch von dem gemür überfallen/ sind tod darunder vergraben bliben. (unpag.)

Die zum Himmel schreienden Katastrophenopfer vermischt mit dem ohrenbetäubenden Getöse der niederstürzenden Häuser sowie die Frühgeburten sind allesamt stereotype Topoi, die über Jahrhunderte in den Unglücksschilderungen ihre Verwendung finden. Im eigentlichen Sinne bezieht sich der Höhepunkt der Not nicht auf das sich vollziehende Erdbebendesaster, sondern, wie der einleitende Satz konjunktivisch aussagt, allegorisierend auf die Wehen der bevorstehenden Apokalypse. Strukturelle, inhaltliche und rhetorische Muster für die frühneuzeitlichen Erdbebenberichte lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen. Herausstechend sind die Aufzeichnungen der römischen Historiker Cassius Dio und Ammianus Marcellinus. Ersterer schilderte, wie Antiochia am 13. Dezember 115 n. Chr. während des

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Aufenthalts des Kaisers Trajans (53–117 n. Chr.) flächendeckend zerstört wurde.26 Das in seiner Zerstörungswucht als singulär eingestufte Desaster überraschte die Bewohner gänzlich: Es begann mit vielen Blitzen und ungewöhnlichen Windstößen; Niemand aber erwartete, daß so großes Unheil auf sie folgen würde. Zuerst ließ sich plötzlich ein großes Gedröhn der Erde vernehmen, worauf die heftigste Erschütterung der Erde folgte. Der ganze Boden sprang empor, empor die Häuser, die dann entweder zusammenstürzten und zertrümmert wurden, oder wie Schiffe auf dem Meere bald nach dieser, bald nach jener Seite schwankten und große Strecken freien Platzes mit ihren Trümmern überdeckten. Entsetzlich war das Krachen der Balken, Ziegel und Steine, welche zerbrachen und durcheinander stürzten; es erhob sich ein gräulicher Staub, so daß Einem Sehen, Sprechen und Hören verging. […] Die Zahl Derer, die in den Häusern ihren Tod fanden, geht ins Unendliche. Sehr viele wurden durch den Einsturz der Häuser erschlagen oder im Schutte erstickt. Am kläglichsten war das Schicksal Derer, die mit einem Theile ihres Körpers zerschmettert unter Steinen oder Balken lagen, und so weder länger leben noch auch sogleich sterben konnten. (1600)

Der beschriebene Ablauf der Umwälzungen verläuft gemäß einem paradigmatischen Schema. Schrittweise verkürzt sich das Blickfeld von der erschütterten Stadt hin zum Grauen der verschütteten Menschen. Visuelle und akustische Eindrücke wechseln sich in rascher Abfolge ab. Weitläufig wird auf das schreckliche Los der Überlebenden verwiesen. Markant ist dabei der Gebrauch der substantivischen Indefinitpronomen »die Einen« und »die Anderen«, um die verschiedenen Unglücksstadien aufzuzeigen: Bei alle dem kamen jedoch Viele, wie sich bei einer so großen Bevölkerung denken läßt, mit dem Leben davon, aber auch sie nicht alle ohne irgend eine Beschädigung. Viele hatten an den Beinen, Schultern, Andere am Kopfe Schaden genommen, noch Andere bekamen Bluterbrechen, unter ihnen auch der Consul Pedo, der gleich darauf sterben mußte. Kurz es gab keinen gewaltsamen Schmerz, den die Einwohner der Stadt nicht erleiden mußten. Da nach dem göttlichen Rathschlusse das Erd­ beben mehrere Tage und Nächte dauerte, so mußten sich die Leute nicht zu rathen, noch zu helfen. Die Einen wurden von den einstürzenden Gebäuden verschüttet oder erschlagen, die Anderen kamen vor Hunger um, wenn sie durch die Neigung der Balken in einen leeren Raum zu stehen kamen oder unter einer Art von Schwibbogen eingeschlossen waren. (1600 f.) 26 

Wie Gerhard Waldherr erläutert hat, handelt es sich beim überlieferten Erdbebenbericht nicht um einen dionischen Originaltext, sondern um »das Exzerpt des Xiphilinos«, [….] eines byzantinischen Autors des 11. Jahrhunderts« (202).

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Die Katastrophenopfer werden niemals namentlich genannt, außer wenn sich unter ihnen eine standesmäßig hochstehende Person befindet. Ein weiteres, für die Unglücksnachrichten charakteristisches Merkmal ist die Häufung anekdotischer Begebenheiten bei der Bergung der Verschütteten. Besonderes Augenmerk findet die wundersame Errettung von Kindern aus den Trümmern, die im christlichen Kontext als Zeichen des providenziellen Eingreifens gepriesen wird. Auffallend ist Dios Erwähnung der toten Mutter mit ihrem Kind an der Brust: ein Motiv, das in den Erdbebenberichten des 17. und 18. Jahrhunderts immer wieder vorkommt: Als das Erdbeben endlich aufgehört hatte, wagte sich einer der Stadtbewohner unter die Trümmer hinein und bemerkte eine noch lebende Frau. Diese aber war nicht allein, sondern hatte auch noch ein Kind, dem sie, so wie sich selbst, mit ihrer Milch das Leben gefristet hatte. Man grub sie heraus und rettete sie sammt dem Kinde. Man sucht nu[n] auch unter anderen Trümmern nach, fand aber außer einem Kinde, das noch an der Brust der todten Mutter sog, nichts Lebendiges mehr. Ueber dem Anblicke der nun hervorgezogenen Todten vergaß man die Freude über die eigene Rettung. Solches Unglück betraf damals Antiochia. Trajanus entfloh durch ein Fenster aus dem Hause, in dem er sich befand. (1601)27

Mit der Flucht des höchsten Gebieters zeigt der Text unmissverständlich auf, dass den Naturgewalten keine menschliche Macht gewachsen ist. Ein übermenschliches Wesen kommt dem bedrängten Kaiser zu Hilfe, der fern von allem Luxus dem weiteren Verlauf des Bebens ausgeliefert ist. Wie die gesellschaftliche Hierarchie wurde das bestehende Gefüge der Natur von oben nach unten gekehrt: Ein Mann von mehr als menschlicher Größe war zu ihm getreten und hatte ihn hinausgeleitet, so daß er nur mit geringen Beschädigungen davon kam. Als das Erd­ beben mehrere Tage andauerte, blieb er unter freiem Himmel auf der Rennbahn. Auch der Kasische Berg wurde durch das Erdbeben so erschüttert, daß seine Spitze sich neigte und borst, und auf die Stadt einzustürzen drohte. Auch andere Berge senkten sich. Es kam viel Wasser zum Vorscheine, wo früher keines war, und versiegte das, wo es vorher in großer Fülle floß. (1601 f.)

Ammianus inkorporierte in seinem Bericht über das Erdbeben von Nikomedia (heute İzmit) im Jahre 358 n. Chr. wesentliche Darstellungselemente, die für die nachfolgende Katastrophennarrativik einen kontinuierlichen Referenzcharakter

27  Ungeachtet

der typisierten Beschreibung der Katastrophenopfer hat Holger Sonnabend behauptet, Dio vermeide »die sonst bei ähnlichen Beschreibungen antiker Autoren üblichen, meist wenig aussagekräftigen Versatzstücke von den Leiden der Menschen« und sei demzufolge »in auffälliger Weise konkret und genau« (52). Die Aussage bezeugt die Resonanz, die Dios paradigmatische Erdbebenbeschreibung bis heute besitzt.

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hatten.28 In rascher Abfolge beschreibt er die einzelnen Stadien des Unglücksverlaufs. Nachdem der sonnige Morgenhimmel sich in eine bedrohliche Nachtschwärze verwandelt hat, wird die Küstenstadt durch die verheerende Gewalt der vier Naturelemente regelrecht aufgerieben. Auf das Getöse der einstürzenden Häuser folgt das Geschrei der aufgeschreckten Bewohner: Am vier und zwanzigsten August zogen sich bei Anbruch des Tages dichte, schwarze Wolken über den Himmel hin, und verwandelten den kurz vorher noch heitern Tag in finstere Nacht: kein Sonnenstrahl blickte durch, selbst das, was man ganz nah vor sich oder neben sich sah, schwand vor dem umnebelten Blicke dahin, und grauenvolle dicke Finsterniß brütete über der Erde. Die höchste Gottheit selbst schien tödtliche Blitze zu schleudern, und die Winde aus ihren Angeln zu heben, – und auf einmal erhob sich der Sturm mit mächtiger Wut, von seinen kräftigen Stößen heulten getroffene Berge, donnerte die am Gestade sich brechende Welle: dann folgten glühende Wirbelwinde, die mit schrecklichem Beben der Erde verbunden, Stadt und Vorstädte in einen Steinhaufen verwandelten. Weil die meisten Häuser am Abhange des Berges lagen, stürzte eins über das andere hin, und gaben, indem sie stürzten, einen fürchterlichen Widerhall. Dann erthönten Stimmen aller Art durch einander von den Spitzen der Berge herab, ängstlich rufend nach Gatten und Kinder[n], nach geliebten Verwandten und Freunden. (231 f.)

In charakteristischer Manier äußert sich die Panik der Menschenmasse im Auseinanderbrechen der gesellschaftlichen Bindungen. Ein Zeitsprung unterbricht die verdichtete Ereigniskette, woraufhin das zurückkehrende Tageslicht ein weitumspanntes Sichtfeld auf den Ort des Grauens ermöglicht: Nach zwei Stunden endlich, und etwas weniges darüber öffnete der entwölkte und heitere Horizont die traurigste Ansicht. Einige waren, von der Schwere über sie stürzender Häuser gepreßt, unter dieser Last sogleich erstickt: hier sah man einige, bis an den Hals verschüttet, die noch zu retten gewesen wären, hülflos sterben: dort hingen andere auf vorspringende spitzige Balken gespießt. So lag eine ganze Menge Menschen, den Augenblick vorher noch lebend, jetzt durch einander in ganzen Schichten von Leichen da. Bei einigen Häusern hatte sich nur der Giebel gesenkt, ihre Bewohner waren unbeschädigt geblieben, und starben vor Angst und Hunger. (232)

Anhand der rhetorischen Figur der Evidentia führt Ammianus dem Leser das blutrünstige Ausmaß des Desasters eidetisch vor Augen.29 Die vorgeführten Einzelein28  Waldherr

hat darauf hingewiesen, dass die »Exaktheit und Detailliertheit« von Ammia­ nus’ Erdbebenbeschreibung »in der römischen Literatur bis zu diesem Zeitpunkt nur wenig Parallelen« finden (210). 29  Basierend auf Quintilians (um 35–100 n. Chr.) Institutio Oratoria (um 95 n. Chr.) hat Heinrich Lausberg die rhetorische Figur der Evidentia präzise umrissen: »Die evidentia […]

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drücke gewinnen mit jedem weiteren deiktischen Verweis auf die verstümmelten Todesopfer an Intensivität. Bei diesem evozierten Schreckensbild handelt es sich um eine konzise Veranschaulichung des aus der Dramaturgie stammenden Katastrophenbegriffs: die plötzliche Wendung, Peripetie, im Leben unzähliger Menschen. Selbst jene, die unverletzt blieben, starben an den Folgen des Bebens. Wie bei Dio kommt es zu einer Hierarchisierung der Todesopfer, wenn ausschließlich ein ranghoher Amtsträger des Kaisers Konstantins (272–337 n. Chr.) namentlich erwähnt wird: Unter diesen war auch Aristänet, der als Vicestatthalter der vom Constantius neuerlich angelegten, und, zu Ehren seiner Gemahlin Eusobien, Pietas benannten Dioces angestellt war, und nach langer Qual auf die angeführte Art starb. (232)

Von den Toten wendet sich das Blickfeld zum traurigen Los der Verletzten, die unter den Trümmern verschmachteten. Mit dem Adverbialzusatz »noch jetzt« (im lateinischen Originaltext adhunc) rückt einerseits das Geschehnis in unmittelbare Nähe, anderseits zieht sich das Leiden der Verschütteten in eine unbestimmte Länge: Andere liegen noch jetzt, so wie die Lasten der Häuser über sie herfielen, unter den Ruinen begraben. Einige hatten eine Quetschung am Kopfe erhalten, oder ein Stück Schulter, oder ein Bein verloren, schwebten zwischen Todesfurcht und Lebenslust, ruften andere, die ein ähnliches Schicksal traf, zu Hilfe, und die Antwort war – Betheuerung der Unmöglichkeit. (232 f.)

Die allumfassende Ohnmacht der heimgesuchten Stadtbewohner bekräftigt Ammianus im Schlusssatz des Berichts. Was von dem Beben noch nicht zerstört wurde, fällt mitsamt den lebendig Begrabenen einem Flächenbrand zum Opfer. Dadurch ist der verhängnisvolle Ansturm der vier Naturelemente komplett: Der größere Theil der Tempel und Häuser und Menschen würde vielleicht noch immer zu retten gewesen seyn, wenn nicht plötzlich hervorbrechende Feuerflammen funfzig Tage und Nächte durch alles, was Feuer fängt, verzehrt hätten. (233)

Unmissverständlich weisen die Schilderungen der chaotischen Vorgänge eine formelhafte Struktur auf. Dieselbe Verschiebung des Sichtfeldes ist in den seismo­ logischen Berichten aus der Frühmoderne ersichtlich. Der Erzähler bzw. Augenzeuge nimmt eine privilegierte Position ein, die es ihm erlaubt, dem Ausnahmeereignis geist die lebhaft-detaillierte Schilderung eines rahmenmäßigen Gesamtgegenstandes […] durch Aufzählung (wirklicher oder in der Phantasie erfundener) sinnenfälliger Einzelheiten […]. Der Gesamtgegenstand hat in der evidentia kernhaft statischen Charakter, auch wenn er ein Vorgang […] ist: es handelt sich um die Beschreibung eines wenn auch in Einzelheiten bewegten, so doch durch den Rahmen einer (mehr oder minder lockerbaren) Gleichzeitigkeit zusammengehaltenen Bildes. Die den statischen Charakter des Gesamtgegenstandes bedingende Gleichzeitigkeit der Einzelheiten ist das Gleichzeitigkeitserlebnis des Augenzeugen: der Redner versetzt sich und sein Publikum in die Lage des Augenzeugen […]« (399 f.).

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mäß überlieferter Muster eine inhaltliche Kohärenz zu verleihen. Bereits bei den römischen Historikern eröffnet sich eine Diskrepanz zwischen dem vermeintlich Gesehenen und dem Beschriebenen. Der Fokus auf das menschliche Leid mittels stereotyper Topoi und rhetorischer Figuren gerät somit in Konflikt mit dem Wahrheitsanspruch des Bezeugten. Was der Erzähler vermittelt, bezieht sich nicht bloß auf das erfahrene Unglück selbst, sondern beinhaltet auch die in den Katastrophendarstellungen verankerten Ausschmückungen. Wie Aristoteles in der Poetik (um 335 v. Chr.) konstatiert hat, bereitet »das Wunderbare […] Vergnügen; ein Beweis dafür ist, daß jedermann übertreibt, wenn er eine Geschichte erzählt, in der Annahme, dem Zuhörer hiermit einen Gefallen zu verweisen« (83). Zwischen Pathos und Ethos hat in den Erdbebenberichten seit der Antike ein Spannungsverhältnis bestanden. b)  Paradigmatische Erdbebenberichte aus dem 17. Jahrhundert (i)  Das Erdbeben von 1667 in Ragusa Der prototypischen Ablauf eines Erdbebens lässt sich anhand der überlieferten Darstellung der erschütterten Handelsstadt Ragusa rekonstruieren. Die deutschsprachigen Berichterstattungen über das am 6. April 1667 eingetretene Unglück basieren auf der in Venedig publizierten »Relazione dell’ orrible terremoto seguito nella città die Ragusa, altre città della Dalmazia, Albania«.30 Eine von Christoff Lochner gedruckte Flugschrift schildert das Katastrophenereignis als eine verhängnisvolle Zusammenkunft gewaltsamer Naturelemente. Die Plötzlichkeit des Bebens wird durch den Verweis auf die im Schlaf überraschten Stadtbewohner sinnfällig herausgekehrt: Der Eingang hierzu machte sich ungefehr zwischen 6. und 7. Uhren vormittag/ da die meinsten Leute noch zu Bette/ und der Grund von der Statt sich zubewegen angefangen: Darauff einsmals von der Erden her eine so gewaltsame Erschütterung kommen/ welche gleichsam in einem Augenblick selbigen Hertzogs Pallast/ als eigne Residentz/ über einen Hauffen geworffen/ deme alle andere Palläste/ Kirchen/ Clöster und Häuser/ benebenst einer erbärmlichen Niderlage der Menschen gefolget. Diesen Jammer vermehrten die viel grosse Steine/ welch in währender Erschütterung von den Bergen fielen/ und alles zu Boden schlugen/ also daß Ragusa nunmehr einem Steinhauffen gleich sahe. Es erhub sich auch ein hefftiger Wind/ der 30 

Eine ins Lateinische übertragene Fassung der »Relazione« hat Athanasius Kircher (1602– 1680) in die Abteilung von den Erdbeben im vierten Band seines Werks Mundus subterraneus (1665) eingefügt (242–243; vgl. auch Radics 15). Kircher war 1638 selbst Augenzeuge eines Erdbebens in Kalabrien und beschrieb im Vorwort zu seiner voluminösen Studie ausführlich die Verwüstung der Ortschaft Santa Eufemia, die sich gänzlich in einen stinkenden See verwandelte (vgl. A. S. Hooker 158–161).

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das Fewer vonden Herdstätten in das Gehöltze und die Häuser trieb/ davon dieselbe angingen/ und etliche Tage lang gebrant/ ohne daß man (wegen Abgang des Wassers/ so wolin den Brunnen/ als dem Meer/ welches wol viermal abgenommen) dem Brand genugsame Widerstand thun mögen. (unpag.)

Eine Variante derselben Nachricht wurde 1677 im 10. Band des von Matthäus Merian (1593–1650) begründeten Geschichtswerks Theatrum Europaeum veröffent­ licht, wobei das Desaster diesmal nicht als ein göttliches Strafgericht, sondern als ein historischer Zwischenfall vermittelt wird. Von Bedeutung ist, dass dem Text ein ausführlicher Augenzeugenbericht des nach Smyrna reisenden Jakob van Damm beigefügt wurde. Gemeinsam mit seinem niederländischen Landsmann, dem nach Konstantinopel beorderten Residenten Georg Croock, und einer Gefolgschaft von 34 Personen war er vier Tage vor dem Beben in Ragusa eingetroffen. Der Weiterfahrt durch das Osmanische Reich wurde ein jähes Ende gesetzt, als die Erderschütterungen die Unterkunft der Reisegruppe zum Einstürzen brachte und die herabfallenden Trümmer den Residenten mitsamt seinen Familienangehörigen in den Betten erschlugen. Van Damm gelang es, aus der zerstörten Stadt zu fliehen und nach einer mehrwöchigen Schifffahrt den sicheren Hafen in Venedig zu erreichen. Auffallend an seinen Aufzeichnungen sind stilistisch markante Passagen, die sich strukturell mit vorangegangenen Erdbebendarstellungen überschneiden und ebenfalls in den Erlebnisberichten über das Lissabonner Erdbeben von 1755 aufgegriffen werden. Als Kontrast zur genauen Zeitangabe der einsetzenden Erdstöße verweist er auf den idyllischen Zustand der Hafenstadt: [I]n dem deß andern Tags/ welcher war Montag, der 6. April/ deß Morgens ungefähr zwischen 13. und 14. Uhr Italienischer/ oder 8. und 9. Holländischer Uhr/ bey schönem Sonnen-Schein und stillem Wetter/ ohne einiges vorhergehendes Zeichen eines Windes/ oder sonsten etwas/ in einem Augenblick/ und kaum so lang/ als man ein Vatter Unser hätte beten können/ gantz unversehens/ ein so erschröckliches und unerhörliches Erdbeben entstanden […]. (742)

Die Kalamitäten veranschaulicht er mit der Sicht auf das Elend der Stadtbewohner. Dieses Darstellungselement taucht in weiteren Berichten über das ragusanische Erd­beben auf. Grundsätzlich dient das Tableau dazu, die Betroffenheit des Betrachters in verdichteter Form auszudrücken: Es war nicht ohne Thränen anzusehen/ wie betrübt und niedergeschlagen alle Menschen auß der Stadt herauß flohen/ und jedermann die Seinigen bitterlich beweinte/ wie auch/ wie erbärmlich die gequetschte Menschen allda lagen/ und/ ihrer Schmertzen zu geschweigen/ schier für Hunger und Durst verschmachteten. (743)31 31 

Vgl. die unter dem Titel A true Relation of the terrible Earthquake which happened at Ragusa (1667) veröffentlichte englische Übersetzung des in der venezianischen Nachricht angeführten

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In einem am 16. April verfassten Brief umreißt der Pater Vitale Adrašević die erblickten Schrecknisse auf eine bemerkenswert übereinstimmende Weise wie van Damm: Zwischen den Trümmern erschienen auf der Piazza viele Nobili, Kaufleute und andere Personen, welche aus den Häusern geflohen waren. Sie weinten. Von den Verschütteten lagen die einen in ihrem Blute, den andern waren die Gliedmaßen gebrochen. Diese schrien um Hilfe, jene verlangten nach den Sakramenten, und viele Derer, die zu Hilfe eilten, wurden von den nachstürzenden Mauern erschlagen. (Zit. nach Gießberger 27)

Dem stereotypen Bild der leidenden Menschenmasse folgt die Schilderung anekdotenhafter Einzelschicksale. Van Damm musste u. a. mitansehen, wie kaltblütige Leute aus dem Arbeiterstand die verschütteten Adelspersonen nur dann aus ihrer Notlage befreiten, wenn ihnen eine hohe Geldsumme versprochen wurde. Die sich verengende Blickperspektive vom allgemeinen zum spezifischen Grauen konstituiert ein weiteres erzähltechnisches Mittel, um die unterschiedlichen Facetten des Unglücks einprägsam zu veranschaulichen. Als marodierende Türken und Morlacken am 8. April Ragusa einnahmen und die verbleibenden Überlebenden entweder massakrierten oder davonjagten, fand der Zusammenbruch der bestehenden Gesellschaftsordnung seinen finalen Höhepunkt. Dem physischen folgt unweigerlich das moralische Übel – ein Tatbestand, der die vorherrschende Vorstellung der Erdbeben als Vorboten verheerender Landplagen bekräftigt. Die textuelle Vermittlung des Erdbebendesasters ist eng mit dessen Visualisierung in Druckgraphiken verstrickt. Im oberen Bereich von Lochners Flugschrift stellen zwei Kupferstiche die Stadt Ragusa vor und während ihrer vollständigen Verwüstung dar (siehe Abb. 1, Seite 393). Im 18. Jahrhundert werden die Doppelansichten des vor- und nachkatastrophischen Zustands weitergeführt und gehören in der bildlichen Darstellung von Erdbebenkatastrophen zum Standardrepertoire.32 Schreckensbilds: »It was a lamentable spectacle to behold the greater part of this small remainder, pitfully wounded and maimed, crawling as astonished persons thorow the ruined Streets, with their Beads about their Necks, begging for mercy and pardon for their sins, every minute expecting death« (5 f.). Eine deutschsprachige Variante der Textstelle ist u. a. in Nicolaus Höpfners (1632–1714) Erdbebenbericht Das erschütterte und bebende Meissen und Thüringen (1691) erschienen: »Dannenhero was es jämmerlich zu sehen/ wie die armen Leute größten Theils von Steinen und Feuer zugerichtet/ durch die Strassen/ wo sie noch kunten durchkommen/ als Sinn-loß mit einem Pater Noster/ am Halse herum lieffen und den Himmel umb Gnade und Erbarmung anschrien. Die Erde that sich auf/ und verschlunge ihrer viel/ dritthalb Mann tieff herunter/ worauff die Häuser über sie zusammen fielen« (unpag.). 32  Eine der bekanntesten Vorher- und Nachherdarstellungen eines Katastrophenereignisses im frühen 17. Jahrhundert ist der Erdrutsch zu Plürs 1618. Der Kupferstich ist in der ersten Ausgabe des Theatrum Europaeum 1642 erschienen. Zu beachten ist, dass nicht der eigentliche Zeitpunkt des Erdrutsches zu sehen ist, sondern bloß die drastisch veränderte Landestopogra-

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Wie die Berichterstattung fußen die beiden Bilder auch auf Vorlagen. Der Umriss der oberen topografischen Stadtansicht ist eine krude Kopie einer Vedute von Ragusa, die Matthäus Merian für seine Weltbeschreibung Neuwe Archontologia Cosmica (1638) angefertigt hat. Wesentliche Elemente der Erdbebenbeschreibungen finden ihre emblematische Ausarbeitung im unteren Kupferstich. Die auseinanderbrechenden Gebäude sind repräsentative Bauten weltlicher und geistlicher Macht. Abknickende Kirchentürme symbolisieren die Wucht der seismischen Erschütterungen. Das in Flammen aufgehende Kastell versinkt in die Klüfte des berstenden Hügels. Neben der brennenden Stadt sind überdimensionierte Figuren erkennbar, die das Leid der Stadtbewohner plakativ versinnbildlichen. Die Nachricht des ragusanischen Erdbebens im Theatrum Europaeum wurde ebenfalls mit einer Illustration versehen (siehe Abb. 2, Seite 394). Den größten Teil des großformatigen Kupferstichs nimmt eine perspektivische Kartenansicht von Ragusa und des umliegenden dalmatischen Küstengebiets ein. Ein im oberen Bereich eingefügtes Panoramabild, das die Überschrift »Erschröcklicher Untergang und Verbrennung der Statt Ragusa« trägt, veranschaulicht das ungeheure Ausmaß des Unglücks. Im Vergleich zu den Stichen auf Lochners Flugschrift kommt die zerstörerische Wucht der Naturelemente weit emphatischer zur Geltung: Riesige Flammen- und Rauchfontänen schießen in den Himmel empor und die Erdstöße haben den Schlosshügel zum Explodieren gebracht. Die winzigen, aus dem Inferno fliehenden Menschen sind den Verheerungen hilflos ausgeliefert. Wiederum wurde Merians Stadtansicht als Folie herbeigezogen, wobei sich der Betrachterstandpunkt seitlich nach oben zurückverschoben hat. Dies erlaubt eine umfassendere Sicht auf die sich vollziehenden Kalamitäten. Während Lochners Flugschrift den körperbezogenen Schmerzen der Katastrophenopfer betont, um die moraltheologische Botschaft des Erdbebens als züchtigende Gottesstrafe zu affirmieren, gestaltet sich die Stadtverwüstung hier als ein ästhetisch anziehendes, virtuos gestaltetes Spektakel: ein Eindruck, der durch die nüchterne Objektivität der kartographisch erfassten Topographie um Ragusa, die das Schreckensbild umgrenzt, ungemein verstärkt wird. (ii)  Das Erdbeben von 1693 in Sizilien und Kalabrien Auffallend an den Nachrichten über das Erdbeben in Süditalien 1693 ist deren ausgeprägte Gefühlsbetontheit. Die Berichterstatter stilisieren das Desaster zu einem gewaltigen Schreckensspektakel. Neben den Ortschaften Syrakus, Palermo und Messina wurde insbesondere die Hafenstadt Catania am Fuße des Vulkankegels Ätna schwer beschädigt. Alexander Polycarpus Winthern verfasste eine längere phie nach dem Unglück. Das pathetische Element des menschlichen Leids fehlt gänzlich. In den späteren Erdbebendarstellungen hingegen wird dieses vermehrt vor Augen geführt.

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Schrift über das Unglück, die den überschwänglichen Titel Krieg der Elementen/ Wider das bejammerns=würdige SICILIA, oder Beschreibung des erschrecklichen Bebens und Erschüttern der Erden/ grausamen Uberlauffs und Sturm des Meers/ auch höchstentsetzlichen Toben und siedenden Wüten des Feuer=auspeyenden Bergs AETNA trägt. Als Einstimmung in die schrecklichen Begebenheiten setzt er den 18. Psalm voran, in dem die unvorstellbare Zerstörungsmacht Gottes mit schlichten Worten umrissen wird: »Die Erde […] bebet/ und wird beweget/ und die Grundveste der Berge regten sich und bebeten/ da er zornig war« (3). Den archaischen Bibelworten folgt als zeitgenössisches Pendant die ausschweifende Schilderung der von einem Beben herbeigeführten Verheerungen: Was vor ein erbärmliches Schreyen/ Heulen Klagen der armen in Todesfurcht begriffenen Fliehenden/ so dem bevorstehenden Unfall entrinnen wollen/ muß allenthalben biß an den Himmel erschallen? Was vor ein erbärmliches Spectactul muß do seyn/ wann die Blut=Ströhme der zerqvetschten Cörper unter den über einander zertümmerten Mauer=Steinen hervor fliessen; Wann das Gehirn der Erschlagenen bald hier und bald dort an einem Steine klebet; Wann hier eine schwangere Frau derma­ ssen von einem Stein oder Balcken getroffen worden/ daß ihre todte Frucht vor ihrem entseelten Cörper liegt? Und wie schmertzlich muß es gleichmäßig lassen/ wenn man eine sorgfältig=gewesene Mutter/ welche ihre kleine Liebes=Pfänder/ die Kinder/ noch um den Hals/ ja gar an den Brüsten hangen hat/ unter dem schweren Stein=Hauffen zertrümmert hervor ziehet? Und was ist gleichfalls Hertz=Schmertz=empfindlicher/ als wann man liebe Ehegatten den letzten Valet=Kuß einander gebend/ und sich fest umarmend unter den Ruinen hervor scharret? Ach! wie abscheulich muß es aussehen/ wann die Erde ihren Grund=losen Rachen auffsperret/ und auff einmahl so viel prächtige Palläste/ schön gezierte Kirchen und herrliche Schlösser/ ja was das erbärmlichste/ so viel tausend elende/ mit auffgehabenen Händen/ wiewohl vergeblich/ um Hülff und Errettung schreyende Menschen verschlinget! O das muß traun eine rechte traurige Schau=Bühne Göttlichen Zorns seyn! (3 f.)

Einzelne stilisierte Unglückssituationen verdichten sich zu einem blutrünstigen Tableau, dessen theatralischen Charakter Winthern anhand der eingeschobenen metaphorischen Bezeichnungen »Spectacul« und »Schau=Bühne« affirmiert. Derartige schwülstige Gräuelbilder haben sich im ausgehenden 17. Jahrhundert zur festen Komponente des Katastrophendiskurses etabliert. Abgehoben vom raumzeitlichen Kontext des Desasters werden überschneidende Motive und rhetorische Muster von den Berichterstattern beliebig aufgegriffen und miteinander verwoben. Die gewaltsame Entladung der Naturkräfte äußert sich maßgeblich in der körperlichen Verstümmelung der schutzbedürftigen Kinder und schwangeren Mütter. Nicht nur die materiellen Besitztümer werden den Sündern entrissen, sondern auch ihre aufkeimende Lebensfrucht fällt dem göttlichen Zorn zum Opfer. Die Metapher des al-

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les verschlingenden Rachen versinnbildlicht die gänzliche Umkehr der lebensspendenden und -erhaltenden Erde. Alles, was auf ihr existiert, ist ganz im Sinne der barocken Vanitas-Vorstellung unweigerlich dem Untergang geweiht. Winthern konstatiert, dass sich »dergleichen Jammer=vollen Schau=Platz« sich schon öfters in Italien präsentiert habe. Jedoch, so argumentiert er mit gebräuchlicher Hyperbolik, habe sich »die schwere Hand GOttes« noch nie hart angefühlt wie im gegenwärtigen Erdbeben. Von den in der sizilianischen Provinz Noto schwer beschädigten Ortschaften gilt sein Hauptaugenmerk der Verwüstung Catanias. Bereits 1669 drohte der Stadt durch Erdstöße und den ausbrechenden Ätna der Untergang. Dank der schützenden Ringmauer fand die herabströmende Lava keinen Weg zu den Wohnhäusern und floss stattdessen ins offene Meer. Den erneuten Umwälzungen vermochten die von der »fressende[n] Flamme« verschonten »veste[n] Mauren/ hohe[n] Thürme/ herrlich gezierte[n] Tempel und prächtge[n] Palläste« jedoch nicht standzuhalten (12). Durch die geballte Wucht der Naturkräfte wurde Catania, die »Fürtrefflichste unter den Sicilianischen Städten« gänzlich verwüstet, wobei 2000 Menschen »urplötzlich« den Tod fanden (13): Deine stoltze Einwohner/ wider welche alle Elementa gleichsam Krieg geführet und sich empöret/ sind theils durch die geschwinde Flucht der Wellen bedecket/ ­t heils durch plötzliche Feuer=Ströhme vertilget/ und theils durch die unbarmhertzige Erde verschlucket worden. (12)

Mit der Zusammenkunft gewaltsamer Naturelemente gestaltet sich Catanias Ruin gewissermaßen zu einem vollkommenen bzw. paradigmatischen Erdbebendesas­ ter. Die einzelnen Darstellungselemente, die Warnzeichen vor der kommenden Großkatastrophe, der Verweis auf die Pracht der Stadtbauten und die Plötzlichkeit der hereingebrochenen Verheerungen gehören zu den Standardtopoi tradierter Unglücksberichte. Des Weiteren umschließt der Krieg der Elemente typisierend die einzelnen Schadenswirkungen seismischer Vorkommnisse, die seit der Antike schriftlich festgehalten wurden. In seiner Schrift Discurß von etlichen Zeichen (1613) bringt der evangelisch-lutherische Theologe Heinrich Leuchter (1558–1623) diese beispielhaft auf den Punkt, wenn er den zerstörerischen Wirkungsgrad unterirdi­ scher Winde mit den vier Naturelementen verbindet: Bißweilen aber so brechen sie durch/ vnnd durch ihre grosse Gewalt reissen sie entweder ein stück vom Erdreich mit/ oder werffen Stätte vnd Dörffer/ Schlösser/ Thürne vnd Wälde vmb/ oder versetzen sie an andere Orthe: Es lehren auch die Physici, daß zun zeiten in solchen Erdbewegungen grosse Wasserfluthen mitkommen/ entweder auß dem Meer oder auß der Erden: Bißweilen so folge auch Feuwr mit: auch Winde: vnnd geben grossen schall und knall/ wie in einem Donnerwetter. Bißweilen so sollen auch solche Spiritus die Erden durchreissen/ also/ daß sie in vnd unter sich

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falle/ vnd versincken allda zugleich mit Stätte/ Häuser/ Menschen vnd Viehe/ daß man deren kein spur mehr finden könde. (18)

Wintherns Veranschaulichung von Catanias Untergang findet ihren Höhepunkt in der Schilderung der in die Domkirche flüchtenden Stadtbevölkerung, die, wie andere Berichterstatter kolportiert haben, alsbald einstürzte: Dannenhero bey 16000. Seelen/ Jung und Alte/ um die grundgütigste Gnade und Barmhertzigkeit GOttes zu erlangen/ in die Dom=Kirchen daselbsten sich versamleten. Sie waren aber kaum auff ihre zitternde Knie gefallen/ mit Thränen=vollen Augen und ängstig=gewundenen Händen GOtt inbrünstig um Errettung anzuruffen. Siehe/ da kam so ein hefftiger Stoß und gewaltige Erschütterung/ daß dieses herrliche Gebäu/ samt ihren prächtigen/ Thürmen mit einem grausamen prasseln zusammen stürtzete/ und alle hinein Geflüchtete biß auff 600. die noch entkommen/ auff einmahl erschluge/ und ihnen also zu einem einigen Leichen=Stein ­w urde. (13 f.)

Die Tragik des unglücklichen Zwischenfalls unterstreicht Winthern mit dem rührseligen Zusatz, »[d]ie betrübte Feder erstarret fast diesen mit blutigen Thränen zu beweinenden Jammer=Stand, ferner fortzusetzen« (14). Durch die anvisierte Erzeugung heftiger Mitleidsgefühle soll sich im Leser ein Moment der Katharsis einstellen. Bezeichnenderweise erläutert Winthern erst Seiten später, weshalb Gott die Schutzsuchenden in der Domkirche kläglich umkommen ließ. Mit scharfer Polemik verurteilt er die »schändliche gottlose« Tradition in Sizilien und Catania, den Kriminellen Kirchenasyl zu gewähren (48). Deshalb sei Italien mit »unzehlichen Blutschulden« befleckt, was unweigerlich den gerechten Gotteszorn provozieren müsse: Dannenhero nicht zu verwundern/ daß sie vor dieses mahl in dem Bet-Hauß GOttes/ welches sie offt zu einer Mörder=Gruben gemachet/ keine Freystatt/ noch Fristung des Lebens erhalten/ sondern durch Niederstürtzung der herrlichen Dom=Kirchen/ mit einem donnernden Krachen/ grausamlich zerschmettert und erschlagen worden sind. Welches dann warhafftig/ bey diesem traurigen Zufall insonderheit wohl zu beobachten und das grausame Unglück so vieler 1000. Seelen/ desto hefftiger zu bejammern ist! (48)

Winthern fasst die Erde unbeirrt als einen Körper auf, der weder zufällig noch alleine erschüttert werden könne. Die Behauptung der neueren Gelehrten wie »Nicolaus Copernicus, Gassendus, Gallilæus de Gallilæis, Keplerus«, dass die Weltkugel nicht stillsteht, sondern kontinuierlich bewegt wird, verwirft er als eine der Erfahrung und dem Wort Gottes widersprechende Hypothese (21). Seine Skepsis wendet sich gleichermaßen gegen die aristotelische Lehrmeinung, die die Erdbebenursache in der durch Winde erzeugten Erschütterung unterirdischer Hohlräume festlegte.

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Er bezweifelt, dass »ein gemeiner Wind« so viel Kraft besitze, große Städte wie Lissabon im Jahr 1531 im Verlauf von acht Tagen komplett zerstören zu können (29). Obwohl in Deutschland und Böhmen weit mehr als in anderen Ländern Höhlen existieren, habe man von derartigen starken Erderschütterungen nichts vernommen (29 f.). Mit der auf die Naturbetrachtung gründenden Unterminierung tradierter Erdbebentheorien bezweckt Winthern nicht deren Revidierung, sondern die Rückbesinnung auf religiöse Denkmuster. Niemand werde aus lauter Kühnheit behaupten wollen, dass »die natürliche Ursachen der Erdbeben nicht allezeit durch GOttes sonderbare Providentz regieret werden.« Zur Verifizierung seines Standpunkts beruft er sich auf Anekdoten aus den Erdbebenberichten, in denen die Verschonung einzelner Personen vor dem sicheren Unglückstod dokumentiert wird (34). Die scheinbar wundersamen Kontingenzerfahrungen, die sich der Frage nach dem Warum verschließen, verweisen punktuell auf ein transzendentes Ordnungsgefüge. Als Kehrseite zum Gotteszorn besteht dank der göttlichen Gnade die Hoffnung, dass das Leben nach dem katastrophischen Einschnitt voranschreitet. Jedoch überwiegt in Wintherns Darstellung die eingefahrene straftheologische Deutung. Im Anblick der gesichtslosen, willkürlich hinweggerafften Masse manifestiert sich die erschreckende Majestät Gottes. Die affektgeladenen Gräuelbilder, die gleichermaßen Abscheu und mitleidige Sympathie erwecken, fungieren als rhetorisches Mittel, um sowohl Gläubige als auch Nichtgläubige von der göttlichen Allmacht zu überzeugen: Insonderheit sollen diejenige/ welche keinen GOtt glauben/ oder auffs wenigste nichts nach demselben fragen/ sondern sich allein auff ihre Macht und Gewalt verlassen/ billich daran abnehmen/ wie erschrecklich und mächtig die Hand des HErrn sey/ und daß/ wann solche Prahler auch gleich in die Höhe führen wie ein Adler/ und ihre Nester zwischen die Sterne machten/ er sie doch von dannen herunter stürtzen könne. (35)

Wintherns vorangestellte wirkungsästhetische Intensität des Gotteszorns weist strukturelle Überschneidungen mit den während der Frühaufklärung veröffent­ lichten dichtungstheoretischen Abhandlungen über das Schrecklicherhabene. Durch das Pathos gewinnt das Subjekt Zugang zu den religiösen Ideen. Die anfänglich empfundene Ohnmacht angesichts der ungeheuren Zerstörungswucht der Natur hebt sich im Gewahrwerden der göttlichen Gravität auf. Derselbe Gedankensprung von der physischen zur metaphysischen Ebene wird in der Veranschaulichung der Schreckensszenen vorangetrieben. Der verängstigte Betrachter soll demutsvoll in Gott seine erlösende Sicherheit finden. Catanias Untergang von 1693 fand in einem Pamphlet »Das erschütterte Sicilien« seine bildhafte Darstellung. Der unterhalb des Kupferstichs beigefügte Bericht gibt in dem gleichen affektierten Stil wie Winthern die Einzelheiten des süditalie­

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nischen Erdbebendesasters wieder. Bei der Vogelperspektive auf die verheerte Küs­ tenstadt handelt es sich um die Aktualisierung einer Vedute, die ursprünglich im fünften Band von Georg Brauns (1541–1622) Atlas Civitates orbis terrarium (1598) erschienen ist (siehe Abb. 3, Seite 395). Bemerkenswert ist hier ein in den linken Bildvordergrund eingefügter Hügel, auf dem eine neunköpfige Gruppe von Menschen Zuflucht gefunden hat. Im Unterschied zur bestehenden Ikonographie vorangegangener Erdbebenbilder blicken die silhouettenhaften Figuren nicht allesamt mit betenden Händen zum Himmel empor: Die Mehrheit blickt stattdessen direkt auf den Katastrophenschauplatz und nimmt als Zuschauer am Geschehen teil. In der Frühen Neuzeit sind innerbildliche Betrachter, die neben den panischen Menschenmassen auftreten, relativ selten. Auf den Gemälden des ausbrechenden Vesuvs oder Ätnas im ausgehenden 18. Jahrhundert haben sich staffagenhafte Zuschauergruppen zu einem festen Gestaltungselement etabliert. Freilich stellen die sublim anmutenden Lavaströme keine reelle Gefahr für die Anwesenden dar. Vor den Augen der geflüchteten Stadtbewohner Catanias dagegen eröffnet sich ein erschreckendes Schauspiel: Die Flammenzungen des Ätnas verzerren Land und Leute, ein Schiff bricht in der aufgewühlten See auseinander und die Trümmer einstürzender Gebäude begraben die Fliehenden unter sich. Der Zeichner arrangierte den vom Berichterstatter heraufbeschworenen Krieg der Elemente zu einem ausdrucksstarken Tableau. Allerdings unterzieht sich die emblematische Umsetzung der Metapher »Schiffbruch mit Zuschauer« nicht dem ethisch-philosophischen Standpunkt des Epikureers Lukrez. Während der Betrachter in De rerum natura eine stoische Disposition einnimmt, sind die auf der Anhöhe befindlichen Augenzeugen von Pathos ergriffen. Das Spruchband »barmherzigkeit« über ihren Köpfen und der Legendentext legen richtungsweisend die sittlich-sanktionierte Rezeption des Schreckenspanoramas fest: »Die Leute vor der Stadt/ wie sie um Barmhertzigkeit zu GOtt ruffen/ sich miteinander versöhnen und die Beleidigte einander hertzliche Abitte thun« (unpag.). Zwei sich die Hände reichende Männer unterstreichen allegorisierend die moralische Botschaft der Flugschrift. Demnach wird das Erd­beben als eine historische Zäsur aufgefasst, während derer die Überlebenden zu einer rechtschaffenen Schicksalsgemeinschaft zusammengeführt werden. Ein Gedanke, den auch David Funk in seiner Schilderung des unerhörten Unglücks äußerte: »Dahero dann die Menschen einander/ auch welche oft viel Jahr lang in höchster Feindschafft gelebet/ von freyen selbst abgebetten/ sich versühnet/ und allen Haß/ (mit hertzlichen Buß=Vorsatz sich zu GOtt zu bekehren/) beyseiten legten« (116). Das Motiv einer nach der Katastrophe eintreffenden Verbrüderung findet mehr als ein Jahrhundert später Einlass in Heinrich von Kleists (1777–1811) Novelle Das Erdbeben in Chili (1807). Der barbarische Lynchmord der Protagonisten Josephe und Jeronimo zeigt jedoch auf, dass eine derartige Gesellschaftsutopie nur von kurzer Dauer ist. Mit der Rückkehr zur

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Normalität nehmen die angestammten sozialen Differenzen und Vorurteile erneut überhand. Ein weiterer gesellschaftsnivellierender Aspekt des Desasters besteht wiederum in der krassen Veranschaulichung der plötzlich ums Leben gekommenen Menschenmasse. Ihr Anblick wird in der Flugschrift typisierend als Vorbote der kommenden Apokalypse gedeutet. Mit ähnlichen Worten wie Winthern beklagt der Berichterstatter den Tod tausender Schutzsuchenden unter den Trümmern der eingestürzten Domkirche Catanias: Wo sollen wir dan fliehen hin? massen Wasser/ Feuer/ und Erden/ diesen armseligen zu wider und entgegen waren. Bey 16000. Seelen Jung und Alte/ eileten in die dasige Dom=Kirchen/ um daselbsten Gnade und Barmhertzigkeit von GOtt zu Erlangen/ allein kaum da dieses Gebäu von der Anzahl der Menschen angefüllet ware/ geschahe ein so hefftiger Stoß und gewaltige Erschütterung/ daß diese stattliche Kirchen zusammen stürtzte und alle hineingeflohene auf einmal niederschluge und unter denen Steinen begraben hielte. Was für Jammer hier entstanden seyn müsse/ wird wol keine Feder genugsam ausdrücken/ oder mit Worten beschreiben können/ inmassen die noch übergebliebene/ an ihren auf allerhand Weise in den Tod geschickten Mit=Christen/ einen bevorstehenden jüngsten Tag/ gleichsam erblicken und mit betrübten Augen ansehen musten. (unpag.)

Die bestehende Ordnung droht angesichts der gewaltsamen Erderschütterung auseinanderzubrechen. Dem gesellschaftlichen Kollaps, der sich im Einsturz der Kirche, dem kommunalen Zentrum Catanias, sinnfällig vollzogen hat, schließt sich die Hoffnung an, dass das moralische Betragen der Überlebenden sich zum Besseren verändert. Natur und Mensch stehen in einem analogen Verhältnis: Die eruptiven Umwälzungen signifizieren den Untergang des Bestehenden, aber auch die Möglichkeit eines Neuanfangs. Somit stellen die aufeinander bezogenen Gestaltungselemente der verheerten Stadt und der Zuschauergruppe simultan das größtmögliche Schreckensereignis und dessen Überwindung in den Versöhnungs- und Demutsgesten der versammelten Einzelpersonen dar. Das unerhörte Unglücksereignis in Sizilien beflügelte wie Lissabons Untergang zweiundsechzig Jahre später die Einbildungskraft der Kommentatoren in den deutschsprachigen Ländern. Auch wenn diese in der Frühen Neuzeit von keinen gravierenden Beben heimgesucht wurden, machten Gelehrte und Geistliche wie Johann Burgauer, Theodor Zwinger und Johannes Scheuchzer auf deren Gefahrenpotential und die miteinhergehende Vulnerabilität des Menschen aufmerksam. Borst hat diesbezüglich die Behauptung aufgestellt, die zufällige Verschonung habe die mentalitätsgeschichtliche Eindämmung von Katastrophen begünstigt und die Frage, woher die »Gunst der Lage« stamme – »von der Gnade Gottes oder der Begabung der Europäer« – sei zur Nebensache geworden. Diese Schlussfolgerung wird

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jedoch dem Tatbestand nicht gerecht, dass die Furcht vor drohenden Kataklysmen dauernd neu entfacht wurde. Die seismischen Umwälzungen waren keine Naturschauspiele, die sich im Bewusstsein der zentraleuropäischen Bevölkerung bloß in der Peripherie abspielten. Anhand des bildhaften Erzählens und Aufzeigens blutrünstiger sowie mitleidserregender Sujets wurde sie unmittelbar mit dem Grauen vergangener und kommender Erdbeben konfrontiert. Die kontingenten Unglücksfälle fungierten als ein opportunes Instrument des Schreckens. Ihnen wurde durch die Einbindung in die göttliche Heilsgeschichte als Warnzeichen und Mittel der gesellschaftlichen Disziplinierung ein unabdingbarer funktionaler Nutzen verliehen. Indessen reiht sich Arno Borsts Äußerung, die verhängnisvolle Erschütterung Lissabons am 1. November 1755 habe den Kontinent aus dem »Rausch der Sicherheit« gerissen, in das straftheologische Denkmuster ein, das besagt, dass Zeiten der Prosperität und des Friedens den Zorn Gottes herausforderten (560). Wie sich zeigen wird, setzten die Berichterstattungen über die vermeintliche Jahrhundertkatastrophe die narrativen Strategien aus den vorangegangenen Epochen beliebig fort. In der Mitte des 18. Jahrhunderts teilte die Mehrheit der deutschsprachigen Gelehrten die Überzeugung, dass das Weltgefüge, das den göttlichen Schöpfungswillen widerspiegele, ein harmonisches Ganzes konstituiere. Die sich darin ereignenden Entgleisungen der geordneten Naturprozesse sind eine Folge menschlichen Fehlverhaltens. Aus dieser anthropozentrischen Naturaneignung folgt unweigerlich das Fazit, dass ohne den Menschen sich keine Naturkatastrophen ereignen würden. Sie sind ein Produkt der fortdauernden Kultivierung der Natur, des Auslotens des menschlichen Machtbereichs. Der Problematik, inwiefern die individuelle Leidenserfahrung, das moralische Übel, sich mit dem Postulat eines vollkommenen Naturganzen vereinbaren lässt, soll in den nächsten Abschnitten nachgegangen werden.

C.  Reflexionsbeben: Naturkatastrophen und Theodizee In den philosophischen und physikotheologischen Schriften des 18. Jahrhunderts werden Überschwemmungen, Erdbeben und Vulkanausbrüche vorwiegend als Ausnahmeereignisse in einer sonst harmonisch gegliederten Naturordnung behandelt. Anhand der Analyse der Artikel »Epikur«, »Manichäer« und »Paulicianer« aus dem Dictionnaire historique et critique (1695–1697) von Pierre Bayle (1647–1706) und der Theodicée (1710) von Gottfried Wilhelm Leibniz soll die Kernfrage erörtert werden, ob das Vorkommen menschlichen Leids sich mit der Zuhilfenahme der Offenbarung und der Vernunft überhaupt erklären lässt. Beide Werke gehörten zu den meistgelesenen philosophischen Schriften des 18. Jahrhunderts. Insbesondere die in der Theodicée ausgeführte Doktrin der besten aller möglichen Welten hat die Frühaufklärung in Deutschland entscheidend geprägt. Der Gedanke, dass auftre-

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tende Mängel ein wesentlicher Bestandteil des bestmöglichen Weltganzen seien, die der Mensch seiner defizitären Ratio wegen (noch) nicht einzuordnen weiß, gelangte unter dem Banner des so genannten Aufklärungsoptimismus in den Gelehrtenkreisen zu weiter Akzeptanz. Davon war auch die Strömung der Physikotheologie betroffen, die im zweiten Abschnitt besprochen wird. Verheerende Naturgewalten wurden in den physikotheologischen Schriften ganz im Sinne der oeconomia naturae als Sekundärwirkungen notwendiger Naturprozesse eingestuft, die dem Menschen mehr Nutzen als Schaden bereiten. Dennoch rekurriert die Physikotheologie im deutschsprachigen Raum – ihrer Nähe zur lutherischen Orthodoxie zufolge – nach wie vor auf die Deutung von Naturkatastrophen als göttliche Strafgerichte. Der dritte Abschnitt befasst sich mit Christlob Mylius’ Wochenschrift Der Naturforscher. Im fünfundzwanzigsten Stück erwähnt er das Erdbeben, das im Jahr 1747 Peru heimsuchte, um den Leser anschließend über die verwandten Ursachen von seismischen Erderschütterungen und Vulkanausbrüchen aufzuklären. Der Text gibt einerseits Auskunft über den Stand der Erdbebentheorien in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, andererseits weist er darauf hin, dass zu diesem Zeitpunkt eine objektive Ursachenerklärung ohne Rekurs auf das straftheologische Deutungsmuster durchaus ausreichen konnte, um sinnstiftend zu wirken. Mylius lässt das Stück mit zwei anakreontischen Erdbebengedichten – eines von ihnen entstammt der Feder Gotthold Ephraim Lessings (1729–1781) – ausklingen. Allerdings ist zu bedenken, dass die aufklärerisch-optimistische Naturauffassung nicht alle Bevölkerungsschichten erfasst hat. Die Deutung von Naturkatastrophen als ein Sinnbild der schreckenerregenden Allmacht Gottes hatte im deutschsprachigen Raum des 18. Jahrhunderts durchweg Bestand. Um die fortdauernde Breitenwirkung des moraltheologischen Darstellungsmusters aufzuzeigen, bespreche ich im letzten Abschnitt Jakob Michael Reinhold Lenz’ Verszyklus Die Landplagen. Wie Mylius und Lessing hat auch er sich von den Dichtungen der Anakreontiker inspirieren lassen. Jedoch beabsichtigt Lenz in seinem jugendlichen Eifer – entgegen den aufklärerischen Bestrebungen, den Schrecken der Natur zu besänftigen und die numinosen Kräfte als »natürliche« Prozesse zu überführen – den Schrecken der traditionellreligiösen Katastrophenbilder mit übermäßigem Pathos zu übertrumpfen.

1. Die philosophische Rechtfertigung des physischen Übels: Pierre Bayle und Gottfried Wilhelm Leibniz Im Artikel »Epikur« des Dictionnaire historique et critique verteidigt Pierre Bayle die göttliche Vorsehung und die Unsterblichkeit der Seele gegen die epikureische Naturphilosophie. Epikur und andere Philosophen der Antike verstanden die Materie als eine autarke, ewig bestehende Entität, die sich nach eigenen Notwendig-

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keiten und nicht nach dem Willen Gottes richtet. Dieses Weltbild ist grundlegend mit dem Glauben verbunden, dass das göttliche Wesen sich einer vollkommenen Eudämonie erfreue, die aber empfindlich getrübt worden wäre, wenn es aus der Materie die bestehende Welt mit all ihren Widrigkeiten erschaffen hätte (vgl. 99). Man müsse sich vorstellen, Gott hatte einen großartigen Palast erbauen wollen, um die lebendigen ­Geschöpfe, die aus dem gestaltlosen Schoße der Materie hervorgehen sollten, bequem darin unterzubringen und sie dort mit Wohltaten zu überhäufen. Es ergab sich aber, daß diese Geschöpfe nichts anderes taten, als sich gegenseitig aufzufressen, da sie nicht überleben konnten, wenn nicht das Fleisch der einen den anderen zur Nahrung diente; es zeigte sich, daß die vollkommensten dieser Lebewesen nicht einmal das Fleisch ihresgleichen verschonten. […] Ihr Schöpfer hat ständig mit der Tücke der Materie zu kämpfen, die diese Unregelmäßigkeiten hervorbringt, er muß immer den Blitzstrahl bereithalten und Pest, Krieg und Hungersnot über die Erde ausschütten, die […] doch nicht verhindern, daß das Übel sich behauptet. (100)

Ein Gott, der ständig mit seiner Schöpfung zu ringen hat, ohne jemals Fortschritte in dieser »ruinösen Maschine« zu erzielen, ist wahrlich glücklos und verdammt, Sisyphusarbeit zu leisten (99). Epikurs Grundsätze von der durch sich selbst exis­ tierenden autonomen Materie und der nicht zu trübenden Eudämonie entlasten Gott vor jeglichem Mitleiden und jeglicher Mittäterschaft am Übel in dieser Welt, aber der Trost der göttlichen Vorsehung geht dabei auch verloren. Für Bayle ist diese Schlussfolgerung unakzeptabel: Gott müsse die erste Ursache der Form und Materie sowie Schöpfer der Welt sein; der Materie dürfe keine Ewigkeit zugesprochen werden. Nur in einer von Gott geprägten, endlichen Materie können sich dem Menschen die göttlichen Attribute offenbaren. Einwände Epikurs, die vielleicht »die heidnischen Philosophen in die Ecke treiben konnten«, scheitern an der unumstößlichen Offenbarungslehre der Heiligen Schrift. Auch wenn Zwischenfälle vorkommen, »die Gott verboten hat und bestraft«, wird seine Eudämonie dabei nicht getrübt, denn sie geschehen »[…] nicht gegen seine Ratschlüsse, sondern dienen anbetungswürdigen Zwecken, die er sich von aller Ewigkeit her gesetzt hat und welche die größten Mysterien des Evangeliums ausmachen« (102). Mit der Gewährleistung der göttlichen Mittäterschaft und Vorsehung in dieser Welt schwingt unweigerlich das Problem der Implikation Gottes im Auftreten des Übels mit. Bayle warnt im Artikel »Manichäer«, die Erfahrung des Zweckwidrigen in der Welt dürfe nicht in den Dualismus der manichäischen Lehre münden, weil sie a priori dem Begriff des göttlichen Wesens, »das durch sich selbst besteht, das notwendig und ewig ist, auch einig, unendlich, allmächtig und mit allen Arten von Vollkommenheit ausgestattet sein muss« völlig zuwiderlaufe (158). Allein durch die Betrachtung der Naturdinge – und dies ist äußerst wichtig – gewinnen die Mani-

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chäer nichts. Man könne zwar in den Veränderungen, Unordnung und Unregelmäßigkeit der Natur die Gegensätze der guten und bösen Prinzipien vermuten, doch gegen die »Einheit, Einfachheit und Unveränderlichkeit Gottes« liefern sie keinen schlüssigen Einwand (159). Denn die Zweckwidrigkeiten in der Natur entpuppen sich nach genauerem Hinsehen nur als vermeintliche: Man kann die Einfachheit und Unveränderlichkeit der Wege Gottes retten, […] sofern man nur die körperlichen Erscheinungen zu erklären hat und den Menschen nicht einbezieht. Der Himmel und das ganze übrige Weltgebäude preisen den Ruhm, die Macht und die Einheit Gottes. (159)

Stefan Lorenz erkennt in Bayles Lobpreisung der Schöpfung Gottes einen Zusammenhang mit der »zeitgenössischen Physikotheologie, die gerade beginnt, sich zu einer breiten Geistesströmung zu entwickeln« (85). Augenfällig ist aber auch die unterschiedliche Wertung der Welt, die ganz im Sinne der oeconomia naturae positiv perzipiert wird, und des Menschen, des eigentlichen Meisterstücks der Schöpfung, der infolge seiner Bosheit den Begriff der Einheit Gottes ins Wanken bringt. Als Bestätigung dafür genügt ein Blick in die Menschheitsgeschichte, die die stete Folge von Unglücksfällen und Verbrechen mit gelegentlichen Lichtblicken menschlicher Tugend und Glück darlegt.33 Das Schwanken zwischen Glück und Elend scheint der manichäischen Lehre der zwei Prinzipien Recht zu geben, jedenfalls ist sie a posteriori aufgrund der Erfahrung eines jeden Menschen nur schwer zu widerlegen. Im Artikel »Paulicianer« gibt Bayle zu bedenken, dass mit den Mitteln der Vernunft die Gründe, weshalb ein unendlich gutes, unendlich heiliges und unendlich mächtiges Wesen das Übel zugelassen hat, nur unbefriedigend zu eruieren seien (192). Die Rechtfertigung Laktanz’ (um 250–320), das physische Übel begründe die Weisheit und Tugend der Menschen, lässt Bayle nicht gelten, denn gerade in der Lossagung von der Weisheit und Tugend sei der Mensch dem physischen Übel ausgesetzt worden (194). Ohne die im Garten Eden begangene Sünde wäre dem Menschen das ganze Leid durch die feindseligen Elemente erspart geblieben. Auf die gewichtige Frage, weshalb Gott die Sünde und das damit verbundene physische Übel überhaupt erlaubt habe, antwortet Bayle lakonisch: »Ich weiß es nicht, ich glaube lediglich, daß er Gründe gehabt hat, die seiner unendlichen Weisheit sehr würdig, mir aber unverständlich sind« (216). Nur der metaphysische Grundsatz, 33  »Reisen

lehren es täglich; sie zeigen überall Monumente des Unglücks und der Bosheit des Menschen. Überall sind Gefängnisse und Krankenhäuser, überall Galgen und Bettler. Hier sieht man die Trümmer einer blühenden Stadt, anderswo kann man nicht einmal mehr Ruinen finden. […] Die Geschichte ist eigentlich nichts als eine Sammlung der Verbrechen und Unglücksfälle des menschlichen Geschlechts. Aber wir wollen anmerken, daß diese zwei Übel, das moralische und das physische, nicht die ganze Geschichte und alle persönlichen Erfahrungen ausmachen. Man findet überall sowohl moralisch und physisch Gutes, einige Beispiele von Tugend ebenso wie einige Beispiele von Glück, und eben darin liegt die Schwierigkeit« (160).

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»Vom Wirklichen zum Möglichen geht ein gültiger Schluß« und der dazugehörige Vernunftschluss »Dies ist geschehen, also widerstreitet es nicht der Heiligkeit und Güte Gottes« können sich im Kampf gegen den Manichäismus und die anderen Häresien behaupten (199). Sich ganz zum Fideismus bekennend, resümiert Bayle, man müsse »seinen Verstand unter den Gehorsam des Glaubens gefangennehmen und über gewisse Dinge niemals disputieren« (211). Bayle findet – wie oben im Artikel »Epikur« – die einzige Zuflucht in den Mysterien der Offenbarungslehre. Allein mit der Vernunft ist man nicht befähigt, zur Wahrheit vorzudringen, denn diese verstrickt sich in ihrer Suche nach dem Grund des Übels nur weiter in Widersprüche. Den Kraftakt, Vernunft und Offenbarung bezüglich der Frage nach der Zulassung des Übels durch ein allweises, allgütiges und allmächtiges Wesen zu verbinden, unternahm Gottfried Wilhelm Leibniz in den 1710 erschienenen Essais de theodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’ homme et l’origine du Mal.34 Vorweg ist festzuhalten, dass Leibniz in seinem Unterfangen sich nicht mit der kirchlichen Dogmatik anlegen wollte, sondern versuchte, sie »wissenschaftlich« neu zu festigen (vgl. Lempp 33 f.). Grundlegender Streitpunkt sei, wie er in der »Einleitenden Abhandlung« zur Theodicée proklamiert, Bayles Fideismus und dessen Verurteilung der Vernunft, sie sei ein zerstörendes, kein aufbauendes Prinzip (Theodicée 63). Leibniz setzt voraus, dass die menschliche Vernunft prinzipiell der göttlichen gleich und nur wegen ihrer minderen Vollkommenheit als verschieden zu beurteilen sei.35 Die angestrengte Rehabilitation der Vernunft ist von zentraler Bedeutung, denn ohne sie bliebe der Zugriff auf die Vernunftwahrheiten verwehrt, die das Gedankengerüst der Theodicée konstituieren. Unter den Vernunftwahrheiten versteht Leibniz die aus der platonischen Tradition stammenden ewigen Wahrheiten, »die absolut notwendig sind, so zwar, daß das Gegenteil einen Widerspruch enthält«, und die von den Naturgesetzen abhängenden Tatsachenwahrheiten (34; Lempp 56 f.). 34 

Leibniz gibt in der Vorrede zur Theodicée zu bekennen: »Bevor ich nun mein System gegen die neuen Schwierigkeiten des Herrn Bayle rechtfertigte, hatte ich zugleich die Absicht, ihm die Gedanken mitzuteilen, die ich seit langem betreffs der Schwierigkeiten gehegt hatte, die er gegen diejenigen ins Feld geführt hatte, die den Versuch machten, hinsichtlich des Vorhandenseins des Bösen die Vernunft mit dem Glauben zu versöhnen. Tatsächlich haben sich mit diesem Problem wohl wenige mehr abgemüht als ich« (25). 35  »[Bayle] weiß sehr gut, dass unsere Mysterien mit der höchsten und umfassenden Vernunft des göttlichen Verstandes; d. h. mit der Vernunft im allgemeinen im Einklang stehen, trotzdem leugnet er, daß sie mit jenem Teile dieser allgemeinen Vernunft übereinstimmen, deren sich der Mensch zur Beurteilung der Dinge bedient. Weil aber diese unsere Teilvernunft eine Gottesgabe ist, die uns als lumen naturale inmitten der Verderbnis erhalten geblieben, so entspricht dieser Teil dem Ganzen und unterscheidet sich von dem in Gott befindlichen Teile nur wie ein Tropfen vom Ozean oder besser wie das Endliche vom Unendlichen. […] Nicht die Vernunft, nicht das lumen naturale, nicht die Verkettung der Wahrheiten steht im Widerspruch zu den Mysterien, sondern die Verderbnis, der Irrtum oder das Vorurteil, die Finsternis« (72). Vgl. dazu Lorenz 90; Geyer 75.

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Letztere sind nebst der Vernunft a priori auch durch die Erfahrung a posteriori erkennbar, sobald das wahrnehmende Subjekt der vorherrschenden Harmonie in der phänomenalen Welt gewahr wird. Aufgrund der erfassten Gesetzmäßigkeiten in den Naturdingen, die Leibniz mithilfe seiner prästabilierten Harmonie36 begründet, lässt sich nun der teleologische Gottesbeweis ableiten: Die regelmäßigen Strukturen im Weltenbau und -lauf entstammen keinem bloßen »Ohngefähr«, sondern deuten auf eine Ursache im göttlichen Verstand hin. Leibniz akzentuiert aber, dass diese Welt kontingent sei und keinerlei Notwendigkeit besitze, weil Gott sie frei erschaffen habe. Leibniz’ emphatische Betonung der Kontingenz der Naturdinge beruht auf seiner Abwehr gegen konkurrierende Systeme, die das Weltgefüge als Folge zufälliger Entwicklungen einerseits oder notwendig ablaufender Prozesse andererseits begründen wollen.37 Jene Systeme bergen erhebliche Schwierigkeiten in sich, denn infolge einer »zufällig oder blind notwendig ablaufenden Natur« sähe man sich mit einer Macht konfrontiert, die sich gegenüber dem menschlichen »Verlangen nach Freiheit und Gerechtigkeit« völlig indifferent verhalten würde (Janßen 20). Eine solche Macht käme dem bösen Prinzip der Manichäer oder einem Tyrannenfürsten gleich: Beide agierten willkürlich und unterlägen den Launen des Zufalls. Leibniz warnt vor den Ansichten Thomas Hobbes’ (1588–1679), denn »ein Wille, der sich immer von dem Zufall treiben ließe, wäre für die Weltregierung kaum besser als das zufällige Zusammenwirken der Atome, ohne Existenz irgendeiner Gottheit« (Theo­ dicée 402).38 Folglich könnten sich die Naturdinge ebenso gut ohne die Mittäter­ 36 Leibniz’

Denkmodell eines harmonischen Weltgefüges basiert weitgehend auf seinem System der prästabilierten Harmonie, das folgende Grundannahmen postuliert: Überall in der Natur gebe es einfache unausgedehnte Substanzen oder Monaden. Wegen ihrer Immaterialität vermögen diese Monaden jedoch weder zu wirken noch Wirkungen von andern aufzunehmen. Nur immanent sind sie befähigt, sich zu verändern. Dieser Entwicklungsprozess seinerseits strebt nach der göttlichen Vollkommenheit – ein Telos, das Gott den Monaden bereits am Zeitpunkt ihrer Erschaffung aufdrückte. Die Monade, die die Seele in den Körpern ausmacht, untersteht somit Finalursachen, die Körper andererseits bewegen sich nach Wirkungsursachen. Dank der von Gott verordneten prästabilierten Harmonie zwischen allen Monaden ist es möglich, dass beide Reiche der Finalursachen und Wirkungsursachen übereinstimmend im Universum korrelieren (vgl. Theodicée 22, 24 f., 41, 128, 304 und Monadologie 55–57). 37  Leibniz richtet sich einerseits gegen Descartes’ Voluntarismus, der besagt, dass selbst die ewigen Wahrheiten von einer willkürlichen Setzung Gottes stammen. Vgl. folgende Passage aus Leibniz’ Monadologie: »Indessen darf man sich nicht einbilden, daß die ewigen Wahrheiten, indem sie von Gott abhängen, willkürlich sind und von seinem Willen abhängen, wie es Descartes angenommen zu haben scheint […]« (35). Andererseits wendet sich Leibniz gegen die von Hobbes und Baruch Spinoza (1632–1677) postulierte absolute Notwendigkeit der Dinge: »Spinoza […] behauptet […], alles sei der ersten Ursache oder der ursprünglichen Natur (nature primitive) entsprungen, und zwar durch eine blinde und völlig geometrische Notwendigkeit, ohne daß dieses erste Prinzip der Dinge der Wahl der Güte und des Verstandes fähig sei« (26). 38  Leibniz’ Kritik an Hobbes stammt aus den »Betrachtungen über das von Herrn Hobbes veröffentlichte englische Werk über Freiheit, Notwendigkeit und Zufall«, die im Anhang der Theodicée abgedruckt sind (vgl. 404–417).

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schaft Gottes »nach mathematischen Gesetzmäßigkeiten mit absoluter Notwendigkeit« ordnen, wie die »Atome in Epikurs System« es tun (411). Da nun einmal feststeht, dass nichts ohne einen zureichenden Grund existiert (96, 119), und dieser Grund in Gott besteht, sind die Präsumtionen eines indifferent agierenden Schöpfergottes und der sich dem göttlichen Willen widersetzenden, willkürlich operierenden Naturgesetze mit dem leibnizschen Denkmodell einer harmonischen Naturordnung schlicht unvereinbar. Die letztere Schwierigkeit einer blinden Notwendigkeit in den Naturdingen lässt sich relativ einfach lösen. Wie oben schon erwähnt, sind alle Substanzen und ihre Organisation kontingenter Natur, da sie der freien Wahl Gottes entsprungen sind. Die Prämisse einer freien Wahl setzt voraus, dass statt der jetzigen Welt unendlich viele andere Welten, die eine ebenso wirkliche Existenz anstreben, hätten entstehen können (96). Dadurch verlagert sich der Problemschwerpunkt auf die Kriterien der göttlichen Wahl: Wenn Gott frei zu wählen vermag, dann hätte er willkürlich irgendeine Welt erschaffen. Dank seiner Weisheit und Güte hat er sich jedoch für die »Wahl des Passendsten« entschieden oder dafür, was Leibniz »das Prinzip des Besten« nennt (26). Daraus folgt, dass selbst Gottes Handeln sich den Sittengesetzen zu fügen hat, die unbedingt bindend und demzufolge den ewigen Wahrheiten zuzuordnen sind (vgl. Lempp 55). Gott steht es nicht zu, die absolut notwendigen Wahrheiten außer Kraft zu setzen, ohne dabei in Konflikt mit seiner Weisheit zu geraten. Wenn er also die beste Welt wählen musste, wie ist es dann überhaupt möglich, dass in ihr Mängel vorkommen? Hätten diese in der Wahl der bestmöglichen Welt nicht vermieden werden können? Vor der eigentlichen metaphysischen Rechtfertigung des Übels erhebt Leibniz im ersten Teil der Theodicée zuerst Einspruch gegen die zu erwartende Anklage der Gegner, die behaupten, eine Welt ohne Sünde und Unglück sei der jetzigen vorzuziehen. Leibniz entgegnet, eine solche Welt sei zwar in utopischen Erzählungen vorstellbar, aber diese wäre qualitativ nicht besser und würde nicht die gleichen Vorteile wie die unsrige aufweisen (97). Da alle Dinge miteinander verkettet seien, könnte ein Übel oftmals etwas Gutes bewirken, das ohne dieses Übel nicht eingetroffen wäre (97 f.). Um dieser dialektischen Aussage Gewicht zu geben, bedient sich Leibniz gängiger Vergleiche aus dem sinnlichen Bereich: Etwas Saures, Scharfes oder Bitteres gefällt oft besser als Zucker; der Schatten läßt die Farbe stärker hervortreten und selbst eine Dissonanz am rechten Platze hebt die Harmonie. Seiltänzer, im Begriffe hinabzustürzen, sollen uns in Schrecken versetzen, Trauerspiele sollen uns bis zu Tränen ergreifen. Kostet man die Gesundheit aus und dankt man Gott dafür, wenn man niemals krank gewesen ist? Und muß nicht meistens ein kleines Übel das Gute fühlbarer, sozusagen größer werden lassen? (99)

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Neben der Nutzbarmachung des Übels als Kontrastmittel zur qualitativen Potenzierung sinnlicher Freuden und des Guten rekurriert Leibniz auf die Strategie, die erfahrenen Übel im Weltganzen quantitativ zu minimalisieren. Das Diktum, »daß das Übel, verglichen mit dem Guten, fast wie ein Nichts erscheint, wenn man auf die wahre Größe des göttlichen Staates achtet«, findet seine weltbezogene Entsprechung in der Relativierung des Übels auf der höchsten bzw. universellen Ebene (104). In Anbetracht der aus den Naturwissenschaften erschlossenen Weite des Weltalls wird dem Menschen alsbald bewusst, dass der bekannte Teil des Universums, verglichen mit dem unbekannten, sich beinahe ins Nichts verliert. Ein ungeheurer Raum, von dem man annehmen könnte, er sei von »Glück und Seligkeit« erfüllt, umgibt all die Sternenwelten. Leibniz zieht daraus folgenden Analogieschluss: »[A]lle Übel, die man uns entgegenhalten kann, haben nur Geltung, bezogen auf dieses Beinahe-Nichts; muß man da nicht sagen, daß alle Übel, verglichen mit den Gütern dieser Welt, auch nur ein Beinahe-Nichts sind?« (105). Beide Relativierungsstrategien, das Übel entweder zur qualitativen Hervorkehrung des Guten zu instrumentalisieren oder quantitativ als unbedeutenden Rest im Ganzen zu minimalisieren, hatten im Zeitalter der Aufklärung Hochkonjunktur. Doch die eigentliche Leistung der Theodicée liegt in Leibniz’ Bestreben, die Frage nach dem Ursprung des Übels auf metaphysischer Ebene zufrieden stellend zu klären, ohne dabei die Attribute Gottes kompromittieren zu müssen. Wie Leibniz diesen gordischen Knoten zu lösen versuchte, soll im Folgenden kurz umrissen werden. In Abkehr von der Tradition der antiken Naturphilosophie ortet Leibniz den Ursprung des Übels nicht in der Materie. Die Vorstellung der antiken Naturphilosophen von einer unerschaffenen, ewig währenden Materie ist mit dem christlichen Weltbild, in dem alles Seiende Gott entsprungen und von seiner Existenz abhängig ist, nur schwer vereinbar. Hingegen bekräftigt jenes Theorem den manichäischen Dualismus eines höchsten Wesens und einer defizitären Materie. Leibniz verlegt stattdessen den Grund des Übels in die ideale Region der abstrakten Formen, bzw. der ewigen Wahrheiten. Dort gehören die abstrakten Formen wie die Zahlen und geometrischen Figuren zu den unerschaffenen, ewig währenden Ideen Gottes, die in seinem Verstand auf ihre mögliche Verwirklichung warten (vgl. 34, 105 f., 331). Aufgrund des Postulats, der Wandel zwischen idealem Bestehen und wirklicher Existenz benötige den Willensakt Gottes, erfolgt der Schluss, Gott habe das Übel nicht willentlich erschaffen, sondern nur als Folgeerscheinung zugelassen: Das Fatum der unvollkommenen Kreatur war bereits vor der Schöpfung in den ewigen Wahrheiten unumstößlich festgelegt, denn Gott konnte ihr »nicht alles geben ohne sie zum Gott zu machen; er musste also stufenweise Unterschiede in der Vollkommenheit der Dinge und ebenso Beschränkungen jeder Art geben« (112). Mit der augenfälligen Differenzierung zwischen Gottes Verstand und dessen Willen ge-

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lingt es Leibniz weiterhin, die in der manichäischen Lehre vorhandenen Prinzipien des Bösen und Guten als singuläres Prinzip in Gott zu vereinbaren. Während der Verstand das böse Prinzip gibt, »ohne dabei seinen Glanz zu verlieren, ohne dabei selbst böse zu werden«, stimmt der Wille mit dem guten Prinzip überein (201). Dem göttlichen Willen kann also weder Böswilligkeit noch Willkür angelastet werden. Gott habe zwar die Macht, die Dinge nach seinem Gutdünken zu erschaffen, doch die Handlungsfreiheit sei an die moralische Notwendigkeit gebunden, die eben nur das Gute, nie das Böse beabsichtige.39 Demzufolge ist diese Welt nichts anderes als die beste aller möglichen Welten, deren allfällige Mängel, so weit es die ewigen Wahrheiten zulassen, der allmächtige, allgütige und allweise Gott zu vermeiden anstrebt. Im willentlichen Handeln Gottes ist der Grund des Übels also nicht auffindbar, folglich ist das höchste Wesen der Anklage enthoben, Urheber des Bösen zu sein. Nach der Erklärung, warum die Unvollkommenheit der Dinge einen notwendigen Bestandteil der besten Welt ausmacht, ist es nun möglich, aus dem metaphysischen Übel die weiteren Begriffe des physischen und moralischen Übels kausal abzuleiten: Man kann das Übel im metaphysischen, physischen und moralischen Sinne auffassen. Das metaphysische Übel besteht in der einfachen Unvollkommenheit, das physische im Leiden und das moralische in der Sünde. Obwohl nun das physische und moralische Übel nicht notwendig sind, so genügt ihre Möglichkeit auf Grund der ewigen Wahrheiten. (106)

Bezüglich der Frage nach dem Grund des physischen Übels in der Welt legt ihn Leibniz wie auch Bayle im freien Willen des Menschen fest. Leibniz übernimmt demzufolge den in der Erbsündenlehre geäußerten Kerngedanken, der Mensch habe, indem er sündigt, den gottgegebenen freien Willen missbraucht und das daraus resultierende Leid verursacht (vgl. 302). Nicht mehr die Gerechtigkeit Gottes sitzt unter diesem Gesichtspunkt auf der Anklagebank, sondern die Sündhaftigkeit des Menschen. Hervorzuheben ist, dass es Leibniz weit weniger Mühe bereitet, das physische Übel, im Unterschied zum moralischen, zu rechtfertigen, »da es Folge des moralischen Übels ist« (271). Dem zu ertragenen Leid spricht er sogar einen gewissen Nutzen zu: 39  Vgl. dazu folgende Stelle: »Niemals wird der Wille durch etwas anderes zu Handlungen getrieben als durch die alle anderen überwältigende Vorstellung des Guten. […] Gott erwählt immer das Beste, aber er wird nicht gezwungen, es zu tun, und sogar der Gegenstand göttlicher Wahl enthält nichts Zwingendes, denn eine andere Ordnung der Dinge ist sehr wohl möglich. Eben weil die Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten stattfindet und der Wille nur durch die vorherrschende Güte des Gegenstandes bestimmt wird, ist die Wahl frei und von der Notwendigkeit unabhängig« (Theodicée 120).

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Was das Böse anbelangt, so will Gott keineswegs das moralisch Böse und auch nicht das physische oder die Leiden, wenigstens nicht unbedingt. Und darum gibt es keine unbedingte Vorbestimmung zur Verdammung: und das physische Übel will Gott des öfteren als Strafe für eine Verschuldung, des öfteren auch als geeignetes Mittel zur Erreichung eines bestimmten Zieles, nämlich um größere Übel zu verhindern und größere Güter herbeizuführen. Die Strafe dient auch zur Besserung und Abschreckung und das Übel dient häufig dazu, das Gut stärker hervortreten zu lassen, mitunter verschafft es auch dem, der es erleidet, eine höhere Vollkommenheit, wie der Same vor der Keimung einer Art Verderbnis ausgesetzt ist: dieses treffenden Vergleiches hat sich Jesus Christus selbst bedient. (107)40

Die Sünde sei jedoch niemals ein zulässiger Gegenstand des göttlichen Willens und deshalb lasse er sie nie als Mittel, sondern nur als unerlässliche Voraussetzung zu (107 f.). Leibniz gibt zu bedenken, dass die vom vernunftbegabten Menschen begangenen Grausamkeiten weit mehr ins Gewicht fallen als die durch ein Erdbeben verursachten Leiden: Ein einziger Caligula oder Nero hat mehr Übles getan als ein Erdbeben es vermocht hätte. Ein böser Mensch findet Gefallen an Leiden und Zerstörungen und es bieten sich ihm nur zu viel Gelegenheiten dazu. Gott aber, den es drängt, möglichst viel Gutes zu erzeugen, und der das ganze hierzu notwendige Wissen und Vermögen besitzt, kann unmöglich voller Fehl, Schuld und Sünde sein; und wenn er die Sünde zuläßt, so geschieht es aus Weisheit und Tugend. (109)

Da der Naturkatastrophe kein Agens zugesprochen werden kann, das sich an den Qualen anderer belustigt, erscheinen ihre Verheerungen in einem positiveren Licht. Zweckgebunden als zulässiges Mittel zum Guten lässt sich das physische Übel also ohne größere Vorbehalte in den göttlichen Heilsplan integrieren, was im Falle des moralischen Übels aus ethischen Gründen weit schwieriger zu bewerkstelligen ist. Angesichts der akzentuierten Kausalität zwischen dem moralischen und physischen Übel und der positiven Wertung des Leids als Strafmittel Gottes ist anzunehmen, dass Leibniz der moraltheologischen Deutung von Naturkatastrophen nicht abgeneigt war. Jedenfalls hat der prominenteste Befürworter der Theodicée, Christian Wolff (1679–1754), eine solche Interpretation, wie sich zeigen wird, mehrfach affirmiert.41 40 

Hervorhebungen von C. W. Vgl. dazu Marion Hellwigs Erörterung zur Nutzbarmachung des physischen Übels: »Dem von Leibniz ebenfalls vertretenen pädagogischen Argument zufolge, dient besonders das physikalische Übel, das das moralische Übel als Strafe nach sich zieht, zur Abschreckung anderer potenzieller Übeltäter und zur Verbesserung der moralischen Tugend und trägt dadurch zur Vervollkommnung des Menschen bei« (28). 41 

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Selbst die in der Natur vorkommenden Mängel und Missgeburten, auch wenn sie zeitweise zweckwidrig erscheinen, folgen Gesetzmäßigkeiten und tragen zur Erhaltung der Naturordnung bei. Zeugnis dafür gibt es genug in der Weltgeschichte. Leibniz verweist auf die Kosmogonie Theoria sacra telluris (1681) von Thomas Burnet (um 1635–1715), die die Formierung der Erde anhand sukzessiver Verwüstungen durch die Elemente Feuer, Wasser und Erde darstellt; erst durch die anfängliche Unordnung der Naturdinge konnte daraus die für uns so vorteilhafte Ordnung des Erdballs entstehen: Wer sieht jedoch nicht, daß diese Unordnungen dazu gedient haben, die Dinge dorthin zu bringen, wo sie sich gegenwärtig befinden, daß wir ihnen unsern Reichtum und unsere Bequemlichkeit schulden, und daß durch sie erst der Erdball für unsere sorgfältige Kultur geeignet geworden ist? (273)

Neben der Nutzbarmachung verheerender Naturkräfte als Strafmittel Gottes auf der moralischen Ebene tragen sie im geophysikalischen Bereich wesentlich zur Entwicklung der Erde bei. Leibniz appelliert an die Naturwissenschaften, Klarheit in das Dunkel der verborgenen Zweckverbindungen im Naturhaushalt zu bringen.42 Für die unvollkommene menschliche Erkenntnis, die nur Bruchstücke und nicht das Ganze der Naturordnung erkennen vermag, ist es schwierig, individuelles Leid in das Gefüge des prästabilierten Systems einzuordnen. Doch gerade ein verbesserter Wissensstand könnte die oeconomia naturae im Schöpfungsplan transparenter erscheinen lassen und die Menschen dazu anspornen, Gott die gebührende Dankbarkeit zu zollen: Könnten wir die Struktur und Ökonomie des Universums verstehen, dann würden wir finden, daß es nach dem Wunsche der Weisesten und Tugendhaftesten erschaffen ist und regiert wird, da Gott es gerade so erschaffen mußte. (243)

Was dem vernunftbegabten Subjekt als eine Beeinträchtigung seiner Lebensqualität erscheint, soll sich also mithilfe der fortschreitenden, empiriegeleiteten Naturbetrachtung – dem Zusammentragen und Studium von Forschungsergebnissen – als ein nicht wegzudenkender Teil des harmonischen Weltganzen herausstellen. Dem Desiderat einer im Dienste Gottes stehenden Naturwissenschaft ist die Bewegung der Physikotheologie nur allzu gerne nachgekommen.

42 

Leibniz beruft sich u. a. auf die Fortschritte in der Astronomie: »Es gab eine Zeit, in der die Planeten als herumirrende Gestirne galten, während ihre Bewegung sich jetzt regelmäßig herausstellt: vielleicht verhält sich mit den Kometen ebenso: die Nachwelt wird es wissen« (Theodicée 273).

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2.  Die Rechtfertigung des physischen Übels in der Physikotheologie In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gewann die aus England stammende Physikotheologie insbesondere im Kreise der Hamburger Gelehrten an Einfluss. Dazu gehörte der Theologe und Naturforscher Johann Albert Fabricius (1688–1736), der als Übersetzer und Verfasser physikotheologischer Schriften die treibende Kraft der Bewegung in Deutschland wurde. Dank seiner Unterstützung erschien William Derhams (1657–1735) Standardwerk Physico-Theology: Or a Demonstration of the Being and Attributes of God, from His Works of Creation (1713) im Jahr 1730 in deutscher Sprache. Zwei Jahre zuvor hatte Fabricius bereits eine von ihm übersetzte und kommentierte Ausgabe von Derhams zweiter physikotheologischen Arbeit Astrotheology (1715) veröffentlicht. Alsbald folgten neu verfasste physikotheologische Schriften auch im deutschsprachigen Raum, die nach dem englischen Muster die Existenz der göttlichen Attribute mithilfe der empiriegeleiteten Naturbetrachtung sinnfällig darzulegen bezweckten.43 Jene Zielsetzung lässt sich an den aufwendigen Titeln ablesen, wie Fabricius’ Hydrotheologie, oder Versuch, durch aufmerksame Betrachtung der Eigenschaften, reichen Austheilung und Bewegung der Wasser, die Menschen zur Liebe und Bewunderung ihres gütigsten, weisesten, mächtigsten Schöpfers zu ermuntern (1734) oder Friedrich Christian Lessers (1692–1754) Lithotheologie, Das ist, Natürliche Historie und geistliche Betrachtung derer Steine: also abgefasst, dass daraus die Allmacht, Weißheit, Güte und Gerechtigkeit des grossen Schöpffers gezeuget wird, an bey viel Sprüche der Heiligen Schrifft erklähret, und die Menschen allesamt zur Bewunderung, Lobe und Dienste des grossen Gottes ermuntert werden (1735). Befürwortet wurde ein theistischer Naturbegriff, der einen nach Endzwecken geordneten Weltenbau postuliert, in dem jedes Sein einen Teil der weisen Naturordnung Gottes ausmacht. Wie die protestantische Orthodoxie wendeten sich die Anstrengungen der Physikotheologen gegen deistische und atheistische Gedankenströmungen, die der Natur zu viel Autonomie zutrauten, d. h., dass deren kausale Gesetzmäßigkeiten durch eine eigene Notwendigkeit gelenkt werden. Demnach waren die physikotheologischen Schriften »von vornherein dogmatisch festgelegt« und in ihrer »Tendenz nach […] apologetisch« (Ketelsen 47). Jedoch im Unterschied zur Position der Orthodoxen wehrten sie sich nicht gegen den Einfluss der new science. Insbesondere das aus Experimenten und der Feldforschung zusammengetragene Wissen sollte den Sprung zur Erkenntnis der göttlichen Attribute in den Naturdingen ermöglichen. Ein typisches Beispiel der Verquickung von Metaphysik und Physik liegt in William Derhams Rückgriff auf die tradierte Analogie 43  Vgl.

Uwe K. Ketelsen: »[E]s ging den physikotheologischen Autoren ja […] nicht allein um den Beweis der Existenz Gottes schlechthin, sondern zugleich auch um den Beweis der Realität der Bestimmungen in seinem Begriff, also vor allem um die Realität der Begriffe der potentia, sapientia und providentia (145).

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des Palastbaus und Isaac Newtons (1643–1727) Gravitationslehre, um die für den Menschen vorteilhafte teleologische Struktur in den Naturdingen zu illustrieren.44 Auch Christian Wolff, der sich gerne als das Sprachrohr der physikotheologischen Bewegung in Deutschland profilierte, weist in der Vorrede seines philosophischen Werks Vernünfftige Gedancken von den Absichten der natürlichen Dinge (1726) darauf hin, dass sich mittels der vernünftigen »Welt=Beschreibung« eine Leiter zu Gott45 eröffne und die Naturdinge demnach nichts anderes als ein »herrlicher Spiegel der Vollkommenheiten GOttes« seien (GW 7: Vorrede, unpag.). Mithilfe der Wissenschaften lassen sich also die Bruchstücke der anfänglich so heterogen scheinenden Naturerscheinungen zu einem kohärenten, harmonischen Ganzen zusammenfügen. Sobald die göttliche Naturordnung sich den Sinnen erschlossen hat, erfolgt der krönende Abschluss im strukturellen Aufbau der physikotheologischen Schriften: Die Lobpreisung des Schöpfers, der alles auf der Welt so vorteilhaft eingerichtet hat. Mit der vollzogenen Verschränkung der Natur mit dem Übernatürlichen offenbart sich jedoch nichts, was nicht schon von Anbeginn erwartet worden ist: Die vermeintlich erlangte Bestätigung eines zweckmäßigen und nützlichen Naturhaushalts widerspiegelt bloß das in die phänomenale Natur projizierte Bild mit derselben Aussage. Demnach erliegt die Beweisführung der Physikotheologie logischen Zirkelschlüssen, ein Umstand, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf zunehmende Kritik gestoßen ist.46 44  »A Man that should meet with a Palace […], beset with pleasant Gardens, adorned with stately Avenues, furnished with well-contrived Aquæducts, Cascades, and all other Appendages, conducing to Convenience or Pleasure, would easily imagine, that proportionable Architecture and Magnificence were within: But we should conclude the Man was out of his Wits, that should assert and plead that all was the Work of Chance, or other than of some wise and skillful Hand. And so when we survey the bare Out-works of this our Globe, when we see so vast a Body, accouter’d with so noble a Furniture of Air, Light and Gravity; with every thing, in short, that is necessary to the Preservation and Security of the Globe it self, or that conduceth to the Life, Health, and Happiness, to the Propagation, and Increase of all the prodigious variety of Creatures the Globe is stocked with; when we see nothing wanting, nothing redundant, or frivolous, nothing botching, or ill-made, but that every thing, even in the very Appendages alone, do exactly answer all their Ends, and Occasions: What else can be concluded, but that all was made with manifest Design, and that all the whole Structure is the Work of some intelligent Being; some Artist, of Power and Skill equivalent of such a Work?« (Derham 36 f.). 45  »Es ist dieselbe Welt=Beschreibung, die ich durch die Gründe der Vernunfft erhärtet und durch die Erfahrung dieser Welt gemäß zu seyn bestätiget, darinnen wir uns befinden, die Leiter, darauf wir zu GOTT hinauf steigen können und ihn sehen, wie er ist, nemlich als ein Wesen von unumschränckter Freyheit, von unendlicher Erkäntniß, von der höchsten Weisheit, von der grösten Macht, von unaussprechlicher Güte und von der strengsten Gerechtigkeit« (GW 7: Vorrede, unpag.). 46  Vgl. dazu Wolfgang Philipp (1915–1969): »Die Physikotheologen reden mit Ergriffenheit, oft mit starkem Pathos unablässig davon, daß sie Gottes Existenz und seine Eigenschaften aus den Wundern seiner Schöpfung ›beweisen‹, ›erweisen‹, ›demonstrieren‹. Dem modernen Beobachter erscheint dieser Beweis nicht schlüssig – er begreift nicht, wie aus einer Betrachtung der

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Wie steht es nun mit den Erklärungsversuchen der Physikotheologen, desaströse Zwischenfälle wie Erdbeben, Vulkanausbrüche und Überflutungen mit der Allmacht, Weisheit und Güte Gottes zu vereinbaren? Wie lassen sich diese plötzlich auftretenden Unfälle der Natur in das Erklärungsmodell einer scheinbar geordneten und zweckmäßigen Welt einfügen? Auf alle Fälle muss Gottes direkter Einfluss auf den Ablauf der Naturkräfte prinzipiell gerechtfertigt werden, auch wenn diese Naturkräfte aus den geregelten Bahnen ausscheren und dem Menschen großes Leid zufügen. Dem feindlichen Lager der Atheisten käme die Möglichkeit nur gelegen, in den aufgetretenen Kalamitäten die Zufälligkeit des Weltenbaus und das Fehlen einer höheren Macht festzulegen. An diesem Knackpunkt liefert die Theodizee das argumentative Fundament, auf dem das metaphysische Gerüst der Physikotheologie steht oder fällt. In ihrem Versuch, das physische Übel in der Welt zu rechtfertigen, kommen Leibniz’ Postulate, die Summe des Übels in der Welt übersteige nicht die des Guten, und das Übel diene oft dem Guten, sicherlich entgegen (vgl. Lorenz 96). Dieter und Ruth Groh haben darauf hingewiesen, was für ein »riesiges Arbeitspensum, das man schlagwortartig als Positivierung des Negativen bezeichnen kann« die Physikotheologen bewältigt haben (»Religiöse Wurzeln« 55). Mit der emphatischen Akzentuierung des empirisch belegbaren Nutzens im funktionalen Gefüge des Weltenbaus soll sich der Schrecken der Naturübel als Beleg der Weisheit und Güte des Schöpfergottes herausstellen. Tatsächlich haben sich die Physikotheologen nicht gescheut, destruktive Naturgewalten wie Erdbeben und Vulkanausbrüche im Hinblick auf die göttlichen Attribute zu behandeln. Die in William Derhams Physico-Theology dargebrachte Begründung des notwendigen Vorkommens der Vulkane zeigt, wie sich mittels der »physikotheologischen Wende« eine schreckliche Plage der Menschheit zu einem essentiellen Mittel der Erdbebenprophylaxe wandelt (vgl. Zelle, Grauen 217 f.): To instance in the very worst of all the things named, viz. the Vulcano’s and Ignivomous Mountains; although they are some of the most terrible Shocks of the Globe, and dreadful Scourges of the sinful Inhabitants thereof, and may serve them as Emblems, and Presages of Hell it self; yet even these have their great Uses too, being as Spiracles or Tunnels […] to the Countries where they are, to vent the Fire and Vapours that would make dismal Havock, and oftentimes actually do so, by dreadful Succussions and Convulsions of the Earth. Nay, if the Hypothesis of a central Fire and Waters be true, these Out lets seem to be of greatest Use to the peace and quiet of the Terraqueous Globe, in venting the Subterraneous Heat and Vapours; which, Venenklappen des Menschen […] die Vielfalt der Eigenschaften Gottes entfaltet und anschließend eine Doxologie, ein Hymnus, ein Poem gesungen werden kann. […] Der Anlaß (Venenklappe), die Konsequenz (Theo-Logie) und das Fazit (Doxologie) stehen in keinem logischen Zusammenhang« (106).

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if pent up, would make dreadful and dangerous Commotions of the Earth and Waters. It may be then accounted as a special Favour of the Divine Providence, as is observed by the Author before praised […], ›That there are scarcely any Countries that are much annoyed with Earthquakes, that have not one of these fiery Vents‹. (68 f.)

Derhams Hypothese eines im Erdinneren lodernden Feuers genoss unter den Naturwissenschaftlern große Beliebtheit. Verschiedenste Naturphänomene, wie Pflanzenwuchs, heiße Quellen, aber auch Vulkanausbrüche und Erdbeben, ließen sich auf diese Weise plausibel als verwandte Wirkungen des inneren Feuers erklären. Auf die darin implizierte Auffassung des Feuers als dynamische Kraft, die gleichermaßen Leben erhält und vernichtet, rekurriert auch Christian Wolff in den Vernünfftigen Gedancken, um die durch Vulkanausbrüche hervorgerufenen Schäden zu relativieren. Weil das innere Feuer für den Fortbestand jeglichen Lebens auf der Welt unabdingbar ist, muss die zerstörerische Feuerkraft der Vulkane in Anbetracht des immensen Nutzens des Feuers eigentlich als gering eingeschätzt werden: Unter die Unglücks=Fälle, welche man dem Feuer zu zuschreiben hat, gehöret auch der Schaden, den das Feuer aus den Feuer=speyenden Bergen auf dem Felde und in Dörffern und Städten verursachet, wenn es sie erreichet, wovon man aus der Historie Nachricht holen muß, und da dergleichen Feuerspeyen gemeiniglich mit Erdbeben vergesellschafftet ist, so wird sich nach diesem noch eines und das andere bey dieser Gelegenheit anmercken lassen. Sonst sehen wir auch aus dem Feuer, daß die natürlichen Dinge, welche dem menschlichen Geschlechte noch so viel Nutzen schaffen, dessen ungeachtet doch unterweilen gewaltigen Schaden zufügen können. Wenn man aber den Nutzen gegen den Schaden hält, so wird sichs auch hier finden, daß der Nutzen den Schaden weit überwäget: woraus man abermahls eine Probe der göttlichen Güte hat […], welche sich darinnen äussert, daß die Creatur dem Menschen mehr dienen muß, als ihm schaden kan, zumahl wenn man dasjenige abrechnet, was der Mensch durch seine eigene Schuld anrichtet. (GW 7: 415)

Des Weiteren spricht Wolff selbst der destruktiven Kraft der Erdbeben einen Nutzen zu. Plötzlich auftretende Erderschütterungen seien für die Natur nämlich ein bevorzugtes Mittel, die Beschaffenheit des Erdbodens innerhalb kurzer Zeit zu verändern; eine tradierte Ansicht, die er u. a. aus den naturwissenschaftlichen Schriften von Seneca47 und Plinius48 übernahm: Die Erdbeben richten zwar grossen und entsetzlichen Schaden an, nemlich allen denjenigen, den man von starcken Erschütterungen zu gewarten hat (§. 383 Phys.), und sind dannenhero ein Mittel, welches GOtt zur Straffe gebrauchen kan (§. 104): 47 

48 

Vgl. Seneca 335 f. Vgl. Plinius 159, 163–171.

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unterdessen wenn man verschiedene Zufälle erweget, die sich damit vergesellschafften, so kan man ihnen auch nicht allen Nutzen absprechen. Sie sind das vornehmste Mittel, welches die Natur braucht, den Zustand der Erden zu verändern. […] Die Veränderung demnach, welche an dem Erdboden sich ereignen kan, geschiehet entweder, indem Wasser entstehet, wo vorher keines war, oder das Wasser sich verlieret, und ein trockenes Land hervor kommet, wo vor diesem eine See war; indem Berge verschwinden, oder der Erde gleich werden, oder auch an einem ebenen Orte Berge entstehen; indem feste Länder abgerissen, und zu Insuln werden, Insuln hingegen an ein festes Land angesetzet werden. (GW 7: 458 f.)

Neben den durch die Naturwissenschaften gelieferten Rechtfertigungen, die den geognostischen Nutzen der Vulkane und Erdbeben hervorheben, verdeutlichen die obigen Zitate, wie hartnäckig sich das tradierte straftheologische Deutungsmuster halten konnte. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist die Überschneidung theologischer und naturwissenschaftlicher Deutungsmodelle nicht nur in physikotheologischen Abhandlungen zu verorten.49 Die Heilige Schrift fungiert nach wie vor als autoritative Geschichtsquelle vergangener und kommender Verheerungen. Entscheidend ist jedoch, dass die Physikotheologen die darin »dokumentierten« Vorkommnisse des göttlichen Zorns mit der unendlichen Weisheit und Güte Gottes kontrastieren. In paradigmatischer Umkehr zur in den Bußpredigten beabsichtigen Furchtmaximierung verfolgen sie mit dem empiriegeleiteten Offenlegen der Naturzusammenhänge die Beschwichtigung der abergläubischen Angst vor außergewöhnlichen Naturphänomenen. Fabricius vollzieht diesen Doppelschritt im 32. Kapitel des zweiten Buches der Hydrotheologie. Gott habe die Menschheit mit der Sintflut einmal schwer bestraft und tue dies immer noch »bey einzelen kleinern Ueberschwemmungen dann und wann […].« Statt darüber in zweifelnden Unmut zu geraten, soll Gottes Weisheit gepriesen werden, denn laut Hiob 26.10 habe er »um das Wasser ein Ziel gesetzt, bis das Licht samt der Finsterniß vergehe, mit welchen Worten er zu verstehen giebt, daß so lange die Abwechselung von Tag und Nacht seyn wird, die Einwohner auf der Erde sich dieser Meeres=Gräntzen werden versichern können, und vor keiner Sündfluth sich zu befürchten haben« (179). Ohne die göttliche Fürsorge hätte das Chaos der Fluten die Welt mitsamt dem Menschen längst zerstört; eine Schlussfolgerung, die Fabricius am Ende des Kapitels an die Doxologie knüpft: Durch dein Wort, HERR, stehet die Erde fest gegründet: […] das Meer wird in festen Schrancken gehalten, und so weit die Erde und der Ocean sich erstrecket, ist alles zu wunderbaren und ersprießlichen Nutzen also künstlich bereitet. Und wenn 49  Exemplarisch

dafür ist die Verschränkung der natürlichen und übernatürlichen Erdbebenursachen in dem oben zitierten Eintrag »Erdbeben« aus Zedlers Universal Lexikon ( 1734).

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dieses nicht nach der Weisheit deines Willens geschähe, so würde ohne Zweifel ein solcher grosser Widerstand, und so mächtige einander entgegene Macht, der Welt und uns Menschen schon längst den Untergang zuwege gebracht haben. (181)50

Dem göttlichen Heilsplan zufolge läuft die Menschheit also nicht Gefahr, erneut von einer großen Sintflut ertränkt zu werden. Hingegen stellen die seismischen Vorkommnisse eine weit größere Hürde für die Bonisierung der Naturübel dar, da sie als Prodigien des Jüngsten Gerichts das kommende Weltende verkünden.51 Mit dem besonderen Unheil, das von den Erdbeben ausgeht, beschäftigt sich der Pastor und zum Hamburger Kreis der Physikotheologen gehörende Friedrich Christian Lesser im ersten Kapitel seiner Lithotheologie. Dabei fällt auf, dass auch Lesser mithilfe rhetorischer Mittel der Homiletik den Naturschrecken gezielt instrumentalisiert. Die menschliche Ohnmacht führt er angesichts der drohenden Erdbebengefahr vor Augen, um anschließend das Heil in der göttlichen Vorsehung umso prägnanter herauszukehren. Zu diesem Zweck werden neben relevanten Bibelstellen aus dem Alten Testament52 Senecas berühmte Worte aus dem 6. Kapitel der Naturales quaestiones zitiert: Wenn das, was allein in derselben unbeweglich und fest ist, daß es alles andere träget, wancket: Wenn die Erde das Stehen so ihre Eigenschafft ist, verliehret: Wo will endlich unsre Furcht aufhören? […] Einen Feind kan man von der Mauer abschlagen: Hohe Castele können auch grosse Krieges=Heere durch schwere Zugänge abhalten: die Dächer vertreiben die Gewalt derer ausgegossenen Platz=Regen, und die beständig herabfallende Wasser: Das Feuer verfolget nicht die Fliehenden: Wider den Donner und das Blitzen des Himmels sind Keller unter der Erden und tieff gegrabene Hölen gut. Der Blitz vom Himmel schlägt nicht durch die Erde, sondern wird leicht durch dieselbe zurück geprallet. In der Pest kan man seine Wohnung ändern. Einem jeden Unglücke kan man entfliehen, der Blitz hat niemals gantze Völcker verbrandt. Eine vergifftete Lufft hat wohl gantze Städte ausleeren, doch nicht gar aufheben können. Aber dieses Uebel bereitet sich weit aus, ist unvergänglich, 50 

Fabricius zitiert an dieser Stelle den »Lobgesang des grossen Kaysers Constantini«. Vgl. Offenbarung 16, 17–21. 52  »Die heilige Schrift schreibet dannenhero die Erdbeben dem erzürnten GOtte zu. Hiob spricht davon: GOTT versetzet Berge ehe sie es inne werden, die er umkehret. Er weget ein Land aus seinem Ort, daß seine Pfeiler zittern, im XI Cap. 5.6. und David saget: Die Berge hüpffeten wie die Lämmer, die Hügel wie die jungen Schaafe. Für dem HERREN bebet die Erde, für dem GOTT Jacob Ps. CXIV. v. 4.7. Ja mich deuchtet, die heilige Schrift ziele auf das unterirdische Feuer, dessen sich GOTT bedienet die Erdbeben zu erregen, in folgenden Sprüchen: Die Erde bebete und ward beweget, und die Grund=Feste derer Berge regeten sich, und bebeten, da er zornig war. Dampff gieng aus von seiner Nasen, und verzehrend Feuer von seinem Munde, daß es davon blitzete im XVIII Ps. v. 8.9. Er schauet die Erde an, so bebet sie, er rühret die Berge an, so rauchen sie im CIV. v. 32« (Lesser 23). 51 

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begierig, und allgemein schädlich. Denn es reibet nicht nur die Häuser oder gantze Familien, oder jegliche Städte auf, sondern es wirffet gantze Völker ja gantze Landschaften über den Hauffen: Und bedecket sie bald mit ihrem Untergange, bald sen­ cket es sie in einen tiefen Schlund: Ja es hinterlässet nicht einmahl eine Spuhr, aus welcher man sehen könne, wo etwas gewesen, da jetzo nichts ist; sondern es breitet sich über die berühmtesten Städte aus, ohne das geringste Merkmahl ihrer vorigen Gestalt übrig zu lassen. (20–22)53

Lesser räumt ein, die Zerstörung von Städten und Ländern vollziehe sich zwar auf natürliche Weise, aber die natürlichen Ursachen werden von Gottes weiser Regierung und straffenden Gerechtigkeit so geleitet, daß er sie zu gewisser von ihm bestimmten Zeit zu seinen Straff=Gerichten brauchet. […] GOTT giebt nemlich in der Natur nicht einen bloßen Zuschauer ab, der alles gehen lässet, wie es gehet […]. (22 f.)54

So schrecklich die Erdbebenverheerungen auch sind, geschehen sie nicht rein zufällig. Sie sind als Äußerungen des von Gott bestimmten Weltenlaufs zu verstehen, der gemäß den Endzwecken darauf hinzielt, die göttliche Allmacht zu verkünden. Der Mensch soll folglich nicht die blinde Kraft zerstörerischer Naturgewalten respektieren, sondern die durch sie proklamierte absolute Autorität des sowohl strafenden als auch allgütigen und allweisen Schöpfers. Denn »der Liebhaber der Menschen, unser GOtt«, so konstatiert Lesser, lindere »allzeit das Schwerdt seiner Gerechtigkeit mit dem Oehle seiner Barmherzigkeit« (25). Aufkommende Skrupel, ob sich all das Leid der betroffenen Menschen überhaupt mit Gottes Güte aufwiegen lässt, kontert Lesser mit Standardargumenten der Theodizee: Man hat aber zu bedencken, daß GOttes Weisheit und Gütigkeit einerley Eigenschaften sind, mithin zu schliessen, seine Weisheit müsse, uns verborgene Ursachen haben, warum sie eben an diesem oder jenem Orte solches geschehen lasse? Und man erwege nur, wie geringe der Schade sey, der nur an einigen Orten von einigen Meilen im Umkräyse, sich ereignet, wenn man ihn gegen den weiten Umfang der Erden hält? (28) 53 

Die Stelle diente ebenfalls in Martin Opitz’ (1597–1639) Lehrgedicht Vesuvius (1633) als Vorlage, um den Verwüstungen Kampaniens im Jahre 1631 poetische Form zu geben. Opitz relativiert das Schreckensereignis, ähnlich wie Seneca, indem er es als ein Übel unter vielen aufführt. Tatsache ist, dass wir alle einmal sterben müssen: »Dein Vesuvius ist hier. Der Leib, der Seele Wagen,/ Der Kercker, den der Mensch muß an dem Halse tragen,/ Der Mensch, deß Glückes Ball, die Fantasey der Zeit,/ Darff nicht erwarten erst bis der Etna Feuer speyt,/ Biß Plitz und Donner kömpt, biß Statt und Land versincken./ Was scheuen wir die See/ ein Tropffen wann wir trincken/ kan unser Hencker seyn« (160). 54  Statt auf Seneca rekurriert Lesser an dieser Stelle auf das stoische Weltbild Ciceros und den alttestamentlichen Richtergott.

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Mit dem Verweis auf den menschlichen Erkenntnismangel wie auf den relativierenden Vergleich des Leids zum harmonischen Naturganzen wird den skeptischen Einwänden apologetisch ein Riegel vorgeschoben. Im Versuch, die destruktiven Naturkräfte in Bezug auf ihren Nutzen zu rechtfertigen und gleichzeitig am alttes­ tamentlichen Bild des strafenden Gottes festzuhalten, offenbaren sich jedoch die Konfliktmomente in der Physikotheologie. Die Fortführung physikotheologischer Schriften erfolgt bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts. Johann Samuel Preu, der in der mittelfränkischen Stadt Weißenburg als Theologe amtierte, veröffentlichte 1772 seinen Versuch einer Sismotheologie oder physikalisch-theologische Betrachtung über die Erdbeben. Als Initialzündung für die Schrift gibt er das »merkwürdige Erdbeben an, welches im Jahr 1755. beynahe ganz Europa erschüttert« habe. Deren Fertigstellung fand aber erst Jahre später unter der Bitte eines Weimersheimer Gottesgelehrten statt, nachdem ein Beben im August 1769 große Teile Bayerns erschüttert hatte.55 Preu berücksichtigt in seiner Untersuchung die Werke namhafter Naturwissenschaftler wie John Rays (1627–1705) Physico-Theologische Betrachtungen (1692), Buffons Historie der Natur und William Stukeleys (1687–1765) Philosophy of Earthquakes (1650). Apodiktisch lässt er verlauten, dass die Erdbeben »von keiner äusserlichen Ursache herrühren; sondern ihren Grund in der innern Einrichtung des Erdbodens haben« (Vorrede, unpag). Insoweit verwirft er die Urteile der Ungelehrten, die bei den verspürten Erdstößen »Krieg, Mißwachs, Hungersnoth und andere Landplagen« voraussagten. Um dem Aberglauben vorzubeugen, propagiert Preu ganz im Sinne einer gesellschaftsumfassenden Volksaufklärung den Schulunterricht über die vornehmsten »Begebenheiten der Natur.« Dadurch soll den Lehrbegierigen verholfen werden, »vernünftig über dergleichen Vorfälle nachzudencken« (35). Letztlich zielt das Offenlegen der Naturzusammenhänge nicht nur auf die Wissenserweiterung, sondern auch auf die Verehrung des vortrefflichen Schöpfergottes. Nichts geschieht im teleologisch strukturierten Weltgefüge ohne Sinn und Zweck. Wenn die Geschichte zur Hand genommen werde – an diesem Punkt macht sich der langfristige Stellenwert der in der Frühen Neuzeit erstellten Erdbebenkataloge bemerkbar – so erblicke man in den außerordentlichen Erderschütterungen »das Sigel des Wunderbaren« (96). Selbst wenn sie natürliche Phänomene seien, bestehe »die erste und entfernte Ursache der Erdbeben« in Gott (97). In Abkehr zum straftheologischen Deutungsmuster kann Preu aber nicht glauben, dass der höchste Richter die seismischen Umwälzungen ausschließlich als »Werkzeuge seines Zorns« gebrauchen wolle: »Nein! ich verehre in dem Erdbeben nicht nur einen majestätischen Gott, dessen Macht 55 

Vgl. dazu den mehrteiligen Bericht »Gedanken über die in München, und ganz Baiern den 4ten August verspürte Erderschütterung, und über das Erdbeben überhaupt«, der am 18. August und am 1. September 1769 in der Wochenschrift Der Patriot in Baiern erschien.

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zu fürchten ist; sondern auch einen gütigen und liebreichen Vater« (183). Die Erdbeben befördern vielmehr die Fruchtbarkeit der Erde, erzeugen Metalle, erleichtern den Abbau des Salzes und bringen versiegte Quellen wieder zum Sprudeln. Gottes weise Einrichtung konkretisiert sich ebenfalls in der Erfahrung, dass Küstenländer ein höheres Erdbebenvorkommen aufweisen. Preu argumentiert, die Gefahrenherde können unter öden Wüsten, Gebirgen, Seen oder anderen unbebauten Gebieten platziert sein, jedoch seien sie meistens in den fruchtbarsten Gegenden der Welt anzutreffen, die den Kommerz und Konsum begünstigen. Dadurch verschiebt sich das Naturübel zu einem moralischen Problem: Die Menschen verlieren aufgrund der angehäuften Luxusgüter ihre Gottesfurcht: »Langer Friede und Glückseligkeit, Reichthum und Ueberfluß pfleget Hochmuth, Müßiggang und Schwelgerey zu gebähren, und ein allgemeines Verderben der Sitten einzuführen« (196). Unter diesem Gesichtspunkt entwickeln sich die Handelszentren zu Sündenpfuhlen, die sporadisch ausgemerzt werden müssen: Gott bauet eine Erde, die grosse und verwüstende Erdbeben zeuget. Grosse Städte werden dadurch verheeret, und einige tausend Menschen in einer einzigen Minute getödet. Niemand weiß, ob sein Wohnhaus auf einer sicheren und festeren Stelle stehet. Ganze Länder kommen daher in Furcht, und mancher lässet sich dadurch noch bewegen, den mächtigen Beherrscher der Natur zu erkennen, und ihn als denjenigen zu verehren, in dessen Händen sein Leben und seine ganze Glückseligkeit stehet. (195)

Trotz der ausführlichen Erklärungen über die natürliche Beschaffenheit der Erd­ beben und die Aufgeschlossenheit gegenüber den wissenschaftlichen Anstrengungen, die Naturgefahren zu bändigen, werden dieselben Grundargumente der orthodoxen Religionswächter fortgeführt. Preu konstatiert die tradierte Einschätzung, dass die seismischen Vorkommnisse singuläre Naturphänomene seien: »Sie führen mich weit stärker und nachdrücklicher zu Gott, als viele andere natürliche Dinge und Begebenheiten« (207). Die göttliche Allmacht, die alle Elemente mühelos zu mobilisieren vermag, offenbart sich den gewaltsamsten Erschütterungen als schrecklicherhabener Betrachtungsgegenstand: Was fühlet unser Herz bey diesem Anblick? Können wir diese Vollkommenheiten Gottes betrachten, ohne dieselben zu bewundern? Wird diese Verwunderungen Platz genug in unsern Seelen haben, oder vielmehr unsern Mund zum Lobe des Aller­höchsten öfnen? (236)

Die Wucht des Erhabenen hebelt jegliche Unstimmigkeit in der angestrebten Verschränkung des größtmöglichen Naturübels mit dem harmonisch operierenden Naturhaushalt aus. Dass bei diesem »Anblick« auch tausende von Menschen zu Grunde gehen, fällt im Moment des überwältigenden Erstaunens nicht ins Ge-

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wicht. An anderer Stelle relativiert Preu allfällige Einwände, dass für den Erhalt der Besten aller möglicher Welten auch unschuldige Menschen leiden und sterben müssen. Werden sie gezüchtigt, bekommen sie die Gelegenheit, »sich in der Geduld, im Vertrauen auf Gott, und in der Veläugnung der irrdischen Güter dieser Welt zu üben« (248). Diejenigen, die ums Leben kommen, erfahren hingegen die wahre Wohltat eines sofortigen Todes, ein apologetischer Einwand, den auch Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) in seiner Entgegnung zu Voltaires (1694–1778) Poème sur le désastre de Lisbonne (1755) verwendete56: »Denn sie gehen mit schnellen Schritten, und ohne die Schmerzen eines langsamen Todes zu fühlen, aus einer vergänglichen Welt in die bleibende Stadt Gottes, deren Grund unbeweglich ist« (248). Entgegen der angestrengten »Positivierung des Negativen«, der Veranschaulichung eines Weltenlaufes, in dem die Naturprozesse physikalischen Gesetzmäßig­ keiten unterworfen sind, gelingt es den Physikotheologen nicht, sich vom archaischen Glauben an das göttliche Strafgericht zu verabschieden. Das physische Übel konstituiert einen Grenzfall, wo der gewohnte Gang der Naturdinge durch den göttlichen Einfluss aufgehoben wird. Ungeachtet des Vorsatzes, die Kausalzusammenhänge der Erderschütterungen in naturimmanenten Prozessen zu verorten, vermag Gott diese als Strafrute einzusetzen, um seine Majestät, Macht und Herrlichkeit zur Schau zu stellen. Im Unterschied zum Naturbild der vorangegangenen Jahrhunderte ist der ominöse Zeichencharakter der Naturverheerungen inzwischen verblasst und die Physikotheologen sind bestrebt, die Angst vor dem Numinosen zu vermindern. Jedoch verbleibt die Gottesfurcht als unumstößliches Relikt bestehen. Der retardierende Effekt religiöser Vorstellungen offenbart sich an diesem Schlüsselpunkt auf unmissverständliche Art und Weise: Gottes absolut freies Handeln darf weder durch die Naturwissenschaften noch durch ihre aufgestellten Naturgesetze beschnitten werden. Die Verselbständigung der Naturprozesse könnte die göttliche Mittäterschaft verflüchtigen; angesichts dieser Konsequenz wird klar, in welchem Spannungsfeld – oszillierend zwischen der Begeisterung für die new science und dem Kniefall vor den orthodoxen Dogmen – sich die Physikotheologen bewegt haben. Einerseits legen sie den Grund des physischen Übels traditionsgemäß in den menschlichen Verfehlungen fest,57 andererseits wendet sich ihr Argwohn gegen die deistischen bzw. atheistischen Vertreter der new science, die die direkte Vorsehung Gottes verleugnen. Eine völlige Ablösung vom Weltbild der natura lapsa zugunsten der oeconomia naturae kann insofern nicht vollzogen werden. Sollte der naturwissenschaftliche Diskurs nicht ausreichen, durch den erschlossenen Nutzen der de56 

Vgl. Breidert 82. Siehe dazu Breidert: »Insofern galt auch schon damals der Mensch als verantwortlich für die Naturkatastrophen. Da kein Mensch als unschuldig gelten konnte, war es möglich, dort, wo einige der Vernichtung mit knapper Not entgingen, von göttlicher Gnade und Gott als Helfer und Retter zu sprechen« (11). 57 

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struktiven Naturkräfte das von ihnen verursachte Menschenleid zu relativieren, lässt sich letztendlich immer noch mithilfe des moraltheologischen Deutungsmusters die göttliche Weisheit und Liebe begründen. Dadurch bleibt die providentia Dei, und sei es gerade im physischen Übel, als tröstende Rückversicherung bestehen. Der verankerte Glauben, dass gerade in Situationen höchster Gefahr sich die göttliche Fürsorge offenbart, soll den Angstdruck vor den unkontrollierbaren Naturkräften vermindern.

3. Erdbeben entmystifiziert: Christlob Mylius’ Wochenschrift Der Naturforscher Die in den Jahren 1747–1748 erschienene physikalische Wochenschrift Der Naturforscher beschäftigte sich in Abgrenzung zu den moralischen Wochenblättern ausschließlich mit naturwissenschaftlichen Themen und schlug deswegen neue Wege ein. Ihr Herausgeber, der Schriftsteller und Naturforscher Christlob Mylius, war sich des innovativen Inhalts bewusst. Im ersten Stück des Naturforschers vom 1. Juli 1747 führt er die Zielsetzung an, ein breites Laienpublikum für die Naturwissenschaften zu begeistern. Ich habe mit größtem Vergnügen seit einiger Zeit einigen Zuwachs in der Liebe zur Naturlehre bey meinen werthesten Landsleuten bemerkt. […] Alle Wochenschriften sind bisher moralisch gewesen, ausgenommen eine, oder zwo. Doch auch diese sind von ganz anderer Beschaffenheit gewesen, als meine vorhandene seyn wird. Sie sind für Naturforscher geschrieben: diese aber ist physikalischen Layen gewidmet. (5 f.)

In seiner Überzeugung, ein umfassender Einblick in die verschiedensten Naturerscheinungen fördere die Gottesverehrung, teilt Mylius allerdings dieselbe Zielsetzung der moralischen Wochenschriften und der Physikotheologen. Den moralischen Nutzen einer gesellschaftsübergreifenden Naturkenntnis wird explizit erläutert: Nichts ist einem vernünftigen Wesen anständiger und nützlicher, als richtige Begriffe von denen Dingen, welche sie beständig umgeben. Die Natur ist überall bey uns. Sie empfängt uns bey unserm Eintritte in die Welt, und sie begleitet uns bis zum Ausgange aus derselben. Sollten wir uns wohl der Betretung dieses großen Schauplatzes der prächtigsten Werke und Begebenheiten der Natur, nur einen Augenblick für würdig schätzen können, wenn wir nicht einmal zu wissen verlangen, wo wir sind, und was wir empfinden? Können wir unsern und der ganzen Welt Schöpfer und Herrn verehren, wenn wir ihn nicht kennen? Können wir ihn aber, da er unsichtbar ist, wo anders kennen lernen, als in seinen Werken? Den größten und herr-

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lichsten Theil dieser Werke aber zeigt uns die Natur. Diese müssen wir betrachten, diese müssen wir kennen, diese müssen wir bewundern, wenn wir Gott lieben und ehren wollen. Wir müssen verständig seyn, wenn wir tugendhaft seyn wollen. (6)

Bedeutend ist, dass die Schreibart der Beiträge »nicht allzu sehr in das dogmatische« fallen solle, damit »die Fremdlinge im Reiche der Natur« wie auch »die Vertrauten« gefallen an den Beiträgen finden können. Die trockene Materie diverser naturwissenschaftlicher Themen, wie »Blitz und Donner«, »Raupen und Schmetterlinge«, »Kometen und Planeten« »Erzten und Steinen« wurde mit heiteren Gedichten von Mylius und seinem Vetter Gotthold Ephraim Lessing abgerundet (7). Karl Richter sieht in der Kontrastierung der »ernsteren Wissenschaft« mit den Intermezzi anakreontischer Gedichte über Wein und Geselligkeit eine zeittypische Mischung des »Prodesse-et-delectare« (123). Der Naturforscher berichtet im 25. Stück vom 16. Dezember 1747, wie ein Erdbeben die peruanische Hauptstadt Lima am 31. Oktober 1746 in Schutt und Asche verwandelte: Lima, die Hauptstadt in Peru, einem Königreiche in America, welches den spanischen Zepter verehret, ward den 31. Oct. verwichnen Jahres, nebst dem ansehlichen peruanischen Hafen Callao, durch ein plötzlich entstandenes entsetzliches Erdbeben, von der Erde verschlungen. Die See tobte dabey erstaunlich und die Schiffe an der Küste von Peru bey Callao wurden etliche Meilen in das Land hinein geschleudert. Die Menschen, welche darauf waren, wurden mit durch die Luft geführet und weit und breit zur Erde nieder geschmissen. (491)

Schon früher wurden ganze Länder und Städte von großen Bewegungen »versenket, verschwemmet und verschüttet«, aber noch nie seien »alte Städte und Landschaften unter der Erde wieder hervorgekommen« (491). Dieser kuriose Vorfall sei aber nach dem verheerenden Erdbeben von Lima geschehen: Nicht lange nach dieser großen Begebenheit erfuhr man, daß man nicht weit von Neapolis eine alte Stadt durch Graben entdecket welche alle Merkmaale der ehemals da befindlich gewesenen Stadt Heraklea gezeiget, welche vor beynahe tausend Jahren von dem Schutte des feuerspeyenden Vesuvs bedecket worden. (491 f.)

Nach der auffallend knappen Kenntnisnahme beider Unglücke meint Mylius, er habe die Erderschütterungen ausreichend besprochen: »Man weis genug davon, wenn man etliche weis« (492). Stattdessen folgt eine weit ausführlichere Besprechung der verwandten Ursachen von Erdbeben und Vulkanausbrüchen. Mylius greift zu diesem Zweck auf die tradierte Theorie zurück, dass Luft und Feuer in unterirdischen Hohlräumen die Erdoberfläche zum Beben bringt.58 58 Mylius’

Erklärung deckt sich weitgehend mit den Informationen aus Johann Gottlob

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Man darf sich die Erde nicht als durchgängig dicht vorstellen. Es sind in ihrem Innern viele Höhlen, welche zum Theil so groß als ganze Länder sind. Diese Höhlen haben so wohl Luft in sich, als die Zwischenräume aller Körper. Diese unterirdische Luft wird so wohl, als die Luft über der Erde, zuweilen mehr und weniger elastisch, und folglich entstehen Winde in derselben. Diese verschiedene Elasticität entstehet so wohl, als bey der Luft über der Erde, von der Auffsteigung verschiedener Dämpfe aus dem Innern der Erde; und daß diese da sehr häufig aufsteigen, dieses lehret die Erzeugung der Metalle und anderer Mineralien. Wenn nun die Luft in einer Höhle z. E. durch viele feurige Dünste sehr erhitzet und folglich stark ausgedehnet wird, so kann ihrer Gewalt der Erdboden nicht widerstehen, sondern sie hebt ihn mit in die Höhe und reist ihn oft von einander. (492)

Das heftige Beben an der Oberfläche verändert die Landschaft oft dramatisch: ganze Flüsse verschwinden in den Untergrund oder neue Seen schießen plötzlich hervor. Am Meer gelegene Städte seien besonders durch Erdstöße gefährdet, da das in die Höhlen eintretende Seewasser die Entstehung explosiver Gase fördere. Zu Vulkanausbrüchen komme es, wenn entzündbare Materialien wie Schwefel durch feurige unterirdische Ausdünstungen entzündet werden. Die dabei entstandenen Flammen suchen sich einen Weg an die Oberfläche, reißen diese auf und werfen Steine und Asche weit von sich. Mylius erwähnt drei der bekanntesten Vulkane: »nämlich Vesuv in Neapolis, Aetna in Sicilien und Hekla in Island.« Von den Eruptionen des Vesuvs erfahre man öfters Nachrichten und Mylius beklagt sein prominentestes Opfer: »Er hat viel Unglück angerichtet, und vielleicht ist das größte, daß er den größten Naturkündiger unter den Römern, den Plinius, als derselbe seine Beschaffenheit bey dem Feuerspeyenden untersuchen wollen, verschlungen« (493). Der Frage, weshalb solche Naturverheerungen überhaupt auftreten, wird nicht weiter nachgegangen. Auf den Nutzen des unterirdischen Erdenbrands kommt Mylius nur kurz zu sprechen, wenn er die Vorteile heißer Quellen auf der kalten und kargen Vulkaninsel Island hervorhebt: »Die Isländer, welche ohne dieß einen großen Mangel an Holze haben, kochen ihr Fleisch in diesen heißen Quellen, indem sie es nur einige Zeit hinein hängen« (494). In seinen Ausführungen über die Naturgefahren nimmt Mylius eine abgeklärte Haltung ein, die ebenfalls für Buffons empirische Naturaneignung in der Histoire naturelle bestimmend ist. Vom Gesichtspunkt des Naturforschers bergen die Erdbeben und Vulkane keine undurchschaubaren Geheimnisse in sich. Sie treten vielmehr als entmystifizierte Naturerscheinungen auf, Krügers (1715–1759) Geschichte der Erde in den allerältesten Zeiten (1746): »Denn setzet, daß sich in einer unterirdischen Gruft verschiedene Materien miteinander vermengen, und anfangen sich zu entzünden, so wird die Luft in dieser Höle gewaltig erhitzt werden; durch die Hitze wird ihre Elasticität vermehrt, und so stark gemacht, daß sie mit der grösten Gewalt einen Ausgang sucht« (149).

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befreit von jeglichem Zeichencharakter oder der Indienstnahme einer höheren Macht. Mylius behauptet sogar, dass Erdbeben wie »alle natürlichen Begebenheiten durch Kunst nachzuahmen« seien. Das Eingraben entzündlicher Chemikalien oder die »Sprengung der Minen« genügen, um ein künstliches Erdbeben hervorzubringen (496). Die dem Bericht angefügten anakreontischen Gedichte sind bestechend in ihrem Witz und ihrer Leichtfertigkeit, da sie eine der fürchterlichsten Strafruten Gottes als ein heiteres Ereignis schildern. Statt einer tiefsinnigen Reflexion über den Grund des physischen Leids oder einer Ermahnung zur aufrichtigen Buße trifft man in Lessings Trinklied »Das Erdbeben« auf die Notlage zweier Betrunkener. In den Anfangsstrophen ist unklar, ob das Schwanken der beiden durch den übermäßigen Alkoholkonsum oder durch die plötzlich einsetzenden Erderschütterungen hervorgerufen wird: Bruder! Bruder! halte mich! Warum kann ich denn nicht stehen? Warum kannst du denn nicht gehen? Bruder, geh! ich führe dich. Sachte! Bruder, stolperst du? Was? du fällst mir gar zur Erden? Halt! ich muß dein Retter werden. Nun? ich falle selbst dazu? Sieh doch, Bruder! siehst du nicht Wie die lockern Wände schwanken? Sieh, wie Tisch und Flaschen wanken! Greif doch zu! das Glas zerbricht! (497)

Doch bald setzt die Besorgnis ein, dass ein wirkliches Beben ihr Leben gefährden könnte. Allerdings veranlasst die Todesnähe das lyrische Ich nicht dazu, etwa händeringend den Beistand Gottes zu erbitten, sondern so schnell wie möglich die letzte Weinflasche auszutrinken. Himmel! bald, bald werden wir nicht mehr trinken, nicht mehr leben! Fühlst du nicht des Grundes Beben Droht es, Bruder mir und dir. Limas Schicksal bricht herein! Bruder! Bruder! wenn wir sterben, Soll der Wein auch mit verderben? Der auf heut bestimmte Wein?

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Nein, die Sünde wag ich nicht! Bruder! wolltest du sie wagen? Nein! in seinen letzten Tagen Thut man gerne seine Pflicht. Sieh! dort sinket schon ein Haus! Und dort auch! Nun muß man eilen! Laßt uns noch die Flasche theilen! Hurtig! hurtig! trink doch aus! (497 f.)

Das zweite Gedicht, »Die wahre Ursache des Erdbebens«, entstammt wahrscheinlich Mylius’ Feder. Auch hier wird das Taumeln der Trunkenheit mit den Wirkungen des Erdbebens gleichgestellt und sich über die Ursachenforschung der Natur­ philosophen lustig gemacht. Oft, wenn ich viel Wein getrunken, Bin ich taumelnd tief versunken, Und die Erd, und was sie trägt, Hat sich rund um mich bewegt. Peru und Otranto zittern Oefters durch ein Erderschüttern Aber nein, ich glaub es nicht, Wenn es Wolf gleich zehnmal spricht. Laßt uns seinen Lehrsatz ändern! Starker Wein in heissen Ländern Macht, wenn man ihn durstig trinkt Daß man taumelt und versinkt. (498)

Die humoristische Distanz zur ungeheuren Zerstörungswucht der Erdbeben lässt sich aus dem Umstand erklären, dass ihre Verheerungen nicht als unmittelbare Bedrohungsszenarien rezipiert werden. Sie scheinen vielmehr in entfernte Regionen oder vergangene Zeiten verbannt zu sein. Lessings Bereitschaft, die seismischen Aktivitäten als Sinnbild des übermäßigen Alkoholkonsums darzustellen, verweist auf die schwindende Vormachtstellung des straftheologischen Deutungsmusters in den Gelehrtenkreisen. In ironischer Umkehr erweist sich die größte Sünde, die man angesichts der hereinbrechenden Kalamitäten begehen könnte, den für diesen Tag bestimmten Wein nicht zu konsumieren. Selbst die schulphilosophische Autoritätsperson Christian Wolff wird aufs Korn genommen. Zu diesem Zeitpunkt war es durchaus möglich, dem Schrecken der Erderschütterungen mit der lebensbejahenden Thematik anakreontischer Lieder beizukommen. Statt mit moralin-

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saurer Bußfertigkeit soll die verbleibende Lebenszeit mit sinnlichem Genuss erfüllt werden.59

4. »[E]r winkt, dann fliehn Elemente / Aus ihren Grenzen, zerstören und tödten.« Jakob Michael Reinhold Lenz’ Gedicht Die Landplagen Die sechs Gesänge – Krieg, Hunger, Pest, Feuers- und Wassernot, Erdbeben – sind der »schreckliche Stoff«, den Jakob Michael Reinhold Lenz in seinem ersten großen Verszyklus Die Landplagen aufführt.60 Bezeichnend ist, dass das während Lenz’ Königsberger Studienzeit fertig gestellte Hexametergedicht von den philosophischen Strömungen einer aufgeklärten Naturauffassung nicht erfasst worden ist. Die wechselnden »Szenen voll Grauen« sind Folge der »frech« gehäuften Schulden ganzer Völker, gegen die Gott die verheerenden Naturkräfte mobilisiert: »Streitende, gegen einander erhitzete Festen des Weltenbaus,/ Erd’ und Feuer und Dampf und Wasserfluten und Stürme!« (WuB 3: 33). Lenz rechtfertigt die Verwüstung ganzer Städte und Landstriche ausschließlich mit dem tradierten straftheologischen Deutungsmodell, ohne dabei auf die sich im 18. Jahrhundert verbreitende Lehrmeinung eines zweckmäßigen Naturhaushalts oder den Nutzen des physischen oder moralischen Übels auszuweichen. Der straftheologische Duktus der Landplagen zeigt Spuren des pietistischen Gedankenguts, das in Lenz’ Elternhaus im livländischen Dorpat vorherrschte. Sein Vater, Christian David Lenz (1720–1798), der an der Universität Halle, einem Zentrum der pietistischen Bewegung, Theologie studiert hatte, amtierte in Dorpat als renommierter Pastor. Sein Name verband sich mit Bußpredigten, »die zu einer völligen Lebensumkehr, zu einer religiösen Wiedergeburt aufrufen« (Winter 27). Neben der archaischen Vorstellung des strafenden Richtergottes übte auch die Hinwendung auf die subjektive Innenwelt einen Einfluss auf das Argumentationsarsenal der Landplagen aus. Mit der vertieften Selbstanalyse seelischer Regungen wird nicht nur ein persönlicher Zugang zu Gott gesucht, son-

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Allgemein zu Lessings anakreontischen Gedichten und deren ausgeprägt parodistischem Inhalt siehe Nisbet 72–74. 60  Genau die gleiche Folge der Plagen, mit Ausnahme des Erdbebens, wird im Kontext der lutherischen Orthodoxie bereits in Johann Arndts zweitem Buch vom wahren Christentum erwähnt: »Und wir erfahren ja, was uns GOtt der HErr für Unglück und Herzeleid zuschicket, daß wir es alle Winkel voll haben. Und wo wir nicht Buße tun, wird GOttes Zorn durch Krieg, Hunger, Pestilenz, Feuer und Wasser dermaßen anbrennen, daß auch solches Feuer die Grundfeste verzehren wird, wie zu Jerusalem […]« (2.9.2.). In der Forschungsliteratur wird jedoch meist auf Edward Youngs (1683–1765) Versepos »Night Thoughts« (1742–1745) hingewiesen, das die Idee der Landplagen geliefert haben soll. Vgl. dazu Rosanow 65 f. und Price 126.

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dern es erfolgt auch die stete Besinnung auf die eigene Tugendhaftigkeit, um sich zu vergewissern, ob man überhaupt bereit ist, vor den Richterstuhl Gottes zu treten.61 Reflexionen über die seelische Befindlichkeit schiebt Lenz in den Landplagen mittels des lyrischen Ich des Öfteren ein. Gerade in der unmittelbaren Nähe besonders abstoßender Bilder hält die Sängerstimme inne, beschwört seine »junge Muse«, dem Anblick des Grauens standzuhalten, und hebt sodann mit erneutem Eifer an, den begonnenen Gesang weiterzuführen. Im dritten Buch über die Pest heißt es: Stärke dich, schüchterne Muse! gebückt schau tiefer hinunter In die dunkle Tiefe der Zeiten, wenn die Rache des Schöpfers Durch die ganze Schöpfung allmächtiges Grausen verbreitet. Kommt ihr Diener des Todes, furchtbarer als eurer Beherrscher, Fräßige Seuchen und Schmerzen und tückische Krankheiten, zeiget, Alle zeigt mir die knirschenden Zähne, die würgenden Klauen, Den blutschäumenen Schlund: umhüpft in scheußlichen Tänzen Das erschrockene Auge der Phantasie, die sich sträubet, Weiter auf den Gefilden erfüllt mit Jammern und Abscheu, Fortzugehen und zu sehn die Natur verunstaltet durch Plagen: Dennoch will ich mit heiterer Stirn und gesetzten Blicken Eure Verheerungen singen; denn wer die Ruhe im Busen Hegt, verhöhnet die Unruh’ auf sturmbedeckten Gebürgen, Horcht auf die brüllenden Wolken und lächelt der eiligen Blitze. (WuB 3: 54)62

Lenz bezweckt mit der Evokation des Schreckens die Einübung der stoischen Affektbeherrschung, die das empfindsame Subjekt vor der bedrohlichen Natur oder den Gräueltaten des Menschen im wirklichen Leben wappnen soll. Die angestrebte innere Gefasstheit angesichts der Todesgefahr findet ihre besondere Charakterisierung im ersten Buch über den Krieg: Vor dem losbrechenden Schlachtgetümmel fordert der Sänger die Soldaten auf, sich mit dem Tod und dessen Schrecken vertraut zu machen: 61 Vgl.

dazu die Ausführungen Martin Kagels über die pietistische Selbstüberwachung: »Dem Gläubigen diente sie als Mittel, sich im Zeichen der Bewährung Rechenschaft über das eigene Handeln abzulegen. Zugleich eröffnete der einzelne damit ein Verfahren gegen seine eigene Person, nach dessen selbstgewähltem Richtmaß er sich für etwaige Vergehen zu bestrafen hatte« (57). 62  Vgl. die folgende Passage mit ähnlichem Inhalt weiter unten: »O der furchtbaren Plage! der ganze Mensch empört sich/ Bei ihrer Vorstellung. Muse! auch du fühlst Schaudern: so schaudert/ Ein mitleidiger Herold wenn er dem bangen Gefangenen/ Der mit tränenschwellendem Auge sein Urteil erwartet/ Seltene Martern verkündigt. Doch laß die Hand noch nicht sinken,/ Noch an der Harfe hinunter nicht sinken, bis alles vollführt ist,/ Wozu du Feuer und Mut in meinen Busen gesenket« (WuB 3: 58).

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Ihr, die eure Pflicht aufruft, den winkenden Fahnen In tausendfache Gefahren zu folgen, erbebt vor dem Tode, Eh er noch auf der drohenden Spitze des feindlichen Schwertes Vor eurem Busen steht: schaut ihm ins furchtbare Antlitz, Werdet vertraut mit ihm, gewöhnt euch zu seinen Schrecken, Eh sein abscheulich Geripp’ euch unvermutet umhalset. (39)

Mit dem Rückgriff auf das traditionelle memento mori-Motiv in Gestalt des »abscheulich Geripp«, das jedermann jederzeit überraschen kann, zeigt sich wiederum die moraldidaktische Motivation in der Gewöhnung des Schreckens. Ein plötzlicher Tod bringt den Christenmenschen in Gefahr, mit einer unabgetragenen Sündenlast der ewigen Verdammnis zu erliegen. Lenz’ weit gefächertes Panorama des menschlichen Leids, die Verheerung ganzer Städte und Landstriche, der qualvolle Tod von Müttern mit ihren Kindern und die wundersame Errettung einzelner versinnbildlicht allzu deutlich die Unbeständigkeit des Erdendaseins. Nur ein tugendhafter Christ, der seine Affekte zu zügeln weiß, könne getrost der Erlösung im jenseitigen Dasein entgegenblicken.63 Die Plagen sind dementsprechend Bewährungsproben, an denen das Vertrauen in Gottes Allmacht und Gerechtigkeit geprüft wird. Wenden wir das Augenmerk den beiden letzten Landplagen, »Die Wassersnot« und »Das Erdbeben« zu. Der Aufbau beider Gesänge, die Abfolge unterschiedlicher Szenen und die pathetische Bildersprache deuten auf den Einfluss verschiedener Quellen, insbesondere des lyrischen Werks von Ewald Christian von Kleist (1715–1759) hin. Spuren seiner Gedichte »Sehnsucht nach Ruhe« (1744) und »Der Frühling« (1749/56) sind in den Landplagen an verschiedenen Stellen festzustellen (vgl. Hohoff 14). Ganz nach dem Vorbild Kleists kontrastiert Lenz anakreontische Schäferlandschaften mit der Schilderung zerstörerischer Naturkräfte. Bevor der Sänger vom Hereinbrechen der Wassernot aufgeschreckt wird, ergötzt er sich an den Sinneseindrücken der ihn umgebenden Frühlingslandschaft:

63  Vgl.

dazu Paul Heinrichsdorffs Kommentar zu Lenz’ innerer Ruhe: »Wir glauben vielmehr, daß die innere Ruhe des Dichters sich allein aus der bewußten Absicht erklärt, das Wirken Gottes in der Welt durch seine Dichtung darzutun. So kann er selbst außerhalb des Leidens bleiben, ja sich sogar über es erheben. Jene Verse entstanden aus einer gewissen lebensfernen Naivität, die nachspricht, was sie in gelernter Frömmigkeit aufgenommen hat, daß der innerlich gefestigte Mensch allem stürmischen Geschehen gegenüber gelassen bleibt – eine Anschauung, die von Lenz durch seine intensive Einfühlung in das Geschehen selbst immer wieder zerstört wird« (19).

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Wo allenthalben simple Natur und kunstlose Schönheit Mir entgegenlächelt und seichte wollüstige Tränen Aus dem Auge lockt, indem schauervoll der entfernte Strom mit dunklem Gewässer in mäandrischen Krümmen Seitwärts vorbei durch Blumen und Laub rauscht: seid mir gegrüßet, Seid mir paradiesische Szenen gegrüßet. Auf weichem Rasen will ich sitzen und alle Gerüche des Frühlings Einziehn, hier soll mein forschendes Auge von Gegend zu Gegend Irren und lernen: hier will ich den angenehmblökenden Lämmern Und den einfältigen Tönen von groben Händen geschnitzter Flöten aus Rinden zulauschen. (WuB 3: 68)64

Aber alsbald verwandelt sich die idyllische Szenerie in einen Ort des Schreckens. Die scheinbar so friedfertige Natur erlangt ihre ursprüngliche Wildheit zurück. Lenz’ Gebrauch der personifizierenden Attribute ist in der Schilderung des hereinbrechenden Schmelzwassers besonders markant: Tödliche Angst in meinen wach gerüttelten Gliedern! Welch ein Anblick! Ich sehe die aufrührischen Wasser Über die niedergebückten Häupter der Blumen hinwegfliehn Und Gesträuche verschlingen, die sonst friedlich getränket. Trauriger Frühling, ist dies dein Werk? Empörest du also Ruhige Flüsse, die Phöbus mit seinem Bildnisse zierte? Daß sie wie gezähmete wilde Tiere uns schmeicheln: Aber die Wildheit kehret zurück; mit plötzlichem Schnauben Fallen sie über uns her und spotten des Eifers zu fliehen. (69)

Hastig eilt der verängstigte Sänger auf einen nahen Hügel und beobachtet aus sicherer Distanz den weiteren Verlauf der Überschwemmung. Es fällt auf, dass in der Schilderung der Wassernot auf ein tradiertes Bildarsenal der Unglückschroniken zurückgegriffen wird. Gemeinsamkeiten sind nicht nur in Ewald von Kleists Gedicht »Gemälde einer großen Ueberschwemmung« 65 zu finden, sondern auch in 64  Die

Frühlingslandschaft, die Ewald von Kleist im Gedicht »Der Frühling« geschildert hat, weist große Ähnlichkeiten mit Lenz’ einleitenden Versen im Buch über die Wassernot vor. Als Vorlage hat wahrscheinlich auch folgende Stelle gedient: »Hier ist der Grazien Luftplatz;/ Kunstlose Gärten durchirrt hier die Ruh’, hier rieselt Entzückung/ Mit hellen Bächen heran. Den grünen Kleeboden schmücken/ Zerstreute Wälder von Blumen. Ein Meer von holden Gerüchen/ Wallt unsichtbar über der Flur in großen taumelnden Wogen,/ Von lauen Winden durchwühlt« (36). 65  Ein Tal wird auch in Kleists Gedicht durch das Schmelzwasser überflutet: »Es flossen Hecken und Hütten,/ Und Dächer und Scheuren umher./ Aus Giebeln und gleitenden Kähnen/

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Barthold Heinrich Brockes’ Lehrgedicht »Das Wasser«, wobei Lenz die Szenerie der Not leidenden Menschen um ein Vielfaches pathetischer gestaltet. Wie Brockes vor ihm erwähnt auch er das traurige Schicksal eines wegtreibenden Säuglings: Dort trägt die Flut eine Wiege. Des erschrockenen Säuglings Blasse Wangen sind voll von Tränen. Mit fliegenden losen Haaren schwimmet die Mutter ihm nach: aus dem nackenden Busen Stöhnen gebrochene Töne herauf: ›Mein Kind! –o mein einzig, Mein geliebtes Kind!‹ – Itzt greift sie mit zitternden Armen Nach dem schwimmenden Moses. Unglückselige Rettrin! Ach er entfällt ihrer Hand. Wie wütet der Schrecken in ihren Wild verzogenen Mienen! Kein Wort! Keine Träne! Mit lautem Schreien sinkt sie ihm nach in die weitzirkelnden Fluten. (70)66

Im Unterschied zu Brockes erfolgt in Lenz’ Aneinanderreihung weiterer Schreckensbilder – selbst ein Schiffbruch auf stürmischer See darf nicht fehlen – jedoch keine Positivierung des physischen Übels. Der Gesang über die Wassernot schließt mit dem bitteren Ende des Wucherers, der in seiner Todesangst umsonst um die Gnade Gottes fleht und von den Wellen erbarmungslos in die Tiefe fortgerissen wird. An dieser Stelle macht sich wiederum der stark moralisierende Ton der Landplagen bemerkbar. Hans-Georg Kemper hat zu Recht auf die »implizite Aggressivität einer orthodoxen Position« hingewiesen, »die sich auf keine Diskussion mit dem Ideengut der Aufklärung einlässt – diese vielleicht auch nicht kennt« (Lyrik 6/III: 753). Über den skeptischen Einwand, ob der grausame Tod von Kleinkindern und Müttern überhaupt gerechtfertigt ist, wird nicht reflektiert, denn Gottes Gerechtigkeit in den Strafgerichten ist über jeden Zweifel erhaben. Statt einer tiefgründigen philosophischen Betrachtung über die Theodizee rückt das Spektakel der Katastrophenereignisse in den Vordergrund. Die Flut destruktiver Bilder gewinnt eine gewisse Eigendynamik, die zeitweise selbst die moraldidaktische Absicht der Landplagen zu verdrängen scheint. Dabei ist eine voyeuristische Faszination an den detailliert beschriebenen Schreckensszenen, die ein Wechselbad der Gefühle bewirken sollen, nicht zu verkennen. Nicht nur die Häufung der Leidensschilderungen, sondern auch die unterschwellig widersprüchliche Darstellung entfesselter Naturgewalten stehen in einem Spannungsverhältnis. Gemäß Paul Heinrichsdorff habe Lenz in den Landplagen Versah der bekümmerte Hirt sich einer Sündflut, die vormals/ Die Welt umrollte, daß Gemsen in schlagenden Wogen versanken« (155). 66  Vgl. folgende Passage aus Barthold Heinrich Brockes’ Lehrgedicht: »Hier sieht man samt seiner Wiegen,/ Einen zarten Säugling liegen,/ Und mit wimmerndem Geschrey/ Schiesst er, wie ein Pfeil vorbey« (Strophe 44, V. 325–328).

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die »Eigentriebhaftigkeit der Natur« erfasst, die sich »in ihren mannigfachen Erscheinungen, als selbst wachsendes Individuum als brutale und doch beseelte Kraft« offenbare. Das physische Leid sei sozusagen »die Wirkung eines furchtbaren Verhängnisses […], das jenseits von allem menschlichen Begreifen mit elementarer Gewalt über Schuldige und Unschuldige hereinbricht« (16). Heinrichsdorffs Beobachtungen verweisen auf einen pessimistischen Naturbegriff, der der Vorstellung einer oeconomia naturae diametral entgegengesetzt ist. Es ist eine Natur, die kraft ihrer »Eigentriebhaftigkeit« aus ihren Grenzen auszubrechen und wider die Bedürfnisse des Menschen zu agieren vermag. Ein Spannungsfeld baut sich auf: Zwar unterstehen die verheerenden Naturkräfte der göttlichen Befehlsgewalt, doch sobald sie einmal losschlagen, verursachen sie willkürlich Tod und Zerstörung. Die Natur birgt eine dämonische Kraft in sich. Einmal entfesselt, entzieht sie sich in ihrer Wildheit jeglicher Kontrolle. Durch die Dichte der Schreckensszenen wird das Bild einer unberechenbaren Natur nochmals potenziert; ein Umstand, der sich im letzten Teil des Verszyklus besonders bemerkbar macht. Im sechsten Buch schickt sich die Muse an, »mit den furchtbarsten Tönen« das »Bild der entsetzlichsten Szenen« der letzten Landplage – das Erdbeben – zu besingen (WuB 3: 74). Lenz schildert den Auftakt der Unheil bringenden Erderschütterungen ganz nach der aristotelischen Tradition als ein Ungewitter, das sich sowohl über als auch unter der Erdoberfläche entlädt. Auffällig ist dabei der Gebrauch von Kriegsmetaphern: […] Die Göttin des Tages Blicket aus dem Gewitter nur selten mit zitterndem Strahle Nieder. Anhaltend raset der Wirbel. Holdselige Blüten Stürzen von Zweigen hülflos hinab und färben den Boden: Und die Luft füllt schwimmender Staub, der untreu der Erde In die Wolken vergeblich sich zu schwingen versuchet. Auch in den tiefsten Höhlen rotten verschworener Winde Fesselentlaßne Heere sich zusammen, sich Wege Durch die Erde zu öffnen. Ein unterirdisches Donnern Kündigt entsetzliche Schauspiele an. (74)67

67  Vgl.

dazu folgende Strophe in Kleists Gedicht »Sehnsucht nach Ruhe«. Zu beachten ist, dass Kleist hier umgekehrt den Vergleich des Sturms verwendet, um den Verheerungen des Krieges Gestalt zu geben: »Wie wenn der Sturm aus Aeols Höhle fährt,/ Und heulend Staub in finstre Wirbel drehet,/ Den Himmel schwärzt, dem Sonnenstrale wehrt,/ Die grüne Flur mit Stein und Kies besäet:/ So tobt der Feind, so wütend füllt sein Heer/ Die Luft mit Dampf, die Felder mit Gewehr« (132).

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Die geballte Wucht des Erdbebens trifft daraufhin eine »zierliche Stadt«, deren wundersame Bauten innerhalb weniger Augenblicke ins Nichts versinken. Lenz verleiht den verheerenden Naturgewalten wie im vorigen Gesang die Züge eines außer Kontrolle geratenen Tieres: Drei Augenblicke! – Nun ist sie nicht mehr. Den Rachen der Erde Schlang sie hinab. Zehntausend Stimmen des Todes drangen Auf einmal durch die von Schutt verfinsterte Sphäre. In den bewegten Gassen hob sich empörendes Pflaster Menschen und Tier empor; dann sank es unter: des nahen Stromes Quellen von drückenden Bergen befreiet, entstürzten Ihrem zerstörten Gefängnis mit plötzlicher Wut und fielen Über die Untergesunknen her: So, wenn er die mürbe Ketten zerrissen, stürzet ein hungriger Bär auf das zarte Tändelnde Kind im Grase. Selbst aus den Brunnen empor schoß Ihr sonst ruhig Gewässer und netzte mit irdischem Regen Wolken. Die berstende Erde füllt’ ihre Wunden mit Menschen Die oft halb begraben umsonst die flehenden Arme Hoch zum Himmel rangen. Oft auch (unglaubliche Mächte!) Spie der verschlingende Boden an fernen Orten die Toten Wieder von sich, verbrannt, mit Erd’ umhüllet, kaum kenntbar. Schiffe wurden vom schwellenden Meer ans Ufer geschleudert Und warfen Anker auf sandigter Flur. Wo Berge gestanden, Glänzten itzt blaue Seen und manch entrunnener Landmann Fand seinen blumreichen Garten vor sich, der mit ihm verrückt ward. (75 f.)

Die in der Forschungsliteratur vielfach geäußerte Behauptung, Lenz sei vom Lissabonner Erdbeben 1755 inspiriert worden, 68 lässt sich anhand der oben aufgeführten Verszeilen nicht eindeutig eruieren, da ihr Inhalt in überspitzter Manier genau die Muster typologischer Erdbebendarstellungen aus den vergangenen Jahrhunderten aufweist. Wie im nächsten Kapitel erörtert wird, sind selbst die vermeintlich ›authentischen‹ Berichterstattungen von Lissabons Untergang im höchsten Maße stili­ siert. Die Verwüstung einer prächtigen Stadt, das plötzliche Hervorsprudeln von Quellwasser, die spektakulären Veränderungen der Topographie und die ins Landesinnere gespülten Schiffe wurden bereits vor dieser Erdbebenkatastrophe dokumentiert.69 Lenz’ eingeschobene Szene eines nach dem Erdbeben ausbrechenden Vulkans folgt den zeitgenössischen geognostischen Theorien, die eine kausale Ver68 

Vgl. Löffler 433; Rosanow 58; Damm, WuB 3: 780. die vorangegangene Besprechung von Christlob Mylius’ physikalischer Wochenschrift Der Naturforscher. 69 Vgl.

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bindung zwischen den beiden Naturerscheinungen feststellten. Auffallend ist weiterhin, dass das schreckliche Ereignis sich entrückt in einem antikisierenden Umfeld abzuspielen scheint. Lenz erwähnt marmorne Säulen, die Tempel und Paläste stützen, nächtliche Orgien unter korinthischen Pfeilern und die dankende Opfergabe nach der wundersamen Rettung des verschütteten Jünglings Lamon: alles Motive, die er teilweise aus der anakreontischen Dichtung Kleists übernommen hatte (vgl. 75, 77, 79). Die Entscheidung, die Landplagen mit einem Erdbeben ausklingen zu lassen, hängt grundlegend mit seiner Funktion als Signalgeber des Jüngsten Gerichts zusammen. Tatsächlich schließt der Verszyklus mit dem Eintreffen des höchsten Richters, der die ewig verdammten Sünder »in den offenen Rachen/ Des feurstürmenden Pfuhls« hinab stößt (82). Am Beispiel der Wassernot im fünften Buch hat sich gezeigt, dass die höchst stilisierte Schilderung des Unglücks sich auf vorgeprägte Bilder stützt und demzufolge kein bestimmtes historisches Ereignis wiedergibt. Ebenfalls ereignet sich das »Erdbeben« im letzten Gesang an einem nicht auszumachenden Ort und fungiert – ganz im Sinne der Eschatologie – als Prodigium der Wiederkunft Jesu. Anhand der von den Plagen hervorgerufenen Schreckensszenen soll das Wirken der partikulären Vorsehung über die Naturgewalten – »noch ist seine Rechte/ Nicht verkürzt und täglich tut er unerkannt Wunder« – einprägsam vor Augen geführt werden (76). Weiterhin warnen sie als abschreckende Exempel davor, während der noch verbleibenden Zeit nicht in die Ungnade des allwissenden Richtergottes zu fallen. Sigrid Damms Schlussfolgerung, der sechzehnjährige Lenz beschreibe das Unglück seines Vaterlandes aus eigener Erfahrung, »[f]reilich noch religiös gefärbt, aber mit harten Worten, eindringlichen Bildern«, und er habe sich in Dorpat von den »herrschenden Denkweisen« entfernt und wolle gewissermaßen die Mitwelt über die Not der Livländer aufklären, ist mit Skepsis zu beurteilen (WuB 3: 709). Ihre Ansicht über Lenz’ »harten Realismus« deckt sich mit derjenigen M. N. Rosanows, der in seiner Monographie Jakob M. R. Lenz (1909) die Inspiration der Landplagen ebenfalls in Lenz’ misslichen Kindheitserfahrungen festlegen will, wie z. B. den alljährlichen Überschwemmungen des Embachs oder der Feuersbrunst in Dorpat im Jahre 1763.70 Mit den Landplagen, so behauptet Rosanow, entsage Lenz »der ihm nicht aus sich selbst entströmenden, sondern von außen eingeflößten religiösen Poesie und betritt den ihm näherliegenden Pfad der Darstellung der realen Wirklichkeit« (58). Außerdem soll »eine gewisse Säkularisierung der Gedan70  Vgl.

dazu Damms Anmerkung zu den Landplagen: »Eigene Kindheits- und Jugenderlebnisse sowie erzählte Erinnerungen an die jüngste Vergangenheit Livlands sind der Stoff der Dichtung: Hungersnöte, Pest und Seuchen waren die Folgen des Nordischen Krieges. Jährlich erlebte Lenz Überschwemmungen in Dorpat und als Zwölfjähriger eine ganze Teile der Stadt verheerende Feuersbrunst. […] Zugleich sind die Schilderungen von einem ungewöhnlich harten Realismus« (WuB 3: 779 f.).

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ken des jungen Dichters« eingetreten sein (72). Davon kann jedoch angesichts der tief religiösen Prägung des Verszyklus wohl kaum die Rede sein. Dennoch zeichnen sich bezüglich der pathetischen Darstellung der einzelnen Landplagen Konfliktmomente ab. Die darin geschilderte ungezügelte Natur, die auch den Menschen zu einem Untier verwandeln kann, entfaltet sich in den Momenten des größten Leids zu einer sinnentleerten Kraft. Dabei wirkt sie entweder als archaisches Mittel der göttlichen Züchtigung oder als blind zuschlagendes Verhängnis, dem der Mensch ausgeliefert ist. Lenz blockt letztere Ansicht mit dem hartnäckigen Verweis auf die moralische Deutung der hereinbrechenden Übel ab. Jedoch gewinnt im Vollzug der zunehmenden Säkularisierung der Begriff einer dynamischen Natur, die nach eigenen Regeln formt und zerstört, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an Einfluss. In Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft wird die blinde Zerstörungswut entfesselter Naturgefahren als Kontrastpunkt zum vernunftbegabten Menschen unverhohlen vor Augen geführt.

D. Glück im Unglück: die mediale Darstellung des Erdbebens von Lissabon am 1. November 1755 1. Das Erdbeben von Lissabon – die unerhörte Begebenheit In Peter Sloterdijks Roman Der Zauberbaum (1985) vernimmt der aus Wien stammende Arzt Jan van Leyden in einem Gespräch mit dem Curé Exner die Nachricht von der unerhörten Begebenheit, die sich am 1. November 1755 in Lissabon ereignete. Seit dem Ereignis sind mittlerweile schon zwanzig Jahre verstrichen, doch der Curé erinnert sich noch genau daran, wie das schreckliche Erdbeben auch ihn tief im Innern erbeben ließ: […] Ich war ein Junge von etwa zehn, zwölf Jahren, damals, im Jahre 1755, als die Nachricht von dem schrecklichen Beben in Lissabon das ganze gebildete Europa in Zweifel und Entsetzen stürzte. Wie alle Kinder dieser Zeit war auch ich darauf erzogen worden, Gott werde in seiner majestätischen Allmacht die Naturgesetze jederzeit so lenken, daß Natur und Menschenwelt in der bestmöglichen Harmonie miteinander existieren. […] Seit Menschengedenken hatte man von einem Unglück dieses Ausmaßes nicht gehört. Seit der große Leibniz deduziert hatte, daß Gott unmöglich eine bessere Welt als eben die vorhandene hätte schaffen können, war der Geist der Zeit daran gewöhnt, die Übel der Welt mit nachsichtigeren Augen zu betrachten. Man gefiel sich in der Annahme, daß das Negative in der Ökonomie des Universums keine Größe erster Ordnung darstelle, sondern nur durch unsere verwirrten Gedanken ins kosmische Spiel hineingetragen werde. Dann kamen die Nachrichten aus Portugal […]. (68 f.)

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Der Curé veranschaulicht daraufhin die Zerstörung der Handels- und Königsstadt: Ich sah in meiner Vorstellung alles so deutlich vor mir, als sei ich dabeigewesen: die Erde bebte und schwankte, das Meer brauste auf, die Schiffe schlugen zusammen, die Häuser stürzten ein, Kirchen und Türme darüber her, der königliche Palast wurde zum Teil vom Meere verschlungen, die geborstene Erde schien Flammen zu speien: denn überall meldeten sich Rauch und Brand in den Ruinen. Sechzigtausend Menschen, einen Augenblick zuvor noch ruhig und behaglich, gingen miteinander zugrunde, und der Glücklichste darunter war der zu nennen, dem keine Empfindung, keine Besinnung über das Unglück mehr gestattet war. Die Flammen wüteten fort, und mit ihnen wütete eine Schar sonst verborgener, oder durch dieses Ereignis in Freiheit gesetzter Verbrecher. Die unglücklichen Übriggebliebenen waren dem Raube, dem Morde, allen Mißhandlungen bloßgestellt; und so behauptete von allen Seiten die Natur ihre schrankenlose Willkür. (69 f.)

Literaturkundige haben das obige Schreckensbild bereits anderswo angetroffen und sind Sloterdijks intertextuellem Schelmenstreich auf die Schliche gekommen.71 Bei den Reminiszenzen des Curés handelt es sich nämlich um die Erinnerungen eines weit bekannteren, reell existierenden Zeitgenossen: diejenigen des in Weimar weilenden Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832).72 In den 1811 erschienenen Memoiren Dichtung und Wahrheit verbindet Goethe in gekonnter Manier erinnertes Ich mit seinen Altersreflexionen und schildert, wie die Schockwirkung des Lissabonner Erdbebens sein kindliches Vertrauen in Gottes Fürsorge erschüttert habe: Am 1. November 1755 ereignete sich das Erdbeben von Lissabon und verbreitete über die in Frieden und Ruhe schon eingewohnte Welt einen ungeheuren Schrecken. Eine große prächtige Residenz, zugleich Handels- und Hafenstadt, wird ungewarnt von dem furchtbarsten Unglück betroffen. […] Hierauf ließen es die Gottesfürchtigen nicht an Betrachtungen, die Philosophen nicht an Trostgründen, an Strafpredigten die Geistlichkeit nicht fehlen. […] Ja vielleicht hat der Dämon des Schreckens zu keiner Zeit so schnell und so mächtig seine Schauer über die Erde verbreitet. […] Der Knabe, der alles dieses wiederholt vernehmen musste, war nicht wenig betroffen. Gott, der Schöpfer und Erhalter Himmels und der Erden, den ihm die Erklärung des ersten Glaubensartikels so weise und gnädig vorstellte, hatte sich, indem er die Gerechten mit den Ungerechten gleichem Verderben preisgab, keineswegs väterlich bewiesen. Vergebens suchte das junge Gemüt sich gegen diese Eindrücke herzustellen, welches überhaupt um so weniger möglich war, als die Weisen 71 

Löffler hat Sloterdijks Darstellung von Lissabons Untergang ausgiebig kommentiert, ohne dabei aber auf die intertextuelle Verbindung mit Goethes Memoiren zu verweisen (vgl. 23 f.). 72  Bis auf den Tempuswechsel ist Goethes Darstellung des Lissabonner Erdbebens wortgleich mit derjenigen des Curés. Vgl. Dichtung und Wahrheit (HA 9: 29 f.).

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und Schriftgelehrten selbst sich über die Art, wie man ein solches Phänomen anzusehen habe, nicht vereinigen konnten. (HA 9: 30 f.)

Die Gegenüberstellung der Texte Sloterdijks und Goethes verdeutlicht, wie sich das Erdbeben von Lissabon zum Inbegriff des erschütterten Aufklärungsoptimismus gewandelt hat. Sloterdijks Entscheidung, gerade Goethes Erdbebenbeschreibung als Vorlage für die Glaubenskrise des Curés zu verarbeiten, ist repräsentativ für die populäre Rezeption des Katastrophenereignisses in der Gegenwart. Goethes Rückblick auf dieses anscheinend einzigartige Desaster, das eine heftige Debatte unter den »Weisen und Schriftgelehrten« entfacht haben soll, diente einer Vielzahl von Geisteswissenschaftlern des vergangenen Jahrhunderts als Beleg eines epochalen Einschnitts in die Bewusstseinsgeschichte Europas (siehe folgender Abschnitt). Aus der mittlerweile gewonnenen Distanz mag diese Historiographie plausibel erscheinen, da in der Zwischenzeit die Möglichkeit bestanden hat, über die Zusammenhänge und Brüche verschiedener Epochen zu reflektieren. Es ist aber kaum wahrscheinlich, dass die epochale Bedeutung des Erdbebens schon dem sechsjährigen Goethe bzw. dem Curé bewusst gewesen wäre.

2.  Das Erdbeben von Lissabon – moderne Rezeption Aus der heutigen Forschungsperspektive lässt sich die »unerhörte Begebenheit« des Erdbebens von Lissabon am 1. November 1755 ziemlich genau rekonstruieren. Mit einem Messwert von 8,5 auf der Richterskala war das Erdbeben, dessen Epizentrum sich außerhalb der dicht bevölkerten Stadt befand, tatsächlich ein sehr starkes. Durch das Aufeinandertreffen verheerender Naturkräfte (Erderschütterungen, Wasserfluten und Feuer) kamen weite Teile Lissabons samt der Bevölkerung – man schätzt bis zu 30.000 Todesopfer – zu Schaden. Die Verwüstung der Handels- und Königsmetropole nahm ihren Anfang, als zwischen neun Uhr dreißig und zehn Uhr morgens drei Erdstöße, von denen der zweite am längsten und am heftigsten war, die Gebäude zum Einstürzen brachten. Seismische Schockwellen lösten daraufhin eine Flutwelle aus. Die zum offenen Hafengelände flüchtenden Stadt­bewohner wurden von ihr weggespült und ankernde Schiffe ins Landesinnere gerissen. Bald danach entfachten außer Kontrolle geratene Herdfeuer eine weitflächige Feuersbrunst, die noch heil gebliebene Gebäude, wertvolle Handels- und Kulturgüter in Schutt und Asche verwandelte. Besonders beklagenswert war die Tatsache, dass eine Vielzahl von Kirchengängern, die in den Morgenstunden Allerheiligen feierten, von den herabstürzenden Kirchendächern erschlagen wurden. Die These, das Erdbeben von Lissabon habe das Denkgebäude der Theodizee im 18. Jahrhundert schwerwiegend erschüttert, findet in der Forschungsliteratur brei-

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ten Niederschlag. Ein typisches Exempel ist die Wertung von Hartmut Böhme, der in der Erdbebenkatastrophe eine Zäsur im europäischen Denken und sogar einen wesentlichen Einfluss auf Immanuel Kants kritische Philosophie ausmachen will: Das Lissabonner Erdbeben zerstört die alteuropäischen Sicherungssysteme der Metaphysik, besonders der Theodizee und Physikotheologie; es unterstreicht damit nachdrücklich die physische
Endlichkeit und metaphysische Obdachlosigkeit des Menschen, wodurch – im Gegenzug – gewaltige philosophische Anstrengungen für die säkulare Selbstbegründung des menschlichen Daseins erforderlich wurden. […] Man hat viel zu wenig beachtet, daß das Erdbeben von Lissabon, auf das Kant sogleich physikalisch antwortet, noch weitere Antworten bei ihm findet: in den ersten beiden Kritiken die theoretische und die moralische, in der Urteilskraft die ästhetische Antwort. Kants Philosophie ist in toto die Bewältigung der ungeheuren Erschütterung und Angst vor der Natur, die, ausgehend vom Erdbeben in Lissabon, als Beben des Bewußtseins durch ganz Europa liefen. (»Steinerne« 124 f.) Grundlegende Impulse für die moderne Rezeption der Erdbebenkatastrophe im 20. Jahrhundert setzte Wilhelm Lütgerts (1867–1938) Aufsatz »Die Erschütterung des Optimismus durch das Erdbeben von Lissabon 1755« aus dem Jahr 1901. Zu beachten ist jedoch, dass Lütgerts kritische Haltung gegen den populären Optimismus des 18. Jahrhunderts durch seine konforme Haltung zum christlichen Glauben motiviert wird. Diese Orientierung zeigt sich in Lütgerts Behauptung, dass beide Hauptrichtungen des Optimismus, die ästhetische von Shaftesbury (1671–1713) und die naturwissenschaftliche von Leibniz, nicht auf den Tatsachen der Erfahrung beruhen, sondern eine problematische Verbindung mit der Religion eingehen. Gerade die Unterwerfung des Willens Gottes unter das Gesetz der Logik bzw. der ewigen Wahrheiten im leibnizschen Optimismus wird von ihm negativ bewertet (8). In der folgenschweren Verbindung der mechanischen Naturanschauung mit dem Gottesgedanken komme es zu einer Verdunkelung des Glaubens (7). Angesichts der Voreingenommenheit gegen den Optimismus betrachtet Lütgert das Lissabonner Erdbeben als ein Korrektivereignis, das die Lehre der besten aller möglichen Welten endgültig zum Zusammenbrechen brachte: Ist es nicht eigentümlich, daß der ehrgeizige Zank und die kleinliche Spitzfindigkeit, die sich um die Frage nach der besten Welt sammelte, durch ein Ereignis unterbrochen wurden, das diese Frage in ernsthafter Weise an alle Welt stellte. Nicht alle Kritik, sondern der Lauf der Natur erschütterte den Optimismus. (22 f.)

Die resultierende Debatte um das Lissabonner Erdbeben macht Lütgert in den Reaktionen von Voltaire, Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant fest. Am Beispiel Kants, der sich in seiner vorkritischen Schrift Versuch einiger Betrachtungen

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über den Optimismus (1759) noch für den Optimismus einsetzte, diesen aber nach seiner Erkenntniskritik in seinem Aufsatz Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee (1791) abstritt, demonstriert Lütgert den graduellen Wandel des Optimismus in den Pessimismus am Ende des 18. Jahrhunderts.73 Dem Erdbeben von Lissabon wird eine Signalwirkung zugesprochen, die die Debatte um die Theodizee und den geistesgeschichtlichen Umschwung hervorgerufen haben soll (41). In dem Essay »Literaturgeschichte eines Ereignisses: Das Erdbeben von Lissabon« (1964) vertritt Harald Weinrich ebenfalls den Standpunkt, das Lissabonner Erdbeben habe eine einschneidende Veränderung in der europäischen Bewusstseinsgeschichte bewirkt: eine These, die weitgehend auf Goethes Betrachtungen in Dichtung und Wahrheit zurückzuführen sei:
 Im Jahre 1811 […] wusste jeder denkende Mensch in Europa, daß das Jahr 1755, das Jahr des Erdbebens von Lissabon, ein Wendepunkt der europäischen Geistes­ geschichte geworden war. (64)

Sowohl die verbreiteten Stellungnahmen in »Gazetten und Broschüren, Poemen und Traktaten« wie auch die heftigen Reaktionen auf Voltaires Poème sur le désastre de Lisbonne trugen dazu bei, dass Europas Gelehrtenwelt durch Lissabons Untergang aufgeschreckt wurde (65). Voltaires Frontalangriff auf die in Alexander Popes (1688–1744) »Essay on Man« (1733–1734) geäußerte Maxime »Whatever is, is right« versteht Weinrich nicht nur als Antwort auf das unermessliche Leid der Lissabonner Stadtbevölkerung, sondern auch als inoffiziellen Beitrag zur jahrzehntelang herrschenden Optimismusdebatte, die ihren Höhenpunkt Monate vor dem Erdbeben in der Preisfrage der Berliner Akademie über Popes Metaphysik fand.74 Am 18. August 1756 widersetzte sich Jean-Jacques Rousseau Voltaires Anklage in einem an ihn adressierten Sendschreiben. Darin rechtfertigt Rousseau seine Überzeugung, dass Gott die Welt aufs beste eingerichtet habe und vertritt außerdem die Ansicht, der vernunftbegabte Mensch könne das Übel in der Welt entscheidend vermindern, wenn er aktiv in den Geschichtsverlauf eingreife. Weinrich erkennt in der letzteren Losung das allmähliche Schwinden der Metaphysik zugunsten des 73 

Im Unterschied zu Hartmut Böhme zieht Lütgert jedoch keine direkte Verbindung zwischen Kants endgültiger Abkehr vom Optimismus und dem Erdbeben von Lissabon: »Es ist lehrreich zu beobachten, daß [Kant] aus seiner früheren dogmatischen Sicherheit nicht das Erdbeben von Lissabon aufschreckte. Erst als er durch seine Erkenntniskritik einen Standpunkt jenseits aller jener Gegensätze gefunden zu haben meinte, war er imstande, den Optimismus preiszugeben« (40). 74  Die Arbeit von Adolf Friedrich Reinhard (1726–1783) gewann 1755, Monate vor dem Lissabonner Erdbeben, die umstrittene Preisfrage. Sie war die einzige Schrift, die bei Pierre Louis Maupertuis (1698–1759) auf Anerkennung stieß, weil sie seiner Antipathie gegen die leibnizsche Metaphysik entgegenkam (vgl. Lütgert 14–20; Weinrich 67).

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Geschichtsdenkens (75 f.). Voltaires Gedicht auf das Erdbeben von Lissabon andererseits habe den Wert eines Signals, das die Umkehr vom Optimismus der Aufklärung hin zum Pessimismus verkünde: Das Signal Lissabon bezeichnet für ganz Europa den Wendepunkt des Jahrhunderts, an dem der Optimismus der Aufklärung in einen Pessimismus umschlägt. Auch vor 1755 war der metaphysische Optimismus schon umstritten, aber mehr in seinen Argumenten als in seiner Grundposition. Nun, nach 1755, war es leicht, Pessimist, oder jedenfalls nicht mehr Optimist zu sein. Ein weiterer Wendepunkt des Jahrhunderts ist dann wohl in dem Jahr 1789, dem Jahr der Französischen Revolution, zu sehen. Kein Zweifel, daß diese Revolution einen neuen Optimismus gebracht hat, den Elan eines neuen Anfangs. So lässt also das 18. Jahrhundert einen phasenartigen Ablauf von Optimismus, Pessimismus, Optimismus erkennen, wobei die Jahre 1755 und 1789 die geschichtlichen Phasenwechsel bezeichnen. Der erste Phasenwechsel durch Voltaires Tun, der zweite ohne sein Zutun. (71)

Weitere Publikationen über das Lissabonner Erdbeben aus den letzten Jahrzehnten heben immer wieder die Singularität der Katastrophe hervor. Thomas Kendrick (1895–1979) betont in seinem Standardwerk The Lisbon Earthquake (1956) die immense Wirkung von Voltaires Poème und schätzt das Erdbeben hyperbolisch als das größte Desaster der westlichen Zivilisation seit dem Untergang des Römischen Reiches im 5. Jahrhundert ein (122). Horst Günther andererseits beschreibt wie Goethe die Jahre vor 1755 als eine Zeit der »Meeres Stille und glückliche Fahrt«, die die Erdbeben­k ata­strophe »wie kein andres Ereignis seit Menschengedenken […] die Gemüter und die Meinungen der Menschen bis in die Grundfesten erschütterte« (7, 16). Auch Wolfgang Breidert rechnet in der Einleitung zur Anthologie Die Erschütterung der vollkommenen Welt (1994) das Lissabonner Erdbeben zu jenen Jahrhundertereignissen, »die die Welt verändert haben« (1). Im Vergleich zu anderen Naturkatastrophen aus der jüngsten Vergangenheit hatte die Zerstörung Lissabons […] mindestens für die europäische Geschichte eine erheblich größere Wirkung, denn dieses Erdbeben erschütterte nicht nur eine bestimmte irdische Region, sondern auch eine kulturelle, wissenschaftliche, geistige Welt. Kein Dramatiker hätte den Zeitpunkt dieser Katastrophe wirkungsvoller festlegen können. (6)

Zu den jüngeren Beiträgen, die eine ähnliche These vertreten, ist Susan Neimans Philosophiegeschichte Evil in Modern Thought (2004) zu zählen. In ihrer Untersuchung der philosophischen Auseinandersetzung mit dem Bösen von der Aufklärung bis zur Gegenwart beruft sie sich hauptsächlich auf die historischen Katastrophenereignisse des Lissabonner Erdbebens und der Massenvernichtung der Juden in Auschwitz. So umfassend die Liste der besprochenen philosophischen Werke auch ist, beschreitet Neimans Analyse der Theodizeedebatte nach Lissabon den schon

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abgetretenen Pfad der
Äußerungen von Goethe, Voltaire, Rousseau und Kant.75 Deswegen ist es nicht überraschend, dass auch sie dem Lissabonner Erdbeben einen Signalcharakter zuspricht: After Lisbon, even relatively conservative cultures were no longer willing to tolerate God’s hand in their daily affairs. Even relatively progressive cultures, of course, were unwilling to deny it entirely. […] This signals a shift in consciousness so profound that it often remains unnoticed. Since Lisbon, natural evils no longer have any seemly relation to moral evils; hence they no longer have meaning at all. (249 f.)

Neimans wesentlicher Punkt liegt darin, dass sich die Abkopplung von Gottes direkter Vorsehung im Weltgeschehen nach Lissabon endgültig vollzogen habe; eine kausale Verbindung zwischen moralischen und physischen Übeln könne seit diesem Zeitpunkt nicht mehr bewerkstelligt werden. Beim Auswerten und Begutachten der Schriftmedien, die in Nachfolge des Lissabonner Erdbebens im deutschsprachigen Raum verfasst wurden, fällt jedoch auf, dass die optimistisch-theologische Doktrin der besten Welt den Erschütterungen standhielt. Monika Gisler hat in ihrer Analyse der Reaktionen auf Voltaires Erdbebengedicht im Korrespondentennetz des Schweizer Gelehrten Albrecht von Haller demonstriert, dass es zu einer »Vervielfältigung und Differenzierung der Interpreta­ tionsangebote« gekommen sei (128). Der in Bern residierende Geistliche Eli Bertrand (1713–1797) hingegen lehnte den von Voltaire propagierten Materia­lismus und christlichen Deismus entschieden ab (120 f.). Mit der wegweisenden Forschungs­ arbeit zur Deutung von Lissabons Untergang im deutschsprachigen Protestantismus des 18. Jahrhunderts hat Ulrich Löffler umfassend dargestellt, dass der Optimismus nach dem außerordentlichen Erdbebenereignis nicht einfach »verstummt« sei, »wie in der Forschung wiederholt behauptet wurde«. Im Gewahrwerden des Desasters konnte »auf die letztendlich von Gott weise geordnete Gesamtwirklichkeit hingewiesen werden; die verwendete Terminologie griff dabei auf die Argumentationen von Leibniz und Wolff zurück« (625). Zu Recht kritisiert er die oberflächliche Verwendung des 1. Novembers 1755 als »rhetorisches Datum«, das auf die angebliche »Bruchstelle eines popularisierten Optimismus« verweist oder sogar mit dem Holo­ caust parallelisiert wird (617). Während sich das Gros der jüngeren Forschungs­ literatur der philosophischen, naturwissenschaftlichen und religiösen Rezeption des Lissabonner Erdbebens gewidmet hat, wurden die vorherrschenden Darstellungsmuster in den Erdbebenberichten nur marginal behandelt. Berthold Rohrer ist in seiner Dissertation Das Erdbeben von Lissabon in der französischen Literatur 75  Für

Neimans breit angelegte Übersichtsarbeit ist es wohl nicht unbedingt notwendig, überall neue Pointen zu setzten. Trotzdem sind die aufgeführten Quellen zum Erdbeben von Lissabon eher dürftig. Das Literaturverzeichnis beschränkt sich u. a. auf die oben erwähnten Arbeiten von Thomas Kendrick, Horst Günther und Wolfgang Breidert.

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des 18. Jahrhunderts (1933) auf die wiederkehrenden Motive in den französischen Gedichten, Oden und Episteln eingegangen, die im Gefüge der verbreiteten Schreckensnachrichten den Verlauf des Extremereignisses widerzugeben versuchten. Die sich wiederholenden poetischen Bausteine führen u. a. »[s]chreckliche Vorzeichen«, »Bilder der Verwüstung und des Todes« und »Schrecken des jüngsten Gerichts« an (11). Ein synthetischer Vergleich mit den zeitgenössischen Berichterstattungen und Augenzeugenberichten erfolgt jedoch nicht, da Rohrer sich für »die Beschreibung des Erdbebens in seinem tatsächlichen Verlaufe« nicht interessierte. (8). Im Folgenden soll anhand repräsentativer Texte und Druckgraphiken aufgezeigt werden, dass die Darstellung und die miteinhergehende Deutung von Lissabons Verwüstung sich rückwärtsgewandt eng am Katastrophendiskurs des 17. Jahrhunderts orientierte. Der Schrecken der vermeintlichen Jahrhundertkatastrophe wird in den deutschen, englischen und französischen Nachrichtenblättern flächendeckend mittels konventioneller Gestaltungsmuster vermittelt. Übereinstimmend mit den Erdbeben von Ragusa (1667) und Sizilien (1693) nehmen die multiplen Veranschaulichungen von Lissabons Untergang die Züge eines prototypischen Desasters an. Literarische Erzeugnisse wie Christoph Martin Wielands (1733–1813) »Hymne auf die Gerechtigkeit Gottes« (1756) und Johann Georg Zimmermanns (1728– 1795) Lehrgedicht »Ueber die Zerstörung von Lisabon« (1756) waren bestrebt, empirisch und theologisch geprägte Diskurse über verheerende Naturkräfte mit der Vorstellung der »bestmöglichen Welt« zu vereinen. Für dieses Unterfangen war der Rekurs auf formelhafte Schreckensbilder dienlich, um die Leserschaft von der unantastbaren Allmacht und Weisheit Gottes zu überzeugen. Besonderes Augenmerk gilt den intertextuellen Verflechtungen innerhalb der unterschiedlichen Unglücksbeschreibungen. Parallele strukturelle Muster in der Aneignung und Umgestaltung präskriptiver Motive lassen sich in der bildlichen Darstellung des Lissabonner Erdbebens nachzeichnen. Wie sich herausstellen wird, übten die stilisierten Schreckensbilder einen maßgeblichen Einfluss auf die Wahrnehmung der Reisenden aus, die sich vornahmen, die Ruinen von Lissabon mit eigenen Augen zu besichtigen. In diesem Sinne bürgen die Text- und Bildmaterialen für das vorherrschende Denkmuster, in der moralisches und physisches Übel, menschliche Überschreitung und die daraus resultierende Gottestrafe, miteinander verzahnt sind. Selbst in den naturwissenschaftlichen Betrachtungen konnte eine endgültige Trennung zwischen einer empirisch- materialistischen und einer metaphysischen Sichtweise auf die Naturprozesse gerade durch die Erschütterung des Lissabonner Erdbebens nicht vollzogen werden, da die Verwerfung eines gottgewollten, transzendenten Ordnungsgefüge zu diesem Zeitpunkt im öffentlichen Diskurs nicht vertretbar gewesen wäre. Erst mit Heinrich von Kleists subversiver Aneignung tradierter Erzählmuster in Das Erdbeben in Chili wird der Theodizeegedanke in der deutschsprachigen Literatur maßgeblich erschüttert.

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3. Reaktionen deutschsprachiger Naturwissenschaftler auf das Erdbeben von Lissabon Die Nachrichten von Lissabons Untergang und den an den europäischen Küstenregionen wahrgenommenen Sekundärwirkungen der Erderschütterungen führten zu einer erneuten Reevaluierung der geltenden seismologischen Lehrmeinungen. In einer Vielzahl der in den Jahren 1756 und 1757 erschienenen deutschsprachigen Abhandlungen wurde der Versuch unternommen, die Kausalzusammenhänge der Beben umfassend zu begründen. Naturkundige beklagten wiederholt den Mangel eines allgemeingültigen Theoriegerüsts. Der dänische Theologe Erich Pontoppidian (1698–1764) gibt zu bekennen, dass das erarbeitete Wissen im Vergleich zu dem­ jenigen, was »nicht allein vor ihren Augen«, sondern auch vor der Verstandeskraft verborgen wird, »so gut als nichts sey« (12). Hingegen erhofft sich der Wismarer Naturwissenschaftler und Gymnasiumsrektor Johann Daniel Denso (1708–1795) mit seinem Sendschreiben vom Erdbeben (1756) zumindest eine Heuristik bereitgestellt zu haben, die den erfahreneren Gelehrten zu weiteren Erkenntnissen verhelfen sollte. Ihm sei bewusst, dass die »Erklärung eines Erdbebens, nach der gewönlichen Art«, nichts Neues bringe und bloß »Wiederholung schon unzälichmal wiederholter Sätze« seien (5). Einen Hemmschuh verortet er in den pathetischen Schreckensdarstellungen, die dem Verstand die notwendige Distanz zur objektiven Naturbetrachtung rauben. Denso greift mit seiner Kritik einen grundlegenden Problempunkt in den seismologischen Berichterstattungen auf. In ihrem Informationsgehalt hat sich seit Anbeginn der nachchristlichen Epoche scheinbar kaum etwas verändert: Je stärker eine Begebenheit unsre Sinne rüret, und ie heftiger sie unsre Empfindungen betäubet, desto mehr sind wir solche schrekbar vorzustellen, sinnreich, und desto weniger haben wir Gelassenheit, den Ursachen derselben mit gehöriger Fassung nachzudenken. Eben daher ist, bei unzählichen Beschreibungen des Erdbebens, und bei den gar zu rednerischen Vorstellungen ihrer kläglichen Gewaltsamkeit, der Naturlere bisher so wenig aufgeholfen worden: das, wenn wir die Sache genau erwägen, unsre Zeiten fast nichts weiter von denselben glauben, weil sie fast nichts mehr von denselben entdekket haben, als was man vor achtzehn Jahrhunderten davon glaubete, oder durch einige Schlüsse davon herausgebracht zu haben überredet war. (14 f.)

Unmissverständlich zeichnet sich in diesen Zeilen ein erwünschter Bruch mit den tradierten Erklärungs- und Darstellungsmodi ab. Eine vollumgängliche Sonderung zwischen den natürlichen und übernatürlichen Ursachenerklärungen lässt Denso dennoch nicht gelten, weil eine materialistische Naturaneignung, die jegliche Entzündung und Erschütterung der Erde dem blinden Zufall zuordnet, sowohl die »Weisheit eines ewigen Schöpfers« als auch die »Vernunft der Erdbürger« verkleinere. Er hinterfragt aber den Nutzen, Lissabons Verwüstung abermals als ein Strafgericht

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zu deuten, wenn die Heilige Schrift bereits zu genüge über die erstaunlichen Wundertaten Gottes zu berichten wisse. Die Erdbeben »gehören […] iezt zu der Reihe der ordentlichen Begebenheiten in der Natur, da sie aus hinreichenden Ursachen entstehen« (9). Denso überlässt den Geistlichen die Bürde, die Ungereimtheiten in der straftheologischen Beweisführung zu klären: »[I]ch wäre bereit, bei einem i­ eden Erdbeben alles ausserordentliche zuzulassen, wenn man mir darthun könte, das GOtt ausserordentlich habe handeln, oder in einem angegebenen Falle etwas mehr als der gewönliche Lauf der Natur mit sich bringet, volfüren wollen« (19). Ähnlich argumentiert der Arzt Johann Simon Gottlieb Dinkler (1717/18–1794) am Ende seiner Abhandlung von denen natürlichen Ursachen derer Erdbeben (1756). Solange von einer »physischen Begebenheit« nicht schlüssig aufgezeigt werde könne, dass sie ein »Wunderwerk« sei, so bleibe sie »notwendig natürlich.« Mit einem sardonischen Seitenhieb wünscht er jedem, der das Erdbeben immer noch als ein supranaturales Ereignis begründen möchte, »Glük und ein reiches Maas einer guten Einsicht« (62). In seinem Bestreben gegen den Aberglauben, »dem geschwornen Feinde der Naturkunde« anzukämpfen (36), verwirft Denso die moraltheologische Verurteilung der Lissabonner als einen Verstoß gegen die »Menschenliebe« (37). Bei solchen kataklysmischen Vorfällen sei es vielmehr angebracht, sich seiner eigenen Verschuldung zu gedenken. Bedeutend ist, dass er in diesem Zusammenhang auf die Kurzlebigkeit des Katastrophengedächnisses in der Gesellschaft verweist. Selbst wenn »[j]ener Tod so vieler beklagenswürdiger Personen, der Umsturz so vieler prächtigen Gebäude, der Verlust so ansenlicher Güter« schmerzlich und merkwürdig gewesen sei, so werde »nach einer Zeit von dreissig und höchstens funfzig Jaren« alles wieder vergessen sein. Womit sich die »Nachkommenschaft nach Jahrhunderten« aber beschäftigen werde, sei die Frage nach den Ursachen der gewaltsamen Erderschütterungen. Das Hauptaugenmerk in der Katastrophenrezeption schwenkt von den »politische[n]« hin zu den »natürliche[n] Umstände[n] bei der Erderschütterung« (36). Denso sorgt sich insoweit nicht um den Zusammenbruch des populärphilosophischen Optimismus, sondern um die unterlassene Wissensvermehrung und -vermittlung: Urteilen wir mit genugsamer Selbsterkänntnis von uns, so müssen wir glauben, die Naturkündiger nach uns werden wisbegieriger auch einsichtvoller als wir seien, und sie würden es uns kaum vergeben wollen, wenn wir unsere Pflicht in Beobachtung aller Vorfälle versäumet hätten. (36)

Trotz der vielfach bekundeten Reverenz gegenüber der Weisheit und Souveränität Gottes liegt der argumentative Schwerpunkt in der empiriegeleiteten Naturaneignung. Dem »Belieben der Menschen an dem Wunderbaren« und konsequenterweise dem Aberglauben wird durch »freie Erforschung der Wahrheit« ein Riegel vorgeschoben. Dementsprechend verwirft Denso die Theorien von William Whiston

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(1667–1752) und Johann Heyn (1709–1746), die in den Kometenerscheinungen einen kausalen Zusammenhang mit den Erdbeben und dem kommenden Weltuntergang festlegten, da sie zu eng mit dem frühneuzeitlichen Prodigienglauben verstrickt seien: »Es sollen die Begebenheiten und ausserordentliche Erscheinungen am Himmel nur Zeichen des lezten Endes werden: nun aber lässet sich nicht füglich gedenken, das ein Zeichen eines Dinges die würkende Ursache in diesem Falle zugleich seien solte« (40).76 Der distanziert-objektive Blick auf die eruptiven Naturgewalten erlaubt es ihm dann auch, die seismischen Umwälzungen als Teil eines vom göttlichen Verstand in Gang gesetzten kosmischen Schauspiels zu rezipieren: Ich betrachte meinen zur Ewigkeit bestimmeten Geist, als einen Zuschauer der Zerrüttung und Durchglühung unzählicher Erdbälle, und der Umkleidung ganzer Weltgebäude. Und ob ich dies gleich als Strafen der freier Handlungen fähiger Geschöpfe ansehe, so werde ich dennoch, mit erheiterten Augen, diese grösseste unter den schreklichsten Veränderungen, als Folgen natürlicher Ursachen bemerken können. (15)

a) Immanuel Kants wissenschaftlich-philosophische Rechtfertigung des Naturübels In Anbetracht der inflationären Summe seismologischer Abhandlungen, die im Zuge von Lissabons Untergang generiert wurden, ist Walter Benjamins (1892– 1940) Behauptung, »[n]iemand hat sich damals mit diesen merkwürdigen Vorgängen mehr beschäftigt als der große deutsche Philosoph Kant«, als eine zu einseitige Einschätzung des damaligen Katastrophendiskurses zu beurteilen (222). Kants drei Abhandlungen über das Lissabonner Beben konstituieren weder den »Anfang der wissenschaftlichen Erdkunde in Deutschland« noch den »Anfang der Erdbebenkunde« (223).77 Freilich behandelt der Königsberger Philosoph die außerordent76 Der

englische Mathematiker und Naturforscher William Whiston brachte in seinem Werk A New Theory of the Earth from its Original to the Consummation of All Things (1696) den apokalyptischen Untergang des irdischen Daseins mit der Rückkehr desselben Kometen in Verbindung, der bereits im Jahre 2349 vor Christi die Sintflut verursacht hatte (vgl. dazu Olaf Briese, Metaphern 183 f.). Weiterführend zu Johann Heyn und seiner postulierten Verbindung zwischen Erdbeben und Kometen siehe Löffler 271 f. Sein Werk Versuch einer Betrachtung über die Cometen, die Sündflut und das Vorspiel des jüngsten Gerichts ist 1742 in Berlin und Leipzig erschienen. 77  Wolfgang Breidert gibt über die Publikation der kantischen Erdbebenschriften folgende Auskunft: »Die erste und dritte Erdbebenschrift Kants [›Von den Ursachen der Erderschütterungen bei Gelegenheit des Unglücks, welches die weltliche Länder von Europa gegen das Ende des vorigen Jahres betroffen hat‹ und ›Fortgesetzte Betrachtung der seit einiger Zeit wahrgenommenen Erderschütterungen‹] sind in den ›Königsbergischen wöchentlichen Frag- und AnzeigungsNachrichten‹ vom Jahre 1756 erschienen (No. 4 und 5, d. i. am 24. und 31. Januar bzw. No. 15

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lichen seismischen Vorfälle vorwiegend als ein naturimmanentes Problem. Im Vergleich zu den oben besprochenen Gelehrten Dinkler und Denso vertritt er jedoch weit ausgeprägter die vorherrschenden Standpunkte des populärphilosophischen Optimismus, wenn er die negativen Auswirkungen des Naturübels zu relativieren versucht. Seine zweite und längste Abhandlung, »Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vorfälle des Erdbebens, welches an dem Ende des 1775sten Jahres einen großen Teil der Erde erschüttert hat«, ist für die Analyse zeitgenössischer Reaktionen auf das Lissabonner Erdbeben am ergiebigsten, weil sie neben den naturwissenschaftlichen auch theologische Gesichtspunkte beinhaltet. Zu Beginn der »Naturbeschreibung« wendet sich Kant apodiktisch gegen das Pathos in den Erdbebenberichten. Er werde keine Schreckensgeschichte über das Ausnahmeereignis verfassen, denn das Entsetzen und Elend der Katastrophenopfer stoße an die Grenzen seiner Einbildungskraft: Eine solche Erzählung würde rührend sein, sie würde, weil sie eine Wirkung auf das Herz hat, vielleicht auch eine auf die Besserung desselben haben können. Allein ich überlasse diese Geschichte geschickteren Händen. Ich beschreibe hier nur die Arbeit der Natur, die merkwürdigen natürlichen Umstände, die die schreckliche Begebenheit begleitet haben, und die Ursachen derselben. (»Naturbeschreibung« 434)

Die betont empiriegeleitete Naturbetrachtung Kants erbringt einerseits den Vorteil, anthropomorphen Deutungen des Unglücks aus dem Weg zu gehen, andererseits eröffnet sich dadurch wie in Densos Sendschreiben vom Erdbeben die Möglichkeit der emotionalen Distanzierung vom menschlichen Leid. Die dadurch gewonnene Objektivität in Bezug auf das Schreckensereignis erlaubt den Schritt, das Erdbeben als Wirkung notwendig verlaufender Naturprozesse zu betrachten, die in einem steten Kreislauf Leben zerstören und anderswo fördern oder neu erschaffen. Ganz nach der Denkfigur der verschwenderischen Natur wird das Übel des Bebens mittels positiver Sekundärereignisse wieder aufgewogen. Während eine Vielzahl der Stadtbewohner Lissabons unter den Trümmern verendeten, sind europaweit Veränderungen im Wasserspiegel und -druck beobachtet worden, u. a. sprudelte aus den Töplitzer Heilquellen in Böhmen plötzlich vermehrt Wasser. Daraus zieht Kant die lapidare Schlussfolgerung: Die Einwohner dieser Stadt hatten gut te Deum laudamus zu singen, indessen daß die zu Lissabon ganz andere Töne anstimmten. So sind die Zufälle beschaffen, welund 16, d. i. 10. und 17. April). Die zweite und umfangreichste dieser Schriften [›Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vorfälle des Erdbebens, welches an dem Ende des 1775sten Jahres einen großen Teil der Erde erschüttert hat‹] ist dazwischen (etwa Anfang März) als selbstständige Veröffentlichung in Königsberg im Verlag von Johann Heinreich Hartung erschienen« (99).

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che das menschliche Geschlecht betreffen. Die Freude der einen und das Unglück der andern haben oft eine gemeinschaftliche Ursache. (437)

Unter dem Begriff »gemeinschaftliche Ursache« versteht Kant das subterrane Zentralfeuer, dessen vorteilhafteste Wirkung auf die Ökonomie der Naturreiche mithilfe verschiedener Kausalzusammenhänge nachgewiesen wird. Im Abschnitt »Von dem Nutzen der Erdbeben« weist Kant darauf hin, dass ohne die Erdhitze, die in ungünstigen Fällen zwar gärende Mineralien zum Explodieren bringe und dadurch heftige Erderschütterungen verursache, die gesundheitsförderlichen warmen Bäder gar nicht existieren würden (456). Auch wenn solche dargebrachten Zweckmäßigkeiten meist auf Mutmaßungen beruhen, seien sie gerechtfertigt, »wenn es darauf ankommt den Menschen zur Dankbegierde gegen das höchste Wesen zu bewegen, das selbst alsdann, wenn es züchtigt, verehrungswürdig und liebenswürdig ist« (458). Der Einfluss der leibniz-wolffschen Doktrin von der besten aller möglichen Welten macht sich an dieser Stelle bemerkbar. Die von Gott in Gang gesetzten Naturgesetze operieren seit jeher vollkommen und benötigen keine Veränderung. Wenn auf unverhoffte Weise ein Unglück geschieht, so soll der Mensch keine übereilten Rückschlüsse ziehen und dabei die allgemeine Vorsehung Gottes diskreditieren: Es läßt sich leicht rathen: daß, wenn Menschen auf einem Grunde bauen, der mit entzündbaren Materien angefüllt ist, über kurz oder lang die ganze Pracht ihrer Gebäude durch Erschütterungen über den Haufen fallen könne; aber muß man denn darum über die Wege der Vorsehung ungeduldig werden? Wäre es nicht besser also zu urtheilen: Es war nöthig, daß Erdbeben bisweilen auf dem Erdboden geschähen, aber es war nicht nothwendig, daß wir prächtige Wohnplätze darüber erbaueten? Die Einwohner in Peru wohnen in Häusern, die nur in geringer Höhe gemauert sind, und das übrige besteht aus Rohr. Der Mensch muß sich in die Natur schicken lernen, aber er will, daß sie sich in ihn schicken soll. (456)78

Nicht in der Naturordnung, sondern in der Hybris und Ignoranz des Menschen liegt der Grund des Übels. In seiner Überheblichkeit glaubt der Mensch, die Einrichtung der Natur existiere nur zu seinem eigenen Vorteil, will dabei aber nicht wahrhaben, dass er als Teilchen der Weltmaschine nicht dazu berechtigt ist, sich als alleiniges Ziel der göttlichen Absichten zu betrachten (vgl. 460). Das von den verheerenden Naturkräften hervorgerufene Leid ist durchaus vermeidbar, wenn der Mensch sich der Vernunft bedient und nach ausführlichen empirischen Studien 78  Jean-Jacques

Rousseau argumentiert ähnlich Monate später in seinem Brief an Voltaire. Die Schuld am Leid liege nicht in den Naturgesetzen, sondern am Fehlverhalten der Menschen. Viele hätten sich retten können, wenn sie nicht aus Habsucht in den zusammenstürzenden Häusern geblieben wären, um ihre Besitztümer zu schützen. Vgl. Breidert 79–93.

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seine Wohnstätte den vorhandenen Verhältnissen anpasst. Allerdings darf man niemals die fundamentale Tatsache außer Acht lassen, dass die menschliche Existenz samt den Besitztümern vergänglich ist. Für Kant ist diese Einsicht die wesentliche Lehre, die aus solchen »schrecklichen Zufällen« zu ziehen ist.79 Kants Rechtfertigung der Erdbeben als natürliche Ausnahmeerscheinungen in dem sonst beständigen Naturhaushalt lässt vermuten, dass sie das tradierte straf­ theologische Deutungsmuster verdränge. Tatsächlich kritisiert Kant in der Schlussbetrachtung die pauschale Verurteilung der heimgesuchten Menschen: Der Anblick so vieler Elenden, als die letztere Katastrophe unter unsern Mitbürgern gemacht hat, soll die Menschenliebe rege machen und uns einen Theil des Unglücks empfinden lassen, welches sie mit solcher Härte betroffen hat. Man verstößt aber gar sehr dawider, wenn man dergleichen Schicksale jederzeit als verhängte Strafgerichte ansieht, die die verheerte Städte um ihrer Übelthaten willen betreffen, und wenn wir diese Unglückselige als das Ziel der Rache Gottes betrachten, über die seine Gerechtigkeit alle ihre Zornschalen ausgießt. Diese Art des Urtheils ist ein sträflicher Vorwitz, der sich anmaßt, die Absichten der göttlichen Rathschlüsse einzusehen und nach seinen Einsichten auszulegen. (459)80

Wie Denso in seinem Sendschreiben appelliert auch Kant an die menschliche Vernunft, davon abzulassen, den Geschädigten eilfertig religiöse oder moralische Verfehlungen aufzubürden. Eine jederzeitige kausale Verbindung zwischen unsittlichem Verhalten und Erdbeben sei erfahrungsgemäß widersinnig, denn unendlich viele Übeltäter seien friedlich gestorben und in Peru habe es seit jeher viele Erd­ beben gegeben, auch wenn die heidnischen Bewohner in der Zwischenzeit Christen geworden seien. Angesichts des schrecklichen Elends sollen die Menschen stattdessen Einfühlungsvermögen und Mitleid zeigen.

79  Vgl.

dazu die bereits in der Einleitung geäußerte Bemerkung Kants: »Die Betrachtung solcher schrecklichen Zufälle ist lehrreich. Sie demüthigt den Menschen dadurch daß sie ihn sehen läßt, er habe kein Recht, oder zum wenigsten, er habe es verloren von den Naturgesetzen, die Gott angeordnet hat, lauter bequemliche Folgen zu erwarten, und er lernt vielleicht auch auf diese Weise einsehen: daß dieser Tummelplatz seiner Begierden billig nicht das Ziel aller seiner Absichten enthalten sollte« (»Naturbeschreibung« 431). Olaf Briese spricht in seiner Studie Die Macht der Metaphern (1998) von einer Tribunalisierung der Natur in Kants Erdbebenschriften: »Weder Gott noch Mensch haben sich bei [Kant] zu verantworten. Vielmehr sei es die Natur selbst, die vor dem Richterstuhl der Vernunft zu bestehen habe – und zwar vor dem der menschlichen Vernunft. […] Natur war im Grunde unvollkommen. Das Moralwesen Mensch hingegen war auf seine Art ideal« (151). Kants stete Verweise auf die vollkommenen Naturgesetze und die Grenzen der menschlichen Machbarkeit widersprechen dieser Behauptung. Die Natur untersteht keinerlei Anklage; stattdessen appelliert Kant an die Demut des Menschen vor den unabänderlichen Naturgesetzen. 80  Hervorhebung von C. W.

Glück im Unglück: die mediale Darstellung des Erdbebens vonLissabon

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Trotz der in der »Naturbeschreibung« geäußerten Verurteilung ist die Meinung verfehlt, Kant lehne die straftheologische Deutung der Erdbeben grundsätzlich ab. Das anvisierte Ziel seiner Kritik sind die eitlen Menschen, die sich anmaßen, die eigentlich unbegreifliche Regierung Gottes zu anthropomorphisieren und nach ihrem Gutdünken auszulegen. Sobald man glaube, die Welt existiere nur für den persönlichen Nutzen, wird jegliches Naturübel als göttliche Strafmittel gewertet, um die Menschen »zu züchtigen, zu drohen oder Rache an ihnen auszuüben« (460). Dennoch entledigt sich Kant dieser Vorstellung nicht ganz. Gerade im Abschnitt »Von dem Nutzen der Erdbeben« nennt er die Erdbeben eine »fürchterliche Strafruthe« und Gott ein Wesen, das »züchtigt« (455, 458). Offenbar verbleibt in Kants Erdbebenbetrachtungen ein von der Forschungsliteratur oft übersehener Rest des moraltheologischen Deutungsmusters. In der sieben Jahre später publizierten Schrift Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseyns Gottes kommt Kant auf die Notwendigkeit einer klaren Differenzierung zwischen den natürlichen und übernatürlichen Ursachenmodi zu sprechen, wobei er die Möglichkeit einer Gottesstrafe nicht von der Hand weist. Im ersten Teil der dritten Betrachtung (II. Abt.) wiederholt er den Einwand, dass unter dem verengten Gesichtspunkt der Naturgesetze die moralischen Verfehlungen keine Erdbeben, Sturmwinde, Meeresbewegungen oder Kometen zu verursachen vermögen: Es ist auch nach einem allgemeinen Gesetze genugsam in der Verfassung der Natur gegründet, daß einiges von diesen bisweilen geschieht. Allein unter den Gesetzen, wornach es geschieht, sind die Laster und das moralische Verderben der Menschengeschlechter gar keine natürliche Gründe, die damit in Verbindung stünden. Die Missetaten einer Stadt haben keinen Einfluß auf das verborgene Feuer der Erde, und die Üppigkeiten der ersten Welt gehörten nicht zu denen wirkenden Ursachen, welche die Kometen in ihren Bahnen zu sich herab ziehen konnten. Und wenn sich ein solcher Fall ereignet, man mißt ihn aber einem natürlichen Gesetze bei, so will man damit sagen, daß es ein Unglück, nicht aber, daß eine Strafe sei, indem das moralische Verhalten der Menschen kein Grund der Erdbeben nach einem natürlichen Gesetze sein kann, weil hier keine Verknüpfung von Ursachen und Wirkungen statt findet. (Beweisgrund A 75)81

Wenn das Vorkommen verheerender Naturkräfte als ein Strafgericht aufgefasst wird, dann untersteht ihre Ursache nicht den Naturgesetzen, sondern der Weisheit Gottes, bzw. dem unmittelbar wirkenden göttlichen Gesetz: Soll es [das Erdbeben] dagegen als eine Strafe betrachtet werden, so müssen diese Kräfte der Natur, da sie nach einem natürlichen Gesetze den Zusammenhang mit 81 

Hervorhebung von C. W.

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der Führung der Menschen nicht haben können, auf jeden solchen einzelnen Fall, durch das höchste Wesen besonders gerichtet sein; alsdenn aber ist die Begebenheit im formalen Verstande übernatürlich, obgleich die Mittelursache eine Kraft der Natur war. (A 76)82

Auch wenn die Strafverordnungen schon seit Schöpfungsbeginn festgelegt worden seien, werde dadurch das Übernatürliche nicht etwa verringert sondern unbeschreiblich vermehrt (vgl. A 76 f.). Von verschiedenen Seiten wurde darauf hingewiesen, dass Kant in der Beweisgrundschrift die straftheologische Rezeption von Naturkatastrophen apodiktisch abgelehnt habe. Ulrich Löffler will in seiner Analyse der obigen Erdbebenpassage ein weiteres Indiz von Kants »strikte[r] Ablehnung einer teleologischen oder kausalen Verbindung von Erdbeben und moralischer Verfaßtheit der Betroffenen« festgestellt haben, wobei er aber übersieht, dass der Königsberger Philosoph an dieser Stelle die strikte Differenzierung zwischen natürlichen und formaliter übernatürlichen Ursachen von Naturkatastrophen anstrebt (366 f.). Beim sorgfältigen Lesen der Zitate wird klar, dass das unmoralische Vergehen als natürlicher Beweggrund für die Erdbeben abgestritten wird. Man soll also unter dem spezifisch naturwissenschaftlichen Gesichtspunkt den Bereich der Natur nicht mit demjenigen der Moral verschleifen. Eine kausale Verbindung zwischen den seismischen Umwälzungen und dem moralischen Betragen der Betroffenen ist aber dann möglich, wenn sie nicht auf eine natürliche sondern auf eine übernatürliche Weise geschieht; das Erdbeben wird von Gott punktuell als Mittel der Bestrafung eingesetzt. Arthur Kemmerer vermeint ebenfalls, Kant habe ein negatives Urteil geäußert: »Auch den Gedanken an ein Strafgericht Gottes, der vor allem in den Predigten der Geistlichen zum Erdbeben von Lissabon seinen Ausdruck fand, lehnt [Kant] eindeutig ab« (126). Die Klärung der Frage, ob Kant die Eventualität einer Gottesstrafe trotz aller Vorbehalte einräumt, hängt davon ab, ob er eine wundersame Intervention in das Naturgeschehen überhaupt in Erwägung zieht. In der vierten Betrachtung (II. Abt) der Beweisgrundschrift behandelt Kant den fundamentalen Problempunkt, dass das Eintreffen eines Wunders ein Aussetzen der autonom operierenden Naturgesetze konstituiert. Wenn Gott sporadisch auftretende Unregelmäßigkeiten ausmerzen müsste, käme so ein supranaturaler Eingriff dem Zugeständnis eines Mangels oder Missfallens im von ihm verordneten bestmöglichen Weltenlauf gleich. Diese Aporie weiß Kant nicht vollständig aufzuheben, denn er gibt zu bedenken, dass die Veränderungen der Welt, die eigentlich seit der ersten Anordnung des Universums nach mechanischen Naturgesetzen notwendig vonstatten gehen, trotzdem »nicht genugsam begriffene Zufälligkeit haben, wie die Handlungen aus der Freiheit, deren Natur nicht gehörig ein[ge]sehen wird« 82 

Hervorhebung von C. W.

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(Beweisgrund A 88 f.). Infolge dieser Kontingenzerscheinungen ist zu erwarten, »daß übernatürliche Ergänzungen nötig sein dürften, weil es möglich ist, daß in diesem Betracht der Lauf der Natur mit dem Willen Gottes bisweilen widerstreitend sein könne« (A 89). Dieser Konfliktpunkt wird mit dem Verweis auf die ontologische Abhängigkeit der Natur von Gott alsbald relativiert. Im Wesen der Naturdinge ist nämlich von Anbeginn ihrer Entstehung die »unausbleibliche Beziehung auf Vollkommenheit und Wohlgereimtheit« befestigt worden, und dank dieser eingeprägten Teleologie entfaltet sich das freie Verhalten der Naturdinge »ohne vielfältige Wunder« nach dem »Wohlgefallen des höchsten Wesens« (A 91). Ein Wunder ist demnach für den geordneten Naturhaushalt nur selten nötig, was so viel wie möglich bedeutet, und wenn eines doch geschehen würde, »so gehört selbst die Veranlassung dazu zu denen Dingen, die sich bisweilen zutragen, von uns aber nimmermehr können begriffen werden.« Das Gleiche trifft für die »übernatürliche[n] Begebenheiten im formalen Verstande«, bzw. die göttlichen Strafgerichte zu, »die man in gemeinen Urteilen darum sehr häufig einräumt, weil man durch einen verkehrten Begriff darin etwas Natürliches zu finden glaubt« (A 93). Die vom populärphilosophischen Optimismus vorangetriebene Strategie der Malitätsbonisierung offenbart sich auch hier: Solange die moralischen und physischen Übel in der bestmöglichen Welt zu verkraften sind, ist ein Wunder nicht notwendig, d. h., die menschlichen Verfehlungen und Erderschütterungen sind selten so gravierend, dass sie der Schöpfung derart schaden könnten und die Intervention Gottes herausforderten: ein Gedankenschluss, der sein übereinstimmendes Pendant in Alexander Popes Essay on Man besitzt: »If plagues or earthquakes break not heaven’s design,/ Why then a Borgia or a Catiline?« (21). Am Beispiel der angeführten Schriften Densos und Kants zeichnet sich die zunehmende Säkularisierung in der Naturbetrachtung ab. Der naturwissenschaftliche Diskurs gewinnt an Boden und verdrängt die moraltheologischen Deutungsmodelle an die Peripherie. Erdbeben vermögen ganze Städte zu verwüsten, doch nicht menschliches Handeln, sondern die geophysikalischen Gesetze bewirken das Ausnahmeereignis. Die Zerstörung Lissabons ist dementsprechend ein natürlicher Zwischenfall, wenn auch kein alltäglicher, dessen Ursache sich aus den Kausalitätszusammenhängen in der Natur nachvollziehen lässt. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, besitzt das Unglück keinen Zeichencharakter mehr, da es nichts Besonderes bzw. Wunderbares versinnbildlicht. Im Falle gravierender Verluste werden diese anderswo im Übermaß wieder kompensiert. Gott braucht sich um den fortgesetzten Ablauf des Naturhaushalts kaum mehr zu kümmern. Ein deistischer Gottesbegriff verfestigt sich. Die Ehrfurcht vor dem punktuellen Wunder im Naturgeschehen verlagert sich zur Bewunderung des harmonisch funktionierenden Naturganzen. Dennoch verbleibt ein inkommensurabler Rest im System. Einerseits geschehen »Zufälligkeiten«, die sich dem menschlichen Verstand verschließen oder

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nach umfänglicheren empirischen Untersuchungen in die zweckmäßige Naturordnung eingepasst werden: andererseits steht es dem höchsten Wesen nach wie vor frei, zu bestimmten Zeiten ins Weltgeschehen einzugreifen. Gottes Mittäterschaft als gerechter Richter in der partikulären Vorsehung bleibt zwar als Möglichkeit bestehen, doch ob und wann sie wirklich eintrifft, bleibt ungewiss. Kant steckt hinsichtlich der unergründlichen providentia Dei die Spannbreite des menschlichen Verstandes ab. Die göttliche Macht, Weisheit und Güte bedürfen keiner Rechtfertigung, weil der Mensch partout kein Urteil darüber zu fällen vermag. Demnach ist auch Kants Weltbild durch den Untergang Lissabons wohl kaum erschüttert worden.

4. Die Langlebigkeit des frühneuzeitlichen Katastrophendiskurses: formelhafte Darstellungsmuster in den Berichterstattungen über das Lissabonner Erdbeben a) Das Erdbeben von Lissabon in den deutschsprachigen Schriftmedien Eine umfassende Gegenüberstellung der Nachrichten über das Lissabonner Erdbeben verschafft einen Einblick in die im Katastrophendiskurs verankerten Erzählstrukturen. Auffallend ist, dass die Erlebnis- und Sensationsberichte, die Tage oder Wochen nach den Verheerungen verfasst wurden, überschneidende Darstellungsmuster aufweisen. Ungeachtet ihrer individuellen Disposition greifen die Augenzeugen auf vorgeprägte Topoi und narrative Strukturen zurück. Die über Stunden auseinanderliegenden Stadien des Desasters – die drei schweren seismischen Erschütterungen, die Flutwellen des Tagus und der sich ausbreitende Städtebrand – werden zeitlich gestrafft zu ausdrucksstarken Tableaus verdichtet. Wenn Wolfgang Breidert vermeint, die »poetischen Ergüsse mittelmäßiger Autoren« über das Lissabonner Erdbeben seien »nach einem sterilen Muster« entstanden, so trifft diese Aussage ebenfalls auf die als authentisch gepriesenen Berichterstattungen zu (10). Christiane Eifert hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass sich die in deutschsprachigen Journalen veröffentlichten Briefe »auf einige wenige Bilder« konzentrieren (651). Zur Perpetuierung stereotyper Darstellungsmodi haben die Kompilationen veröffentlichter Erdbebennachrichten wesentlich beigetragen. Deren Herausgeber haben sich beliebig die ergreifenden Schreckenspassagen aus den Briefmeldungen angeeignet und diese mit ihren eigenen Anmerkungen und dramatischen Ausschmückungen modifiziert. Grundsätzlich verfolgten sie mit ihren Zusammenstellungen die Absicht, das Lesepublikum möglichst vollständig über das Unglücksereignis zu informieren. Den einzelnen Schilderungen soll eine Ordnung verleiht werden, »dessen sie nothwendig ermangeln muß, wenn man sie zerstüm-

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melt lieset« (Beschreibung I: 15). Durch die vorsätzliche Strukturierung entsteht eine zusammenhängende »historische Nachricht«, die sich durch ihre »Art des Vortrags, die Ordnung, die Untersuchung der Ursachen und viele andre Eigenschaften« sich von den »zerstückelten Briefen« unterscheidet (Beschreibung II: 22). Aufgrund ihres Standorts in unmittelbarer Nähe zu den Verheerungen verfügten die Bewohner Lissabons nicht über die notwendige Geistesgegenwart, glaubwürdige und umfassende Nachrichten zu verfassen: Sie schrieben in der eusersten Beklemmung ihres Hertzens, was ihnen Schmerz und Betrübniß eingab, ohne sich zu bekümmern, ob sich alles auch so verhielt, als sie es ihren abwesenden Freunden erzehlten; und wie konnten sie auch von allem unterrichtet seyn, da sie Schaaren=weise auf den Feldern hin und her zerstreuet waren, da sie viele ihrer Bekannten vermisseten, welche an andern Orten ihre Rettung gesucht und gefunden hatten, und da sie den von dem Erdbeben verschont gebliebenen Theil der Stadt in vollen Flammen stehen sahen? (Die traurige Verwandlung II: 6 f.)

Dasselbe Urteil wurde von Johann Denso in seinem Sendschreiben über das Erdbeben geteilt. Die »Bestürzung, der Schrekken und die Aengstlichkeit« mache das erfahrene Übel viel größer als es wirklich gewesen sei (31). Deswegen habe er sich entschieden, keine weitläufigen Erzählungen über die sich ereigneten Umstände in seine Untersuchung einzulassen, da sie der faktischen Aufarbeitung nicht dienlich seien. Insoweit widerspricht er dem Unterfangen der Nachrichtenkompilationen, da aus den vorhandenen Berichten »nimmer eine volständige Erzälung herausgebracht werden dürfte.« Worauf zu hoffen sei, sei lediglich, dass »nach hergestellter Ruhe des Landes und des Gemütes« ein »naturkündiger Portugiese« eine umfassende Beschreibung »aller nötigen Umstände« zusammenstellen werde (32). Den Herausgebern der Nachrichtenzusammenstellungen war der Problempunkt der authentischen Widergabe des Erdbebendesasters stets gegenwärtig. Im Vorwort zum Bericht Das glücklich und unglückliche Portugall und erschreckte Europa (1756) beteuert J. H. Kühnlin, er habe alles aus »sichern Quellen«, »warhaften Nachrichten« und »Briefen von Lissabonne« zusammengetragen (unpag.) – ein Unterfangen, das sich in Widersprüche verfängt, da die Wahrheitsbeglaubigung sich als brüchig erweist. Statt die Kriterien des Ausleseverfahrens zu präzisieren, werden diese mit rhetorischen Floskeln gerechtfertigt: Man glaube »nichts ohnwarhaftes geschrieben zu haben« (Kühnlin, unpag.) oder es genüge, »wenn man nur wissentlich nichts erdichtetes einfliessen läßt« (Beschreibung I: 17). Etwaige Unstimmigkeiten in den Berichterstattungen seien demnach den ursprünglichen Verfassern anzulasten. Dass die Erdbebenkatastrophe angesichts der außerordentlichen Schadenswirkung ohnehin eine sachlich-objektive Darstellung erschwert, wird als grundlegende Schwierigkeit anerkannt:

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Dem geschicktesten Redner würde es an Worten fehlen, die Größe dieses Un­ glücks=Falles behörig auszudrücken, und der größte Schriffststeller wird nicht fähig seyn, denselben so rührend, traurig und schrecklich zu beschreiben, als er es wirck­lich gewesen. Genug, es ist derselbe so groß, daß noch die späteste Nachkommenschafft mit Entsetzen davon sprechen wird. (Die traurige Verwandlung I: 8 f.)

Die Passage verdeutlicht, wie entscheidend die wirkungsorientierte Aufarbeitung des Katastrophenereignisses ist. Wegen des inkommensurablen Schreckens wird dieses über Generationen hinweg in Erinnerung bleiben. Folglich eröffnet sich im beidseitigen Vorsatz, die Leserschaft zu belehren und gefühlsmäßig zu affizieren, ein Widerstreit. Eine Zusammenführung wahrhafter Nachrichten ermöglicht einerseits dem denkenden Verstand »die Begebenheiten mit einander zu vergleichen«, was eine beträchtliche Wissenserweiterung in den verschiedenen Disziplinen zur Folge hätte: Dieses allgemeine Erdbeben, und die damit verbundene Veränderungen, können dem Gelehrten eine Gelegenheit zu den wichtigsten Untersuchungen werden. Der Naturforscher kann darinn seinen Verstand üben, und seine Begriffe in den Geheimnissen derselben erweitern. Der Gottesgelehrte wird auch Stof genug finden, Begebenheiten, welche uns die heilige Schrift aufgezeichnet, zu erläutern. (Beschreibung II: 10)

Andererseits erschließt sich mit der Einbettung sensationalistischer Schreckens­ tableaus der Unglücksverlauf auf einer gefühlsmäßigen Ebene. In den Lesern soll der Eindruck erweckt werden, sie seien mit den Verheerungen unmittelbar konfrontiert: »Die allgemeine Verwüstung, die man vor Augen siehet, ist fähig, auch dem­ jenigen, welcher sonsten unempfindlich, und der den geringsten Antheil an diesem Schiksale nicht gehabt hat, gleichsam Thränen auszupressen« (Maschenbauer 28). In der affektiven Erschütterung eines jeden Menschen offenbart sich die eigentliche Absicht der Zusammenstellungen: Wie bei den Erdbebendarstellungen aus den vorangegangenen Jahrhunderten zielen die sensationalistischen Schreckensdarstellungen auf die Evokation der Gottesfurcht. Entsprechend konterkariert das herausgekehrte Pathos die vorangestellte Versicherung einer objektiven Berichterstattung. Unter diesem Gesichtspunkt ist nicht die Erkenntniserweiterung, sondern die Propagierung tradierter moraltheologischer Lehrmeinungen vorrangig. Zu den Begebenheiten, die bei den deutschsprachigen Rezipienten auf große Aufmerksamkeit gestoßen sind, gehört das durch das Erdbeben herbeigeführte Skandalon der Ständenivellierung. Am 12. Dezember 1755 veröffentlichte die Staats- und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten die Übersetzung eines französischen Berichts, der in der Nachrichtenkompilation Gesammlete Nachrichten von dem Erdbeben der Stadt Lissabon (1756) als die erste Unglücksnach-

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richt angeführt wurde.83 Der Verfasser schildert darin den erbärmlichen Anblick der in Panik geratenen Menschenmassen. Vom Beben überrascht, war es für eine Vielzahl der Fliehenden nicht möglich, sich angemessen zu bekleiden: Das Fürchterliche dieses traurigen Anblicks läst sich nicht mit Worten beschreiben. Männer und Weiber, Vornehme und Geringe, liefen halb nackend, halb bekleidet, zitternd durcheinander. Die vornehmste Herrn und Damen waren in ihren Unterkleidern geflüchtet, und die Angst hatte ihnen nicht erlaubet, an ihre Kleider zu denken. (Nachrichten 10 f.)

Mehrere Kommentatoren haben den durch die unstatthafte Bekleidung sinnfällig gewordenen Kollaps der Gesellschaftsordnung bedauert. In direkter Anspielung auf die obige Textstelle unterstreicht der Herausgeber der Beschreibung des Erdbebens (1756) den Umstand, dass nicht allein der Tod die Unglücklichen miteinander vereint habe: Die unter dem Schutte begraben waren, waren nun alle gleich: aber diejenigen, die sich mit der Flucht retteten, waren durch dieses Unglück eben so gut einander gleich gemacht. Sie liefen zitternd und ohne die gehörige Kleidung durch einander, und sahen, daß sie durch diesen unglücklichen Zufall eben so gut, als die andern wurden. Wohin man die Augen wendete, sahe man nichts, als Häuser mit den größten Krachen einstürzen, und Menschen aufs elendeste zerschmettert werden. (Beschreibung I: 17 f.)

Mit der manifest gewordenen Verwundbarkeit und Schutzbedürftigkeit der Menschen verdeutlicht sich gleichermaßen die Brüchigkeit der weltlichen Instanzen. Als einzig verlässliche Stütze in der allumfassenden Misere erweist sich der Glaube an die Vorsehung Gottes; ein Standpunkt, der in der Zeitschrift Neue genealogischhistorische Nachrichten von den vornehmsten Begebenheiten (73. Teil, 1756) vertreten wurde: [Die Not] betraf so wohl den König, als die geringsten Unterthanen; so wohl geistliche als weltliche Personen. Hier war menschliche Hülfe verlohren. Alles kam auf die göttliche Barmherzigkeit an, wenn noch ein Ort, ein Hauß, ein Mensch erhalten werden sollte. (4)

In Hinblick auf das allseitig geäußerte Unbehagen über die Ständenivellierung muss angemerkt werden, dass die französische Nachricht in der deutschsprachigen Version an einem entscheidenden Punkt entschärft wurde. In der Erstfassung, die am 9. Dezember 1755 in der Zeitung Nouvelles Extraordinares de Divers Endroits 83 Vgl.

dazu die Reproduktion der im Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten erschienenen Erdbebennachricht in Wilke 66–68.

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erschienen war, flüchtete ausschließlich der erste Stand in Unterhemden auf die Straße. Die Angehörigen der Mittel- und Unterschicht waren in den Morgenstunden bereits schon angezogen: On ne pourra jamais se representer la tristesse & l’horreur de ce spectactle, dont le seul récit fait frémir. Les Hommes & les Femmes de tout état étoient comme égarés dans les ruës, les uns habillés, c’étoient les Bourgeois et le Peuple. Les grands Seigneurs étoient presques tous, ainsi que leurs Epouses, en Chemise. Dans ce moment de desolation on ne pensoit qu’ á fuïr. (unpag.)

Christiane Eiferts angesprochene Aufhebung der in den Insignien repräsentierten Gesellschaftsordnung wird im französischen Originaltext demnach weit pointierter ausgedrückt (653). Für die deutsche Leserschaft war der unterschwellige Seitenhieb gegen die Obrigkeit jedoch nicht statthaft und der Übersetzer ließ sowohl die Vornehmen als auch die Geringen halb nackt und halb bekleidet durch die zerstörte Stadt eilen. Im Nachhinein erweist sich der Einwand von Johann Gottlob Krüger und Johann Friedrich Seyfart (1727–1786), dass die Berichte über die spärlich bekleideten Flüchtenden nicht den wahren Umständen entsprechen, als durchaus berechtigt. Während die französische Nachricht insinuiert, die Obrigen befanden sich bei einem katholischen Feiertag noch in ihren Betten, sahen die beiden Gelehrten darin ein Vorurteil über die Trägheit der Portugiesen.84 Ein anderer Sensationsbericht, der in den deutschsprachigen Zeitungen breite Wellen geschlagen hat, ist der Brief eines französischen Kaufmanns, der seinem Korrespondenten in Paris den kompletten Verlust seiner Güter beklagt. Am 9. Dezember 1755 publizierte die Berlinische Nachrichten von Staats= und Gelehrten Sachen eine Übersetzung des Schreibens. Die Gesammlete Nachrichten führte es als Beleg an, welchen großen Schaden das Erdbebenunglück dem Handel angerichtet hatte. Der anonyme Franzose schildert mit eindringlichen Worten, wie er Zeuge von Lissabons Untergang wurde: 84  Siehe

Krügers Kommentar aus den Gedancken von den Ursachen des Erdbebens (1756): »Fast alle Nachrichten melden, daß die meisten Einwohner in den Hemden und Nachtkleidern aus ihren wankenden Häusern durch die verschütteten Strassen hätten fliehen wollen. Dieser Umstand hat in allen Lesern das Mitleiden vermehret. Welch ein tödtender Schreck, aus dem Schlaf durch einen plötzlichen Donnerknall erweckt zu werden! Allein, wenigstens von den catholischen Einwohnern kömmt es etwas unwahrscheinlich vor, und vielleicht haben es nur die Protestanten für gut befunden, sich an einem Römischen Festtag im Bette aufzuhalten« (87 f.). Ähnlich argumentiert Seyfart in seinem Beitrag Algemeine Geschichte der Erdbeben (1756): »Man bringt in vielen Nachrichten die meisten Leute in Nachtkleidern auf den Schauplaz, und eben diese Berichte gestehen doch ein, daß das Unglük sich zwischen 9. und 10. Ur Morgens zugetragen habe, folglich ist es wider alle Wahrscheinlichkeit, an einem so hohen Festtage die Leute bei einer solchen Zeit noch in Betten liegend anzugeben. Man werfe, wie man will, den Portugiesen die Gemächlichkeit vor, so scheinet doch das Fest zu einem etwas frühern Aufstehen sie bewogen zu haben« (157).

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Ich bin allein aus meinem Hause mit dem Kleide, so ich anhabe, dem grausamen Unglücke, welches Lissabon zu Grunde gerichtet, entronnen. Mein Glück, mein Vermögen, und alles, was ich auf der Welt besessen, sind unter den Trümmern einer Stadt, die mein anderes Vaterland geworden war, begraben. Ich bin 72 Jahr alt geworden, um noch ein Zeuge von der erschrecklichen Züchtigung zu seyn, die nur der Zorn Gottes über die sündigen Menschen ergehen lassen kann. Von dem Orte, dahin ich aufs Feld geflüchtet war, habe ich diese grosse und prächtige Stadt von dem Erschüttern, das die dauerhaftesten Gebäude, wie der Wind das Rohr, beweget, über einen Haufen stürzen sehen. Mitten unter dem Getöse, welches das allgemeine Unglück verursachte, hörte man das Winseln so vieler tausend Unglückseligen, welche zum Himmel schryen, und die Barmherzigkeit Gottes anfleheten, dessen erschreckliches Urtheil sie erfuhren. An dem fürchterlichen Tage glaubte ein jeder, daß der grosse Tag kommen würde, an welchem das Daseyn der Welt zu Ende gehet. Heute ist der 5te nach diesem unglücklichen Tage. Ich sehe viele hundert Personen um und neben mir, welchen nur noch, wie mir, das traurige Andenken ihres vorigen Glücks bleibet. Wir sind unglücklich, und wir werden andere unglücklich machen. Denn unsere Verbindlichkeiten sind mit der Stadt, worinn sie gemacht worden, und von welcher sie ihren Beystand hatten, vernichtet worden. Kurz, Lissabon ist nicht mehr. (Nachrichten 52)

Unmissverständlich rezipiert der Kaufmann das Erdbeben als ein göttliches Strafgericht und Vorzeichen des Jüngsten Gerichts. Das Unglück hat ihm jeglichen Besitz entrissen und ihn mit den geflüchteten Stadtbewohnern zu einer beklagenswerten Schicksalsgemeinschaft vereint. Der Franzose beglaubigt explizit, den Kollaps der Gebäude und den Tod Tausender gesehen und gehört zu haben. Um die gewaltigen Schwingungen des Bebens bildhaft auszudrücken, umschreibt er sie als einen »Wind«, der die Bauten wie ein »Rohr« bewegt habe (Nachrichten 52). Die im französischen Original verwendete Metapher »roseaux« bzw. »Schilfrohre« wurde in einigen deutschsprachigen Übersetzungen irrtümlicherweise als »Rosensträucher« angegeben.85 Diese im Nachrichtentransfer erfolgte semantische Verzerrung setzt sich in der breitgefächerten Aneignung des Schreibens fort. Johann 85  Gemäß

dem Beitrag »Tremblements de la presse« von Anna Saada und Jean Sgard ist der anonyme Brief des französischen Kaufmanns am 2. Dezember 1755 im Supplementteil der Gazette d’Utrecht erschienen (vgl. 219). Die betreffende Stelle lautet wie folgt im Originaltext: »Du lieu où je m’étais sauvé à la campagne, j’ai vu cette grande superbe ville, se renverser par des secousses qui souvelaient les bâtiments les plus solides et les agitaient de la même manière que le vent les roseaux« (zit. nach Saada und Sgard). Die Fehlübersetzung der »roseaux« Metapher ist u. a. in der Münchner=Zeitungen, von denen Kriegs= Friedens=Staats= und andern Begebenheiten, inn= und ausserhalb Landes vom 11. Dezember 1755 zu verorten: »Von dem Ort, wohin ich mich auf das Land geflüchtet, habe ich diese grosse und prächtige Stadt durch das Erdbeben umstürzen sehen, da es die größten und festesten Gebäude erschütterte, und sich gleich Rosensträuchen hin und her bewegte« (788). Folgend dieselbe Stelle, die am 17. Dezember 1755 im Wiener Dia-

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Georg Zimmermann versinnbildlicht im Lehrgedicht Ueber die Zerstörung Lisabons den Zusammensturz der »tausend Häuser« als »Cedern in dem Sturme«, die sich in »tausend Wirbeln« umdrehten. Die Beschreibung, so gibt der Brugger Physikus im Fußnotenapparat zu bekennen, stamme von jemandem, der gesehen habe »›wie die allergründlichsten Gebäude sich in die Höhe gehoben, und sich auf die gleiche Art beweget haben, wie die Winde die Rosenstöcke zu bewegen und hin und her zu treiben pflegen‹«; jedoch habe er sich für die poetisch angemessenere Metapher »Cedern« entschlossen (30). Johann Rudolph Anton Piderit (1720–1791) hingegen ließ die Figur des »ehrwürdigen Greissen« in seine Freye Betrachtungen über das neuliche Erdbeben zu Lisabon (1756) einfließen. Im Abschnitt »Trauriger Anblick, dessen was in Spanien und Portugall geschehn« überbringt der alte Mann einer Gruppe verängstigter Portugiesen die Nachricht vom Untergang der Königsstadt (144). Die Fehlübersetzung des französischen Wortes »roseaux« taucht in seiner Schilderung der erblickten Verheerungen ebenfalls auf: Kein Haus ist unbeschädigt geblieben: die nach einander erfolgten Erschütterungen, haben die Gebäude dieser Stadt, wie die Rosensträucher hin und her gewebet, und mehr als die Helfte ist, durch den Umsturz, samt dem Königlichen Pallaste, zu Grunde gerichtet worden, dergestalt, daß dieser Plaz keine Stadt mehr heisset, sondern daß man sagen muß: der Ort, wo Lissabon gestanden hat. (150)

Das Grauen des verhängnisvollen Tages schildert er anschließend als geballte Attacke der vier Naturelemente gegen die wehrlose Stadtbevölkerung: Stellet euch, ihr Nachkommen, den Schrecken für, welchen das Donnern und Rasseln derer in Menge einfallenden Gebäude, wie ein Feuer in unsere Knochen gebracht. Hier quetschte eine Kirche viel hundert Köpfe; dort rang eine Menge unter dem Schutt, mit der schmerzlichsten Todes=Angst. Dort thönete ein klägliches Toden=Geschrey durch Stein und Erden hindurch, und niemand war im Stand, denen Unglücklichen, die mit sich selbst rungen, zu Hülffe zu kommen. Dort nagete sich ein Verunglückter, Fleisch und Nägel bis auf die Knochen ab, um aus der finstern Höle sein armes Leben zu erbeuten, und es half doch zu nichts anders, als daß er sein eigener Todengräber wurde, der sich mit seinen Händen, die Stelle zu seinem Grabe, zurecht machte. Dort lagen die Säuglinge tod an den Brüsten ihrer Mütter: dort sahe man noch einen an der toden Brust liegen, der aber sein Ende, unter den Füssen derer, nach ihrer Rettung eilenden Menschen sehr erbärmlich erhielte, und diejenige, welche solche meynten gefunden zu haben, fanden entweder unter ihren Füssen, einen sie gleichsam verfolgenden Geist, der sie in dieser Gegend nicht mehr leiden wolte: oder sie stunden in der Gefahr, von dem Tagus, welcher rium veröffentlicht wurde: »[…] da es die grösten und festesten Gebäude erschütterte, und sie gleich Rosen=sträuchen hin und her bewegte« (unpag.).

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noch zorniger als die Erde schien, und sein Haupt recht fürchterlich gegen Lissabon aufhub, verschlungen zu werden: oder sie liefen mit offenen Augen in die Flamme, welche dasjenige auffraß, was das Erdbeben übrig ließ. So, daß wir wohl sagen können, wir seyen an diesem Tage von allen Elementen verfolget worden: masen auch selbst die Luft uns nicht zum Vortheil werden können, sondern ein jeder, welcher in der Stadt war, in der Furcht stehen müssen, daß er von der, durch Staub und Asche fast unbeweglich gemachten Luft, stehenden Fusses sein Ende finden würde. (151 f.)

Piderits Tableau umfasst eine Vielzahl paradigmatischer Darstellungselemente. In direkter Weiterführung früherer Unglücksberichte kommt es mittels der rhetorischen Figur der Evidentia zu einer Zusammenführung von Schreckensmomenten. Die lineare Zeitachse des Katastrophenverlaufs wird zugunsten einer Gesamtsicht auf die Heimsuchungen unterbrochen. Dadurch wird das Erdbebenereignis von seinem spezifischen raumzeitlichen Kontext entbunden. Die hyperbolische Drastik des veranschaulichten Grauens unterminiert allerdings die Absicht, die dem Unglück attestierte Singularität herauszustreichen. Analoge Darstellungsmuster sind ebenfalls in stilisierten Kriegsdarstellungen aus dem 17. Jahrhundert nachweisbar. Anselm von Ziegler und Klipphausen (1663–1697) veranschaulichte in seinem weit rezipierten Werk Die asiatische Banise (1689) die Verwüstung der Handelsstadt Odia durch marodierende Soldaten. Wie Piderit scheute er sich nicht vor der Häufung überbordender Gräuelbilder: Die Feder würde endlich ermüden/ den Jammer auff allen Seiten zu beschreiben: denn was die Flamme verschonte/ das wurde von den unbarmhertzigen Bramanern mit Mord und Todtschlag dermassen erfüllet/ daß das Blut durch die trockenen Gassen gleichsam ströhmte. Hier sahe man die Cörper der Alten und Jungen/ auff entsetzliche Weise hingerichtet/ in ihrem Blute liegen und kunte man fast keinen Fuß fortsetzen/ daß man nicht auf Leichen wandelte: ja die Gassen schienen mit abgehauenen Köpffen/ Armen/ Schenckeln und halbgebratenen Leibern gepflastert zu seyn. Dort klebte noch an den Mauern das verspritzte Gehirn der unschuldigen Kinder/ welche die verteufelten Uberwinder zerschmettert hatten/ und die Säuglinge lagen noch den erwürgten Müttern an ihren kalten Brüsten/ saugeten statt Milch das geronnene Blut in sich/ und lalleten/ winselten und schrien so erbärmlich/ daß die Steine darüber hätten springen mögen. (566)

In typischer Manier kündigt der Erzähler die Schreckenspassage mit dem rhetorischen Einwand der Sprachlosigkeit an und beendet diese mit dem formelhaften Mitleidsbekenntnis, dass selbst Steine sich an den aufgezeigten Bluttaten erweichen würden. Die angeführten Schockelemente sind beliebig variierbar und als Komponente einer tradierten Katastrophenikonographie werden sie von einem Unglücksereignis zum nächsten erneut herbeigezogen. Deckungsgleich zu Ziegler und Klipp-

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hausen erscheint dieselbe Beschreibung des toten Säuglings an der Mutterbrust in Johann Gottlob Krügers Gedancken von den Ursachen des Erdbebens: »Dort liegt eine gequetschte Mutter, und der unbekümmerte Säugling ziehet aus ihrem erstorbenen Herzen die mit geronnenem Blut vermischte Milch« (88). Hinsichtlich des Lissabonner Bebens resultiert die hohe Konzentrierung klischierter Bilder vom schicksalshaften Zusammentreffen seismischer Verheerungen, die in den vorangegangenen Unglücksberichten wiederholt geschildert wurden. Dass sämtliche Natur­ elemente zu diesem unsäglichen Schauspiel beitrugen, förderte den inflationären Gebrauch eingefahrener Motive und Topoi ungemein. Mit der zunehmenden Fülle von Berichterstattungen aus der Trümmerstätte amplifizierte und verhärtete sich die Vorstellung einer prototypischen Erdbebenkatastrophe. Die intertextuelle Appropriation und inhaltliche Umgestaltung bestimmter Schreckensbilder lässt sich anhand der Nachrichten über die Betroffenheit des portugiesischen Monarchen einschlägig nachzeichnen. Neben der spärlich bekleideten Obrigkeit konstituiert sie ein weiteres Motiv mit großer Breitenwirkung. Der Straßburger Ratsherr Rüffier erhielt von seinem Bedienten aus Lissabon einen vom 18. November 1755 datierten Brief, worin die königliche Anteilnahme überschwänglich gepriesen wird: Er vergiesset eben so viel Thränen unter uns Elenden, als alle Unterthanen. Er nimmt Theil an allem unserm Schmerz. GOtt erhalte Ihn und seine ganze Familie. Er erzeigt sich als ein rechter barmherziger Vater, so unser aller Trost ist. GOtt segne Ihn!86

Im Moment der akuten Krise erweist sich José I. (1714–1777) als ein von Mild­ tätigkeit erfüllter Mensch. Trotz der Ungeheuerlichkeit der Heimsuchungen vermag diese seine wahre Größe nicht zu brechen. G. Rapin, der drei Tage nach den einsetzenden Erdstößen seine schwangere Frau verloren hatte und am 9. November von Lissabon nach Cádiz geflüchtet war, schilderte in seinem Augenzeugenbericht Le tableau des calamités (1756), wie der König bereits in den Nachmittagsstunden des 1. Novembers von Belem ausgeritten sei, um sich ein Bild von seiner in Flammen stehenden Residenzstadt zu machen. Dem Berichterstatter war es nicht möglich, den Schmerz des Staatsoberhaupts in angemessenen Worten auszudrücken: C’est ici où les expressions me manquent, pour peindre au vrai l’excès de la douleur du Monarque, & la consternation générale de tout un Peuple, qui l’aimoit par rai86  Zitiert

wird aus der Nachrichtenkompilation Neu=eingeflossene bewegliche und umständliche Beschreibung des entsetzlichen Erdbebens, welches den 1. Wintermonat 1755. die trefliche Portugiesische Haupt-Stadt Lissabon, samt umliegenden Gegenden zerstöret und fast gänzlich zernichtet hat (1756), in der die drei Briefe an den Ratsherrn Rüffier veröffentlicht wurden. Der Text ist unpaginiert.

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son & par devoir. A la vûë de Lisbonne & de ses Habitants dénués de tous secours humains, ce Prince fit couler un torrent de larmes […]. (22)

Vorbildhaft verkörpert der Monarch mit seinem würdevollen Betragen den gesitteten Betrachter der Unglückszenerie. Ein 1755 in Augsburg gedrucktes Flugblatt beschreibt den »beweglichen Anblick vor dem König« wie folgt: Umgestürzte Mauren, beträchtliche Lücken, wo Stein auf Steinen sich thürnen, Abgründe, die da und dort noch offen sind; eine Hand voll Bürger ohne Unterschlauf; Unterthanen, welche den Landesvater mit jämmerlichen Zettergeschrey anlauffen; verstümmelte Leichname, deren Glieder die Erde wieder ausgespien, Körper von Menschen und Thieren, welche den Schutte zerquetscht, vermengt und gehäuft worden sind; Säuglinge, die an der Mütter Brüsten erdrückt worden; verzweifelnde Väter, vom Ueberrest sterbender Kinder umgeben, ohne Rettung zu finden. (Vorstellung und Beschreibung)87

Um heftige Gemütsbewegungen zu erwecken und die Vergänglichkeit des Lebens vor Augen zu führen, kulminiert die Beschreibung der leichenübersäten Ruinenlandschaft auch hier in der Perzeption der leidenden Familie, insbesondere des vorzeitigen Hinscheidens schutzbedürftiger Kinder. Das im Augsburger Flugblatt angeführte Schreckenstableau wurde aus einem am 5. Dezember 1755 im Courrier d’Avignon erschienenen Brief entnommen.88 Es handelt sich dabei um ein Schreiben, das angeblich am vorangegangenen 10. November in der durch Erdstöße und Tsunamiwellen heimgesuchten Ortschaft Cádiz entstanden ist. Die detaillierten Angaben zu den in Lissabon stattgefundenen Unglücksereignissen lassen auf einen relativ raschen Informationsaustausch zwischen den iberischen Hafenstädten schließen. Hingegen hat die räumliche Distanz zum eigentlichen Katastrophenschauplatz die Zusammenführung stilisierter Schreckensmotive begünstigt. Es ist aber auch möglich, wie unten genauer besprochen 87 Varianten

derselben Nachricht sind in der Neu=eingeflosssene Bewegeliche umständliche Beschreibung des entsetzlichen Erdbebens (unpag.) und in den Physikalischen Betrachtungen (1756) erschienen (148 f.). 88  Siehe folgende Passage aus dem Courrier d’Avignon: »[M]ais quel spectacle s’offre à ses yeux en entrant dans Lisbonne! Des murs renversés, des espaces considérables où l’on ne voit pas pierre sur pierre, des gouffres encore ouverts de toutes parts; une poignée de Citoyens sans asyle, qui viennent au-devant de leur Maître, en poussant des cris lamentables; des cadavres mutilés, dont la terre avoit vomi des membres, des monceaux de corps humains & des animaux entasses sous les ruines, des petits enfans écrases dans le sein de leur mere; un pere au désespoir, environné du reste de sa famille expirante, & qui ne sçait où la refugier; une Mer encore agitée, & le Soleil caché sous des nuages épais & enflammés, semblant annoncer une nuit éternelle« (389 f.). Vgl. dazu Saada und Sgard 220. Eine abgeänderte Fassung der Cádizer Nachricht wurde 1755 unter dem Titel Relation du Tremblement de Terre, arrivé à Lisbonne le 1er. Novembre 1755 in Paris veröffentlicht.

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wird, dass der Inhalt der französischen Vorlage gänzlich fiktiv ist. In ihr wird die Demutshaltung vor der entsetzlichen Allmacht Gottes explizit bekräftigt. Die verdunkelte Sonne habe eine »nuit éternelle« angekündet und inmitten dieser Trostlosigkeit sei kaum eine Kirche stehen geblieben, »pour y invoquer la clémence du Seigneur« (398). Trotz aller Drastik der aufgezeigten Gräuel erhebt der anonyme Briefschreiber keine weiterführenden metaphysischen Fragestellungen über die Gerechtigkeit Gottes oder den populärphilosophischen Optimismus. Die blutrüns­ tigen Sujets – die toten Mütter mit ihren zerquetschten Kindern und die Vermengung verstümmelter Körper unter den Trümmern – decken sich mit denjenigen in den deutschsprachigen Erdbebenbetrachtungen.89 Diese werden aber im Gegensatz zu Voltaires Poème sur le désastre de Lisbonne nicht dazu instrumentalisiert, bestehende Lehrmeinungen zu unterwandern90 – ein Sachverhalt, der nicht nur deren morbide Anziehungskraft, sondern auch die Fortführung eines überkommenen Bildarsenals bezeugt, das über Jahrhunderte zur straftheologischen Disziplinierung der Bevölkerung gedient hat. In der Cádizer Nachricht wird apodiktisch das notwendige Weiterbestehen des vorkatastrophischen Ordnungs- und Wertesystems affirmiert. Worauf die notleidenden Portugiesen ihr Vertrauen zu setzen haben, ist die gütige und weise Regentschaft des Staatsoberhaupts: La seule chose qui puisse ranimer l’espérance des Portugais, est la grandeur du Monarque qui les gouverne. Sa bonté, sa sagesse, sa génerosité, ses lumiéres, les beaux Réglemens qu’il a donnés depuis qu’il es sur le Trône, sont espérer qu’il sçaura trouver les moyens les plus prompts pour rendre à un Peuple qui l’adore, tout l’éclat dont il joüissoit auparavant. (390)

Innerhalb der formalen Umrandung des Tableaus verdichten sich die disparaten Geschehnisse des Erdbebendesasters zu einem stupenden Schauspiel. Die sich be89 

Vgl. das Schreckensbild in Johann Georg Zimmermanns Sinngedicht Die Zerstörung von Lisabon: Ein jeder findet sein Grab bereit zu seinen Füssen/ Die Mutter und ihr Kind zermalmt der gleiche Stein,/ Des Vaters Glieder sind im Staub’ des Sohnes vermenget […]« (31 f.). Eine äußerst grässliche Variation wird in dem am 9. Dezember 1755 erschienenen Werk Zweytes Gespräche eines Portugiesen und eines Deutschen über den kläglichen Zustand der Stadt Lissabon aufgeführt: »Wie manche zärtliche Mutter wird ihren armen Säugling noch erst haben retten wollen, der ihr etwann noch aus der Wiege, als ob er von dem Erdbeben nur gewiegt würde, wird zugelacht haben, deßen Gehirn aber zugleich mit dem Gehirne seiner Mutter wird unter einem Steine zerquetscht und verspritzt seyn« (29). 90  Vgl. dazu die korrespondierenden Schreckensmotive in Voltaires Poème sur le désastre de Lisbonne, die zur Anklage des populärphilosophischen Optimismus dienten: »Accourez: contemplez ces ruïnes affreuses,/ Ces débris, ces lambeaux, ces cendres malheureuses,/ Ces femmes, ces enfants, l’un sur l’autre entassés,/ Sous ces marbres rompus ces membres dispersés;/ Cent mille infortunés que la terre dévore,/ Qui sanglants, déchirés, & palpitants encore,/ Enterrés sous leurs toits, terminent sans secours/ Dans l’ horreur des tourments leurs lamentable jours./ […] Quel crime, quelle faute ont commis ces enfants/ Sur le sein maternel écrasés & sanglants?« (8 f.).

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reits im Barockzeitalter abzeichnende Theatralisierung verheerender Unglücks­ereig­ nisse kommt in den als authentisch veranschlagten Nachrichtenkompilationen des Lissabonner Bebens zu ihrer vollen Entfaltung. J. H. Kühnlin vereint in seinem Beitrag Das glücklich und unglückliche Portugall und erschreckte Europa auf exemplarische Weise die vereinzelten Sensationsmeldungen, wobei er diese zusätzlich ausschmückt, um die größtmögliche affektive Wirkung zu erzielen. Statt des Monarchen übernimmt die zu ihren verwüsteten Häusern zurückkehrende Stadtbevölkerung die Betrachterposition. Das Schreckensbild ist nahezu textidentisch mit demjenigen im Augsburger Flugblatt: Sie sahen nichts als umgestürzte Mauren; beträchtliche Lucken, wo Steine auf Steine sich thürmten; Abgründe die da und dorten noch offen waren; verstümmelte Leichnamme, deren Glieder die Erde wieder ausgespien; Körper von Menschen und Thieren, welche unter dem Schutte zerquetscht, vermengt, und gehäufet worden; Säuglinge die an Mutter=Brüsten erdruckt worden; und fast kein Haus mehr aufrecht stehen. (120)

Dieselbe Darstellungskonstellation manifestiert sich, wenn Kühnlin den einzelnen Augenzeugen in dem eingearbeiteten Bericht des französischen Kaufmanns zu einem erschütterten Menschenheer ausweitet: Sie sahen hier von dem Orte wo sie sich hingeflüchtet, die grösten und schönsten Palläste, Häuser, und allervestesten Gebäude, durch stets anhaltende Erdstösse, aus seinen bis an das Ende der Welt dauren könnenden Grund=Vesten empor steigen, schwebend in der Luft hin und her gleich denen Rosenstöcken bewegen, und mit einem krachenden Getöse, unter einem jämmerlichen Angst=Geschrey, welches die Menge bestürzter Menschen gleichsam stürmend gen Himmel schicken, die Barmherzigkeit GOttes anzuruffen, und um Gnade zu bitten, ihrer zu verschonen, einstürzen. (114)

Die angeführten Schreckensbilder setzen für die anwesenden Zuschauer einen Moment des sicheren Verweilens voraus. Im Gegensatz zu ihren malträtierten Leidgenossen werden sie zum Wahrnehmungszeitpunkt nicht in den Tod gerissen und befinden sich somit außerhalb des akuten Gefahrenherds. Wie Peter Utz herausgestrichen hat, bedarf es in der Vermittlung des Desasters des verschonten Beobachters: »Dieser Betrachter ist zwar Teil des kulturellen Deutungsmodells ›Katastrophe‹, aber er geht nicht mit ihr unter« (95). Die choreographische Rollenverteilung der Lissabonner in Zuschauer und Opfer erlaubt es Kühnlin, das ungeheure Ausmaß der Heimsuchungen in ausdruckstarke Szenerien zu bündeln. Mit dem Verweis auf die verschonten Stadtbewohner, die den Unglücksschauplatz beäugen, kommt es zu einer Verdoppelung des Blickwinkels. Dem »zuschauenden« Leser wird durch die innertextlichen Zuschauer ein affektives Bindeglied zum veran-

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schaulichten Schrecken geschaffen. Deren unmittelbare Nähe zum Elend macht sie zu mitleidserregenden Menschen, mit denen sich das bürgerliche Publikum identifizieren kann, da sie im Unterschied zum Monarchen dem gleichen Stand angehören. Hingegen suggeriert die versammelte Augenzeugenschar, dass die aufgezeigten Kalamitäten sich tatsächlich auf diese Weise abgespielt haben. Mit dem dramaturgischen Einbezug von weiteren Nachbeben steigert sich das Unglück zu einer Serie fürchterlicher »Trauer=Spiele« (133). Erst am 21. Dezember 1755 verlieren die Elemente ihre Kraft und das »Volk hatte dahero Zeit die Ruinen ihrer zerstöhrten Stadt, welche nicht anders als ganze Haufen schwarze Steine aussahen, mit dausend Thränen und Seufzern zu betrachten, und den Schaden zu untersuchen« (134).91 Unter Kühnlins Regie gerät Lissabons Untergang zu einem apokalyptischen Spektakel, in dem sich vor den Blicken der Überlebenden ein »klägliche[s] Schau=Bild« an das nächste reiht (116). Zeitgleich mit der Institutionalisierung des bürgerlichen Theaters im 18. Jahrhundert nimmt die Katastrophe die Züge eines »gigantische[n] Rührstücks« an (Utz 96).

b) Schreckenstableaus in den Augenzeugenberichten über das Erdbeben von Lissabon Die suggerierte Nähe zum Katastrophenschauplatz und die zum Ausdruck gebrachte Betroffenheit über den durchlebten Schrecken machten die Augenzeugenberichte zu begehrten Informationsquellen, deren Anziehungskraft 1755 in der Dezemberausgabe des Gentleman’s and London Magazine besprochen wurde. Der Herausgeber verdeutlicht, dass statt der Vermittlung faktischer Begebenheiten vielmehr die affektive Wirkung von Belang sei: As there is something unspeakably more striking in letters written by person on the spot, describing scenes of distress which are still before them, and dangers which they have themselves with difficulty escaped, than in a narrative, in which the facts are reduced to the cold regularity of a mind comparatively uninterested […]. It is besides more consistent with the nature of our work to preserve to posterity the first and originial relations of so great an event, as they will have greater authority than the best digest, and will also be considered as literary curiosities. (607)

Die hervorgehobenen Vorzüge der Erlebnisberichte – die Veranschaulichung des angetroffenen Menschenelends und die spannungsgeladene Beschreibung der 91  Dasselbe

Enddatum der Nachbeben wird ebenfalls in den Physikalischen Betrachtungen (1756) kolportiert. Sämtliche Paläste und Hauptgebäude Lissabons seien »durch die vielen wiederholte Erschütterungen, welche biß den 21. December fortgedauert, also binnen 51. Tagen, nach und nach vollends zernichtet worden« (178).

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Flucht aus der Trümmerstätte – entspricht der Erwartungshaltung der sensationshungrigen Leserschaft. Bestimmendes Kriterium für die Auswahl der Briefe sind die darin enthaltenen Schreckensbilder, die sich formell und inhaltlich mit denjenigen in den fiktiven Erdbebenschilderungen überschneiden. Demzufolge äußert sich ihre ausgeprägte Stilisierung nicht erst im raumzeitlichem Abstand zum Katastrophenereignis, sondern ist bereits in den vor Ort verfassten Schriften evident. Ungeachtet ihrer Herkunft schildern die Briefschreiber den Ablauf des Lissabonner Erdbebens meist nach einem starren Erzählschema. Wie in den summarischen Nachrichtenzusammenstellungen streichen sie anfänglich den Prunk und Reichtum der Königsstadt heraus. Mit dem Verweis auf das schöne Wetter wird die Kontrastwirkung zum Grauen des hereingebrochenen Desasters zusätzlich bekräftigt.92 Aufsteigende Staubwolken von den eingestürzten Bauten führen zu einer unheilvollen Verdunkelung des strahlendblauen Himmels. Hastig verlassen die Augenzeugen ihre wankenden Wohnungen und auf dem gefahrvollen Weg zu einem sicheren Ort kommt es zu Szenenbeschreibungen der Kalamitäten. Beispielhaft ist folgende Passage aus dem ins Englische übersetzten Bericht A letter from a Portuguese Officer (1755): In the midst of a bellowing Sound, like that of a Wreck of Worlds, nothing could be heard but Shrieks, loud Cries, and Lamentations: One calls out for his Father, another for his Son, a third for his Wife: Some thro’ Fear of Death, call in Death itself to their Aid: Others fly towards the very Places they want to avoid: Some whom Grief and Terror have deprived of Motion, seem determined to wait for the Moment of being swallowed up: Others have I beheld, who after having wandered about for some Time in Search of their Friends, wanted Strength to make up to them, when they came within Sight: their gaping Mouths prepared for Utterance; but the Sounds hung upon Palate, and die imperfect on the faulting Tongue. (5–7)93

Zu den bekanntesten Augenzeugenberichten gehört der Brief eines englischen Kaufmanns, der auf ergreifende Weise die unterschiedlichen Stadien der Erdbebenkatastrophe dokumentierte. Im Jahr 1787 ist eine Druckversion in Charles Davys 92  Ein

englischer Kaufmann beschrieb im Account of the late Dreadful Earthquake and Fire (1756) das Einsetzen der Erdstöße wie folgt: »There was I sitting on the first Day of the present Month, about ten of the Clock in the Morning (the Weather being serene, and the Sky without a Cloud in it,) when I felt the House begin gently to shake […] (11). 93  Kühnlin stellte ein nahezu textidentisches Szenenbild zusammen: »[D]agegen erfüllte ihre Ohren ein klägliches Gethön der girrenden Stimmen vieler dausend Menschen. Das Weib rufte dem Mann, die Kinder ihren Eltern, die Schwester dem Bruder, ein Nachbar und Freund dem andern, und jene diesen wieder wehmütig zu, keines aber wurde von dem den sie rufen gehöret. Jene wollten sterben aus Furcht des Todes; diese aber flohen an Orte hin, wovon sie fliehen wollten. Die klägliche Stimme der Suchenden, und die ohnmögliche Rettung der Suchenden, und die ohnmögliche Rettung der Gefundenen, war die fruchtlose Bemühung von allen« (115).

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Letters, addressed chiefly to a young Gentleman, upon Subjects of Literature erschienen und seitdem wird der Text in einer Fülle von Publikationen angeführt. Walter Benjamin hat Passagen davon als »Erlebnisse eines in Lissabon ansässigen Engländers« in seine »Rundfunkgeschichten für Kinder« eingearbeitet (224 f.).94 Der Herausgeber Davy preist in der Vorrede zum ersten Band der Letters den Erlebnisbericht »as […] perhaps the most affecting, as well as the most authentic narrative of the terrible destruction of that grand and populous City, which hath yet been laid before the Public« (viii). Bislang ist die wahre Identität des Autors im Dunkeln geblieben.95 Davy nennt einen »Mr. Braddock«, der der Factory, der britischen Handelsgemeinschaft in Lissabon, nahe gestanden sei und den Brief am 13. November 1755 seinem Freund Dr. George Sandby, Pfarrer und Kanzler der Diözese von Norwich, zugestellt habe (Davy II: 3). Weitere Textquellen aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts deuten jedoch darauf hin, dass es beim Briefschreiber um den englischen Kaufmann und Schriftsteller Walter Bradick (1706–1794) handelt. Der Geistliche John Wesley (1703–1791) vermerkt im Tagebucheintrag vom 8. Februar 1768, der »Turkey Merchant« und Verfasser des Gedichts »›Choheleth; or, the Preacher‹« habe das Lissabonner Erdbeben überlebt, weil seine unangemessene Bekleidung ihn davon abhielt, das Haus überstürzt zu verlassen und durch herabfallende Trümmer erschlagen zu werden (296 f.). Eine im Januar 1795 im Gentleman’s Magazine veröffentlichte Todesanzeige meldet ebenfalls, der mit 88 Jahren verstorbene Bradick sei ein wohlhabender Händler in Lissabon gewesen und sei nur knapp mit dem Leben davongekommen, nachdem das Beben seinen ganzen Besitz verschlungen habe. Nach seiner Rückkehr nach England sei er erblindet und habe 1765 sein bekanntestes Werk »›Choheleth, or Royal Preacher‹« veröffentlicht (83). In seinem Brief schildert Bradick auch wirklich, wie das zeitverzögernde Schuhund Mantelanziehen ihn vor dem sicheren Tod der einstürzenden Gebäude bewahrt habe. Als er das vermeintlich sichere Flussufer am Tagus erreichte, wurde er beinahe von den hereinbrechenden Flutwellen ertränkt. Erstaunlich am Bericht ist, dass sein Fluchtweg durch die Stadtruinen entlang repräsentativen Prunkbauten – dem frisch erbauten Opernhaus, der neuen Patriarchalkirche und dem Königspalast am 94 

Eine deutsche Übersetzung des Augenzeugenberichts wurde am 29. Juni 1833 in der Illustrierten Das Pfennig=Magazin veröffentlicht. 95  Im Hinweis, dass Walter Bejamin den Brief in seiner Radiosendung für Kinder verwendet hat, gibt Alexander Košenina als dessen Autor den Herausgeber an: »Ausführlich zitiert [Walter Benjamin] […] den englischen Reverend Charles Davy mit seinen Erlebnissen« (179). Demselben Fehler unterliegt Pascal Nicklas in seiner Analyse der prekären Zuschauerposition im Augenzeugenbericht (vgl. 545–548). Die verwechselte Autorschaft taucht ebenfalls in der Studie After the Quakes (2006) von Susan Elizabeth Hough und Roger G. Bilham auf (vgl. 43–46). Die Falschangaben lassen sich zu der von Eva March Tappan (1854–1930) herausgegebenen Anthologie The World’s Story (1914) zurückführen. Im fünften Band Italy, France, Spain, and Portugal wird unter dem Titel »The Earthquake at Lisbon« der Name »Rev. Charles Davy« angegeben (vgl. 618).

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Terreiro do Paço – verläuft, deren Verwüstung wiederholt in den Zeitungsberichten beklagt wurde. Scheinbar zufällig stößt er auf den heldenhaften Offizier, der eigenhändig das Münzgebäude vor den Plünderern beschützte. Hinsichtlich der ausgeprägten Selbstinszenierung überrascht es nicht, dass Bradick für die Darstellung einer Massenpanik beim Patriarchalplatz auf die bewährte Tableauform zurückgreift. Am Anfang der Passage ist die Betrachterposition noch inmitten der aufgebrachten Menschenschar positioniert, die sich aber von ihr distanziert, sobald die gesamte Spannbreite des ständeübergreifenden Unglücks deiktisch vor Augen geführt wird: From this Square, the way led to my friend’s lodgings, through a long steep and narrow street: the new scenes of terror I met with here, exceeded all description; nothing could be heard but sighs and groans, I did not meet with a soul in the passage who was not bewailing the death of his nearest relations and dearest friends, or the loss of all his substance; I could hardly take a single step without treading on the dead, or the dying: in some places lay coaches with their masters, horses and riders almost crushed in pieces; here, mothers with infants in their arms; there ladies richly dressed, priests, friars, gentlemen, mechanics, either in the same condition or just expiring; some had their backs or thighs broken; others vast stones on their breasts; some lay almost buried in the rubbish and crying in vain to the passengers for succour, were left to perish with the rest. (Davy II: 39 f.)

Ein Brief des Abbé de Granier vom 4. November 1755, der in der Oktoberausgabe des Journal Oeconomique abgedruckt wurde, führt ebenfalls die Schilderung der in Aufruhr geratenen Stadtbevölkerung Lissabons an. Wie Bradick häuft der Geistliche gesonderte Wahrnehmungselemente parataktisch aneinander, um sein Entsetzen auszudrücken. Die Verzweiflung der Menschenmasse äußert sich an dieser Stelle in frenetischen Glaubensbekenntnissen: Mon Dieu, quel épouvantable spectacle! j’ai vû les rues couvertes de morts, de mourans, de blésses, de gens de tout sexe & de tout âge à demi-enterrés sous les ruines, les vivans pâles & défaits, les uns tenant une croix dans leurs bras, les autres quelques Saints ou Saintes, ou quelques images de Saints, tous tremblans, frémissans de crainte & d’horreur, crier de toutes leurs forces au ciel, Miséricorde, Seigneur, miséricorde […]. (189 f.)96 96 Eine

weitere Passage mit überschneindender Wortwahl hielt der englische Kaufmann Benjamin Farmer in seinem Brief fest: »The Terror of the People was beyond Description: – Nobody cried; it was beyond Tears. They ran hither and thither, delirious with Horror and Aston­ishment, beating their Breasts and Faces, crying Misericordia! Mothers forgot their Children, and ran about loaded with Crucifixes and Images. In vain was the Sacraments shewn! In vain did People embrace the Altars and Images; Priests and People were buried in one common Ruin« (5). Vgl. die vom englischen Vikar Thomas Hunter widergegebene Variante derselben Schre­ ckensansicht: »The Terror of the People was beyond Description, and their Distress even too big

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Dem tradierten rhetorischen Muster folgend, entziehen sich die angeführten Schreckensszenen dem Sprachlich-Fassbaren; eine Schwierigkeit, die der englische Chirurg Richard Wolfall in seinem Erdbebenbericht vom 18. November 1755 selbst­ reflektierend auf den Punkt gebracht hat: The shocking sight of the dead bodies, together with the shrieks and cries of those, who were half buried in the ruins, are only known to those who were eye-witnesses. It far exceeds all description, for the fear and consternation was so great, that the most resolute person durst not stay a moment to remove a few stones off the friend he loved most, though many might have been saved by so doing: but nothing was thought of but self-preservation; getting into open places, and into the middle of streets, was the most probable security. (403 f.)

Eifert argumentiert, dass nur derjenige überleben konnte, »wer den Sterbenden und Toten jede Hilfe verweigerte« und über diese treten musste. Dementsprechend findet die »Gewalt des Ereignisses« in »diesen Szenen ihren adäquaten Ausdruck; und dies erklärt, warum sie in zahlreichen Briefen immer wieder geschildert wurden« (652). Ergänzend muss erwähnt werden, dass die Augenzeugen neben der unterlassenen Hilfeleistung auch die eigene Schutzlosigkeit und Ohnmacht thematisieren. Ihre Extremerfahrungen weisen allesamt paradigmatische Erzählmuster auf, die sich in den vorangegangenen Epochen zum beständigen Kern der Erdbebenberichte herausgebildet haben. Wie bei den von Kühnlin zusammengestellten Schreckenstableaus setzt die in den Briefen inszenierte Sicht auf simultane Einzelereignisse ein Innehalten, ein Heraustreten aus dem chaotischen Treiben voraus, was das Gekünstelte der Szenenbeschreibungen herausstreicht. Der Augenzeuge gehört im Moment des Vor-Augen-Führens nicht zur schreienden und hinwegsterbenden Menschenmasse. Freilich ist Wolfalls Äußerung beizustimmen, dass das schockierende Ausmaß der Katastrophe für Nichtbeteiligte kaum nachvollziehbar sei. Jedoch trägt der privilegierte Standpunkt, als Überlebender Zeugnis ablegen zu können, zur faktischen Wissensvermittlung bzw. Veranschaulichung des Ausnahmeereignisses nur bedingt bei. Die Gegenüberstellung der Erlebnisberichte erhellt den Umstand, dass sich ihr Informationsgehalt allzu oft in redundanten Bildern erschöpft. Sobald das betroffene Subjekt das Entsetzen über das erblickte Grauen autoptisch zu befor Tears. Great Numbers ran hither and thither delirious, beating their Faces and Breasts with Horror and Astonishment, and crying Misericordia! Every one looked upon it as his last Moment: And many believed themselves to be in the Bowels of the Earth. Mothers forgot their Children, and ran about loaded with Crucifixes and Images. Unfortunately many ran to the Churches for Protection. But in vain was the HOST shewn: In vain were the Altars embraced. Images, Priests and People were overwhelmed in one common Ruin (54 f.). Bei Hunters Bericht handelt es sich wie bei demjenigen von Kühnlin um eine Zusammenstellung der in den Journalen kursierenden Augenzeugenberichte.

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glaubigen versucht, weicht es auf stereotype Darstellungsmuster aus. Das Bezeugte wird formelhaft als »scenes of terror oder als »Spektakel« kodifiziert und stets mit dem Verweis auf die Sprachnot unterstrichen. Der erlebte Schrecken sperrt sich gegen eine individuell geprägte Artikulierung: das Zuviel am Wahrgenommen führt paradoxerweise zu einem Zuwenig im sprachlichen Ausdruck.97 G. Rapin gibt im Bericht Le tableau des calamités zu bekennen, dass weder er noch der begabteste Dichter das Ausmaß der Kalamitäten adäquat zu beschreiben vermöge: Et je suis certain que la plume du Peintre immortel de Troye incendiée, ne rendroit que très-imparfaitement les Evénemens particuliers dont j’ai été Spectateur. Un Ecrivain de la premiére classe suspendu même dans les airs par un Ange du Ciel, n’auroit jamais pû appercevoir qu’une très-petite portion de toutes les parties qui composoient ce Tableau d’horreur & de compassion: Une fumée noire & épaisse pendant le jour & les flâmes pendant la nuit lui auroient dérobé des objets, qui, si il eut pû les dessiner au vrai, auroient navrées de tristesse les ames tendres & sensibles, & émûs de pitié les coeurs les plus féroces. (14 f.)

Bezeichnenderweise zielt sein »Tableau d’horreur« nicht auf die weitere Indoktrinierung der knechtischen Gottesfurcht, sondern, wie das Beispiel des edlen Monarchen aufgezeigt hat, auf die wirkungsästhetische Erzeugung innständiger Mitleidsgefühle. Kategorisch verwirft Rapin jegliches Übernatürliche in den Erdbeben, Feuersbrünsten, Überschwemmungen und Vulkanausbrüchen. Nachdem er selbst Betrachter der ungeheuren Verheerungen wurde, besteht allerdings die Versuchung zu glauben, dass der unergründliche und allmächtige Gott den Brennpunkt (»foyer«) der vergangenen »Phénomenes« vorsätzlich unter Portugals Erdoberfläche platziert habe, um die »désordres criminels de ses habitans« zu bestrafen (6). Die vorangestellte Exaktheit und Faktizität in der Darstellung zerbricht an der bildhaften Veranschaulichung des Grauens. Eine rational-abgeklärten Aufarbeitung des Unglücks allein schließt die aufgerissene Sinneslücke nicht. Eingefahrene, religionsbezogene Darstellungs- und Deutungsmuster, deren Inhalt sich dem diskursiven Erkenntniszugriff entziehen, vermischen sich mit den traumatischen Erlebnissen der Augenzeugen. Die narrative Aufarbeitung der Katastrophe, die eine Rückkehr zur Normalität des geordneten Alltags ermöglicht, nimmt ritualistische Züge an. In den Nachrichtenkompilationen und Dichtungen kristallisieren sich die von den Augenzeugenberichten herbeigezogenen Schreckenserfahrungen vollends zu stereotypen Erinnerungsbildern eines von Gott verordneten Erdbebenunglücks. Selbst mehr als zweihundertfünfzig Jahre später sind diese in Nicholas Shradys 97  Vgl.

Buescu: »To be an eyewitness, then, is to understand that seeing too much leads to a quest for the answer (the only possible one?) of how to speak though words are not enough, al­t hough the speech cannot match the horror« (337).

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Monographie The Last Day (2007) über die vermeintliche Jahrhundertkatastrophe anzutreffen. Für die dramatischen Beschreibung der fliehenden Menschenmasse aus den Ruinen Lissabons hat er stilisierte Darstellungselemente zu einem erneuten Tableau verwoben: And the exodus had begun. The streets, or what remained of them were swarming with survivors, some half-naked in blood and dust, crazed and raving, all frantically trying to flee the city for the open countryside. Many were clutching crucifixes and saintly icons and whatever meager possessions they had managed to drag from the rubble. The crowd, as is so often the case in general calamities, was forcibly heterogeneous, comprising patricians and the destitute, children and the elderly, cloistered nuns and mothers bearing infants, savvy merchants and foreign dignitaries, servants and their masters. Titles, pedigrees, wealth, and social standing were suddenly hopelessly irrelevant. The natural disaster had cast them all together as no human endeavor could in common rush for survival. The earthquake had become the great indisputable leveler. (31 f.)

Die eidetische Vergegenwärtigung der erschütterten Gesellschaftsordnung hat nichts an ihrer Anziehungskraft verloren. Als »great indisputable leveler« hat sich das Erdbeben zu einer aussagekräftigen Metapher gewandelt. Die im frühneuzeitlichen Katastrophendiskurs vorherrschende Verquickung der Unglücksereignisse mit der Vanitas-Vorstellung setzt sich bis heute in klischierten Schreckensbildern fort.

c)  Legendenbildungen um das Lissabonner Erdbeben Anekdoten über die Einzelschicksale der Katastrophenopfer nehmen in der bewusstseinsgeschichtlichen Bewältigung des Lissabonner Erdbebens eine gewichtige Rolle ein. Unglaubliches und Unerhörtes wurde unter den Überlebenden rege weitererzählt und in den Berichten und Briefen festgehalten. Mit dem zeitlichen Abstand gewinnt das Beschriebene an Ausschmückungen und fiktiven Zusätzen. Einzelne Zwischenfälle werden im Verlauf des Nachrichtentransfers zunehmend literarisiert und dienen als Basis für weitere Unglücksberichte. Ausschlaggebend für diesen in den Schriftmedien nachvollzielbaren Prozess ist die Einarbeitung präskriptiver Motive, wie zum Beispiel das glückselige Wiederfinden des totgeglaubten Geliebten oder die wundersame Bergung eines Verschütteten aus den Trümmern. Zu den verbreitesten Anekdoten gehört die Errettung des englischen Baronets Charles Henry Frankland (1716–1768), ein direkter Nachkomme Oliver Cromwells (1599–1658), der als Generalkonsul zu Portugal in Lissabon amtierte. Als das Beben die Häuser zum Niederstürzen brachte, wurde er durch herabfallende Trümmer lebendig begraben. Am 17. November 1755 hat ein anonymer Korrespondent

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die wesentlichen Einzelheiten des Unglücks festgehalten. Eine deutsche Übersetzung ist 1756 im Journal Neue Genealogisch=Historische Nachrichten von vornehmsten Begebenheiten erschienen: Der Ritter Harry Frankland, ein Englischer Cavalier, ist auf eine recht wunderbahre Art der Gefahr entrunnen. Er befand sich in seinem Wagen, als sich der erste Stoß äußerte. Weil ihn die Bewegung befremdete, guckte er zum Wagen heraus, die Ursache davon zu erkennen, und als er die Erde beben sahe, machte er den Schlag auf und eilte in das erste Haus, das er offen fand. Kaum aber war er hinein getreten, als es einstürtzte und ihn verschüttete; man hat ihn aber frisch und gesund und ohne im geringsten beschädiget zu seyn wieder heraus gebracht. (15)98

Verschiedene deutschsprachige Nachrichtenorgane verliehen dem Ereignis eine zusätzliche sensationalistische Note, indem sie den Zeitpunkt der Bergung beliebig verschoben. Gemäß Ulrich Löffler meldete die Staats- und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten, dass der Engländer erst nach drei Tagen unverletzt geborgen werden konnte (137 f.). In den Gesammlete Nachrichten werden zwei Tage angegeben (33) und in J. H. Kühnlins Nachrichtenkompilation sind es bereits vier (166). Franklands Entkommen aus den Trümmern musste in der Factory regen Gesprächsstoff geliefert haben. Mehrere englischsprachige Korrespondenten haben den Zwischenfall in ihren Berichten kommentiert. Abraham Castres (–1756), der englische Gesandte am portugiesischen Hof, schließt seinen Brief vom 6. November 1755 lapidar mit den Worten »Sir Henry Frankland and lady are safe as well.«99 Einen Tag später schildert eine Nachricht aus Belem die Bergung als einen unmissverständlichen Beleg für die providentia specialissima: The Escape of the forementioned Gentleman is one the most providential Things that ever was heard of; for whilst he was riding about the middle of the City in his Chaise, on the first instant, he observed the Driver to look behind him, and immediately make the Mules gallop as fast as possible, but both he and they were very soon killed an buried in the Ruins of a House which fell on them; whereupon Sir Henry jump’d out of the Chaise, and ran into a House that instantly fell also to the Ground, and buried him in its Ruins for a considerable Time; but it pleased God that he got out alive, and not much bruised. – His Lady likewise was providentially in the Garden when their House fell, and so escaped. (A farther Account 17) 98 Bei

der Textstelle handelt es sich um eine Übersetzung einer Nachricht, die am 26. Dezember 1755, in der Gazette de Leyde (Nouvelles Extraordinaires de Divers Endroits), No. 103, 1, erschienen ist. Eine englische Übersetzung des Briefs wurde in der Whitehall Evening Post or London Intelligencer am 16. Dezember 1755, No. 1531, 1, veröffentlicht. 99  The Gentleman’s and London Magazine, Dezember 1755, 612.

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Monate später kolportierte die Nonne Catherine Witham das Missgeschick des Engländers in einem Brief an ihre Mutter. In ihrer Version vermag Frankland sich aus eigener Kraft aus den Trümmern zu befreien und veranlasst daraufhin die Bergung anderer Verschütteten: Sir Henry Franklen an acquaintance of Mr. Killinghale was going in his shayz and percevd the houses to fall, he Jump out and a house fell upon him, he gett out throu some little hole and see a good many alive in a Nother street, he had Portugues to say Vene, that is Come hear, so saved them all, he left his shaze in the street broake, his Servants and horse killd. (Macaulay 270)

Eine ausführliche Darstellung der Anekdote hat Christopher Hervey in seinen Reisebericht Letters from Portugal, Spain, Italy and Germany, in the years 1759, 1760, and 1761 (1785) aufgenommen. Mit höchster Wahrscheinlichkeit handelt es sich dabei um eine Abschrift eines vorangegangenen Berichts. Der Horror des lebendig Begrabenwerdens wurde mit schaurigen Details augmentiert. Gefangen unter den Trümmern findet sich Frankland plötzlich auf dem Körper einer Frau wieder, die sich in seinen Arm verbissen hat: »What shocked him most was, his having fallen upon a woman, who had taken refuge in the same place, and was now biting his arm in the agonies of death« (23). Der makabre Zwischenfall schließt sich an das anderweitig verwendete Schreckensmotiv der Verschütteten an, die in ihrer Verzweiflung zu Kannibalen werden. Nach einer gewissen Zeit gelingt es dem verwundeten Engländer sich mühsam eine Öffnung ins Freie zu graben. Daraufhin erblickt er die mit Verletzten und Verschütteten überfüllte Ruinenstätte: He beheld unhappy Lisbon now laid low in ruins; he heard the shrieks and cries of people buried under them, without being able to give them any assistance; and what made him think his escape more providential was, the fire having arrived to the very street where he then stood, as it was one of the first places in which it got to any head; and by the delay of an hour or two he would have been burnt or smothered. (25)

Die Textstelle verdeutlicht abermals, dass die göttliche Vorsehung den grausamen Erstickungs- oder Feuertod verhindert hat. In den nachfolgenden Jahrzehnten schlägt die Legendenbildung um Franklands geglücktes Entkommen eine säkularisierende Richtung ein. Statt Gottes Fügung ist es seine Lebenspartnerin Agnes Surriage (1726–1783), die ihren Geliebten aus dem steinernen Grab befreit. Elias Nason (1811–1887) beschreibt in seiner Biographie Sir Charles Henry Frankland, Baronet (1865) detailliert die vermeintliche Heroentat. Auf der Kutschfahrt mit einer Frau wird der Engländer vor dem Haus Francesco de Ribeiros vom Erdbeben überrascht und von den einstürzenden Mauern begraben: »The horses are killed instantly; and such is the agony of his companion, that she bites entirely through the sleeve of his red broad cloth coat, and tears a piece of flesh out of his arm« (63; vgl.

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Paice 76). Im Moment der höchsten Not gelobt sich Frankland, dass er Agnes, mit der er seit seiner früheren Amtszeit als Zolleinnehmer in Boston eine dreizehnjährige, nichteheliche Beziehung führte, heiraten würde. Gleichzeitig macht sich die treue Geliebte auf die Suche nach ihrem Lebensgefährten, dessen Stimme sie unter dem Schutt rufen hört. Zusammen mit angeheuerten Gehilfen gelingt es ihr, den lebendig Begrabenen zu bergen. Dieser wird in einem nahe gelegenen Haus verarztet und nach Belem transportiert, wo er die sofortige Vermählung anordnet. Seine ursprünglich aus ärmlichen Verhältnissen stammende Lebensretterin darf sich seitdem Lady Agnes Frankland nennen. Das Ereignis wird mit dem Einbezug des Aschenputtel-Motivs vollends in die fiktionale Ebene überführt. In Franklands Journal ist die Rettungsaktion von Agnes Surriage nicht überliefert. Der Generalkonsul deutet sein Entkommen aus den Trümmern schlicht als eine Wundertat Gottes: 1755. Nov. During my residence in Portugal happened the great earthquake, on which day I was providentially saved. I was buried in ruins. Francesco de Ribeiro lived in the house I was saved in at the time of the earthquake. Hope my providential escape will have a lasting good effect upon my mind. (Zit nach Nason 67)

Hingegen äußert er sich ausgiebig über die Kalamitäten der Natur und die gänzliche Verwüstung Lissabons. Derartige Unglückschläge »entirely proceed from the hand of God, and they are designed by providence as warnings to teach the inhabitants of the world righteousness« (zit. nach Nason 67). Auch für ihn lässt sich das traumatische Erlebnis nicht adäquat in Worte fassen, das er dennoch reflexartig vor Augen führt: No words can express the horror and destruction of that day’s calamity. Your own thoughts must assist you in representing it to yourself. How dreadful to reflect; a great and populous city, as it were, in a moment cast down, and laid to waste, with all its pride and glory sunk into general ruin. Bring the reflection home to yourself and consider how great would be your consternation to feel the earth shaking from its centre; – to see every thing falling around you, houses, churches, palaces; – to have no hopes, but in flying from your danger, and yet have to have no place of re­ fuge to fly for security; to hear the cries and groans of the dying; to see the distresses of thousands made miserable and wretched for the loss of their friends and children. (Zit. nach Nason 68 f.)

Franklands diaristischer Eintrag folgt dem gängigen Schema der unmittelbar nach der Katastrophe verfassten Augenzeugenberichte. Dessen Hauptaugenmerk liegt im providenziellen Einwirken, das in den nachfolgenden Erzählvarianten über Franklands Rettung zugunsten menschlichen Handelns vermehrt in den Hintergrund rückt. Daraus konkretisiert sich der Umstand, dass das Erdbebenunglück zum Ab-

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bruch des sündhaften Verhältnisses des englischen Adligen mit der ehemaligen Dienstmagd aus dem kolonialen Neuengland beigetragen hat. Somit wird das physische Übel des Unglücks durch die Beseitigung des moralischen Übels relativiert. Hinsichtlich des erlangten Glücks durch die Eheschließung, die sich dank Franklands frommen Gelübdes und Agnes’ geprüfter Loyalität allfälligen Standeskritiken entzieht, gewinnen die Kalamitäten nachträglich an Zweckmäßigkeit. Um die traumatische Umkehr des routinierten Tagesablaufs zu versprachlichen und erträglicher zu gestalten, wird diese mittels sentimentaler Erzählungen sinnfällig gemacht. Die kursierenden Anekdoten erzeugen eine eigene, von den wahren Begebenheiten divergierende Wirklichkeit, die sich im Verlaufe der Zeit mit der Historiographie vermengt und auf die Erinnerung des Katastrophenereignisses einwirkt.100 Es kommt daher nicht von Ungefähr, dass Geschichten über das wundersame Erscheinen des vermissten oder totgeglaubten Geliebten eine weitere Komponente im Motivfundus der Erdbebendarstellung ausmachen. Das Aufeinandertreffen Franklands mit Agnes inmitten der Trümmerstätte folgt dem Topos der Anagnorisis – der Wiedererkennung zweier Menschen. Eine entsprechende fiktive Episode ist im Text Empfindungen eines Portugiesen bey dem zerstöhrten Lissabon, oder Alonzo und Elvira enthalten, der 1756 in der Sittenschrift Der Bienenstock (193–200) und im 73. Stück der moralischen Wochenschrift Der Freund (321–336) publiziert wurde. Nach dem Erdbeben schreitet der traumatisierte Jüngling Alonzo durch das verwüstete Lissabon und betrauert den vermeintlichen Verlust seiner Verlobten Elvira. Schreckliche Stille erfüllt die mit Trümmern und Leichen übersäte Ruinenstadt. Übermannt von Trauer bricht er zusammen und fällt in eine tiefe Bewusstlosigkeit. Elvira, die in Begleitung von Sklaven den Jüngling sucht, findet den leblosen Körper Alonzos und sinkt ebenfalls ohnmächtig zu Boden. Das wieder zur Besinnung gekommene Liebespaar umarmt sich voller Freude und verlässt gemeinsam den Ort des Schreckens. Das Unglück hat sich zum Guten gewendet »Auch bey der allgemeinen Zerrüttung aller Elementen verschonet der Himmel tugendhafte Herzen, allein wie wenig Herzen kennen die erhabne Zärtlichkeit?« (Bienenstock 200). Die melodramatische Szene wurde verbatim von Theo­ dor Nevermann in sein Schaustück Alonzo und Elvira (1795) übernommen (vgl. 100  Edward

Paice führte in seiner Monographie Wrath of God (2008) die Heirat zwischen Frankland und Agnes nach dem Lissabonner Erdbeben als eine historische Begebenheit an (vgl. 111). Der amerikanische Dichter und Arzt Oliver Wendell Holmes (1809–1894) arbeitete die wundersame Errettung Franklands durch seine Lebensgefährtin in die Ballade »Agnes« (1862) ein (21). Hingegen schilderte der englische Schriftsteller Sir Arthur Quiller-Couche (1863–1944) die Bergung Franklands im Historienroman Lady Good-For-Nothing (1910), wobei er die Protagonisten in Sir Oliver Vyell und Ruth unbenannte (vgl. 423–426). Um die Begebenheit zu authentifizieren, wurde der Erzählung Abraham Castres Schreiben vom 6. November und der Brief aus Belem vom 7. November 1755 angefügt. Der Autor brachte bezeichnenderweise in den Dokumenten dieselbe Namensänderung von Sir Harry Frankland zu Sir Oliver Vyell an (vgl. 431 f.).

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Košenina »Nevermann« 64–68). Wie in der erweiterten Franklandanekdote läuft die Handlung auf die Eheschließung der Protagonisten hinaus. Alonzo führt Elvira seinen Eltern vor, die enthusiastisch die Heirat billigen. Im privaten Umkreis vermag das Vertrauen in eine Vorsehung, die die Tugendhaften und Rechtschaffenen belohnt, Bestand zu halten. Das plötzlich hereingebrochene Unheil fungiert als eine Peripetie, ein prüfender Lebenseinschnitt, den die Betroffenen zu meistern haben. Die Erzählstruktur der Zusammenführung und Vermählung zweier Liebenden wurde in einer weit rezipierten Nachricht über den tragischen Tod des portugiesischen Grafen Ribera und seiner Verlobten Donna Maria de Lucos konterkariert. Der Herausgeber der gesammleten Nachrichten hat die angeblich wahre Begebenheit wie folgt übertragen: Der Graf von Ribera vermählete sich am 1 Nov. mit der Dona Maria de Lucas. Dieser junge Herr hatte sich schon 9 Jahr lang um die Gunst dieser Dame erworben, und konnte sich auch versichert halten, daß er ihr nicht unangenehm wäre, allein sein Vater, dem diese Heyrath nicht gefallen wolte, schickte ihn auf Reisen; lies sich aber endlich durch die beständige Liebe seines Sohnes gegen die Donna Maria bewegen, und erlaubte ihm nach Lissabon zurück zu kommen, um seine Heyrath zu vollziehen. Sie wurden eben miteinander vereiniget, als das Schicksal sie bedrohete auf ewig zu trennen. Der bekümmerte Graf, rettete sich nebst seiner Gemahlin, und seinem Vater in ein Schiff. Das Vergnügen sich mit demienigen was er auf der Welt am liebsten hatte, in Sicherheit zu sehen, verursachte, daß er dem Himmel sogleich für diese besondere Wolthat dankte. Allein sein Schicksal änderte nur die Gestalt, um desto grausamer zu werden. Das Schiff, worauf er sich befand, wurde durch die Wellen in die Höhe gehoben, und weit auf das Land geworfen, wo es aber auch sogleich verschlungen wurde. (81)

Durch die Unglückserie wird das Lebensglück der jungen Menschen nicht etwa herbeigeführt, sondern vollständig zunichte gemacht. Ihre langersehnte Heirat koinzidiert mit dem Einsetzen der Erdstöße, vor deren gewaltsamen Verheerungen es kein Entkommen gibt. Der Rettungsversuch des Grafen erleidet einen desaströsen Schiffbruch: ein Zwischenfall, der besonders verstörend wirkt, da er zuvor dem Himmel seine aufrichtige Dankbarkeit anerboten hatte. Am Ende erweist sich der Gedanke, von der göttlichen Vorsehung begünstigt zu sein, als fataler Trugschluss. Die Abfolge der doppelten Schicksalsschläge gemahnt an den Handlungsbogen von Heinrich von Kleists Novelle Das Erdbeben in Chili. Josephe und Jeronimo vermeinen, das Beben habe sie gerettet und wieder vereint. Jedoch wird der allzu naive Vorsehungsglaube der beiden vom aufgebrachten Lynchmob negiert, der die beiden Liebenden gewaltsam aus der Welt schafft. Der französische Physiker Jean-Paul Poirier hat in seiner Monographie Le tremblement de Terre de Lisbonne (2005) darauf hingewiesen, dass es sich beim Bericht

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über den ums Leben gekommenen Grafen Ribera um eine gänzlich fabrizierte Geschichte handelt (vgl. 147). In der 1755 im achten Band des Journals L’Année Littéraire erschienenen Besprechung der Ode sur le tremblement de terre arrivé à Lisbonne le 1 Novembre 1755 konstatiert der Rezensent, dass der Lyriker Ponce-Denis Écouchard Lebrun (1729–1807) das traurige Schicksal der beiden Vermählten zusammen mit demjenigen des ertrunkenen Racine, dem Enkel des Tragödienautors Jean Racine (1639–1699), 101 in sein Gedicht eingearbeitet habe, ohne dabei zu merken, dass er auf eine Falschmeldung hereingefallen sei: Notre poëte a puisé cette anecdote dans une Relation de la catastrophe de Lisbonne. Il seroit bien souhaiter que l’histoire du jeune Racine ne fût pas plus vraie que celle de ce Comte de Ribera. L’auteur de la Relation que je conois me l’a lui-même avoué; il m’a dit qu’un beau matin, ne sçachant que faire, il avoit broché cette gazette, & qu’il avoit bien ri en voyant plusieurs personnes pleurer de la meilleure foi du monde à cet article de sa brochure. (215)

Die Passage bezieht sich möglicherweise auf die in Paris veröffentlichte Relation veritable du tremblement de terre arrivé a Lisbonne, eine weitere Variante des im Courrier d’Avignon veröffentlichten Cádizer Briefs vom 10. November 1755.102 Darin schildert der anonyme Berichterstatter sowohl den Tod des jungen Racine in den aufgewühlten Meereswogen außerhalb der spanischen Hafenstadt als auch Riberas verhängnisvollen Schiffbruch. Nicht nur die Anekdote, sondern auch seine melodramatische Darstellung des trauernden portugiesischen Monarchen, die in den deutschsprachigen Flugblättern und Nachrichtensammlungen eine weite Verbreitung fand, gerät in den Verdacht, das Produkt einer hinterlistigen Inszenierung zu sein. Insoweit wird durch die eigentümliche Zusammenführung von Racine, dem verunglückten Ehepaar und dem erschüttert-standhaften Staatsoberhaupt das Erdbebendesaster zu einem Tragödienschauspiel erhoben, in dem sich Fakt und Fiktion vollends verwischt haben. Wolfgang Breiderts Vermutung, Lebrun habe den 101 

Zur Entstehungsgeschichte von Lebruns Ode siehe Breidert 189–191. Der Sohn von Louis Racine (1692–1763), dessen Vater Jean Racine war, hielt sich zum Zeitpunkt der Erdbebenkatastrophe als Geschäftsmann in Cádiz auf. Lebrun war mit ihm eng befreundet und verfasste über dessen Tod eine separate Ode mit dem Titel Sur les causes physiques des tremblements de terre et sur la mort du jeune Racine. 102  Johann Georg Zimmermann verweist im Fußnotenapparat seines Gedichts »Ueber die Zerstörung von Lisabon« auf die Anekdote des verunglückten Grafen Ribera und deren Quelle in der Relation veritable du Tremblement de Terre arrive à Lisbonne &c. Permis d’ imprimer & distribuer à Paris ce 15. Novembre 1755 (33). In der Nachrichtenzusammenstellung La vraie et fidèle relation du tremblement de terre en Lisbonne capital de Portugal, ce 1. de Novembre M.D.CC.LV. (1756) wird der Tod des jungen »Comte de Rabeira« und seiner Braut »Dona Maria de Lucos« als wahre Begebenheit kolportiert (103). Sophie le Ménahèze bespricht in ihrem Beitrag über die Reaktion französischer Autoren auf das Lissabonner Erdbeben die überschneidenden Motive in Lebruns Ode und der Ribera-Anekdote, ohne dabei auf deren Fiktionalität hinzuweisen (vgl. 47 f.).

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rührenden Stoff des ertrunkenen Ehepaars vielleicht auch im Gedanken an seinen jungen Freund Racine in seine Ode verarbeitet, könnte ebenfalls für den Autor der irreführenden Relation zutreffen (191). Offensichtlich hat das unglückliche Ende Riberas rückkoppelnd auf die Legendenbildung um Racines Tod eingewirkt. In der Besprechung der von Le Franc de Pompignan (1709–1784) verfassten Ode De M. le Franc à M. Racine, sur la mort de son Fils (1756) hat Theodore E. D. Braun folgendes über die Todesumstände des Jünglings behauptet: »Louis Racine’s son and daughter-in-law had been killed by a tsunami while on their honeymoon in Càdiz« (149).103 Seiner Meinung nach gedenke das Gedicht an das jähe Ende der beiden Liebenden. Allerdings erwähnt weder die Ode noch das am 15. November 1755 angefertigte Schreiben »Mort du jeune Racine« ein frisch verheiratetes Brautpaar. Vielmehr sei Racine zusammen mit einem Freund um elf Uhr auf dem Weg zu einem Diner von der Flutwelle erfasst und weggespült worden.104 Die Literarisierung des Unglücksereignisses reiht sich in die Instrumentarien ritualisierter Bewältigungsstrategien. Was Peter Utz in Bezug auf Jeremias Gotthelfs (1794–1854) Die Wassernot im Emmental (1838) treffend konstatiert hat, gilt auch für die sogenannte Jahrhundertkatastrophe des Lissabonner Erdbebens: »Zur Realität der ›Wassernot‹ gehört auch das, was sie selbst an Fiktionen produziert« (38).

5. Die literarische Bewältigung des Lissabonner Erdbebens a) Christoph Martin Wielands »Hymne auf die Gerechtigkeit Gottes« Am 18. Dezember schrieb der Zürcher Literaturtheoretiker und -kritiker Johann Jacob Bodmer an Laurenz Zellweger (1709–1784) folgende Zeilen: Hr. Wieland hat bei Gelegenheit des Erdbebens eine Hymne geschrieben, der izt unter der Presse liegt. Es ist poetische Prose. (Zit. nach Starnes I: 104)

Bodmers Schreiben lässt vermuten, Wielands »Hymne an die Gerechtigkeit Gottes« sei eine unmittelbare Reaktion auf das Lissabonner Erdbeben. Die »Hymne« endet freilich mit dem apokalyptischen Untergang einer Königsstadt durch plötzlich eintretende Erderschütterungen, doch, wie Uwe Blasig in seiner Studie Die reli­ giöse Entwicklung des frühen Christoph Martin Wieland (1990) bemerkt hat, habe der Ansporn der Dichtung eigentlich nicht in der schrecklichen Erdbebenverwüstung, sondern in »der theologischen Frage nach der Gerechtigkeit Gottes« gelegen 103 

Der gemeinsame Tod des jungen Racine und seiner Verlobten wird auf der englischsprachigen Wikipediaseite zu Louis Racine kolportiert: http://en.wikipedia.org/wiki/Louis_Racine. 104 Vgl. L’Année Littéraire, Bd. 7, 1755, 216. Dieselbe Information wurde 1756 in der Januarausgabe von Suite de la Clef ou Journal historique sur les matières du temps weitergegeben (44–46).

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(239). Wieland war mit der Niederschrift der Prosadichtung bereits im April 1755 beschäftigt und diese sei als eine Weiterführung der zur gleichen Zeit entstandenen »Hymne an die Allgegenwart Gottes« zu betrachten (233). Als er beide Hymnen im Dezember 1755 beendete, baute er das Erdbebenereignis lediglich »als Beispiel« in seine schon begonnene Dichtung ein (239). Wieland erkannte wohl, dass seine »Hymne« im Umfeld der angestachelten Angst vor einem erneuten göttlichen Strafgericht Aufmerksamkeit und einen regen Absatz finden würde. Ihre Veröffentlichung Mitte Januar 1756 geschah zu einer Zeit, als das Erdbeben in Jahresrückblicken und Bußpredigten das öffentliche Leben in Wielands derzeitigem Wohnort Zürich nach wie vor in seinem Bann hielt. Die Furcht vor einem verheerenden Erdbeben war nicht völlig unbegründet: Im Dezember 1755 und im darauffolgenden Januar wurden bis zu fünf Beben in der Schweiz registriert.105 Daraufhin hielt der Diakon Daniel Stapfer am 28. Dezember eine Bußpredigt in Brugg, die unter dem Titel Betrachtungen des Erdbebens 1756 in Zürich erschien.106 Gemäß dem Brugger Physikus Johann Georg Zimmermann war Wieland, mit dem er in engem Briefkontakt stand, von dieser Predigt begeistert: Er blitzte, sagte dieser [Wieland] nach jenem [Stapfer], er donnerte, er zerschmetterte, und Ueberzeugung strömte von seinen Lippen. (12)

Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass wesentliche Motive aus den Bußpredigten, die ständige Besinnung auf die Nichtigkeit des Menschen und der mahnende Fingerzeig auf den allwissenden Richtergott, der in manchen Fällen die Sünder hart bestrafen muss, in Wielands »Hymne« eingeflossen sind. Das faktische Ereignis von Lissabons Untergang münzt Wieland opportun zum Warnzeichen um, anhand 105 Martin

Stuber konnte in seinem Forschungsbeitrag »Gottesstrafe oder Forschungs­ objekt?« aufgrund der Briefe von Naturwissenschaftlern und Ärzten – Charles Bonnet (1720– 1793) in Genf, Abraham Gagnebin (1707–1800) in La Ferrière, Jean François Ricou (1730– 1798) in Bex, Johannes Gessner (1709–1790) in Zürich und Johann Georg Zimmermann in Brugg – das Auftreten von fünf Erdbeben im schweizerischen Raume rekonstruieren. Die Beben geschahen am 9. und 26. Dezember 1755 und am 2., 7., und 26. Januar 1756 (vgl. 44). 106  Daniel Stapfers Predigt lässt sich vom typologischen Vorsatz des »heilsamen Schreckens« leiten. Insbesondere die Gemüter unempfindlicher Menschen gilt es zu rühren, damit sie »durch wahre Busse und durch Glauben, den dadurch gedrohten Gerichten GOttes noch zu rechter Zeit zu entgehen trachteten«, und »auf ewig damit verschonet blieben« (23 f.). Interessanterweise schiebt er eine längere Passage über die natürlichen Ursachen und Nutzen der Erdbeben in Gottes harmonischem Naturhaushalt ein. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet sind die zeitweilig vorkommenden Erderschütterungen »als kleinere physische Uebel« zu betrachten (52). Gott lässt diese zu, »weil auf diese Weise ein sehr grosses ihm würdiges Gut erhalten wird, das ohne die Quelle desselben nicht Platz haben könte« (52 f.). Hingegen sind die Erdbeben, wenn Stapfer sie pathetisch als eine gerechte Strafrute Gottes darstellt, »gewislich eines seiner schreckhaftesten Gerichten« (66). Die Predigt bezeugt die Ubiquität des populärphilosophischen Weltbilds eines vollkommenen Naturganzen und weist einen ähnlichen strukturellen Aufbau wie Wielands »Hymne« auf.

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dessen sich die Gerechtigkeit Gottes in der besten Welt demonstrieren lässt. Gerade im Auftreten zerstörerischer Naturkräfte soll sich Gottes partikuläre Vorsehung und Barmherzigkeit über die von ihm erschaffene Naturordnung am deutlichsten offenbaren. Wielands gepriesene Ordnung der Naturdinge, an der sich Gottes gerechte Regierung ablesen lässt, gründet sich in weiten Teilen auf das Weltbild des populären Optimismus. Die charakteristischen Topoi – ein nach Endzwecken zusammengesetzter und operierender Weltenbau, der unermessliche Reichtum des Naturganzen, in der jedes Geschöpf seiner Vollkommenheit entsprechend ein Teil der zu Gott aufstrebenden Wesenskette ausmacht – finden in der »Hymne« ihre Verwendung: Unzählbar ist die Menge der Geschöpfe, die Du glüklich machst! die Du schufest, jedes nach dem Grade der Vollkommenheit, den seine Natur zuließ, jedes sich und dem Ganzen nüzlich; […]. Unzählbar sind sie, die Du erhältst; sie welche ohne Deine allesstüzende Allmacht sogleich in ihr Nichts zurücksänken, die aber durch Dich sich bewegen und leben, und die Kräfte, womit Du sie begabt hast, entwikeln, um sich dem höchsten Grad der Vollkommenheit, deren sie fähig sind, immer mehr zu nähern. (311)107

Solange die vorbestimmte Ordnung im Gottesstaat erhalten bleibt, entsteht kein Mangel und der vernunftbegabte Mensch kann von der für ihn so vortrefflich eingerichteten Welt profitieren. Gott will dank seiner unveränderlichen Güte nur »die Erhaltung und das Beste« für seine Geschöpfe (318). Gravierende Übel entstehen aber, wenn der Mensch die Weisung Gottes nicht befolgt und von dem ihm vorgeschriebenen Weg der Tugend und Wahrheit abweicht (vgl. 315). Im Sinne der tradierten Erbsündenlehre entsteht das Leid und Elend auf der Welt durch den Missbrauch der gottähnlichen Vernunft bzw. des freien Willens. Die Krux liegt also im angemessenen Gebrauch dieser Gottesgabe. Das zwiespältige Verhältnis zu ihrem Vor- und Nachteil zeigt sich einerseits in Wielands Lobpreisung der »erfindsamen Geister« und »heldenmütigen Seelen«, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, sich »dem Strom des Aberglaubens, der Vorurtheile und der Dummheit zu widersezen, die Rechte der Vernunft und Wahrheit zu behaupten, und ganze Völker von der allerelendesten Art der Sclaverey in eine Freiheit zu versezen, die nur durch Weisheit eingeschränkt ist« (319). Doch dieses Streben nach Selbstbestimmung birgt in sich die Gefahr, die von Gott festgelegte Ordnung zu verletzen. Wielands Diagnose der Missstände seines Jahrhunderts offenbart die Abwehr gegen materialistische Denkströmungen, die das theistische Weltbild zu unterwandern versuchen. Im Witz der 107 

Zitiert wird aus folgender Ausgabe: Christoph Martin Wieland. »Hymne auf die Gerechtigkeit Gottes.« In: Wielands Werke. Hrsg. von Fritz Homeyer. Bd. 2. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 1909. 309–336.

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Vernunft erkennt er das Werkzeug der Religionsspötter, die Herzen der Christen seien durch die übermäßige Gier und Wollust versteinert worden. Der »übel-­ gebrauchte Friede« nach den großen Religionskriegen brachte nichts als eine Fülle von Untugenden, die sich besonders in den Königsstädten breit gemacht habe (322). Heftige Kritik ruft insbesondere die deistische Denkart hervor, die behauptet, »der Ewige sey eingeschlummert, oder Er habe seine Denkart geändert und sey durch die anhaltende Verkehrtheit der Menschen genöthigt worden, nachzugeben, und ihre Laster als Schwachheiten der menschlichen Natur zu übersehen« (324). In der Negierung der partikulären Vorsehung spitzt sich der Konfliktpunkt zu: Ein Gott, der nicht mehr direkt ins Weltgeschehen eingreife, würde sich gegenüber dem Bösen in der Welt indifferent verhalten. Die tröstende Rückversicherung auf einen gerechten Gottesstaat würde dabei erschüttert werden. »Nein«, so erwidert Wieland, »der König und Vater der Geister kann nicht gleichgültig seyn, wenn das Böse, das in der Hölle allein herrschen sollte, in die Welten eindringt, die ein Schauplaz Seiner Güte seyn sollen« (318). Angesichts des vorherrschenden Irrglaubens und der Verstocktheit der Herzen sei es an der Zeit, dass Gott ein erneutes Exempel seines gerechten Zorns statuiere. Für Wieland scheint das Lissabonner Erdbeben zum richtigen Zeitpunkt gekommen zu sein. Anhand der totalen Verwüstung einer Königsstadt lässt sich die göttliche Macht bzw. menschliche Ohnmacht sinnfällig demonstrieren. Wieland situiert die außergewöhnliche Begebenheit in den Bezugsrahmen der eschatologischen Offenbarungslehre. Dem Ereignis nimmt er somit den singulären Charakter und funktionalisiert es als Warnzeichen des Jüngsten Gerichts. Die Typisierung der Erdbebenkatastrophe zeigt sich in der Anonymität der betroffenen Königsstadt; der Name Lissabon wird in der »Hymne« nirgendwo erwähnt. In Übereinstimmung zum Diskurs der Bußpredigten beabsichtigt Wieland darzulegen, dass die Gottesstrafen ein notwendiges Mittel seien, die Menschen auf den Weg der Tugend zurückzubringen. Durch »den heilsamen Schreken« sollen die verstockten Seelen derart zum »erbeben« gebracht werden, dass sie wieder Ehrfurcht vor dem höchsten Richter empfinden würden (vgl. 325).108 Wieland zieht alle Register, um den Untergang der Königsstadt so furcht­ erregend wie möglich darzustellen. Das verhängte Strafgericht über die verruchte Stadt, in der die Willkür der Inquisition wütet und die Bewohner sich am Gold und der Wollust aus fernen Ländern laben, ist zweifellos verdient. Urplötzlich wie das Jüngste Gericht trifft es dann auch ein: 108  Die

Metapher »bebende Seele« kommt in der »Hymne« häufig vor. Die innere Erschütterung wird meist mit der Furcht vor Gottes Macht und Zorn in Verbindung gebracht. Vgl. dazu folgende Stellen: »Dann erfährt, o dann empfindt es die bebende, unmuthsvolle Seele, daß sie ohne Dich verschmachten müßte!« (310). »Dann bebt meine Seele, ihrer Schwäche und des Staubs […]« (312). »Eure Seele bebet vor jedem quälenden Gedanken zurük« (325).

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Plözlich erzittert der Boden unter ihren Füssen, die vergeblich festen Gewölbe wanken über ihren Häuptern und fallen unter den wiederholten Stössen ein. Die überraschten Menschen stehen, wie vom Donner gerührt, in Betäubung und Schreken verloren – dann erhebt sich, indem die wankenden Mauern ringsumher einen ungeheuren Fall drohen, ihr klägliches Geschrey; sie glauben, das Ende der Natur sey gekommen, und die unermeßlichen azurnen Gewölbe des Himmels selbst fallen zerschmettert herab; schon hören sie in fantastischer Angst die Stimme des Donners und die Posaune des Todesengels, schon rauschen die Schreknisse Gottes auf Flügeln des Sturmes daher, schon sehen sie den Himmel in Flammen – dann erhebt sich von neuem ihr sclavisches Geheul, bis ein zweiter Stoß dem wilden Tumult ein Ende macht und ganze Schaaren mit Schutt bedekt. – Welch ein Anblik! wie ängstlich bebt mein Geist, der der schreklichen Scene nur von ferne zusieht! (329)109

Wieland will den Leser direkt ins Geschehen mit einbeziehen. Das Erzähler-Ich versucht sich vom grauenhaften Anblick immer wieder zu lösen, bleibt aber vor lauter Entsetzen und Mitleid an der Schreckensszene haften. Ständig wird es mit weiteren Einzelschicksalen konfrontiert. Wieland greift dabei auf ein formelhaftes Bilderarsenal zurück: Umsonst flieht die zärtliche Mutter mit dem weinenden Säugling im Arm, von trostlosen Kindern umgeben, die sich an sie anhangen und bei ihr die gewohnte Zuflucht suchen, umsonst nimmt der fromme Sohn den betagten halbtodten Vater auf seine Schultern; die herabhangende Last schlägt sie zu Boden, und begräbt sie unter einen Steinhaufen. Ein gleiches Schiksal überfällt den Geizhals, der, wer sollte es glauben? zuerst an die Rettung seiner Schäze denkt; er bläst, unter den Trümmern zermalmet, seine verfluchte Seele aus, sie fliehet murrend in den Abgrund, ewig den Verlust ihres Goldes zu beklagen. (330)

Die überbordende Darstellung des schrecklichen Erdbebens schließt mit der beklagenswerten Not der Überlebenden. Ergriffen vom traurigen Los der Verschütteten, werden sie von kaum überbietbaren Vorstellungen des Grauens gepeinigt: Andere beweinen ihre Freunde, ihre aufgebrachte Einbildungskraft stellt ihnen das Schiksal derselben mit den entsezlichsten Umständen vor – Sie sehen sie halbzerquetscht und kläglich winselnd unter einem Steinhaufen liegen, oder einsam, in 109  In den Anmerkungen zu seinem Lehrgedicht »Ueber die Zerstörung von Lissabon« zitiert Johann Georg Zimmermann folgende Textstelle aus einer Nachricht über das Lissabonner Erdbeben: »Mit einem allgemeinen Knallen und Krachen […] vereinbarten sich das Weheklagen so vieler Tausenden, deren Geschrey um so viel mehr zum Himmel stieg, das den ganzen ersten November über jedermann in der völligen Meynung stund, nun sey der grosse Tag der Zerstörung der ganzen Erde vorhanden« (23). Daraus wird ersichtlich, wie sich Wielands apokalyptische Darstellung mit der populären Beschreibungen des Unglücks deckt.

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einem Ueberrest ihrer Häuser lebendig vergraben, vergeblich um Hülfe schreyen, ja zulezt vor wüthenden Hunger ihr eigen Fleisch von ihren Knochen nagen, bis sie, von unsäglichen Schmerzen aufgerieben dahinsinken. Kaum ist die würkliche Pein quälender als solche Vorstellungen, die uns mit dem vielleicht nur eingebildeten Elend unsrer Freunde foltern. (332)

Das abschreckende Beispiel der überreizten Einbildungskraft verbindet Wieland mit den Höllenqualen der verdorbenen Seele, die vor Begierde der abhanden gekommenen Glückseligkeiten regelrecht zerrissen wird: »Ihr Unsinn, ihre blinden, tobenden Leidenschaften, ihre verkehrten Einbildungen, die sie verhindern, die Sachen im rechten Licht anzusehen: dieses ist, was sie unglüklich macht« (332). Neben den Schreckenstableaus übernimmt Wieland auch den Topos der momentanen Ständegleichheit der Erdbebenopfer. Vertrieben aus der falschen Sicherheit der Paläste sind die nach Zuflucht und Nahrung Suchenden in ihren Grundbedürfnissen gleich; ein Zustand, den Wieland positiv konnotiert: O wo können diese Uebelberichteten besser lernen, daß sie Menschen sind, und daß sie nicht werth sind, es zu seyn, wofern sie nicht auch mit andern wie mit Menschen umgehen, als vor den Ruinen einer zerstörten Königsstadt, auf einem Gefilde voll zitternder Flüchtlinge, wohin sich allerlei Arten von Menschen, wie aus einem Schiffbruch, gerettet haben, und wo das gleiche Gefühl eines gemeinsamen Elends allen Unterschied des Stands oder des Glüks aufgehoben hat: wo der Fürst, der vor wenigen Minuten so hoch über seine Sclaven erhaben schien, so dürftig ist, als der Bettler der um seinen Bissen Brodt flehet, wo die Grossen, die Edlen, die Streitbaren ebenso unmächtig beben, ebenso bestürzt hin und her laufen, ebenso dringende Bedürfnisse fühlen, wie die gemeinen Menschen? (333 f.)

Gerade die Betrachtung des größten Unglücks soll die Menschenliebe in der verstockten Seele wachrufen und den Menschen weise machen. Wenn dies nicht gelinge, urteilt Wieland, sei die »Verstokung oder der Leichtsinn unsrer Zeit unheilbar.« Ist das empfindsame Gemüt aber weiser geworden, »o wie nüzlich wird das in seinen Folgen, was Anfangs lauter Unglük schien, und wie deutlich fällt uns auch da in die Augen, daß die Gerechtigkeit Gottes allezeit gütig ist!« (334). Nach dieser Funktionalisierung der Leidenserfahrung wundert es nicht, dass Wieland im Anblick einer zerstörten Stadt »die kräftigste Bußpredigt und eine reiche Quelle von moralischen und christlichen Wahrheiten« wahrnimmt. Etwaige moralische Bedenken, ob vielleicht auch unschuldige Opfer zu Schaden kommen, werden nur am Rande geäußert. Für die Tugendhaften sei das Leid eine Prüfung, die sie »mit ruhiger Ergebung auf die Güte und Vorsicht des Schöpfers« über sich ergehen lassen (333). Ihretwegen verschone Gott auch die untugendhaften Menschen. Also statt einer Anklage gegen die göttliche Ordnung pocht Wieland auf innere Selbst-

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anklage und inständige Gottesfurcht. Die Vernunft des guten Christen soll zur Beherrschung des Leibes und der Begierde verwendet werden; der Genuss der Dinge, die für ihn geschaffen sind, darf ein ordentliches Maß nicht überschreiten. Am wichtigsten ist jedoch das Festhalten an der partikulären Vorsehung des höchsten Richters. Unverkennbar wendet sich Wieland am Ende der »Hymne« nochmals gegen die Befürworter des deistischen Gottesbilds: Bethöret und betrüget eure eigenen Seelen nicht mit läppischen Einbildungen und dem einschläfernden Wahn, als ob natürliche Ursachen keine Werkzeuge Gottes, als ob der Donner nicht Seine Stimme, und eine Erderschütterung kein himmlischer Ruf an unsre Seelen seyen. Der Schöpfer der Natur ist auch ihr einziger Beweger und Herrscher. (335)

b) Johann Georg Zimmermanns Lehrgedicht »Ueber die Zerstörung von Lisabon« Ergriffen von der Nachricht über Lissabons Untergang verfasste der zu Tränen gerührte Arzt Johann Georg Zimmermann im wahren Dichtereifer am 1. Dezember 1755 sein erstes Gedicht »Die Ruinen von Lissabon«. Sehr zu seinem Ärgernis gelang diese Fassung in fremde Hände und wurde am 12. Dezember ohne sein Zugeständnis in Schaffhausen veröffentlicht. Teils aus Verlangen nach dichterischer Vervollkommnung, teils aus Schamgefühl wegen der verfrühten Publikation, revidierte Zimmermann sein Erstlingswerk vollständig. Er erweiterte es auf 315 Verse, fügte einen massiven Anmerkungsapparat hinzu und veröffentlichte es aufs Neue im Juli 1756 in Zürich unter dem Titel »Ueber die Zerstörung von Lisabon« zusammen mit einem weiteren Gedicht »Gedanken bey dem in der Schweiz verspührten Erdbeben Christmonat 1755«. Zimmermann schildert in der Vorrede zur überarbeiteten Fassung, welche Schwierigkeiten ihm die Niederschrift seiner Verse über das Lissabonner Erdbeben bereitet habe. Zu »den grossen Uebeln, die von den ungewöhnlich starken Erdbewegungen, eine Zeit her, in die Welt gebracht worden« nennt er ironischerweise die »unabtreibliche Menge elender Scribenten« (8). Zimmermann gibt zu bekennen, dass er dem Leser jetzt noch »eine sehr mittelmäßige Arbeit« liefere, deren Namen eines Lehrgedichts er sich dennoch »nicht unterstehen« zu geben dürfe (9). Um seinem Versuch in der Dichtkunst mehr Gewicht zu geben, äußert er vorab einige Gedanken über das für ihn anzustrebende Ideal des tugendhaften Dichters: Ein tugendhafter Dichter sieht, mit einem straffenden Auge, das unter den Menschen herrschende Verderben an; er mahlet das Laster mit den Farben, die demselben gemäß sind, und ziehet die Tugend allenthalben aus dem Staube, dahin sie ein

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verwöhntes Volk verbannet. Er reisset sich aus dem Strome der Vorurtheile heraus; er verachtet, was die Welt erhebet, und hält nur das für groß, was in der Natur der Dinge groß, und vielleicht in den Augen der mehresten Menschen geringschätzig ist, weil die mehresten Menschen in den Vollkommenheiten ihres Erkenntnisses ihr Glück nicht suchen. (17)

Durchdrungen von »menschenliebendem Affecte« sucht ein solcher Dichter mit Absicht Schauplätze des Todes aus, weil sie ihn zu »Thränen des Mitleidens« rühren. Diese Tränen sind es, die »den eigentlichen Menschen« auszeichnen, ein »fühlendes Herz« zu besitzen (18). Natürlich ist er zur Demut verpflichtet und preist die unermessliche Liebe Gottes. Ausgestattet mit der Regung des Enthusiasmus ist der Dichter imstande, die Seele des Lesers auf einzigartige Weise zu beflügeln: Der Enthusiasmus, diese göttliche Regung, die alle Triebfedern unsrer Seele in äusserste Bewegung setzet, die alle ihre Kräfte belebet, und ihren Schwung zu dem höchsten der Möglichkeit erhebet, der macht den Dichter aus. Wer mit dieser Regung gesegnet ist, der wird erhaben, der wird der Natur der Poesie gemäß schreiben. Seine Gedanken werden die Seele des Lesers, wie der Grieche Longin, der beste Kenner des Erhabenen, spricht, empor heben; sie werde ihr einen grössern Begriff von sich selbst geben; sie werden das Herz des Lesers mit einer innigen Freude, mit einem gewissen edlen Stolze durchstrahlen, als wann er selbst dem Schöpfer des Vorwurfes seiner Bewunderung wäre. (18 f.)

Zimmermanns skizzenhafter Entwurf einer Theorie der Dichtkunst betont die förderliche Wirkung der Poesie auf die Seelenkräfte. Die »arzneiwissenschaftliche« Perspektive ist nicht zu verkennen. In seinem Lehrgedicht nimmt die minutiöse Formulierung der sich angesichts des schrecklichen Erdbebenereignisses vollziehenden Bewegung der Seelenkräfte einen zentralen Schwerpunkt ein. Die seelische Erschütterung wird also regelrecht heraufbeschworen, um daraus das subjektive Empfinden der »Menschlichkeit« bzw. des »menschlichen Mitgefühls« zu gewinnen. Um der inneren Bestürzung Nachdruck zu verleihen, inszeniert Zimmermann die schreckliche Verwüstung Lissabons im ersten Teil des Lehrgedichts über weite Passagen. Wie in Wielands »Hymne auf die Gerechtigkeit Gottes« folgt die pathetische Schilderung den gängigen moraltheologischen Darstellungsmustern. Auch hier werden die sorglosen Bewohner Lissabons vom Unglück überrascht, so wie es beim prophezeiten Weltgericht geschehen wird.110 Geblendet vom Reichtum aus den 110 Zimmermann

verwendet den Vergleich zum Weltgericht bewusst für poetologische Zwecke. In den Anmerkungen steht: »Und man kan den Grad des äussersten Schreckens und der höchsten Bestürzung nicht lebhaft genug und poetisch-bestimmt ausdrucken, als durch die Vergleichung mit solchen erstaunlichen Würkungen, die man von einer weit stärkern Ursache erwartet« (23).

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fernen Kolonien übersehen die Stadtbewohner die Warnzeichen, die auf ein kommendes Unglück verwiesen haben. Zimmermann scheut sich an dieser Stelle nicht, seine protestantische Konfession hervorzukehren und verurteilt scharf den falschen Glauben der Portugiesen und die Schreckensherrschaft der Inquisition. Wenn das Strafgericht schließlich hereinbricht, kleidet er die schrecklichen Folgen in stilisierte Bilder, die ihre Entsprechung in den Flug- und Gelegenheitsschriften haben:111 Ein zitterndes Geschrey steigt überall empor, Der Geitzhals schnürt mit Macht den vollen Sack zusammen, Und Wuchrer häuffen schon aus Trümmern Schätze auf; Schon fühlen Frende hier mehr als Todes-Pfeile, Sie geben seufzend sich den bangen Abschieds-Kuß; Mit Fluten Trähnen trennt ein sanfter Band sich dorten; Hier fällt ein zartes Weib an ihres Gatten Schoos Und bebend reißt er sich von dieser Schreckens-Stätte; Der Säugling schlinget sich mit schwacher Arme Hülf ’ Um seiner Mutter Hals, der Vater nimmt die Kinder, Der Jüngling faßt den Greis, der Priester seinen Gott; […] Ein jeder findt sein Grab bereit zu seinen Füssen, Die Mutter und ihr Kind zermalmt der gleiche Stein, Des Vaters Glieder sind im Staub’ des Sohnes vermenget, Was lebend sich geliebt, trennt sich im Tode nicht! (29–32)

Zimmermann lässt nach dem heftigen Erdbeben das prächtige Lissabon durch Wasserfluten und Feuersbrünste endgültig untergehen. Die stete Anhäufung von Schreckensbildern findet ihren Höhepunkt in den Notrufen der Verschütteten, die beim Leser ein Maximum an Bestürzung bewirken sollen: Umsonst erhebet sich gequetschter Menschen Flehen, Die zitternd durch die Kluft, wo mancher lebend noch Ein traurig Grab bewohnt, dem Licht entgegen schnappen; Umsonst schreyn andere: Schenkt, Freunde, uns den Tod, Der einzig glücklich macht? Ein Schauer von Verzweiflung Durchwallt den furchtbarn Pfuhl der umgestürzten Stadt! (35)112 111  Vgl.

Löffler: »Die Dramatik der Naturphänomene und die Schrecknisse der Menschen werden von Zimmermann in breit entfalteten Bildern dargelegt; deren Inhalte sind aus den Gelegenheitsschriften bereits hinlänglich bekannt und treten nun in höchster Stilisierung ans Licht« (390). 112 Die Darstellung der klagenden Verschütteten ist bereits in der ersten Fassung des Gedichts anzutreffen. Laut Anmerkung stammt sie aus Zimmermanns Einbildung, die von den

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Inmitten der Trümmer- und Leichenhaufen erscheint Portugals Monarch José I., der voller Trauer die Schreckensszene still betrachtet. Sein Thron ist mit der Königsstadt ins Nichts versunken. Wird der Monarch an all dem Gräuel verzweifeln? Nein, denn sein Herz ist zu dieser Todesstunde erfüllt »von Menschlichkeit und wahrer Großmuth« (37). An dieser Schlüsselstelle setzt Zimmermann mit der aus dem Unglück zu ziehenden Lehre an. Dank der empfindsamen Natur – »[d]er Himmel schlug ihn nicht zum gekrönten Pöbel« (38) – und des gesellschaftlichen Ranges versinnbildlicht das Staatsoberhaupt die ideale Verarbeitung der erfolgten Seelenerschütterung. Zimmermann bedient sich dabei des inneren Monologs, um einen unmittelbaren Einblick in die seelische Verfassung des Monarchen zu suggerieren. Angesichts der zerstörten Königsstadt und der sich noch regenden Toten113 verhält sich der bestürzte König vorbildlich: Statt in einen lethargischen Zustand zu verfallen, beginnt er an eine bessere Zukunft zu denken: Noch brach in voller Wuth der Jammer aus den Flammen Da schon mein reger Geist das Unheil übersah, Und sich mit kühnem Flug’ in beßre Zeiten wagte, Kein Uebel ist das nicht dereinst noch nützlich wird. Auf dieser Asche soll ein neues Volk sich sammeln, Ein weit beglückter Volk, das ich noch segnen kan! (38)

Das Desaster wandelt sich zu einer Chance, das Land politisch und wirtschaftlich zu erneuern. An dieser Stelle zielt der optimistische Gedanke nicht auf die Affirmation des metaphysischen Lehrgebäudes der besten Welt, sondern appelliert an die Kräfte, die dazu beitragen, bessere gesellschaftliche Verhältnisse zu schaffen.114 Konfronspäter eingetroffenen Nachrichten bestätigt worden sei: »Ich bin niemals im Stande gewesen, die Erzehlungen dieses Jammers ohne die äusserste Rührung zu lesen, und die Wemuth ist mir, unter der Betrachtung desselben, oft in die bittersten Thränen ausgebrochen. […] ›Nichts kan erschrecklicher seyn, (schrieb jemand von Lissabon) als sich in der Nähe dieser unglücklichen Ruinen zu befinden. Neben der grausamen Aussicht, die von allen Seite her die Augen rührt, hörte man noch den dritten und vierten November durchgehendes Ruffen und Wehklagen halb zerschmetterter Personen, die vergebens nach Hülfe schrien, und das Geheule andrer, die von dem Hunger genaget, gewisser massen in der Raserey starben‹« (35). Vgl. das Zitat aus Wielands Hymne auf die Gerechtigkeit Gottes oben. 113  Zimmermann gibt in den Anmerkungen auf makabre Weise sein medizinisches Wissen kund, indem er die Vorstellung von sich bewegenden Toten empirisch belegt: »Wer die Kraft der animalischen Faser kennt, die auch nach dem Tode noch eine Zeitlang übrig bleibt, der wird in dem Grunde diser Vorstellung nichts unnatürliches finden. Die Empfindung, die ein solcher Anblick in dem poetischen Gemüthe erwecken soll, bekommt aber einen poetischen Schwung« (38). 114  Vgl. Löffler: »Das optimistische Theorem von der Nützlichkeit der Übel gewinnt hier eine eindeutig handlungspragmatische Dynamik: Der Monarch denkt ›optimistisch‹ und zwar

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tiert mit dem unglaublichen Verlust, vollzieht sich im Gemüt des Monarchen ein dynamischer Stimmungswandel der Seelenkräfte: Die Bestürzung einerseits weckt Gefühle des Mitleids, die ihrerseits zur tugendhaften Tätigkeit anspornen. Bedrängtes Vaterland, mit ernstem Schauer sieht Mein banger Sinn dich an! Unselige Ruinen, Ihr ruft zur Menschlichkeit, ihr flösset Großmuth ein! Ihr schließt mit starker Kraft das edle Band zusammen, Wo durch ein zart Gefühl die Tugend thätig wird! O Menschlichkeit! du zierst nur die, die Trauer kennen, Der Unglückselige empfindet dich allein; Von jeder Tugend ist sein Los die bittre Quelle, Und jede Regung wird durch diese Kraft beseelt. Sie hebt das Herz empor, sie ist des Geistes Abel; Wer Thränen nie vergoß, wer niemals seufzte, Der hat die gröste Lust der Seelen nicht empfunden. So denkt ein guter Fürst, so sprach mein Genius. (39 f.)115

Die Trauer fungiert als unerlässliche Voraussetzung für die Menschlichkeit und das gemeinnützige Handeln. Dem Unglücksereignis wird hiermit ein konkreter Nutzen zugesprochen, indem es wie im Idealfall des Monarchen das Gute im Menschen weckt und zu praktischen Hilfeleistungen animiert. Doch der Drang nach Selbstbestimmung wird alsbald wieder mit der Besinnung auf die Ohnmacht des Menschen niedergedrückt. Selbst die »Grossen dieser Erde« sind im Vergleich zur Macht Gottes verschwindend klein: Am Schluss der »Wesen Reih« steht der König neben dem Wurm (30). Bevor Zimmermann im abschließenden Teil des Gedichts der Kernfrage nachgeht, warum so ein schweres Erdbeben Lissabon verwüstet hat, schiebt er eine kurze Reflexion über den erwünschten Effekt seiner Dichtkunst ein: durchaus schon im Sinne gegenwärtigen Sprachgebrauches. Reflektiert wird nicht eine metaphysische bestimmbare Qualität eines mundus optimus, den Gott schaffen konnte. Es geht vielmehr um die möglichen politisch-sozialen Verbesserungen nach dem Erdbeben« (392). Diese Betrachtungsweise wird in den Berichten über die Erderschütterungen in Sizilien und Kalabrien 1783 ebenfalls zum Ausdruck kommen. 115  In seinem Aufsatz »Johann Georg Zimmermanns Gedicht Die Zerstörung von Lissabon« verweist Martin Rector bezüglich dieser Schlüsselstelle des Gedichts auf die innere Bewegtheit des lyrischen Subjekts. In dieser »Erlebnis-Subjektivierung« will er aber nicht die Evokation des Erhabenen ausmachen, »denn ihr Pathos entzündet sich nicht an der Erfahrung der übermächtigen Objektwelt, der Natur, sondern an der Beobachtung der Bewegbarkeit und Bewegtheit der eigenen Seelenkräfte« (91). Wie ich im zweiten Teil der Arbeit zeigen werde, ist die innere Tätigkeit der Seelenkräfte allerdings ein wesentliches Merkmal des subjektiven Erhabenheitsbegriffs, der sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts etabliert.

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Noch nie geprüfte Kunst! leyh mir den kühnen Schwung, Der den Gedanken schärft, dem Ausdruck Würde giebet, Und des Affectes Kraft in seiner Stärke mahlt; So sprach ich, da mein Geist erregt durch Schreckenbilder Den Unfall jener Stadt von einer Seite sah, Und stets die Phantasie in Schmerzen eingehüllet, Mich zwingend an den Ort des Todes mit sich riß, Wo gleich mein Sinn, besiegt, der zärtern Regung folgte. (41)

Vom ersten dichterischen Versuch erhofft sich Zimmermann eine Belebung der Geisteskräfte, die seine Gedanken über das Unglück in die richtige Bahn leiten sollen. Ergriffen von den Schreckensbildern wird der Sinn durch die von ihnen ausgehenden Schmerzen betäubt. Doch die sanfte Kraft der frommen Vernunft verschafft erneut Klarheit und findet im zügellosen Triebausleben der Portugiesen die Ursache des Übels. Das Erdbeben ist demnach, ganz im Sinne des traditionellen moraltheologischen Deutungsmodells, ein Strafgericht Gottes: Sie [die Vernunft] hohlt des Uebels Grund, der Portugall befallen, In Frömmigkeit verzückt, von seinen Sünden her: Gerechtigkeit verdrang, sagt sie, der Langmuth Triebe, Der HErr schlug in den Grund die Stadt, die vor ihm wich […]. (41 f.)

Zimmermann warnt jedoch vor voreiligen Rückschlüssen. Gerade die Vernunft lasse sich korrumpieren, wenn sie »betriegerisch die Leidenschaften« beschirme. Eine von Trieben verleitete Vernunft flöße dem Menschen »Gift« ein, das »Glaubens-Zwietracht« pflanze und »Eifer« auslöse (44).116 Eilfertig die Portugiesen zu verdammen, ohne an die eigene Verworfenheit zu denken, komme einem Verstoß gegen die Menschlichkeit gleich: Sag mir, betrogner Geist, der Lisabon verdammt, Weil GOttes Wege stets der Welt verborgen bleiben, Wo bleibt das Volk das nicht ein gleiches Schicksal reitzt? (45)

116  Zimmermann will an dieser Stelle nicht andeuten, dass er die Institution der Kirche an sich kritisiert: »Der angeführte Eifer kömmt bloß dem gemeinen und unwissenden Schwarme von Catholischen und Protestantischen Prisestern zu, die einen jeden ehrlichen Mann einen Atheisten schelten, der sich an ihrer lächerlichen Majestät vergreiffet, und diese sind es, von denen Pope saget: ›Daß sie immer fertig seyen, ihre Dolche zu zücken, hier in die Seligkeit zu heben, dort zu verdammen; wahre Schweizer des Himmels, denen es gleich ist, für jeden Gott, und jeden Menschen zu streiten‹« (44).

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Auf eine emphatische Aufzählung moralischer Übel, Judenverbrennungen, der Hin­ richtung von Freidenkern und verheerender Glaubenskriegen folgt Zimmermanns ernüchternde Schlussfolgerung, dass die eigentliche Ursache des Übels den Menschen für immer verschlossen bleibe: Genug, im Finstern liegt für uns des Uebels Grund, Wir sehn des Schicksals Ziel, und missen seine Wege; Laßt eitle Träumer nur mit lächerlichem Stolz’ Sich, und die Welt, und GOtt in Dunkelheit ergründen, Ein Lehrgebäude währt bis an den nächsten Tag, Und Teufel mögen sich mit Dialectik plagen! (49 f.)

Das Gedicht schließt mit dem Appell, auch außerhalb von Zeiten der Not einen aufrichtigen Glauben an Gott zu pflegen. Nicht die Todesangst, sondern die freie Wahl im Innern des Herzens soll den Menschen zu Gott führen: O Mensch! laß Städte nicht und Länder untergehen, Eh allzu späth die Reu, in eitler Zuversicht Auf des Gerechten Trost, dein Innerstes durchnaget; Der Glaube, der allein aus der Verzweiflung fließt, Gefällt dem Schöpfer nicht, der allen Zwang verschmähet, Und in dir, seinem Bild’, der Freyheit Vorrecht gab, Damit aus eigner Wahl zu ihm dein Herz sich hebe; Wann er nicht immer zürnt, so heischt Er doch die Furcht, Die selbst der Fromme nie mit Vorsatz unterdrücket. (51)

Zwischen Zimmermanns und Wielands Dichtungen ist es hinsichtlich der markanten moraltheologischen Perspektivierung einfach, inhaltliche Parallelen festzulegen: Beide setzen die absolute Souveränität Gottes und die bedingungslose Ergebenheit vor seiner Allmacht voraus. Dem politischen Machtstreben, der menschlichen Vernunft und insbesondere dem Triebleben werden Schranken gesetzt. Doch aufgrund der selbstreflexiven Disposition teilt Zimmermann nicht Wielands pauschalisierende Verdammung der Erdbebenopfer. Innere Widersprüche tun sich auf, die sich einer diskursiven Entschlüsselung widersetzen. Auf Spekulationen über den Ursprung des moralischen Übels will Zimmermann nicht eingehen, und er lehnt das Vorhaben ab, die Absicht der göttlichen Vorsehung verstandesmäßig zu durchleuchten. Der vom Unglück ausgehende Schrecken soll vielmehr dazu genutzt werden, der Betroffenheit und dem inneren Stimmungswandel der eigenen Seelenkräfte poetische Form zu geben (vgl. Rector 91). Sich in die »Tiefen der Weisheit« zu verlieren, beabsichtigt Zimmermann nicht (15). Die Aporie zwischen der

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Inkommensurabilität des göttlichen Willens und dem unermüdlichen Bestreben, dem Naturübel einen übergeordneten Sinn abzuringen, die im Gros der religiösmetaphysischen Betrachtungen deutschsprachiger Gelehrten über Lissabons Untergang vorherrschend ist, wird Jahrzehnte später in Heinrich von Kleists Meister­ novelle Das Erdbeben in Chili ad absurdum geführt.

c) Die Appropriation und Unterminierung tradierter Erdbebenberichte: Heinrich von Kleists Das Erdbeben in Chili In seiner kulturhistorischen Studie Katastrophen hat François Walter darauf hingewiesen, dass etliche Autoren des ausgehenden 18. Jahrhunderts den Schrecken seismischer Umwälzungen in erbauliche und philosophische Erzählungen als »dramatischen Kunstgriff« eingearbeitet haben: Das Erdbeben ermöglicht die Begegnung der Liebenden oder vollzieht deren Untergang, sowohl in der Tragödie Die Lissabonner (1758) des Deutschen Christian Gottlieb Lieberkühn (1730–1761) wie in der poetischen Erzählung Les Incas von Jean-François Marmontel (1723–1799). (107)117

Zu den bekanntesten Beispielen der deutschen Literatur, die das Anagnorisis-Motiv mit den plötzlich einsetzenden Erderschütterungen zusammengebracht hat, gehört zweifelsohne Heinrich von Kleists Das Erdbeben in Chili. Die Novelle wurde in der Sekundärliteratur oftmals mit dem Lissabonner Erdbeben in Verbindung gebracht, ohne dabei konkret auf deren intertextuelle Einbettung in den Katastrophendiskurs des 18. Jahrhunderts einzugehen. Allgemein beschränken sich die Textbesprechungen meist auf Jean-Jacques Rousseaus Brief an Voltaire vom 18. August 1756 und die von Voltaire verfassten polemischen Schriften Poème sur le désastre de Lisbonne und Candide (1759) (vgl. dazu Grathoff 100–111; Hamacher 152 f.). Unter den deutschsprachigen Reaktionen werden Johann Wolfgang von Goethes Altersreminiszenzen aus Dichtung und Wahrheit und Immanuel Kants drei Erdbebenschriften118 herbeigezogen. Thomas E. Bourke hat zu Recht konstatiert, dass ein »Blick auf die zeitgenössischen Zeugnisse« Kleists Erdbebennovelle »aus dem Bereich des Wundersamen in jenen des Realistischen« rücke. Es lasse sich aber nicht ermitteln, wie genau der Autor »in Berührung mit der nach Lissabon reichlich vorhandenen Erdbebenliteratur kam« (229). In der neueren Kleistforschung ist mit der Ortung einer bisher unbekannten »Vorgängerin« von Das Erdbeben in Chili ein 117 

Ausführlich zu Lieberkühns Trauerspiel Die Lisabonner siehe Thorsten Ungers Beitrag im Jahrbuch des Freien Hochstifts (2005) 1–22. 118  Susanne Ledanffs Behauptung, dass »der immer sensationsgierige Kleist« von diesen vorkritischen Beiträgen Kants »sehr enttäuscht« gewesen wäre, ist beizustimmen (135).

Glück im Unglück: die mediale Darstellung des Erdbebens vonLissabon

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möglicher Durchbruch in der Erfassung konkreter Textvorlagen erzielt worden. Jochen Schmid und Claudia Liebrand haben jeweils die Hypothese geäußert, Kleist habe die dramatisierte Erzählung Alonzo und Elvira oder das Erdbeben von Lissabon von Friedrich Theodor Nevermann berücksichtigt.119 Alexander Košenina ist dieser Spur nachgegangen und konnte stilistische und inhaltliche Überschneidungen zwischen dem Theaterstück und der Novelle feststellen (»Nevermann« 59–88). Mit seinem Aufruf, den »Blick über Voltaires Poème sur le desastre [sic] de Lisbonne oder seinen Candide ou l’optimisme hinaus auf Texte wie Nevermanns Alonzo und Elvira zu richten«, eröffnet sich eine konstruktive heuristische Richtlinie (67). Freilich lassen sich in beiden Werken weitere intertextuelle Verbindungen zu den Schriften über das Lissabonner Erdbeben nachweisen. Mit der Analyse eines ergänzenden Quellentexts können die in die Novelle eingearbeiteten Verweise auf dieses Extremereignis mit größerer Bestimmtheit herausgearbeitet werden. Kleist rekurrierte auf Darstellungsmotive, die zum festen Bestandteil der frühneuzeitlichen Erdbeben­ berichte gehörten. In Abkehr von den vorangegangenen Berichterstattungen tragen seine überspitzten Schreckensbilder jedoch dazu bei, die bestehenden Deutungs­ mus­ter verheerender Naturelemente grundlegend zu erschüttern. Kleist situiert die unerhörte Begebenheit einer gewaltigen Naturkatastrophe sogleich im Eröffnungssatz der Novelle innerhalb eines zeit- und ortspezifischen Rahmens: »[I]n dem Augenblicke der großen Erderschütterung vom Jahre 1647« fanden in »St. Jago, der Hauptstadt des Königreichs Chili […] viele tausend Menschen ihren Untergang« (SW I: 114). Gemäß Werner Hamacher macht sich an dieser Stelle Kleists »Nachdruck auf die historische Authentizität« der vorgetragenen Geschehnisse offenkundig (152). In verschiedenen Beiträgen wurde allerdings darauf hingewiesen, dass die überlieferten Berichterstattungen über die Verwüstung Santiagos sich mit den inhaltlichen Details der Novelle nicht decken (vgl. Bourke 228–231; Appelt et al. 40). Die beschriebenen Kalamitäten – die zusammenstürzenden Häuserreihen, die aus Giebeln leckenden Flammen und der aus den Ufern tretende Mapochofluß – erinnern vielmehr an das Erdbeben von Lissabon. Das über Santiago hereingebrochene Naturübel verschiebt ironischerweise den Zeitpunkt in der Novelle, an dem das Protagonistenpaar seinen gewaltsamen Tod erleiden soll. Die Adelstochter Josephe, die enthauptet werden sollte, weil sie sich vom Hauslehrer Jeronimo im Klostergarten schwängern ließ, befindet sich auf dem Weg zum Richtplatz, als ein heftiger Erdstoß die Häuser erschüttert und die staatlich sanktionierte Exekution verhindert. Gleichzeitig versucht ihr verzweifelter Geliebter im Gefängnis Selbstmord zu begehen. Das Beben reißt eine Lücke in die Mauer, 119  Außer

der knappen Erklärung, »[s]chon an den Titel dieser dramatisierten Erzählung erinnert Kleists ursprüngliche Titelformulierung Jeronimo und Josephe«, geht Jochen Schmidt nicht eingehender auf Nevermanns Werk ein (185). Claudia Liebrand hingegen bezieht sich lediglich auf Schmidts Quellenverweis (vgl. 115).

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die es Jeronimo ermöglicht, aus der Zelle zu fliehen. Kleist arrangiert die disparaten Einzelheiten der anschließenden Flucht aus der zusammenstürzenden Hauptstadt zu einer eindrücklichen Momentaufnahme, die als paradigmatische Darstellung des Erdbebens fungiert: Kaum befand er sich im Freien, als die ganze, schon erschütterte Straße auf eine zweite Bewegung der Erde völlig zusammenfiel. Besinnungslos, wie er sich aus diesem allgemeinen Verderben retten würde, eilte er, über Schutt und Gebälk hinweg, indessen der Tod von allen Seiten Angriffe auf ihn machte, nach einem der nächsten Tore der Stadt. Hier stürzte noch ein Haus zusammen, und jagte ihn, die Trümmer weit umherschleudernd, in eine Nebenstraße; hier leckte die Flamme schon, in Dampfwolken blitzend, aus allen Giebeln, und trieb ihn schreckenvoll in eine andere; hier wälzte sich, aus seinem Gestade gehoben, der Mapochofluß auf ihn heran, und riß ihn brüllend in eine dritte. Hier lag ein Haufen Erschlagener, hier ächzte noch eine Stimme unter dem Schutte, hier schrien Leute von brennenden Dächern herab, hier kämpften Menschen und Tiere mit den Wellen, hier war ein mutiger Retter bemüht, zu helfen; hier stand ein Anderer, bleich wie der Tod, und streckte sprachlos zitternde Hände zum Himmel. (SW I: 146)

Bernd Fischer glaubt in den »hastig aneinanderreihenden ›Hier‹-Sätzen« eine Vorwegnahme der Actionfilmästhetik entdeckt zu haben (417). Wendet man den Blick auf die während der Aufklärungszeit verfassten Unglücksberichte, wird deutlich, wie eingehend Kleist mit den darin auffindbaren Darstellungsschemata vertraut war. Košenina hat dies mithilfe eines Textvergleichs zwischen der obigen Passage und dem folgenden korrespondierenden Schreckensbild aus Nevermanns Alonzo und Elvira exemplifiziert (»Nevermann« 61 f.) Almenso, der Vater von Elvira, betont in seiner pathetischen Veranschaulichung der Lissabonner Katastrophe gleichermaßen das verhängnisvolle Aufeinandertreffen der zerstörerischen Elemente: Als ich sage: der erste November ist für Lisbon kein Tag, sondern einer der dicksten Nächte gewesen. – Hier tönte ein dumpfes Todtengeschrey, unter Schutt und Erde hierdurch und flehete jammernd um Rettung – aber, wer konnte jene Unglücklichen die mit sich selbst rungen und ihre eigene Todtengräber wurden, zu Hülfe kommen! – Dort lagen die Säuglinge todt an den Brüsten ihrer Mütter hangend und gegenseitig wider lebende am Halse ihrer todten Mütter! ach diese fanden gar bald ihr trauriges Ende unter den Füssen der Flüchtenden, die zur eigenen Rettung über ihnen hineilten. O welche Angst umgab uns auf allen Seiten! – Alle Elemente vereinigten sich zum Verderben. Der Tagus erhob sich fürchterlich gegen Lisbon! Was vom Erdbeben in den Erschütterungen übrig blieb, verzehrte die Flamme die aus den eingestürzten Häusern herausfuhr. Die Luft war von Rauch, Staub und Dunst angefüllt. (65)

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Košenina erläutert die erzähltechnischen Besonderheiten mittels anachronistisch anmutender Verweise auf Ästhetikkonventionen der Neuzeit, indem er behauptet, beide Autoren haben sich »einer sehr modernen Simultantechnik« bedient, »die durch eine blitzlichtartige Aufeinanderreihung von Einzelszenen den zeitlichen Verlauf still stellt« (»Nevermann« 61). Dieser Schlussfolgerung ist einzuwenden, dass die simultane Aufführung von verheerenden Zwischenfällen in den Katastrophenberichten des 17. und 18. Jahrhundert verbreitet war. Vorrangig ist nicht die Vermittlung von faktischen Informationen, sondern die sensationalistische Effekthascherei. Um die Leserschaft emotional zu vereinnahmen, werden bestimmte Schreckensmotive fortlaufend wiederholt. Somit kommt es nicht von ungefähr, dass gerade diejenigen Szenen und Beschreibungen aus Nevermanns Drama, die die schier unvorstellbaren Erdbebenverwüstungen vor Augen führen und Kleist als mögliche Vorlagen dienten, sich auf frühere Texte zurückführen lassen. Bezeichnenderweise deckt sich Almensos Schreckenstableau beinahe wortgleich mit dem hyperbolischen Augenzeugenbericht eines Greisen aus Johann Rudolph Anton Piderits Freye Betrachtungen über das neuliche Erdbeben zu Lisabon (vgl. 151 f.). Bei Nevermanns verwendeten Darstellungselementen – die Todesschreie und der Selbstkannibalismus der Verschütteten, die tote Mutter mit ihrem Säugling, der Erstickungstod in der stauberfüllten Luft und die zu Tode getrampelten Menschen – handelt es sich, wie in den obigen Kapitelabschnitten dargelegt wurde, um gängige Klischees. Insofern hat Kleist nicht nur hochgradig stilisierte Einzelmotive aus den Erdbebendarstellungen übernommen, sondern auch deren stilistische und syntaktische Erzählmuster eingefügt. Ein grundlegender Unterschied zwischen den Schreckensszenerien und Kleists Gestaltung von Santiagos Untergang ist das kompositorische Strukturelement der fliehenden Einzelperson, die die allseitigen Angriffe der Natur dynamisierend miteinander verknüpft. Folgender Bericht aus der 1779 im Hannoverischen Magazin veröffentlichten Sammlung authentischer Briefe, welche während und kurz nach dem Erdbeben zu Lissabon in dieser unglücklichen Stadt und in der Nähe derselben geschrieben worden120 stammt von einem Augenzeugen, der während des Chaos den drohenden Gefahren zu entkommen versucht: Das weiß ich aber, dass ich durch ein Loch gekrochen bin, um auf die Gasse zu kommen, welche mir aber ganz unbekannt war. Ich lief immer fort, wußte aber selbst nicht, wohin, und hatte viele Mühe über Steine und Mauern wegzuklettern. 120 Das

Hannoverische Magazin ist als gelehrte Beilage zweimal wöchentlich in den Hannoverischen Anzeigen (1750–1859) erschienen. Die Zeitschrift schließt sich dem Charakter der moralischen Wochenschriften an und hat Wissenswertes über einen breit gefächerten Bereich von Disziplinen, wie Geschichte, Physik, Geologie und Theologie vermittelt. Siehe weiterführend hierzu Delille 56 f.

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Endlich kam ich auf die Porintha, verließ aber dieselbe bald, da ich sahe, dass die Erde daselbst 4 bis 6 Fuß breit gespalten war. Darauf erblickte ich das Ufer, wohin viele Menschen eilten. Auf dem Wege habe ich viele Todte und Elende gesehen. Ich gieng geschwind vorbey und lief nach dem Ufer. Allein wie bestürzt ward ich, als ich, ehe ich noch ganz hinkam, die Schiffe und das Wasser auf einmal hoch in die Luft getrieben, plötzlich aber wieder herunterfallen sahe. Die Leute, die am Ufer stunden, eilten wieder auf mich zurück, und einige Jagden und andere Fahrzeuge waren über 100 Schritte weit vom Wasser aufs Land gesetzt worden. […] Inzwischen versammelte sich viel Volk auf dem Terreiro, wo der eine sein Schicksal erzählte, der andere wehklagte, winselte und heulte. Die kleinen Stöße von der Erden empfunden wir noch immer, und Niemand wußte einen Ort zu finden, wo man sich mit einiger Sicherheit hinstellen konnte. […] Nach Verlauf von zwey Stunden war das Feuer schon an vier Orten der Stadt ausgebrochen. (Neunzehnter Brief. An Herrn Q. auf dem Campo 1109)121

Auffällig ist, dass der Briefschreiber wie Jeronimo durch eine Öffnung ins Freie gelangt und im Zustand völliger Verwirrung durch die trümmer- und leichenübersäten Straßen hastet. Des Weiteren bedient er sich des geläufigen »semantischen Paradigmas« der natürlichen Elemente (Wellbery 76). Nach einer genaueren Prüfung erweist sich die angeblich am 2. November 1755 verfasste Nachricht des Katastrophenablaufs als Bestandteil eines fiktionalen Briefkonvoluts. Eine Vielzahl der darin beschriebenen Schreckensmomente korrelieren mit den Meldungen aus Briefen englischer Kaufmänner und Gesandten, die u. a. 1755 in der Dezemberausgabe des Gentleman’s Magazine erschienen sind. Maria Manuela Gouveia Delille und Ulrich Löffler haben mit stichhaltigen Argumenten dargelegt, dass das Hannoverische Magazin tatsächlich eine inszenierte Briefkorrespondenz von Kaufleuten abdruckte, die angeblich mit den Handelshäusern in Hamburg in Verbindung standen. Etliche Autoren haben aber »den fiktionalen Charakter dieser Sammlung offenbar nicht bemerkt« (Delille 62; Löffler 145 f.).122 Ob Kleist auch zu ihnen gehört, steht hier nicht zur Debatte. Von Belang ist vielmehr der gewichtige Stellenwert der Briefe in der Offenlegung von Kleists thematischen Verweisen auf Lissabon. Hierin erschließt sich ein bedeutsames Quellenbündel, das in der Auslegung der Novelle eine bestimmende Funktion ausübt.

121  Die

Briefstellen aus der Sammlung authentischer Briefe werden im Text nach Nummer, Adressaten und Spaltenseite zitiert. 122  S. Günther hat 1904 in seinen »Bemerkungen zum Erdbeben von Lissabon« darauf hingewiesen, das Briefkonvolut sei eine »gute Quelle von Originalmitteilungen« und »ist anscheinend nirgends […] nutzbar gemacht worden.« Deswegen sei es notwendig, »diese ›Sammlung authentischer Briefe […]‹ der allgemeinen Beachtung zu empfehlen« (9).

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Kleists intertextuelle Vorgehensweise offenbart sich in der zweiten paradigmatischen Erdbebendarstellung, in der die anarchistisch-gewaltsamen Auswirkungen der seismischen Umwälzungen in Santiago stichwortartig vergegenwärtigt wird: Man erzählte, wie die Stadt gleich nach der ersten Haupterschütterung von Weibern ganz voll gewesen, die vor den Augen aller Männer niedergekommen seien; wie die Mönche darin, mit dem Kruzifix in der Hand umhergelaufen wären, und geschrieen hätten: das Ende der Welt sei da! wie man einer Wache, die auf Befehl des Vizekönigs verlangte, eine Kirche zu räumen, geantwortet hätte: es gäbe keinen Vizekönig von Chili mehr! wie der Vizekönig in den schrecklichsten Augenblicken hätte Galgen aufrichten lassen, um der Dieberei Einhalt zu tun; und wie ein Unschuldiger, der sich von hinten durch ein brennendes Haus gerettet, vom dem Besitzer aus Übereilung ergriffen, und sogleich aufgeknüpft worden wäre. (SW I: 151 f.)

Alfred Owen Aldridge (1915–2005) hat darauf hingewiesen, dass die zusammengeführten Schreckensmeldungen auf kein reelles historisches Ereignis verweisen. Die Novelle sei zwar »realistic to a high degree« und weise gewisse Ähnlichkeiten mit dem Bericht des Bischofs von Santiago auf, der beim Erdbeben von 1647 zugegen war: Jedoch stammen die angeführten Details allesamt aus Kleists eigener Imagination (177). Zu einem ähnlichen Urteil ist auch Marjorie Gelus gekommen. Die Schilderung der in Öffentlichkeit gebärenden Frauen sei wegen ihrer hohen Unwahrscheinlichkeit nicht als objektive Berichterstattung einer vorgegebenen Realität (»objective reporting of some pre-given reality«), sondern als »Kleist’s particular emblem of a world gone awry« zu verstehen (5).123 Allerdings ist dieses Bild in den Augenzeugenberichten des Lissabonner Erdbebens geradezu omnipräsent. Ein englischer Kaufmann lamentierte in einem Brief, dass »[w]omen big with Child […] delivered in open Fields and Places, amidst the Groans and Cries of Trembling Multitudes« (An Account of the late Dreadful Earthquake 21 f.). Eine analoge Szene wird in der Sammlung authentischer Briefe geschildert: »[E]inige Weiber wurden unter solchem Getümmel von Geburtsschmerzen überfallen, und lagen bloß und gebahren vor Jedermanns Augen« (Erster Brief. An Herrn O. in Campo, Sp. 1014). Überdies hat Delille festgestellt, dass zwei weitere Briefstellen aus der Sammlung sich »unter fast wörtlichem Anklang« mit den von Kleist verwendeten Motiven decken (67). Die erste handelt von den in Panik geratenen Geistlichen:

123  Die

Unwahrscheinlichkeit der in der Öffentlichkeit gebärenden Frauen erläutert Gelus textimmanent: »How many pregnant women might there have been in the city, and of those, how many would have had labor induced, and of those, how many would have been flushed out onto the street to complete it, and of those, how many would have found crowds of male eyes to bear witness – and why are these women not part of either Jeronimo’s or Josephe’s accounts of the quake?« (5).

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Die Mönche laufen mit dem Kreuze herum und das Volk folgt immer nach. Anstatt, dass sie dem Volke Muth einsprechen sollten, führen sie es aus der Stadt, und schreyen immer: das Ende der Welt ist da. (Fünfter Brief. An Herrn O. in dem Campo 1034)

In der zweiten wird der Vorfall der gegen die Obrigkeitsbefehle revoltierenden Stadtbevölkerung beschrieben: Diesen Nachmittag um 5½ Uhr ritten hier vier Soldaten herum, und publicierten einen Befehl des Königs: dass das Volk, welches hier umher auf der Straße läge, sich weiter von der Stadt entfernen sollte, die Antwort des Volks war: sie hätten jetzo keinen König. Das Volk blieb auch stehen, und die Soldaten marschierten ab. (Eilfter Brief. An Herrn Nath in Lissabon 1086)

Das letzte Puzzlestück, Kleists Schilderung der um sich greifenden Justizwillkür, ist ebenfalls in einer von Delille nicht berücksichtigten Briefstelle auffindbar: Für Diebe dürfen wir nicht besorgt seyn, weil der König einen Befehl hat ergeben lassen: alle Diebe, die ertappt werden, sogleich aufzuhängen. Die Richter befolgen den Befehl aufs genaueste, so, dass wenn Jemand findet, der verbranntes Geld bey sich hat, oder der hie und da gräbt, und auf Befragen nicht zu sagen weiß, woher er ist, und was für ein Recht er dazu hat, man ihn gleich, ohne weitere Untersuchung aufknüpft, wobey aber doch auch oft Unschuldige leiden können. (Sieben und zwanzigsten Brief an Herrn O. in Olivais 1218)

Zweifellos unterstreichen die angeführten Briefzitate den Tatbestand, dass gerade diejenigen Novellenpassagen, in denen verheerenden und gesellschaftlich destabilisierenden Wirkungen des Erdbebens sinnfällig veranschaulicht werden, sich auf Berichte eines reell eingetroffenen Katastrophenereignisses stützen; nur handelt es sich in diesem Fall nicht um den Untergang der chilenischen Hauptstadt, sondern um denjenigen des portugiesischen Handelszentrums Lissabon. Der intertextuelle Sinngehalt der Textpassage über Santiagos anarchistische Zustände kommt durch deren sorgfältige Platzierung in die Handlungsstruktur der Novelle umso deutlicher zur Geltung. Das Trauma der plötzlich eingetroffenen Erderschütterungen scheint die aufs offene Feld geflohenen Stadtbewohner miteinander versöhnt zu haben. Die Erinnerung an die stattgefundene Ächtung und Verfolgung Josephens und Jeronimos vor dem Desaster ist in weite Ferne gerückt und Don Fernando nimmt die beiden Liebenden zusammen mit ihrem Neugeborenen Philipp offenherzig in seinen Familienkreis auf. Durch die Nachricht über das ausgebrochene Chaos in der verwüsteten Stadt wird der harmonische Zustand empfindlich gestört. Dies wird anhand der Figur Donna Elisabeth markant demonstriert, deren »kaum der Gegenwart entflohene Seele« durch den Bericht, »der

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über irgend ein neues gräßliches Unglück erstattet ward«, wieder auf den Boden der Realität zurückgerissen wird (SW I: 151). Die Schreckensnachricht kristallisiert sich einerseits zu einer Warnung, dass die aufblühende Idylle einer friedfertigen und egalitären Schicksalsgemeinschaft nur temporär und äußerst fragil ist. Andererseits signifiziert sie einen von Katastrophen durchzogenen Geschichtsverlauf: Santiagos Verwüstung und Abgleiten in die Anarchie ist nicht einzigartig. Wie die Berichterstattungen über das Erdbeben von Lissabon eindrucksvoll gezeigt haben, werden solche Kalamitäten immer wieder die Menschheit befallen. Kleist kreierte insofern ein vielschichtiges, einem Palimpsest nachempfundenes Schreckenstableau, das nicht nur die an einem bestimmten Schauplatz und Zeitpunkt vorgefallenen Gräuel zur Schau stellt, sondern simultan vergangene und zukünftige Heim­ suchungen durchschimmern lässt. Bezeichnenderweise ist es wiederum Donna Elisabeth, die den zeitenübergreifenden Zusammenhang zwischen den einzelnen Unglücksfällen zu erkennen vermag. Ihre eigentümliche Weitsichtigkeit zeigt sich, wenn sie Don Fernando überzeugen will, Josephe und Jeronimo nicht zum gemeinsamen Gottesdienst in der stehen gebliebenen Dominikanerkirche zu führen. Als Einzige scheint sie nicht von der vorherrschenden Amnesie betroffen zu sein und erwähnt mit großer Erregtheit das »Unheil« in der Kirche vom gestrigen Tage (SW I: 153 f.). Über diesen Zwischenfall wird keine weiterführende Auskunft erteilt, aber Donna Elisabeth könnte die Rebellierenden gemeint haben, die sich dem königlichen Befehl der Kirchenräumung widersetzten. Bernhard Greiner vermutet in diesem gesetzlosen Verhalten eine unheilvolle Vorahnung auf das moralische Desaster am Ende der Novelle, wenn Jeronimo und Josephe von einem aufgebrachten Lynchmob erschlagen werden (vgl. 379). Als »eine neue Kassandra« besitzt Donna Elisabeth das seherische Vermögen, janusköpfig rück- und vorwärts ins Zeitgeschehen zu blicken (vgl. Braig 447). Der von Kleist geschaffene Nexus zwischen Lissabon und Santiago bringt eine ominöse Konstellation von desaströsen Zwischenfällen hervor. Entgegen den Geistlichen, die das Erdbeben als ein göttliches Strafgericht deuten, lässt sich die Erschütterung beider Königsstädte nicht in einen religiös-eschatologischen Bezugsrahmen überführen. Die verheerenden seismischen Umwälzungen sind vielmehr semantisch entleerte Extremereignisse, die auf kein übergeordnetes metaphysisches Sinngefüge verweisen. Hervorzuheben ist, dass Kleists evozierter Schrecken einer kontingenten, blind zuschlagenden Naturgewalt sich radikal von den Textvorlagen abhebt. Die Verfasser der »authentischen Briefe« legen uneingeschränkt ihr Vertrauen in die göttliche Vorsehung und ein Briefschreiber vermag selbst dem verheerenden Flächenbrand in Lissabon eine positive Note abzuringen:

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Bey diesen erbärmlichen Umständen thut der Brand in der Stadt wohl gewiß den größten Schaden. Doch bin ich der Meynung, dass nichts so böse ist, welches nicht noch etwas gut seyn könne, und so halte ichs eines Theils für gut, dass der Brand entstanden ist, denn dadurch sind die todten Körper, die unters Schut und Steinen halb begraben lagen, verzehrt und in Asche verwandelt worden, da sonst das Heranziehen und Begraben derselben viel Mühe und Zeit würde erfordert haben, so dass die Luft dadurch inficiert worden und vielleicht die Pest hätte entstehen können. (Siebenzehnter Brief. An Herrn O. auf dem Campo 1099–1100)124

Analog dazu wendet sich in Nevermanns Drama die Katastrophe zum Positiven. Wegen ihrer Tugendhaftigkeit haben die Verlobten Alonzo und Elvira die Erderschütterungen mitsamt ihren Familienangehörigen unbehelligt überstanden und können ihre Heiratspläne verwirklichen. Am Ende des dritten und letzten Aktes proklamiert Alonzos Mutter Emilia, der Tag von Lissabons Untergang sei »für uns kein Trauertag, wie ich vermuthete, sondern einer der frohesten meines Lebens.« Elvira läßt daraufhin verlauten, dass sie »unaussprechliche Wonne« verspürte und ihre Seele »alles Elend das mich umgab« vergaß, als sie ihren Geliebten lebend »auf den Ruinen Lisbons widerfand« (78). Es ist gerade diese für den populärphilosophischen Optimismus typische Bonisierung des Übels, dass ein vermeintliches Unglück entweder ein potentiell viel gravierendes Desaster verhindert oder sich nach genauerer Überlegung als ein Segen für die Notleidenden herausstellt, die von Kleist konterkariert wird.125 Das Liebespaar Jeronimo und Josephe wird ständig mit Situationen konfrontiert, die sich ihrem Verlangen nach Glück quer stellen. Kleist vermochte, wie Susanne Ledanff erläutert hat, den Blick auf die »Katastrophen und Widrigkeiten« in der Menschheitsgeschichte nicht abzuwenden und der Standpunkt der Theodizeeapologeten, dass die durch den Tumult der Dinge »angezogene Wahrnehmung« in einer »Übertreibung des Bösen« resultiere,126 stellte für ihn keine verlässliche Rechtfertigung dar (144). Kleists verhängnisvolle »Relativität der Wahrnehmung« ist dem Pariserbrief vom 15. August 1801 zu entnehmen:

124 

Vgl. die Aussage vom englischen Chirurgen Richard Wolfalls: »For 1st, the apprehension of a pestilence from the number of dead bodies, and the general confusion, and want of people to bury them, were very alarming: but the fire consumed them, and prevented that evil« (405). 125  Vgl. dazu Werner Hamachers Hinweis auf die Strukturformel der »wechselseitig sich aufhebenden Übel – bina venena juvant« aus Leibniz’ Essai de Théodicée (153). 126  Auf eine ähnliche Weise hat 1759 ein Rezensent in der von Johann Christoph Gottsched (1700–1766) herausgegebenen Monatsschrift Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit Voltaires Candide verrissen: »Gottlob! dass es nur in dem Gehirne dieses Dichters solche verdammliche Bosheiten giebt; die man in der Welt entweder gar nicht, oder doch in ganzen Jahrhunderten kaum ein, oder das andremal erblicket hat« (528 f.).

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Ja, wahrlich, wenn man überlegt, dass wir ein Leben bedürfen, um zu lernen, wie wir leben müßten, dass wir selbst im Tode noch nicht ahnden, was der Himmel mit uns will, wenn niemand den Zweck seines Daseins und seine Bestimmung kennt, wenn die menschliche Vernunft nicht hinreicht, sich und die Seele und das Leben auf die Dinge um sich zu begreifen, wenn man seit Jahrtausenden noch zweifelt, ob es ein Recht gibt – kann Gott von solchen Wesen Verantwortlichkeit fordern? SW II: 682 f.

Beachtenswert ist, dass Kleist die angeführten stereotypen Beispiele des Bösen in der Weltgeschichte – Nero (37–68 n. Chr.), Attila († 453), die Kreuzzüge und die spanische Inquisition – mit dem kosmischen Weitblick auf das Weltganze alsbald relativiert: »[S]o rollt doch dieser Planet immer noch freundlich durch den Himmelsraum, und die Frühlinge wiederholen sich, und die Menschen leben, genießen, und sterben nach wie vor.« Worauf es im Leben letztendlich ankomme, sei die Erstellung eines bürgerlichen Privatrefugiums, das entgegen den desaströsen Einschnitten bewahrt werden müsse: »Freiheit, ein eignes Haus, und ein Weib, meine drei Wünsche, die mir beim Auf- und Untergange der Sonne wiederhole, wie ein Mönch seine drei Gelübde!« (SW II: 683). Aber genau dieser Rückzug in die Familienidylle wird Jeronimo und Josephe nicht auf Dauer gegönnt. Ihre rein subjektivistische Darlegung der Katastrophe, das Erdbeben habe sie vor einem gewaltsamen Tod gerettet und wieder zusammengeführt, entpuppt sich als fataler Fehlschluss.127 Mit der drastischen Veranschaulichung des willkürlich umschlagenden Glücks trifft Kleist einen neuralgischen Punkt des Theodizeegedankens. Es mag zutreffen, wie Peter Horn argumentiert hat, dass die Erdbebennovelle der aufklärungsphilosophischen Theo­dizeedebatte keine grundlegend neuen Impulse beisteuerte.128 Jedoch setzt sich Kleist mit seiner kompromisslosen Aushebelung konventioneller Deutungs- und Denkmuster radikal von den deutschsprachigen Autoren des 18. Jahrhunderts ab, die sich mit dem Schrecken des Lissabonner Erdbebens auseinandersetzten. 127 Das

Motiv der durch das Katastrophenereignis religiös aufgeheizten Stimmung, die den abergläubischen Mob dazu verleitet, nach Schuldigen Ausschau zu halten, wird auch in der Sammlung authentischer Briefe thematisiert. Der Briefschreiber, der sich zusammen mit anderen protestantischen Kaufleuten auf einem Landgut in Sicherheit gebracht hat, fühlt sich von einer Gruppe aufgebrachter Portugiesen bedroht (vgl. Zwanzigster Brief an Herrn Nath in Lissabon 1114). Wie Jeronimo und Josephe droht ihm und seinen Gefolgsleuten die Gefahr, als Ketzer gesteinigt zu werden. Eine ähnlich prekäre Situation hat Kleist während seines Aufenthalts in Würzburg erlebt, dessen katholische Bewohner sich vor dem Vormarsch französischer Truppen fürchteten. Im Brief an Wilhelmine von Zenge (1780–1852) vom 11. (und 12.) September 1800 schreibt er, dass in kurzem hier eine Prozession stattfinde werde, »zur Niederschlagung der Feinde, und wie es heißt, ›zur Ausrottung aller Ketzer‹. Also auch Deiner und meiner Ausrottung« (SWII: 556). 128  »Der Theodizee-Streit seit Leibnitz und Wolff über die beste aller möglichen Welten, in der Gott Katastrophen wie das Erdbeben von Lissabon zuließ, war inzwischen fünfzig Jahre alt, und Kleist hat der Auseinandersetzung zwischen Voltaire, Maupertuis, Gottsched, Lessing, Mendelssohn, Kant und Rousseau nichts Neues hinzuzufügen« (92).

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6.  Die Darstellung des Lissabonner Erdbebens in den Bildmedien Die bildliche Gestaltung von Erdbebenkatastrophen ist von vornherein mit grundsätzlichen Hürden konfrontiert. Während der akuten Phase des Bebens, wenn die Grundfeste unter den Füßen zu wanken beginnen und wegzusacken drohen, gibt es keinen sicheren Betrachterstandpunkt. Als erstes erfolgt die instinktive Flucht aus der Gefahrenzone, nicht das Verweilen vor den hereinbrechenden Verheerungen. Innerhalb weniger Minuten setzen die seismischen Schwingungen dann auch wieder aus. Es ist diese begrenzte Zeitspanne, in der die Gebäude in sich zusammenstürzen und die überraschten Bewohner unter sich begraben, die den prägnanten Moment in den Unglücksbildern ausmacht. Übereinstimmend mit den Druckgraphiken der vorangegangenen Jahrhunderte wurde in den Kupferstichen des 18. Jahrhunderts, die Lissabons Untergang illustrierten, die Wucht der freigesetzten seismischen Energie anhand auseinanderbrechender und in Schräglage geratener Bauten veranschaulicht. Exemplarisch dafür ist der französische Einzeldruck »Lisbone Abysmée« (siehe Abb. 4, Seite 396). Die in der Bildecke rechts unten versammelte Menschengruppe wird Zeuge eines gigantischen Schauspiels. Vor ihnen versuchen verängstigte Menschen sich in Ruderbooten zu retten. Ein Schiff zerbricht im hohen Wellengang. Die befestigte Uferlinie bildet gleichnishaft eine Schaubühne, auf der vom Wind aufgepeitschte Flammen die wankenden Paläste und Kirchen Lissabons verschlingen. Wie die Boote auf dem Tagus scheinen die vormals standfesten Gebäude von einem heftigen Seegang erfasst worden zu sein. Der vor Augen geführte gleichzeitige Ansturm der Naturelemente widerspricht allerdings der tatsächlichen Chronologie der Katastrophe: Die verheerenden Begleiterscheinungen des Erdbebens – der Tsunami und der Städtebrand – sind erst im Verlauf von mehreren Stunden eingetreten. Augenzeugen, die wie die Gestrandeten auf dem obigen Kupferstich eine distanzierte Sicht auf Lissabon hatten, meldeten, dass die von den kollabierten Häusern aufsteigenden Staubwolken das schreckliche Ausmaß der Verwüstungen unmittelbar nach dem ersten Erdstoß verhüllt hätten.129 Die Absicht einer authentischen Wiedergabe in den Druckgraphiken 129 

Der anglikanische Pastor Richard Goddard aus dem englischen Swindon war zum Zeitpunkt des Erdbebens auf der Plattform der Festung São Jorge, dem höchsten Aussichtspunkt Lissabons. In seinem am 18. November 1755 verfassten Briefmanuskript beschreibt er, wie der aufgewirbelte Staub die Sicht auf die Verwüstungen verunmöglichte: »The Clouds of Dust from the falling Buildings obscur’d the brightest Sun I ever saw. But my Situation, involv’d in almost total Darkness surrounded with a City falling into Ruins, and Crouds of People calling for Mercy, while from the violent Convulsions of the Earth we expected every Moment to be swallow’d up, my Situation, I say, in these Circumstances is not to be imagined, much less can it be described« (unpag.). Weiterführend zu Goddards Augenzeugenbericht siehe Moleskys Beitrag »The Vicar and the Earthquake«. In ähnlicher Manier hat ein Seemann in einem Brief vom 19. November 1755 auf die Sicht versperrende Staubentwicklung verwiesen: »I observed at

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zerbricht an den konträren Aussagen aus den Erlebnisberichten. Wie bei der textlichen Aufarbeitung führt die Verdichtung des Unglücksverlaufs und die daraus gewonnene affektive Durchschlagskraft der Schreckensbilder zu einer Umgestaltung der historischen Faktenlage. Die übernommenen Darstellungskonventionen stehen im Widerstreit mit einer faktenorientierten bildkünstlerischen Darstellung des Lissabonner Erdbebens. Diesem Konfliktpunkt soll im Folgenden eingehender nachgegangen werden. Wie Susanne B. Keller aufgezeigt hat, entstanden nach dem Katastrophenereignis »verschiedene Typen bildlicher Darstellungen« (87). Dramatische Abbildungen der verwüsteten Königsstadt fanden auf Flugblättern, Einblattdrucken und in den Nachrichtenzusammenstellungen einen regen Absatz. Die Schilderung des Schreckens diente primär der Befriedigung eines sensationsbegierigen Publikums und eine exakte bzw. authentische Veranschaulichung des Erdbebendesasters entsprach nicht der Absicht der disseminierten Kupferstiche und Holzschnitte. Besonders verbreitet waren die »Vorher-Nachher«- oder vielmehr »Vorher-Währenddessen«Darstellungen des Erdbebens von Lissabon (vgl. Keller 88; Baum 142). Die topographische Ansicht der portugiesischen Hauptstadt vor dem Desaster wurde zusammen mit dem Bild »nach oder während des Bebens, vom gleichen Standpunkt« abgedruckt, wobei die Kontrastwirkung zum ersten Abbild »durch den umfangreichen Einsatz von imaginierten Bildelementen« sich ungemein verstärkte (Keller 88). Als Beispiel führt Keller ein Stichpaar an, das der Kurzverfaste Beschreibung der vortreflichen, mächtigen und reichen Haupt- und Residenz-Stadt Lissabon im Königreiche Portugall (1756) beigefügt wurde. Neben der »herkömmlichen Ansicht der Hafenstadt« trifft man auf eine »drastische, völlig imaginierte Szene« des Erdbebens (88). Dieses Ereignisbild konstituiert eine metaphorische Wiedergabe der Verheerungen und setzt insoweit »in gerader Linie die gleichnishafte Bildtradition der schlichten Sensationsbilder auf Flugblättern« fort (90). Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung ist Constanze Baum in ihrer Besprechung des Kupferstichpaars aus der Kurzverfaste Beschreibung gekommen. Den »Vorher-Nachher«-Bildfolgen wird pauschalisierend die Authentizität »in Hinblick auf Ort und Ereignis« abgesprochen – ein Defizit, das vielfach »an der schematischen Wiedergabe einzelner Gebäude und der Fernsicht auf die Stadt« besonders augenfällig wird (142). Folglich wirft Baum die These auf, »dass die durch Korrespondenten und Augenzeugen übermittelten Berichte […] ein exakteres Bild vermitteln, und die Texte in Gehalt und Qualität den Bildern überlegen erscheinen« (141). the time the city fell, the same happened on the opposite side of the river, where many houses also fell, and the steep sand came tumbling into the river, which rais’d such a dust, that for five minutes I lost sight of the city, river, and ships« (The Gentleman’s Magazine, London, Dezember 1755, Bd. 25, 559 f.).

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Eine vergleichende Durchsicht der Druckgraphiken, die in den Folgejahren nach dem Erdbeben die Zerstörung Lissabons abbildeten, verschafft jedoch ein differenzierteres Urteil über die Authentizität der Darstellungen. Sowohl in der textuellen wie auch in der bildlichen Veranschaulichung existieren qualitative Unterschiede. Druckereiwerkstätten in Augsburg und anderen deutschsprachigen Städten beabsichtigten möglichst akkurate Darstellungen der Unglücksereignisse anzufertigen. Aufgrund des Mangels an vor Ort erstellten Bildmaterialien lieferten althergebrachte Stadtansichten Lissabons und kursierende Sensationsmeldungen die notwendigen Referenzpunkte für die bildkünstlerische Aufarbeitung des Desasters. Bild und Text stehen in einem reziproken Verhältnis. Die »Vorher-Nachher«-Kata­ strophenansichten imitieren die narrative Struktur der Nachrichtensammlungen, deren zusammengestellte Schreckensschilderungen längeren Beschreibungen der Topographie und Geschichte Lissabons vorangehen. Von den Veduten wurden hingegen wesentliche kompositorische Elemente – der auf dem Tagus fixierte Betrach­ ter­standort und die schematische Wiedergabe der Gebäude – übernommen. Analog zu den Erdbebenberichten kommt es in den Kupferstichen ebenfalls zu einer Verschiebung des Sichtrahmens, sobald der Fokus auf das Elend der Katastrophenopfer fällt. Neben den »Vorher-Nachher«-Bildfolgen entstanden in Augsburg auch Nahansichten, die das traurige Los der Überlebenden außerhalb der ruinierten Stadt aufzeigen. Der Bildbetrachter wird auch hier mit einer Fülle von Kalamitäten konfrontiert. Allerdings liegt der Darstellungsschwerpunkt nicht mehr auf der zerstörerischen Wucht der Naturkräfte, sondern auf dem plastischen Aufzeigen staatlich verordneter Strafmaßnahmen: Das Grauen manifestiert sich im gewaltsamen Vorgehen gegen die drohende Anarchie in Lissabons Ruinen. Da die Zeichner für die Nahansichten auf keine Veduten zurückgreifen konnten, ist der veranschaulichte Schreckensschauplatz, wo die Ordnungskräfte gegen die Gesetzlosen ankämpfen, rein erfunden. Entsprechend weisen diese hochgradig stilisierten Druckgraphiken eine minderere Qualität auf. Hingegen erreichte zwei Jahre später die Wiedergabe von Lissabons Untergang mit der Kupferstichserie des französischen Grafikers ­Jacques-Philippe Le Bas (1707–1783) einen bildkünstlerischen Höhepunkt. In seiner Darstellung der Ruinen als pittoreske Monumente ist jeglicher Verweis auf die vorgefallenen Schrecknisse ausgeblendet. Auf den exquisiten Ansichten, die für ein Publikum des guten Geschmacks bestimmt waren, hat sich die Trümmerstätte vollends zu einem ästhetisierten, von der reell existierenden Notlage abgehobenen Schauobjekt gewandelt.

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a) Panoramas des Schreckens: Vogelschaubilder des Lissabonner Erdbebens Lissabons Vogelschaubilder vor dem Erdbeben fußen mehrheitlich auf topographische Ansichten, die bereits im 16. Jahrhundert angefertigt wurden. Der in den Physikalischen Betrachtungen inkorporierte »Grund-Riß der ehemahligen Stadt Lissabon« ist eine Variante der Ansicht »Olissippo quae nunc Lisboa«, die ursprünglich im 5. Band der Civitates Orbis Terrarum (1598) erschien. Dieses von Georg Braun zusammengestellte und teilweise von Frans Hogenberg (1535–1590) illustrierte sechsbändige Werk entstand in den Jahren 1572–1618 und diente bis weit ins 18. Jahrhundert als Referenz für wirklichkeitsnahe Veduten. Lissabons Prosperität wird durch die hohe Anzahl aufgelisteter Kirchen- und Regierungsgebäude kenntlich gemacht (siehe Abb. 5, Seite 397). Für die bildliche Darstellung des Erdbebendesasters kopierte der anonyme Kupferstecher den Grundriss nochmals, um auf dessen Folie die sich ereigneten Verheerungen anzubringen. Seine »Fürstellung des Erdbebens zu Lissabon« vereint die in den Physikalischen Betrachtungen beschriebenen Schrecknisse auf einer Bildfläche. Die über Stunden erfolgte Unglücksserie – die Erderschütterungen, die über die ufernahen Stadtplätze hinwegfegenden Wasserwogen und die sich ausbreitende Feuersbrunst – werden simultan aufgezeigt. Ein Vergleich mit der Bildlegende auf dem »Grund-Riß« erlaubt die Identifizierung der zerstörten Bauten, wie z. B. das Karmeliterkloster, die Kathedrale, die Dominikanerkirche und das Inquisitionsgebäude, deren Verlust von den Berichterstattern wiederholt beklagt wurde. Hervorstechend ist auch die Darstellung der panischen Menschenmasse auf dem »Rucio« Platz. Um der Momentaufnahme einen dokumentarischen Wert zu verleihen, rekurrierte der Kupferstecher auf die in Umlauf gebrachten Erdbebennachrichten und Augenzeugenberichte. Mit der Umarbeitung bzw. »Verwüstung« der über Dezennien kaum veränderten Stadtansicht Braun-Hogenbergs gelang es ihm, die plötzliche Verwüstung Lissabons sinnfällig zu vermitteln. Eine Gegenüberstellung mit den früheren Veduten verdeutlicht jedoch, dass bereits das Vorkatastrophenbild von der überlieferten Vorlage abweicht. In der am großen Platz horizontal gelegenen Häuserreihe wurde die Fassade des königlichen Palasts eingefügt. Der reich ausgestattete Bau nahm in den Schadensmeldungen eine prominente Rolle ein und musste deshalb in der Stadttopographie berücksichtigt werden. Dem Kupferstecher ist dabei aber ein Fehler unterlaufen. Der wirkliche Standort des Palastkomplexes befand sich direkt am Tagus, der auf den vorangegangenen Vogelschauansichten als »St. Thomæ Kirche« angegeben wurde. Infolge der Aktualisierung der Stadttopographie kam es zu einer irrtümlichen Rekonstruierung von Lissabons vergangener Pracht. Das Erdbeben verwandelte die portugiesische Hauptstadt nicht nur in ein konfuses Trümmerfeld, sondern führte gleichermaßen zu Verzerrungen in der Vorstellung ihres vorkatastrophischen Zustands (siehe Abb. 6, Seite 397).

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Entsprechende Inkongruenzen in der Bilddarstellung lassen sich im großformatigen Druckblatt eruieren, das nach 1756 in der Augsburger Druckereiwerkstatt von Tobias Conrad Lotter (1717–1777) angefertigt wurde (siehe Abb. 7, Seite 398). Wie sich herausstellen wird, ist die zweigeteilte »Vorher-Nachher«-Katastrophenansicht ein Flickwerk mannigfacher Bild- und Textquellen. Für den oberen Bereich, der »die prächtige Königl. Residenz-Statt in Portugall und florisanteste Handels Plaz am Ausfluß des Tagi« aufzeigt, verwendete Lotter einen ebenfalls zweigeteilten Kupferstich von seinem Schwiegervater, dem Augsburger Kartographen Georg Matthäus Seutter (1678–1757), den er im Gefolge des ungeheuren Interesses am Lissabonner Erdbeben für den erneuten Verkauf aktualisierte. Während die um 1730 entstandene Vorgängerversion deckungsgleich mit dem Stich »Olissippo« von Braun-Hogenberg ist, wurde in der Neufassung das Hafengelände weitläufig modifiziert. Um den Terreiro do Paço (»Ripe Regia«) herum sind Barockbefestigungen und eine Reihe gänzlich umgestalteter Zollhäuser entstanden. Links vom Königspalast (»Residentia Nova Regis«) ist ein veränderter Werftplatz (»Area Navale«) und ein vorher nicht vermerkter Prinzenpalast (»Palatium Princip.«) bzw. der Palàcio dos Corte Reais zu erkennen. Als Vorlage für die Überarbeitung des Palastplatzes wurde der Kupferstich »Prospect der königl. Portugiesischen Residentz zu Lisabona« herbeigezogen, den der Augsburger Kunsthändler Johann Michael Probst d. Ä. (1727– 1777) verlegte (siehe Abb. 8, Seite 399).130 Die darauf festgehaltenen Einzelheiten – der im manieristischen Stil erbaute Turm der Königspalasts, die doppelten Barockschanzen, die Kutschenprozession und der kelchförmige Brunnen – stimmen mit denjenigen auf Lotters Vogelschauansicht überein. Allerdings führte das limitierte Blickfeld der Bildkomposition zu einer Fehleinschätzung in der Situierung der Prachtbauten. Die rechteckige, neben dem Palastturm in den Tagus hinausragende Fassade ist eigentlich ein Seitenarm des Prinzenpalastes, den der Zeichner als freistehendes Einzelgebäude gedeutet und direkt neben die Königsresidenz eingefügt hat. Der untere Bereich des lotterschen Kupferstichs zeigt dagegen den »Ruin der Stadt Lisabona«. Verschiedene narrative Begebenheiten aus den Erdbebennachrichten werden ergreifend vor Augen geführt. Die abgeknickten, auf den Boden stürzenden Kirchtürme versinnbildlichen in konventioneller Manier die Wucht der Erderschütterungen. Am linken und rechten Bildrand tritt Qualm aus den Bergspitzen. Die in der Forschungsliteratur geäußerte Behauptung, Lotters Katastrophenbild sei »imagined« und »the shape of the town cannot be identified«, wider130  Eine

Kupferstichvariante von Probsts Palastansicht, die den Titel »Vuë de la place du Palais á LISBONNE« trägt, erschien bereits im vierten Band des Werks Les délices de l’Espagne et du Portugal (1707). Der Bruder Georg Balthasar Probst (1732–1801) verlegte dasselbe Sujet nach 1760 als koloriertes Guckkastenbild (vgl. dazu Kapff 13 f.; 380 f.) Weiterführend zur Bedeutung der Augsburger Verleger Seutter, Lotter und Probst im 18. Jhd. siehe Michael Ritter 153–162.

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spricht der Tatsache, dass der Umriss der ruinierten Königsstadt mit demjenigen der Panoramasicht Lissabons korreliert, die Seutter im unteren Bildteil der Vorgängerversion untergebracht hatte (Kozák et al. Iconography 51). Bei der perspektivischen Seitenansicht handelt es sich um eine Kopie der Vedute »Lisbona«, die erstmalig im zweiten Band der Civitates Orbis Terrarum (1572) abgedruckt wurde. Für die Gestaltung des Schreckenstableaus orientierte sich Lotter allerdings nicht an der Vorlage Seutters, sondern entnahm wesentliche Bildelemente einem Stich des Zürcher Verlegers und Kupferstechers David Herrliberger (1697–1777) (siehe Abb. 9, Seite 400). Die 1756 entstandene »Perspektivische und Exacte Abbildung der Mächtig- und Prächtigen Stadt Lisabon« ist eine weitere »Vorher-Nachher«-Darstellung des Erd­ bebens, die auf der Schablone von Braun-Hogenbergs »Lisabona« basiert. Auffallend ist, dass Lotter den im oberen Bildteil aktualisierten Uferabschnitt vom »Prin­ tzen Palast« bis zum »Königlicher Palast«, das »Indianisch Hauß« und die dahinter liegenden »Pack Häußer« flächendeckend übernahm. Gleichermaßen kopierte er die untere Momentaufnahme von »Lisabon, oder Ruinen dieser Mächtig- und Prächtig gewesnen Sdatt« nahezu vollständig. Während Herrlibergers Ruinenpanorama dasselbe stupende Ausmaß der Verheerungen aufweist, ist in Lotters Fassung das Blickfeld des Betrachters näher an das Geschehen gerückt. Die pathetischen Gebärden der fliehenden Figuren und die Trümmer der niederstürzenden Prachtbauten sind im größeren Detail sichtbar. Weiterhin wurde das Unglück auf dem ungestümen Tagus dramatischer gestaltet. Auf Herrlibergers Bild eilen die Menschen in die Boote; jetzt befinden sie sich inmitten der auftürmenden Wasserwogen. Um den dokumentarischen bzw. belehrenden Anspruch der Schreckensszenerien zu unterstreichen, wurde beiden Katastrophendarstellungen erklärende Bildbeschreibungen beigefügt. Die Textkartusche auf Lotters Stich verkündet in lateinischer und deutscher Sprache wie die Zusammenkunft aller Naturelemente eine der schönsten Städte Europas gänzlich zu Grunde richtete. Moralisierend wird betont, wie jedermanns »Vermögen, mit allen Königlichen Schäzen Reichthümern und Vermögen, das darinnen gewesen, in den Abgrund versenket worden seye.« Hingegen verdeutlicht der Zürcher Kupferstecher in seinem Bildkommentar die Absicht der Doppelansicht: »Lisabon war, wie hier vor Augen ligt, den 1. Nov. 1755 am Morgen Prächigst, am Abend aber Erschröcklich anzusehen.« Seiner Visualisierung der plötzlichen Umkehr gingen »Treffliche Kanzel=Rëden und andre Schriften« voran. Dass er die »erschröckliche Erd=Erschütterung« so exakt wie möglich wiederzugeben beabsichtigte, lässt sich anhand eines Vergleichs mit den »erhaltnen Schreiben« und Bilddokumenten belegen (siehe Abb. 10, Seite 401). Für die Wiedergabe von Lissabon ehemaliger Pracht lieferte eine im ersten Band der Beschreibung des Erdbebens (1756) beigelegte Vedute von minderer Qualität die direkte Vorlage. Auf dem »Prospect von Lisabon auf der Seite des Tagi« sind neben

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dem übereinstimmenden Grundriss des Palastplatzes und der linken Stadtmauer identische Schiffstaffagen zu erkennen. Bezeichnenderweise handelt es sich auch hier um eine überarbeitete Kopie eines 1741 im dritten Band von Annales d’Espagne et de Portugal erschienenen Kupferstiches, der den synonymen Titel »Vuë de LISBONNE du côte du Tage« trägt (siehe Abb. 11, Seite 401). Herrliberger interpretierte den missglückten Versuch des Zeichners, neben der königlichen Residenz den Corte Real Palast abzubilden, als eine dem Werftplatz angrenzende Häuserreihe. Infolgedessen situierte er den »Printzen Palast« weiter stromabwärts in der Nähe der St. Anton Kirche. Der Grund, weshalb dieses Gebäude überhaupt berücksichtigt wurde, erschließt sich aus einer Textpassage aus J. H. Kühnlins Erdbebenbericht Das glücklich und unglückliche Portugall und erschreckte Europa. Im Exkurs über »den dermahlichen warhaften Zustande der Stadt Lisabon« umreißt er akribisch den Verlauf der Verwüstungen: Denn schon den ersten Unglücks=Tage nehmlich den 1. Nov. ware das ganze Quartier wo der Königliche Pallast gestanden und der Theil wo der Adel und die vornehmsten Kaufleute gewohnet hatten, nehml. von der untersten Ecke der Stadt gegen Belem zu, wo die Kirche zu St. Anton gestanden an, und schreg hinauf bis zu dem Dominicaner=Kloster und dem Hause der Inquisition, von dar aber wieder herunter bis zu dem Carmeliter=Kloster, und weiters bis an dem Königl. Pallaste, und von dar wieder unten an den Pallast der Prinzen hin bis an St. Anton, mit der Ring=Mauer Landwärts, woran ein Franciscaner=Kloster, das Dominicaner=Kloster mit ihren Kirchen, nebst zerschiedenen andern gebauet waren, mit samt den Mauren am Tagus=Strohm eingefallen. (134 f.)131

Herrlibergers Koordinationspunkte – »St. Anton«, »Carmeliter«, »Königlicher Palast«, »Printzen Palast« – decken sich mit Kühnlins Beschreibung. Ein in den Neue Genealogisch=Historische Nachrichten veröffentlichter Brief vom 19. November 1755 erweist sich als zusätzliche Quelle für die in der Bildlegende aufgelisteten Sakralbauten. Diese führte der Korrespondent in derselben Reihenfolge an: Die alte Cathedral=Kirche, die Kirche der Dominicaner, der Carmeliter, und der heil. Dreyfaltigkeit, der Dom von S. Vincent und von St. Antonio, das Kloster der Augustiner=Eremiten, Graza zum Theil, St. Roch, das Prozeß=Haus der Jesuiten, 131 

Die Verbindung zwischen dem Verleger und Kupferstecher David Herrliberger und J. H. Kühnlins Werk lässt sich anhand einer Bekanntmachung in den Zürcher Donnerstags-Nachrichten (No. XVIII, 29. April 1756) verifizieren: »An gleichem Ort [Burg Maur, bey Zürich, Gerichts=Herr Herrliberger] ist zu haben das glüklich und unglükliche Portugall und erschrekte Europa […] von J. H. Kühnlin. Frankfurt und Leipzig. mit einem trefflichen Kupfer, für 30. kr. und ohne Kupfer 20. kr. […]« (unpag.). Beim erwähnten Kupferstich handelt es sich um Herrlibergers Darstellung von Lissabons Untergang. Diese wurde der seitenidentischen Ausgabe von Kühnlins Erdbebenbericht beigelegt, die 1756 »[g]edruckt mit Hauttischen Schriften« in Luzern erschien.

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worinnen die kostbare Capelle St. Johannis, das reichste Werck in der Welt von dieser Art sich befindet, die Kirche U. L. Fr. von Loretto, welche die National=Kirche der Italiener ist, die neue Kirche und viele andere sind von der Zahl derer, die verheeret worden. (12)132

Die Passage bestätigt, dass Herrliberger mit der Bezeichnung »alte Patrial Kirche« den Dom bzw. die Catedral Sé Patriarcal meinte. Auf den herkömmlichen Varianten der Vogelschaubilder Braun-Hogenbergs befindet sich der Standort des Doms allerdings unterhalb des Schlosses. Herrliberger versetzte ihn in den linken Stadtbereich oberhalb des Karmeliterklosters und platzierte an seiner Stelle die »Patrial Kirche«, bzw. »neue Kirche«. In Wirklichkeit befand sich dieser äußerst reich ausgeschmückte, um 1746 eingeweihte Sakralbau in der Nähe des Königspalasts. Weiterhin wurde aus dem Zollhaus das »Indianisch Hauß«. Diese eigentümliche Gebäudeverschiebung erklärt sich paradoxerweise durch den Umstand, dass der Zürcher Kupferstecher dem Inhalt von Kühnlins Schadensmeldung genauestens Folge leisten wollte und in die Schablone der tradierten Stadttopographie einzupassen versuchte: Ferner die ganze Reihe oben von der Dom=Kirchen an, bis herunter zu dem Indianischen Hause. Noch weiter die ganze Seiten von der nicht weit von der Dom=Kirche gestandenen neuen Patriarchal=Kirchen, welche ohnweit dem Schloße rechter Hand gestanden, an, und ganz herunter bis gleichfalls an das Indianische Haus; wo in der Mitte zwischen der Patriarchall= und der Dom=Kirche eine dreyeckigte Reihe Häuser mit einer Kirche und Kloster stehen geblieben. Ingleichen diejenige Reihe von der linken Seiten des Schlosses St. Georgen an, bis herunter auf den Schifs=Bau=Platze, wo die Pack=Häuser gestanden ist eingestürzet. (135)

Demnach wurden die auf dem unteren Schreckenstableau abgebildeten Brandherde nicht beliebig hinzugefügt, sondern stehen in genauer Korrelation mit der obigen Beschreibung. Herrliberger berücksichtigte sogar das »Dreieck« der intakt gebliebenen Gebäude, das oberhalb des von fliehenden Menschen überrannten Palastplatzes auszumachen ist. Entsprechend stimmen weitere Bildelemente, wie die unbeschädigten Bereiche im rechten Stadtteil und die qualmenden Bergspitzen am 132 

Das Schreiben wurde 1755 in Frankreich unter dem Titel Lettre d’un négociant de Lisbonne à son correspondant de Paris veröffentlicht. Die Auflistung der zerstörten Kirchen ist im Originaltext umfassender: »Les principales Eglises qui sont tombées, sont celle de la Trinité, de Sainte Catherine, de l’ancienne Cathédrale, des Dominicains, des Carmes, le Dôme de S. Vincent & celui de S. Antoine, des Minimes, la Grace des Augustins, le Spiritus Sancto des Oratoriens, de Sancto Francisco d’Alcantara, des Capucins, du Couvent de Jesus de Cordeliers de Sancto Paulo, de S. Roch, Maison Prosesse des Jesuites dans laquelle étoit la magnifique Chapelle de S. Jean, ouvrage le plus rich du monde, ainsi que leur Maison, qui avoit des trésors immenses, Notre Dame de Loreto, Eglise National des Italiens, l’Eglise neuve, & quantité d’autres (4 f.).

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Horizont mit Kühnlins Angaben überein. In seinen Ausführungen zu den Erderschütterungen in Portugal berichtete er, dass diese ganze Gebirgsketten umgeworfen hätten: Einige öffneten sich und bersteten, also, daß ganze Stücker in die Thäler hinab rollten und grosse Verwüstungen anrichteten: Wie dann an dem Vorgebürge Bouque die Spitze geborsten, und durch seinen Fall grossen Schaden gethan hat. (141 f.) 133

Sowohl Herrliberger als auch Lotter inkorporierten einen vielschichtigen Text- und Bildkorpus, um ihrer bildkünstlerischen Verarbeitung von Lissabons Untergang Authentizität zu verleihen. Ihre Anstrengungen diesbezüglich widerspricht der Annahme, dass die Visualisierung des Katastrophenmoments ausschließlich aus überbordenden Fantasievorstellungen resultierte. Insoweit ist Jan Kozáks and Vladimir Čermàks Urteil über die Darstellungsweise Lotters als unfundiert zu bewerten: Konrad Lotter, the author of the prospect, pasted the earthquake consequences into Seutter’s agreeable composition, and did not worry much about the authenticity of his depiction. Seismic damage to individual objects was illustrated according to word of mouth, and when not sure, the drawer mercifully clouded the respective localities by smoke of fires. Also, two small volcanoes shown on the vedute borders were added through drawer’s own effort to increase the dramatic impact of the scene of disaster. (Illustrated History 132)

Von weitaus größerer Bedeutung ist der Einfluss, den die Schreckensbilder und -meldungen auf die Ansichten Lissabons vor dem Zeitpunkt des Erdbebens ausübten. Das Desaster machte nicht nur die vielfach gedruckten Veduten BraunHogenbergs obsolet, sondern es verzerrte auch das Bild, das die Zeichner von der portugiesischen Hauptstadt am Höhepunkt ihrer Pracht erstellten. Zerstörte Bauten wie der Prinzenpalast und die neue Patriarchalkirche, die in den konstitutiven Standardansichten nicht vermerkt waren, führten bei Herrliberger und Lotter zu Unstimmigkeiten in der »exakten« Veranschaulichung von Lissabon. Andere in den Katastrophenberichten erwähnte Gebäude, von denen keine Abbilder erhältlich wa133  Ein

Brief vom 24. November 1755 beschreibt die vulkanistische Tätigkeit in und um Lissabon auf ähnliche Weise: »Die Gebürge, als wie Estrella, Arabida, Marvon und Monte=Junio sind starck erschüttert worden. Einige sind gar zerborsten, und man hat ungeheure Felsen=Stücke von ihren Spitzen bis in die Ebene mit Krachen herunter waltzen sehen. […] Indem der Umsturtz der Gebäude überall in der Stadt Schrecken und den Tod brachte, war ich so glücklich, mich auf freyem Felde zu befinden. Ich merckte, daß das Erdreich bis in seinen innern Grund erreget ward. Ich sahe dasselbe sich an verschiedenen Orten öffnen und ungestüme Feuer mit einem schwartzen dicken Rauche daraus aufsteigen. Das Schrecken über einen so fürchterlichen Anblick wird niemahls aus meinem Gedächtnisse kommen, und es schien mir alle Augenbli­ cke, als wenn ich unter den Feuern in das Centrum der Erde gestürzt werden würde« (Neue Genealogisch=Historische Nachrichten 20 f.).

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ren, erhielten nachträglich eine imaginäre Gestalt. Dies ist beispielsweise der Fall in Friederich Schoenemanns Kupferstich aus dem Jahr 1756. Die Legende zum großformatigen Lissabonner Panorama nennt neben den herkömmlichen Wahrzeichen auch das neu erstellte »Opern Haus«, »die Neue Kirche« und »das Haus von Braganca«. Vor dem Erdbeben fanden diese Bauten in den von Schoenemann herbeigezogenen Bildmaterialien keine Erwähnung oder wurden unter einem anderen Namen aufgeführt. Erst durch ihren plötzlichen Verlust sind sie als Phantomgebäude ins Blickfeld des Betrachters gerückt (siehe Abb. 12, Seite 402–403).

b) Nahansichten des Lissabonner Erdbebens Die 1756 von Johann Michael Roth herausgegebene Augsburgische Sammlung beinhaltet Kupferstiche, die neben distanzierten Ansichten auf das ruinierte Lissabon auch das vom Erdbeben bewirkte Menschenelend aus nächster Nähe aufzeigen. Inhaltlich und formal konstituieren sie ein emblematisches Gegenstück zu den Heimsuchungen aus den Berichterstattungen. Mannigfaltige Einzelschicksale häufen sich dicht gedrängt auf einer Bildfläche. Angesichts der ausgeprägt stilisierten Gestaltung des Unglücks bedarf es für dessen Lokalisierung der in den Titelüberschriften angegebenen Ortsbezeichnung. Im Gegensatz zu den auf Veduten basierenden Erdbebenansichten vollziehen sich die Heimsuchungen nicht auf einem der reellen Topographie nachempfundenen Katastrophenschauplatz. Dieser entstammt stattdessen gänzlich der Imagination des Zeichners. Folglich sind die Schreckenstableaus auch in ihrer bildlichen Darstellung nicht an einen spezifischen raumzeitlichen Kontext gebunden. Sie signalisieren allegorisierend den plötzlichen Verlust des Bestehenden, der auch dem Bildbetrachter jederzeit drohen könnte. Exemplarisch ist das Druckblatt »Prospect der Stadt Lisabona«, die der Zeichner Johann Gottfried Beck in drei klar umrissene Bildebenen strukturiert hat. Auf der Horizontlinie ist eine stereotype, mit Turmspitzen versehene Stadtsilhouette erkennbar. Die Bildlegende verdeutlicht, dass es sich dabei um »die Stadt Lisabon im Flor« handelt. Mit dem simultanen Aufzeigen der vor- und nachkatastrophischen Zeit wird der moralisierende Gehalt des Tableaus – die Vergänglichkeit des weltlich Existierenden – drastisch vor Augen geführt. Als Kontrast zur einst blühenden Metropole stellt im Mittelgrund die mit Rundbögen und Mauerresten übersäte Ruinenlandschaft die jäh eingetroffene Verwüstung Lissabons dar. Die Königsstadt hat sich gänzlich zu einem locus terribilis gewandelt, in dem die Ordnungshüter vehement gegen die ausgebrochene Anarchie ankämpfen. Diebe und Mörder werden von der Soldateska niedergestreckt oder dem Scharfrichter vorgeführt. Im Vordergrund dominiert hingegen das Grauen der verschütteten und erschlagenen Stadtbewohner (siehe Abb. 13, Seite 404). Am unteren Bildrand liegen neben einem

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Haufen verstreuter Wertsachen die ausgestreckten Leichname einer Mutter mit ihren Kindern und zweier Kapuzinermönche. Eine um sie versammelte Schar von Überlebenden bejammert den Tod dieser schutzbedürftigen Mitmenschen. Wie im von J. H. Kühnlin angeführten Schreckenstableau der zurückkehrenden Stadtbewohner kommt es hier auch zu einer Verdoppelung der Betrachterperspektive. Die aufrichtige Betroffenheit der abgebildeten Zuschauer führt die angemessene Rezeption des Unglücks vor. Ungeachtet ihrer standesmäßigen Herkunft und ihres sittlichen Betragens sind sie allesamt Opfer der entfesselten Naturgewalten geworden. Die augenscheinliche Ohnmacht führt einerseits zu Sympathie- und Demutsbekenntnissen, andererseits fordert sie auch das tätige Eingreifen heraus. Auffallend ist dabei das geschlechterspezifische Verhalten der Bildfiguren: Die Männer greifen als Geistliche, Uniformierte und Rettende aktiv ins Geschehen ein, während die Frauen ausschließlich passive Rollen – Trauernde, Verletzte oder Umgekommene – einnehmen. Zudem fällt in der unteren Bildhälfte ein eng beieinander stehendes Elternpaar ins Auge, dessen Kinder gebannt die Bergung einer Klosterfrau beobachten. Umgeben von den Schrecknissen stellt die Familie ein intakt verbliebener Nukleus dar, den zwei mit Hellebarden bestückte Soldaten beschützen. Im Gegensatz dazu werden links auf gleicher Bildhöhe zwei Übeltäter zu ihrer Hinrichtung abgeführt. Trotz des drastischen Ausmaßes der Wirrnisse vermögen die geistlichen und staatlichen Machtinstanzen die Oberhand über die Krisensituation zu bewahren. Die unaufhaltsame Wucht der Erdstöße hat sich längst verflüchtigt. Indessen verkündet das plakative Aufzeigen der Exekutionsmethoden – die auf der linken und rechten Bildhälfte aufgestellten Galgen und der zentral situierte Scheiterhaufen – den unerschütterlichen Autoritätsanspruch der Regierungsgewalt (vgl. Physikalische Betrachtungen 146). Entsprechend liegt das Hauptanliegen des Schreckenstableaus nicht in der Vergegenwärtigung der ehrfürchtigen Natur- bzw. Gottesmacht. Mit der Hervorkehrung des moralischen Übels und des allgegenwärtigen Leids wird vielmehr die Einsicht vermittelt, dass das Unglück die praktischen Gegenmaßnahmen einer hart durchgreifenden Strafjustiz und tatkräftiger Hilfeleistungen erfordert.

c) Gottes Präventivschlag gegen die Ungläubigen: die bildliche Darstellung der Erdbeben von Fez und Meknès Die Augsburgische Sammlung führt einen Bericht mit dem Titel »Zuverläßige Historische Nachricht« an, der ausführlich die Erdbebenschäden auf der iberischen Halbinsel und in Nordafrika auflistet. Ferner werden seismische Sekundärwirkungen in Deutschland, Frankreich, England, Schweden und in der Schweiz erwähnt, wodurch der Eindruck entsteht, dass die »vortrefflichen Maaß=Regelen der Vorsehung

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und Regierung Gottes« in ganz Europa in Erscheinung getreten waren (unpag.). Trotz der großflächigen Verheerungen beschränkt sich der Bildfundus vorwiegend auf das Erbeben von Lissabon. Eine Ausnahme bilden die Kupferstiche, die den Untergang der marokkanischen Städte Fez und Meknès vor Augen führen. In der Augsburgische Sammlung wurden sie ausschließlich im Zusammenschluss mit den Nahansichten von Lissabons ruiniertem Zustand abgedruckt. Diese Doppelbilder, die in der Forschungsliteratur bislang kaum Erwähnung fanden, bestätigen sowohl den absoluten Machtanspruch der bestehenden Regierungsgewalten als auch die beständige Wachsamkeit des höchsten Richters über das christliche Europa.134 Während die Lissabonner auf einen gesellschaftlichen Neuanfang hoffen konnten, wurden die vermeintlichen Erzfeinde des Christentums durch die Erderschütterungen gänzlich aufgerieben. In der von Johann Gottfried Beck erstellten Doppelansicht »Lisabona« und »Fetz« wird auf dem linken Bild die Majestät des portugiesischen Monarchen prominent zur Schau gestellt. Gemeinsam mit seinem Hofstatt hat er außerhalb der Trümmerstätte eine sichere Zuflucht gefunden. Zu seinen Füßen befinden sich die treu ergebenen Untertanen; eine weitere Menschenschar umringt den päpstlichen Nuntius. Gemäß der Bildbeschreibung verkündigt er den Segen, der die Kranken und Sterbenden »recht inniglich erquickt« (unpag). Von einer durch das Unglück hervorgerufenen Ständenivellierung kann an dieser Stelle nicht die Rede sein.135 Mit dem Aufzeigen des gewaltsamen Durchgreifens gegen die Gesetzlosen bestätigt der Kupferstich die Souveränität des Königs auf eine unmissverständliche Weise. Im Unterschied zum Locus amoenus des Zeltlagers sind die Ruinen ein Ort des Schreckens verblieben. Demonstrativ werden dort die Unruhestifter erhängt oder verbrannt. Der Sinngehalt des Unglücksbilds verweist unweigerlich auf das notwendige Weiterbestehen der vorkatastrophischen Staatsordnung (siehe Abb. 14, Seite 405). Ein drastischer Kontrapunkt stellt die Ansicht der »Haupt-Stadt Fetz« dar. Der in der Bildmitte hilflos dastehende »Printz von Marocco« ist umgeben von Chaos 134  Kozák

et al. haben eine Variante der Doppelansichten im Bildband Iconography of the 1755 Lisbon Earthquake (2005) angeführt (vgl. 44 f.). Dabei handelt es sich um eine 1756 von Peter Richter herausgegebene Flugschrift, deren Illustrationen auch in der Augsburgische Sammlung abgedruckt wurden. 135 Übereinstimmend wurde im dritten Stück der Nachrichtenkompilation Die traurige Verwandlung von Lissabon (1756) die Standhaftigkeit und Fürsorge des portugiesischen Staatsoberhaupts gepriesen: »Se. Maj. hatten sich kaum von dero ersten Schrecken erholt, als alle ihre Sorgen auf deren Unterthanen gerichtet waren, deren elender Zustand sie am meisten rührete, denn das, was sie selbst betraf, schätzten sie für nichts, indem sie erwegeten, daß die Könige darum über ihre Unterthanen erhoben sind, damit sie ihnen ihr Glück befördern, oder ihnen in ihrem Unglück Trost verschaffen sollen. Die Gegenwart des Geistes, womit dieser Monarch seine Befehle ertheilet, hat den niedergeschlagenen Muth derjenigen von neuem belebet, welchen die Ausführung seiner Willens-Meynungen auferleget war« (33 f.).

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und Verderben. Während der »Welt Monarch aus Lissabon« durchgreifende Maßnahmen gegen die drohende Anarchie zu implementieren vermag, gibt es für die »Mohren« kein Entkommen vor den übermächtigen Naturgewalten (unpag.). Gewaltige Wellen schwemmen die zusammenbrechenden Bauten weg, das Beben wirft das Zeltlager durcheinander und die Gefolgsleute des Prinzen werden allesamt von der Erde verschlungen. In übereinstimmender Manier wurde die Verwüstung der marokkanischen Königstadt Meknès wiedergegeben. Dieselben paradigmatischen Gestaltungselemente des Erdbebens – die Wasserwogen, die umfallenden Häuser, das Zeltlager, und die in die Erdspalten versinkenden Menschenmassen – treten ungeachtet einer realitätsgetreuen Landestopographie auf. J. H. Kühnlin hat das bei Meknès ereignete Unglück ausführlich kolportiert. Es ist wahrscheinlich, dass seine Beschreibung gleichermaßen als Vorlage für die bildliche Darstellung von Fetz’ Untergang diente (siehe Abb. 15, Seite 405): Die Stadt Meguinez, als die dermahlige gewöhnliche Residenz der Könige von Marocco, welche wegen ihrer angenehmen Gegend und gesunden Luft eine schöne, grosse, ansehnliche und wohlgebaute Stadt nur seit wenig Jahren, so lange nehmlich der jetzige Kaiser sie zur Residenz gemachet geworden, und 7. deutsche Meilen Westwerts von der Stadt Fez lieget, und nun die Haupt=Stadt des ganzen Kaiser­ thums gewesen, ist fast gänzlich von der Erden verschlungen worden. Sie war von grossem Umfange: Wie dann nur allein das prächtige Kaiserliche Schloß eine deutsche Meile im Umkreis gehabt hat. Zwey benachbarte Berge sind geborsten und über die Stadt gefallen: Aus der Oefnung dieser Berge ist ein sonderbares Wasser gelaufen, welches in einer gewissen Entfernung blut roth ausgesehen, und gleichsam einen neuen Strohm gemachet, welcher viele Tage sehr schnell geflossen. V ­ iele Menschen sind dabey zu Grunde gegangen: Wie dann ein nur allein vor dieser unglücklichen Stadt ein ganzes Lager von 12000. Mann, welches wenige Stunden davon campiret und an deren Spitze der Sohn des Kaisers selbsten gewesen, in die Erde gesunken seyn solle; also, daß wenige von diesem Barbarischen Heer davon gekommen. (197 f.)

Bezeichnenderweise preist Kühnlin anschließend den Tod der Andersgläubigen als einen Präventivschlag Gottes gegen die barbarischen Kriegsheere: Durch diese Verwüstungen sind zugleich nach der Allweisesten Fügung den Unternehmungen der Barbaren, als Erz=feinde unsers Heil. Christl. Glaubens, gegen die Christen, und besonders des Maroccischen Kaisers Sultan Sidy Mahomet seinen, welche er auf einige Christliche See=Provinzen, insonderheit aber gegen Engelland vorgehabt, GOTT Lob ein Ende gemachet worden: Denen übrigen Potenzen aber, welche nicht so sehr geschädiget, ist doch wenigstens Einhalt geschehen den Krieg gegen uns mehr stark fortzusetzen. (199)

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Anhand der herbeigezogenen Textstellen lassen sich die Unterschiede in den Unglücksbildern stichhaltig erklären. Fundamental richtet sich die propagandistische Instrumentalisierung des Schreckens gegen allfällige Verunsicherungen über die bestehenden Machtverhältnisse. Unter der Schirmherrschaft des von Gott beschützen Monarchen eröffnet sich für Lissabon die Möglichkeit eines erneuten Aufblühens. Der Verlust der materiellen Besitztümer gestaltet sich zu einem herkömmlichen Sinnbild der menschlichen Fallibilität. Keinesfalls darf er als Vorwand für einen Umbruch des politischen Systems gedeutet werden, der unweigerlich in Gesetzlosigkeit ausarten würde. Den nichtchristlichen Barbaren hingegen wird keine Gnade zugestanden. Nicht die Bedrohung anarchistischer Zustände steht im Blickfeld, sondern der unaufhaltsame Ansturm der Naturgewalten. Dieser ist analog zu den Scheiterhaufen und Galgen eine gerechtfertigte, von Gott sanktionierte Strafmaßnahme gegen die Unheil bringenden Übeltäter. Wie Jürgen Nieraad herausgearbeitet hat, zielen die Riten der öffentlichen Bestrafung im 18. Jahrhundert, die sich »in der rechtskräftigen Vernichtung oder der Konditionierung des Übeltäters« äußerten, die symbolische Wiederherstellung der gestörten Gesellschaftsordnung an (31 f.).

d) Der entrückte Schrecken: Jacques-Philippe Le Bas’ antikisierende ­Druckgraphiken der Ruinen Lissabons Zu den verbreitesten Bilddokumenten über das Erdbeben von Lissabon gehört die Serie von sechs Kupferstichen, die 1757 vom Kupferstecher Jacques-Philippe Le Bas mit dem Titel Receuil des plus belles ruines de Lisbonne in Paris herausgegeben wurde. Die Sammlung präsentiert verwüstete Prachtbauten wie den kollabierten Turm von St. Roque, die Paulskirche und das erst vor kurzem fertig gestellte Opernhaus als malerische Ruinen. Dem Titelblatt ist zu entnehmen, dass die Stiche Skizzen entstammen, die von »M.M. Paris« und »Pedegache« an Ort und Stelle angefertigt wurden. In verschiedenen Beiträgen wurde die Vermutung aufgestellt, dass es sich bei dem einen Künstler um Miguel Tibério Pedegache Brandâo Ivo handeln könnte, der in den französischen Zeitschriften Journal Étranger (Dez. 1755, 235–239) und Mercure de France (Jan. 1756, 214–218) zwei Augenzeugenberichte über das Lissabonner Erdbeben abdrucken ließ. Darin drückt er typisierend das Unvermögen aus, den erfahrenen Schrecken angemessen in Worten zu fassen und führt in seiner Liste der zerstörten Gebäude auch diejenigen an, die von Le Bas festgehalten wurden. Anders als die auf den Flugblättern verbreiteten Sensationsmeldungen und -bildern sind diese Stiche frei von überschwänglichem Pathos. Auf den von Schutt befreiten Plätzen und Straßen flanieren Spaziergänger unbetrübt durch die Überreste der Königstadt. Keiner der abgebildeten Personen ist am Wiederaufbau betei-

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ligt oder geht einer anderweitigen Erwerbstätigkeit nach. Die zur Schau gestellten Ruinen ragen infolge der tief angesetzten Horizontlinie in die unbegrenzte Himmelsfläche empor. Ihre Monumentalität wird durch die perspektivische Sicht auf entfernte Gebäudefassaden und die Platzierung von Repoussoirelementen im Vordergrund herausgestrichen. Wie Constanze Baum angemerkt hat, stellt Le Bas’ Bilderfolge ein Novum in der Dokumentation seismischer Schadenswirkungen dar (143–147). Die äußerst detaillierten, exakt angefertigten Ansichten suggerieren den Anschein einer authentischen Darstellung der Verwüstungen. Jedoch unterschlägt die Wiedergabe der Ruinenlandschaft gänzlich das vom Erdbeben herbeigeführte Menschenelend (vgl. Keller 93 f.). Auf dem zweiten Bild der Stichfolge deutet nichts darauf hin, dass die massiven Trümmer der »Eglise de Paul« die versammelten Kirchgänger unter sich begruben.136 Die Häuserzeilen auf der linken und rechten Bildseite sind teilweise intakt geblieben oder neu aufgebaut worden. Wucherndes Gebüsch wächst auf den gezackten Mauerzinnen der Paulskirche. Die aufkeimende Vegetation, ein ikonographisches Detail, das in den anderen Blättern ebenfalls zu erkennen ist, deutet auf die schleichende Überhandnahme der Natur hin. Dadurch entsteht der Eindruck, dass der Zerfall der Gebäude nicht eruptiv, sondern durch graduelle Einflüsse entstanden ist. Der Zeitpunkt der hereingebrochenen Tragödie ist in weite Ferne gerückt: Lissabons Ruinen nehmen einen antikisierenden Charakter an (siehe Abb. 16, Seite 406). An verschiedenen Stellen wurden die stilistischen Überschneidungen von Le Bas’ Bilderfolge mit den zeitgleich entstandenen Stichen antiker Monumente erörtert. Die Werke von Robert Wood (1717–1771) (The Ruins of Palmyra, otherwise Tadmor in the desart (1753)), Giovanni Battista Piranesi (1720–1778) (Le Antichtà Romane (1756)) und Julien-David Leroy (1724–1803) (Les Ruines des plus beaux monuments de la Grèce (1758)) haben alle die ästhetische Rezeption römischer und griechischer Monumente entscheidend geprägt und popularisiert.137 Ein Blick auf Piranesis und Leroys Ruinendarstellungen verdeutlicht, dass Le Bas dieselben Darstellungstechniken und -motive – wirkungssteigernde Licht-Schatteneffekte, Staffagefiguren und von Ranken überwucherte Gemäuer – inkorporierte. Die Stiche weisen prägende Elemente des Pittoresken auf, die der englische Maler William Gilpin (1724–1804) in seinen Three Essays: On Picturesque Beauty; On Picturesque Travel; and on Sketching Landscape (1792) schlüssig zusammenfasste. Der wesentlichste Unterschied zwischen dem Schönen und dem Pittoresken, so konstatiert er, liege in 136 

Der englische Kaufmann Walter Bradick berichtete, dass er nach der ersten Erderschütterung auf den offenen Platz vor der Paulskirche geflüchtet und beinahe Zeuge vom Einsturz des Gewölbes geworden sei: »St. Paul’s church […] had been thrown down a few minutes before, and buried a geat part of the congegration, that was generally pretty numerous, this being reckoned one of the most populous parishes in Lisbon« (Davy II: 22). 137  Vgl. Baum 143; Lingesleben 172.

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»roughness« – in der rauen Oberfläche von Objekten (vgl. 6 f.). Insofern figurieren die Ruinen als bevorzugte Sujets für den Künstler »But among all [t]he objects of art, the picturesque eye is perhaps most inquisitive after the elegant relics of ancient architecture; the ruined tower, the Gothic arch, the remains of castles, and abbeys« (46). Um den erwünschten Effekt pittoresker Schönheit herbeizuführen, sei es notwendig, die glatte Oberfläche und Kontur schöner Gegenstände aufzubrechen. Gilpin illustriert seinen Standpunkt am Beispiel der gewaltsamen Zertrümmerung eines klassizistischen Baus: A piece of Palladian architecture may be elegant in the last degree. The proportion of it’s parts – the propriety of it’s ornaments – and the symmetry of the whole, may be highly pleasing. But if we introduce it in a picture, it immediately becomes a formal object, and ceases to please. Should we wish to give it picturesque beauty, we must use the mallet, instead of the chissel: we must beat down one half of it, deface the other and throw the mutilated members around in heaps. In short, from a smooth building we must turn it into a rough ruin. No painter, who had the choice of the two objects, would hesitate a moment. (7 f.)

Der künstlerischen Gestaltung des Pittoresken liegt ein Element der Zersetzung bei. In Hinsicht auf das zerstörte Lissabon versetzte das Erdbeben die vergänglichen Prachtbauten schlagartig in einen ruinösen Zustand, den das »picturesque eye« mit Wohlgefallen wahrnimmt. Somit trug die Katastrophe zur Darstellung der malerischen Ansichten bei und ist somit als Bestandteil des kreativen Schaffensprozesses zu betrachten. Die initiale, mit Schrecken behaftete Phase der Transformation ist abgeschlossen. Nun liegt es am Künstler, mittels pittoresker Kompositionselemente die inhärente Schönheit der Ruinen herauszuarbeiten. Festgehalten in vollendeten Bildern finden die Spuren der entfesselten Naturgewalten ihre eigentliche Bestimmung durch die künstlerische Verarbeitung. Über den Weg der Kunst erhalten die Verwüstungen einen Sinngehalt, der sich nicht im Dickicht diskursiver Erklärungsversuche verstrickt. Allerdings steht die vorsätzliche Ästhetisierung bzw. inszenierte Antikisierung des Katastrophenschauplatzes in einem Spannungsverhältnis zum aktuellen Zeitgeschehen. Während die Ruinen des Altertums die Permanenz klassizistischer Kunstnormen bezeugten, waren die Überreste von Lissabons vergangener Pracht von keiner Dauer. In den kommenden Jahrzehnten wichen die Trümmer dem aufklärerischen Vorhaben des portugiesischen Ministers Marquês de Pombal (1699–1769), die verwüsteten Viertel gemäß einem geometrisch ausgelegten Stadtplan wiederauferstehen zu lassen.138 Somit unterminiert die stark ästhetisierende Wiedergabe 138 

Sebastiâo José de Carvalho e Mello, der spätere Marquês de Pombal, amtierte als portugiesischer Staatsminister während der Regierungszeit José I. Seine gewichtige Rolle in der Bewäl-

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der Ruinen den Anspruch der Bilderserie, authentisch zu sein. Im Unterschied zu jüngeren Forschungsbeiträgen hat Thomas Kendrick bereits erkannt, dass Le Bas’ Ansichten »little documentary value« besitzen (37).139 Es stellt sich die Frage, inwiefern die Zeitgenossen eine derartige Beschönigung von Lissabons Untergang rechtfertigten. Sicherlich war sich Le Bas bewusst, dass die Ruinenbilder aufgrund der breitgefächerten medialen Inszenierung des Desas­ ters auf ein großes Publikumsinteresse stoßen würden. In der Ankündigung der Kupferstichsammlung im Journal l’Année littéraire (Bd. 2, 1758) wurden insbesondere die formalen Aspekte der jeweiligen Stiche gerühmt: Les vûes sont ornées de figures avec beaucoup d’esprit, & leur proportion donne une idée de la grandeur géométrale des monuments qu’on y a représentés; les règles de la perspective y sont d’ailleurs observées, & le burin de M. le Bas n’a pas peu contribué à donner à ces Estampes tout l’effet d’un beau tableau. (23 f.)

Dank seiner überragenden Kunstfertigkeit ist es dem französischen Kupferstecher gelungen, den Ruinen Größe und Schönheit zu verleihen. Bereinigt vom akuten Schrecken und dem historischen Kontext enthoben lassen sie sich zu anziehenden Schauobjekten ummünzen. Um beim Kunstverständigen etwaige moralische Skrupel auszuräumen, wird in der Ankündigung klar zwischen dem Interesse und dem Vergnügen an den Verwüstungen differenziert. Aufgrund der vom Erdbeben verbreiteten Betroffenheit sei man einerseits dazu geneigt, sich die Drucksammlung anzueignen. Andererseits erschließt sich das ästhetische Wohlgefallen ausschließlich am Modus der künstlerischen Mimesis und nicht am Bildinhalt – ein Argument, das an das vierte Kapitel der aristotelischen Poetik gemahnt: Je ne doute point, Monsieur, que vous ne voyez cette collection avec une forte d’intérêt, parce que tous les coeurs sensibles & vertueux ont pris part à ce terrible événement, & avec beaucoup de plaisir, par la manière dont sont rendues ces ruines qui, à plus d’un égard, méritent d’occuper une place distinguée dans les Bibliothèques, dans les porte-feuilles & dans les cabinets des amateurrs de cette Capitale & de nos Provinces. (24)140 tigung der Erdbebenkatastrophe und im Wiederaufbau Lissabons wurde in der Forschungsliteratur ausführlich behandelt. Siehe dazu u. a. Cheke 62–87, Kendrick 73–81 und Löffler 148–160. Reinhold Schneider (1903–1958) machte Pombal zur Hauptfigur in seiner historischen Novelle Das Erdbeben (1932). Vgl. dazu Godinho 422–434. 139  Vgl. die gegenteilige Aussage: »In conclusion, it should be pointed out that the Le Bas series represents the first exact and systematic documentation of the damage caused by an earthquake« (Kozák et al., Iconography 48). 140  Vgl. ergänzend hierzu Susanne B. Kellers Bemerkung zu dieser Passage: »Die vorgeführten Ruinenlandschaften Lissabons werden als geschmacksvolle Kompositionen gewertet, wobei der Hinweis auf den historischen Anlass der Zerstörung in den Hintergrund tritt. Das Erdbeben

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Als ästhetisierte Anschauungsgegenstände, deren sachliche Gestaltung eine sensationalistisch-plakative Vermittlung moralischer Ermahnungen unterbindet, offerieren die Ruinenansichten eine breite Projektionsfläche, die zu unterschiedlichen Interpretationsansätzen animieren. Insbesondere die Figurengruppen geben Rückschlüsse auf das beabsichtigte Zielpublikum der Stiche. Auf dem dritten Druckblatt der Folge mit den Untertiteln »Basilica de Santa Maria« und »La Cathedrale« ist im Vordergrund eine Gruppe von vier Personen erkennbar. Drei von ihnen scheinen ein Gespräch über die in den Himmel ragende Ruine der Kathedrale, die Igreja da Sé, zu führen. Ihrem abgeklärten Betragen und ihrer gepflegten Bekleidung nach gehören sie der Gesellschaft des guten Geschmacks an und agieren somit als idealisierte Identifikationsfiguren für den Betrachter. Zur Partie hat sich auch ein zerlumpter Mann gesellt, dessen Aufmerksamkeit nicht der Ruine, sondern einem Hund gilt. Mit seinem gebückten Rücken, Gehstock und Holzbein ist der Bettler selbst eine Ruine. Seine Präsenz betont kontrastierend den gehobenen Stand der Besucher (siehe Abb. 17, Seite 406). Variationen einzelner Druckblätter aus Le Bas’ Kupferstichfolge sind bis weit ins 19. Jahrhundert in Beiträgen über das Lissabonner Erdbeben aufzufinden. Insbesondere die Ansicht der ruinierten Kathedrale wurde in meist minderer Qualität nachgebildet. Auffällig ist, dass auf den Kopien das pittoreske Beiwerk der wuchernden Vegetation gänzlich fehlt. Hingegen wurde die auf der linken Bildseite situierte Basilika, die sich in Wirklichkeit an anderer Stelle befand und sich als eingefügtes Cappricio herausstellt, vorbehaltlos übernommen.141 Bedeutender ist allerdings der Rekurs auf stereotype Schreckensmotive. Die im Prager Wochenblatt Das wohlfeilste Panorama des Universums (1836) abgedruckte Illustration »Die Ruinen der Kathedralkirche zu Lissabon während des Erdbebens 1755« zeigt statt der ursprünglichen Besuchergruppe einen hingestreckten Toten, dessen Frau anklagend die Arme gegen den Himmel erhebt (229).142 Weiterhin sind krude gezeichnete Strichfiguren zu erkennen, die aus der Gefahrenzone fliehen. Angesichts der von Lissabon diente als Vorwand für die Schaffung einer eleganten Kunstmappe, die dem ästhetischen Genuss ganz bestimmter gesellschaftlicher Kreise dienen sollte« (99). 141  Vgl. folgende Information aus dem Ausstellungskatalog Triomphe du baroque: »Au fond, du côté gauche, l’edifice circulaire et dont la partie supérieure est détruite, est l’église Santa Engrácia (1682–1690) […]. Sa situation n’est pas vraisemblable. Ce sont les dessinateurs, chargé du relevé des ruines, qui décidèrent de la présenter comme une victime tragique de la catastrophe« (Algeria 323). 142  Vgl. den korrespondierenden Begleittext im Prager Wochenblatt, worin das Zusammenstürzen der Kirchen während des Lissabonner Erdbebens beschrieben wird: »Andere suchten in den Kirchen Rettung, die zahlreichen Tempel faßten kaum die Menge der Versammelten; sie wurden alle von den niederstürzenden Mauern zerschmettert, und mehre, denen die Trümmer Raum zum Athmen und zur Bewegung ließen, schrieen vergebens nach Hilfe, niemand hörte ihren Angstruf, und wer ihn hörte, war zu sehr mit Erhaltung des eigenen Lebens beschäftigt; die Unglücklichen blieben lebendig begraben, und starben einen gräßlichen Hungertod« (231).

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Diskrepanz zwischen den pathetischen Motiven und dem statisch-melancholischen Gesamteindruck der Trümmerstätte ist die vom Kopisten angestrebte Redynamisierung des Katastrophenschauplatzes missglückt (siehe Abb. 18, Seite 407). Eine qualitativ anspruchsvollere Variation, die den irreführenden Titel »Ruins of Lisbon Cathedral, after a Drawing of 1755« trägt, ist 1890 in der englischen Übersetzung von Arnold Boscowitz’ (1826–) Abhandlung Earthquakes erschienen (181). Die von Le Bas vermiedenen sensationalistischen Darstellungsinhalte finden auch hier Einlass, wobei die ruinierte Kathedrale, das eigentliche Hauptaugenmerk des Originalstiches, als Kulisse multipler Unglücksereignisse fungiert. Eine verzweifelte Menge versucht ihre verschütteten Mitmenschen aus dem Schutt und den klaffenden Erdspalten zu bergen. Helfer schaffen Schwerverletzte vom Ort des Grauens weg. Während in Le Bas’ Originaldruck sich die Aufmerksamkeit der Staffagefiguren auf die Ruinen richtet, ist jetzt im Vordergrund ein Mann erkennbar, der im Beisein trauernder, schwarz bekleideter Frauen demonstrativ auf das Leid der Katastrophenopfer zeigt. Die in den Unglücksschilderungen vorherrschende rhetorische Figur des deiktischen Verweises findet hier ihre bildliche Entsprechung. Unweigerlich ist die von den »plus belles ruines de Lisbonne« ausgehende kontemplative Stimmung verflogen. Der Schreckensmoment des Desasters ist zurückgekehrt und dominiert gänzlich die Bildfläche (siehe Abb. 19, Seite 407). Resümierend ist festzuhalten, dass die Emotionalisierung der Katastrophe ein grundlegendes Kriterium in der Darstellung des Lissabonner Erdbebens ausmacht. Selbst die im 19. Jahrhundert erstellten Erinnerungsbilder beinhalten nach wie vor Stilelemente frühneuzeitlicher Schreckenstableaus. Deutung und Darstellung stehen in einem Widerspruch: Die Gestaltung des außerordentlichen Katastrophenereignisses, das die Grundfeste des philosophischen Optimismus vermeintlich erschütterte, orientiert sich an eine äußerst konventionelle Bildsprache. Das veranschaulichte Menschenleid ist Bestandteil eines furchterregenden Spektakels, das auf die Freisetzung kathartischer Gefühle abzielt. In den Druckgraphiken des 18. Jahrhunderts wird das Erdbebenunglück in eine gewaltige Schaubühne des göttlichen Zorns überführt, die die moralisierende Sinngebung aus den Berichten komplementiert. Der gesellschaftsdisziplinierende Aspekt kommt insbesondere in den Nah­ ansichten zur Geltung, in denen die Bedrohungen für bestehenden Herrschaftsordnung – Plünderer, Gottlose und feindliche Kriegsheere – gewaltsam aus der Welt geschafft werden. Aufgrund des Mangels an vor Ort erstellten Skizzen gründet sich die bildkünstlerische Darstellung von Lissabons Untergang auf die formalen Merkmale der herbeigezogenen Veduten. Die Schreckenspanoramas vermengen die sensationalistischen Höhepunkte aus den Berichterstattungen zu Emblemen der menschlichen Vergänglichkeit. Um dem Bestreben nachzukommen, ein authentisches Kontrastbild zur verwüsteten Handelsmetropole zu schaffen, verzerrten die Zeichner versehentlich die vorkatastrophische Stadttopographie. Demnach übten

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die Schadensmeldungen auch einen Einfluss auf die Erinnerungsbilder von Lissabons ehemaliger Pracht aus. Ein Novum konstituiert Le Bas’ Kupferstichserie. Es ist aber nicht die scheinbar exakte Wiedergabe der Ruinen Lissabons, was außerordentlich ist, sondern der Bruch mit dem angestammten Katastrophendiskurs. Nicht der Schrecken bzw. die Erzeugung der Gottesfurcht ist maßgebend, sondern der ästhetische Genuss. Die durch den Zwischenschritt der Mimesis erbrachte Distanz ist ein maßgebendes Kriterium in der ästhetischen Wahrnehmung von Lissabons Verwüstung. Wie Tilman Lingesleben konstatiert hat, konnte die Erdbebenkatastrophe im »Medium der Ruinen-Graphik« als »angenehmes Grauen« rezipiert werden; Le Bas’ Bilderfolge lässt sich »vor diesem Hintergrund als Zeugnis eines druckgraphisch inszenierten Katastrophentourismus beschreiben« (180). Wie die Besucher die imposante Trümmerstätte tatsächlich wahrgenommen haben, soll im abschließenden Abschnitt über das Erdbeben von Lissabon skizzenhaft besprochen werden.

7. Das ruinierte Lissabon in Reiseberichten Der schottische Kaufmann und Dichter Caleb Whitefoord (1734–1810) suchte Lissabon im August 1756 auf. In zwei Briefen hielt er seine Eindrücke vom Katastrophenschauplatz fest, der immer noch von leichten Nachbeben erschüttert wurde. Bedeutsam ist, dass der Schotte die gänzlich zerstörte Stadt – »[n]ever was seen or I believe ever heard of so universal ruin« – mit den antiken Ruinen Palmyras in Verbindung bringt (129). In Übereinstimmung mit Le Bas’ ästhetisierten Ruinenansichten rezipierte er die zusammengestürzten Sakralbauten als pittoresk anmutende Monumente: As the houses were not ornamented with pillars of different orders of architecture, the ruins don’t afford such fine views as Palmyra and other cities which have shared the same fate. Yet some of the Churches, in their present situation, are extremely picturesque. (129 f.)

Whitefoord ließ sich von einem gelehrten Kaufmann durch die Ruinen führen. Den Rundgang wollte er gründlich ausführen, um sich »a just idea of the present state of this city« zu verschaffen (130). Inmitten der immensen Schutthaufen verspürte er eine unwiderstehliche Neugierde. Nach wie vor waren die Spuren der vergangenen Verheerungen deutlich zu erkennen: I believe we walked above 10 miles amongst the ruins, a scene of horror indeed, but I could not help indulging my curiosity as much as possible: the streets which had not been clear’d were fill’d up with rubbish, in most places about 2 stories high, by which means many of the buildings were level with the earth, except here and there

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a chimney or the corner stones of a house which hung nodding over the heads of the passengers; here you might observe the skull of some person who had been burnt, in another place you might see a bit of stuff perhaps part of the cloaths of one buried alive under the ruins; there you might observe a piece of harness probably belonging to the equipage of some who had been crush’d in their carriages in driving along the streets: Good God, how uncertain is human grandeur! (130)

Das vermeintlich an Ort und Stelle rezipierte Grauen wird gemäß formelhaften Darstellungsmustern vor Augen geführt. Whitefoord bringt die aufgezeigten Bruchstücke – Schädel, Kleiderfetzen und der Rest eines Pferdegeschirrs – mit kolportierten Sensationsmeldungen über die in den Tod gerissenen Massen überein. In gängiger Manier fasst er das Gesehene zu einem stereotypen Schreckensbild zusammen, das er mit der moralisierenden Besinnung auf die menschliche Vergänglichkeit unterstreicht. Die Erkundung durch die Ruinen wirkt gestelzt, da die Eindrücke des Schotten von Erfahrungen aus zweiter Hand diktiert werden. Entsprechend endet sein Bericht mit einer ausführlichen Beschreibung des über die Lissabonner hereingebrochenen Terrors: »Horror and confusion reign’d everywhere, the men run about quite frantic, one lost a wife, another his child, a third his brother« (131). Für den Besucher werden die Ruinen zur Projektionsfläche überkommener Gräuelbilder. Ein weiterer britischer Reisender namens Christopher Hervey hielt die Besichtigung der Ruinen Lissabons in einem Brief vom 16. Januar 1759 fest. Auch ihn stimmten die Schutthaufen melancholisch. Vorstellungen, dass unter seinen Füßen Verschütte in unzugänglichen Hohlräumen einen qualvollen Hungertod sterben mussten, drängten sich ihm auf. An den Hausfassaden erblickte er hölzerne Stützpfeiler, die ebenfalls auf Le Bas’ Kupferstichen auszumachen sind, und für Hervey den »horror of the scene« ungemein verstärkten. Während der Fahrt durch die Trümmer bringt ein begleitender Buchhalter den Engländer dazu, »at length to observe a perspective view of the ruins, through which we were then passing« (14). Die schaurig-reizvolle Ansicht, die ihm die ehemals belebteste Straße Lissabons anerbot, ist von Stilelementen des Pittoresken geprägt. Statt eines urbanen Zentrums sieht er sich mit einer der Natur überlassenen Ödnis konfrontiert, die durch die rezipierte Tiefenperspektive an ein zerklüftetes Landschaftsbild erinnert: Think how affected I must be in beholding it a mass of broken walls, with open windows, through two or three rows of which you discovered still farther ruins; a harbour for thieves, owls and goats; in short, the seat of desolation. (15)

Wie Whitefoord inkorporierte Hervey in Anschluss an den Ruinenrundgang eine längere Schilderung des Erdbebens »as related by every person in this city« (18). Seine Ausführungen beinhalten auch hier formelhafte Schreckensbilder, die größtenteils aus dem Bericht A narrative of the earthquake and fire of Lisbon (1756) stam-

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men, der ursprünglich von Antonio Pereira de Figueiredo (1725–1797) in Latein verfasst wurde (vgl. 4–6).143 Daraus ist zu schließen, dass Hervey während seines Lissabonner Aufenthalts Zugang zu dieser Quelle hatte oder dass er seine Aufzeichnungen nachträglich bearbeitete, um sie pathetischer zu gestalten. Insoweit zeichnet sich in den Reiseberichten der beiden Briten ein überschneidendes Darstellungsschema ab. Die Sicht auf das ruinierte Lissabon ist überfrachtet von Darstellungskonventionen aus den bildenden Künsten. Wenn die vergangenen Schrecknisse ins Blickfeld fallen, so werden sie mittels klischierter Formulierungen aus den Augenzeugenberichten ausgedrückt. Hingegen macht sich bei den Reisenden ein ausgeprägtes Verlangen deutlich, den Katastrophenort mit eigenen Augen zu begutachten. Bloß verfängt sich die subjektive Anschauung des Grauens in affektierten Bildinhalten, die von Bericht zu Bericht perpetuiert wurden. Der Reisebericht des in Turin geborenen Literaturkritikers Giuseppe Baretti (1719–1789) über das ruinierte Lissabon hebt sich dank der betont gesellschaftskritischen Beobachtungen von den Briefen der Briten ab. Als dieser die portugiesische Hauptstadt fünf Jahre nach dem Erdbeben besuchte, war er ebenfalls über deren desolaten Zustand schockiert. Den Eintrag über seine Besichtigung am 1. September 1760 führt er mit dem rhetorischen Einwand ein, dass ihm die Trostlosigkeit, die ihm dort begegnete, die Sprache verschlug. Der Reisende sah sich dennoch dazu genötigt, die verstörenden Eindrücke in Worte zu fassen: »I cannot be regular in speaking of the various things that struck me to-day, but must note them down as well as my crouding thoughts will permit« (139). Um sich eine adäquate Idee von den Erdbebenverheerungen zu verschaffen, sei es notwendig, deren Ausmaß einer »ocular inspection« zu unterziehen (137). Bei seinem Rundgang sah er aber nichts als »vast heaps of rubbish, out of which arise in numberless places the miserable remains of shatter’d walls and broken pillars« (138). Analog zu den omnipräsenten »marks of the horrible concussion« fühlte sich Baretti gänzlich erschüttert: »My whole frame was shaking as I ascended this and that heap of rubbish« (139). Ergriffen von melancholischen Gedanken beklagt der Reisende das traurige Schicksal der Verschütteten: 143 

Bezeichnenderweise weisen die von Hervey übernommenen Stellen allesamt eingefahrene Darstellungsmuster auf, die auch Figueiredo und weitere Augenzeugen verwendeten. Beispielhaft ist die idyllische Schilderung Lissabons vor dem Erdbeben (Hervey 18; Figueiredo 4) und die drastischen Bilder der in Panik geratenen und in den Tod gerissenen Menschenmasse: »The houses, streets an alleys were strewn with dead bodies. Some had their brains dashed out by the falling of walls and arches, but the greatest part that perished were those who suffocated by the weight of the rubbish« (Hervey 21). Vgl. Figueiredos übereinstimmende Beschreibung: »Immediately after this shock, the houses, the streets and alleys were strewed with dead bodies, some had their brains dashed out with the falling of the arches, others were crushed by the tumbling of the walls, most of them were overpowered and suffocated with the weight of the rubbish, in such a heap of rafters and stones« (5 f.).

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Who knows, thought I, but I stand now directly over some mangled body that was suddenly buried under this heap! Some worthy man! Some beautiful woman! Some helpless infant! A whole family perhaps! (139)

Im Unterschied zu Whitefoord und Hervey vermochte Baretti den Ruinen keinen malerischen Reiz zuzuschreiben. Als er auf eine eingestürzte Kirche blickte, war für ihn das Schreckensereignis der von Trümmern erschlagenen Menschen zu unmittelbar, um jegliche Art des ästhetischen Genusses einzugestehen: Consider its walls giving way! The roof and cupola sinking at once, and crushing hundreds and thousands of all ages, of all ranks, of all conditions! This was a convent: this was a nunnery: this was a college: this an hospital! Reflect on whole communities lost in an instant! The dreadful idea comes round and round with irresistible intrusion. (140)

Die inhaltlichen Einzelheiten in Barettis Reflexionen deuten auch hier auf eine Vertrautheit mit den Katastrophenmeldungen hin. Erkennbar ist das wiederkehrende Motiv der von der Heimsuchung hervorgebrachten Nivellierung. Der Italiener kehrt die Plötzlichkeit und schiere Willkür des Hinwegscheidens von Tausenden hervor, ohne das ereignete Unglück mittels phrasenhafter religiös-metaphysischer Argumente zu relativieren. Stattdessen lenkt er seine Aufmerksamkeit auf das schwierige Los der Überlebenden und den gegenwärtigen Wiederaufbau Lissabons. Im Gegensatz zu den Briten lässt er die Einheimischen zu Worte kommen. Eine ältere Frau erzählte ihm, dass sie nach neun Tagen unverletzt aus dem Schutt geborgen worden sei. Ihre wundersame Errettung bedeutete aber nichts für sie, da ihre Familie und Freunde allesamt umgekommen seien. Von der Stadtbevölkerung lebte die Mehrzahl Jahre nach dem Erdbeben immer noch in Baracken und die Ärmsten mussten in den Kellern oder Erdgeschossen der eingestürzten Gebäude hausen. Seit dem Erdbeben waren als einzig bedeutende Neubauten das Arsenal und die Kolonnade am Entstehen. Baretti mokiert sich darüber, dass diese kaum dem Allgemeinwohl dienen werden. Statt eines gesellschaftlichen Neuanfangs prognostiziert er in pessimistischer Manier die Wiederkehr der rückständigen Religiosität: I would rather see one of their old streets rebuilt, than the grandest Arsenal: rather some few store-houses to secure merchandizes, that a great Portico for their owners to confabulate under. But the people, for whom I could form such wishes, seem to have another way of thinking, and who knows but as soon as that wonderful Arsenal is compleated they set about to rebuild their inquisition, their cathedral, or some stupendous convent? (149)

In den kritischen Äußerungen über die andauernden Nachwirkungen des Erdbebendesasters schwingen die Vorurteile des Betrachters mit. Die Katastrophenopfer

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sind zu bemitleidende Zeitgenossen, jedoch gründet sich ihre prekäre Situation auf die vermeintlich rückständige Mentalität der Portugiesen. Unter diesem Gesichtspunkt stilisiert sich der Reisende als aufgeklärtes Subjekt – genau die Disposition, die ebenfalls die deutschsprachigen Gelehrten einnahmen als sie die Verwüstungen der seismischen Umwälzungen in Sizilien und Kalabrien von 1783 ins Auge fassten.

E. Naturkatastrophen als Faszinosum und moralische Herausforderung: Reaktionen deutschsprachiger Autoren auf die Erdbeben in Sizilien und Kalabrien von 1783 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zeichnet sich eine Differenzierung in der Wahrnehmung und Darstellung von Naturkatastrophen ab. Diese Entwicklung stimmt mit der Aufteilung der Theologie, Philosophie und der Naturwissenschaften in abgesonderte Fachbereiche überein. Die empiriegeleitete Naturbetrachtung wirkt federführend auf die Erklärung der Naturumwälzungen und unterhöhlt die traditionellen religiös-metaphysischen Deutungsmuster. Mit der historischen Auflistung der Naturkatastrophen bezwecken Naturgelehrte, die scheinbar willkürlich auftretenden Verheerungen chronologisch zu ordnen und anhand der erstellten Muster zukünftige Desaster zu prognostizieren. Was sich darin abzeichnet, ist ein säkularisierter Naturbegriff, der die äußere Natur als eine autarke Größe rezipiert. Mit dem Verlust einer anthropomorphen Naturteleologie eröffnen sich schwerwiegende Fragestellungen über den ontologischen Stellenwert des Menschen in einer sich ständig verändernden, scheinbar kontingenten Natur. Die natura naturans, die im konzeptuellen Rahmen der natürlichen Theologie noch unter dem Einfluss der providentia Dei gestanden hat, verselbständigt sich, da aus ihr keine eindeutigen Endzwecke zu eruieren sind. Insofern birgt die Natur eine blinde Kraft in sich, die als schaffendes und zerstörerisches Prinzip die Naturgeschichte vorantreibt. Ob dabei die Bedürfnisse des Menschen berücksichtigt werden, lässt sich nicht mehr mit der gleichen Gewissheit wie zu Beginn des 18. Jahrhunderts beantworten. Der folgende Abschnitt befasst sich mit der Frage, wie verheerende Naturkräfte im Gefüge einer zunehmenden Säkularisierung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gedeutet und dargestellt wurden. Als Fallbeispiel führe ich die Erderschütterungen an, die zwischen dem 5. Februar und 28. März 1783 in Sizilien und Kalabrien schwere Verwüstungen verursachten. Wie bei Lissabons Untergang löste diese Erdbebenkatastrophe europaweit eine rege Aufmerksamkeit unter den Zeitgenossen aus. Anders als die iberische Halbinsel waren die süditalienischen Regionen allerdings bekannt für ihr erhöhtes Erdbebenrisiko, »weil sie im Wirkungsbereich dreier Vulkane, Ätna, Vesuv und Stromboli, liegen« (Calzoni 365). Obschon seismische Aktivitäten dort keine Seltenheit sind, gehören die Erdbeben von 1783 bis heute

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zu den verheerendsten, die seit dem 16. Jahrhundert dokumentiert wurden (364). Nicht nur die Handelszentren Messina und Reggio waren betroffen, sondern bis zu 182 Dörfer wurden zerstört (vgl. Guidoboni, »Les conséquences des tremblements de terre« 55). Die Wucht der Erdstöße krempelte augenblicklich ganze Landstriche um: Äcker verschoben sich auf dramatische Weise, neue Berggipfel wurden empor geworfen, Flüsse verschwanden oder stauten sich auf zu Seen. Erste Meldungen bezifferten die Zahl der Todesopfer auf 40.000.

1. Die Zürcher Geistlichkeit meldet sich zu Wort: Johann Caspar Lavaters Erdbebenpredigt In der Zeit nach den Erderschütterungen in den süditalienischen Provinzen kam es auch diesmal zu Reaktionen der protestantischen Geistlichkeit in Zürich. Der prominente Philosoph und Pfarrer Johann Caspar Lavater (1741–1801) hielt am 30. März 1783 eine »Predigt bey Anlaß der grossen Erderschütterungen in Sizilien und Calabrien«, die die longue durée des moraltheologischen Katastrophendiskurses bezeugt. Der Leitsatz seiner Predigt ist der neunte Vers des 46. Psalms: »Kommt her! Schauet die Werke des Herrn, welche Zerstöhrungen Er auf Erden angerichtet hat« (403). Lavater polemisiert vehement gegen die Naturauffassung der »Gottes­ läugner« bzw. der Deisten, die in den Veränderungen der Natur das Wirken des allmächtigen Wesens abstreiten wollen (411). Gottes erhabene Größe und Macht ist absolut und verbleibt jenseits jeglicher Größenschätzung: Alles, Groß oder Klein, Grosses und Kleines zusammen, ist nur Ein Ganzes, nur Eins vor Ihm – Eine Würkung Seiner gränzenlosen Macht, die höchsteinfach und schlechterdings unermeßlich – zugleich Sonnen führt, und Sandkörner wälzt; Ozeane und Wassertropfen bewegt; Von der Wurzel herauf durch den Stamm auf alle Aeste, Zweige, Schosse, Blühten, Bläter – auf die äusserste Spitze der höchsten Bläter würkt. […] So jede Bewegung des Allmächtigen auf das, was wir die kleinste Veränderung nennen … Warum nicht auf Zerstöhrung vieler Städte, Umkehrung ganzer Dörfer, Umwälzungen der Berge? (410)

Demzufolge kommt es nicht nur, wie gängige Erdbebentheorien postulieren, in vul­k anisch aktiven Regionen zu schrecklichen Erdumwälzungen. Gemäß dem göttlichen Willen können sie jederzeit und überall auftreten: Sind nie keine furchtbare Erdbeben, fern von Volkanen, vorgegangen? Da beynahe halb Lissabon umstürzte, erfolgten nicht sechs Wochen hernach in allen Gegenden von Europa, nahe und fern von Feuerspeyenden oder Feuerverschliessenden Bergen, grosse und schröckende Erderschütterungen? (429)

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Lavater erinnert weiter an eine in der Nähe von Zürich erfolgte Gotteswarnung. Am 8. Juli 1778 verwüstete »ein wildes Waldwasser vom Berg herab so plötzlich ein ganzes Dorf« und riss »mehr als sechzig Menschen« weg (429 f.).144 In Anbetracht der »Eitelkeit und Unbeständigkeit aller sichtbaren Dinge« liegt der Weg zur Erlösung traditionsgemäß in der pietistischen Selbstvergewisserung, ob die eigene Seelenverfassung und Gesinnung vor dem allwissenden Gottesurteil zu bestehen vermag: »›Handle so, sprich so, denk also, daß ein plötzlicher Ueberfall eines solchen Gerichtes deiner Seele wenigstens nicht fürchterlich, nicht gefährlich wäre!‹« (425). Die »Sizilianer und Calabrier, die die Erde verschlungen, und einstürzende Gebäude zerschmettert haben«, seien nicht die alleinigen Sünder auf dem Erd­boden gewesen (424). Lavaters Polemik traf einen Nerv, insoweit als namhafte Naturgelehrten die spektakulären Zerstörungen und Landschaftsveränderungen in Sizilien und Kalabrien nicht als eine Wirkung der providentia Dei auffassten. Fasziniert von den gewaltsamen Wirkungen der Natur reisten sie nach Süditalien, um die Umwälzungen an Ort und Stelle zu bestaunen. In ihren Berichten werden die Erdbeben als natürliche Phänomene aufgeführt, deren Ursachen es empirisch zu ergründen gilt; eine Naturaneignung, die sich vom straftheologischen Deutungsmuster entfernt. Zwischen der katholischen Lokalbevölkerung und der abgeklärten Haltung der ausländischen Berichterstatter macht sich eine Mentalitätskluft bemerkbar: Die konventionellen Ritualgebärden – das Flehen um die Gnade Gottes oder der Kniefall zum Bußgebet – gelten als überholt und unzeitgemäß.145 Wenn man jedoch bedenkt, dass im protestantischen Zürich über das Wirken Gottes im Erdbeben gepredigt wurde, so wird deutlich, dass zu diesem Zeitpunkt auch in den vermeintlich aufgeklärteren Regionen Europas eine theologische Sinnstiftung mit den wissenschaftlich-immanenten Erklärungen einherging.

144  Lavater

verweist an dieser Stelle auf eine Flutkatastrophe, die im Juli 1778 das Dorf Küsnacht bei Zürich heimsuchte. 
Der Dorfbach tobte 6 Meter hoch durch Küsnacht und riss 8 Brücken, 15 Häuser sowie weitere Gebäude mit sich. 63 Personen kamen dabei ums Leben. 145 Diese abschätzende Betrachtungsweise gegen die süditalienische Bevölkerung manifestiert sich auch in einem späteren Bericht über die Erderschütterungen, die am Anfang des 19. Jahrhunderts die Stadt Neapel heimgesucht haben. Carl Friedrich Benkowitz (1764–1807) ließ im Anhang seiner Memoiren Reisen von Neapel in die umliegenden Gegenden (1806) die »Nachrichten von dem Erdbeben in Neapel und den umliegenden Gegenden in der Nacht vom 26. Julius 1805, mit Berücksichtigung der Lokale dieser Stadt« abdrucken. Darin beschreibt er das Verhalten der verängstigten Neapolitaner in einem moralisierenden Ton: »Da in Neapel eine große Menge bigotter und beschränkter Menschen ist, so suchen sie bei öffentlichen Calamitäten durch öffentliche Buße und Beweise von Demuth sich den Schutz des Himmels und der Heiligen zu verschaffen. Vornehme Personen gehen barfuß und mit entblößtem Haupte, andere ziehen schwere Ketten hinter sich her, und noch andere kleiden sich in einen Sack, singen Bußlieder und knieen vor allen Heiligenbildern. Dies vermehrte auch dies Mal das Traurige der Scene« (388).

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In der Untersuchung zeitgenössischer Texte über die Erdbebenkatastrophe in Sizilien und Kalabrien von 1783 stelle ich Berichte voran, die dieses Extrem­ereignis als einen natürlichen Vorgang darstellen. Wie oben erwähnt, zeichnet sich eine Spezialisierung der Disziplinen ab, insofern als die Autoren in Abkehr von den physikotheologischen Schriften zwischen einem immanenten und religiös geprägten Naturverständnis differenzieren. Ihre Berichterstattung folgt der Absicht, die Leserschaft möglichst objektiv und wahrheitsgemäß zu informieren. Bezeichnend sind dabei die Bezüge auf althergebrachte Darstellungsmuster. Wie in den Unglückschroniken des 16. und 17. Jahrhunderts werden die Nachrichten von den seltsamen und wundersamen Begleiterscheinungen der Erdumwälzungen zusammengeführt und kommentiert. Ein gewichtiger Unterschied ist allerdings, dass die Naturphänomene als faszinierende Studienobjekte, ohne den Bezug auf das Numinose untersucht werden. Weiterhin verwenden die Autoren tableauartige Schilderungen der Not leidenden Erdbebenopfer. Statt Frömmigkeit und Ehrfurcht vor dem höchsten Wesen gilt es Mitleid für die betroffenen Mitmenschen zu erwecken. Dennoch verbleibt wie beim religiös bestimmten Katastrophendiskurs ein ausgeprägt moraldidaktischer Duktus. Auffallend ist, dass die ausländischen Berichterstatter die drohenden gesellschaftlichen Umwälzungen nach den Erdrevolutionen mitberücksichtigen und diese als ein moralisches Desaster darstellen (vgl. Calzoni 369): eine Deutung, die auf vorgefassten Vorurteilen beruht und sich kritisch gegen die süd­ italienische Bevölkerung und deren neapolitanische Regierung wendet.

2.  Berichterstattungen über die Zerstörung von Messina Die Historische und geographische Beschreibung von Messina und Calabrien, und meteorologische Beobachtungen über das Erdbeben, welches diese Stadt und Landschaft den 5. Hornung 1783 verwüstet hat – eine Sammlung von Berichten und Briefen, die 1783 in Straßburg von Albrecht Friedrich Bartholomäi publiziert wurde – beginnt mit den zitierten Worten des englischen Reisenden Patrick Brydone (1741–1818), daß es uns allerdings sonderbar vorkommen muß, daß die Natur sich des nemlichen Werkzeuges bedient sowohl zu schaffen als zu zerstören, und daß die nemliche Kraft, welche die Zerstörerin bewohnter Länder zu sein scheinet, wirklich eben dieselbe ist, die sie hervorbringt. Sicilien scheint schon längst das über die ganze Erde gefällte Urtheil erfahren zu haben; aber, gleich dem Phönix, sahe man aus seiner Asche schöner und reizender als vorher wieder empor blühen. (1 f.)

Erdbeben und Vulkanausbrüche müssen als unabdingbarer Teil der Naturgeschichte von Sizilien und Kalabrien verstanden werden. Vor der eigentlichen Beschreibung der vollständigen Zerstörung Messinas wird kontrastierend die geogra­phische Ei-

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gentümlichkeit Kalabriens und die Schönheit Messinas über weite Längen beschrieben. Dieser Exkurs dient dazu, »die Aufmerksamkeit und Empfindlichkeit unserer Leser noch näher auf das traurige Gemälde der Verheerungen zu heften, womit diese unglücklichen Gegenden heimgesucht worden« (17). Der Herausgeber will die Leserschaft »so zu sagen an die Scene der unglücklichen Veränderung des vorigen Hornungs […] stellen« (14). Bei der Auswahl der verschiedenen Berichte verlangt er jedoch eine »simple und unaffectierte Erzehlungsart«, um den Vorwurf abzuwenden, man hätte voreilig »die Meynung des Publicums bestimmen wollen, über eine Begebenheit, deren eigentliche Umstände, erst später einlaufende Berichte mit mehrerer Zuverläßigkeit berichtigen können« (18). Aus der »Französischen Zeitung« vom Freitag, den 14. März 1783, No. 21, stammt der folgende Bericht über die Zerstörung Messinas: Den 5. dieses Monats, um ein Uhr Nachmittags, hat das fürchterlichste Erdbeben, das sich jemals ereignet hat, […] diese berühmte Stadt fast gänzlich zu Grunde gerichtet. Wirklich zeigt sich dem Auge nur ein Haufen von Trümmern, unter welchen eine große Anzahl der Einwohner, die man vor der Hand auf zwölf Tausend schätzt, begraben liegen. Der Königliche und Erzbischöfliche Pallast, das Lazaret, ein Theil der Citadelle, die vornehmsten öffentlichen Gebäude, die meisten Kirchen, Klöster und Häuser, wie auch die ganze Palazzata, oder der halbe Mond von Pallästen, die um den Hafen herum symetrisch gebaut waren, und die schönste Zierde dieser unglücklichen Stadt ausmachten, sind alle in den Abgrund verschlungen worden. Was das Erdbeben verschonet hatte, wurde vom Feuer verzehret, welches man den 5ten und folgenden Tag nicht zu löschen vermochte […]. (18 f.)   Sobald Seine Majestät diese unglückliche Nachricht erfuhr, die sein väterliches Herz mit dem lebhaftesten Schmerz durchdrang, so waren sie sogleich beschäftigt, die schleunigsten Mittel vorzukehren, um Ihren Unterthanen Hülfe zu schaffen. D. Vincenzo Pignatelli wurde in Calabrien, und H. Calvaraso nach Messina geschickt, um Geld auszutheilen, den erlittenen Schaden so viel als möglich zu ersetzen, und den Austretungen und andern bey dergleichen traurigen Vorfällen entstehenden Unordnungen vorzubeugen. (20)   In Neapel ist alles in der grösten Bestürzung. Die in dieser Stadt sich befindlichen Sicilianer erwarten jeden Augenblick mit beklemmten Herzen die Ankunft der Schiffe, die ihnen einen Theil ihrer Verwandten, und das unglückliche Schicksal der andern überbringen sollen. Die Schauspiele sind alle eingestellt, und dreytägige öffentliche Gebete verordnet worden. (21)

Eine weitere Nachricht stammt aus dem »Italienischen Stundenzeiger«. Der Berichterstatter schildert die Erdbebenkatastrophe als einzigartiges Spektakel. Von einer sachlichen Beschreibung kann an dieser Stelle allerdings kaum die Rede sein. Um den Eindruck der Verwüstungen und des Elends zu steigern, verwendet er

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den rhetorischen Topos der Sprachlosigkeit. Wie im obigen Bericht werden die Maßnahmen der neapolitanischen Regierung wohlwollend gerühmt. Das staatliche Oberhaupt zeigt innere Größe, indem es rasch und besonnen die Verteilung von Hilfsgütern anordnet und die Gefahr drohende Unruhen zu unterbinden weiß. Mit der demutsvollen Hinwendung zum Gebet wird der Schrecken unter den Neapolitanern aufgefangen und sublimiert. Ob diese Vorkehrungen auf längere Sicht auch wirklich etwas genützt haben, wird nicht erwähnt: Der größte Theil der Stadt Messina gieng den 5. Hornung um 19. Uhr durch eine fürchterliche Erd=Erschütterung unter. […] Der Verlust der blühenden Handelsstadt läßt sich nicht schätzen. Mit einem Wort, nichts wurde gerettet; was auch von dem Erdbeben nicht verschüttet wurde, das wurde den Flammen zum Raube, die durch einen Landwind, der dem Hafen zu wehete, noch heftiger wurden, obschon die königliche Fregatte und die Citadelle unaufhörlich Canonen lößten, um dessen Richtung zu verändern. Der Adel und viele andere Personen haben sich nackend auf den Fregatten und andern Fahrzeugen gerettet, die eben zum Glück im Hafen waren. […] Man erzehlt sich, daß sich auch in den benachbarten Feldern Schlünde geöfnet haben, die Rauch und Schwefeldampf ausdünsteten. (25)   Der Schrecken, den dieses Unglück in dem Königreich und in der Hauptstadt verbreitet hat, ist unaussprechlich. Die Schauspiele wurden geschlossen, das Volk verließ die Ergötzlichkeiten des Carnevals, und nahm seine Zuflucht zum Gebet. Die schleunige Hülfe, die der König so vielen Unglücklichen zuschickte, zeuget von seiner warmen Menschenliebe. Er hat nicht nur eine ansehnliche Summe Gelds unter sie vertheilen, sondern ihnen auch eine Menge Lebensmittel zu Schiff zuführen lassen. Die Königin hat der Unterstützung der Armen ihre Diamanten aufgeopfert. Der Prinz Spinelli ist vom König ernennet worden, den etwanigen Unordnungen vorzubeugen, die diese Begebenheit in Neapel hätte verursachen können. (28 f.)

Um dem Leser einen weiteren Einblick in die unerhörte Begebenheit zu verschaffen, folgen in den Anhängen der Beschreibung zwei Briefe – der eine wurde von Philippe de Fay in Messina geschrieben, der andere stammt von Jean-Louis Giraud-Soulavie (1752–1813) – sowie ein Augenzeugenbericht von Andrea Gallo (1734–1814). Anders als in den Zeitungsberichten bemühen sich die Korrespondenten um eine objektive Betrachtungsweise. Der erste Brief, den Herr de Fay, Ritter des Malteserordens, am 12. März 1783 an den Geologen Barthélemy Faujas de St. Fond (1741–1819) nach Paris geschickt hat, gibt über den Ablauf des Erdbebens und das Ausmaß der Zerstörung von Messina Auskunft. De Fay ist nach dem Unglück zusammen mit anderen Ordensbrüdern in Messina eingetroffen, um den Notleidenden Hilfe zu leisten, und »die furchtbare Wirkung der Vulcane selbst in Augenschein zu nehmen« (30). Er beklagt sich jedoch, dass seine Nachrichten sehr eingeschränkt seien, denn das Erdbeben geschah in einem Land,

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wo niemand sich mit der Naturgeschichte abgibt, wo in dem Augenblick die Gefahr so dringend war, daß ein jeder auf seine Rettung bedacht seyn mußte. Ich sehe mich also aller näheren Erläuterungen gänzlich beraubt, welche mir aufgeklärtere Leute hätten geben können, und deren Mangel meine wenigen Einsichten nicht ersetzen. (30 f.)

Demzufolge wünscht er sich, dass Herr Faujas de St. Fond, Liebhaber der Naturgeschichte und Vulkanologie, selbst an Ort und Stelle gewesen wäre: Wenn Sie da der Natur in diesen Augenblicken der Unordnung nachgespürt hätten, würden Sie ihr ohne Zweifel einige ihrer Geheimnisse entrissen haben. Lassen Sie mich den Nutzen überdenken, den die Wissenschaften von Ihrer Gegenwart hier hätten ziehen können; wenigstens mildert diese Vorstellung die traurigen Empfindungen, die der Anblick so vieler jammervollen Auftritte in mir erregen muß. (36)

Die einzige Person in Messina, die laut de Fay sich mit der Naturgeschichte beschäftigte und Augenzeuge des Erdbebens war, sei Herr von Gallo gewesen (35). Dessen Bericht »Historische Beschreibung der Erdbeben die Messina verwüstet haben«, den de Fay zusätzlich zu seinem Schreiben an Faujas de St. Fond geschickt hat, schildert das gewaltsame Einstürzen der Häuser, Paläste und Kirchentürme, das Anschwellen des Meeres und die panische Flucht der um die Gnade Gottes flehenden Stadtbewohner. Ob das eigene Leben inmitten der Kalamitäten jemals gefährdet war, erwähnt Gallo an keiner Stelle. Er scheint aus sicherer Distanz den Ablauf des Erdbebens und das unglückselige Schicksal der Betroffenen mitzuverfolgen. Gallo erreicht aber auch hier einen für die Erdbebenberichte typischen Punkt, wo ihm angesichts des unermesslichen Leids die Sprache aussetzt: Der Schrecken und die Bestürzung dieser Innwohner läßt sich nicht beschreiben. Ein jeder suchte sich zu retten und fand den Tod, indem er ihm vermeiden wollte. Die einen wurden unter ihren halbeingestürzten Dächern begraben; die andern blieben an den Balken, Erkern und Thüren hangen, wovon sie auf langen Leitern herunter zu steigen suchten, um ihr Leben zu retten; andere kamen unter den Trümmern ihrer eigenen Häuser um, oder wurden von denen in die Strassen einstürzenden Häusern zerschmettert. (41 f.)

Nach den verheerenden Erderschütterungen am 5. Februar waren die Auswirkungen des Erdbebens noch nicht ausgestanden. Während Wochen wurden in Messina weitere Nachbeben registriert, infolge derer die instabil gewordenen Gebäude am 22. Februar endgültig einstürzten. Aufgeworfener Staub verdunkelte tagelang die Sonne, um den Mond herum beobachtete man einen Kreis und das »Meer schien kochend, die mit Ungestümm an das Ufer geworfenen Wellen widerhalleten mit

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fürchterlichem dem Sturm ähnlichen, Getöse« (46). Dem Berichterstatter erscheinen die aus dem Alltag vertrauten Naturphänomene plötzlich in einem ungewöhnlichen, wenn nicht gar bedrohlichen Licht. Die aus der normalen Bahn geworfene Natur wird jedoch nicht als ein Prodigium gedeutet. Ein direktes Zugeständnis, ob eventuell eine höhere Macht auf das Erdbeben eingewirkt habe, macht Gallo nicht; nur ganz am Schluss seines Berichts erhofft er sich die Gunst der göttlichen Vorsehung: Man sagt, die Berge Gibel und Vulcana hätten in letztern Tagen häufige Flammen ausgespien. Gebe doch der Himmel, daß hiedurch ein Weg geöffnet werde, um aus dem Schoß der Erde die unglücklichen Ursachen abzuleiten, die uns in ihrem Abgrund zu stürzen drohen. (46)

Die oben angesprochene Korrelation zwischen Erdbeben und Vulkanausbrüchen wird im Brief des Geologen und Geistlichen Jean-Louis Giraud-Soulavie theo­ retisch untermauert. Anhand des chronologischen Vergleichs überlieferter Jahresdaten von Erdbeben in Sizilien und den Ausbrüchen des Ätnas, die von 1783 bis ins Jahr 1165 zurückreichen, sieht sich Giraud-Soulavie dazu befähigt, Prognosen über künftige seismische Umwälzungen aufzustellen. Gemäß der Beobachtung, dass auf Epochen der Ausbrüche und der Erdbeben eine Periode der Ruhe und Stille folgt, wagt er zu behaupten, »daß man izt ohne Gefahr Sicilien und Calabrien bereisen kann, weil so bald kein Erdbeben mehr zu befürchten seyn wird.« Da aber Sizilien im 16. und 17. Jahrhundert jeweils von acht Erdbeben erschüttert wurde und im 18. Jahrhundert bereits sechs weitere erfolgten, »so soll dieses Land wohl noch zwey auszustehen haben, um das Gleichgewicht in der Ordnung der Natur=Erscheinungen zu machen« (38). Giraud-Soulavie ist die Problematik seiner Dateninterpretation nicht entgangen.146 Weist sie eine Ungenauigkeit auf, so erhofft er sie im Nichteintreten der beiden prognostizierten Erderschütterungen, ansonsten würdigt er die empirische Vorgehensweise in den Naturwissenschaften:

146 Ein

in Der Teutsche Merkur 1784 erschienener Artikel »Des Herrn Michael Torcia Beschreibung des Erdbebens, welches den 5ten Februar 1783 die Stadt Messina und die halbe Provinz Calabrien verwüstet hat« präsentiert beispielsweise eine weit pessimistischere Einschätzung der seismischen Aktivitäten in den süditalienischen Provinzen: »Es ist sonderbar daß das Erdbeben in diesem Königreich im gegenwärtigen Jahrhunderte viel öfter gewüthet hat, als in den vorigen Jahrhunderten, und fast jedesmal erschrecklich, z. B, in den Jahren 1702. 1703. 1706. 1717. 1732. 1740. 1743. 1756. 1780. 1783. So haben auch unsere Vulkanen, die das Königreich umgeben, in diesem Jahrhundert mehr als sonst getobet. Der Vesuv hat sich seit 1730. zehn bis zwölfmal entzündet. So viel mal ist es in zehn Jahrhunderten nicht geschehen. Das Erdbeben und die Ausbrüche der Vulkane wechseln miteinander ab. Wenn diese ruhen, nehmen jene an Stärcke zu. Der Vesuv, der Aetna und Stromboli regen sich jetzt nicht; dagegen wüthet das Erdbeben« (229).

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Wenn ich je wünsche die Theorie Lügen zu strafen, so ist es bey dieser Gelegenheit; allein da Gott diese Welt unsern Streitigkeiten überlassen, so halte ich es für eine unschuldige Sache, wenn der Physicus und der Naturalist Erscheinungen in der Natur beobachten und vergleichen. (38)

Beachtenswert in der obigen Rechtfertigung ist das Bekenntnis zum Deismus; eine Sinneshaltung, die beispielsweise für den protestantischen Theologen Lavater nicht vertretbar gewesen wäre. Es steht dem Menschen (sprich: dem Naturforscher) frei, die Gesetzmäßigkeiten der uns »überlassenen« Welt zu ergründen. Die verheerenden Erdbeben treten nicht willkürlich auf, sondern nach einem vorgegebenen Muster. Was sich unter diesem Gesichtspunkt unweigerlich herauskristallisiert, ist das Schwinden der partikulären Vorsehung Gottes. Diese sieht sich nicht mehr genötigt, in die Chronologie der Naturgeschichte einzugreifen und dabei die »Ordnung der Natur=Erscheinungen« durcheinander zu bringen.

3. Die Erdbeben in Kalabrien: Berichterstattungen von Friedrich Christian Carl Münter und Johann Heinrich Bartels In den zeitgenössischen Erdbebendarstellungen des 18. Jahrhunderts wird darauf hingewiesen, dass die Erdstöße in Kalabrien weit verheerender als in Sizilien ausfielen. Städte und Dörfer wie Reggio, Scilla, Oppido, Seminara und Palmi erlitten schwere Schäden. Gegen den Willen der Überlebenden mussten Tausende deraus den Trümmern geborgenen Leichen gemäß dem Dekret der neapolitanischen Regierung verbrannt werden. Ein Großteil der Überlebenden hauste wie nach Lissabons Untergang Jahre nach den Erdbeben unter ärmlichen Verhältnissen in Baracken. Seuchen machten sich breit, eine Gefahr, die durch das brackige Wasser der aufgestauten Seen verschärft wurde. Über das Schicksal der Not leidenden Kalabresen geben zwei deutschsprachige Gelehrte, Friedrich Christian Carl Heinrich Münter und Johann Heinrich Bartels auf eindrückliche Weise Auskunft. Beide studierten an der Universität Göttingen und waren miteinander befreundet. Bartels, der von 1780 bis 1783 einem nicht abgeschlossen Theologiestudium nachgegangen war, entschied sich 1786 für mehrere Monate nach Süditalien zu reisen. Ein Jahr später veröffentlichte er seine Reiserinnerungen in dem dreibändigen Werk Briefe über Kalabrien und Sizilien, dessen erster Band ausführlich die geologischen und gesellschaftlichen Umwälzungen in Kalabrien schildert. Friedrich Münter hingegen, ein an Archäologie und Naturwissenschaften interessierter Theologe, hielt sich im Jahre 1786 acht Tage in der kalabresischen Provinz auf. Sein Reisebericht Nachrichten von Neapel und Sizilien: Auf einer Reise in den Jahren 1785–86 wurde sowohl auf Dänisch wie auf Deutsch 1790 in Kopenhagen veröffentlicht. Davor

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hatte Münter bereits eine Mitteilung »Ueber den Zustand Kalabriens nach dem Erdbeben im Jahr 1783« verfasst, die 1787 im Journal aller Journale erschien und ein Jahr später in veränderter Form im Deutsches gemeinnüziges Magazin nochmals publiziert wurde. Seine Kritik an die vermeintlich rückständigen Kalabresen und die ungenügenden Maßnahmen gegen die Langzeitfolgen des Erdbebendesasters fällt im Vergleich zur Buchpublikation in den Zeitschriften weit ausgeprägter aus. Da die Fassung aus dem Magazin einen präziseren Einblick in die Vorurteile des Reisenden verschafft, wird im folgenden Fallbeispiel des frühneuzeitlichen Katastrophentourismus aus ihr zitiert. Münter und Bartels basieren ihr Wissen über die Erdbeben von 1783 weitgehend auf vorangegangenen Studien. Eine davon, die Bartels ausdrücklich erwähnt, stammt aus der Feder des schottischen Vulkanologen und Diplomaten am Hof des Königreichs Neapel, Sir William Douglas Hamilton (1730–1803), der bereits im Mai 1783 zur Südspitze Italiens reiste, um das Ausmaß der Verwüstungen zu besichtigen. Eine deutsche Fassung seines dabei entstandenen Reiseberichts, »Nachricht von dem letzten Erdbeben in Calabrien und Sicilien. Der König. Gesellschaft der Wissenschaften zu London mitgetheilt« erschien im Hannoverischen Magazin zwischen dem 24. Oktober und 3. November 1783. Während der zwanzigtägigen Tour beabsichtigte er »so bald als möglich den Mittelpunct des Unglücks zu erreichen« (1354), um »manche Punkte aufzuklären, und Wahrheiten zu entdecken, welches […] sehr schwer ist«, und sich »mit eigenen Augen« von den merkwürdigen Phänomenen ein Bild zu machen (1353). Bezeichnenderweise beabsichtigt Hamilton in seiner Untersuchung, sich von den traditionellen Wunderbüchern und -chroniken abzugrenzen. Seine Berichterstattung dient der empirischen Wahrheitsfindung und nicht der Belustigung eines Laienpublikums. Insofern behauptet er, dass seine gesammelten Informationen für die Royal Society von höherer Qualität als diejenigen der wissenschaftlichen Akademie zu Neapel seien: Man könte ein großes Buch von sonderbaren Thatsachen und Vorfällen dieser Art niederschreiben, welche das Erdbeben in der Ebene bewürkt hat; und man wird sie, wie ich vermuthe, in dem Bericht von dem fürchterlichen Erdbeben anführen, welche die Akademie zu Neapel bekant zu machen gedenkt, da der Präsident bereits funfzehn Mitglieder, nebst einer gehörigen Anzahl von Zeichenmeistern, nach Calabrien gesandt hat, die Vorfälle zu sammeln, und Zeichnungen von selbigen, bloß in der Absicht bekant zu machen, um dem Publikum einen befriedigenden und umständlichen Bericht von dem neulichen Unglück abzustatten. Wenn sie aber nicht, wie ich that, auf die Natur des Bodens in der Gegend, wo die Vorfälle sich ereignet, acht haben, so werden ihre Berichte überhaupt wenig Glauben finden, ausser bei denen, welche wie Verehrer des Wunderbaren [professed dilettanti of miracles] bekant sind, und deren Anzahl ist in diesem Lande ziemlich groß. (1377 f.)

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Angesichts der chaotischen Verhältnisse präsentiert sich Hamilton als ein objektiver Beobachter, dessen sachlich orientierte Perspektive Bartels und Münter in ihren Berichten ebenfalls annehmen. Dennoch kommt es im Gewahrnehmen der landschaftlichen Schönheit Kalabriens, der unglaublichen Gewalt der Erdbeben und insbesondere des individuellen Leids zu Augenblicken erhöhter Gemütserregung. Während seines Aufenthalts in der zerstörten Stadt Palmi beschreibt Hamilton beispielsweise ein für ihn unvergessliches Schreckenstableau: Zu Palmi waren 1400 Menschen umgekommen, und die todten Leichname waren nicht alle, wie an andern Orten, weggeschaft und verbrannt worden; denn ich sah selbst, als ich da war, zween heraus bringen, und die melancholische Gestalt einer Frau in Trauerkleidern, die auf den Ruinen ihres Hauses saß, Haupt und Hand auf das Knie gestützt hatte, und mit ängstlich wartendem Blicke jedem Streich der Hacke der Arbeiter folgte, in der Hofnung den Körper eines Kindes, ihres Lieblings, wieder zu finden, wird mir stets in frischem Andenken bleiben. (1383)

Münter hingegen lehnt sich stark an die Schrift Mémoire sur les tremblemens de terre de la Calabre pendant l’année 1783 von Déodat Gratet de Dolomieu (1750–1801), die er mit wohlwollenden Sätzen preist. Der prominente französische Geophysiker stuft das Ausmaß der Verwüstungen in Kalabrien als einmalig in der Menschheitsgeschichte ein. Für den Naturforscher bietet sich daher ein einzigartiges Studienobjekt dar. Dolomieu suchte die Halbinsel ein Jahr nach der Erdbebenkatastrophe im Februar und März 1784 auf, um geophysikalische Studien über die Ursache und Wirkung seismischer Aktivitäten aufzustellen. Er betont mehrmals, dass eine naturwissenschaftliche Untersuchung der Erdbeben sachlich, in Abgrenzung zum Wunderbaren und Abergläubischen zu bewerkstelligen sei: L’histoire ne fait mention d’aucuns tremblemens de terre, dont les secousses ayent été aussi violentes, & les effets aussi destructeurs que ceux qui ont désolé la Calabre pendant l’année 1783. ce phénoméne est assez singulier, assez important par lui même, pour intéresser le physicien, quoique dépouillé de tout le merveilleux, dont on a surchargé les premieres rélations, qui en ont paru; & on le fera d’autant mieux connoitre, qu’on le réduira a ses moindres mots. (16)   Le naturaliste & le physicien doivent être en garde contre les élans de leur sensibilité, & de leur imagination, pour ne voir dans ce qui cause les malheurs d’une infinité de familles, & la destruction de 40. mille hommes, qu’en leger effort da la nature, & pour dépouiller les rélations de toutes les circonstances, que la terreur & la superstition y ont jointes. (15 f.)

Während seiner Erkundigungen bewegt auch ihn das traurige Schicksal der Erdbebenopfer, besonders die Nachricht von Menschen, die lebendig begraben unter den eingestürzten Häusern eines grauenhaften Todes sterben mussten. Dieses trauma-

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tische Erlebnis versucht er psychologisch zu beleuchten; ihm fehlen aber schlichtweg die Worte. Wie Immanuel Kant in seinen Betrachtungen über das Lissabonner Erdbeben überlässt auch Dolomieu die Schilderung des partikulären Leids fähigeren Schriftstellern; ihm geht es einzig um die Ergründung physischer Phänomene: Mais qui peut ajouter soi aux circonstances racontées, par ceux, qui se trouverent exposés a toute la rigueur de ce terrible fléau. La terreur & le desir de se sauver furent les deux premiers sentimens, qu’éprouverent ceux qui étoient renférmes dans les maisons. Un instant apres, le fracas de la chute des édifices, & la poussiere ne leur permirent plus, de rien voir, de rien entendre, ni même de réflechir. Un mouvement machinal fit échaper ceux, qui se sauverent; les autres ne recouvrerent le sentiment de leurs maux, que lorsque la premiere secousse fut cessée. Je ne chercherai point a peindre l’effroi, le silence, le desespoir, qui succederent a cette terrible catastrophe. Le premier mouvement fut celui de la joi de vivre encore; le second fut de désolation. Detournons les yeux de ce spectacle d’horreur; laissons a d’autres les details des malheurs particuliers, & de leurs circonstances singulieres; & attachons nous aux seuls effets physiques. (34) Im Unterschied zu den obigen Quellen beschränken sich Münter und Bartels jedoch nicht darauf, die kausal-physikalischen Ursachen der Erderschütterungen zu erkunden. Insbesondere Bartels verfolgt in den Briefen die Absicht, Informationen über »den bürgerlichen Zustand des Landes« bereitzustellen. Von Seiten der ita­ lie­nischen Berichterstatter (er nennt den von der Neapolitanischen Akademie der Wissenschaften zusammengestellten Band Istoria de’ Fenomeni del Tremoto avvenuto nelle Calabrie e nel Valdemonte nell’ anno 1783 posta in luce dalla real Academia delle science e delle belle lettere di Napoli (1784)) seien kaum Wahrheiten über die politischen Verhältnisse in Süditalien zu erwarten, weil sie darüber berichten, »was sie sagen sollen, nicht was sie sagen könnten« (Vorrede 11). Im ersten Brief führt Bartels drei Gründe dafür an, weshalb er die nicht gerade ungefährliche Reise nach Kalabrien antreten möchte. Erstens sei er daran interessiert, dem rätselhaften Geschichtsverlauf auf die Spur zu kommen, warum eine einst blühende Hochkultur in einer der fruchtbarsten Gegenden Europas zur »vorigen Barbarei« zurück fallen konnte (4). Zweitens versucht er zu klären, »ob die Natur wirklich in dieß einst so kultivirte, glükliche Land izt ihre misratenen Söne verbannte, oder ob ein ungerechtes Vorurteil uns irre fürt?« (7). Ganz im Sinne einer aufgeklärten Anthropologie möchte er mit seinem »Streben nach wahrer Menschenkenntnis« etwas zur »Ausrottung menschenentehrender Vorurteile« beitragen (21). Drittens seien es schließlich die »schreklichen Naturbegebenheiten« selbst, die die Faszination der Reise ausmachen: Die »Empörung der Erde« verursachte ein Menschenelend, »von dem wir uns in unsern nördlichen Gegenden, wenigstens in unserm Bezirke, keinen Begriff machen können, und das, meiner Meinung nach, wenn auch gleich nicht in

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seiner Intension, doch in seiner Extension, alle schreklichen Naturbegebenheiten, die wir kennen, weit hinter sich zurükläßt« (5 f.). Hinsichtlich der ungeheuren Verwüstungen will er die Gründe erforschen »durch die [der Mensch] seinen Mut aufrecht zu erhalten weis«, und die »Tätigkeit der Regierung, in dem was zum Wol der Unglüklichen geschehen sei und noch geschehe« einem unparteiischen Urteil unterziehen (6). Die Berichte von Bartels und Münter folgen den Schilderungen der obigen naturwissenschaftlichen Texte, insofern als beide die Erdrevolutionen ausschließlich als ein natürliches Ereignis darlegen. Trotz der Anekdoten wundersamer Errettungen – Erdbebenopfer, die u. a. durch dieselben Erdstöße verschüttet und wieder befreit wurden – kommt es zu keinen religiösen Äußerungen, die diese Vorgänge als ein Zeichen der gütigen Intervention Gottes preisen würden. Weiterhin führen sie die typischen Beschreibungen tragischer Einzelschicksale an. Beispielsweise verknüpft Bartels die rührende Geschichte zweier Eheleute zu Scido, die während der Errettung ihres Kindes ums Leben gekommen sind, mit anthropologischen Beobachtungen über das geschlechterspezifische Verhalten in Momenten höchster Gefahr: Eine Bemerkung, die man fast durchgängig an den todten Körpern gemacht hat, war, daß ihre lezte Stellung im Augenblike des Todes beim männlichen Geschlecht Anstrengung aller Muskeln zum Widerstande war, beim weiblichen hingegen Ausdruck der größten Verzweiflung; besonders fand man sie mit übern Kopf geschlagnen Händen. War aber ein oder waren merere Kinder bei der Mutter, so dachte sie nur an Schuz für sie, und gab sich selbst den Ruinen preis: der Vater hingegen faßte sein Kind und stemmte sich gegen die Gefar. (309 f.)147

Beide Berichterstattungen folgen trotz der fehlenden religiösen Darstellungsmuster einer moraldidaktischen Absicht. Bartels weist darauf hin, dass die Kalabresen von den Italienreisenden allgemein als ein rückständiges, lethargisches und verbrecherisches Volk dargestellt werden.148 Auch Münter ist vor diesen Vorurteilen nicht ge147  Bartels

folgt an dieser Stelle Hamiltons Bemerkungen beinahe wortwörtlich: »Man hat zu Rosarno, und überhaupt in allen zerstörten Städten, die ich besucht, bemerkt, daß man die Todten männlichen Geschlechts immer in einer Lage gefunden, als wenn sie sich gegen die Gefahr gewehrt; da hingegen die Personen weiblichen Geschlechts die Hände über dem Kopfe zusammen geschlagen hatten, als wenn sie sich der Verzweiflung überlassen hätten, außer wenn Kinder in der Nähe bei ihnen angetroffen wurden, in welchem Falle man fast immer dieselben in ihren Armen, oder sie doch in einer Stellung fand, die ihre ängstliche Sorge, dieselben zu schützen, anzeigte. Ein auffallendes Beispiel mütterlicher Zärtlichkeit bei dem weiblichen Geschlecht!« (1365). In Heinrich von Kleists Novelle Das Erdbeben in Chili manifestiert sich in der Gestalt Josephes ebenfalls der altruistische Mutterreflex, ihr Kind vor den herab fallenden Trümmern und schließlich vor dem wild gewordenen Mob zu schützen. 148  Bartels stellt in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Briefe fest, die deutschen Italienreisenden glauben (»und eben das ist die Quelle von so vielen falschen Urteilen«), dass sie »in ein mit Teufeln beseztes Paradies« reisen würden (14 f.). Vgl. dazu auch die Bemerkung aus dem obigen

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feit.149 Seine Schilderung der chaotischen Zustände nach den Erderschütterungen ist repräsentativ, da er wenig Sympathie für das gemeine Fußvolk aufbringt, das vollends in den Zustand der barbarischen Anarchie abzugleiten droht: Der Charakter der Nazion, wenn er gleich an sich selbst nicht so boshaft und blutgierig ist, als die Neapolitaner es sich angelegen seyn lassen, ihn jederman, hauptsächlich den Fremden entweder aus Unwissenheit, oder aus Verachtung eines noch gänzlich barbarischen Volks, mit sehr lebhaften Farben zu malen, ist doch nichts weniger, als gut. Das äusserste Elend, in dem die Kalabreser seit Jahrhunderten unter dem unmenschlichen Joche der Feudalherrschaft geschmachtet haben, hatte sie zu Dieben und Räubern gemacht. So lange noch Obrigkeit im Lande war, hielt diese die groben und gewaltthätigsten Ausbrüche einigermassen zurük, obgleich niemals eigentliche öffentliche und private Sicherheit im Lande gewesen ist, und nach der ganzen innern Verfassung seyn konte. Aber in der durchs Erdbeben verursachten algemeinen Zerrüttung und Anarchie hörte alle noch übrige Zucht und Ordnung auf, und die bemittelteren Einwohner musten nicht allein die Trümmer ihrer Besitzungen sehen, sondern auch das wenige, was sie gerettet hatten, oder aus dem Schutte hervorzusuchen bemüht waren, ward ihnen vom gemeinen Volke gestohlen, das überal aus Raubsucht aus den Dörfern in die Flekken und Städte eilte. Daher war auch die Lage der wohlhabenden Einwohner weit unglüklicher als des gemeinen Volks, das auf jener Kosten sich bald einen erträglichern Aufenthalt und Nahrung zu verschaffen wuste. Es wurden in den ersten Tagen nach dem Erdbeben Schandthaten begangen, vor denen die Natur schaudert. (180 f.)

In seinem Anliegen, ein vorurteilsfreieres Bild von der prekären Situation zu vermitteln, legt Bartels größeren Wert darauf, die sträflichen Fehlentscheidungen der Regierung statt den missratenen Charakter des »gemeinen Volks« anzuprangern. Nach den anfänglichen Maßnahmen der neapolitanischen Behörden, die die akute Not der Erdbebengeschädigten gelindert haben (z. B. die Implementierung einer ordnungsstiftenden Militärregierung unter dem Kommando des Marschalls Pignatelli und das Bereitstellen von Lebensmitteln) verfügt ein Großteil der Bevölkerung Kompendium Historische und geographische Beschreibung von Messina und Calabrien: »In den Jahrhunderten der Unwissenheit und der Barbarey sank dieses Land, so wie viele andere, bis zur untersten Stufe der Cultur und der Sitten, wurde wieder eine wilde, unfruchtbare, mit Hecken und Wäldern angefüllte Wüste; auch jetzt noch, seit der Wiederauflebung des Ackerbaues und der Künste, ist es vielleicht die Gegend von Europa, welche diese Vortheile am wenigsten benutzt hat« (6). 149  Münters Reisebericht Nachrichten von Neapel und Sizilien trifft bei Bartels auf große Zustimmung, weil darin das gleiche Ziel verfolgt wird, nämlich die ungenügende Katastrophenhilfe der neapolitanischen Regierungsleute zu kritisieren. Dennoch meint Bartels, wie er in der Vorrede zur zweiten Ausgabe anmerkt, Münters Verurteilung des kalabresischen Charakters sei »im allgemeinen etwas zu hart« (23).

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nicht über die für den Wiederaufbau notwendigen Hilfsgüter und ist somit zur Untätigkeit verdammt. Gemäß Bartels’ optimistischer Denkweise ergibt sich aus der Krise die einzigartige Chance, die inneren Seelenkräfte zu mobilisieren und durch gemeinnütziges Handeln Kalabrien zu einer erneuten Größe zu verhelfen. Jedoch sieht er in Anbetracht der gegenwärtigen Notlage diese Hoffnung dahinschwinden. Das drohende Schicksal der Kalabresen fasst er allegorisch im Bild eines verwelkenden Jünglings zusammen: Meiner Einbildungskraft zeiget sich ein Jüngling, voll Kraft, Mut und gutem Willen, die Mitleidsträne die seinem Auge entfällt, ist ihm eine neue Aufforderung, das Werk der Rettung zu beginnen – er hilft, und es scheint als zerteilten sich die diken Wolken des Elends; aber, was seh’ ich? die Metamorphose ist traurig! – der rasche tätige Jüngling ist auf einmal ein mutloser, untätiger, schwacher Greis geworden; sein Ohr ist taub gegen jede Klage, sein düstrer Blik sihet die Schrekenszenen nicht mehr, sein Arm ist ohne Kraft, und sein Mut im Schlummer eingewigt. Auf einmal sinkt die Hoffnung von Rettung, und um desto schreklicher ist das Unwetter das sich izt über das Land aufs neue zusammen zihet, da ihm ein heitrer Frühlingsmorgen aufzugehen schin. (385)

Die häufige Verwendung des Tätigkeitsbegriffs lässt darauf schließen, dass Bartels die Sprungfeder für den gesellschaftlichen Fortschritt in der Maximierung der individuellen Handlungsfähigkeit festlegt. Auch wenn die Situation in Kalabrien beklagenswert ist, stößt er während seiner Reise auf einzelne Orte, wo er die Anfänge eines Umbruchs zu erkennen vermeint. Dazu gehört die zerstörte Stadt Seminara, deren Anblick sein Gemüt aufs heftigste bewegt: »[D]ie Trümmer scheinen zwekmäßig von der Natur hingeworfen zu sein, um den Fremden die Macht ihrer Zerstörung zu verkünden« (355).150 Gleichwohl, den allgegenwärtigen Widrigkeiten trotzend, haben die Überlebenden den Mut gefasst, ihre Handelsstadt nach geometrischem Muster und in erdbebensicherer Bauweise völlig neu auferstehen zu lassen. 150  Bezeichnenderweise

bringt Bartels in Anbetracht der zerstörten Stadt Seminara nicht die notwendige psycho-physische Distanz auf, um sich dem Reiz melancholischer Gefühle hinzugeben. Diese Problematik wird in den Ästhetiktheorien des Erhabenen im 18. Jahrhundert thematisiert: »Wie ich unter den Ruinen Pompeji’s hinwandelte und die Gebeine der Alten aus der Asche hervorgraben sah, fülte ich tiefes Mitleiden mit dem traurigen Schiksale der Einwoner: aber zu so einem Gefül, das Tränen epreßte, ward meine Seele nicht hinab gestimmt; die Menschen, die dieß Unglük traf waren meine Zeitgenossen, das Unglük, was ihnen begegnete wirkte daher, je näher sie mir waren, desto stärker auf mich, und ich fülte mich selbst, da die Erde noch immer fort im Innern tobte, einem änlichen Schiksal unterworfen. Ich sah noch izt Menschen, die ehemals in diesen Häusern wonten, aus dem Schutte die Gebeine der Ihrigen und ihre Reichtümer hervorsuchen, und was am heftigsten auf mich wirkte, war der Anblik eines Schädels, den ein Mädchen so eben aus den Ruinen hervorzog: alles das versezte mich in eine gewisse Betäubung, so daß ich schweigend und starr durch die Zerstörung hinritt« (355 f.).

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Die miteinhergehende utopische Vision einer egalitären Gesellschaft kommt deutlich zum Ausdruck, wenn Bartels die »einstimmige Sprache des Volks« zitiert: »Eine jede Familie bringt die Materialien zu ihrem Gebäude, an Ort und Stelle hin, dann wird ihr ein Plaz angewiesen, und ihr von der ganzen Kommunität, worin sie es bedarf, hülfreiche Hand geleistet« (376). Es sind die Städter, die handelstreibenden Bürger, die die gesellschaftliche Erneuerung Kalabriens vorantreiben und daraus den größten Nutzen ziehen werden. Bartels lobt ebenfalls die Aufbauarbeiten im Fischer- und Handelsstädtchen Pizzo. Entgegen den vorherrschenden Vorurteilen besitzen die Kalabresen durchaus den Drang zur Tätigkeit und erkennen im Reichtum des Landes den Grund für ihre wirtschaftliche Prosperität: Die Einwoner dieser Stadt sind ein Beweis gegen die, die in der Güte des Bodens und den vielen und reichen Produkten des Landes den Grund der Untätigkeit der hisigen Einwoner suchen, sind ein Beweis von dem, was sich aus den Kalabresen bilden liße: es kommt nur alles darauf an, daß der Mensch Hoffnung hat, die Frucht seiner Arbeiten selbst erndten zu können, nur alles darauf, daß durch Aufforderungen und Belonungen einigen von ihnen ein elektrischer Stoß beigebracht werde, er wird sich sicher auf die ganze Menge verbreiten. Sage man mir doch das nicht, daß in unserm Europa irgend ein Volk sein sollte, das liber untätig in Sklaverei leben und unglüklich sein, als arbeitsam im Genusse des Glüks leben wolle! (323)

Die in den Reiseberichten stets betonte Fekundität Kalabriens, die angeblich für die Trägheit der Bevölkerung verantwortlich sein soll, wird von Bartels zum Vorteil der Notleidenden umgedeutet.151 In der Wertschätzung der fruchtbaren Gebiete um Monteleone fällt er auf den Topos der reichen und erfüllten Natur zurück, die die Schäden der zyklisch wiederkehrenden Erdbeben zu kompensieren vermag: Denken Sie sich, wenn unsre Distrikte durch änliche Erdrevolutionen heimgesucht würden, welch ein Elend da entstehen müßte! Bei uns ernärt das Land seine Einwoner nur, bei genauer, sorgsamer Pflege; hier auch ohne diese; welch eine Hungersnot müßte sonst nicht unausbleiblich das Elend des Landes vermert haben? Wo die einbrach, und sie zeigte sich wirklich in einigen Gegenden, da war es ein Feler der getroffenen Anstalten, durch die man nicht schleunig genug die rechten Vor151  Vgl.

folgende Stelle aus Hamiltons Bericht: »[…] und wenn ihre Volksmenge und der Fleiß mit der Fruchtbarkeit übereinstimmten, so könten die Einkünfte des jenseitigen Calabriens in kurzer Zeit gewiß mehr als verdoppelt werden« (1357). Dolomieu äußert sich diesbezüglich weit vorsichtiger. Er scheut sich davor, die Kalabresen und die Regierungskräfte zu kritisieren: »On ne peut pas se former l’idée de la grande fertilité de la Calabre surtout de la partie dite la PLAINE. Elle est au dessus de tout ce qu’on peut s’imaginer. Les champs couverts d’oliviers, les plus grands qui existent nulle part, sont encore susceptibles d être ensemencés. […] Le peuple seroit enfin le plus heureux de la terre si … mais il n’entre pas dans mon plan de faire la critique, ou du gouvernement, ou des seigneurs particuliers qui ont de vastes possessions en Calabre« (24).

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kerungsmittel aufzufinden wußte, nicht Mangel an Erzeugungskraft des Bodens. Oft hab’ ich bei Betrachtung dieses glüklichen Landes die Weisheit der Vorsehung bewundern müssen, daß sie im Schooße der Gegenden, die solche Zerrüttung nach der Einrichtung des Ganzen erdulden mußten, hinreichenden Segen verschloß, um die Tränen der Einwoner zu troknen. (341 f.)

Die Passage verweist unmissverständlich auf die Dauerhaftigkeit der stoischen Naturauffassung: In der weisen Einrichtung des Naturganzen kann nicht der Grund für das Elend liegen. Vielmehr tragen die fehlgeleiteten Handlungen des Menschen, die vom Segen der Natur keinen Gebrauch machen, die Schuld daran. Überblickt man die in Deutschland publizierten Nachrichten über das erschütterte Kalabrien, so gewinnt man den Eindruck, dass die Erdstöße im wahrsten Sinne verheerend auf die gesamte Infrastruktur der süditalienischen Provinz gewirkt haben. In dem von Michele Torcia (1736–1808) zusammengestellten Bericht, dessen deutsche Übersetzung in der Septemberausgabe des Teutschen Merkur 1784 erschien, wird das riesige Ausmaß der Zerstörungen beklagt, das auf sonderbare Weise mehr die geistlichen als die weltlichen Gebäude heimgesucht hat. Unzählige Klostergüter wurden zu Grunde gerichtet und der Berichterstatter lässt verlauten, dass den Regierungshäuptern gerade die Unterbringung der obdachlos gewordenen Nonnen große Schwierigkeiten verursacht habe: »Zehn Nonnen zu Terranova, die dem Tode entgangen waren, lebten unter einer elenden Hütte von Bretern, indeß daß die Gouverneurs der Städte sich um die Art und Weise zanckten, ihnen ein anständiges Obdach zu verschaffen« (219). William Hamilton kommt in seiner Reiseschilderung ebenfalls auf die gesellschaftlichen Veränderungen zu sprechen, die aus dem Verlust der geistlichen und öffentlichen Einrichtungen hervorgingen: Ich kan nicht umhin, hier zu bemerken, daß die Nonnen, welche gleichfalls in Barracken wohnen, unter der Aufsicht ihres Beichtvaters stets umher wandelten, munter, und der Freiheit zu genießen schienen, die das Erdbeben ihnen verschaft hat. Eben dieses bemerkte ich auch an den Schulknaben zu Reggio, so, daß die Anmerkung in meinem Tagebuche, welche ich in der Eile schrieb, […] folgendermaaßen abgefaßt war: Erdbeben, den Nonnen und Schulknaben besonders angenehm. (1395 f.)152 152 

Raul Calzoni interpretiert diese Stelle aus Hamiltons Nachricht als ein Beispiel der »aufgeklärten Anthropologie« (376). Hamiltons Beobachtungen werden allerdings vom Vorurteil getragen, dass die Kalabresen aufgrund ihres lethargischen Charakters sich nicht aus ihrer Misere zu helfen wissen, und deswegen die Intervention der Regierung benötigen. Auffallend ist Hamiltons unzweideutiges Vertrauen in die gegenwärtigen und zukünftigen Regierungsmaßnahmen: »Auf meiner ganzen Reise bemerkte ich […] allenthalben eine hervorstechende Gleichgültigkeit, Unthätigkeit und Muthlosigkeit, welches ein schlimmer Umstand ist, da solch ein schweres und allgemeines Unglück bloß durch eine der herrschenden gerade entgegengesetzte Denkungsart, nur gemildert werden kan; da aber die hiesige Regierung in ihren Bemühungen dem gegenwärti-

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Der Einsturz der scheinbar freiheitsraubenden Klostermauern hatte jedoch weit gravierendere Folgen, als sie Hamilton zu diesem Zeitpunkt erkennen konnte. Laut Münter wurden nämlich gleich nach dem Erdbeben alle frommen Stiftungen in Kalabrien von der Regierung sequestriert.153 Infolge dieses Dekrets hatten die Mönche und Nonnen überhaupt nicht die Gelegenheit, zu ihren Orden zurückzukehren, sondern bekamen mit dem Erhalt einer ausreichenden Pension die »Erlaubnis« sich zu säkularisieren. Der aus der Verpachtung der Klostergüter und dem Verkauf der Kirchenschätze gewonnene Erlös floss in eine gemeinnützige Kasse, die Cassa Sagra, die den Wiederaufbau Kalabriens ankurbeln sollte. Bartels würdigt diese vom Vatikan genehmigte Klosterauflösung als fortschrittlich, da die Landbevölkerung unter der Herrschaft der Geistlichen sowieso nur ausgebeutet und ihrer Handlungstätigkeit beraubt wurde (vgl. 387). Mit den bereitgestellten Geldern war es nun möglich »die Unglüklichen zu unterstüzen, die Seen auszutroknen, die öffentlichen Gebäude wieder zu erbauen, Akerbau zu befördern, kurz alles zu tun, was das Wohl der Provinz bewirken könnte« (391). Hiermit dürften nun endlich alle Hindernisse hinweggeräumt werden, die der »Tätigkeit der Menschen« im Wege standen (394). Zum Zeitpunkt von Bartels’ und Münters Aufenthalt in Kalabrien waren die anfänglich fruchtbaren Regierungsmaßnahmen jedoch ins Stocken geraten. Mit der Aufhebung der Klöster entstanden unvorhergesehene soziale Missstände. Für viele Bauern verschwand die einzige Einnahmequelle, als der Handel mit den Geistlichen stagnierte, und eine neue Armut machte sich in der Provinz breit. Die Regierung war ihrer Pflicht, den Untertanen ihre Produkte abzunehmen, und durch »Aufmunterungen und Belonungen« die »Handlungstätigkeit« zu mobilisieren, nicht nachgekommen (Bartels 388). Ferner kollabierte mit dem Wegfallen der Klosterschulen eine wesentliche Bildungseinrichtung in Kalabrien. Der Jugend drohte nun die Gefahr, völlig zu verwildern. Sei es deshalb nicht verwunderlich, so klagt Bartels, »wie unter dem Himmelsstriche, wo einst die gebildetsten Menschen wonten, itzt ein so rohes Volk aufwachsen könne?« (389). Münter hingegen verweist auf die Grenzen des Säkularisierungsprozesses, indem er die Frage aufwirft, ob es überhaupt richtig gewesen sei, gerade zu diesem Zeitpunkt die Klöster in ganz Kalabrien zu schließen. Die Austreibung des Aberglaubens bzw. die Aufhebung der gen Uebel abzuhelfen, und dem wahrscheinlich hervorstehenden vorzubeugen, unermüdet ist, so steht zu hoffen, daß die neulich gemachten großmmüthigen und weisen Einrichtungen, den Einwohnern diejenige Thatkraft wieder geben werden, woran es ihnen fehlt, und ohne welche eine der reichsten Provinzen in Europa in Gefahr steht, ins äußerste Verderben zu gerathen« (1389 f.). 153  Emanuela Guidoboni erörtert die Etablierung der Casa Sagra folgendermaßen: »Cette énorme désastre sismique représenta une occasion pour essayer une redistribution des ressources économique, surtout de la probrieté foncière. Le projet prévoyait une procédure compliquée d’expropriation des biens que l’Eglise possédait en Calabre, procédure programmée par le gouvernement bourbonien en juin 1784, par l’institution de la Caisse Sacrée« (55).

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katholischen Einrichtungen hat die Bevölkerung nämlich um eine essentielle psychologische Stütze gebracht: [W]ar es aber billig und menschlich, einem durch das gröste öffentliche Elend gebeugten Volk seinen Aberglauben, der ihm nun einmal die Stelle der Religion vertrat, unter Umständen zu nehmen, die an keine bessere Belehrung, wenn auch diese das Werk eines Augenbliks seyn könte, denken liessen? Aber man nahm ihm nicht blos seinen Aberglauben, man nahm ihm auch wirklichen Trost. (191)

Es ist dann auch nicht verwunderlich, dass Münter im Gegensatz zu Bartels nicht den Standpunkt vertritt, dass die Auswirkungen der Erdrevolutionen jemals grundlegende gesellschaftliche Umbrüche einläuten werden. Ihm dünkt es sonderbar, wie wenig die Süditaliener aus dem Erdbeben machen: »Man redet davon als von einer altäglichen Sache, und vergist den erlittenen Verlust fast eben so schnell, als die ersten Folgen davon überstanden sind« (206). Im zerstörten Oppido haben die Bewohner darauf bestanden, ihre neue Stadt genau am gleichen wasserkargen Flecken wiederaufzubauen, obschon »die Regierung eine schöne ¾ Meilen entfernter gelegene Ebene ausersehen, in der Wasser im Ueberflus war« (196).154 Gleichermaßen werden die Bewohner von Messina wieder einem ähnlichen Unglück anheim fallen; »denn man baut izt, wie man vorher baute, und vielleicht noch schlechter« (206).155 Münters Bericht erschöpft sich in der scharfen Kritik des moralischen Desasters nach den Erdbeben: Die Maßnahmen der Obrigkeit und das Verhalten der betroffenen Bevölkerung verurteilt er als skandalös. Mögliches Mittel gegen die Missstände wäre wohlmöglich das härtere Durchgreifen der provisorischen Militärregierung gewesen: »Unter solchen Umständen hätte die despotische Verwaltung, die aus der Militairregierung nothwendig entstehen muste, Nuzen gestiftet; die im Königreich Neapel mehr als irgend anderswo langwierigen Prozesse abgeschnitten, und schnel die höchstnöthige Subordination eingeführt« (181 f.). Hierdurch wäre »vielen Familien« wieder »zu ihrem Eigenthum« verholfen worden (182). Ihm leuchtet es nicht ein, dass die Kalabresen und Sizilianer überhaupt in der Lage wären, zu einer eigenständigen Tätigkeit bewegt zu werden. Bartels hingegen erhofft sich, dass er mit seinen Nachrichten die Lebensumstände verbessern könnte. Als er nach seiner Reise von einem einflussreichen Mann am neapolitanischen Hofe 154 

Diese Information stammt aus Dolomieus Bericht (vgl. 51f.). Wolfgang von Goethe mokiert sich in seiner Italienischen Reise (1816/17) ebenfalls über den chaotischen Zustand in der Hafenstadt Messina, die er im Mai 1787, also nicht lange nach den Reisen von Bartels und Münter, besucht hat: »Nach dem ungeheuren Unglück, das Messina betraf, blieb nach zwölftausend umgekommenen Einwohnern für die übrigen dreißigtausend keine Wohnung […]. So wohnen sie nun schon drei Jahre, und diese Buden-, Hütten-, ja Zeltwirtschaft hat auf den Charakter der Einwohner entscheidenden Einfluß. Das Entsetzen über jenes ungeheure Ereignis, die Furcht vor einem ähnlichen treibt sie, der Freuden des Augenblicks mit gutmütigem Frohsinn zu genießen« (HA 11: 302). 155  Johann

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vernommen hat, man sei nur schlecht über das herrschende Elend in Kalabrien informiert, überreicht er ihm Teile seines Berichts, die dem König mitgeteilt werden sollten (vgl. 384 f.). Ferner verspricht sich Bartels ein Wiederaufblühen des geplagten Landes, sobald man »gelernt hat, Ableiter gegen das Erdbeben, wie gegen den Bliz zu sezen« (433). Statt staatlicher Willkür plädiert er für die Aufklärung der süditalienischen Bevölkerung und für die Reformierung der Regierungskräfte. Die Naturübel hingegen sollen mithilfe der empirischen und experimentellen Naturwissenschaften bezwungen werden. Bartels’ Fortschrittsoptimismus wird jedoch nicht von allen Seiten geteilt. Im Bericht »Beschreibung des Erdbebens, welches den 5ten Februar 1783 die Stadt Messina und die halbe Provinz Calabrien verwüstet hat« (1784) äußert Michele Torcia sein Unbehagen vor den schier unaufhaltsamen und übermächtigen Naturgewalten, die sich den Versuchen einer homogenen Sinnstiftung entziehen. Bevor der neapolitanische Gelehrte die gewaltsame Wucht der Erdbeben am Beispiel der erschütterten Berge darstellt, verweist er auf die Erklärungsnot der Naturphilosophen, dieses außerordentliche Naturphänomen empirisch zu erschließen. Weil das Erdinnere dem menschlichen Blickfeld verborgen bleibt, lässt sich keine eindeutige a posteriori Ursachenbegründung der seismischen Umwälzungen formulieren: Die Philosophie zerbricht sich hier den Kopf, die Ursache so großer Verwüstungen zu entdecken. Sie möchte in das Eingeweide der Erde dringen, aus ihrem innern Bau dieselben zu erklären; aber alle ihre Bestrebungen sind unnütz. (207)

Weiterhin bieten selbst die vorsorglichen Maßnahmen, einstöckige Wohnhäuser zu errichten und Erdbebenableiter aufzupflanzen, kaum einen verlässlichen Schutz vor der drohenden Gefahr aus dem Erdinneren: Was hilft aber ein so schwaches Gegenmittel, wenn die Natur zu einem gänzlichen Umsturz des Erdbodens aufgelegt ist? Wozu würden die elektrischen Stangen […] dienen, wenn sie nicht einmal die Haut der Erde durchdrängen? (225)

Es wird deutlich, dass das Angstpotential vor plötzlich auftretenden Erderschütterungen trotz der empirischen Naturaneignung bestehen bleibt. Wie Seneca im sechsten Buch der Naturales quaestiones mit ergreifenden Worten veranschaulicht hat, scheint es kein Entrinnen vor den Erdbeben zu geben. Folgende Passage, die Bartels in seinen Briefen ebenfalls zitiert (vgl. 6), sei an dieser Stelle nochmals angeführt: Dieses Unheil […] dehnt sich weit aus, ist unentrinnbar, unersättlich und trifft ganze Völker. Es verschlingt ja nicht nur Häuser oder Familien oder einzelne Städte, nein, es reißt ganze Völker und Regionen in die Tiefe und begräbt sie bald unter Schutt, bald versenkt es sie in einen tiefen Schlund und läßt nicht einmal eine Spur

Naturkatastrophen als Faszinosum und moralische Herausforderung

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übrig, an der man sehen kann, daß hier, was nicht mehr da ist, wenigstens da war. (325 f.)

Die Frage stellt sich nunmehr, mit welchen anderen Mitteln der Naturfurcht entgegen gewirkt wird, wenn die vorherrschenden Schutzvorrichtungen und Deutungsmuster ins Wanken geraten und versagen. Angesichts des chaotischen Wirkens der Natur verbleibt dem bedrängten Subjekt der Sprung ins Transzendente; sich als moralisch überlegendes Vernunftwesen zu stilisieren. Ein grundlegendes Kriterium der Katastrophenbewältigung, das sich in Bartels’ Briefen – und ansatzweise bereits in Johann Georg Zimmermanns Lehrgedicht »Ueber die Zerstörung von Lisabon« – konkretisiert hat, ist die praktische Selbstbehauptung während Krisenzeiten. Furcht und Mutlosigkeit wenden die Situation nach dem hereingebrochenen Unglück bloß zum Schlimmeren. Der Mensch soll gerade dann, den blind agierenden Naturkräften trotzend, tätig werden. In Bartels’ Denken manifestiert sich eine Gesinnung, die an Immanuel Kants Formulierung der empfundenen Erhabenheit über die unberechenbare und zerstörende Natur in der Kritik der Urteilskraft gemahnt. Freilich zeichnet sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine subjektive Wende in der Erhabenheitserfahrung ab, sofern die Tätigkeit der inneren Gemütskräfte zu ihrem bestimmenden Kriterium wird. Die gewaltsamen Naturmächte im süditalienischen Raum übten auf eine Vielzahl von Reisenden eine unwiderstehliche und seelenerhebende Anziehungskraft aus. Auf ihrem Reiseplan durfte die Besteigung des Vesuvs nicht fehlen, was auf die fortgeschrittene Ästhetisierung der schreckenerregenden Natur hindeutet.156 Bartels schildert exemplarisch folgende Grenzerfahrung auf dem Vesuvgipfel, den er während seiner Durchreise nach Kalabrien mit einem englischen Reisegefährten bestieg: [V]orher erbebte die Erde gewöhnlich dreimal, man hörte ein tobendes Gebrüll in derselben, es rollte im Innern die Masse unter einander, als löste sie sich auf, und dann drängte sich auf einmal der fürchterlich schöne Feuerstrom mit donnerndem Getös aus dem für ihn zu engen Schlunde. Hier fühlte ich an der Seite meines künftigen Reisegefärten die ersten Schreken der erbebenden Erde – aber wüßte ich Ihnen auch meine Empfindungen zu erzälen, Sie könnten sie mir doch nicht nachempfinden. Indeß einen solchen Kampf zwischen meinem Willen und meinem Instinkte fülte ich nie. Es war mein fester Vorsaz, ich wollte die schreckliche Szene ansehen, und mein Reisegfärte versprach es mir, mich nicht zu verlassen, aber es kostete uns 156  Vgl.

Goethes Besteigung des Vesuvs mit Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (1722– 1789) am 6.  März 1787, die er in seiner Italienischen Reise (1816/17) aufgezeichnete (HA 11: 192–197). Dieter Richter hat in seiner Anthologie Der brennende Berg. Geschichten vom Vesuv (1986) eine Reihe von zeitgenössischen Texten des 18. Jahrhunderts zusammengestellt, die den ausbrechenden Vesuv als ästhetisches Naturschauspiel schildern (vgl. 35–55).

218

Naturkatastrophen als diskursives Problem

beiden unglaublichen Zwang, daß wir nicht unwillkürlich der übrigen Gesellschaft nachliefen, von der keiner blieb. So bis in mein Innerstes erschüttert war ich noch nie, die Furcht presste Tränen aus meinen Augen, und es gehörten Minuten dazu bis ich ruhig die schreklich schöne Szene betrachten konnte. (28)157

Der Genuss an der Schreckenslust, die willentliche Unterdrückung des inneren Dranges, vor der drohenden Naturgefahr zu flüchten, gibt unmissverständlich die Bilanz einer vorangegangenen Kultivierung des Sinnenmenschen zu erkennen. Den bedrohlichen Naturphänomenen wird ein ästhetischer Reiz zugesprochen, der sich einer begrifflichen Durchdringung widersetzt und auf das empfindende Subjekt nicht abschreckend, sondern im Gegenteil anziehend und erhebend wirkt.

157 

Weit prosaischer fällt Goethes Beschreibung des Vesuvkraters aus. Auch er unterlag der Versuchung mit einem jungen Bergführer, das Innere des aktiven Vulkanes zu besichtigen: »Wie aber durchaus eine gegenwärtige Gefahr etwas Reizendes hat und den Widerspruchsgeist im Menschen auffordert, ihr zu trotzen, so bedachte ich, daß es möglich sein müsse, in der Zwischenzeit von zwei Eruptionen den Kegelberg hinauf an den Schlund zu gelangen und auch in diesem Zeitraum den Rückweg zu gewinnen« (HA 11: 193 f.). Der Blick in den ungeheuren Rachen widersprach jedoch seinen Erwartungen, da er vor lauter Qualm kaum etwas erkennen konnte: »Der Anblick war weder unterrichtend noch erfreulich, aber deswegen, weil man nichts sah, verweilte man, um etwas herauszusehen« (194). Erst aus der gehörigen Distanz erscheint ihm der Kegelberg als eine erhabene Naturgröße: »Solange der Raum gestattete, in gehöriger Entfernung zu bleiben, war es ein großes, geistererhebendes Schauspiel« (HA 11: 193). Es wird deutlich, dass Goethes Vesuvbesteigung durch vorgefasste Bilder bereits gefärbt worden ist.

II. Naturk atastrophen als ­ ästhetische Her ausforderung

A. Das Erhabene als Inbegriff der beherrschten Natur? Ruth und Dieter Groh vertreten in ihrem Aufsatz »Von den schrecklichen zu den erhabenen Bergen. Zur Entstehung ästhetischer Naturerfahrung« die vorherrschende These, dass die schriftlich festgehaltenen Alpenerlebnisse der englischen Aristokraten grundlegend für die Begriffskonstituierung des Naturerhabenen gewesen seien. Des Weiteren verweisen sie auf den gewichtigen Beitrag der physikotheologischen Schriften, die den Weg für den ästhetischen Genuss der unzweckmäßig und hässlich erscheinenden Natur ebneten. Das Bestreben der Physikotheologen, die Weisheit Gottes selbst im scheinbar Unschönen und Schädlichen zu begründen, ist einerseits als Gegenentwurf zum pessimistischen Weltbild protestantischer Theorien zu verstehen, die mit den »Argumenten der ›Decay-These‹« weiterhin für eine christliche Weltverneinung plädierten. Andererseits wirkten die Physikotheologen der sich im 17. Jahrhundert etablierenden Vorstellung eines mechanischen Weltbildes entgegen: »Ihr großes Harmonisierungsprogramm zur Rettung der alten Einheit eines christlich-platonisch verstandenen Kosmos war die Antwort auf den Schock der Kopernikanischen Wende« (114).158 Wie ich unten differenzierter ausführen werde, wurde »das Erschrecken der Menschen angesichts eines grenzenlosen Weltalls« durch die Vorstellung eines unendlichen und allgegenwärtigen Schöpfergottes aufgewogen (122). Die Grohs legen in der Wahrnehmung des inkommensurablen Göttlichen den Kern der Erhabenheitserfahrung fest: Das Übersinnliche, identifiziert mit der Allgegenwart des Göttlichen, ist der Sache nach seit je das Erhabene, das durch seine metaphysische Größe den Geist des Menschen herausfordert, indem es ihn zugleich überwältigt und erhebt. (124)

158 

Ruth und Dieter Groh berufen sich in ihrer Darstellung des »Kopernikanischen Schocks« auf die Arbeit Das Werden der Aufklärung (1957) von Wolfgang Philipp. Im Abschnitt »Kosmischer Nihilismus und Nihilistischer Kosmos im 17. Jahrhundert« behauptet er, dass der nach der »leidenschaftlichen sinnenoffenen Weltfreude der Renaissance« auftretende »kosmische Nihilismus« des Barocks vom »heliozentrischen Chok«, der das »Haus der Welt« zertrümmert hatte, herbeigerufen wurde (78 ff.). Philipp betrachtet wie Ruth und Dieter Groh die physikotheologischen Stellungsnahmen als synchrones Ereignis zu diesem bewusstseinsgeschichtlichen Umbruch: »Die Physikotheologie des 17. Jahrhunderts, die heliozentrischen Chok, barocke Klage und spezifische Antwort zugleich demonstriert, scheint so etwas wie einen ätiologischen Schlüssel zu den bewußten und unterbewußten Tiefen des Hochbarock darzustellen« (81).

220

Naturkatastrophen als ­ä sthetische Herausforderung

An die Forschungsergebnisse von Marjorie Hope Nicolson (1894–1981) und Ernest Tuveson (1915–1996) anknüpfend, erläutern sie anhand der Schriften Democritus Platonissans (1646) und An Antidote against Atheism (1652) des Cambridger Platonisten Henry More (1614–1687), wie die Betrachtung des unermesslichen Weltgebäudes, das das Übersinnliche symbolisch versinnbildlicht, sich auf die sinnliche Wahrnehmung der großen Gegenstände in der sublunaren Natur niedergeschlagen habe: »Es findet gewissermaßen ein Transfer vom ›Himmel‹ auf die ›Erde‹ statt« (124). Die sich vollziehende geistige Kehrtwende im ästhetischen Urteil des Unregelmäßigen und Disharmonischen in der Natur lässt sich am Beispiel der wachsenden Begeisterung an der alpinen Landschaft im 17. und 18. Jahrhundert schlüssig nachvollziehen, und es kommt daher nicht von ungefähr, dass die Forschungsliteratur die kulturhistorische Genese des Wundersamen und Erhabenen in der Natur am Topos der Berge herausgearbeitet hat. Freilich gehen die Anstrengungen der Physikotheologen, die rezipierten Naturübel als uneigentlich zu überführen und in Anbetracht eines unendlichen Weltganzen zu relativieren, mit diesem Wandel in der ästhetischen Naturwahrnehmung Hand in Hand. Auch ist zu bedenken, dass die ungestümen Naturgewalten im Vergleich zu den übermäßigen Naturgrößen weit gewichtigere Widerstände für den ästhetischen Genuss bereiten. Der Modus der lebensbedrohlichen Natur, der gerade für die Erhabenheitserfahrung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts konstitutiv ist – man denke an die Ästhetiktheorien von Edmund Burke (1729–1797), Immanuel Kant und Friedrich Schiller –, wird von den Grohs unterschlagen. Ihre Untersuchung ist bezüglich der Begriffsbildung des Schrecklich- bzw. des Dynamisch- oder Praktischerhabenen nur begrenzt aufschlussreich. Zugegebenermaßen enthalten die Berge Gefahren, aber das ästhetische Hauptaugenmerk gilt ihrer scheinbar unermesslichen und ungleichmäßigen Form, die von der schrecklichen Zerstörungskraft Gottes während vorzeitlicher Kataklysmen zeugt. Die Frage stellt sich, wie in der Frühen Neuzeit sich erneut ereignende Naturumwälzungen ästhetisch verarbeitet wurden. Christian Begemann hat sich in seinem Standardwerk Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung mit der Problematik der schreckenerregenden Natur eingehend befasst. In dem für unseren Zusammenhang wichtigen Kapitel »Die Furcht vor der äußeren Natur im Prozeß der Naturbeherrschung« argumentiert Begemann, dass dem Erhabenheitsbegriff die theoretische, oftmals aber auch die praktische Herrschaft über die Natur vorangehen müsse, die während der Aufklärung unter dem Banner der »Entzauberung der Natur« ihre Breitenwirkung gezeigt habe (111). Erhabene Naturgegenstände und -ereignisse seien als solche zu betrachten, die sich dem Zugriff des wahrnehmenden Subjekts entziehen, »indem sie seine physische Widerstandskraft überschreiten, seine kognitiven Fähigkeiten überfordern oder unheimliche Vorstellungen in ihm hervorrufen, deren er sich nicht erwehren kann« (124). Ehemals übernatürliche und wunderbare Naturphänomene verdinglichen

Das Erhabene als Inbegriff der beherrschten Natur?

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sich im Siegeszug der empiriegeleiteten Naturwissenschaften zu kausal-physikalisch eruierbaren Prozessen: »Die Wissenschaft erlaubt, in dem, was auf den ersten Blick unfassbar und regellos erscheint, Strukturen, Formationen und Ordnungen zu erkennen, das unfaßliche Unbekannte in Bekanntes und Begreifbares zu übersetzen, dadurch die unermeßliche Differenz zwischen Subjekt und Objekt zu verringern und so die Beunruhigung des Betrachters abzubauen« (135). Erst mit dieser objektivierenden Perspektivierung ist die Basis für das Sicherheitsgefühl geschaffen, das den ästhetischen Genuss der bedrohlich wirkenden Natur gewährleistet: Ist die Natur im Falle der Sicherheit nun zwar nicht aktuell bedrohlich, so bleibt ihr der Mensch doch auch weiterhin potentiell ausgesetzt und prinzipiell unterlegen. In dieser Spannung erst kann sich das Gefühl des Erhabenen entfalten, in dem sich so zugleich der Erfolg und die Grenzen der Naturbeherrschung spiegeln; für sein Zustandekommen ist entscheidend, daß die Sicherheit das Bewußtsein der Übergröße und Übergewalt der Natur nicht auslöscht. Begründen diese auf der einen Seite Unlust und Schauer, die nun aber nicht mehr mit wirklicher Furcht identisch sind, so werden sie auf der anderen zum Gegenstand bzw. Anlaß angenehmer Empfindungen. (136)

Im 18. Jahrhundert vollzieht sich ein grundlegender Wandel in der Naturwahrnehmung, weil der immanente Naturbegriff die Ästhetisierung immer weit umfassenderer Naturbereiche ermöglicht: »Das einstmals Fürchterliche, von dem Furcht nun nicht mehr, oder nicht mehr im früheren Ausmaß ausgeht, kann so zum ›Erhabenen‹ werden« (111). Mit der Entzauberung der Natur geht ebenfalls eine Schwächung der »unvermittelten religiösen Begründungen schrecklicher Naturerscheinungen« einher (125). Diese Verdrängung des moraltheologischen Deutungsmodells entspricht dem sich in der deutschen Aufklärung gewandelten Bild vom tyrannischen und schrecklichen deus absconditus zum gütigen und nach Vernunftprinzipien waltenden Gott (79).159 Infolgedessen wird »die traditionelle Interpretation einzelner Naturereignisse als direkter Ausdruck göttlichen Zorns, sofern sie in den Theorien des Erhabenen überhaupt noch erwähnt wird, meist nur in kritischer Abgrenzung diskutiert« (125). Außer in der Kantischen Kritik der Urteilskraft 160 soll dieser säku159 

Begemann umreißt die durch das veränderte Gottesbild erfolgte Reduzierung der Naturfurcht wie folgendermaßen: »Ermöglicht tendenziell erst die Reduzierung der Furcht – man denke an Gott als Tremendum – den neuen Naturbegriff, so führt umgekehrt dieser zum Hinfälligwerden der Naturfurcht in ihrer traditionellen Gestalt. Mit dem neuen Deutungsparadigma und dem mit Hilfe der Naturwissenschaften erworbenen Wissen verschwindet für die Aufklärer vieles von dem, was bisher in der Natur gefürchtet wurde: das Wirken von Geistern und Dämonen, der Zorn Gottes, die Ankündigung kommenden Unheils usw. In vielen Fällen verlieren so einstmals fürchterliche Ereignisse jeden Schrecken, in anderen schrumpft Naturfurcht auf die Furcht vor einer ›natürlichen‹ Gefahr« (85). 160  Immanuel Kant weist in seiner Analyse des Dynamisch-Erhabenen der Natur darauf hin,

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Naturkatastrophen als ­ä sthetische Herausforderung

larisierte Erhabenheitsbegriff auch in Johann Georg Sulzers Allgemeine Theorie der schönen Künste (1771/74) und Carl Grosses (1768–1847) Ueber das Erhabene (1788) ablesbar sein, obwohl die beiden letzten Autoren hinsichtlich entfesselter Naturgewalten den Bezug zur unbeschränkten Allmacht Gottes schaffen: »Gleichwohl spielt die religiöse Deutung hier wie allgemein in der Erhabenheitsdiskussion nur noch eine periphere Rolle; selbst bei Sulzer und Grosse, wo sie im Gegensatz zu den weitaus meisten anderen Theoretikern immerhin überhaupt noch auftaucht, wird der Vorgang der ›Erhebung‹ primär mit anderen Instrumentarien analysiert« (141). Die im Gefühl des Erhabenen aufgehobene Naturfurcht, die »als quasi aufgeklärte« identifiziert werden kann, deckt sich kaum mehr mit der traditionell-religiösen: »Der entscheidende Unterschied zum Komplex der traditionellen Naturfurcht besteht darin, daß die von erhabenen Objekten potentiell ausgehenden Gefahren als lediglich ›natürliche‹ angesehen werden; die Tatsache der Entzauberung der Natur ist auch an den Theorien des Erhabenen abzulesen« (124 f.). Begemanns Argumentation basiert weitgehend, wie er selber bestätigt, auf dem im Jahre 1962 gehaltenen Vortrag Joachim Ritters (1903–1974) »Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft.« Von Francesco Petrarcas (1304–1374) Schilderung seiner im Jahre 1335 erfolgten Besteigung des Mont Ventoux ausgehend, behauptet Ritter, dass die ästhetische Zuwendung des wahrnehmenden Subjekts zur äußeren Natur erst in der Moderne erfolgen konnte. Petrarcas Unvermögen, sich dem ästhetischen Genuss der von der Gipfelhöhe erblickten Größe der Natur hinzugeben, hängt mit der engen Bindung zum neuplatonischen und christlichen Gedankengut zusammen. Statt auf die äußere Natur richtet Petrarca in Rückbesinnung auf Augustinus von Hippo (354–430) die Zuwendung seiner Seele – »[i]m Vergleich zu ihrer Größe ist nichts groß« (Petrarca 25) – vom Körperlichen zum Unkörperlichen hin: ein Gedankensprung, der sich von der aristotelischen Tradition der »θεωρία τοῦ κόσμου« leiten lässt (411). Die allumfassende Betrachtung (θεωρία) des Kosmos, der Natur als Ganzes, »das in ihr und als sie gegenwärtig ist« (414), geschieht nicht beliebig, sondern »gehört in die Sphäre des Festes und des festlichen Spiels zu Ehren der Götter und meint so genau: Anschauen, das dem Gotte zugewendet ist und so an ihm Teil gibt« (411). Im Gegensatz zum zweckgebundenen bzw. praktischen Verhältnis zur Außenwelt, wie es in den Wissenschaften (ἐπιστήμη) und Künsten (τέχναι) geschieht, erfolgt die theoretische Anschauung der Natur als Landschaft bloß in der freien Betrachtung der »theoretischen Philosophie« (412). Entscheidend ist, »daß für die philosophische Theorie über alle Unterschiede der Schulen hinweg das im Sinnfälligen scheinende Ganze nicht auch in diesem Sinnfälligen begriffen und als Sinnfälliges vergegenwärtigt werden kann« dass die angstvolle Niederwerfung vor Gott nichts mit der »Idee der Erhabenheit einer Religion und ihres Gegenstandes« zu tun habe (KW 5: 352).

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(418). Die Folie des metaphysischen Ganzheits­begriffs b­ estimmt von vornherein die Wahrnehmung der sichtbaren Natur. Erst in der so genannten Neuzeit, im Gefüge der durch die Naturwissenschaften kultivierten Subjekt-Objekt-Entzweiung wird ein von der begrifflichen Erkenntnis unterschiedenes Organ ausgebildet. Der »Geist« sieht sich genötigt, »im ästhetischen Gefühl, nicht in der Wissenschaft, sondern in Dichtung und Kunst, nicht im transcensus des Begriffs, sondern in ihm als dem genießenden Hinausgehen in die Natur« die »ganze Natur als des ›Göttlichen‹ zu vergegenwärtigen« (419). Ritter beruft sich auf die Geschichtsphilosophie Friedrich Schillers und insbesondere auf dessen Elegie »Der Spaziergang« (1795), um aufzuzeigen, dass für die ästhetische Naturzuwendung die Freiheit von Naturzwängen bzw. die Herrschaft über die Natur eine unumgängliche Voraussetzung sei: »So kommt Freiheit als Freiheit für den Menschen mit der Stadt und mit der Wissenschaft und Arbeit der modernen Gesellschaft zur Existenz, weil er sich mit ihr endgültig aus der Macht der Natur befreit und sie als Objekt seiner Herrschaft und Nutzung unterwirft« (431). Wo die Natur zu einer blind agierenden und demnach schrecklichen Gewalt ausartet, »die ihre Ketten zerbricht und den Menschen, den schutzlos Gewordenen, fortreißt«, ist es um den Naturgenuss geschehen. Daher sei die Freiheit, so resümiert Ritter, »Dasein über der gebändigten Natur« (433). Ruth und Dieter Groh haben im obigen Beitrag auf die Schwächen der RitterThese hingewiesen, insbesondere, dass er auf die »jeweilige bestimmte Gestalt« und die »geschichtliche Eigenart« der wahrgenommenen Natur nicht bestimmter eingehe (107). Dieses Defizit erklärt sich ihrer Meinung nach »aus der Tatsache, daß die großen Widerstände gegen die Pos[i]tivierung des Negativen, also gegen eine ästhetische Erfahrung der erhabenen Natur, zu der Zeit von Schillers ›Der Spaziergang‹ bereits überwunden waren« (107 f.). Gewiss liegen sie in ihrer Annahme richtig, dass die ästhetische Naturerfahrung bereits in der »vormodernen« Gesellschaft – und nicht erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, wie Ritter behauptet hat – auf dem Boden der »klassischen Vorstellung von der Einheit des Kosmos« begonnen hat (108). Allerdings ist fragwürdig, ob »die großen Widerstände« gegen die Malitätsbonisierung zum angegebenen Zeitpunkt tatsächlich aufgehoben waren. In seinem Aufsatz Über das Erhabene führt Schiller nach intensivem Kantstudium am Ende des 18. Jahrhunderts ein bedrohliches Naturbild auf, das überhaupt nicht mit dem aufklärerischen Erkenntnisoptimismus im Einklang steht: Eben der Umstand, daß die Natur, im großen angesehen, aller Regeln, die wir durch unsern Verstand ihr vorschreiben, spottet, daß sie auf ihrem eigenwilligen freien Gang die Schöpfungen der Weisheit und des Zufalls mit gleicher Achtlosigkeit in den Staub tritt, daß sie das Wichtige wie das Geringe, das Edle wie das Gemeine in einem Untergang mit sich fortreißt, daß sie hier eine Ameisenwelt erhält, dort ihr herrlichstes Geschöpf, den Menschen, in ihre Riesenarme faßt und zerschmet-

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tert, daß sie ihre mühsamsten Erwerbungen oft in einer leichtsinnigen Stunde verschwendet und an einem Werk der Torheit oft jahrhundertelang baut – mit einem Wort – dieser Abfall der Natur im großen von den Erkenntnisregeln, denen sie in ihren einzelnen Erscheinungen sich unterwirft, macht die absolute Unmöglichkeit sichtbar, durch Naturgesetze die Natur selbst zu erklären und von ihrem Reiche gelten zu lassen, was in ihrem Reiche gilt, und das Gemüt wird also unwiderstehlich aus der Welt der Erscheinungen heraus in die Ideenwelt, aus dem Bedingten ins Unbedingte getrieben. (SW 5: 804)

Schiller verdeutlicht wie Johann Jakob Scheuchzer Jahrzehnte vor ihm, dass der naturwissenschaftliche Diskurs angesichts der chaotischen Naturgewalten keine ausreichende Sicherheit zu verschaffen vermag. Mehr noch, während Scheuchzer in der Natur noch den verlängerten Arm der göttlichen Gerechtigkeit erkennen konnte, ist sie für Schiller eine amoralische Entität, die schicksalshaft in die Menschheitsgeschichte einwirkt. Das reduktionistische Aufbinden der ästhetischen Naturbetrachtung in der modernen bürgerlichen Gesellschaft auf die philosophiegeschichtliche Theorie einer durch die Wissenschaften erbrachten Naturbeherrschung ist problematisch. Freilich lässt sich der praktische Herrschaftsbereich an der domestizierten und in diesem Sinne schönen Natur weit sinnfälliger demonstrieren als an den unter die Kategorie des Erhabenen fallenden Naturgewalten. Gerade die auf Kants Kritizismus basierende Äußerung, es sei absolut unmöglich, »durch Naturgesetze die Natur selbst zu erklären«, offenbart jedoch den wunden Punkt in Begemanns Intention, den Affekt des Erhabenen auf dem vom immanenten Naturbegriff a priori erbrachte Sicherheitsgefühl zu begründen. Seine These bedarf einer kritischen Revision. Es gilt umfassender zu klären, inwiefern sich der immanente Naturbegriff im Zeitalter der Aufklärung festigen konnte, insbesondere welches Konfliktpotential dieser mit sich führte. Wie Ruth und Dieter Groh oben verdeutlicht haben, sind die Wissenschaften des 17. und 18. Jahrhunderts von naturphilosophischen Ansichten geprägt, die auf einer Vielfalt antiker und christlicher Denktraditionen fußen. Die Auffassung der Naturübel als natürlich-immanenter Vorkommnisse ist unter diesem Gesichtspunkt nicht unbedingt als eine Errungenschaft der Neuzeit zu verstehen. Man bedenke, dass einschlägige Textstellen von Epikur, Lukrez und Seneca ausdrücklich darauf hingewiesen haben, ein übernatürlicher Erklärungsgrund der Himmelserscheinungen und Naturkalamitäten stehe im Widerspruch zum anzustrebenden Ideal der Seelenruhe (ἀταραξία). Es mache keinen Sinn, die Natur von übersinnlichen Mächten gelenkt darzustellen, da eine solche Vorstellung bloß weitere Angstgefühle hervorrufe.161 Im Hinblick auf außergewöhnliche und 161  Epikur

bekräftigt in seinem »Brief an Herodot« den Gedanken, dass eine Anteilnahme am Weltgeschehen für die Eudämonie Gottes unzulässig sei: »[M]an darf […] bei den Him-

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bedrohlich wirkende Naturphänomene stellt sich eine eigentümliche Konvergenz epikuräischer und stoischer Lehrprinzipien ein.162 Während die materialistischen Deutungsmuster mit dem Niedergang der aristotelischen Scholastik im 17. Jahrhundert an Bedeutung gewannen, stießen sie von Seiten des in der christlichen Orthodoxie tief verankerten Glaubens an die creatio ex nihilo und die ewig währende göttliche Vorsehung auf zähen Widerstand – ein Streitpunkt, der sich wiederum in der Anklage der Physikotheologen gegen die so genannten atheistischen Gedankenströmungen niedergeschlagen hatte. Festzuhalten ist, dass sich im 18. Jahrhundert die religiös geprägten Denkmus­ ter gerade in Bezug auf zerstörerische Naturkräfte auch in der deutschen Gelehrtenschicht und nicht bloß im ungelehrten Volk halten konnten. 163 Im Rahmen des melserscheinungen nicht annehmen, Bewegung, Richtungswechsel, Verfinsterung, Aufgang und Untergang und die ihnen zugeordneten Vorgänge würden von irgendeinem Wesen gelenkt, das sie einrichtet oder eingerichtet hat und zugleich noch die volle Glückseligkeit verbunden mit Unvergänglichkeit besitzen kann. Denn keineswegs harmonieren Alltagsgeschäfte, Sorgen, Wutausbrüche und Gunstweise mit Glückseligkeit, sondern all dies pflegt bei Schwäche, Angst und Abhängigkeit von der Umwelt aufzutreten« (35). Interessanterweise bekundet Epikur anschließend, die bloße Tatsachenerkundung der Natur führe nicht zur Glückseligkeit der Erkenntnis. Diejenigen, die in den Gesetzmäßigkeiten der Natur bewandert seien, haben vielleicht mehr Angst als die Unwissenden, »sooft die Beklemmung wegen des Aufmerkens auf diese Vorgänge keine Lösung durch die Beherrschung der entscheidendsten Gesetzmäßigkeiten finden kann« (37). Lukrez hingegen argumentiert in De rerum natura ganz »aufklärerisch.« Die furchtsamen und demütigen Geister senken im Schrecken den Mut vor den Göttern, »weil die/ fehlende Kenntnis der Ursachen zwingt, die Welt mit der Götter/ Macht zu verknüpfen und Kraft über Werke ihnen zu gönnen,/ deren Ursache sie mit keiner Vernunft zu erschauen/ fähig sind und drum meinen, sie kämen aus göttlichem Willen« (6. Buch, V. 54–57). Im sechsten Buch der Naturales quaestiones vertritt der Stoiker Seneca eine ähnliche Meinung, wenn er die Verheerungen der Erdbeben behandelt. Es mag hilfreich sein, »daß die Götter an all diesem keinen Anteil haben und Erde oder Himmel nicht durch den Zorn der Götter auf den Kopf gestellt werden. Diese Vorgänge haben ihre eigenen Ursachen, und dieses Toben ist nicht befohlen, sondern es sind Störungen aufgrund bestimmter Mängel wie bei unserem Körper, und gerade, wenn die Welt Gewalt auszuüben scheint, geschieht ihr Gewalt« (333). 162  Über die Unterschiede und Überschneidungen stoischer und epikuräischer Positionen in Rücksicht auf die Seelenruhe siehe Wolfgang Weinkauf, »Geschichte der Stoa« 13 f. 163  Begemann demonstriert das vom zivilisatorischen Niveau bedingte Verhalten gegenüber entfesselter Naturgewalten anhand eines Zitats aus Goethes Dichtung und Wahrheit. Während eines Hagelwetters, das Goethes’ Haushalt durcheinander bringt, gibt sich das Dienstpersonal, verängstigt vor dem Zorn des alttestamentlichen Gottes, schreiend und tatenlos seinen Affekten hin. Goethes Vater hingegen schreitet »ganz allein gefaßt« zur Tat, indem er »die Fensterflügel aufriß und aushob« (HA 9: 31). Die Beherrschtheit des Vaters erlaubt ihm, so interpretiert Begemann, »als einzigem, der ›natürlichen‹ Schädigung durch ›vernünftiges‹ Handeln Einhalt zu gebieten« (Furcht 94). Er unterschlägt aber, dass selbst die gefasste Tat des Hausvaters die hereinbrechenden Regenfluten nicht aufhalten konnte. Der Absatz endet nämlich mit dem von Begemann nicht zitierten Zusatz: »[…], wodurch er zwar manche Scheiben rettete, aber auch dem auf den Hagel folgenden Regenguß einen desto offern Weg bereitete, so daß man sich, nach endlicher Erholung, auf den Vorsälen und Treppen von flutendem und rinnenden Wasser umge-

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populärphilosophischen Optimismus wurden die Naturprozesse als natürlich wirkend in einem harmonisch zusammengesetzten Weltgefüge aufgefasst, wobei aber, wie ich im vorangegangenen Teil ausgeführt habe, die Möglichkeit der punktuellen Einwirkung Gottes ins Weltgeschehen als Möglichkeit bestehen blieb. Selbst die durch die Ratio entzauberte Natur barg schwerwiegende Angstpotentiale in sich, sofern die Verwissenschaftlichung der Natur eine zersetzende Wirkung auf bewährte metaphysische Orientierungspunkte ausgeübt hatte. Zwischen den naturwissenschaftlich und religiös geprägten Diskursen entwickelte sich im 17. Jahrhundert eine eigentümliche Dynamik, die Karl Richter in Anlehnung an Carl Friedrich von Weizsäckers (1912–2007) Begriffsgeschichte Schöpfung und Weltentstehung (1964) auf den Punkt gebracht hat: Während die naturwissenschaftliche Welterklärung ein immer dichteres Netz naturgesetzlicher Zusammenhänge herstellte, fiel gerade den ›Lücken‹ der Erkenntnis eine erhöhte Aussagekraft für das Dasein des Schöpfers zu. Das mußte umgekehrt auf Infragestellungen Gottes führen, wo es gelang, diese Lücken durch wissenschaftliche Erkenntnis zu schließen. (157)

Selbstverständlich muss berücksichtigt werden, dass die Naturwissenschaften und die Theologie bis weit ins 18. Jahrhundert keine streng getrennten Disziplinen waren. Carolyn Merchant hat dargestellt, inwiefern sich der »Latitudinarian« Henry More und die Physikotheologen John Ray und William Derham abmühten – in Gegenwehr zu René Descartes und Thomas Hobbes, die ihrerseits die Natur in Gefolgschaft des Baconschen Programms der neuen Wissenschaften in mechanistisch operierende Wirkungsursachen zergliederten – ihr erarbeitetes Naturwissen in Bezug auf ein göttliches Weltganzes zur Veranschaulichung zu bringen (242–252).164 Hinter dieser erbrachten »Rekonstruktion des verlorengegangenen Verständnisses ben sah« (HA 9: 31). Interessanterweise interpretiert Robert H. Brown diese Passage als einen Beleg für Goethes Zweifel an dem väterlichen Gottesbild, das maßgeblich durch das Lissabonner Erdbeben erschüttert wurde: »During the ensuing hailstorm, Goethe’s father appears similarly helpless (impotent, and therefore ›keineswegs väterlich‹) before the impending disaster, shaking young Wolfgang’s faith in a safe, secure, orderly world guaranteed by paternal authority« (»The ›Demonic‹ Earthquake« 484). 164  In ihrer Studie The Death of Nature (1980) präsentiert Carolyn Merchant die dualistische Naturphilosophie der »Latitudinarians« als einen Kompromiss zwischen den »Civil War enthusiasts with their animistic philosophies of nature« und den »Hobbesian materialists who viewed nature as composed of ›dead, stupid matter‹ forming beings by blind and fortuitous motions. […] It contrasted with the Cartesian view of motion as external to matter, put into the universe by God and subsequently transmitted from particle to particle. If the role of God in Descartes’ system were eliminated, the result was atheism and the blind mechanism attributed to the Hobbists. Endowing the world with a vital vegetative plastic nature avoided the dangers of both enthusiasm and materialism. It allowed for the mediated action and providential care of God in the creation and for human management and stewardship over nature« (244 f.).

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der Welt als eines sinnvollen organischen Zusammenhanges« und nachträglichen »Versicherung der Zugehörigkeit des Menschen zur Welt« lauerte allerdings, wie Gernot und Hartmut Böhme gezeigt haben, »die Angst, das Entsetzen über die Fremdheit der Welt« (Vernunft 70–73). Begemann charakterisiert die physikotheologische Bewegung bezeichnenderweise als eine weitere, diesmal theologisch sanktionierte Art der Naturbeherrschung, die sich mit Francis Bacons (1561–1626) Zielsetzung der Entmachtung und systematischen Aneignung der Natur bewusstseinsgeschichtlich überschneidet (Furcht 88 f.). Dabei wird die Divergenz der tendenziell gegensätzlichen Naturaneignungen, einerseits die begriffliche Zergliederung einer sinnentleerten Natur durch die neuen Wissenschaften und andererseits die religiös-metaphysische Vorstellung eines zweckmäßigen Naturganzen, die ein integrales Wesensmerkmal der leibnizschen Theodizee ausmachte und von Christian Wolffs Vernünfftige Gedanken von den Absichten der natürlichen Dinge popularisiert wurde, nivellierend übergangen. Freilich erkennt Begemann, dass eine nach immanenten Gesetzmäßigkeiten agierende Natur eigentlich »keines Rekurses auf Gott« mehr bedarf, und dass ein solches deistisches Gottesbild sich in Deutschland nur schwer durchsetzten konnte. Jedoch versteigt er sich zu einer undifferenzierten, wenn nicht gar widersprüchlichen Einschätzung des sich während der Aufklärung vollziehenden Säkularisierungsprozesses, wenn er behauptet, »auch dort, wo man an einem die Welt stetig erhaltenden persönlichen Schöpfergott festhält (z. B. Leibniz), [greift] Gott […] nicht willkürlich in das Naturgeschehen ein und durchbricht nicht die von ihm erlassenen Naturgesetze« (83). Zu bedenken ist, dass ein solches Gottesbild mit dem der vom populärphilosophischen Optimismus verworfenen epikuräischen und spinozistischen Lehrmeinungen, die kategorisch eine providenzielle Einwirkung Gottes abgelehnt hatten, in Berührung kommt.165 Sobald das Vertrauen in 165 Vgl.

folgende repräsentative Stelle aus Lukrez’ De rerum natura: »Hältst du gut das erkannt, so zeigt in der Folge zugleich sich,/ daß befreit die Natur, der herrischen Zwingherren entledigt,/ selber, von sich aus, spontan, ohne Götter alles vollführet« (2. Buch, V. 1090–1092). Baruch Spinoza hingegen streitet im ersten Teil »Von Gott« seiner Ethik einen Voluntarismus im göttlichen Handeln ab (vgl. Lehrsatz 17), und entlarvt im abschließenden Anhang desselben Teils jegliche Zweckmäßigkeit, die der Natur vorgegeben wird, als eine Projektion der menschlichen Einbildungskraft: »Aber während sie zu zeigen suchten, daß die Natur nichts vergebens tue (d. h. nichts was ohne Nutzen für die Menschen wäre), haben sie, wie mir scheint, damit bloß zu verstehen gegeben, daß die Natur samt den Göttern ebenso verrückt ist wie die Menschen. […] Unter so viel Zuträglichem in der Natur mußten sie auf eine Menge Unannehmlichkeiten stoßen wie Unwetter, Erdbeben, Krankheiten usw., von denen sie behaupteten, sie kämen daher, daß die Götter […] über Kränkungen zürnten, die ihnen Menschen zugefügt hätten, oder über Sünden, die sie in ihrem Dienst begangen hätten« (83 f.). Spinoza wendet sich also deutlich gegen die anthropozentrische Vorstellung einer nach der Zuträglichkeit der Menschen zurechtgeschnittenen Natur. Auf die Frage, weshalb Gott nicht alle Menschen so geschaffen habe, dass sie sich von der Vernunft leiten ließen, antwortet er lapidar: »[…] weil es [Gott] nicht an Stoff gemangelt

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eine für den Menschen vorteilhafte, teleologisch operierende Natur sich aufweicht, muss die dabei verloren gegangene Mittelposition im Weltgeschehen mit anderen Mitteln wieder aufgewogen werden. Diesbezüglich ist ein durchgängig »natürlich« erklärbarer Naturzusammenhang wenig beruhigend, wenn sich dabei herausstellen sollte, dass die empirisch erschlossenen Naturzwecke nicht unbedingt für den Erhalt des wahrnehmenden Subjekts ausgerichtet sind. Diese Einsicht wurde die in der »Kopernikanischen Wende« der kantischen Kritik mit unverminderter Härte ausgeführt. Desgleichen zeichnet sich eine strukturelle Divergenz in der empirischen Naturbetrachtung und der ästhetischen Konstituierung eines zusammenhängenden Naturganzen ab. Während erstere die Naturphänomene in transparente Wirkursachen und Begriffe aufbricht, wird das als erhaben aufgefasste Objekt auf eine ideelle Totalität bezogen. Beide Wahrnehmungsmodi verlaufen auf entgegen gesetzten Bahnen: eine Dichotomie – die durch die nachkopernikanischen Naturwissenschaften erfolgte Herausschälung der objektivierten Natur aus dem Zusammenhang des Daseins und die komplementäre Bewahrung des ideellen Naturganzen mittels der ästhetisch-subjektiven Naturanschauung –, die Ritter im Konzept der Entzweiungsstruktur der modernen Gesellschaft herausgearbeitet hat. Begemann geht auf die Problematik der Inkompatibilität beider Perspektivierungen ein (vgl. 135, 47), weiß sie aber nicht zufrieden stellend zu lösen.166 Als heuristische Richtlinie für die Fragestellung, worauf die deutschsprachige Aufklärung ihr Theoriegerüst des Erhabenen abstützte, stelle ich das metaphysische Konstrukt des einheitlichen Kosmos pythagoreisch-platonisch-christlicher Tradition voran, das sich aufgrund der Prävalenz des populärphilosophischen Optimismus hartnäckig halten konnte. Der sich dem Verstandes- und Begehrungsvermögen widersetzenden Natur wird mittels ihrer ästhetischen Wertschätzung einen Sinn bzw. funktionellen Nutzen aufoktroyiert. Die ästhetisch-theoretischen Abhandlungen des Erhabenen verweisen also auf die kognitiv sperrigen Bereiche, die der immanente Naturbegriff aufgrund seines beschränkten Erkenntnishorizonts nicht zu erhellen vermag. Mit der graduellen Auflösung eines ganzheitlichen Naturverständnisses verschiebt sich das in die äußeren Gegenstände projizierte Erhabene in die Innenwelt des wahrnehmenden Subjekts; hat, alles zu schaffen, vom höchsten Grad der Vollkommenheit bis zum niedrigsten; oder, um angemessener zu sprechen, weil die Gesetze seiner Natur so umfassend gewesen sind, daß sie ausreichten, alles hervorzubringen, was von einem unendlichen Verstand begriffen werden kann […]« (95 f.). 166  Begemann meint lapidar, dass der Vergleich zwischen dem naturwissenschaftlichen Blick und der Erfahrung des Erhabenen »nicht weitergetrieben« werden soll; für den momentanen Zusammenhang genüge es festzuhalten, »daß die Möglichkeit der Erfahrung des Erhabenen auf dem durch wissenschaftliche Aneignung der Natur bewirkten Sicherheitsgefühl beruhen kann – bei entsprechender Umwendung des Blicks« (Furcht 135 f.).

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eine Verlagerung, die in der kantischen Kritik der Urteilskraft ihren prägnanten Höhepunkt gefunden hat. In Abkehr von den unzweckmäßig erscheinenden Naturgegenständen wird der ideellen Sphäre der Vernunft, dem frei agierenden Moralwesen, das Prädikat »erhaben« zugesprochen. Es gilt jedoch aufzuzeigen, dass dieser Wandel nicht als Aufruf zur Beherrschung und Unterjochung der äußeren Natur zu bewerten ist. Vielmehr widerspiegelt sich darin die Einsicht, dass die Erschließung des Naturganzen mit den Mitteln der theoretischen Erkenntnis nicht zu bewerkstelligen ist. Weiterhin ist die in den Kunsttheorien des 18. Jahrhunderts aufkommende sozio-psychologische Einsicht zu berücksichtigen, dass Lebensumstände, Kultivierung und Herkunft die Wahrnehmung von Naturgegenständen wesentlich prägen. Schon René Descartes hat in Die Leidenschaften der Seele (1649) bemerkt, dass ein häufiger Umgang mit ungewöhnlichen Dingen die damit verbundenen Leidenschaftserregungen zu dämpfen vermag (vgl. Art. 50, Art. 78). Somit kann komplementär zum naturwissenschaftlichen Blick die bloße Gewöhnung die für die Furchtbewältigung notwendige Distanz verschaffen. Johann Jacob Bodmer ­äußert sich exemplarisch dazu in seiner Dichtungstheorie Betrachtungen über die Poetischen Gemählde der Dichter (1741), indem er den Ortsansässigen unterschiedlicher Landstriche nicht naturwissenschaftliches Wissen, sondern umgekehrt einen natur­nahen Umgang mit ihrer Lebenswelt beimisst: Für einen Norweger hat der Schnee und das Eis nichts Anziehendes […], die Einwohner der Alpen sehen die unermeßlichen Höhen der Berge ohne Erstaunen, eine holländische Frau lachet in den gemeinen Stürmen. (155)

Wie unten genauer erläutert wird, macht für Bodmer jedoch gerade das Ungewohnte, Neue, und Spektakuläre den speziellen Reiz der großen und ungestümen Natur aus. Ihm kommt es darauf an, den habituellen Wahrnehmungsmodus zu durchbrechen. Man könnte behaupten, der wirkungsästhetische Zauber der Natur wird mittels ihrer künstlerischen Vermittlung gerade aktiviert und gesteigert. Affekte wie Angst und Schrecken werden mit Absicht provoziert, wobei bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts die Reverenz vor der zermalmenden Allmacht Gottes ein grundlegendes Kriterium in der Erhabenheitserfahrung ausmacht. Insofern üben die Künste einen schwerwiegenden Einfluss auf die ästhetische Rezeption der nichtschönen Natur aus. Die Frage stellt sich, weshalb im Gefüge einer »rationalen« und »aufgeklärten« Naturaneignung die Leidenschaftserregung in der Dichtung an solcher Prominenz gewinnt. Inwiefern wurden mittels der ästhetischen Naturbetrachtung die ungestümen Naturgewalten in ein funktionelles Gefüge eingearbeitet? Bevor mit der Analyse über die Begriffsbildung des Erhabenen im 18. Jahrhundert angesetzt wird, schiebe ich eine bewusstseinsgeschichtliche Untersuchung vo-

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ran, welche die von Ruth und Dieter Groh aufgeworfenen Fragestellungen über den Wandel in den Kosmologien der Frühen Neuzeit beleuchtet. Mit dem Niedergang der überlieferten Vorstellung eines beständigen Sternenhimmels im ausgehenden 16. Jahrhundert eröffnete sich ein grundlegend neues Bedrohungsbild. Nicht nur die sublunare Welt ist dem Untergang geweiht, sondern im ganzen Universum können Kataklysmen ungeahnter Größenordnungen auftreten. Die ungeheure Ausweitung der dynamischen Naturkräfte führte unter den Gelehrtenkreisen zu Verunsicherungen, die sich mit der mentalen Zuflucht in die metaphysischen Axiome der inkommensurablen Allmacht Gottes und des vollkommenen Naturganzen kompensieren ließ. Bezeichnend ist, dass die sich daraus entwickelten Bewältigungsstrategien dieselben Strukturen aufweisen, die für die Ausarbeitung der Erhabenheitstheorien im 18. Jahrhundert relevant wurden.

B. Die Genese des Erhabenheitsgefühls im Gefüge des nachkopernikanischen Weltbilds Ein bewusstseinsgeschichtlicher Abriss über die Konzeptualisierung des Erhabenheitsbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert bietet gleichermaßen einen fruchtbaren Einblick in das aufkeimende und erstarkende Selbstwertgefühl des Menschen während einer Epoche, in der sich das mikro- und makrokosmische Weltbild einschneidend verändert hat. Kognitiv schwer fassbare Naturgrößen und -gewalten stellen eine konstante epistemologische Herausforderung dar, die einerseits die eigene Beschränktheit bewusst macht, andererseits aber auch die Seelenkräfte anzuregen und zu erheben vermag. Nicht von ungefähr nimmt das Unendliche, das dem Erkenntnisvermögen schlicht Unerschließbare, in der Begriffsentwicklung des Erhabenen eine Schlüsselfunktion ein. Dessen semantische Verwendung beschränkte sich in der mittelalterlichen Scholastik vorwiegend auf die Qualifizierung der göttlichen Attribute und berücksichtigte nicht die äußeren Naturphänomene. Spätestens im 17. Jahrhundert fand die Idee des Unendlichen – nach dem zeitgleichen Zerschlagen des begrenzten Sphärenkosmos – sein sinnbildliches Pendant im unermesslichen Weltenraum. Verschiedenste Quellen haben sich mit dem Paradigmenwechsel vom ptolemäischen zum kopernikanischen Weltbild befasst und den Wandel als Krise in der euro­päischen Bewusstseinsgeschichte dargestellt. Ernest Tuveson charakterisiert auf typische Weise in seinem Essay »Space, Deity and the ›Natural Sublime‹« das durch die nachkopernikanische Astronomie hervorgerufene Unbehagen: The medieval universe was great, but limited in size and harmonious in form; about its center, our own planet, the heavenly bodies were arranged in beautiful concentric

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spheres, according to a scale of immutable values. The telescope and new developments in mathematics, however, in an unbelievably short time shattered this image which had existed for centuries; the new universe was terrifying, one with no form, no center, above all, no plan perceptible to human reason. (20 f.)   There had appeared an awesome interstellar space in which infinite worlds floated in no apparent order for no purpose apparently related to man, obeying impersonal and mechanical laws. (31)

Der kopernikanische Umsturz mit dem einhergehenden Verlust der »privilegierten« Mittelposition des Menschen im Weltganzen und dem sich anschließenden Wandel des menschlichen Selbstverständnisses basiert nicht auf einem theoretischen Geschichtsvorgang, sondern muss, wie Hans Blumenberg (1920–1996) in seiner Studie Die kopernikanische Wende (1965) herausgearbeitet hat, als nachträglich entstandene Metapher der Moderne verstanden werden. Eigentlich beabsichtigte Kopernikus in seiner Befürwortung des »heliozentrischen« Systems in Über die Umläufe der Himmelskreise aufzuzeigen, dass dieses im Gegensatz zum »geozentrischen« des Claudius Ptolemäus (um 100–160) die Idealvorstellung eines harmonischen Weltganzen erfülle. Seine Reformulierung eines durchweg rationell strukturierten Weltenbaus deutet auf eine verstärkte Rückbesinnung auf die antike Kosmologie Platons hin. Der Himmel sei demzufolge ein »Ausdruck der auf den Menschen zentrierten Teleologie der Schöpfung« (Blumenberg, Wende 100). An diesem Punkt sei es also vielmehr zu einer Nobilitierung der eigenen Vernunftkräfte gekommen, die den Himmelsbetrachter dazu befähigten, das »Prinzip der durchgehenden Rationalität des Kosmos« zu erkennen, statt zur Kränkung des aus der Weltmitte verstoßenen Menschen. Weiterhin ist festzuhalten, dass das von Kopernikus vorgestellte Weltbild in seiner Ausdehnung begrenzt ist. Er wollte bezüglich der Problematik eines unendlichen Kosmos sich nicht in Widersprüchlichkeiten verstricken.167 Von Kopernikus und seinem heliozentrischen System ist also die infinite Ausdehnung des Weltenraums nicht eindeutig postuliert worden. Hingegen entwickelt sich die 167  Kopernikus

verweist in Über die Umläufe der Himmelskreise genau auf die ontologische Schwierigkeit des begrenzten Alls, die Giordano Bruno (1548–1600) nach ihm zu klären versucht: »Nun sagt man aber, außerhalb des Himmels gebe es nicht Körper, nicht Ort, nicht Leeres, kurz überhaupt nichts, und deshalb sei nichts da, wohin der Himmel ausweichen könne. Nur ist es dann ja erstaunlich, wenn von ›nichts‹ eingeschlossen werden können soll ein ›etwas‹! Dagegen, wenn der Himmel unendlich sein sollte und nur mittels seiner inneren Höhlung begrenzt, dann wird sich vielleicht mehr die Annahme als wahr erweisen, außerhalb des Himmels sei nichts, da ein jeder Gegenstand eben in ihm sich befinde, einerlei welche Größe er einnehmen mag, aber es wird dabei bleiben: Der Himmel ist unbeweglich; denn der mächtigste Grund, auf dem man die Endlichkeit der Welt zu errichten sucht, ist die Bewegung. Ob also die Welt begrenzt oder unbegrenzt, wollen wir dem Meinungsstreit der Naturphilosophen überlassen, indem wir das festhalten, daß die Erde, in ihren Drehpunkten eingeschlossen, von kugelförmiger Oberfläche begrenzt wird« (115).

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Vorstellung eines unendlichen Universums zu einer grundlegenden Hypothese in Giordano Brunos Kosmologie, die wesentlich dazu beigetragen hat, die aristotelischen Sphärenschalen zu durchstoßen. Die Krux der sich einsetzenden Problematik liegt insoweit nicht, wie von Tuve­ son angedeutet, in der Selbstlokalisierung des Menschen im unendlichen Raum, der sich aufgrund seiner Struktur- bzw. Formlosigkeit dem begrifflichen Zugriff der Verstandeskräfte widersetzt und beängstigend wirkt. Mittels Analogieschlüssen sind im 17. Jahrhundert verschiedenste Erklärungsgründe über seine Beschaffenheit mitsamt der gesetzmäßigen Bewegung der in ihm enthaltenen Weltkörper entstanden. Vielmehr ist es die sich durchsetzende Hypothese eines ubiquitär wandelbaren Weltganzen, die sich auflösende paradigmatische Vorstellung eines unveränderlichen Himmelsgewölbes, die eine folgenschwere Destabilisierung im naturphilosophischen Denken bewirkt hat. Aus epistemologischer Sicht ist ein über lange Zeit bestehender symbolischer Orientierungspunkt weggefallen.168 Wenn man die bis ins 16. Jahrhundert allgemein akzeptierte Lehrmeinung über die unwandelbaren Gestirne herbeizieht, die auf dem ideengeschichtlichen Grund der stoischen und peripatetischen Naturphilosophie fußt, wird die Bedeutung der Zerschlagung der supralunaren Sphärenschalen deutlich. Sie findet in Ciceros philosophischem Dialog De natura deorum ihren treffenden Ausdruck: Es gibt am Himmel also weder Zufall noch Willkür, noch Irrtum, noch Unzuverlässigkeit, sondern im Gegenteil lauter Ordnung, Wahrheit, klare Berechnung und Beständigkeit; und was diese Eigenschaften nicht hat, was erlogen, falsch und voller Irrtum ist, befindet sich in Erdnähe unterhalb des Mondes, welcher von allen Gestirnen der unterste ist, und auf der Erde. Wer folglich meint, die bewundernswerte Ordnung und unglaubliche Unwandelbarkeit des Himmels, welche die Ursache für die gesamte Bewahrung und Sicherheit aller Erscheinungen bildet, besitze keinen Verstand, der muß selbst für bar allen Verstandes gehalten werden. (II, 56)

Mit dem von Tycho Brahe schriftlich dokumentierten Erscheinen und Verschwinden eines Sterns in der Kassiopeiakonstellation im Jahre 1572 und dem systematischen Studium der Sonnenflecken zum Anbeginn des 17. Jahrhunderts durch Johannes Fabricius (1587–1616) und Galileo Galilei (1564–1642) beginnt das 168 Marjorie

Hope Nicolson hat die Signifikanz dieses epochalen Paradigmawechsels in ihrem Standardwerk Mountain Gloom and Mountain Glory (1959) erkannt. »For centuries man had turned to the supposedly eternal and immutable heavens for proof of his ethics and aesthetics. Change and decay might be everywhere in our terrestrial world, but until the seventeenth century they had been limited to sublunary regions. Beyond the orb of the moon, the heavens remained as the finger of God had made them, presumably even then arranged in the familiar constellations that for centuries had imposed an artificial pattern on the skies. But the cosmos was changing. […] Man looked up at night to skies both familiar and strange. The pattern was breaking, and old ideals of order, proportion, restraint everywhere were threatened« (132 f.).

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Weltbild eines veränderlichen Kosmos auch in naturwissenschaftlichen Kreisen an Zugkraft zu gewinnen. Die Häufung neuer Entdeckungen in der Astronomie und den anderen Naturwissenschaftsbereichen beruht grundsätzlich auf der innovativen Indienstnahme optischer Geräte, die eine beispiellose Erweiterung des Gesichtskreises im Makro- und Mikrokosmos ermöglicht haben. Wie Karl Richter und Hans Blumenberg hervorgehoben haben, kommt es zu einer Relativität des Anschaubaren, insofern als die Existenz des den menschlichen Sinnesorganen Entzogenen und Unsichtbaren sich als bindende Voraussetzung konkretisiert. Die aristotelisch-scholastische Überzeugung, das mit den Augen Wahrgenommene sei »als adäquates Abbild der kosmischen Realität« zu beurteilen, büßt hierbei seine epistemologische Vormachtstellung ein (Richter 165). Zwischen der sinnlichen Anschauung des Himmels und des sich der Vernunft erschließenden Weltensystems entsteht eine Kluft: »Begreifen und Genießen können, spätestens seit Kopernikus, [werden] nicht mehr in einem Akt vollzogen« (Blumenberg, Genesis 52). Die Frage stellt sich, an welchem Ort der vom Sternenhimmel losgelöste Begriff des Unveränderlichen seine sinnbildliche Entsprechung findet. Mit welchen konzeptuellen Mitteln ist versucht worden, sich im verändernden Weltgefüge neu zu orientieren? Wie schon angedeutet, ist ein wesentlicher Neuansatz in den nachkopernikanischen Kosmologien des 17. Jahrhunderts die ideelle Entgrenzung des Weltenraumes. Statt der Himmelskörper ist es der sich ins Unendliche ausdehnende, allumfassende Raum, dem die symbolische Trägerschaft des Unvergänglichen und Ewigen zugesprochen wird. Parallel zur Verabsolutierung des Raumes zeichnet sich eine qualitative Aufwertung der sich analog zur Erde im Gesamtkosmos abzeichnenden Akzidenzien ab. Diese fungieren einerseits als Zeichen der kontinuierlichen und notwendigen Fürsorge Gottes im Weltgeschehen, andererseits sind sie ein Beleg dafür, dass das Universum lebendig ist und sich ganz im Sinne des ökonomischen Naturhaushalts bzw. der überlieferten Vorstellung der Palingenese in seiner ständigen Bewegung neu regeneriert. Mit der Idee des unendlichen Raumes gewinnt die vom platonischen Prinzip der Fülle abgeleitete Vorstellung einer indefiniten Anzahl von Welten, die mit vernünftigen Wesen besiedelt sind, an Resonanz. In Anbetracht der undurchschaubaren Menge von Wesenseinheiten eröffnet sich die Möglichkeit, den Untergang ganzer Welten gedanklich zu kompensieren, insofern ihr Verlust im Vergleich zum unermesslichen Ganzen sich ins Insignifikante verliert. An dieser Stelle eröffnet sich eine wesentliche Grundstruktur des Erhabenen: Das empfindsame Subjekt ist durch seine Vernunftkräfte dazu befähigt, Korrelationen zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen zu erstellen und fühlt sich als Teil dieser begrifflich unerschließbaren Totalität in seiner Existenz berauscht. Der mitschwingende Unterton dieser Erhebung ist jedoch, dass die unfassbare Größe des Gegenübers eigentlich höchst problematisch auf das subjektive Selbstwertgefühl wirkt, insofern jeglicher Anspruch auf eine anthropozentrische

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Vormachtstellung in Gottes Schöpfung sich als illusionär erweisen muss, sobald sie in ein Größenverhältnis mit dem Infiniten gebracht wird. Dieses Oszillieren zwischen Selbsterhöhung und -erniedrigung schlägt sich in den Erörterungen des gemischten Gefühls bzw. des »angenehmen Grauens« in Schriften verschiedenster Gattungen des 18. Jahrhunderts nieder.

1.  Giordano Bruno: die ideelle Entgrenzung des Universums Giordano Brunos kühne Lehre des unendlichen, mit unzähligen Körpern erfüllten Alls ist wie das »revolutionäre« kopernikanische Weltbild an sich kein Novum und ist von der antiken Naturphilosophie überliefert. Sie bildet einen grundlegenden Bestandteil der Kosmologie Epikurs und Demokrits, die im lukrezischen Lehrgedicht De rerum natura dem Zugriff der Nachwelt erhalten geblieben ist. Und tatsächlich: an mehreren Stellen zitiert Bruno in seinem 1587 in Dialogform verfassten kosmologischen Hauptwerk Über das Unendliche, das Universum und die Welten ausführlich aus Lukrez und preist Demokrit und Epikur als Gelehrte, die »ein offeneres Auge für die Naturbetrachtung hatten« (179).169 Wenn man bedenkt, dass die epikuräische Naturphilosophie nicht nur in einem antithetischen Verhältnis zur peripatetischen Scholastik steht, sondern auch unmissverständlich jeglichen göttlichen Einfluss in der Erschaffung und Erhaltung des Weltgefüges abstreitet, wird deutlich, welchen Zündstoff ihre Rezeption im ausgehenden 16. Jahrhundert mit sich führen musste. Freilich behauptet Bruno eine Distanz zum radikalen Materialismus der lukrezischen Hypothesen: Ursache und Ursprung des unendlichen Universums bleibt in Gott verankert und von einer zufälligen Bildung von Körpern kann nicht die Rede sein, weil Gott in allem und über allem gegenwärtig ist. Hinsichtlich der Vergottung des unendlichen Alls steht Bruno plötzlich dem Pantheismus der Stoa nahe (vgl. Glockner 390). Das Weltbild des Nolaners besticht in Abkehr von dogmatischer Stringenz geradezu mit seiner stimmigen Zusammenführung von gegensätzlichen Lehrmeinungen antiker und christlicher Provenienz. Es wird sich zeigen, dass diese eklektische Aufarbeitung verschiedenster Lehrmeinungen charakteristisch für die Kosmologien des kommenden 16. Jahrhunderts sein wird. Gleich zu Anbeginn des ersten Dialogs wendet Giordano Bruno sein Augenmerk auf die Beschränktheit der Sinne, die der Unendlichkeit keine fassbare Gegenständlichkeit abzuringen vermögen:

169  Zitiert

wird aus folgender Ausgabe: Giordano Bruno. Über das Unendliche, das Universum und die Welten. 1587. Übers. und hrsg. von Christiane Schultz. Stuttgart: Reclam, 1994.

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Es gibt keinen Sinn, der das Unendliche sieht, es gibt keinen Sinn, von dem diese Schlußfolgerung verlangt würde; denn das Unendliche kann nicht Gegenstand der Sinne sein; und daher ist, wer es mittels der Sinne zu erkennen verlangt, wie einer, der die Substanz und die Essenz mit Augen sehen will; und wer etwa deshalb ihre Existenz abstritte, weil sie nicht fühlbar oder sichtbar sei, käme dahin, sein eigenes Sein und Wesen zu leugnen. […] Dem Intellekt kommt es zu, Rechenschaft zu geben über abwesende Dinge, die durch zeitlichen Abstand und räumliche Entfernung von uns getrennt sind. (33 f.)

Im Zitat wird deutlich, dass den Sinnen im Gegensatz zur Vernunft eine dienende Funktion zukommt, die sich darin erschöpft, diese zur Tätigkeit anzuregen. Brunos Misstrauen gegenüber der Sinneswahrnehmung bildet die Basis für seine Attacken gegen das akzeptierte Weltbild der peripatetischen Scholastiker. Die aus dem aristotelischen Werk Über den Himmel aufgeführten Syllogismen – »Jeder Körper, der an einem Ort ist, ist wahrnehmbar; außerhalb des Himmels ist jedoch kein wahrnehmbarer Körper; also kein Ort« – oder – »Jeder wahrnehmbare Körper ist an einem Ort; außerhalb des Himmels ist jedoch kein Ort; folglich ist dort kein Körper; dort ist nicht einmal ein Außerhalb, denn ›außerhalb‹ bedeutet einen Unterschied des Ortes, und zwar eines wahrnehmbaren, und nicht eines geistigen und intelligiblen Körpers, so wie man sagen könnte: Wenn er wahrnehmbar ist, ist er endlich« – werden von Brunos Statthalter Philotheo im zweiten Dialog als widersinnig abgetan (vgl. 87). Mit dem Postulat eines unbegrenzten Universums lässt sich das ontologische Paradox eines unausgedehnten Raumes, das Sein eines Nichtseienden, aufheben, und die Frage nach der Beschaffenheit des Begrenzenden, die das Begrenzte bzw. das Weltgefüge umschließen soll, wird dadurch gelöst. Die sich eröffnende Unermesslichkeit ist erfüllt mit einer Unzahl von Körpern, die ihrem Wesen nach gleichrangig sind, da sie einen Bestandteil in der alles umfassenden Substanz und keinen bevorzugten Mittelpunkt im Unendlichen ausmachen.170 Brunos emphatischer Fingerzeig auf den unermesslichen Reichtum des Universums bezeugt sein Anknüpfen an die Ideenstränge platonischer und thomistischer Herkunft. Freilich weiß der Gedanke einer sich in unzähligen Einzelwesen entfaltenden Vortrefflich170 

»Somit bleibt zu wissen übrig, daß ein unendlich erhaltender Raum ist, der alles umfängt und durchdringt. In ihm sind unendlich viele Körper, dem unseren ähnlich, unter denen der eine nicht mehr im Zentrum des Universums ist als der andere, denn dieses ist unendlich und daher ohne Mittelpunkt und ohne Begrenzung« (Bruno 117). Hervorzuheben ist, dass Bruno, wenn er die Teile in Bezug auf das Unendliche bringt, nicht von den Teilen »des« Unendlichen, sondern »im« Unendlichen spricht. Diese Interpretation geschieht in der Absicht, sich von den Argumenten Aristoteles gegen die Unendlichkeit in Über den Himmel abzusetzen. Paul Richard Blum hat in seiner Studie Aristoteles bei Giordano Bruno (1980) darauf hingewiesen, dass mit der Umdeutung der aristotelischen Fragestellung Bruno dem Gedanken entgeht, »das endliche Konkrete sei ein Teil des Unendlichen als eines Ganzen, da eine derartige Ganzheit nur quantitativ herzustellen wäre, während das Unendliche als solches absolut ist« (41).

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keit die unendliche Vollkommenheit Gottes weit durchschlagender zu würdigen als derjenige einer Schöpfung, deren Inhalt sich nach Verstandesnormen begrenzen lässt. Die folgenschwere Synthese des unendlichen Gotteswesens mit der Seinsebene des unendlichen Alls vollzieht der Nolaner wie folgt: Darum ist es erforderlich, daß von einem unerreichten göttlichen Angesicht ein unendliches Abbild sei, in welchem sich dann als unzählige Teile unzählige Welten […] befinden. Darum muß es aufgrund unzähliger Grade der Vollkommenheit, welche bestimmt sind, die unkörperliche göttliche Vortrefflichkeit in körperlicher Weise zu entfalten, unzählige Einzelwesen geben, welche die großen Lebewesen sind (von denen diese Erde eines ist, die göttliche Mutter, die uns geboren hat und uns ernährt und uns wieder in sich aufnehmen wird), zur Aufnahme dieser unzählig vielen ist ein unendlicher Raum erforderlich. (42)

Sobald die Behauptung steht, die Erde sei nicht mehr der alleinige Mittelpunkt, wird dem aristotelischen Sphärenkosmos sein Boden entzogen. Mit der Auflösung der sublunaren und supralunaren Trennlinie, der Nivellierung der traditionellen Hierarchie zwischen den Fixsternen, Gestirnen und der Erde, ebnet sich der Weg zu einer epochalen Umwälzung der Weltordnung: die Homogenisierung der Himmelskörper im unendlichen Raum. Das von der peripatetischen und stoischen Lehre stammende Prinzip der Unveränderlichkeit der Gestirne, der Glaube an ihre ewig währende Vollkommenheit, gerät ins Wanken. In Rückbesinnung auf die epikuräische Kosmologie legt Bruno die verwegene Hypothese vor, dass die zusammengesetzten Himmelskörper analog zur Erde ebenfalls Akzidenzien aufweisen.171 In diesen Gestirnen oder Welten, wie wir sie nennen wollen, werden also jene ungleichartigen Teile aufgefaßt als in verschiedenen Gestaltungen angeordnet: als Steine, Seen, Flüsse, Quellen, Meere, Sandflächen, Metalle, Höhlen, Berge, Ebenen und andere Arten derartiger zusammengesetzter Körper, Orte und Gestalten, welche in den Lebewesen die sogenannten heterogenen Teile sind, gemäß den verschiedensten Gestaltungen als Knochen, Därme, Adern, Fleisch, Nerven, Lunge und Glieder der einen oder anderen Gestalt, welche ihre Berge, Täler und versteckten Orte darstel171  Vgl.

dazu Lukrez’ De rerum natura: »Drum mußt noch und noch du zugeben, daß von der gleichen/ Art auch sonst noch es gibt woanders Versammlung des Stoffes,/ so wie hier, die der Äther umfaßt in heißem Umfangen./ Weiter zudem: wo Stoff in Fülle dazu doch bereit ist,/ wo vorhanden der Raum, weder Ding noch Ursache hindert/ irgend, müssen natürlich Vorgänge sein und Dinge entstehen./ Wenn der Samen Menge daher so mächtig ist, wie sie/ aufzuzählen die sämtliche Zeit nicht vermöchte des Lebens,/ denen dieselbe Natur verbleibt, die imstande ist weiter/ Samen der Dinge zusammen an einen Ort auf die gleiche/ Weise zu werfen, wie hierher sie wurden geschleudert: gedrängt bist/ du zu gestehen: andere gibt es in anderen Teilen/ Erden und bunte Stämme der Menschen und Rassen von Tieren« (2. Buch, V. 1064–1076). Bruno zitiert dieselbe Passage im fünften Dialog Über das Unendliche (vgl. 181).

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len, ihre Wasser, ihre Geister und ihre Feuer – mit Akzidentien, die den Spuren der Meteore gleichen; und diese sind die Katarrhe, die Ausschläge, die Steinbildungen, Schwindel- und Fiberanfälle und weitere unzählige Zustände, welche den Nebelbildungen entsprechen, den Regen- und Schneefällen, den Hitzewellen und feurigen Erscheinungen, den Blitzen und Donnerschlägen, den Erdbeben und Winden, den Sturmwinden aus der Wüste und vom Meer. (108)

Der Einwand, dass die Veränderlichkeit der Gestirne sich den Sinnen entziehe und deshalb nicht bewiesen werden könne, wird mit dem Vermerk auf die vom Standort bedingte Relativität jeglicher Sinneswahrnehmung ausgehebelt.172 Vom Mond aus betrachtet, so argumentiert Fracastorio gegen den dogmatischen Peripatetiker Burchio, würde uns eine weiter entfernte Erde, »die selbst auch ein Mond ist«, ähnlich wie eines der unveränderlichen Gestirne erscheinen (105). Dasselbe lässt sich über die angenommene Unbewegbarkeit der Erde sagen: »Von daher betrachtet, könnten mir Zweifel an dieser regungslosen Ruhe kommen, und ich kann dafürhalten, daß ich, wenn ich auf der Sonne, dem Mond oder einem anderen Gestirn wäre, den Eindruck hätte, mich im Zentrum einer bewegungslosen Welt zu befinden, um die herum sich alles, was sie umgibt, dreht, während hingegen der enthaltende Körper, auf dem ich mich befinde, sich um sich selber dreht« (104). Mit der Entgrenzung des Weltgefüges und dem Wegfallen der sublunaren Sphäre als alleiniger Ort der Vergänglichkeit bahnt sich unweigerlich die religiös-philosophische Frage an, warum ein Schöpfergott gerade dieses »Staubkorn« als Schauplatz der biblischen Heilsgeschichte – des Werdegangs des Menschengeschlechts vom selbstverschuldeten Sündenfall, des anschließenden Strafgerichts der Sintflut bis zur Erlösung durch den geopferten Gottessohn – auserwählt hat.173 Wie anderswo erörtert wurde, geriet Brunos Schwierigkeit, die Vorstellung eines persönlichen Weltschöpfers mit der Lehre von der Unendlichkeit der Welten zu versöhnen, ins Visier der Inquisition. 174 Bezüglich der Frage, ob die Erhaltung der Erde immanenten oder äußeren Prinzipien zu verdanken sei, stellt sich bei Fracastorio bezeichnenderweise eine gewisse Unsicherheit ein: 172  »Denn

wie die wahren Betrachter der Natur, antike wie moderne, bemerkt haben und wie es uns die Sinne auf tausenderlei Art zeigen, können wir die Bewegung nur durch Vergleich mit und Bezug auf einen feststehenden Gegenstand wahrnehmen« (Bruno 103 f.). 173  Arthur Lovejoy (1873–1962) hat diese Problematik schlüssig umrissen: »It was not the position of our planet in space, but the fact that it alone was supposed to have an indigenous population of rational beings whose final destiny was not yet settled, that gave it its unique status in the world and a unique share in the attention of Heaven. If it was the only region of corruption it was also the only region of generation; here alone new souls were born, immortal destinies still hung in the balance, and, in some sense, the fulfilment of the design of the Creator himself was at stake« (102 f.). 174  Vgl. Hermann Glockner 389–394. Brunos Liebäugeln mit der häretischen Lehre Epikurs hat das Misstrauen der Religionswächter sicherlich nur weiter schüren müssen.

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Deshalb geschieht es, daß dieses Gestirn […] zwar auflösbar, aber ewig ist; auch wenn die Notwendigkeit dieser Ewigkeit gewiß aus seinem äußeren Erhalter ist, nicht aus seiner inneren und ihm eigenen Selbstgenügsamkeit, wenn mich nicht alles täuscht. Aber dies werde ich Euch ein andermal mehr im einzelnen ausein­ ander­setzen. (118)

In unserem Zusammenhang gilt es zu klären, wo genau Bruno den Ausgleich zu den im gesamten Weltgefüge vorkommenden Akzidenzien ortet. Entscheidend ist, dass er den herkömmlich der supralunaren Sphäre zugeordneten Begriff der Unveränderlichkeit auf die intelligible Geistesebene der Unendlichkeit transferiert, die ihrerseits die Existenz und Bewegung der in ihr existierenden Körper überhaupt erst ermöglicht: »Während also das Unendliche und All unbewegbar, unwandelbar und unzerstörbar ist, können in ihm unzählige und unendlich viele vollkommene und abgeschlossene Wandlungen sein – und sind auch darin« (85). Dabei kommt es jedoch zu keiner vollständigen Begriffsüberschneidung des unendlichen Raumes mit der Unendlichkeit Gottes. Während diese insgesamt und allumfassend unendlich ist, kann jener aufgrund der in ihm enthaltenden endlichen Einzelkörper nur insgesamt unendlich sein: Ich nenne das Universum insgesamt unendlich [tutto infinito], weil es weder Rand, noch Grenze, noch Oberfläche hat; ich nenne das Universum nicht allumfassend unendlich [totalemente infinito], weil jeder Teil, den wir ihm entnehmen können, und jede der Welten, die es enthält, endlich ist. Ich nenne Gott insgesamt unendlich, denn er schließt jede Grenze von sich aus, und jede seiner Eigenschaften ist eine und unendlich; und ich nenne Gott allumfassend unendlich, denn er ist ganz in der Welt als ganzer [tutto in tutto il mondo] und in unendlicher und allumfassender Weise in allen ihren Teilen: im Gegensatz zur Unendlichkeit des Universums, welche in allumfassender Weise im Ganzen [totalemente in tutto] ist, und nicht in diesen Teilen (wenn sie denn mit Bezug auf das Unendliche, ›Teile‹ genannt werden dürfen), die wir in das Ganze einschließen können. (46 f.)

Gott ist also kein außerhalb der Welt befindliches Wesen, sondern ein mit ihr identisches All-Eines, das nach notwendigen, unwillkürlichen Prinzipien agiert.175 Die 175  An

diesem Punkt weicht Bruno grundlegend von der epikuräischen Naturphilosophie ab. Wie Lukrez ausführlich darlegt, vollzieht sich die Erschaffung von Naturdingen, d. h. die willkürlich auftretende Abweichung der im leeren Raum nach unten fallenden Atome, bekanntlich rein zufällig (2. Buch, V. 216–229). Brunos System hingegen lässt wie dasjenige Spinozas im kommenden 17. Jahrhundert keine Kontingenz zu. Da das göttliche Wesen unwandelbar ist, »gibt es nichts Zufälliges [contingenzia] in seinem Handeln noch in seiner Wirkkraft, sondern von einer bestimmten Wirkkraft hängt unwandelbar eine bestimmte Wirkung ab; daher kann es nicht anders sein, als es ist; es kann nicht so sein, wie es nicht ist; es kann nicht anders können, als was es kann; es kann nicht anderes wollen, als was es will; und es kann notwendigerweise nicht

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ganze Schöpfung ist von seiner unvergänglichen Substanz beseelt; sie ist sozusagen der ontische Urgrund, worin die in allen Körpern befindlichen unteilbaren Atome bzw. Monaden eingebettet sind. Dieses metaphysische System erinnert an Lukrez’ Atomlehre und präfiguriert Leibniz’ Monadologie. Analog zu den Lebewesen sind die von den Monaden zusammengesetzten Weltkörper einem dynamischen Kreislauf des Entstehens und Zergehens unterworfen. Ein Atomfluss strömt in sie ein und aus, damit sie zahlenmäßig gleich bleiben, »so wie wir, die wir uns in der Körpersubstanz in ähnlicher Weise Tag für Tag, Stunde für Stunde, Augenblick für Augenblick erneuern, durch Aufnahme und Verwertung, die wir mit allen Körperteilen betreiben« (129 f.). Von einem natürlichen Verlangen getrieben, begehrt ein jeglicher Körper, »wie unwürdig dieses Sein auch sei«, zu seinem Enthaltenden und Erhaltenden zu gelangen: zum Ort also, der für die Existenz seines gegenwärtigen Seins am vorteilhaftesten sei (135). Mittels der induktiven Oberflächenbetrachtung der zusammengesetzten Naturdinge lässt sich das eigentliche Lebensprinzip nicht erfassen. Stattdessen findet die Relativierung der auftretenden Akzidenzien auf transzendenter Ebene statt: Er muss axiomatisch in den für die Sinne unzugänglichen Substanzen angenommen werden. Festzuhalten ist, dass die Veränderlichkeit der Gestirne trotz aller Vernunftgründe nach wie vor ein spekulatives Argument bleibt. Wenn auf Erden »wie in einem Lebewesen, das Aus- und Einfließen von Teilen«, »ein gewisser Wechsel, eine gewisse Wandlung und Erneuerung« bestehen soll, ist dieser Kreislauf auf den fernen Sternen nicht sinnlich wahrnehmbar: »Denn dieses Ausströmen und Aufsteigen von Dämpfen, die Aufeinanderfolge von Wind, Regen, Schnee und Donner, von Unfruchtbarkeit und Überfluß, von Überschwemmungen, von Geburt und Tod, wenn all dies auch auf den anderen Gestirnen ist, können wir es doch ebensowenig sehen wie ihre Bewegung« (104 f.). Mit den bahnbrechenden Entdeckungen Galileo Galileis, der mithilfe des Fernrohrs die einst verborgenen Gestirnsoberflächen in sichtbarer Nähe erblicken konnte, nimmt die Homogenisierung des Weltgefüges seinen weiteren Lauf. Das Erspähen von erdähnlichen Himmelskörpern scheint nur eine Frage der Zeit zu sein.

2.  Galileo Galilei: die Stellarisierung der Erde Brunos Misstrauen gegenüber dem beschränkten Blickfeld des Menschen wird auch in Galileo Galileis astronomischen Schriften gegen die Lehrsätze der aristotelischen Naturlehre ausgespielt. Allerdings eröffnet sich zu Galileis Lebzeiten die Möglichanderes tun, als was es tut; da ja nur dem Wandelbaren angemessen ist, eine von der Wirklichkeit [atto] verschiedene Möglichkeit [potenza] zu haben« (47 f.).

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keit, diese angeborene Limitation mithilfe technischer Mittel – die Verwendung neuer optischer Geräte wie des Tele- und schließlich auch des Mikroskops  – zu kompensieren. An diesem Punkt erfolgt im 17. Jahrhundert ein epochaler Umbruch im Studium des Kosmos und der Natur, insofern es zur Enthüllung von ehemals dem Blickfeld entrückt verbliebenen Naturphänomenen kommt. Das darin mitschwingende Pathos an der Entdeckung neuer Sterne kommt gleich am Anfang von Galilei 1610 herausgegebener Nachricht von neuen Sternen zum Ausdruck: Es ist wirklich etwas Großes, zu der zahlreichen Menge von Fixsternen, die mit unserem natürlichen Vermögen bis zum heutigen Tag wahrgenommen werden konnten, unzählige andere hinzuzufügen und offen vor Augen zu stellen, die vorher niemals gesehen worden sind und die die alten und bekannten um mehr als die zehnfache Menge übersteigen. (83)

Dieselbe Begeisterung vermittelt Galilei in seinem gefeierten (und von der Inquisition verdammten) Hauptwerk Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme (1632): Die Nebelflecke waren zuerst bloß weißliche Stellen, mittels des Fernrohrs erst haben wir sie zu Haufen von leuchtenden, wunderschönen Sternen umgestaltet. O der anmaßenden, nein frevelhaften Unwissenheit des Menschen! (385)

Von unterschiedlicher Seite ist bereits erörtert worden, wie Galileis Fernrohrbetrachtungen der Mondoberfläche und der Gestirne zur »Stellarisierung« der Erde beigetragen haben.176 Die von Bruno angenommene Wesensähnlichkeit aller Himmelskörper erscheint dem Astronomen in sichtbare Nähe gerückt und die Erhebung der Erde zu ihren Nachbarsgestirnen vollzieht sich diesmal aufgrund veranschaulichter Erfahrungsgründe. Dadurch verliert die aristotelisch-scholastische Kosmologie vollends die für sie charakteristische Trennlinie zwischen Erden- und Sternenwelt. Bezeichnenderweise stützt sich die Homogenisierung des Weltgefüges auf Analogieschlüsse, die, wie Hans Blumenberg festgestellt hat, trotz aller ablehnenden Kritik Galileis von der aristotelischen Naturphilosophie bedingt werden: Obwohl sich Galilei in den Konsequenzen der Physik und der Kosmologie so weit von Aristoteles entfernt haben will […], ist doch sein optischer Erwartungshorizont, in dem seine Beobachtungen mit dem Fernrohr seit 1609 stehen, ganz bestimmt von dem Prinzip der universalen Herrschaft des Eidos der aristotelischen Metaphysik, die eine Welt anschaulicher Typik und der ihr zugeordneten begrifflichen Leistungen des Menschen entworfen hatte. Weil Galilei überraschend eine identische Eide-

176 

Vgl. Hans Blumenbergs Einführung »Das Fernrohr und die Ohnmacht der Wahrheit« zu seiner Ausgabe von Galileis Nachricht von neuen Sternen 23–25.

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tik der Sterne und der Erde entdeckt, schließt sich ihm das Universum zum erstenmal zum Raum einer homogenen Physik zusammen. (»Fernrohr« 26 f.)

Von einem völligen Bruch mit der metaphysischen Tradition der Antike kann zu diesem Zeitpunkt nicht ausgegangen werden. »Galileis anschauliche Analogie ist noch nicht das rationale Prinzip der Homogenität, das von der Himmelsmechanik bis zur Spektralanalyse und zur Astrophysik die Voraussetzung für die kausale Erklärung nicht nur der Himmelserscheinungen, sondern auch für die Theorie der Schrecken irdischer Kernfusionsprozesse werden sollte« (27). Für unseren Zusammenhang ist bedeutend, dass die mit der Analogie des Optischen begründete Nobilitierung der Erde ebenfalls eine Aufwertung der bis dahin negativ beurteilten Akzidenzien mit sich führt.177 Während des ersten Gesprächstags im Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme argumentiert Sagredo gegen den Peripatetiker Simplicio, dass nicht die unwandelbaren Himmelskörper, sondern die sich allgegenwärtig vollziehenden Veränderungen der Bewunderung wert seien. Eine ästhetische Aufwertung der den materiellen Dingen anhafteten Vergänglichkeit ist hier nicht zu verkennen: Ich kann nur mit größter Verwunderung, ja mit größtem innerem Widerstreben anhören, daß die Eigenschaften des Unbeeinflußbaren, Unveränderlichen, Unwandelbaren u.s.w. den Naturkörpern, welche das Weltall zusammensetzen, als etwas Vornehmes und Vollkommenes zugeschrieben werden, und im Gegensatze dazu die Wandelbarkeit, Erzeugbarkeit, Veränderlichkeit u.s.w. als etwas sehr Unvollkommenes gelten sollen. Ich für mein Teil halte die Erde für höchst vornehm und bewundernswert gerade wegen der vielen verschiedenartigen Wandelungen, Veränderungen, Erzeugungen u.s.w., die ohne Unterlaß auf ihr sich abspielen. Wäre sie im Gegenteil keiner Änderung unterworfen, sondern nichts als eine Sandwüste oder eine Jaspiskugel, oder wären zur Zeit der Sintflut die Gewässer, welche sie überfluteten, gefroren und hätte sie sich in eine unermeßliche Eiskugel verwandelt, wo nichts entsteht, noch vergeht, noch sich verändert, so würde ich sie für ein auf der Welt unnützes Ding, für müßig und, um es herauszusagen, für überflüssig erachten, so gut als wäre sie in der Natur gar nicht vorhanden; sie würde mir wie ein totes Wesen verglichen mit einem lebenden erscheinen. Dasselbe gilt auch vom Monde, vom Jupiter und allen anderen Weltkugeln. (Dialog 62)

Grundlegende Motivation für die polemische Huldigung des Veränderlichen ist mit aller Wahrscheinlichkeit die Bekräftigung der göttlichen Vorsehung im Welt177 

Blumenberg will in der ideellen Nobilitierung der Erde einen weiteren Beleg festmachen, dass »unter dieser Voraussetzung der Kopernikanismus eben nicht als die große Enttäuschung und Erniedrigung des Menschen erfahren wurde, als die ihn schließlich Nietzsche empfinden sollte« (»Fernrohr« 28).

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geschehen, denn ohne ihr Walten würden die Erde und das Weltall, wie sie jetzt existieren, nicht bestehen. Der Providenzglaube wiegt die verlorene Zentralposition des Menschen im Weltgefüge wieder auf. Simplicios Verneinung jeglicher Veränderung außerhalb der sublunaren Ebene basiert konsequent auf der anthropozentrischen Überzeugung, dass das Entstehen von Gütern auf anderen Sternen in keinem Zweckverhältnis mit den Erdbewohnern stehe. Die Möglichkeit eines mit Vernunftwesen bevölkerten Kosmos, die die Vorzugsposition des Menschen streitig machen könnte, lehnt er vehement ab. Über diesen metaphysischen Streitpunkt argumentiert die Gegenpartei ähnlich wie über die Unendlichkeit: Es fehlt an Gewissheit, um darüber ein Urteil zu fällen. Sobald es an anschaubaren Übereinstimmungen zwischen der Erde und einem anderen Himmelskörper fehlt, muss nicht notwendigerweise die Schlussfolgerung gezogen werden, »daß […] überhaupt keine Erzeugung auf ihm stattfindet, daß nicht andere Dinge dort sein können, die sich verändern, entstehen, sich auflösen, die nicht nur von den unsrigen verschieden, sondern auch unserer Phantasie völlig entrückt und für uns geradezu unvorstellbar sind« (65). Bezüglich der Unendlichkeit des Weltalls bestreitet Salviati nicht bloß die Möglichkeit von deren sinnlichen Veranschaulichung, sondern auch die Verstandeskapazität, sie jemals begreifen zu können. Ein Urteilsspruch über das Unendliche würde bloß die Ehrfurcht vor der Allmacht Gottes verletzen: Darum frage ich dich schließlich, du thörichter Mensch: Begreifst du mit deinem Geiste die Größe des Weltalls, die du für allzu gewaltig ausgiebst? Und wenn du sie begreifst, wirst du glauben mögen, daß deine Fassungskraft weiter reicht als die göttliche Allmacht? Wirst du zu behaupten wagen, daß du dir Größeres vorzustellen vermagst, als Gott auszuführen imstande ist? Begreifst du sie aber nicht, was willst du urteilen über Dinge, die du nicht fassest? (Dialog 384)

Der Peripatetiker Simplicio bejaht ebenfalls die Unmöglichkeit, die Größe Gottes angemessen darzustellen, besteht jedoch nach wie vor darauf, dass die auf das Menschenwohl abgestimmte teleologische Zweckmäßigkeit in Anbetracht der um die Erde gescharten harmonischen Sternenordnung sinnfällig werde. Insofern weist das Weltganze keine unnützen, zwecklosen oder übermäßigen Eigenschaften vor. Diese anthropozentrische Sichtweise wird jedoch von der Gegenpartei aufgrund der beschränkten Verstandeskräfte relativiert. Eine »schwache Vernunft« dürfe sich nicht anmaßen, eine unermessliche, alle Fassungsgabe übersteigende Größe der Fixsternbehausung oder einen ungeheuren sternenleeren Raum zwischen den Planetenbahnen und der Sternensphäre als »eitel« oder »überflüssig« zu betrachten (385). Als höchste ordnende Instanz sei die lenkende Vorsehung des unendlichen Schöpfergottes zu berücksichtigen:178 178 René

Descartes argumentiert im dritten Teil der 1644 erschienenen Die Prinzipien

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Zuviel maßen wir uns an, scheint mir, Signore Simplicio, wenn mir meinen, einzig die Sorge um uns erschöpfe das Wirken der Weisheit und Macht Gottes, darüber hinaus thue und ordne sie nichts. Ich aber möchte, daß wir den Arm Gottes nicht so verkürzen; geben wir uns vielmehr mit dem sicheren Bewußtsein zufrieden, daß Gott und Natur sich derart um die Lenkung menschlicher Dinge bekümmern, daß keine größere Fürsorge walten könnte, auch wenn für nichts anderes zu sorgen wäre, als für das Menschengeschlecht allein. (Dialog 384)

Der Rekurs auf das unergründbare Wesen Gottes deckt sich in seiner Denkstruktur weitgehend mit den populärphilosophischen Theodizeeargumenten des 18. Jahrhunderts. Gott und seine Schöpfung sind über jeglichen Urteilsspruch erhaben. Zwischen den sinnlich wahrgenommenen Merkmalen der Objekte und ihrer wirklichen Beschaffenheit besteht eine nicht überbrückbare Inkongruenz.

3. Blaise Pascal: die Grenzziehung des menschlichen Erkenntnisvermögens Das Unbehagen bereitende Missverhältnis zwischen dem beschränkten Menschen und den ihn verschlingenden Weiten des Weltalls findet seinen prägnanten Ausdruck in Blaise Pascals (1623–1662) fragmentarischen Gedanken, die posthum 1670 unter dem längeren Titel Pensées de M. Pascal sur la Religion et sur quelques autres sujets, qui ont été trouvées après sa mort parmi ses papiers erstmals erschienen.179 In dem für unsere Untersuchung wichtigen Abschnitt »Von der Erkenntnis des Menschen zu der Gottes« umreißt Pascal den epistemologisch erschließbaren Wahrnehmungsbereich des Menschen, der im Vergleich zum unüberblickbaren Naturganzen verschwindend klein ist. Die negative Konsequenz des dezentralisierten Weltbilds verdeutlicht er am Scheitern der Einbildungskraft, eine adäquate Anschauung des real existierenden Kosmos zu konzipieren: der Philosophie ähnlich: »Erstens sollen wir uns in Anbetracht der unendlichen Macht und der unendlichen Güte Gottes nicht scheuen, uns seine Werke als großartig, schön und vollendet vorzustellen, sondern uns im Gegenteil davor hüten, uns die Macht des Schöpfers als nicht großartig genug zu denken, damit wir nicht möglicherweise in ihr Grenzen voraussetzen, die von uns nicht als sicher erkannt worden sind. Zweitens müssen wir uns davor hüten, hochmütig über uns selbst zu urteilen. Das wäre nicht nur der Fall, wenn wir der Welt Grenzen, die weder durch die Vernunft noch durch die göttliche Offenbarung erkennbar sind, andichten wollten – gleichsam als ob die Kraft unseres Denkens über das, was tatsächlich von Gott geschaffen ist, hinauslangen könnte – , sondern sogar um so mehr, wenn wir verneinten, alle Dinge seien unseretwegen von ihm geschaffen worden; oder auch nur dann, wenn wir die Ziele, die er sich bei der Erschaffung des Universums vorgesetzt hat, für durch unsere Geisteskraft nachvollziehbar hielten« (177 f.). 179  Zitiert (Fragment, Seite) wird aus folgender Ausgabe: Blaise Pascal. Gedanken. Übers. von Ulrich Kunzmann. Hrsg. von Jean-Robert Armogathe. Stuttgart: Reclam, 1987.

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Der Mensch soll […] die ganze Natur in ihrer großen und vollkommenen Majestät betrachten, er soll seinen Blick von den niedrigen Gegenständen abwenden, die ihn umgeben. Er beschaue jenes strahlende Licht, das wie eine Ewige Lampe aufgestellt ist, um das Universum zu erhellen, die Erde erscheine ihm wie ein Punkt im Vergleich zu der weiten Kreisbahn, die das Gestirn durchläuft und er erstaune darüber, daß diese weite Kreisbahn selbst nur eine sehr schwache Andeutung ist im Verhältnis zu jener, der diese anderen Gestirne, die am Firmament dahinrollen, folgen. Wenn aber unser Blick dort stehen bleibt, so soll die Phantasie darüber hinausgehen, sie wird eher der Gedankenbilder müde werden als die Natur, solche zu liefern. Die ganze sichtbare Welt ist nur ein unscheinbarer Strich im weiten Kreis der Natur. Keine Idee reicht an sie heran, wir können unsere Gedankenbilder noch so sehr über die vorstellbaren Räume hinaus ausweiten, wir bringen doch nur Atome im Vergleich zu den wirklichen Dingen hervor. Es ist eine unendliche Kugel, deren Mittelpunkt überall und deren Peripherie nirgendwo ist. Schließlich ist es der fühlbarste Wesenszug der Allmacht Gottes [le plus grand caractère sensible de la toutepuissance de Dieu], daß unsere Phantasie bei diesem Gedanken den Boden verliert. (199, 130 f.)180

Gemäß Arthur Lovejoys Studie The Great Chain of Being (1936) weist Pascals Vorstellung des infiniten Raumes nicht die von Bruno angeführte stupende Fülle und Vielfalt der Wesenseinheiten auf und vermag demnach nicht dieselbe berauschende »aesthetic admiration« zu erregen, sondern führt zur Missgunst über die eigene Nichtigkeit im Weltganzen (126 f.). Bezüglich der Frage, wo der Mensch sich im dezentralisierten Kosmos überhaupt positionieren könne, spricht Pascal ihm eine Mittelposition zu, die sich auf die angeborene Erkenntnisleistung und nicht etwa auf eine ihn begünstigenden Naturordnung gründet. Der inkommensurable Weltraum sagt nichts über eine bevorzugte Vorrangstellung des Menschen in der Natur aus. Vielmehr ergibt sich die Stellung des Menschen aus der kritischen Absteckung seines Erkenntnishorizonts. Im Hinblick auf die sich den optischen Instrumenten eröffnenden, jedoch niemals vollends ergründbaren Dimensionen des Mikro- und Makrokosmos nimmt das wahrnehmende Subjekt die Schnittstelle inmitten zweier Extrempunkte ein: Denn was ist schließlich der Mensch in der Natur? Ein Nichts im Vergleich mit dem Unendlichen, ein All im Vergleich mit dem Nichts, ein Mittelding zwischen nichts und allem, unendlich weit davon entfernt, die Extreme zu erfassen; das Ende der Dinge und ihre Anfänge sind ihm in einem undurchdringlichen Geheimnis unerbittlich verborgen. (199, 133)

180 

Hervorhebungen von C. W.

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Hin und her gerissen zwischen dem Nichts und dem Unendlichen ist es uns verwehrt, ein vollständiges Bild über unser Sein aufzustellen: »Was unser Sein ausmacht, beraubt uns der Erkenntnis der ersten Grundlagen, die aus dem Nichts hervorgehen, und das wenige an Sein, was wir haben, verbirgt unseren Augen die Unendlichkeit« (199, 135). Das beständige Greifenwollen nach den sich den beiden entziehenden Unendlichkeiten, die Unfähigkeit, etwas entweder sicher oder überhaupt nicht zu erkennen, macht für Pascal den eigentlichen Zustand des Menschendaseins aus, der grundsätzlich unserem Bedürfnis nach Beständigkeit widerspricht: »Wir brennen vor Verlangen, einen festen Halt und eine letzte, beständige Grundlage zu finden, um darauf einen Turm zu errichten, der sich bis zum Unendlichen erheben soll, aber unser ganzes Fundament kracht auseinander, und die Erde tut sich bis in die Tiefen auf« (199, 137). Angesichts der ontologischen Unsicherheit reklamiert Pascal eine gewisse Seelenruhe, sobald der Mensch seinen von der Natur zugestandenen Standort ausfindig macht und akzeptiert. Ganz nach dem oben eruierten Denkmuster führt die reflexive Vergegenwärtigung beider Unendlichkeiten ebenfalls zur Nivellierung qualitativer Differenzen endlicher Erscheinungen. Unter diesem Gesichtspunkt hebt sich die selbstempfundene Beschränktheit in Abschätzung zu anderen empfundenen Endlichkeiten auf, weil ein jegliches denkendes Subjekt unendlich weit vom ideellen Endpunkt entfernt ist. Eine längere Lebensdauer, ein höherer Erkenntnistand, ein größerer Wissensfortschritt: Sie sind allesamt, auf das Absolute bezogen, bloß Scheinvorteile (vgl. 199, 137). Somit sitzt der Mensch in seiner angestammten Mittelposition fest. Sollte er dennoch das Verlangen verspüren, sich selbst und die äußeren Naturdinge zu erkunden, so kann dies bloß nach dem axiomatischen Pars pro toto Bezugsschema bewerkstelligt werden. Es sei unmöglich, konstatiert Pascal, »daß man die Teile erkennt, ohne das Ganze zu erkennen, wie man auch das Ganze nicht erkennen kann, ohne die Teile zu erkennen« (199,138). Selbst wenn dieser Modus der Erkenntnissuche als begrenzt und unvollkommen zu beurteilen ist, die ersten und letzten Grundlagen des Seins sind allein dem unendlichen Verstand Gottes vorbehalten, so gründet sich das menschliche Selbstbewusstsein ganz nach der cartesianischen Maxime cogito ergo sum auf sein Denken. Der Abschnitt endet mit den berühmt gewordenen Fragmenten, worin Pascal den Widerstreit des denkenden Subjekts mit den übermächtigen Kräften des Kosmos einprägsam schildert: Der Mensch ist nur ein Schilfrohr, das schwächste der Natur, aber er ist ein denkendes Schilfrohr. Das ganze Weltall braucht sich nicht zu waffnen ihn zu zermalmen; ein Dampf, ein Wassertropfen genügen, um ihn zu töten. Doch wenn das Weltall ihn zermalmte, so wäre der Mensch nur noch viel edler als das, was ihn tötet denn er weiß ja, daß er stirbt und welche Überlegenheit ihm gegenüber das Weltall hat. Das Weltall weiß davon nichts. Unsere ganze Würde besteht also im Denken. Dar-

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an müssen wir uns wieder aufrichten und nicht an Raum und Zeit, die wir nicht ausfüllen können. Bemühen wir uns also gut zu denken: Das ist die Grundlage der Moral. (200, 140 f.)   Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume erschreckt mich. (201,141)

Angesichts des schreckenerregenden Sinnlichunermesslichen besinnt sich das bedrängte Subjekt auf das Eigentümliche seiner Existenz. Als denkendes und somit moralisch handlungsfähiges Wesen bleibt es in seiner Würde unerniedrigt. Dieser Reflexionsakt präfiguriert die von Immanuel Kant und Friedrich Schiller erörterte erhabene Disposition. Ferner erfolgt mit dem Unvermögen der Einbildungskraft, das Unendliche angemessen zu veranschaulichen, eine gefühlsmäßige Perzeption der göttlichen Allmacht als negative Präsenz. Für das affektive Teilhaben am Inkommensurablen bedarf es also der vorangehenden Grenzerfahrung des eigenen Erkenntnisvermögens. Der von Pascal anvisierte Bezugspunkt des Absoluten bringt insofern nicht nur eine beschämende Verlegenheit mit sich, sondern auch ein erhöhtes Selbstbewusstsein der eigenen Vermögen. Dieses Oszillieren zwischen Selbsterniedrigung und -erhebung schlägt sich als kennzeichnendes Merkmal für die Erhabenheitserfahrung im 18. Jahrhundert nieder.

4. Göttliche Vorsehung und Geognosie: Thomas Burnets heilige Theorie der Erde Der Theologe Thomas Burnet gehört nebst William Derham und John Ray zu den bedeutendsten Vertretern der physikotheologischen Bewegung in England. Seine Schrift The Sacred Theory of the Earth, die 1681 auf Latein und drei Jahre später auf Englisch erschienen ist, fand auch auf dem Kontinent einen breiten Absatz und hat auf die deutsche Frühaufklärung einen großen Einfluss ausgeübt. Eine deutsche Übersetzung von Johannes Jacob Zimmermann (1644–1693) ist 1693 in Frankfurt und Leipzig publiziert worden. Leibniz und Johann Christoph Gottsched ließen Aspekte von Burnets geognostischen Sintfluttheorien in ihre eigenen Werke einfließen.181 Burnets Denken wurde vom Platonismus der Cambridger Schule geprägt worden Die Übereinkunft der Naturwissenschaften mit der Religion bekräftigt er gleich zu Anbeginn des ersten Teils seiner Sacred Theory. Eine Theorie der Erde müsse unter der Leitung der natürlichen Vernunft und der Heiligen Schrift verfasst werden, die gleichermaßen die Validität des überlieferten Wissens der Alten zu prüfen hat. Burnets Fokus auf die dramatischen Ereignisse der Erdgeschichte, von der Formierung des Erdkörpers aus dem Chaos, dessen Korrumpierung durch 181 

Vgl. Nicolson 233–235.

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die globale Sintflut, bis zu seinem zukünftigen Untergang durch das Feuer, hat seinen Grund in der Offenbarung der providentia Dei. Mittels der rekonstruierten Weltrevolutionen soll der Heilsplan Gottes für die ganze Menschheit sinnfällig gemacht werden. Burnet markiert den Wissensbereich der Naturwissenschaften dementsprechend: There is nothing so secret that shall not be brought to Light, within the compass of Our World; for we are not to understand that of the whole Universe, nor of all Eternity, our capacities do not extend so far; But whatsoever concerns this Sublunary World in the whole extend of its duration, from Chaos to the last period, this I believe Providence hath made us capable to understand, and will in its due time make it known. (25)

Die Wahrheitsfindung im Buch der Natur charakterisiert Burnet als ein Unterfangen, bei dem das Gemüt entscheidend affiziert wird. In der Philosophie besteht ein doppeltes Vergnügen, das sich einerseits wegen der Unwissenheit und andererseits wegen der immanenten Kenntnis über die äußere Natur einstellt.182 Nicht von ungefähr fällt das Augenmerk auf die unbegrenzten, schwer fassbaren Naturphänomene, da sie als Sprungfeder großer Leidenschaften fungieren. Bemerkenswert ist, dass Burnet das von den unermesslichen Himmelsweiten evozierte gemischte Vergnügen nun auch auf bestimmte Naturgegenstände überträgt, die im 18. Jahrhundert als erhaben klassifiziert werden: The greatest objects of Nature are, methinks, the most pleasing to behold; and next to the great Concave of the Heavens, and those boundless Regions where the Stars inhabit, there is nothing I look upon with more pleasure than the wide Sea and the Mountains of the Earth. There is something august and stately in the Air of these things, that inspires the mind with great thoughts and passions; We do naturally, upon such occasions, think of God and his greatness: and whatsoever hath but the shadow and appearance of INFINITE, as all things have that are too big for our comprehension, they fill and over-bear the mind with their Excess, and cast it into a pleasing kind of stupor and admiration. (109 f.)

182 

»There is a double pleasure in Philosophy, first that of Admiration, whilst we contemplate things that are great and wonderful, and do not yet understand their Causes; for though admiration proceed from ignorance, yet there is a certain charm and sweetness in that passion. Then the second pleasure is greater and more intellectual, which is that of distinct knowledge and comprehension, when we come to have the Key that unlocks those secrets, and see the methods wherein those things come to pass that we admir’d before; The reasons why the World is so or so, and from what causes Nature, or any part of Nature, came into such a state; and this we are now to enquire after as to the Mountains of the Earth, what their original was, how and when the Earth came into this strange frame and structure?« (Burnet 113).

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Wie Galileo Galilei vor ihm bezweifelt Burnet, dass das Universum zum alleinigen Vorteil des Menschen erschaffen worden sei. Das erweiterte Blickfeld der neuen Optik bricht nicht nur mit dem Erfahrungshorizont der Alten, sondern macht es notwendig, sich in Anbetracht der unfassbaren Sternenfülle neu zu orientieren. Selbst mit den besten Teleskopen ist kein kommensurables Formprinzip in den unbegrenzten Sternenweiten ersichtlich, das darauf hindeuten würde, die Sterne wären zu unserem alleinigen Nutzen und Genuss erschaffen worden (vgl. 220). Die von Aristoteles und den Stoikern gepriesene Harmonie der Himmelssphäre verschließt sich der sinnlichen Wahrnehmung. Sie scheitert daran, aus den zahllosen Einzelgliedern ein nach Kunstregeln geformtes Ganzes zu schaffen. Es ist bezeichnend, das Burnets Schilderung der allem Anschein nach planlos verstreuten Sterne sich weitgehend mit derjenigen der scheinbar irregulären Berge auf der geokosmischen Ebene deckt: And no doubt if the principal end of them had been our pleasure or conveniency, they would have been put in some better order in respect of the Earth; They lie carelessly scatter’d, as if they had been sown in the Heaven, like Seed, by handfuls; and not by a skilful hand neither. What a beautiful Hemisphere they would have made, if they had been plac’d in rank and order, if they had been dispos’d into regular figures, and the little ones set with due regard to the greater, Then all finisht and made up into one fair piece or great Composition, according to the rules of Art and Symmetry. […] This indeed might have given one some temptation to have thought that they had been all made for us; but lest any such vain imagination should now enter into our thoughts, Providence (besides more important Reasons) seems on purpose to have left them under that negligence or disorder which they appear in to us. (220)

Die polemische Betonung eines irregulären und veränderbaren Weltgefüges ergibt sich aus der normativen Abgrenzung zur aristotelischen Kosmologie. Mit unverkennbarer Deutlichkeit beabsichtigt Burnet, in ihr die fehlende Übereinstimmung mit dem christlichen Vorsehungsglauben aufzuzeigen. Mittels der aus »Analogy of Reason and Nature« eruierten Tellurisierung des Weltganzen soll die allgegenwärtige Machtentfaltung Gottes im Makro- und Mikrokosmos sich als unumgängliches Faktum herausstellen (129). Burnet rekurriert hierbei auf die schon in der mittelalterlichen Scholastik bekannte Problematik der ewig währenden und folglich unerschaffenen Materie. [T]he vulgar System, or that which Aristotle and others have propos’d, affords no matter of contemplation. All above the Moon, according to him, is firm as Adamant, and as immutable; no change or variation in the Universe, but in those little removes that happen here below, one quality or form shifting into another; there would therefore be no great exercise of Reason or Meditation in such a World, no

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long Series’s of Providence […]. But if we consider the Earth, as one of those many Planets that move about the Sun, and the Suns as one of those innumerable fixt Stars that adorn the Universe, and are the Centers of its greatest Motions; and all this subject to fate and change, to corruptions and renovations; This opens a large Field for our Thoughts, and gives a large subject for the exercise and expansion of the Divine Wisdom and Power, and for the glory of Providence. (222)

Die religiös geprägte Vorstellung einer Natur, die gemäß einem eschatologischen Heilsplan einschneidende Revolutionen und somit Verfalls- und Erneuerungsprozesse durchläuft, kennzeichnet am Ende des 17. Jahrhunderts eine Abwehrhaltung gegen die materialistischen bzw. atheistischen Denkstrukturen sowohl in der antiken als auch in der frühmodernen Naturbetrachtung. Sollten die Prädikate wie Unwandelbarkeit, Beständigkeit und Notwendigkeit im diesseitigen Weltgeschehen vorherrschen, bedürfte es, pointiert ausgedrückt, gar keiner göttlichen Vorsehung. Gerade im Inkongruenten bzw. im Wunderbaren der Natur gewinnen die Attribute Gottes an sinnfälliger Präsenz. Aufgrund dessen konstatiert Burnet, dass eine ewig währende Welt nach aristotelischer Manier arm an beeindruckenden Bildern wäre. Die wirkungsästhetische Komponente seiner Erdtheorie kommt im folgenden Passus deutlich zur Geltung: And this may give us just occasion to reflect again upon Aristotle’s System and method, which destroys Natural Providence in this respect also; for he takes the World as it is now, both for Matter and Form, and supposeth it to have been in this posture from all Eternity, and that it will continue to Eternity in the same; so as all the great turns of Nature, and the principal scenes of Providence in the Natural World are quite struck out; and we have but this one Scene for all, and a pitiful one too, if compa’rd with the infinite Wisdom of God, and the depths of Providence. (222 f.)

Burnets bewusstseinsgeschichtliche Affinität zu den Cambridge Platonists wie Henry More offenbart sich gerade im Bestreben, die zerstörerischen Naturkräfte mit dem Vorsehungsglauben in Einklang zu bringen. More behandelt die Problematik der »horrid Disasters of mankinde, War, Famine, Pestilence, and Earthquakes« detailliert in den Divine Dialogues (1668). Augenfällig ist seine Aufführung der Kalamitäten als ergreifendes Drama, das die Zuschauer der erdgeschichtlichen Schaubühne dazu ermuntern soll, über die göttliche Weisheit und Macht zu reflektieren. Die unterliegende Sinngebung plötzlich eintreffender Unglücksfälle liegt also in der Erzeugung pathetischer Szenarien: But it is the skill of the great Dramatist to enrich the History of the World with such Tragicall transactions. For were not for bloudy fightings of Battles and dearlybought Victories, the strange Changes and Subversions of Kingdoms and Empires, the horrible Narrations of Countries depopulated by devouring Plague and Famine,

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of whole Cities swallowed down by unexpected Earthquakes, and entire Continents drown’d by sudden Inundations, the Spectatours of this terrestriall Stage-play would even nod for want of something more then ordinarily notorious to engage and hold on their attention. Wherefore these things are not all amiss for the adorning of the History of Time, and recommending of this Theatre of the World to those that are contemplative of Nature and Providence. For the Records of these fore-past Misteries of other Ages and Places naturally engender a pious Fear in the well-disposed, and make all that hear thereof more sensibly relish their present tranquillity and happiness. And which is ever to be considered, the unexhaustible stock of the Universe will very easily bear the expense of all these so-amusing Pomps and Solemnities: which therefore give more ample witness to the Wisdom and Power of the Deity. (224–26)

5.  Bernhard Le Bovier de Fontenelle: die Ästhetisierung des Infiniten Bernhard Le Bovier de Fontenelles (1657–1757) Abhandlung Entretiens sur la Pluralité des mondes, die 1686 zuerst anonym in Paris herausgegeben wurde, gehört zu den meist veröffentlichten Schriften der Aufklärung, deren Popularität bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nicht abriss. Ihre deutsche Erstveröffentlichung erlebte sie bereits 1698 in Leipzig. Johann Christoph Gottscheds übersetzte und kommentierte Fassung, Gespräche von Mehr als einer Welt, wurde zwischen 1726 und 1771 sechsmal aufgelegt. Weiterhin wurde das Werk unter dem Titel Dialogen über die Mehrheit der Welten von Christhelf Siegmund Mylius (1753–1827) neu übersetzt und erschien mit den Kommentaren Johann Elert Bodes (1747–1826), Astronom der königlichen preußischen Akademie der Wissenschaften, nochmals in den Jahren 1780, 1789 und 1798. In der Vorrede zu den Gespräche bekundet Fontenelle sein populärwissenschaftliches Anliegen. Sein Buch sei für eine breite Leserschaft verfasst worden, das gleichermaßen Laien und Experten der Naturphilosophie berücksichtigt: Ich habe die Philosophie auf eine Art abhandeln wollen, die nicht philosophisch ist. Ich habe mich bemüht, sie in einen Stand zu setzen, da sie weder vor die Unstudierten gar zu trocken, noch vor die Gelehrten gar zu scherzhafft seyn mögte. (2)183

Die Erweckung der »Neugierigkeit«, die Absicht, »zu gleicher Zeit zu unterweisen und zu vergnügen« haben Fontenelle dazu bewogen, die neueren astronomischen 183 

Zitiert wird aus der 1726 veröffentlichten Gottschedschen Fassung: Bernhard von Fontenelle. Gespräche von Mehr als einer Welt zwischen einem Frauenzimmer und einem Gelehrten; Nach der neuesten Französischen Auflage übersetzt, auch mit Figuren und Anmerckungen erläutert von Joh. Chr. Gottscheden. Leipzig: Bey Bernhard Christoph Breitkopf, 1726.

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Erkenntnisse, insbesondere bezüglich der Frage, ob auf anderen Welten Leben exis­ tiere, in einem Dialog eines Gelehrten mit einer Frau, der wissensbegierigen Marquise de G., zusammenzufassen. Ersichtlich wird seine Absicht, das Universum mit seinen unzähligen Wirbeln und Fixsternen nicht bloß als naturwissenschaftliches Studienobjekt, sondern in betontem Masse als Schaubühne ästhetischer Belustigung zu präsentieren.184 Fontenelles Weltbild beinhaltet wesentliche Züge der cartesianischen Astronomie. Der von Wirbeln erfüllte Kosmos unterliegt mechanischen Gesetzmäßigkeiten, die der göttlichen Einwirkung kaum bedürfen. Laut Hans Blumenberg hat die »negative Auslegbarkeit der kopernikanischen Metaphorik«, nämlich der Rangverlust des Menschen im Weltgefüge, in den Gesprächen ihren Anfang genommen (Wende 159 ff.). Freilich gesteht der Gelehrte ein, dass das kopernikanische System einerseits »den Stoltz der Menschen gedämpffet hat, welche sich an die beste Stelle der gantzen Welt gesetzet hatten«, ergötzt sich hingegen an der Idee, die Erde »unter dem Haufen der Planeten zu erblicken« (Gespräche 32). Er entlarvt sozusagen die anthropozentrische Neigung des Menschen, sich in den Mittelpunkt eines illusionären geozentrischen Systems zu setzen.185 Die sich durchweg im 17. Jahrhundert vollziehende Gleichstellung der Erde zu den anderen Gestirnen, in der Blumenberg »die andere Ausmünzung der kopernikanischen Metaphorik« erblickt, nimmt in Fontenelles Schrift eine zentrale Stelle ein (Wende 160). Im Gefolge dieser Nivellierung postuliert auch er das gängige Prinzip einer fruchtbaren, wenn nicht gar verschwenderischen Natur. Andere Welten müssen analog zur Erde eine ähnliche Fekundität vorweisen: Kurtz zu sagen: Alles ist lebendig, alles ist beseelet! […] Glauben sie nun wohl, [die Natur] werde bey uns ihre Fruchtbarkeit aufs höchste getrieben haben, dort aber so unfruchtbar gewesen seyn, daß sie gar nichts lebendiges hervorgebracht? (112 f.)

Die Konsequenz des allgegenwärtigen Prinzips der Fülle ist die Temporalität der Dinge, die nicht nur die Lebewesen, sondern auch die entfernten Fixsterne betrifft. Die Lehre der antiken Naturphilosophen von der unveränderlichen Natur der Him184 

»Weil ich nicht Sinnes war, ein Lufftschloß ohne Grund zu bauen; so habe ich mich lauter wahrer Vernunfft-Schlüsse aus der Natur-Wissenschafft bedienet, und deren so viel angebracht, als nöthig gewesen. Es trifft sich zu allem Glücke, daß die Abbildungen natürlicher Dinge an sich selbst schon angenehm sind, und daß sie zu eben der Zeit, da sie der Vernunfft ein Gnügen thun, der Einbildungs-Krafft eine Vorstellung machen, die ihr so wohl gefällt, als wen sie ausdrücklich nur ihr zu Gefallen erdacht wäre« (4 f.). 185  »Er ergetzet sich, daß alles seinenthalben gemacht ist. Er setztet diesen kützelnden Satz zum voraus, vielleicht ohne daß er es selbst gewahr wird, und sein Hertz nimmt Theil an einer Sache, die doch bloß den Verstand angehet. Die Wahrheit zu sagen, versetzte sie, daß ist eine große Lästerung, die sie wieder das gantze menschliche Geschlecht ersonnen haben. Man hätte das Coperincanische Systema nicht annehmen sollen, weil es uns so erniedriget« (33).

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melskörper widerspricht den über längere Zeitperioden erworbenen Naturerkenntnissen: »Und wenn gleich bis auf den heutigen Tag keine Veränderung am Himmel vorgegangen wäre, wenn er gleich Merckmahle zeigen möchte, daß er gemacht sey, ewig ohne alle Veränderungen zu dauren, so wollte ich es doch nicht glauben, sondern auf eine längere Erfahrung warten« (183 f.). Zum Schrecken der Marquise mutmaßt der Gelehrte über das spektakuläre Verlöschen lebensspendender Sonnen mitsamt der Verwüstung ganzer Wirbel: »Ein allgemeiner Untergang vor alle Planeten!« (179). Um sie wieder zu besänftigen, rekurriert er auf die positive Kehrseite des obigen Analogieschlusses. Wenn die Gestirne wie die Lebewesen auf Erden untergehen, so müssen jene wie diese ebenfalls wieder neu entstehen können: Warum solte die Materie, daraus eine Sonne bestehen kan, nachdem sie an verschiedene Oerter zerstreuet worden, sich nicht wieder versammlen, und mit der Zeit den Grund zu einer neuen Welt legen können? Ich bin um soviel geneigter, diese Hervorbringungen zu glauben, weil sie mit der herrlichen Vorstellung überein kömmt, die ich von den Wercken der Natur habe. Sollte sie nur das Vermögen haben, Pflantzen oder Thiere durch einen immerwährenden Wechsel sterben und entstehen zu laßen? Ich bin überredet, und sie sind es gleichfalls, daß sie eben diese Macht bey den Welten anwenden werde, und daß ihr solches nicht schwerer fallen werde. (185)

Die Orientierungslosigkeit der Marquise in Anbetracht des infiniten Weltenraums wird also mit der Vergegenwärtigung des übermäßigen Naturreichtums wieder aufgehoben. Die folgende Dialogstelle hat in poetologischen und philologischen Abhandlungen über das Große und Erhabene im 18. Jahrhundert einen breiten Niederschlag gefunden: [D]as Weltgebäude wird mir itzo so groß, daß ich mich darinnen gantz verliere, ich weiß nicht mehr wo ich bin, ja ich bin gar nichts. Wie? Soll denn alles in Wirbel abgetheilet seyn, die unordentlich durcheinander geworfen sind? Soll ieder Stern der Mittelpunct eines vielleicht eben so großen Wirbels seyn, als der unsrige ist? Soll der ganzte unermeßliche Raum, der unsre Sonne mit ihren Planeten in sich begreift, nur ein kleines Stückgen von der ganzten Welt seyn? Das setzet mich in Unordnung, Verwirrung, und Erstaunen. (157 f.)

Auf das verwirrte Erstaunen der Marquise erwidert der Gelehrte, dass ihn das Himmelsgewölbe gerade wegen seiner Unermesslichkeit besonders entzückt:186 186 

Hervorzuheben ist, dass an dieser Stelle Fontenelles Vorstellung eines unendlichen Himmelsgewölbes von der kartesianischen Kosmologie abweicht. Descartes äußert sich über die Ausdehnung seines Wirbelsystems weit vorsichtiger, insofern als er ihm zwar Unbegrenztheit, nicht aber absolute Unendlichkeit beimisst. Im ersten Teil seiner Prinzipien der Philosophie erfolgt die Differenzierung beider Begriffe: »Und weil keine Anzahl von Sternen als so groß vorgestellt werden kann, ohne daß wir glauben müßten, daß Gott noch mehr hätte erschaffen können, unter-

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Mich aber, […] setzet es in ein besonderes Vergnügen. Wenn der Himmel nichts anders wäre als ein blaues Gewölbe, daran die Sterne wie blancke Nägel gehefftet wären, so würde mir die Welt klein und enge vorkommen: es würde mich düncken, daß ich darinnen erdrücket würde: allein itzo, da man diesem Gewölbe eine unendlich [infiniment] größere Ausdehnung und Tiefe zueignet, indem man es in tausend und wieder tausend Wirbel eintheilet, so dünckt mich, daß ich mit viel größerer Freyheit Athem hole, und in einer freyern Lufft bin. Und versichert, die Welt wird auf solche Weise weit herrlicher. Die Natur hat in Hervorbringung derselben nichts gesparet. Sie hat ihre Reichthümer auf eine ihr anständige Weise überflüßig ausgebreitet. Was kan man sich schöner vorstellen, als die wunderwürdige Menge der Wirbel, in deren Mitte eine Sonne stehet, welche Planeten um sich drehet. (158)

Die ästhetische Wahrnehmung des Himmels übt auf ihn keine bedrückende, sondern eine befreiende Gefühlswirkung aus. Im Gegensatz zur Marquise kann der Gelehrte mit der Idee eines reichen und geordneten Universums aufwarten, das den Seinsverlust im exzentrischen Universum auffängt. Allein durch die empirische Naturbetrachtung ist ein solches Konzept, in dem das gesamte Weltgefüge und nicht nur dessen Partikularitäten umfasst wird, nicht zu bewerkstelligen. Die aus den Wissenschaften erarbeiteten Einzelerkenntnisse lassen sich nur mittels Analogieschlüsse auf ein Ganzes aufpfropfen. Insofern verlangt Fontenelles Prinzip eines ökonomischen, harmonisch operierenden Kosmos die Überführung der Empirie in die Metaphysik: stellen wir, daß ihre Anzahl ebenfalls unbegrenzt ist; und ebenso verhält es sich mit dem übrigen. Wir werden nun diese Dinge lieber »indefinit = unbegrenzt« als »infinit = unendlich« nennen: zum einen, damit wir die Bezeichnung des Unendlichen allein Gott vorbehalten, weil wir in ihm allein in jeder Hinsicht nicht nur eine Grenze erkennen, sondern auch positiv einsehen, daß es in ihm keine gibt; und zum andern, weil wir bei anderen Dingen nicht positiv einsehen, daß sie in gewisser Hinsicht von Grenzen frei sind, sondern negativ uns nur eingestehen, daß ihre Grenzen, wenn sie welche haben sollten, von uns nicht aufgefunden werden können« (35–37). Bezeichnenderweise bekundet Gottsched in seinem Kommentar zur obigen Dialogpassage ähnlich wie Descartes sein Misstrauen gegenüber dem brunoschen Weltbild. Da dieses nicht auf Erfahrungsgründen beruht, bleibt es für ihn ein rein spekulatives Konstrukt: »Ob die Anzahl dieser Wirbel und ihrer Sonnen die wir Sterne nennen, in der That unendlich sey; kan man nicht sagen. Mit bloßen Augen werden nicht viel über anderthalb tausend am Himmel gesehen. Mit Ferngläsern aber werden zum wenigsten zwanzig mahl so viel von den Sternsehern gezehlet, und es ist kein Zweifel daß nicht noch unzehlige so weit von uns entfernet sind, daß wir sie auch mit unseren besten Sehröhren nicht entdecken können. Wer unterstehet sich nun zu sagen wie groß überhaupt die Anzahl der Sterne sey? Wer kan uns die Gräntzen zeigen, wo diese himmlische Wirbel endlich aufhören? Vielleicht hören sie nirgends auf, so daß auch ihre Menge fast unendlich wird; wie Jordan Brunns erweisen wollen. Sind seine Gründe gleich nicht starck genug dieses darzuthun, so kan doch niemand das Gegentheil erweisen. Und gesetzt daß endlich die Sonnen und Planeten, oder die Gegend der Wirbel kein Ende hätte: wer weiß was GOtt außer allen diesen Himmeln noch vor Geschöpfe von gantz andrer Gattung hervorgebracht. Zum wenigsten sieht man es nicht, daß er nichts anders als lauter Wirbel habe schaffen können« (159).

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Unsre Wissenschafften haben gewiße Gräntzen, die der Menschliche Verstand nicht überschreiten kan; Es giebt Stellen, wo er auf einmahl stecken bleibt; Das übrige ist vor die andern Welten; Allwo wieder etwas, so wir wißen, unbekannt ist. […] Mit einem Worte, was die Natur im kleinen unter uns Menschen, in Austheilung des Glücks und der Gaben verübet, das wird sie sonder Zweifel im Großen, unter den Welten, auch beobachtet und sich ihres wunderwürdigen Geheimnisses bedienet haben, alle Dinge zu verändern, und sich doch zugleich, durch die anderweitige Ersetzung einiger Mängel, einander gleich zu machen. (114 f.)

Das Vertrauen in ein auf die menschlichen Bedürfnisse zugeschnittenes Weltgefüge steht auf einem unsicheren Fundament, da es aufgrund seiner spekulativen Natur durch die Erfahrung weder ganz verworfen noch bestätigt werden kann. Verheerende Kataklysmen können jederzeit und überall auftreten. Ob die dabei erfolgten Verluste auf eine für den Menschen vorteilhafte Weise kompensiert werden, bleibt ungewiss. Im Gegensatz zu Thomas Burnet scheut sich Fontenelle davor, seine wissenschaftlichen Ausführungen mit der christlichen Heilsbotschaft zu verknüpfen. Das pascalsche Grauen vor der schieren Bedeutungslosigkeit des Menschen im Universum bleibt unterschwellig bestehen. Wie Arthur Lovejoy bemerkt hat, ist die enthusiastische Aussage des Gelehrten, das Universum sei dank seiner Unermesslichkeit »auf solche Weise weit herrlicher« geworden, »a purely aesthetic consolation«, und das auch nur für diejenigen, »whose taste values bigness and variety more than simplicity and intelligibility and perfection of form« (133). Mit der Euphorie geht die ernüchternde Einsicht in die eigene Beschränktheit einher: The effect of the enlargement of the world upon man’s active nature is, Fontenelle admits, depressing. It affords a justification for doing nothing, since it makes all human achievement seem of infinitesimal consequence. (133)

6. Erhabenheit und Theodizee: Johann Georg Sulzers moralische Betrachtungen Johann Georg Sulzers Studie Versuch einiger Moralischen Betrachtungen über die Werke der Natur (1745), die im Sammelband Unterredungen über die Schönheit der Natur nebst desselben moralischen Betrachtungen über besondere Gegenstände der Naturlehre 1770 neu aufgelegt wurde, wird von dem populärphilosophischen Optimismusgedanken getragen, dass die auftretenden Einzelübel innerhalb der ideellen Harmonie des Weltganzen verschwindend klein seien. Skeptische Einwände, gerade wenn sie das persönliche Leid überbetonen, führen unweigerlich zu verfehlten Urteilsschlüssen über die von Gott bestimmte Naturordnung:

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Wir wollen das Gute und Böse nicht in Absicht auf einzelne Personen, sondern in Absicht auf das Ganze betrachten. Die Welt ist nicht für uns allein gemacht; und darum können wir nicht begehren, daß alles für uns allein gut gehe. Die Welt ist nur in Absicht auf das Ganze vollkommen. Der große Schöpfer wollte nicht diesen oder jenen insbesondere, sondern überhaupt die ganze Welt vollkommen machen: darum hat er einen jeden einzelnen Dinge nur so viel Vollkommenheit gegeben, als es in dieser Absicht haben muß. (Betrachtungen 219 f.)

Ein weiterer axiomatischer Argumentationspunkt liefert die von Alexander Pope popularisierte Metapher der Great Chain of Being, wonach der Mensch lediglich ein winziges Glied in einer endlosen Reihe niederer und höherer Geschöpfe ausmacht. In der ersten Betrachtung »Von der Reihe der erschaffenen Dinge« (1740) heißt es: Wie unendlich viele herrliche Geschöpfe muß es denn geben, die uns an Vollkommenheit weit übertreffen. Von uns bis zum Unendlichen ist ein unbegreiflich großer Raum. (155)

Der bereits von Pascal beschworene Selbstverlust in Anbetracht des inkommensurablen Infiniten deckt sich mit der hier aufgeführten unermesslichen Kluft zwischen dem Menschen und den überragenden Himmelswesen. Sulzer verspricht sich in der fortlaufenden Erweiterung des menschlichen Erkenntnishorizonts, im »Trieb dem Exempel dieser vollkommenen Geister nachzufolgen«, die Vervollkommnung des tugendhaften Selbst und die damit verbundene Steigerung der Glückseligkeit (158). Der langwierige Lernprozess in der »gegenwärtigen Zubereitungsschule« kulminiert im erhofften Einswerden mit den vollkommensten Geistern (vgl. 160 f.). Hervorzuheben ist, dass mit Sulzers Appell zur Selbstvervollkommnung stets ein Demutsbekenntnis einhergeht, das auf die charakteristische Doppelstruktur des Erhabenheitsgefühls verweist. Auf die anfängliche Bescheidenheitsbekundung – »[w]ie wenig habe ich Ursache, mich über andere zu erheben« (159) – folgt die Einsicht, »die mich wieder tröstet, und mich zu einer wahren und edlen Ehrbegierde erhebt« (160), dass wir als vernunftbegabte Wesen mit der Zeit einen Platz in Gottes herrlicher Gesellschaft einnehmen werden. Sulzers Betrachtungen weisen eine Dynamik auf, die besagt, der Mensch sei nicht dazu verdammt, in seiner gegenwärtigen Unvollkommenheit zu verharren. Das Hin- und Herschwanken zwischen demütiger Ergebenheit und erhebender Euphorie schlägt sich ebenfalls im vierten Teil »Ueber die Grösse des Weltgebäudes« (1740) der Moralischen Betrachtungen nieder, wo Sulzer sein Augenmerk statt der infiniten Fülle der Wesenskette den unfassbaren Dimensionen des Kosmos zuwendet. Die in ihm innewohnende »Gewalt des Wunderbaren« beflügelt die Einbildungskraft des Himmelsbetrachters, und seine sich über mehrere Seiten erstreckende Darstellung des harmonischen Zusammenwirkens der Planeten mündet – dem

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Duktus der physikotheologischen Schriften und der wolffschen Schulphilosophie entsprechend – in der Doxa des Schöpfergottes, »[d]er mit allen diesen ungeheuren Körpern als mit leichten Ballen spielt« (195). 187 Für Sulzer stellt die unermessliche Natur kein stummes Gegenüber dar, sondern getragen vom Erkenntnisoptimismus erhofft er sich, den Erweis des göttlichen Abdrucks im Mikro- und Makrokosmos mithilfe der empiriegeleiteten Erforschung der Naturzusammenhänge zu erbringen. Wenn der derzeitig noch bruchstückhafte Wissensstand jetzt schon so viel Vergnügen bereitet, »wie groß wird nicht erst die Freude seyn, welche wir bey einer unendlich größern Wissenschaft haben werden, wenn wir noch viel hundert, ja viel tausend Jahre länger die unerschöpfliche Natur werden studieret haben?« (201). Bemerkenswert ist, dass Sulzer das anhaftende Missbehagen nicht unterschlägt, das mit der Vorstellung eines sich jeglicher Größenordnung entziehenden Weltgebäudes einhergeht. Denn sobald das Betrachter-Ich mit dem Unendlichganzen konfrontiert wird, »so entstehet eine große Schaam über alle Begriffe«, die er bis dahin über »die Größe und Kleinheit« gehabt habe (198). Die aus dem kosmischen Größenvergleich erfolgte Abwertung des anthropozentrischen Selbstwertgefühls verleitet Sulzer zur drastischen Äußerung, dass Umwälzungen jeglicher Art, selbst wenn sie den gänzlichen Untergang des Menschengeschlechts mit sich führten, das beständige Fortbestehen des Weltganzen nicht beeinträchtigen könnten: Laßt einen Alexander alle Reiche der Welt unter seinen Zepter bringen. Laßt die Türken die Christenheit überschwemmen, oder laßt die Indianer sich wieder in Freyheit sezen, und zu Herren ihrer Herren werden; oder laßt alle Könige der Erde unter sich zertheilt seyn; soll darum die ganze Welt ein Ende nehmen? Ja, laßt die ganze Erde untergehen; laßt die Sonne verdunkelt werden, und die Planeten ihre Kraft verlieren, daß sie alle in einen öden Klumpen zusammen fallen. Kann dieses von Wichtigkeit vor die ganze Welt seyn? So wenig, als ein Berg etwas von seinem Ansehen verlieret, wenn ein wenig Staub davon kömmt. (198) 187  »Als

ich das erstemal die wahre Begriffe von der Größe der Welt und der himmlischen Körper bekam, entstunden solche Bewegungen von Verwunderung in meinem Gemüthe, daß ich von Zeit zu Zeit nöthig hatte, stille zu halten, um nicht von der allzu großen Verwunderung in ein würkliches Entzükken zu gerathen. […] Gewiß, derjenige Mensch wenn ja ein solcher gefunden wird, welchen die Betrachtung des Himmels, wenn sie recht angebracht wird, nicht in Erstaunen sezt, hat gar keine Empfindung« (188 f.). Sulzer analysiert in Anlehnung an Fontenelle die unterschiedlichen Wahrnehmungsmodi des unermesslichen Himmels nochmals in der Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen (1751/52). Solange der Betrachter keine Einheit in der stupenden Mannigfaltigkeit ausmachen kann, bleiben die weit verstreuten Sterne ein opakes Durcheinander. Mit der Idee eines ordentlichen Weltensystems wandelt sich das Chaos zu einem bewundernswürdigen Bild: »Nun soll […] dieser Mensch plötzlich eben die Idee von der Welt erhalten, die ein großer Astronom hat; er soll dieses Chaos auseinander setzen können; statt unordentlicher Fixsterne soll ihm seine Einbildungskraft in jedem eine Sonne mit einem Planetensystem, und die Bewegung dieser Planeten immer ihrem Abstande von Mittelpunkten proportioniert zeigen: so wird er von diesem Gedanken ganz unbeschreiblich entzückt seyn« (40 f.).

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Dem urteilenden Subjekt ist es nicht gestattet sich zum Maßstab allen Seins aufzuspielen und aufgrund der wahrgenommenen Zweckwidrigkeiten, Zweifel an der göttlichen Weisheit und Güte zu äußern. Sulzer rekurriert unmissverständlich auf die Argumentationsstrategien der Theodizee, wobei er die antithetischen Vorstellungen des persönlichen und des unnahbaren Gottes miteinander vermischt: Urtheilet aus der Größe des Ganzen, wie wenig oder nichts die Majestät des Allmächtigen verlieren würde, wenn ihr gleich mit euerm ganzen Geschlecht solltet zu Grunde gehen. Würde auch wohl der Verlust aller menschlichen Geschöpfe insgesammt vor dem Allerhöchsten zu spüren seyn? Und wann er uns noch erhält und liebt, so geschieht solches blos deswegen, weil er unendlich ist, und seine Güte sich über alle seine Geschöpfe ausbreitet, und für den Wurm sowohl sorgt, als für den Seraph. Nach diesen Begriffen lernet urtheilen, ihr Kleinmüthige und Zaghafte, die ihr glaubet, das Ende der Welt müßte nahe seyn, wenn bey Hochstätt 50000 Ameisen todt geschlagen werden. (199)

Trotz der errungenen Heldentaten, Ehre, und Pracht illustrer Größen – »[n]ennt einen Plato, einen Leibniz, einen Neuton göttliche Menschen« – dürfe nicht vergessen werden, »den gestirnten Himmel zu eurer Lehre zu betrachten, an seiner Größe eure Kleinheit, und in eurer Kleinheit Demuth zu lernen« (200). Nach der emphatischen Anklage des Menschenstolzes wendet Sulzer das Blatt und räumt dem Menschen dank seiner Seelenvermögen eine »Hoheit« ein: Ist es nicht genug vor ihn, eine Seele zu haben, die nicht nur dieses erstaunliche Gebäude der Welt, sondern auch den Schöpfer selbst nach und nach kann erkennen lernen? Ein Mitglied in dieser herrlichen Stadt GOttes zu seyn? Hierhinn laßt uns unsere Hoheit suchen; und das laßt uns wichtig seyn, was die Erkenntniß dieser Dinge befördert. (200)

Sulzers Fingerzeig auf den gestirnten Himmel wird aus unterschiedlichen Gründen motiviert. An das nachkopernikanische Weltbild des infiniten Kosmos anknüpfend, beansprucht er das inkommensurable Weltgefüge als Chiffre für die unendliche Weisheit und Güte Gottes. Dabei erweist sich der narzisstische Anspruch des in seinen Erkenntniskräften beschränkten Subjekts, sich als Mittelpunkt des Weltgeschehens zu betrachten, als Chimäre. Das Moment des Selbstverlusts, das Absinken ins Nichts, befeuert die Gemütskräfte, den Grund des eignen Selbst in der ewig währenden Vollkommenheit Gottes wieder zu finden. Das »aus der Größe des Ganzen« deduzierte Urteil der eigenen Beschränktheit gibt nicht nur Anlass, in einer gottgefälligen Hoheit Zuflucht zu suchen, sondern stellt auch das argumentative Rüstzeug bereit, die vermessenen Behauptungen der Gottesleugner zu untergraben. Wie zentral die rhetorische Figur des Pars pro toto in Sulzers Rechtfertigung physischer und moralischer Übel ist, wird insbesondere in der fünften Betrach-

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tung »Bey Veranlassung einiger scheinenden Unordnungen auf der Erde« (1743) offenkundig, in der er auf die Widrigkeiten im Naturhaushalt zu sprechen kommt. Wenn die Zweckbestimmung der Naturübel zu scheitern droht, so ist der Mangel im beschränkten Erkenntnisvermögen zu verorten und nicht etwa im göttlichen Schöpfungsplan. Obwohl ein allumfassendes Verständnis des Naturganzen das Menschenmögliche übersteigt, verfügen wir dank des vorhandenen Wissenstands dennoch über »genugsame Proben«, aus denen wir »von einem Theile auf das Ganze schliessen können« (210). Pauschalisierend werden die skeptischen Einwände gegen die Naturordnung als gottloses Geschwätz verworfen: Darum unterstehe sich niemand, die Ordnung der Natur zu tadeln, und dadurch entweder seine Unwissenheit oder Gottlosigkeit zu verrathen. Denn eben da, wo er am leichtesten Unordnung zu finden vermeynt, da wird ein größerer Verstand eine vollkommene Weisheit finden; und je mehr wir die geheimen Wege der Natur erforschen, und ihre Grundregeln einsehen, je mehr werden wir ihre Vollkommenheit und die unendliche Weisheit und Güte ihres allmächtigen Urhebers erkennen, und im Stande seyn, denselben gegen die gottlose Beschuldigungen der Thoren zu rechtfertigen. (210)

Entsprechend zu den Naturübeln ist Sulzer bestrebt, die moralischen Überschreitungen des Menschen zu relativieren, was ihm im Gegensatz zu den ersteren größere Mühe bereitet.188 Freilich möchte er die menschlichen Laster nicht entschuldigen, sondern bloß die göttliche Vorsehung in Zulassung des Bösen rechtfertigen, und zeigen, wie die allerhöchste Weisheit aus Finsterniß Licht zu machen, und die menschlichen Thorheiten und Laster einen guten Zweck, in Absicht auf das Ganze zu gebrauchen und zu lenken weiß. Der Mensch bleibt deswegen doch schuldig und strafbar. Die Strafe aber ist kein wahres Uebel, weil sie zur Besserung dienet. (214)

An dieser Stelle impliziert Sulzer wie Leibniz vor ihm in der Theodicée, dass es durchaus gerechtfertigt sei, wenn Gott die Menschen gelegentlich mit den Strafruten der Natur züchtigt. Selbst die ungebändigten, Elend bringenden Leidenschaften können in dialektischer Umkehr zu etwas Gutem führen. Denn ohne Eigenliebe, Ehrgeiz und Gier käme der ganze ökonomische und kulturelle Fortschritt zum Er188  Sulzer

zeigt die moralischen Überschreitungen wie Pierre Bayle in seinem Dictionnaire historique et critique unverblümt: »Betrachten wir den Menschen in der Gesellschaft, was vor Bosheit, Haß, Neid, Rachgierde sehen wir nicht da? Was vor Zwietracht, Kriege und Zerstörung? Morden, Stehlen, Betrügen, Verfolgung der Unschuldigen, Unterdrückung der Wahrheit, Siege der Gottlosen sind die allergemeinsten Sachen. Kurz: Die menschliche Gesellschaft scheinet ein Spital der Narren und Tobenden gleich. Ja, es gewinnet das Ansehen, daß der Schöpfer selbst seines Zwecks verfehlet habe, wenn er bey der Schöpfung der Menschen eine andere Absicht gehabt hat, als ein lächerliches Geschlecht zu machen« (212 f.).

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liegen. Insbesondere die Selbstliebe muss als unabdingbare Triebfeder verstanden werden, die die Seele zum tätigen Handeln bewegt; eine Hypothese, die Sulzer Alexander Popes Essay on Man entnommen hatte (vgl. 215). Die dynamischen Seelenund Naturkräfte stehen in einem analogen Verhältnis. Geblendet vom Licht des alles überstrahlenden Ganzen verflüchtigen sich die Zweifel an ihrem funktionellen Nutzen, die Entwicklung der Weltgeschichte auf eine Weise voranzutreiben, die für alle Menschen vorteilhaft ist. In der Schlussbetrachtung »Ueber die Geheimnisse der Natur« streift Sulzer bezeichnenderweise das grundlegende Dilemma in der Beurteilung von Zweckverbindungen im Naturganzen. Wenn wir bloß über einen beschränkten Erkenntnishorizont verfügen, wie soll es überhaupt möglich sein, Rückschlüsse auf die von einem undurchsichtigen Götterverstand hervorgebrachten Zweckmäßigkeiten zu ziehen? Wenn ich erwege, daß die Einrichtung der Natur von einem Wesen herkömmt, dessen Geist unendlich erhabener ist, als der unsrige, so werde ich auf die Gedanken gebracht, daß eine Muthmassung menschlicher Weisheit, von verborgenen Dingen in der Natur, fast allemal ein Zeichen ist, daß die vermuthete Sache gar nicht da ist. Wie soll ein so schwacher Geist errathen können, was ein unendlicher, aus unendlich vielen uns unbekannten Gründen für das beste gefunden? Ein einfältiger Mensch kann nicht einmal die Mittel muthmaßen, die ein kluger Staatsmann zu seinem Zweck gebraucht hat. (229 f.)

Den wahrnehmungsphilosophischen Knackpunkt, dass die Naturdinge an sich nicht so beschaffen seien, wie sie unserem »schwachen Geist« erscheinen, verfolgt Sulzer nicht weiter in seinen Überlegungen. Für ihn bleibt die dogmatische Maxime, »daß die Werke GOttes gut sind, sie mögen uns vorkommen, wie es immer seyn mag«, als unverrückbares Prinzip in der Naturbetrachtung verankert (231). Der Sprung von der Physik zur Metaphysik wird zur Glaubenssache: Die Existenz der Besten aller möglichen Welten muss prinzipiell angenommen werden. In der Bewunderung des unermesslichen Naturganzen schwingt sich das erweiterte Selbst empor zur absoluten Größe Gottes. Zu diesem Zeitpunkt ist die geistige Nähe des Erhabenheitsgefühls zur Theodizeeapologetik unverkennbar, da beide den Größenvergleich zu einem ideellen Ganzen beanspruchen. Die Argumentationsstruktur der Theodizee wird gleichermaßen durch den Kniefall vor der Weisheit und Güte des höchsten Wesens begünstigt. Wenn die Gegner es wagen sollten, die Vollkommenheit des göttlichen Schöpfungsplans zu hinterfragen, kommen ihre übereilten Urteilssprüche einem Akt menschlicher Hybris gleich. Einzig die sich auf die Gotteserkenntnis orientierende Selbstbehauptung ist in diesem Zusammenhang als die zulässige zu erklären. Das Konzept eines veränderlichen Universums, in dem nicht nur Landstriche auf Erden, sondern ganze Welten von katastrophalen Umwälzungen heimgesucht

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werden, birgt ein immenses Schreckenspotential in sich. Die besprochenen Textbeispiele haben aufgezeigt, mit welchen Anstrengungen versucht wurde, diese Irregularitäten mittels metaphysischer Konstrukte in ein Sinngefüge einzuordnen. Grundlegend ist, dass die unermessliche Kraft, die die ungeheuren Veränderungen vorantreibt, ihren Ursprung in einem weisen Weltenschöpfer besitzen müsse. Den Naturphänomenen wird eine allumfassende Zweckmäßigkeit zugesprochen, die sich der menschlichen Erkenntnis jedoch in Anbetracht der unermesslichen Größe und Vielfalt des Kosmos entzieht. Fontenelle folgte dem pascalschen Diktum, »gut zu denken«, indem er gemäß cartesianischen Lehrmeinungen den infiniten Weltraum mit Planetenwirbeln füllte und ihm dadurch eine zusammenhängende Struktur verlieh. Die von den ungeheuren Himmelsweiten hervorgerufene Verwirrung weicht dem Vergnügen an der erbrachten Konzeptualisierung eines geordneten Naturhaushalts. Sollten darin Verwüstungen auftreten, so fallen sie kaum ins Gewicht, da die Verluste anderswo im Übermaß wieder kompensiert werden. Thomas Burnet und Henry More rekurrieren ebenfalls auf die platonische Idee einer fruchtbaren Natur, jedoch spielt bei ihnen die Erzeugung enthusiastischer Gemütsaffekte eine gewichtigere Rolle. Es sind die Revolutionen, die gewaltsamen Sprünge im geordneten Naturablauf, die dem leidenschaftlich gestimmten Subjekt den providenziellen Einfluss des allmächtigen Gottes vor Augen führen. Dieses Weltbild stützt sich auf die traditionelle Denkmuster einer von numinosen Erscheinungen bzw. Wunderzeichen erfüllten Natur und widerspricht sofern dem deistischen Weltbild des Cartesianers Fontenelle. Sulzer hingegen bedient sich des kosmischen Weitblicks, um die verheerenden Veränderungen im Naturhaushalt gegen die skeptischen Einwürfe der Gotteslästerer zu rechtfertigen. Im Vergleich zum unermesslichen bzw. vollkommenen Naturganzen verlieren sich die Kalamitäten ins Bedeutungslose. Durch die erweiterte Erkenntnis der äußeren Natur verschafft sich das Subjekt den erhebenden Einblick in das göttliche Ordnungsprinzip, das den zu erleidenden physischen Übel übergeordnet ist. Die Prinzipien des populärphilosophischen Optimismus übten Jahrzehnte später einen nachhaltigen Einfluss auf Sulzers Theorie des Erhabenen in seinem Kunstlexikon Allgemeine Theorie der schönen Künste (1771/1774) aus. Im Artikel »Erhaben« attestiert er, es sei »ein erhabener Gedanke« für diejenigen Menschen, »welche die Richtigkeit […] einigermaßen einsehen, daß aus aller scheinenden Unordnung in der physischen und sittlichen Welt, die schönste Ordnung im Ganzen bewürkt wird« (Theorie 99). Das Erhabene definiert er als dasjenige, »was in seiner Art weit größer und stärker ist, als wir es erwartet hätten; weswegen es uns überrascht und Bewunderung erweket« (97). Im Unterschied zum sanft und ruhig genießenden Schönen wirkt es »mit starken Schlägen, ist hinreißend und ergreift das Gemüt unwiderstehlich.« Zu den Dingen, welche unser Begehrungsvermögen herausfordern, führt Sulzer bezeichnenderweise nicht wie Immanuel Kant in der Kritik der

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Urteilskraft die zerstörerischen Naturmächte an, sondern er beschränkt sich auf die Taten und Äußerungen außerordentlicher Persönlichkeiten. Eine erhabene Gesinnung zeigt sich, wenn das Gemüt bei »stürmenden Ungewitter der Gefahren und des Unglüks« in einer bewundernswürdigen Ruhe verharrt (101). Ersichtlich wird einerseits die verbleibende Hochachtung vor den klassizistischen Heldengrößen; anderseits deutet die augenfällige Ausgrenzung der bedrohlichen Naturschauspiele darauf hin, dass sie sich nicht ohne weiteres unter die Kategorie der erhabenen bzw. bewundernswerten Gegenstände klassifizieren lassen. Die begriffliche Übereinkunft des Erhabenen mit den verheerenden Naturmächten ist mit Schwierigkeiten verbunden, weil sie die Konnotation des schreckenerregenden Richtergottes mit sich führen. Dieses traditionelle straftheologische Denkmuster steht in Konflikt mit der ästhetischen Wertschätzung eines vollkommenen Naturganzen: ein Problempunkt, der im Abschnitt über Moses Mendelssohns Theorie des Erhabenen genauer erläutert wird. Allerdings löst sich Sulzer in seinen Ausführungen über die schönen Künste von der archaischen Gottesvorstellung nicht vollends. Unter dem Lemma »Landschaft« stellt er die bedrohlichen Naturphänomene typisierend als Metapher für die allmächtige Gottesgewalt dar: [W]er [fühlet] nicht seine Schwäche und Abhänglichkeit von höhern Kräften, wenn er die gewaltigen Massen überhängender Felsen sieht; oder das Rauschen eines gewaltigen Wasserfalles, das fürchterliche Stürmen des Windes, oder der Wellen des Meeres höret? Wen schrekt nicht das Heranrauschen großer Ungewitter? Oder wer fühlt nicht in allen diesen Scenen die allmächtige Kraft, die die ganze Natur regieret? Ohne Zweifel hat der ununterrichtete Mensch die ersten Begriffe der Gottheit aus solchen Scenen geschöpft. (146)

Der Vermerk auf den ungebildeten Menschen, dessen Gottesbegriff durch den Schrecken bestimmt wird, ist bedeutend, da er auf einen kulturgeschichtlichen Prozess hindeutet. Mit der aufklärerischen Einsicht in die teleologische Zweckmäßigkeit der Natur wird die knechtische Furcht vor der göttlichen Allmacht in die Bewunderung über Gottes Weisheit und Güte überführt. Im anschließenden Zitat verdeutlicht Sulzer den Umbruch in der bewusstseinsgeschichtlichen Natur­ aneignung: Der Philosoph, der überall die Spuren einer unendlichen Weisheit und Güte findet, wird überzeuget, daß diese verschiedenen Kräfte nicht ohne Absicht in die leblose Natur gelegt sind. Sie sind der erste Unterricht für den Menschen, der die Sprache der Vernunft noch nicht gelernt hat; durch ihn wird sein Gemüth allmählig gebildet, und sein Verstand mit schwachen und dunkelen Begriffen angefüllt, die sich hernach allmählig entwikeln und aufheitern. Also ist die aufmerksame Betrachtung

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der leblosen Natur der erste Schritt, den der Mensch thut, um zur Vernunft und zu einer ordentlichen Gemüthsart zu gelangen. (146 f.)

Der Vorsatz, den Schrecken der chaotischen Naturkräfte unter das Leitprinzip eines vollkommenen Naturganzen zu subsumieren, erfordert enorme Anstrengungen, die das eigene Verstandesvermögen zu übersteigen drohen. Überdies mutet sich dieser Modus der rationalistischen Schreckensminimalisierung zu abgehoben an, wenn er außerhalb des theoretischen Umfelds auf die Lebenspraxis angewendet wird. Der Fingerzeig auf die Beste aller möglichen Welten wirkt für die vom Leid Betroffenen kaum tröstlich. In der erhabenen Gefühlstimmung, in der fühlbaren Präsenz einer höheren Macht, trifft jedoch ein Moment ein, in dem sich die Unstimmigkeiten im Naturganzen augenblicklich aufzuheben scheinen. Die Antwort, wo das Erhabene zu verorten sei, unterliegt wie die Ursachenerklärung der gewaltsamen Natur­ umwälzungen einem Mentalitätswandel. Während des Aufklärungszeitalters verschiebt sich der Bezugspunkt der Erhabenheitserfahrung von der Allmacht Gottes und den außerordentlichen Naturphänomenen hin zu den Seelenkräften und den Vernunftideen. Die Theorieansätze der Gelehrten über das Erhabene sind eng an die im Widerstreit liegenden Naturvorstellungen gebunden. Ob der Schrecken der ungestümen Natur herausgefordert oder ausgegrenzt wird, hängt von der Aufgeschlossenheit gegenüber der Evokation heftiger Leidenschaften ab.

C. Das Erhabene im poetologischen und philosophischen Diskurs des 18. Jahrhunderts Die sich während der europäischen Aufklärung formierende Wertschätzung verheerender Naturkräfte besitzt ihren Ursprung in der Vorstellung eines infiniten und veränderlichen Universums, der sich im 17. Jahrhundert durchsetzte. Freilich ist in der Forschungsliteratur darauf verwiesen worden, dass »Erhabenheit« und »Sublimity« ursprünglich rhetorische Begriffe waren, die eine bestimmte stilistische Qualität bezeichneten und bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts kaum in Bezug auf die äußere Natur verwendet wurden. Christian Begemann hat sich in seinem Artikel »Erhabene Natur. Zur Übertragung des Begriffs des Erhabenen auf Gegenstände der äußeren Natur in den deutschen Kunsttheorien des 18. Jahrhunderts« ausführlich mit dieser Begriffsverschiebung beschäftigt. Über den terminologischen Gebrauch des Erhabenen im 17. Jahrhundert attestiert er: »Nirgendwo findet man in dieser Zeit den Begriff auf den Ozean, den Sternenhimmel, das Gebirge, auf Gewitter oder Sturm, noch überhaupt auf außerliterarische Gegenstände angewendet, selbst in den vereinzelten Fällen nicht, in denen eine Erfahrung von Natur artikuliert wird, die der des späten 18. Jahrhunderts gleicht« (74 f.). Als Vo-

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raussetzung für das Naturerhabene zählt Begemann einerseits die Entstehung einer empfindsamen Kunsttheorie, die sich zum Ziel setzte, »unter verschiedenen, immer aber mit der Moral vereinbaren Prämissen«, im Rezipienten einprägsame Gefühlsreaktionen zu erregen (76). Andererseits sei ein grundlegender Wandel in der ästhetischen Naturerfahrung von größtem Belang gewesen: Um als erhaben gelten zu können, darf das Weite und Gewaltige der Natur nicht mehr wie im 17. Jahrhundert und früher bloß Gegenstand von Furcht, Schrecken und Abscheu sein, sondern muß, in welcher Weise auch immer, Lust erregen können; dies ist vereinzelt bereits um die Wende zum 18. Jahrhundert, in großem Umfang jedoch erst in der zweiten Jahrhunderthälfte der Fall. Zwar ist das Gefühl des Erhabenen im 18. Jahrhundert meist von dem des Schönen unterschieden und kann durchaus von Hässlichem, sogar Fürchterlichem ausgehen, immer aber ist es eine besondere Art des Gefallens, die für das 17. Jahrhundert nur in seltenen Fällen nachweisbar ist. (76 f.)

An dieser Stelle rekurriert Begemann auf die These, dass für die ästhetische Naturbetrachtung der von den neuen Wissenschaften bereitgestellte immanente Natur­ begriff vorangehen müsse. Dabei projiziert er nachträglich in die so genannte Frühmoderne ein Vorstellungsmuster der bedrohlich erscheinenden Natur, das im Unterschied zum rational-aufgeklärten von der Furcht vor dem Unverständlichen und Dämonischen dominiert wird. Der schutzlos ausgelieferte Mensch brachte zu diesem Zeitpunkt noch nicht die notwendige physisch-psychische Distanz zustande, um an den weiten und gewaltigen Naturphänomenen Gefallen zu finden. Jedoch lösten diese im 17. Jahrhundert nicht ausschließlich Angst und Schrecken aus, sondern wurden ebenfalls als wundersame, wenn nicht gar bewundernswerte Vorkommnisse rezipiert. Mit der qualitativen Aufwertung der akzidentellen Natur, sofern sie mit der Idee der providentia Dei im Gefüge eines mit zahllosen Lebe­ wesen erfüllten Weltganzen aufgeladen wurde, eröffnete sich ein konzeptuelles Fundament für das ästhetische Vergnügen an den gewaltsamen Naturmächten. Selbst wenn der Begriff des Erhabenen zu diesem Zeitpunkt der Rhetorik zugehörig war, schließt dieser Tatbestand nicht aus, dass der Anblick außergewöhnlicher Naturphänomene zu Empfindungen führen konnte, die im Verlaufe des 18. Jahrhunderts als »erhaben« bezeichnet wurden. Ausschlaggebend ist, dass die Disposition im wahrnehmenden Subjekt vorherrscht, um diese Gefühlserfahrung als positiv und einem funktionellen Schema zugehörig zu beurteilen. An diesem lässt sich die Schnittstelle zwischen der ästhetischen Naturwahrnehmung und den nachahmenden Künsten festlegen, die in einem reziproken Verhältnis stehen. Grundlegend für das mentalitätsgeschichtliche Aufrollen der Erhabenheitserfahrung ist die Rückbesinnung auf das Erbe der antiken Rhetorik. Mithilfe des hohen Stils vermag der Redner den Zuhörer leiden-

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schaftlich zu bewegen und nach seinem Gutdünken umzustimmen. Das bewirkte Pathos erschüttert das Subjekt in seinen Grundfesten und durchschlägt wie eine unaufhaltsame Naturkraft den Widerstand der Erkenntnisvermögen. Die Assoziation zwischen der Gewalt des Redners und der Natur wird durch die Verwendung gebräuchlicher Blitz- oder Sturmmetaphern augenfällig. Eine weitere strukturelle Überschneidung zeigt sich auch darin, dass beide Entitäten durch die heftige Gefühlsaffektion einen freiheitsraubenden Eindruck ausüben, was beim Rezipienten zu einem Moment des Selbstverlusts führt. Demzufolge ist eine starre Trennlinie zwischen einem Erhabenen der Natur und einem rhetorischen Erhabenen irreführend; die Rhetorik prägte die Poetiken des 18. Jahrhunderts nach wie vor und beeinflusste somit auch das ästhetische Wohlgefallen an der gewaltsamen Natur. Klaus Dockhorn hat in seinem Aufsatz »Die Rhetorik als Quelle des vorromantischen Irrationalismus in der Literatur- und Geistesgeschichte« darauf hingewiesen, inwiefern die Rhetorik einen oft unterschätzten Einfluss auf die Dichtungstheorien des ausgehenden 17. und bis weit ins 18. Jahrhundert ausgeübt hat. Der vermeintliche geistesgeschichtliche Sonderweg der deutschen Literatur während dieser Zeitspanne scheint unter diesem Gesichtspunkt vielmehr »in der Kontinuität der abendländischen Entwicklung« zu verlaufen (47).189 Grundlegend ist, dass für die Rhetorik »das Irrationale nicht als Problem neben anderen Problemen« dastehe; stattdessen sei es »ihr bewegendes Prinzip« (49). Gemäß der aristotelischen Rhetorik besteht ihr Anliegen in drei Arten des Glaubhaftmachens: »die Verläßlichkeit des Redners, das Ethos; die emotionale Disponierung oder Zubereitung des Hörers, das Pathos; und das Eingehen auf die Sache, […] was Aristoteles später […] »πράγμα«, Pragma, nennt« (49 f.). In der Nachfolge der rhetorischen Abhandlungen Ciceros und Marcus Fabius Quntilians formiert sich folgendes Dispositionsschema: Von dem Dispositionsschema ›πράγματα, πάθη, ἤθη‹ bzw. ›res (oder causa), affectus, mores‹ oder ›probare, conciliare, movere‹ aus entwickelt die Rhetorik ihre Lehre von den drei Stilen, dem ›genus tenue‹ oder ›subtile‹, dem ›genus grave‹ oder ›grande‹, und dem ›genus medium‹ oder ›temperatum‹, auch ›floridum‹ genannt. Der Zusammenhang zwischen dem Gegenstand der Rede (›πράγμα, πάθος, ἦθος‹ – Sache, 189 

»Diese Anschauung von Kontinuität der literarischen Vorgänge hatte der philosophisch so unbefangene Europäer Goethe noch völlig. Die deutsche geistesgeschichtliche Betrachtung mit ihren idealistischen Erbtümern hat von vornherein davon abgeführt. Indem man Platonismus und Neuplatonismus, durch Mystik, Leibniz und Pietismus aufs innigste mit bodenständigem deutschem Denken verbunden, sich an ausländischen ›Ausnahmeerscheinungen‹ Vico, Shaftesbury, Bruno, zu neuem Denken entzünden ließ, erscheint die hohe Periode deutschen Denkens und Dichtens als eine Leistung kosmologischen Tiefsinns und spekulativ-dialektischorganischer Durchdringung, von der aus gesehen alles andere europäische Denken und Dichten als Verkörperung einer spannungslosen, im Psychologisch-Gesellschaftlichen verharrenden Weltauffassung erscheint« (47).

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Leidenschaft, Charakter) und den drei Redefunktionen (probare, conciliare, movere) wird damit noch um eine Schicht erweitert, die Form, den Stil. Form und Stil sind also nicht, wie man das der Rhetorik so gern nachsagt, ihr Primäres. Vielmehr folgt in der Rhetorik die Form mit allem, was zu ihr gehört, Redestruktur, Rhythmus und vor allem die zu Unrecht berüchtigte Lehre von den Tropen und Figuren – was alles unter ›elocutio‹ und ›ornatus‹ abgehandelt wird – aus dem Inhalt, den Gegenständen der Rede, ›πράγματα, πάθη, ἤθη‹ und ihrem Gehalt der beabsichtigten Wirkung des ›probare, conciliare, movere‹. (54 f.)

Von Bedeutung ist, dass im rhetorischen Grunddispositionsschema Pragmata, Ethos und Pathos Darstellungsgegenstände sind, bei denen nicht nach »Wahrheit und Naturnachahmung«, sondern grundsätzlich nach einer »Art Glaubhaftmachung im emotionalen Sinne« gefragt wird (51). Gerade bei den Leidenschaften, d. h. der Pathe, handelt es sich um emotionale Wirkungen, die die Hörer ihrer »Verstandesfunktionen berauben« und »die Überlegung ausschalten« (50). Weil der nüchterne Stil bzw. die rationale Redefunktion auch der Philosophie zugeordnet wird, tendiert die Rhetorik dazu, im anmutenden und schweren Stil das ästhetische Werturteil zu erfüllen. Dockhorn macht darin den Ausgangspunkt für »die verkoppelnde Antithetik des ›Anmutenden‹ und ›Großen‹« fest. Somit konstituieren Ethos und Pathos, Charakter und Leidenschaft den konzeptuellen Boden für die Ästhetik des Schönen und Erhabenen, »die dann als ›Anmut‹ und ›Würde‹ die Diskussion des 18. Jahrhunderts beherrschen.« Jedenfalls bezieht der ursprüngliche Begriff des »Anmutigen« und »Schönen«, »wie er in der rhetorischen Tradition überliefert ist, nicht auf Organismusvorstellungen, sondern auf das Ethos, das ›vita et mores‹, der ›omnis vitae consentudo‹ und ›omnis habitus mentis‹, genau wie das ›Erhabene‹ ursprünglich mit dem Pathos, der ›perturbatio animi‹ zu tun hat« (57). Anhand von Dockhorns Ausführung wird verdeutlicht, dass das Pathos ein grundlegendes Kriterium des rhetorischen »Glaubhaftmachens« ist. In Bezug auf das Erhabene sind die Leidenschaften von Bedeutung, da sie analog zu den gewaltsamen Naturmächten das Verstandesvermögen außer Kraft zu setzen vermögen. Auch sie stellen ein moralisches und epistemologisches Problem dar. Obschon die Vorstellung einer nach kausal-mechanischen Gesetzen operierenden Natur in den Gelehrtenkreisen des 18. Jahrhunderts geläufig war, so wurde in den Dichtkünsten aus wirkungsästhetischem Kalkül die Schilderung von Naturverheerungen als numinose und wundersame Ereignisse gutgeheißen. Ersichtlich wird, dass die Aufhebung des Naturschreckens mit den Mitteln der Ratio allein nicht genügt. Als literarische Topoi stoßen die Naturumwälzungen je nach den metaphysischen und religiösen Standpunkten der Philologen und Philosophen auf Ablehnung oder Zustimmung. Insofern verläuft die Konstituierung der auftretenden Naturübel als erhabene Gegenstände nicht gemäß einem linearen Säkularisierungsprozess, wie es

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Christian Begemann in seinen Ausführungen angedeutet hat, sondern sie wird etappenweise unter verschiedenen Prämissen immer wieder neu angegangen. Hervorzuheben ist, dass die Rezeption des Schrecklicherhabenen durch antike Quellen- und Bibeltexte entscheidend geprägt wurde. Die Evokation heftiger Leidenschaften, die dabei empfundene Seelenerhebung und der anvisierte Sprung von der physischen in die metaphysische Ebene sind Leitprinzipien, die bereits im griechischen Traktat Vom Erhabenen von »Pseudo-Longinus« ihre bedeutendste Referenz besitzen. Die literaturkritische und philosophische Auseinandersetzung mit den gewaltsamen Naturkräften und dem Erhabenen führte im Aufklärungszeitalter zu einem reichen, heterogenen Textkorpus. Um den vielseitigen Intentionen und Standpunkte gerecht zu werden, habe ich die Untersuchung der theoretischen Ausführungen über das Erhabene in fünf Themenschwerpunkte unterteilt. Der anvisierte Analysenschwerpunkt liegt in der Klärung, inwieweit die mentale Bewältigung der übermächtigen Naturgefahren in Abgrenzung zu diskursiven Erklärungsmodellen mit den Mitteln der Ästhetik vollzogen wurde. Ausgangspunkt ist »Pseudo-Longinus’« Traktat Vom Erhabenen, der den theoretischen Rahmen für das Erhabene im 18. Jahrhundert bereitstellte. Darauf folgt eine Besprechung des Wunderbaren im Kontext des französischen Klassizismus. Obschon Nicolas Boileau-Despréaux (1636–1711) mit seiner Longin-Übersetzung die neuzeitliche Rezeption des Erhabenen maßgeblich angekurbelt hat, überträgt er diesen Begriff nicht auf die Naturgegenstände. Außerordentliche und wundersame Naturbegebenheiten werden von ihm und den zeitgenössischen französischen Philologen kaum als literarische Topoi berücksichtigt. Die entmystifizierten Naturgefahren sollen nicht nachträglich durch wundersame Phantasiebilder in der Dichtkunst wieder an Schrecken gewinnen; eine Position, die Johann Christoph Gottsched in seiner Poetik Versuch einer Critischen Dichtkunst (1730) weiterverfolgt. Werden die äußeren Naturphänomene während der Frühaufklärung als wunderbar und erhaben bezeichnet, so ist diese begriffliche Übertragung grundlegend religiös motiviert. In den Dichtungstheorien von John Dennis (1658–1734), Johann Jacob Bodmer und Michael Conrad Curtius (1724–1802) erfolgt die Legitimation der leidenschaftserregenden Darstellung bedrohlicher Naturphänomene. Im Gegenzug zur Entzauberung der Natur attes­ tieren sie den verbleibenden Einfluss der göttlichen Allmacht im Weltgeschehen. Mit ihrer Konzeptualisierung einer wirkungsästhetischen Poetik geht die Absicht einher, den im vollkommenen Naturganzen auftretenden Irregularitäten – indem sie im Rezipienten Erhabenheitsgefühle bewirken – einen funktionalen Nutzen abzugewinnen. Edmund Burkes Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful (1757) nimmt einen zentralen Stellenwert in der Konstituierung des Schrecklicherhabenen ein, und übt einen normativen Einfluss auf die ästhetischen Theorien in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus. Seine Arbeit ebnet den Weg zu einem subjektbezogenen Erhabenheitsbegriff, der ohne

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metaphysische Überformungen auskommt. Zu den Literaturtheoretikern, die sich ausführlich mit Burkes Enquiry auseinandersetzten, gehört der Berliner Aufklärer Moses Mendelssohn. Seine starre Umklammerung des metaphysischen Prinzips eines vollkommenen Naturganzen vereitelt jedoch eine Übertragung des Erhabenen auf die zerstörerischen Naturmächte. Johann Georg Schlosser (1739–1799) und Carl Grosse brechen mit der schulphilosophischen Vollkommenheitsästhetik Mendelssohns und legen das Erhabene im Innern des empfindenden Subjekts fest. In Anbetracht schreckenerregender Naturschauspiele verspürt es mit Wohlgefallen die außerordentliche Tätigkeit der eigenen Seelenkräfte. Den Schlussstein der Untersuchung bilden Immanuel Kants und Friedrich Schillers Ausführungen über das Erhabene. Mit seiner Transzendentalphilosophie setzt sich Kant ebenfalls vom Denkschema des populärphilosophischen Optimismus ab. Das in der deutschen Aufklärung tief verankerte Vertrauen auf eine auf die menschlichen Bedürfnisse zugeschnittene Naturteleologie wird mit Kants Kritik grundlegend erschüttert. In Opposition zu den blind agierenden Naturgewalten proklamiert das Subjekt den selbst erhebenden Anspruch, sich unabhängig von ihnen als überlegene Vernunftgröße zu bestimmen. Trotz der zu erleidenden materiellen Entbehrungen vermag es als frei agierendes Moralwesen sich zu behaupten: ein Kerngedanke, den Schiller fortsetzte und in seine Dramentheorie einarbeitete. Der Naturgeschichte ist die Trägerschaft der Moral entfallen. Vielmehr steht es alleine dem Menschen zu, im Moment der Todesgefahr Würde und Größe zu zeigen.

1.  Die Gewalt des Pathos: das »Longinische« Erhabene in Peri hypsous Der Traktat Vom Erhabenen (Peri hypsous, Περὶ ὕψους), der neben Aristoteles’ Poetik und Horaz’ (65–8 v. Chr.) Ars poetica (um 19 v. Chr.) das dritte Standbein für die Dichtungstheorien des 18. Jahrhunderts darstellte, entstand mit aller Wahrscheinlichkeit im ersten Jahrhundert n. Chr. Seine Autorenschaft, die nach dem heutigen Forschungsstand als anonym gilt, wurde bis ins 19. Jahrhundert Cassius Longin, dem neuplatonischen Rhetoriker und Philosophen aus dem 3. Jahrhundert n. Chr. zugeordnet.190 Nachfolgend werde ich, um Verwirrung zu vermeiden, statt der modernen Bezeichnung »Pseudo-Longinus«, den im 18. Jahrhundert gebräuchlichen Namen Longin verwenden. Obwohl der Traktat Vom Erhabenen in der Renaissance und im 17. Jahrhundert unter dem Gesichtspunkt der Rhetorik als eine Abhandlung vom hohen Stil rezi190 

Zur Autorschaft und Entstehungsgeschichte siehe Otto Schönbergers »Nachwort« zu seiner deutschen Übersetzung Vom Erhabenen (135–138). Wenn nicht anders vermerkt, wird aus dieser Ausgabe zitiert.

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piert wurde, lassen die von Longin aufgeführten Bestimmungen des Erhabenen vermuten, dass es sich hier nicht um einen bloßen Stilbegriff handelt (vgl. Fuhrmann 66; Olson 237 f.). Blitzartig schlägt das Erhabene bzw. das Großartige und Erstaunliche in die Psyche des Rezipienten ein und vermag ihn augenblicklich zu affizieren und zu erschüttern. Longin spricht dieser Affekterregung die außerordentliche Leistung zu, »unser Denken völlig zu überwältigen« (39.3). Dem Erkenntnisvermögen wird im Moment der ekstasis jegliche Tätigkeit abgesprochen: Das Großartige nämlich überzeugt die Hörer nicht, sondern verzückt sie; immer und überall wirkt ja das Erstaunliche mit seiner erschütternden Kraft mächtiger als das, was nur überredet oder gefällt, hängt doch die Wirkung des Überzeugenden meist von uns ab, während das Großartige unwiderstehliche Macht und Gewalt ausübt und jeglichen Hörer überwältigt; auch sehen wir die Kunst der Erfindung und die kluge Ordnung des Stoffes nicht an einer oder zwei Stellen, sondern im ganzen Gewebe der Rede kaum eben hervorschimmern, während das Erhabene, wo es am rechten Ort hervorbricht, den ganzen Stoff wie ein plötzlich zuckender Blitz zerteilt und schlagartig die geballte Kraft des Redners offenbart. (1.4)

Es wird sich zeigen, dass die Lust am »Überwältigtwerden« in den ästhetisch-theoretischen Schriften über das Erhabene im 18. Jahrhundert aufgegriffen wird. Dieses Moment gefühlsmäßiger Vereinnahmung wird nicht negativ empfunden, sondern ist stets mit Verzücken bzw. ekstasis verbunden (1.4, 15.9). Hervorzuheben ist, dass Longin diese Wirkung des Erhabenen an keinen bestimmten Zeitpunkt oder gesellschaftlichen Kontext bindet. Jedermann, ungeachtet der individuellen Disposition und Herkunft, erliegt seiner Einflussnahme: »Wenn nämlich Menschen von verschiedener Tätigkeit, Lebensform, Geschmack, Alter und Sprache alle zugleich ein und dasselbe über dasselbe meinen, dann bietet das gleichlautende Urteil so ungleich gestimmter Zeugen die starke, unbestreitbare Gewähr für das Bewunderte« (7.4). Pathos und Erhabenheit sind beim Gebrauch der Figuren wunderbare Mittel, insofern sie den Kunstgriff verschleiern und somit jeden Täuschungsverdacht zum Verschwinden bringen. Die Verdunkelung der Figürlichkeit der Figur wird durch »Glanz«, die »umleuchtende Größe« des Erhabenen bewerkstelligt: »[W]ie schwaches Licht verschwindet, wenn die Sonne es umstrahlt« (17.2). Longin zieht daraus den Schluss, dass die Kunst ihr Ziel erreicht hat, »wenn sie Natur scheint; die Natur wieder ist vollendet, wenn sie die Kunst unmerkbar einschließt« (22.1). Grundlegend ist, dass das vom Schriftsteller empfundene Pathos, seine innere Größe, sich auf den Zuhörer überträgt, dessen Seele durch das »wirkliche Erhabene von Natur aus« empor getragen und mit »stolzer Freude« erfüllt wird (7.2). Diese Affizierung verläuft unterschwellig, denn die Identifikation der Seele mit dem Vorgetragenen geschieht auf eine Art, »als hätte sie selbst geschaffen, was sie hörte« (7.2).

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Longins Katalog »übergroßer« und »schrecklicher« Bilder der Dichtkunst beinhaltet Homers Schilderung des Götterkampfes (9.6), Poseidons Erschütterung der Erdoberfläche (9.8) und das im 17. und 18. Jahrhundert vielfach aufgeführte Genesiszitat: Ebenso hat auch der Gesetzgeber der Juden, gewiß nicht der erste beste, weil er die Macht des Göttlichen würdig auffaßte, diese auch sprachlich geoffenbart, indem er gleich am Beginn seiner Gesetze schrieb ›Gott sprach‹ – was? ›Es werde Licht und es ward Licht; es werde Land, und es ward.‹ (9.9)

Die Auswahl der jeweils eindrücklichsten Darstellungselemente wird notwendiger Weise eine Quelle des Erhabenen. Deswegen hat Homer in seiner Beschreibung der Stürme »aus den Begleiterscheinungen« die »schlimmsten« ausgewählt (10.3). Neben der »Amplifikation« (11–12) und der »Nachahmung großer Schriftsteller und Dichter von einst und der Wetteifer mit ihnen« (13–14), rufen die »Bilder der Phantasie auch Erhabenheit, Größe und Energie des Stils hervor« (15.1). Vorstellung bzw. Vergegenwärtigung verweist u. a. auf die Fälle, »wo man das Gesagte in Begeisterung und leidenschaftlich erregt zu schauen meint und es den Hörern vor Augen stellt« (15.1). Wie die rhetorische, beabsichtigt die dichterische Phantasie zu erregen und mitzureißen; die Dichtkunst verfolgt jedoch eine andere Aufgabe als die Rhetorik: die Zielsetzung der ersteren ist die Erschütterung, letztere verlangt Deutlichkeit (15.2). Die Inspiration zum neuen Schaffen schöpft der Autor aus den Werken vergangener Dichtergrößen. Gleich der Weissagerin Pythia, die durch das Einatmen von Dämpfen göttliche Kraft empfängt, so »strömen vom Genius der Alten wie aus heiligem Quell geheimnisvolle Einflüsse in die Seele ihrer Bewunderer« (13.2). Gemäß Longin garantiere die Nachahmung großer Schriftsteller die fortschreitende Kontinuität des Erhabenen, und sei niemals als ein »Diebstahl« zu bezeichnen (13.4). Vielmehr stehe der nach bleibendem Ruhm drängende Autor im steten Wettbewerb mit den erhabenen Vorbildern. Daraus lässt sich schließen, dass einzig der schöpferisch tätige Mensch zum Widerstand gegen die Übergewalt des Erhabenen fähig sei.191 Bedeutend für die Betrachtung der erhabenen Natur im 18. Jahrhundert ist Longins Aufführung ungewöhnlicher und bewunderungswürdiger Naturgegen191  Vgl. dazu Paul Barone in Schiller und die Tradition des Erhabenen (2004): »Im dichterischen Schaffen tritt an die Stelle des ohnmächtigen Überwältigtwerdens der Wettstreit mit den großen Dichtern. Aber die Kraft zum Widerstreit gegen das Große und Erhabene, zum Widerstreit gegen ihre überwältigende Macht gesteht ›Longin‹ nur dem zu, der selbst als Dichter oder Redner schöpferisch ist. Wir können bereits vorweg sagen: Spätere Theorien des Erhabenen werden dieses Widerstandpotential prinzipiell jedem Subjekt zuschreiben und gerade in der subjektiven Überwindung der Macht des Großen das eigentlich Erhabene sehen« (37).

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stände. Seine im 35. Abschnitt erörterte Naturauffassung wurde mit aller Wahrscheinlichkeit von der Stoa des 2. und 1. Jahrhunderts v. Chr. beeinflusst.192 Longin setzt mit der Beschreibung außergewöhnlicher Naturschauspiele an: Daher bewundern wir aus einem natürlichen Trieb wahrhaftig nicht die kleinen Bäche, wenn sie auch klar und nützlich sind, sondern den Nil, die Donau oder den Rhein und viel mehr noch den Ozean; auch das Flämmchen, das wir auf Erden entfacht haben, bewundern wir deshalb, weil es sein Licht rein bewahrt, nicht mehr als die Himmelslichter, die sich doch oft verdunkeln, noch halten wir es staunenswerter als die Krater des Ätna, dessen Ausbrüche Steine und ganze Felsenmassen aus der Tiefe emporschleudern und manchmal Ströme des erdgeborenen, elementaren Feuers ergießen. Doch wird man bei all diesem sagen, daß für die Menschen das Nützliche und Nötige leicht zu erwerben ist, immer jedoch das Außerordentliche bewundernswert bleibt. (35.4)

Die Anziehungskraft großer und gewaltsamer Naturphänomene gründet sich also auf ihr ungewöhnliches und unerwartetes Erscheinen. Ihr Nutzen für den Menschen fällt im Vollzug der ästhetischen Betrachtung nicht ins Gewicht. Was allein zählt, ist die im wahrnehmenden Subjekt erregte Bewunderung. Die sich über alle Vorbehalte hinwegsetzende Achtung vor außerordentlichen Naturgrößen überträgt Longin daraufhin auf das Schaffen der genialen Schriftsteller. Bei diesen Menschen, »wo Größe und praktischer Nutzen nicht auseinanderfallen«, muss man folgern, dass sie trotz ihrer Mängel über das »sterbliche Maß« hinausragen, denn das Erhabene erhebt sie fast bis zur »Majestät Gottes« (36.1). Sämtliche Fehler, die in den Werken Homers, Demosthenes’ (384–322 v. Chr.) und Platons auszumachen sind, werden durch eine »einzige erhabene und vollendete Stelle« wieder aufgewogen. Demzufolge macht die Summe all ihrer Schwächen einen »winzigen Bruchteil« von dem aus, »was diese Halbgötter gänzlich Vollkommenes schufen« (36.2). Die hier dargelegte Rechtfertigung des Unvollkommenen, seine Aufhebung im vollkommenen Ganzen ist für die philosophische und poetologische Rezeption des Erhabenen im 18. Jahrhundert von schwerwiegender Bedeutung. Vermeintliche Regelverstöße im literarischen Schaffen sind verkraftbar, solange der Dichter die Einbildungskraft durch eindringliche Bilder zu erschüttern vermag. Bezüglich der Entgleisungen in Gottes Schöpfung sind sie eine Vergegenwärtigung seiner Macht, die das ganze Weltgebäude im Gange hält.

192 

Verschiedene Kommentatoren legen die Quelle in dem Stoiker Poseidonios (135–51 v. Chr.) fest. Vgl. Norden 104 f.

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2. Gewaltsame Naturmächte entmystifiziert: dichtungstheoretischer und philosophischer Widerstand gegen das Schrecklicherhabene in der Dichtkunst a) Das Wunderbare und Erhabene in den Dichtungstheorien des französischen Klassizismus Es gehört zu den großen Verdiensten des Poeten und Kritikers Nicolas BoileauDespréaux, die Rezeption des longinischen Traktats Peri hypsous in den Ästhetiken des 17. und 18. Jahrhunderts mit seiner 1674 erschienenen Übersetzung Traité du Sublime, ou du Merveilleux dans le Discours, traduit du Grec de Longin maßgebend vorangetrieben zu haben. Die zeitgleiche Veröffentlichung seiner Art poétique wird in der Forschungsliteratur oftmals als »grotesk« oder »paradox« aufgefasst.193 Wie kommt es, dass Boileau, der einerseits als Législateur du parnasse ganz im Sinne der doctrine classique dasjenige ausgrenzt (das Unschöne, Unsittliche und Unvernünftige), was sich der raison entgegensetzt, sich andererseits bis zu seinem Lebensende für den Begriff des sublime einsetzt, der das Konzept des Klassizismus in den kommenden Jahrzehnten unterminieren wird?194 Eine Übertragung der Begriffe des sublime oder merveilleux auf die verheerenden Naturkräfte, wie sie sich im 18. Jahrhundert vollzogen hat, muss im Umfeld des ratiozentrierten doctrine classique freilich auf Gegenwehr stoßen. In der Einleitung zu seiner Longinübertragung definiert Boileau das Erhabene als cet extraordinaire & ce merveilleux qui frappe dans le Discours, & qui fait qu’un Ouvrage enleve, ravit, transporte. […] Il faut […] entendre par Sublime, dans Longin, l’Extraordinaire, le Surprenant & comme je l’ay traduit, le Merveilleux dans le Discours. (unpag)

Boileau löst den Erhabenheitsbegriff aus seiner traditionellen Umklammerung der Rhetorik, wo er seit der Antike als genus grande den drei genera dicendi zugerechnet wurde. Nicht die geblümten Worte des »Stile sublime« führen zum »Merveilleux dans le Discours«, sondern ein schmuckloser und simpler Sprachstil, den Longin in seinem Fiat lux-Bibelzitat aus Moses 1, 3 exemplarisch ausführte. Das Einfache im sprachlichen Ausdruck vermittle laut Jules Brody sozusagen die mühelose Ge193  Vgl. Ernst Robert Curtius (1867–1956) in Europäische Literatur und lateinisches Mittel­ alter (1948): »›Longin‹ ist vom Unglück verfolgt worden. Es berührt grotesk, daß ein Magister wie Boileau seinen Namen bekannt gemacht hat. […] Boileau scheint das 33. Kapitel der Schrift Περί ϋψους nicht gelesen oder nicht verstanden zu haben« (402 f.). 194  Vgl. Théodore Litman in seiner Studie Le sublime en France (1971): »Paradoxalement, le sublime devait miner L’Art poétique et ouvrir la voie à de nouvelles conceptions esthétiques qui allaient éventuellement détruire le classicisme lui-même« (67).

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schwindigkeit, mit der Gott das Licht erschaffen habe, und es sei diese rapide Ausführung der göttlichen Macht, die Boileau so bewunderungswürdig finde (vgl. 90– 92). Hinsichtlich Boileaus unermüdlicher Verteidigung der antiken Dichtergrößen, die unter dem Stichwort Querelle des Anciens et des Modernes bekannt wurde, zeigt sich, dass seine Indienstnahme des Erhabenheitsbegriffs letztendlich auch strategisch motiviert war. Die gelegentlich anzutreffenden Regelverstöße der Alten lassen sich gerade dann legitimieren, wenn das von ihnen bewirkte »Durchbrechen des Sinnzusammenhangs« das »Göttliche« fühlbar macht (Dieckmann 340). Mit dem Verweis auf ein höheres, sich über den menschlichen Verstand erhebendes Ordnungsprinzip vernimmt man eine Denkstruktur, die für die Theorien des Erhabenen im 18. Jahrhundert grundlegend ist. Allerdings muss betont werden, dass Boileau die Qualitäten des sublime – »l’Extraordinaire«, »le Surprenant« und »le Merveilleux« – nicht mit den Naturgegenständen in Zusammenhang bringt. Diese entzünden sich lediglich durch überragende Momente im sprachlichen Ausdruck (»Discours«). Eine ausschlaggebende Hürde für die Verbindung der Naturumwälzungen mit dem sublime stellt das kausalmechanische Naturbild der Cartesianer dar, das sich von den moraltheologischen Deutungsmustern absetzt. Insofern stellen die gegen die empirischen Gesetzmäßigkeiten verstoßenden Naturbegebenheiten eine Irritation dar. Die in den Wunderchroniken geläufigen Berichte von Landplagen als schreckliche Geiseln oder Wunderzeichen Gottes gehören dem zu überwindenden Aberglauben an. Ereignisse, die vom Einfluss übernatürlicher Kräfte zeugen, werden im französischen Klassizismus nicht unter das sublime, sondern unter den Begriff des merveilleux subsumiert. René Rapin (1621–1687) umreißt dieses schlicht als »tout ce qui est contre le cours ordinaire de la nature« (zit. nach Cronk 95). Als Dichtungstheorem wurde es seit Aristoteles dem Epos und der Tragödie zugeordnet. Torquato Tasso (1544–1595) erhob das meraviglioso zum ausschlaggebenden Stilmerkmal des Epos (vgl. Morris 40; Cronk 94). In Reverenz vor dem dichtungstheoretischen Grundsatz, die Kunst sei Nachahmung der Natur, darf die poetische Wiedergabe des Wunderbaren nicht außerhalb des Wahrscheinlichen bzw. vraisemblable fallen. Die Frage nach der angemessenen Mimesis gehört zu den Hauptstreitpunkten des französischen Klassizismus; ein Konflikt, der maßgeblich durch die neuen Wissenschaften mitentfacht wurde. Nicholas Cronk hat darauf hingewiesen, dass die Wissenschaftler »in a post Galilean age« nach einer Ausdrucksform verlangten, »which can represent objectively, ›from the outside‹, the world’s phenomena« (24). Eine Trennung zwischen res und verba zeichnet sich ab; die Wörter erweisen sich als arbiträre Zeichen, die gemäß einer Nomenklatur den Ideen und Dingen zugewiesen werden. Für die Gewährleistung des klaren Ausdrucks bedarf es der Klarheit im Denken. Der Erweiterung eines auf Vernunftprinzipien gründenden Realitätssinns steht das Wunderbare als störendes Hindernis im Wege (vgl. Matuschek 179 f.). Statt erhel-

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lender Erkenntnis bewirkt es im denkenden Subjekt ein verwirrendes Erstaunen, das seinerseits die Verstandeskräfte hemmt und im schlimmsten Falle zum Aussetzen bringt. Sozialkritisch betrachtet, ist der Hang zum merveilleux eher beim ungebildeten Pöbel anzutreffen und entspricht dementsprechend nicht dem kultivierten Geschmack des höfischen honnête homme.195 Von Seiten der neoklassizistischen Poetiken, die grundsätzlich die Tätigkeit des Menschen als legitimen Topos vorschreiben, wird dem Unwirklichen und Übernatürlichen nur ein eingeschränkter Wirkungsbereich zugesprochen: »Poetry must deal with what is humanly knowable, and to fill a poem with angels, spirits, and devils is to presume to understand what God alone can know« (Morris 43). In kritischer Abkehr von der barocken meraviglia-Poetik spricht Boileau dem merveilleux jegliche Erkenntnisvermittlung ab (vgl. Matuschek 178). Vielmehr soll es als sinnentleertes Beiwerk, wie er in seiner Art poétique konstatiert, dem vernünftigen Menschen Vergnügen bereiten. C’est là ce qui surprend, frappe, saisit, attache. Sans tous ces ornements le vers tombe en langueur, La poésie est morte, ou rampe sans vigueur. (III, 188–90)

Dementsprechend fallen die das menschliche Fassungsvermögen übersteigenden Mysterien des Christentums, das merveilleux chrétien, außerhalb des funktionalen Rahmens des Wunderbaren: De la foi d’un chrétien les mystères terribles D’ornemens égayés ne sont point susceptibles. L’Évangile à l’esprit n’offre de tous côtes Que pénitence à faire, et tourments mérités: Et de vos fictions le mélange coupable Même à ses vérités donne l’air de la fable. (III, 199–200)

Der sich abzeichnende Sieg des vraisemblable über das merveilleux im französischen Klassizismus wurde von der cartesianischen »Zwei-Seelen-Lehre« mitbeeinflusst, die ihrerseits die beiden Affektgrade Ethos und Pathos widerspiegelt, mit denen 195 Karl Viëtor (1892–1951) umreißt in seinem Aufsatz »Die Idee des Erhabenen in der deutschen Literatur« das geistesgeschichtliche Umfeld des honnête homme auf ähnliche Weise: »Das Zeitalter Ludwigs XIV. ist beherrscht von einer ›heroischen Stimmung‹. Alle Kunstwerke zeigen einen ›style noble‹, vor allem die der Dichtung, der Malerei, der Architektur. Überall der Wille zur Großheit, zum ›grand goût‹. Und diese Steigerung wird erreicht, indem der Geist, die Vernunft, alle Kräfte der Bändigung, Normung das überwinden, was tierische Natur, Trieb, Leidenschaft, Gemütserregung im Menschen ist« (237).

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die Rhetorik den Menschen umzustimmen glaubte. Während jene die Vernunft anspricht, appelliert diese an das Gemüt. Bekanntlich hat René Descartes in seiner Spätschrift Die Leidenschaften der Seele die menschliche Natur in die Impulsgeber Leib (res extensa) und Seele (res cogitans) zweigeteilt. Die Auflösung der sich im Widerstreit befindenden Vermögen wird, wie Winfried Wehle zusammenfassend erörtert hat, durch die »Vereinseitigung unserer Natur« bzw. »zugunsten des ›principium rationale‹« bewerkstelligt: In diesem Seelenvermögen residiert das Moment des Unwandelbaren des Menschen. Unbeständigkeit, Unvernunft, Leichtsinn gehören ins Leibvermögen. Wird dieses ›principium animale‹ unmittelbar, d. h. unter Umgehung des Verstandes angesprochen, reagiert es unkontrolliert heftig mit Verblüffung oder Schrecken (Art. 118). Beides aber verleitet zum Irrtum; dieser führt ins Laster (Art. 160). Die ›Seele‹ ist deshalb zur ›absoluten Herrschaft‹ (!) über eben die Leidenschaften (Art. 50) ermächtigt, mit denen der Leib sie anficht (Art. 76). Denn das geistige Verlangen des Menschen tendiere, für sich genommen, ›stets zum Guten‹ (Art 144). Diese moralische Voreingenommenheit aber hat einen letztlich metaphysischen Grund: Die Beständigkeit der Seele steht in ferner Struktureinheit mit der unwandelbaren und untrüglichen göttlichen Vorsehung (Art. 146). (205)

Die Bevorzugung des Stetigen und Unwandelbaren in der menschlichen Natur schlägt sich in der doctrine classique nieder. Insofern betont sie die schöne Seite, die belle nature der dargestellten Gegenstände: »Darin kehrt sie jedoch nur ihre anthropologische Voreingenommenheit heraus: das kreatürliche Anliegen des Menschen zugunsten seiner Geistnatur zu unterdrücken« (Wehle 207). Obschon das Wunderbare der Unterhaltungslust des Publikums entgegen kommt und der Affekt der Verwunderung bei Descartes in Anlehnung an das aristotelische thaumazein eine erkenntnistheoretische Rolle spielt, darf es die Herrschaft der Vernunftkräfte nicht unterminieren. Das Staunen gilt es zu überwinden und in Verwunderungslosigkeit (athaumastia) zu überführen: »Wenn das Staunen zu lange anhält, wird es umgekehrt zum Merkmal des unphilosophischen Menschen, denn der Einsichtige zeichnet sich gerade dadurch aus, daß ihn das für andere Erstaunliche nicht mehr wundert« (Matuschek 11).

b) Die ungestüme Natur in Johann Christoph Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst Im deutschsprachigen Raum wurden die kritischen Vorbehalte gegen eine pathetische Darstellung gewaltsamer Naturkräfte von Johann Christoph Gottsched fortgesetzt. In seiner Poetologie Versuch einer Critischen Dichtkunst, die sich wesentlich

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auf die Poetiken der Antike (Aristoteles und Horaz) und den Regelkanon des französischen Klassizismus stützt, kommt es ebenfalls zu keiner nennenswerten Signifizierung der sinnlich wahrnehmbaren Natur als etwas Erhabenes. Für Gottsched spielt der Erhabenheitsbegriff nebst der Trias der »Regelmäßigkeit, Fabel und Wahrscheinlichkeit« bloß eine untergeordnete Rolle und kommt u. a. in Verbindung mit der poetischen Schreibart im 11. Hauptstück des ersten Teils seiner Critischen Dichtkunst vor.196 Er lässt sich ganz von den Regelvorschriften des französischen Klassizismus leiten, wenn er vom wahren Dichter verlangt, dass dieser eine »gesunde Vernunft, richtige Begriffe von Dingen, und eine große Kenntniß von Künsten und Wissenschaften« vorweisen müsse (Dichtkunst 348 f.). Dennoch findet das Ungestüme in der Natur Eingang in Gottscheds Critische Dichtkunst. Im 5. Hauptstück »Von dem Wunderbaren in der Poesie« gruppiert er die künstlerische Nachahmung verheerender Naturmächte in die dritte Gattung des Wunderbaren, die ausschließlich Tiere und leblose Dinge umfasst (194–197).197 Freilich stuft Gottsched sie am niedrigsten ein: »Diese braucht nun ein Poet am wenigsten; weil er sich mehrentheils mit den Menschen beschäfftiget, und das Uebrige nur in so weit braucht, als es hierzu dienlich seyn kann« (194). Die Beschreibungen außergewöhnlicher Naturphänomene dienen in erster Linie als Vehikel, die Leserschaft zu belustigen und ihre Neugierde zu schüren, damit sie umso empfänglicher für den gewichtigeren Endzweck der moralischen Belehrung ist. Demzufolge soll der Poet nur das »beste und vernünftigste Wunderbare«, was die Natur am vortrefflichsten gemacht hat, berücksichtigen: »Es kömmt hier alles auf die gute Beschreibungen recht außerordentlich schöner, großer, erschrecklicher und schlechter Sachen an: denn die mittelmäßigen werden nichts Wunderwürdiges abgeben« (195). Zu den außergewöhnlichen Dingen, die von den antiken Dichtern »sehr schrecklich« beschrieben werden, gehören einerseits die »Sonn- und Mondfinsternisse« und andererseits die »Ungewitter, Erdbeben, Schiffbrüche und Sturmwinde«. Gottsched lehnt die Schilderung von Prodigien in der jetzigen aufgeklärten Dichtkunst ab: »Man verstund dazumal die Naturlehre sehr schlecht; allein ietzo würde es eine Schande für den Poeten seyn, wenn er uns viel von dem Einflusse des Himmels reden, und seine Leser mit langen Beschreibungen eines Nordlichts, fallenden Sterns, oder einer Sonn- und Mondfinsterniß, aufhalten wollte« (196). Hingegen geben die letzteren Naturschauspiele durchaus einen legitimen Topos zur künstlerischen Verarbeitung her. Im Hinblick 196  Vgl. dazu Carsten Zelles Einleitung zu seiner Edition von Jakob Immanuel Pyras (1715– 1744) Ab­handlung Über das Erhabene 13. 197  Die beiden anderen Gattungen befassen sich mit den »Göttern und Geistern« und dem »Glück und Unglück«, das von den »Menschen und ihren Handlungen« verursacht wird. Gottsched legt auch hier besonderen Wert auf die Darstellung des Wunderbaren: »alle drey müssen auch nach gewissen Regeln eingerichtet werden, wenn sie nicht kindisch und lächerlich herauskommen sollen« (171).

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auf die unterschiedliche Wertung außerordentlicher Naturgegenstände wird wiederum deutlich, wie sehr der Begriff des Wunderbaren durch den Wissensstand der Periode bedingt wird. Übernatürlich anmutende Himmelserscheinungen haben sich dem Naturkundigen spätestens seit den Kosmo­logien des 17. Jahrhunderts als natürliche Phänomene entpuppt.198 Hingegen haftet den Kalamitäten wie Erdbeben aufgrund ihrer unaufhaltsamen und umfangreichen Destruktivität nichts Gewöhnliches an. Sie treten nach wie vor als schreckenerregende Ereignisse in Erscheinung, die die Alltagsroutine zu durchbrechen vermögen.199 Gottsched räumt allerdings ein, dass diese Gegenstände wahrlich wunderbar seien, solange sie »nur natürlich beschrieben werden« (197). Mit »natürlich« meint er gemäß der rhetorischen genera dicendi, »was man im gemeinen Leben, wo man nur auf die Sachen, und nicht auf die Worte denkt, in der Historie, in dogmatischen Büchern, u. d. gl. braucht« (356). Sie unterscheidet sich von der gemeinen Schreibart, insofern man hier nur »die schöne Natur« versteht, die alle Kunstschaffenden nachzuahmen pflegen. Gottscheds strikte Orientierung an den klassizistischen Stilmodi verhindert die Verwendung der hohen Schreibart oder des Pathos in der Wiedergabe von gewaltsamen Naturphänomenen. Diese sollen nicht durch eine allzu stilisierte Veranschaulichung ins Unwahrscheinliche bzw. ins Abergläubische und Unvernünftige hinauswachsen. Gemäß dem aufklärerischen Vorsatz, die Naturgegenstände deutlich und realitätsnah zu präsentieren, um die Leserschaft zu belehren und nicht weiter zu verwirren, wäre eine solche Ausdrucksweise nicht förderlich. Gottscheds 198  Vgl.

Gottscheds Differenzierung zwischen natürlichen und übernatürlichen Naturbegebenheiten in Erste Gründe der gesamten Weltweisheit (1733): »Wir müssen uns nur auch bey dem Uebernatürlichen nicht übereilen, und nicht alles, dessen Grund und Ursache wir nicht einsehen, für ein Wunderwerk ausgeben. So kann oft eine Sache sehr natürlich zugehen, die doch von dem Pöbel für eine unmittelbare Wirkung Gottes angesehen wird: wie man vorzeiten von Sonnenfinsternissen, Kometen, Misgeburten, Nordlichtern, und andern ungewöhnlichen Begebenheiten der Natur geglaubet hat« (AW 5/1: 289). Man dürfe aber nicht wie Spinoza die Möglichkeit der Wunderwerke leugnen: »Es folget nämlich nicht: Etliche oder viele Dinge, die man für Wunderwerke gehalten, waren Wirkungen der verborgenen Kräfte der Natur; daher sind alle außerordentlichen Begebenheiten aus keiner höheren Ursache herzuleiten« (AW 5/1: 290). Dem höchsten Wesen bleibe es nämlich überlassen, übernatürliche Dinge in dieser Welt zu veranlassen: »[S]o können dieselben auch zur Wirklichkeit gelangen, wie und wann es demselben beliebet« (AW 5/1: 289). 199 Zu beachten ist, dass Gottsched die schrecklichen Naturphänomene zusammen mit großen und schönen Dingen – »hohe Gebirge« und »schöne Thäler voller Dörfer und Heerden« – als wunderbar klassifiziert (Dichtkunst 197). Wie sich zeigen wird, ist die daraus ablesbare Kategorisierung schöner, großer und ungestümer Gegenstände ebenfalls in Johann Jacob Bodmers Betrachtungen über die Poetischen Gemählde der Dichter auffindbar. Interessanterweise unterscheidet sich der Katalog verheerender Naturgewalten in der dritten und vierten Auflage wesentlich von der Erstfassung der Critischen Dichtkunst. In der Erstausgabe (1730) führt Gottsched ungewöhnliche Witterungen, Donner und Blitz, Überschwemmungen und Schiffbrüche auf (163). Die topischen Landplagen wie Krieg, Seuchen, Feuersbrünste und Hungersnot werden an dieser Stelle nicht erwähnt.

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Tendenz zu einer emotiv temperierten Dichtkunst kommt in der folgenden Maßregelung der hohen Schreibart deutlich zum Ausdruck: »Gar zu viel Licht blendet die Augen; gar zu starke Töne betäuben das Gehör, und gar zu sehr gewürzte Speisen erwecken einen Ekel« (364).

c) Der Reiz des Numinosen: analytische Erklärungsversuche des Wunderbaren in den Schriften Bernhard le Bovier de Fontenelles, David Humes und Karl Friederich Pockels’ Dem Bestreben der klassizistischen Poetiken, das Wunderbare einzuschränken oder gar aus der Dichtkunst zu bannen, sind jedoch Schranken gesetzt. Das Überwinden des Phantastischen, der Mythen und Fabeln bringt den Verlust eines wesentlichen Anreizes der Poesie mit sich. Auch wenn sie den Menschen aus seiner Wirklichkeit entführt, mit »ihren Faszinosa all das weiterhin als Wahrheit vorspiegelt, was die wissenschaftliche Erhellung allerorten austreiben will« (Matuschek 175), so scheint diese Täuschung einem anthropologischen Verlangen nachzukommen. Hinsichtlich der Rezeption und Darstellung von Naturkatastrophen lässt sich eine strukturverwandte Resistenz gegen die rational-immanenten Erklärungsversuche feststellen. Während des 18. Jahrhunderts ist der reflexartige Bezug auf eine übernatürliche Wirkursache trotz aller Säkularisationsbestrebungen im Kollektivbewusstsein verankert geblieben. Im Folgenden soll die Problematik dieser instinkthaften Hingabe zum Wunderbaren in den repräsentativen Abhandlungen von Bernhard le Bovier de Fontenelle, David Hume (1711–1776) und Karl Friederich Pockels (1757–1814) kurz umrissen werden. In dem von Johann Christoph Gottsched übersetzten Aufsatz De l’origine des fables (1712) bezieht sich Fontenelle auf Descartes’ Hypothese, dass die Einbildungskraft grundlegend die Rezeption der uns umgebenden Naturphänomene beeinflusst.200 Mithilfe von Analogieschlüssen gelingt es ihr, das Unbekannte unter der Gestalt des Bekannten vorzustellen: »[Z]u allem Glücke hat man die größte Ursache von der Welt, zu glauben, daß das Unbekannte unmöglich demjenigen unähnlich seyn kann, was uns itzo schon bekannt ist.«201 Während im jetzigen aufgeklär200 

Zitiert wird aus folgender Ausgabe: Bernhard von Fontenelle. Auserlesene Schriften, nämlich von mehr als einer Welt, Gespräche der Todten und Historie der heydnischen Orakel; vormals einzeln herausgegeben, nun aber mit verschiedenen Zugaben und schönen Kupfern vermehrter ans Licht gestellet, von Johann Christoph Gottscheden. Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf, 1760. 201 Vgl. dazu René Descartes’ Aussage in der Abhandlung Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft: »Damit wir uns aber auch der Einbildungskraft als Hilfsmittels bedienen, ist zu beachten, daß man, sooft etwas Unbekanntes aus etwas schon vorher Erkanntem deduziert wird, darum noch keine neue Gattung des Seins entdeckt, sondern daß sich diese Erkenntnis

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ten Zeitalter vorrangig Metaphern aus dem Erfahrungsbereich der Mechanik herbeigezogen werden, verwendeten die Menschen aus der Frühzeit anthropomorphe Vorstellungsmuster. Die Alten sahen sich mit Naturkräften konfrontiert, die weit mächtiger waren und »so sie selbst nicht hätten machen können; z. E. Blitze schießen, Winde entstehen, die Meereswellen erregen« (641). Aus dieser groben Naturphilosophie seien die falschen Gottheiten entstanden, die sich als Wesen der Macht und nicht etwa der Weisheit und Güte äußerten. Erzählungen von vermeintlichen Wunderzeichen sind bei den rückständigen Nationen und Naturvölkern allgegenwärtig geblieben. Insofern zeuge der Impuls, dem Begrifflichunfassbaren wundersame Wirkungen anzudichten, vom Unvermögen, die Natur gemäß gesetzmäßigen Abläufen zu verstehen: »Uebrigens nahmen die ersten Menschen den ersten Begriff von einem höhern Wesen, aus den außerordentlichen Begebenheiten; nicht aber aus der regelmäßigen Ordnung des Weltgebäudes, die sie weder zu erkennen, noch zu bewundern fähig waren« (642). Im Erkennen des geregelten Universums verspürt das aufgeklärte Subjekt kein verwirrendes Erstaunen, sondern den befreienden Affekt der Bewunderung. Freilich muss Fontenelle einräumen, dass seine Zeitgenossen sich nach wie vor von Wundergeschichten – seine scharfe Kritik wendet sich insbesondere gegen die Fabeln der Antike – mit Wohlwollen betrügen lassen. Um sich selbst und die Zuhörer zu belustigen, fühlen sich die Dichter und Maler dazu hingerissen, ihre Werke mit etwas Wunderbarem auszuschmücken: »Gottheiten, die oft auf eine wunderbare Weise wirken, müssen nothwendig, sowohl in den Gedichten, als in Bildern, sehr angenehm fallen: als wo man nur die Einbildungskraft durch solche Dinge zu verführen suchet, die sie leicht fassen kann, und davon sie zugleich sehr gerühret wird« (650). Auch wenn die Ratio die Irrtümer der Fabeln vollends aufdecken würde, so verlören sie nichts von ihrer Anziehungskraft auf die Imagination. David Hume bekräftigt in seiner 1748 publizierten Abhandlung An Enquiry Concerning Human Understanding die Annahme, dass die Neigung zum Mysteriösen und Übernatürlichen niemals vollends ausgetrieben werden könne (vgl. 127). Mit der Annäherung an die »enlightened ages« sind die Landplagen – »[b]attles, revolutions, pestilence, famine, and death« – als natürliche Begebenheiten überführt worden (127); allerdings trifft die Überzeugungskraft eines immanenten Naturverständnisses auf Grenzen. Gerade das mit den religiösen Ideen verbundene Wunderbare besitzt einen den rationalen Erklärungsgründen entgegenwirkenden Reiz: »The passion of surprise and wonder, arising from miracles, being an agreeable emotion, gives a sensible tendency toward the belief of those events from which it is derived.« Hume wendet seine Skepsis insbesondere gegen den Täuschungseffekt, überhaupt nur soweit erstreckt, daß man erkennt, daß der gesuchte Sachverhalt auf diese oder jene Weise an der Natur des in der Proposition Gegebenen teilhat« (Regel 14.1).

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der von den Erzählungen der enthusiastisch ergriffenen »religionists« ausgeht: »His auditors may not have, and commonly have not, sufficient judgement to canvass his evidence; what judgement they have, they renounce by principle, in these sublime and mysterious subjects« (125). Karl Friedrich Pockels ortet in seinem Beitrag »Ueber die Neigung der Menschen zum Wunderbaren«, der 1785 im dritten Band (drittes Stück) des von Karl Philipp Moritz (1756–1793) herausgegebenen Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1783–1793) veröffentlicht wurde, die Disposition zum Wunderbaren in der »unbefriedigte[n] Wißbegierde« des Menschen (88). Die »mächtigen Triebe der menschlichen Seele« verlangen regelrecht danach, durch das Neue und Außergewöhnliche in Erstaunen versetzt zu werden (84). Auslöser dazu seien »Großes und Erhabenes« und »lebhafte Begriffe« von einer »ausserordentlichen Kraft« (89). Bezeichnenderweise differenziert Pockels zwischen den Affekterregungen, die von den sichtbar erhabenen Gegenständen und dem Wunderbaren bewirkt werden: Jene hören gemeiniglich auf, Erstaunen zu erregen, »sobald wir sie in ihre einzelnen Theile zerlegen und uns das Ganze mehr succeßiv als auf einmal und folglich dunkel vorzustellen anfangen« (92). Hingegen erweist sich das vom Wunderbaren bewirkte Erstaunen von längerer Dauer, da sein Grund sich der Vernunft verschließt. Gerade der Eindruck von undurchschaubaren Kräften ruft die Empfindung der Schreckenslust hervor. Pockels sieht die Ursache für diese besondere Art des Erstaunens darin, »daß wir immer mehr geneigt sind, uns die Gottheit als die unmittelbare Ursach des Wunderbaren, von einer schrecklichen, als liebevollen Seite vorzustellen; weil wir fühlen, daß keine Kraft unserer Natur zureichen würde, die Gewalt eines unsichtbaren Wesens aufzuhalten, wenn sie gegen uns gerichtet würde« (94). Anhand der angeführten Textbeispiele wird deutlich, dass das ideelle Substrat für das Faszinosum am Wunderbaren bzw. Schrecklicherhabenen in der archa­ ischen Vorstellung des strafenden Richtergottes besteht. Die Neigung zur Schreckenslust widerspricht dem Vorsatz der rationalen Naturphilosophie, den Glauben an die unmittelbare Einwirkung übernatürlicher Wesen als ein Zeichen der Ignoranz zu überführen. Wie Richard Alewyn (1902–1979) in seinem Essay »Die Lust an der Angst« konstatiert hat, gelang es den »Ideen der Aufklärung« anscheinend schneller, »die Vernunft zu belehren als die Instinkte zu bekehren« (317). Das Erhabene umschließt dementsprechend den »Restbestand dessen, was die Weltweisheit in ihrem Kampf gegen den Aberglauben noch nicht bezwungen hat« (Matuschek 189). Im Hinblick auf die Begriffsbildung des Erhabenen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts konkretisieren sich zwei Stränge, die richtungsweisend auf die ästhetische Rezeption und Darstellung gewaltsamer Naturphänomene wirken. Die Doppelstruktur des Erhabenen, die sich entweder auf eine außerordentliche Größe oder Kraft bezieht, besitzt ihre Prämisse in der unterschiedlichen Attribuierung

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Gottes. Einerseits konnotiert die Unbegrenztheit weiter Räume und offener Flächen das Unwandelbare und Beständige in der Welt. In ihrer Gegenwart reagiert der Betrachter mit staunender Bewunderung, die ihren Höhepunkt in der momentanen Offenbarung Gottes als weiser und gütiger Weltenschöpfer findet. Das während der Kontemplation des Großen verspürte Erstaunen lässt sich mit der cartesianischen Wertschätzung eines Weltenlaufs, der sich der Wissbegier des Menschen eröffnet – man denke wiederum an Fontenelles Äußerungen über das harmonische Weltsystem– weit einfacher in Einklang bringen, als wenn das Subjekt mit der Schreckensmacht Gottes konfrontiert wird. Denn die schlagartig eintreffenden Naturumwälzungen verweisen andererseits auf das problematische Gottesbild des deus absconditus. Vor der Allmacht des strafenden Richtergottes empfindet der Mensch nicht nur die Beschränktheit seines Erkenntnisvermögens, sondern auch seine Machtlosigkeit. Der ideelle Bezug zum Übersinnlichen erweist sich diesem Falle heikler, da er völlig aus dem Rahmen eines rationalen Naturkonzepts fällt. Nicht von Ungefähr kommt beim Schrecklicherhabenen die Komponente einer antideis­ tischen Gesinnung deutlicher zum Tragen als beim Unermesslichgroßen. Es ist aber auch an diesem Punkt, wo das von den nachkopernikanischen Kosmologien ausgelöste Unbehagen eines durchweg wandelbaren, unbeständigen Universums aufgefangen wird. Wie sich zeigen wird, entwickelt sich in der ästhetisch-theoretischen und philosophischen Auseinandersetzung mit den zerstörerischen Naturkräften ein gesteigertes Selbstwertgefühl, das sich von der religiös bestimmten Erhabenheitserfahrung absondert. Der Besprechung des Schrecklicherhabenen in den dichtungstheoretischen Schriften von John Dennis, Johann Jacob Bodmer und Michael Conrad Curtius stelle sich als kontrastierenden Gegenwurf die von Joseph Addison (1672–1719) geleistete Konkretisierung des Erhabenen in der Natur voran. Im Gegensatz zu ihnen befürwortet er eine gemäßigtere Gefühlsaffizierung. Von einer durch die Schreckensempfindung ausgelösten Überwältigung der Gemütskräfte kann bei Addison nicht die Rede sein.

d) Der eingedämmte Naturschrecken: Joseph Addisons Essay On the Pleasures of Imagination In seinem epochalen Essay On the Pleasures of the Imagination, der im Jahre 1712 im Spectator (411. bis 421. Stück) mehrteilig erschien, bringt Joseph Addison die ästhetische Betrachtung des Großen in der Natur mit dem aufgeklärten Gottesbegriff des gütigen »Supreme Authors« in Verbindung. Seine Ausführungen über das Naturerhabene lassen sich an die im Gefüge des französischen Klassizismus entstandenen Theorieansätze anknüpfen. Ein gewichtiger Impuls setzte der Jesuitenpriester und Philologe Dominique Bouhours (1628–1702), der mit seinem poetologischen

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Erstlingswerk Entretiens d’Ariste et d’Eugene (1671) den kritischen Begriff des je ne sais quoi als Novum eingeführt hat (vgl. Cronk 61–64), behandelt im Einführungsdialog die Verwendung des Meeres als literarischen Topos. Eugene bekundet in Anbetracht der immensen Meeresweiten, dass es Naturgeheimnisse gebe, die dem menschlichen Geist verschlossen bleiben. Deshalb sei es das Beste unser Nichtwissen einzugestehen und demütig die Weisheit Gottes zu bewundern, »qui a voulu que ce secret fût caché aux hommes« (31). Ganz im Sinne der stoischen Naturauffassung versinnbildlicht die Unermesslichkeit und Fülle des Meeres die Größe Gottes:­ »[L]a mer répresente non seulement sa grandeur, son immensité, les abîmes de sa providence et de sa sagesse; mais encore sa miséricorde et sa justice, la pureté et la pléntitudes de son être« (32). Zu beachten ist jedoch, dass er im Gegensatz zu seinem Gesprächspartner Ariste nicht bloß die stille, sondern auch die stürmische See als reizendes Spektakel auffasst: Il me semble que la mer n’est jamais si belle que dans sa colere; lorsqu’elle s’enfle, qu’elle s’agite, qu’elle mugit d’une maniere effroyable, & qu’il se fait une espece de guerre entre les vents & les flots. Ces vagues qui s’entrechoquent avec tant d’impétuosité; ces montagnes d’eau et d’écume, qui s’élevent & qui s’abaissent tout d’un coup; ce bruit, ce désordre, ce fracas, tout cela inspire je ne sçay quelle horreur accompagnée de plaisir, & fait un spectacle également terrible & agréable. (6 f.)

Eugenes Äußerung ist bemerkenswert, da sie den in der Forschungsliteratur behandelten Formulierungen des angenehmen Grauens von Joseph Addison und John Dennis um Jahre vorgreift.202 Das ästhetische Wohlgefallen am Ungestümen und Irregulären in der Natur konnte sich demnach bereits vor Boileaus 1674 erschienener Longinübertragung entfalten. Was Bouhours in seinem Dialog über den Meerestopos thematisiert, ist »die Rechtfertigung der philosophisch diskriminierten passiones, der Leidenschaften, die in dieser Figur ausgesprochen wird: die reine Vernunft – das wäre die Windstille, die Bewegungslosigkeit des Menschen im Vollbesitz aller Besonnenheit« (Blumenberg, Schiffbruch 34). Freilich fungiert 202 

Auf seiner Italienreise hat John Dennis seine Eindrücke des schrecklicherhabenen Schauspiels der Alpennatur emphatisch in seinem Schreiben »Letter describing his crossing the Alps, dated from Turin, Oct. 25, 1688« zusammengefasst: »The sense of all this produc’d different motions in me, viz. a delightful Horrour, a terrible Joy, and at the same time, that I was infinitely pleas’d, I trembled« (380). Carsten Zelle bewertet die Briefstelle als einen »entscheidenden Schritt zur ästhetischen Neubewertung der schrecklichen Naturgestalt« (Grauen 85). Die Aufzeichnungen besäßen den entscheidenden Vorteil, »daß sie noch kaum von ästhetischer Topik vorgeprägt sein konnten« (Grauen 86). Jeffrey Barnouw weist jedoch in seinem Aufsatz »The Morality of the Sublime: To John Dennis« darauf hin, dass Dennis die Alpenbeschreibung auf Wunsch des Briefrezipienten verfasst habe (26 f.). Insofern sind auch die Behauptungen von Marjorie Nicolson – »[Dennis] had an experience for which nothing in his training had prepared him« (279) – und von Samuel Monk – »Dennis’s testimony is valid because it is honest and spontaneous, and it is not elicited by respect for cult and fashion« (207) – nicht vorbehaltlos anzuerkennen.

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die chaotische Natur an dieser Stelle nicht als offenkundige straftheologische Metapher. Sie ist vielmehr ein Sinnbild für die innere Befindlichkeit des Menschen. Das von Bouhours dargelegte Gottesbild wird bei Addison ebenfalls durch die Prädikate der inkommensurablen Güte und Weisheit des höchsten Wesens bestimmt. Obgleich der Essay On the Pleasures of the Imagination aufgrund der Popularität des Spectator (1711–1712) die Übertragung des Erhabenheitsbegriffs auf außergewöhnliche Naturphänomene beförderte, wurde in der Forschungsliteratur darauf hingewiesen, dass Addison die von ihm angeführten Naturgegenstände noch nicht als sublime bezeichnet habe. Samuel Monk hat sich diesbezüglich exemplarisch geäußert: »Greatness is identical with sublimity, but Addison prefers not to use the latter term, probably because of its association with rhetoric and purely critical writings« (57). Marjorie Nicolson schließt sich an diese Behauptung an; sie geht jedoch einen Schritt weiter, indem sie Addisons Differenzierung der »primary« und »secondary pleasures« mit dem primären »natural sublime« und qualitativ sekundären »rhetorical sublime« assoziiert (vgl. 310). Eine derartige Bifurkation des Erhabenheitsbegriffs ist mittlerweile auf Kritik gestoßen. David Morris beanstandet die von Nicolson veranschlagte Isolierung des literarischen Bereichs von der Naturerfahrung. Die Trennung beider Kulturen sei als eine Entwicklung zu beurteilen, die erst nachträglich ins 18. Jahrhundert projiziert wurde: »To the integrated vision of many eighteenth-century Englishmen, nature and art did not occupy separate realms but often appeared as aspects of a single object of consciousness« (6). Des Weiteren argumentiert Carsten Zelle mit dem Verweis auf die zwei Bücher Gottes, die heilige Schrift (Liber dei) und das Buch der Natur (Liber creaturarum) (Grauen 86), dass ein von literarischen Inhalten ungetrübter Blick überhaupt nicht existieren könne: »Mag auch Addison terminologisch zwischen ›Sublime‹ und ›Great‹ unterscheiden, so sind doch die unter beiden Begriffen gefaßten Inhalte […] identisch« (87). Die Unschärfe in Nicolsons Argumentation liegt in der methodologisch sperrigen Demarkierung zwischen den rhetorischen und den primär von der Natur erzeugten Ideen. Zu berücksichtigen ist, dass die ästhetische Rezeption der äußeren Natur, gerade wenn das Subjekt hinsichtlich des wahrgenommenen Unermesslichen den Bezug auf die metaphysische Sphäre des Übersinnlichen herstellt, wesentlich von den »secondary pleasures of the imagination« bzw. von Objekten befördert wird, »that once entered in our eyes, and afterwards called up into the mind either barely by its own operations, or on occasions of something without us, as statues or descriptions« (SP 416: 479).203 203 Uwe

Spörl argumentiert entgegen Marjorie Nicolsons Differenzierung zwischen dem rhetorischen und natürlichen Erhabenen, dass im frühen 18. Jahrhundert weder in England noch in Deutschland »die traditionellen rhetorischen Grundlagen der Poetologie, insbesondere die rhetorisch fundierte Wirkungslehre der Poesie, aufgegeben werden. Darüberhinaus ist sowohl auf Basis des Lockeschen Empirismus als auch des Wolffschen Rationalismus als psychologisch-

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Der Neuansatz in Addisons Essay liegt sicherlich in der entschiedenen Aufwertung der ästhetisch-sinnlichen Naturwahrnehmung. Sämtliche Eindrücke, an denen sich die Einbildungskraft ergötzt, haben ihren Ursprung in der Anschauung von Objekten, die sich unmittelbar oder mittels des Rekurses auf Erinnerungen oder fiktiven Bilder vollzieht. Demgemäß kommt es zur schematischen Zweiteilung zwischen den »primary« und »secondary pleasures of imagination«. Die zweckbefreite, kontemplative Beschäftigung der Einbildungskraft rechtfertigt Addison als eine Prophylaxe vor den schädlichen Seelenzuständen der Langeweile und Melancholie, die im Falle der Überreizung der Geistes- und Sinnesvergnügungen eintreffen könnten. Obschon die Erweiterung der pragmatischen Naturerkenntnis Vergnügen bereitet und grundlegend zur Vervollkommnung des Menschen beiträgt, so ist sie oftmals »with too violent a labour of the brain« verbunden und daher nicht jedermann zumutbar. Hingegen bereitet die Vergegenwärtigung von »delightful scenes, whether in nature, painting, or poetry« ein spontanes und intuitives Vergnügen: »We are struck, we know not how, with the symmetry of any thing we see, and immediately assent to the beauty of an object, without inquiring into the particular causes and occasions of it« (SP 411: 473). Die durch die Naturanschauung hervorgerufenen »primary pleasures« fasst Addison in Anlehnung an Longin (35.3) unter die Prädikate »uncommon«, »great« und »beautiful« zusammen (SP 412: 474). Treten diese mit etwas Schrecklichem in Verbindung, so kommt es zur Vermischung der konträren Gefühlsreaktionen »disgust« und »delight«. Der semantische Begriff »greatness« umschließt diejenigen Gegenstände, die sich dem Erkenntnisvermögen entziehen. Addisons typologische Gruppierung terrestrischer Naturgrößen findet Eingang in die Abhandlungen von Johann Jacob Bodmer, Moses Mendelssohn und Immanuel Kant und übt sofern einen folgenschweren Einfluss auf die Begriffskonstituierung des Erhabenen im 18. Jahrhundert aus: By greatness, I do not only mean the bulk of any single object, but the largness of a whole view, considered as one entire piece. Such are the prospects of an open champaign country, a vast uncultivated desert, of huge heaps of mountains, high rocks and precipices, or a wide expanse of waters, where we are not struck with the novelty or beauty of the sight, but with that rude kind of magnificence which appears in many of these stupendous works of nature. Our imagination loves to be filled with an object, or to grasp at any thing that is too big for its capacity. (474)204 erkenntnistheoretischen Theoriebildungen kein direkter Bezug auf die Gegenstände der äußeren Natur möglich. Demzufolge ist die unspezifizierte Rede vom ›Erhabenen in der Natur‹ innerhalb eines so gearteten poetologischen oder ästhetischen Kontexts voreilig oder inkorrekt« (243). 204  Vgl. auch die folgende Übereinstimmung mit der von Reinhard Brandt übersetzten Aussage in der 35. Abteilung von Peri hypsous: »[Die Natur] hat deshalb unseren Seelen sogleich ein

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Im Unvermögen, die unermesslichen Weiten als ein Formganzes zu umfassen, empfindet das desorientierte Subjekt ein Moment des Stillstands, gefolgt von einem ekstatischen Erstaunen. Diesen emotionalen Ausnahmezustand charakterisiert Addison durchweg als ein positives, wenn nicht gar befreiendes Gefühlserlebnis.205 Als »new« und »uncommon« und »strange« bezeichnet er hingegen jene Naturphänomene, die hauptsächlich in fluider und kinetischer Form in Erscheinung treten. Dazu gehören u. a. Wasserfälle, Flussläufe, die aufkeimende Natur im Frühling und die wundersamen, bisweilen monströsen Verwandlungen in Ovids (43 v. Chr. – 17/ 18 n. Chr. ) Metamorphosen (um 1–8 n. Chr.). Das Ungewöhnliche vermag angenehm zu überraschen, erweckt die Neugierde und erquickt die durch den Habitus geprägten Sinne mit neuen Ideen. Selbst die in der Natur wahrgenommenen Mängel lässt es in einem positiveren Licht erscheinen: »It is this that bestows charms on a monster, and makes even the imperfections of nature please us« (474). Am unmittelbarsten wird die Seele jedoch vom Schönen affiziert. Es lässt jegliches, was groß und ungewöhnlich ist, vollendeter erscheinen; sämtliche Sinneskräfte werden in seiner Präsenz mit einer innigen Freude erfüllt. Ausschlaggebend ist, dass Addison die ästhetischen Kategorien unter drei von Gott vereinbarten Endzwecken subsumiert. Während das Schöne die Fortpflanzung der Lebewesen fördert, und das Ungewöhnliche zur Erweiterung des Erkenntnishorizonts anspornt, eröffnet sich mit der Kontemplation infiniter Größen ein Zugang zum unergründlichen Wesen Gottes: The Supreme Author of our being has so formed the soul of man, that nothing but Himself can be its last, adequate, and proper happiness. Because, therefore a great part of our happiness must arise from the contemplation of his being, that he might give our souls a just relish for such a contemplation, he has made them naturally delight in the apprehension of what is great and unlimited. (SP 413: 475)

Addisons erörterte »pleasing motion of the mind« findet ihre Erfüllung in »the occasion of admiring the goodness und wisdom of the first Contriver« (SP 413: 475). Das höchste Wesen besticht wie seine Schöpfung durch eine unermessliche Mannigfaltigkeit, die das beschränkte Subjekt mit Demut und Bewunderung, aber nicht mit Schrecken erfüllt. Addison grenzt in seinem Essay die bedrohlichen Naunzähmbares Verlangen eingepflanzt nach allem jeweils Großen und nach dem, was göttlicher ist als wir selbst« (35.2). 205  »We are flung into a pleasing astonishment at such unbounded views, and feel a delightful stillness and amazement in the soul at the apprehension of them« (SP 412: 474). Eine gedankliche Nähe zur befreienden Himmelsbetrachtung in Fontenelles Gespräch von Mehr als einer Welt ist unübersehbar. Johann Jacob Bodmers Beschreibung des Großen in der Critische Betrachtungen über die poetischen Gemählde der Dichter wurde grundlegend von Fontenelle und Addison bestimmt: »Wenn auch gleich ein Gegenstand so groß ist, daß das Gemüthe sich darinnen verliehrt, so sezt es dieser Verlust selbst in einen Stillstand und eine Entzückung seiner Kräfte, welche von einem feinen Ergetzen gefolget wird« (212).

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turgewalten mehrheitlich aus. Ganz im Sinne der cartesianischen Naturauffassung distanziert er sich von der altertümlichen Auffassung einer durch numinose Kräfte bestimmten Natur. Während der dunklen und abergläubischen Zeiten wurden ­»pious frauds« dazu benutzt, die Menschen zu erschrecken und zum Gehorsam zu bringen: »Our forefathers looked upon nature with more reverence and horror, before the world was enlightened by learning and philosophy; and loved to astonish themselves with the apprehensions of witchcraft, prodigies, charms, and enchantments« (SP 419: 483). Trotzdem soll die äußere Natur nicht mit kalter Indifferenz veranschaulicht werden: »Things would make but a poor appearance to the eye, if we saw them only in their proper figures and motions« (SP 413: 475). Addison verweist auf die spekulative Einsicht der modernen Philosophen wie John Locke (1632–1704), dass die wahrgenommenen Qualitäten der Gegenstände (Licht und Farben) aus den »ideas of the mind« hervorgehen und keine Existenz in der Materie besitzen (476).206 Durch den Täuschungseffekt der Einbildungskraft, die das Universum mit »supernumerary ornaments« ausstattet und uns die »imaginary glories in the heavens and in the earth« entdecken lässt, wird der von der Ratio ausgetriebene Naturzauber wieder aktiviert (475). Das metaphysische Grundprinzip eines vom göttlichen Plan durchdrungenen Weltgefüges bleibt auf diese Weise erhalten. Für unseren Zusammenhang ist hervorzuheben, dass Addison statt der unmittelbaren Wahrnehmung die künstlerische Nachahmung von Objekten bevorzugt, die »terror« und »pity« erregen und mit »violence« den Rezipienten affizieren: »For, in this case, we are at once warned and enlightened, so that the pleasure becomes more universal, and is several ways qualified to entertain us« (SP 418: 482). Also nicht das movere bzw. das Pathetische der Dichtkunst, sondern das temperierte delectare ist ausschlaggebend. Die Verstandeskräfte bedürfen der sanften Schulung und nicht der Vereinnahmung durch gewaltsame Sinneseindrücke.207 Ihre angemessene Anschauung finden die ungestümen Naturkräfte in der künstlerischen Mimesis. Insofern sind die »secondary pleasures« der Kunst keineswegs als quali206 

Vgl. dazu Spörl 241. ist sicherlich nicht ohne Interesse, dass in der Nachfolge von Addisons Pleasures of Imagination John Baillie (†1743) das einfache und unvermischte »Sublime« von dem Pathetischen abgrenzt. In seinem Essay on the Sublime (1747) ist das Große und Weite ebenfalls konstituierend für den von ihm ausgeführten Erhabenheitsbegriff. Folgendes Zitat verdeutlicht, dass das wahrnehmende Subjekt anhand der Assoziation die Merkmale des erhabenen Gegenstands in sich aufnimmt und dadurch sich selbst erhebt: »The Sublime, when it exists simple and unmixed, by filling the Mind with one vast and uniform Idea, affects it with a solemn Sedateness; by this means the Soul itself becomes, as it were, one simple grand Sensation. Thus the Sublime not hurrying us from Object to Object, rather composes than agitates, whilst the very Essence of the Pathetick consist in an Agitation of the Passions, which is ever effected by crouding into the Thoughts a thousand different Objects, and hurrying the Mind into various Scenes« (33). 207  Es

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tativ sekundär abzuwerten, da sie »scenes und prospects« vergegenwärtigen, die die primären Eindrücke der Natur prägen (SP 415: 477). Inwiefern die Erfahrung von Naturgefahren durch literarische Bilder vorbestimmt ist, lässt sich an Addisons Reminiszenzen über die stürmische Seefahrt von Monaco nach Genua im 489. Stück des Spectator ablesen: I cannot see the heavings of this prodigious bulk of waters, even in a calm, without a very pleasing astonishment; but when it is worked up in a tempest, so that the horizon on every side is nothing but foaming billows and floating mountains, it is impossible to describe the agreeable horror that rises from such a prospect. A troubled ocean, to a man who sails upon it, is, I think, the biggest object that he can see in motion, and consequently gives his imagination one of the highest kinds of pleasure that can arise from greatness. I must confess it is impossible for me to survey this world of fluid matter, without thinking on the hand that first poured it out, and made a proper channel for its reception. Such an object naturally raises in my thoughts the idea of an Almighty Being, and convinces me of its existence as much as a metaphysical demonstration. […] As I have made several voyages upon the sea, I have often been tossed in storms, and on that occasion have frequently reflected on the descriptions of them in ancient poets. I remember Longinus highly recommends one in Homer, because the poet has not amused himself with little fancies upon the occasion, as authors of an inferior genius, whom he mentions, had done, but because he has gathered together those circumstances which are most apt to terrify the imagination, and which really happen in the raging of a tempest. It is for the same reason that I prefer the […] description of ship in a storm, which the Psalmist has made […]. [W]hat can be nobler than the idea it gives us of the Supreme Being thus raising a tumult among the elements, and recovering them out of their confusion; thus troubling and becalming nature? (SP 489: 560)

Die Schilderung des Seesturms kann als eine Übereinkunft des Großen mit dem Ungewöhnlichen aufgefasst werden. Beide korrespondierenden Qualitäten – »greatness« und »motion« – sind in der Textstelle vorhanden. Umgeben von den bedrohlichen Wasserwogen stoßen Addisons Gedanken auf die anthropomorphe Vorstellung eines »Almighty Being«, das einen direkten Einfluss auf das Weltgeschehen nimmt. Der Bezug auf die archaische Gottheit, verdeutlicht durch den Verweis auf Longin, Homer und dem Psalmendichter, geschieht nicht vorbehaltlos. Addison sieht sich genötigt, die obige Betrachtung mit der Redewendung »I must confess« zu rechtfertigen. Zu betonen ist, dass er die erhabenen Naturgegenstände, wie Marjorie Nicolson ausgeführt hat, von Seiten der unermesslichen Ausdehnung (vastness) statt in der Vergegenwärtigung gewaltsamer bzw. bedrohlich anmutender Kräfte definiert (323). Sein Erhabenheitstheorem gründet sich prinzipiell auf das Bewusstwerden der defizitären Verstandeskräfte. Mit der Kultivierung der Einbildungs-

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kraft und der damit verbundenen Erkenntniserweiterung der inneren und äußeren ­Natur soll dieser Mangel kompensiert werden: »A man of polite imagination«, konstatiert Addison, vermag selbst »the most rude uncultivated parts of nature« als ergötzliche Objekte zu rezipieren (SP 411: 473). Demzufolge geht mit Addisons ästhetischem Programm eine Absicht einher, die auf die Domestizierung bzw. Beherrschung der sinnlichen Natur ausgerichtet ist. Die unmittelbare Anschauung gewaltsamer Naturkräfte überspannt jedoch den angemessenen Rahmen der Leidenschaftserregung. Statt der Vorstellung eines weisen »Supreme Authors« signifizieren sie den Schrecken einer unberechenbaren Gottesmacht. Grundsätzlich ergibt sich der agreeable horror aus den Naturkalamitäten bloß gefiltert in der fiktionalen oder historischen Vermittlung. Die eidetische Vergegenwärtigung des Ungestümen und die gewaltsame Gefühlsaffizierung nehmen hingegen einen zentralen Stellenwert in den poetologischen Abhandlungen von John Dennis, Johann Jacob Bodmer und Michael Conrad Curtius ein. Im folgenden Abschnitt wird aufgezeigt, inwiefern sie bemüht waren, die Lücken einer ratiozentrierten Naturauffassung abzustecken und die topischen Bilder verheerender Naturumwälzungen im Hinblick auf eine aufgeklärte Dichtkunst theoretisch zu untermauern.

3. Der schreckliche Gott in der Natur: die wirkungsästhetische Akzentuierung des Schrecklicherhabenen in den Poetiken der Frühaufklärung a) Ravishment and Astonishment: das Erhabene in den kritischen Abhandlungen von John Dennis John Dennis’ kritisches Oeuvre nimmt in der Konstituierung des Erhabenheitsbegriffs im 18. Jahrhundert einen herausragende Stelle ein. Das Pathetische, die Affizierung heftiger Leidenschaften, avanciert zum normativen Kriterium seiner kritischen Dichtungstheorie. Wie Klaus Dockhorn erörtert hat, bezieht sich der Engländer auf »die rhetorische Affektenlehre vom ›conciliare‹ und ›movere‹, die er mit der Religion verbindet, an die er dabei aber viel weniger denkt vom Standpunkt der Wahrheit als vom Standpunkt der Wirkungskraft« (89).208 Dadurch gewinnen die der belle nature entgegen gesetzten Naturphänomene an Zugkraft. Bedeutend ist, dass Dennis in seinen beiden bedeutendsten Kritiken Advancement and Refor208  Marjorie

Nicolsons Einschätzung von Dennis’ Beitrag zur Entwicklung des Erhabenheitsbegriffs gilt es zu revidieren, weil sie den bleibenden Einfluss der Rhetorik unterschätzt: »[…] he based his conception not upon rhetorical theories but upon his own experience and upon attitudes native to the English, almost unknown to the French« (281). Mit »his own experience« meint sie Dennis’ Alpenüberquerung.

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mation of Poetry (1701) und The Grounds of Criticism in Poetry (1704) Aspekte der Erhabenheitserfahrung aufgreift, die bis zur kantischen »Analytik des Erhabenen« bestimmend sind. Insbesondere seine psychologisierenden Betrachtungen über die Bewegung der Seelenkräfte und der mithergehende »sense of the greatness of the human soul« sind zum Zeitpunkt ihres Erscheinens als innovativ zu werten (vgl. Monk 46f f.). Insofern ist eine ausführliche Darstellung seiner ästhetisch-theoretischen Neuansätze, die in den Abhandlungen der deutschen Aufklärung weitergesponnen werden, von Nöten. Im Vorwort zu seiner Advancement and Reformation of Poetry beharrt Dennis auf der strikten Befolgung von Regeln, um die notwendige Vollkommenheit in den Künsten zu gewährleisten. Diese Regeln haben ihren Grund in der Natur. Eine noble Kunst wie die Poesie soll demzufolge als »an exact Imitation of Nature« in Erscheinung treten (I 202).209 Natur bedeutet für Dennis »nothing but that Rule and Order, and Harmony, which we find in the visible Creation« (I 202). Sein Naturbild deckt sich mit dem naturphilosophischen Konzept eines vernünftig zusammengesetzten Weltgefüges: As Nature is Order and Rule, and Harmony in the visible World, so Reason is the very same throughout the invisible Creation. For Reason is Order, and the Result of Order. And nothing that is Irregular, as far as it is Irregular, ever was, or even can be either Natural or Reasonable. (I 202)

Alles, was gegen die von Gott verordneten Naturgesetze verstößt, muss dem Menschen widernatürlich und abscheulich erscheinen. Ebenso ist eine sich den Vernunftregeln widersetzende Dichtkunst als eine Aberration zu verneinen 210 Den skeptischen Einwurf, dass das Metaphysikkonzept eines harmonischen Naturhaushalts in Widerspruch zu den in der Erfahrungswelt wahrgenommenen Irregularitäten stehe, konterkariert Dennis mit dem Verweis auf die providentia Dei. Gottes Schöpfung wird keineswegs von kontingenten Kräften beherrscht. In Anbetracht des vollkommenen Naturganzen – Dennis’ Malitätsbonisierung gründet sich auf die bewährte Strategie des distanzierenden Weitblicks – sind die bisweilen vorkommenden Übel als uneigentlich zu beurteilen: 209  Zitiert

wird nach John Dennis. The Critical Works of John Dennis. Hrsg. von Edward Niles Hooker. 2 Bde. Baltimore: Johns Hopkins UP, 1939/43. 210  »But, as both Nature and Reason, which Two, in a larger Acceptation, is Nature, owe their Greatness, their Beauty, their Majesty, to their perpetual Order; for Order at first made the Face of Things so beautiful, and the Cessation of that Order, would once more bring in Chaos; so Poetry, which is an Imitation of Nature, must do the same Thing. It can neither have Greatness or Real Beauty, if it swerves from the Laws which Reason severely prescribes it, and the more Irregular any Poetical Composition is, the nearer it comes to Extravagance and Confusion, and to Nonsense, which is nothing« (I 202).

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But, as in some of the numberless Parts, which constitute this beauteous All, there are some appearing Irregularities, which Parts, notwithstanding, contribute with the rest, to compleat the Harmony of Universal Nature; and as there are some seeming Irregularities, even in the wonderful Dispensations of the Supreme and Sovereign Reason, as the Oppression of the Good, and Flourishing of the Bad, which yet at the Bottom are rightly adjusted, and wisely compensated, and are purposely appointed by Divine Fore-knowledge, for the Carrying on the profound Designs of Providence; so, if we may compare great Things with small, in the Creation of the accomplish’d Poem, some Things may at first Sight be seemingly against Reason, which yet at the Bottom, are perfectly regular, because they are indispensably necessary to the admirable Conduct of a great and just Design. (I 202 f.)

Hervorzuheben ist, dass Dennis das Bestreben der Philosophie und insbesondere des Deismus, die Existenz Gottes und sein Wirken in der Welt gemäß allgemeingültigen Vernunftgründen darzulegen, abstreitet: »[B]efore a Man can be a Deist effectually, he must be convinc’d of the Being of a God by Reason, and must be convinc’d, by the same Reason, that the World is govern’d by God.« Nur eine Minderheit verfügt über die Vernunftkräfte und die erforderliche Bildung, um zu einer derartigen Einsicht zu gelangen. Eine ständeübergreifende Religiosität basiert stattdessen auf der »Divinity of Relevation«, die aufgrund wundersamer Ereignisse überzeugt. Wunder, so konstatiert Dennis, seien für alle Menschen nachvollziehbare Beweise, »because they speak to the Passions, and appeal to the Senses« (I 259). »True Religion« bzw. das Christentum ist die Prämisse, auf die sich Dennis’ Reform der Dichtkunst abstützt. Mit der Einverleibung der Heiligen Schrift in das poetologische System erschließt sich für die modernen Dichter die Möglichkeit, die überragenden Werke aus der Antike zu überflügeln. John Miltons (1608–1674) Versepos Paradise Lost (1667) preist Dennis als den vorläufigen Höhepunkt der christlichen Poesie. Diesbezüglich verwirft er die in Boileaus Art poétique geäußerte Kritik, le merveilleux chrétien sei aus der Dichtkunst zu verbannen: »[True Religion] is more favourable to Poetry than Paganism, or Philosophy or Deism« (I 252).211 Das Wundersame, das den geordneten Naturverlauf Übersteigende, führt Dennis als einen unabdingbaren Topos ein, da es die von ihm anvisierte Grundabsicht der Poesie, das Subjekt enthusiastisch zu stimmen, entgegenkommt. Dieser Enthusiasmus wird nicht durch die rational erschließbaren, sondern durch die verborgenen Ursachen der Gegenstände geweckt: »He who is astonish’d, is moved by the secret Causes of Things, which are too high or too deep for his Comprehension« (I 215). Das Inkommensurable gibt Anstoß zu großen Gedanken, die ihrerseits von heftigen Affekten begleitet werden. Dementsprechend nimmt die Leidenschaftserre211 

Vgl. Morris 43.

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gung in Dennis’ Dichtungstheorie prinzipiell einen gewichtigeren Stellenwert als »Harmony« ein, weil jene ein größeres und dauerhafteres Vergnügen zu bereiten vermag: »For Passion can please without Harmony, but Harmony tires without Passion« (I 215). Übertragt man diesen Gedankengang auf die äußeren Naturgegenstände, so wird deutlich, dass für das ästhetische Wohlgefallen die Perzeption einer Harmonie nicht das ausschlaggebende Kriterium ausmacht. Ihr unwiderstehlicher Reiz rührt vielmehr von den wundersamen, die habituelle Betrachtungsweise durchschlagenden Merkmalen her. Hierdurch erschließt sich der Ansatzpunkt, an dem die unschönen und gewaltsamen Naturphänomene sich unter den Begriff des Schrecklicherhabenen subsumieren lassen. Dennis’ Befürwortung des durch die Poesie hervorgerufenen Enthusiasmus steht in Kontrast zum klassizistischen Ideal der Kontemplation, die statt der Entfesselung die Eindämmung der Leidenschaften befürwortet. (vgl. Barnouw 30) Die heftigen Gemütsaffekte werden nicht marginalisiert, da sie wesentlich zur Religiosität und somit zur Glückseligkeit beitragen. Statt des aristotelischen thaumazein, das durch die gesteigerte Erkenntnis in athaumastia (Verwunderungslosigkeit) münden soll, befürwortet Dennis den platonischen Begriff des Staunens, der die Steigerung des Affekts (eklêpsis) zum Ziel hat. In dieser Hinsicht scheiden sich die Philosophen von den Nichtphilosophen kraft ihrer Fähigkeit zum höchsten Erstaunen, das die Erkenntniskräfte zum »wahren Sein« der Ideen emporhebt (vgl. Matuschek 22 f.). Jeglicher Versuch, die »Passions« zugunsten der souveränen Vernunft zu unterbinden, verurteilt Dennis als Verstoß gegen die natürliche Verfassung des Menschen.212 Im paradiesischen Originalzustand besaß das menschliche Wesen einen intuitiven Einblick ins Göttliche und war ständig mit glückseligen Leidenschaften erfüllt (I 256). Den Ursprung des Übels ortet Dennis traditionsgemäß in der willentlichen Auflehnung gegen die Abhängigkeit von Gott, die das folgenschwere Missverhältnis zwischen den intellektuellen und animalischen Kräften zur Folge hatte: All that we can guess by Reason, is this, That since the Misery of Man at present, lies in the Conflict that he has within himself, and in the Civil War which is maintain’d in his Faculties, that his original Happiness consisted in the Peace and Agreement, and the Harmony that was between them, and that the Crime that caused his Unhappiness, was, in all likelihood, something that naturally and necessarily broke that Harmony and that Agreement. (I 255) 212 

»Nor is the Folly less of endeavouring to suppress the Passions, for neither they must be wholly suppress’d or restrain’d, but all the Passions being Natural, in the Condition in which Man is now, none of them can be wholly suppress’d without destroying the Man, nor can some of them be so much as moderated, without maintaining constantly in the Soul a very violent Conflict, because they were perfectly unrestrain’d in their original Natures« (I 258).

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Im erneuten Ausgleich zwischen den Vernunft- und Affektvermögen, ohne dass sie sich dabei gegenseitig ausgrenzen, erfüllt sich das menschliche Streben nach moralischer Vervollkommnung. Das wirksamste Mittel zur Wiedererlangung der verloren gegangenen Harmonie liefert das »Design of Poetry«, welches analog zum »Design of the True Religion« die Glückseligkeit des ganzen Menschen beabsichtigt (vgl. I 263 f.). Die Zweckbestimmung der Dichtkunst, die Glückseligkeit des Menschen zu befördern und der Zwiespalt zwischen der Vernunft und den Leidenschaften zu beheben, findet ihre Erfüllung im Erhabenen. In seiner Abhandlung Grounds of Criticism würdigt Dennis Longin neben Aristoteles und Hermogenes von Tarsos (161–180 n. Chr.) als wichtigste poetologische Autorität der Antike, wobei er den Erhabenheitsbegriff für seine Zwecke erweitert (vgl. I 358–363). Dennis entnimmt aus Peri hypsous die bedeutsame Stelle (7.2), dass die Seele durch das wahre Erhabene empor getragen werde, »and makes it conceive a greater Idea of it self; filling it with Joy, and with a certain noble Pride, as if it self had produc’d what it but barely reads« (I 360).213 Das Erhabene sei nichts anderes »but a great Thought, or great Thoughts moving the Soul from its ordinary Situation by the Enthusiasm which naturally attends them« (I 359). Da die »Religious Ideas« sich qualitativ auf oberster Stelle befinden, müssen sie auch als die einzig wahre Quelle des Erhabenen verstanden werden.214 Der Grund dafür liegt in Dennis’ kausallogisch strukturierter Affektenlehre, die besagt, dass die Intensität der Leidenschaften proportional mit dem qualitativen Inhalt der Ideen korreliere. Je höher die Idee, umso stärker werde auch die Affektbewegung ausfallen. Durchdrungen von den »Religious Ideas« schwingt sich die Seele empor zu Gott, ihrem »primitive Object«, »[s]o that Reason and Passion are of the same side, and this Peace between the Faculties causes the Soul to rejoice […]« (I 360). Im Zustand der Ekstase verstummt der »Civil War« der Ver213 

Dennis folgt an dieser Stelle Boileaus Longin-Übertragung: »Car tout ce qui est veritablement Sublime a cela de propre, quand on l’écoute, qu’il esleve l’ame, & lui fait concevoir une plus haute opinion d’elle mesme, la remplissant de joie & de je ne sçay quel noble orgueil, comme si c’estoit elle eust produit les choses qu’elle vient simplement d’entendre« (14 f.). Dennis’ und Boileaus Verweis auf die punktuelle Reflexion eines erhöhten Selbst, »a greater Idea of it self« bzw. »une plus haute opinion d’elle mesme«, ist bedeutend, insofern die Passage im griechischen Originaltext nicht darauf hindeutet. Reinhard Brandts Übersetzung folgt dem ursprünglichen Inhalt genauer: »Denn von Natur wird unsere Seele vom wirklichen Erhabenen emporgetragen, sie empfängt einen freudigen Auftrieb [γαῦρόν τι ἀνάστημα λαμβάνουσα] und wird erfüllt von Lust und Stolz, als habe sie, was sie hörte, selber erzeugt« (7.2). (Hervorhebungen von C. W.). 214  Dennis beklagt den Umstand, dass Longin die wahre Quelle des Erhabenen in der Religion nicht deutlich erkannt habe: »Thus the Definition which we have laid down being, according to Longinus’s own Doctrine, the true Definition of the Sublime, and shewing clearly the thing which he has not done, nor given any Definition at all of it; it seems plain to me, that he had no clear and distinct Idea of it; and consequently Religion might be the thing from which ›tis chiefly to be deriv’d, and he but obscurely know it […]« (I 359 f.).

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mögen; die Kluft zwischen Sinnes- und Vernunftwesen hebt sich augenblicklich auf; das Subjekt erahnt im erhöhten Selbstwertgefühl den eudämonischen Zustand vor dem Sündenfall. Wirft man einen Blick auf herbeigezogenen Gegenstände, die gemäß Dennis in der menschlichen Psyche starke Leidenschaften auslösen, so trifft man auf eine breite Palette außergewöhnlicher Naturphänomene.215 Während die »Vulgar Passions« durch die Objekte selbst oder von aus dem ordinären Weltenlauf stammenden Ideen hervorgerufen werden, bewirken die von den außergewöhnlichen Dingen herrührenden Ideen sechs verschiedene »Enthusiastick Passions«: »Admiration, Terror, Horror, Joy, Sadness, Desire« (I 338).216 Im Unterschied zu den »Vulgar Passions« schränkt Dennis den Kreis der Menschen, die für die »Enthusiastick Passions« empfänglich sind, stark ein: »[T]he Enthusiastick are more subtle, and thousands have no feeling and no notion of them« (I 339). Um die durch »great Ideas« erregten »great Passions« überhaupt wahrnehmen zu können, setzt der Engländer den Besitz einer »great Soul« voraus.217 Ersichtlich wird wiederum der Einfluss des plato215 

Der erstarkende Wirkungsbereich der neuen Wissenschaften zeichnet sich darin ab. Für den modernen Dichter, so bekräftigt Dennis, sei das von der Naturphilosophie vermittelte Wissen unerlässlich: »That Natural Philosophy is absolutely necessary to a Poet, not only that he may adorn his Poem, with the useful Knowledge it affords, but because the more he knows the immense Phænomena of the Universe, the more he will be sure to admire them. For the more we know of Things that are never to be comprehended by us, the more that Knowledge must make them appear wonderful« (I 350). 216 Vgl. Dennis’ Differenzierung zwischen »ordinary Passions« und »Enthusiasm« in der Abhandlung Advancement and Reformation of Poetry: »There must be Passion then, that must be distinct from ordinary Passion, and that must be Enthusiasm. I call that ordinary Passion, whose Cause is clearly comprehended by him who feels it, whether it be Admiration, Terror or Joy; and I call the very same Passions Enthusiasms, when their Cause is not clearly comprehended by him who feels them (I 216). Edward Niles Hooker (1902–1957) vermutet in seinen »Explanatory Notes« zu den Grounds of Poetry, dass Dennis die ansetzende Dualisierung der ästhetischen Kategorien vorwegnimmt. In einem »Letter To Mr. *** Dated Oct. 1, 1717« erläutert Dennis in Anlehnung an Horaz’ Ars Poetica (V. 99–100) den Unterschied zwischen pulchrum und dulce: »After all, the pulchrum in Poetry moves certainly as the dulce, but then the first moves the Enthusiastick Passions, as the latter does the vulgar ones« (II 402). Hooker argumentiert aufgrund der angeführten Textstellen, Dennis habe die notwendige Trennung zwischen dem Schönen und Erhabenen bereits vor Addison ins Auge gefasst: »The dulce arouses – as the word indicates – the softer, tenderer, human emotions (the vulgar passions), and corresponds to the Beautiful; whereas the pulchrum arouses the vaster, more mysterious emotions (the enthusiastic passions), and corresponds to the Sublime« (I 516). Sofern widerspricht er Samuel Monks Behauptung, dass Dennis nicht zwischen den beiden Kategorien differenziert habe: »But his interest in the sublime, with its powerful emotions and overwhelming effects, left him no time to consider the beautiful, or to make the inevitable separation of the two categories. As a matter of fact, his sublime is simply the highest beauty, not a separate experience different from one’s perception of the beautiful« (54). 217  »[T]he more the Soul is capable of receiving Ideas whose Objects are truly great and wonderful, the greater will the Enthusiasm be that is caus’d by those Ideas. From whence it follows, that the greater the Soul is, and the larger the Capacity, the more will it be mov’d by religious

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nischen Staunensbegriffs, der sich von der Verwunderung der ungebildeten Masse absetzt. Die unterschiedliche Wirkung beider »Passions« illustriert Dennis am Beispiel eines Gewitters: So Thunder mention’d in common Conversation, gives an Idea of a black Cloud, and a great Noise, which makes no great Impression upon us. But the Idea of it occurring in Meditation, sets before us the most forcible, most resistless, and consequently the most dreadful Phænomenon in Nature: So that this Idea must move a great deal of Terror in us, and ›tis this sort of Terror that I call Enthusiasm. And ›tis this sort of Terror, or Admiration, or Horror, and so of the rest, which express’d in Poetry, make that Spirit, that Passion, and that Fire, which so wonderfully please. (I 339)

Die Perzeption äußerer Naturphänomene wird maßgeblich durch den Duktus ihrer Wiedergabe geprägt. Von der profanen oder empirischen Vergegenwärtigung eines Unwetters ist eine weniger enthusiastische Gefühlsaffizierung zu erwarten, als wenn sie mit den »secret Causes of Things« assoziiert wird.218 Dennis’ Affirmation der Affektsteigerung bricht mit dem aufklärerisch-rationalen Vorhaben, die bedrohlichen Naturgewalten zu entmystifizieren. Ihr Schrecken soll vielmehr mit dem Zusatz religiöser Ideen gesteigert werden: »[E]verything that is terrible in Religion is the most terrible thing in the World« (I 361). Dass es sich dabei um einen geschmackskonformen Darstellungsmodus handelt, bekräftigt der Engländer mit der Aussage, der Dichter errege mit den religiösen Ideen Leidenschaften »that are justly and reasonably rais’d« (I 339). Dennis’ Auflistung bewundernswerter und schreckenerregender Naturschauspiele nimmt die sich im Verlaufe des 18. Jahrhunderts konkretisierenden Ästhetikkategorien des Mathematisch-Erhabenen und des Schrecklicherhabenen bzw. Dynamisch-Erhabenen vorweg. Ideen, die sich an der Anschauung kosmischer Größen entzünden, »the Heavens and Heavenly Bodies, the Sun, the Moon, the Stars, and the Immensity of the Universe, and the Motions of the Heaven and Earth«, erregen einerseits »Enthusiasm of Admiration« (I 348). Das gleiche gilt für die Sinneseindrücke der »Sublunary Things« wie die »four Elements, Water, Earth, Air, Fire; Ideas; which are not only great and wonderful, but which almost alone are great and wonderful to a great and wise Man; and which never fail to move very strongly, unless it is for want of due Reflection, or want of Capacity in the Subject« (I 340). 218 In Advancement and Reformation of Poetry erörtert Dennis die unterschiedliche emotionale Wirkung, die von »true Divine Poetry« und »Pagan Poetry« ausgehe, anhand von Textbeispielen aus dem Alten Testament und dem ersten Buch von Vergils (70–19 v. Chr.) Georgica (um 29 v. Chr.). Die im 18. Psalm beschriebene Darstellung des Erdbeben bringenden Gottes (Ps. 18.6–15) sei Vergils Beschreibung zerstörerischer Naturkräfte (V. 322–334) überlegen, da sie die »Idea of infinite Wrath« plastisch zu schildern weiß (I 268). »[Virgil] falls very much short of the Force of the Psalmist; for he makes the Trembling of the Earth, and the Nodding of the Mountains, to be only the natural necessary Effects of Mechanical Motion« (I 269).

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Winds and Meteors of all sorts, Seas, Rivers, Mountains«, denn diese »Wonders of the Universe […] shew the Attributes of the Creator, or relate to his Worship« (I 350).219 Andererseits gehört »Terror«, wenn er richtig angewendet wird, zu den wirksamsten Mitteln, der Poesie einen großartigen Geist (»a great Spirit«) zu verleihen (I 355). Die durch den Schrecken ausgelösten Gemütsbewegungen werden analog zum obigen Schema der »Vulgar Passions« und »Enthusiastick Passions« in »Common Terror« und »Enthusiastick Terror« klassifiziert: Fear then, or Terror, is a Disturbance of Mind proceeding from an Apprehension of an approaching Evil, threatening Destruction or very great Trouble either to us or ours. And when the Disturbance comes suddenly with surprize, let us call it Terror; when gradually, Fear. Things then that are powerful, and likely to hurt, are the Causes of common Terror; and the more they are powerful and likely to hurt, the more they become the Causes of Terror: which Terror, the greater it is, the more it is join’d with Wonder, and the nearer it comes to Astonishment. Thus we have shewn what Objects of the Mind are the Causes of common Terror, and the Ideas of those Objects are the causes of Enthusiastick Terror. (I 356.)

Die Textpassage verdeutlicht, dass für die Erzeugung des »Ethusiastik Terror« die unmittelbare Perzeption eines unvorhergesehenen Übels nicht ausreicht. Vielmehr ist dafür der Gedankensprung zu den Ideen wunderbarer und übermächtiger Gegenstände notwendig, die den Schecken mit dem Staunen verschränken. Bezeichnenderweise verknüpft Dennis den »Enthusiastick Terror« flächendeckend mit den im longinischen Traktat angeführten Beispielen schrecklicher Ideen: »All the Examples that Longinus brings of the Loftiness of the Thought, consist of terrible Ideas« (I 361). Die gewaltsame Wirkung des Erhabenen, dessen unwiderstehliche Kraft den Zuhörer überraschend überwältigt und zum Erstaunen bringt, koinzidiert weitgehend mit derjenigen des Schrecklichen: For the Ideas which produce Terror, are necessarily accompany’d with Admiration, because ev’ry thing that is terrible, is great to him to whom it is terrible; and with Surprize, without which Terror cannot subsist; and with Astonishment, because every thing which is very terrible, is wonderful and astonishing: and as Terror is perhaps the violentest of all Passions, it consequently makes an Impression which we cannot resist, and which is hardly to be defaced […]. (I 361)220 219  Dennis verweist wie die Physikotheologen auf die beliebte Stelle in Paulus’ (um 5–64 n. Chr.) Römerbrief: »The […] Ideas that are most proper to produce the Enthusiasm of Admira­ tion, are the great Phænomena of the Material World; because they too lead the Soul to its Maker, and shew, as the Apostle says, his eternal Power and Godhead […]« (I 348). Vgl. Romans 1, 20: »For the invisible things of him [God] from the creation of the world are clearly seen, being understood by the things that are made, even his eternal Power and Godhead.« 220 Dennis beruft sich auf die Formulierung Longins, um ausdrücklich die gewaltsame

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Neben übernatürlichen Erscheinungen sind es vor allem Darstellungen von Desastern und wilden Tieren, die Anlass zum »Enthusiastick Terror« geben. Dennis’ weit gefächerte Schreckensliste beinhaltet »Gods, Dæmons, Hell, Spirits and Souls of Men, Miracles, Prodigies, Enchantments, Witchcrafts, Thunder, Tempests, raging Seas, Inundations, Torrents, Earthquakes, Volcanos, Monsters, Serpents, Lions, Tygers, Fire, War, Pestilence, Famine, etc.« (I 361) – Gegenstände also, die sich dem Machtbereich des Menschen widersetzen und im Prozess der aufklärerischen Furchtbewältigung dem Aberglauben zugerechnet oder in den Bereich der natürlichen Phänomene überführt werden. Entgegen dem deistischen Gottesbild erkennt Dennis den größtmöglichsten Schrecken in der alttestamentarischen Vorstellung des gestrengen und allmächtigen Gottes: »The greatest Enthusiastick Terror then must needs be deriv’d from Religious Ideas: for since the more their Objects are powerful, and likely to hurt, the greater Terror their Ideas produce; what can produce a greater Terror that the Idea of an angry God?« (I 356). Der universale Monarch äußert sich als Mysterium tremendum, das sich der Reduzierung auf Vernunftgründe entzieht. Ob die vom Schreckensobjekt ausgehende Gefahr reell oder imaginiert ist, macht für Dennis keinen wesentlichen qualitativen Unterschied aus (vgl. Zelle, Grauen 93) Ein von »violent Action or Motion« durchdrungener Anschauungsgegenstand vermag die Einbildungskraft derart zu erhitzen, dass sie das Reflexionsvermögen der Seele, das den Betrug (»Deceit«) entlarven könnte, zum Aussetzen bringt (I 362 f.). Mit der Aufwertung des Enthusiasmus verlieren die Vorbehalte gegen den illusionstechnischen Schein der Poesie ebenfalls an Zugkraft. Die wirkungsästhetischen Komponente der Dichtkunst, die Aufhebung des Realitätssinns, die Schilderung des Numinosen und die Erzeugung gewaltsamer Leidenschaften, die in der doctrine classique von minderer Bedeutung waren, gelangen in Dennis’ Wirkungspoetik zu neuer Prominenz. Festzuhalten ist, dass der Naturschrecken in seiner künstlerischen Vermittlung, sofern er mit der Idee des allmächtigen Richtergottes verknüpft wird, an Funktio­ nalität gewinnt. Die Poesie erweist sich im Unterschied zur trockenen Lehre der Philosophie als ein wirksameres Mittel, moraltheologische Wertvorstellungen zu vermitteln, da sie die Gewalt der Leidenschaften (»Violence of the Passions«) weit geschickter zu instrumentalisieren weiß (vgl. I 337). Im Vollzug der Erhabenheitserfahrung wendet sich die negative Empfindung des Bedrohlichen sich ins Positive. Natur des Erhabenen hervorzuheben: »For [Longin] tells us in the beginning of the Treatise, that the Sublime does not so properly persuade us, as it ravishes and transports us, and produces in us a certain Admiration mingled with Astonishment and with Surprize, which is quite another thing than the barely pleasing, or the barely persuading; that it gives a noble Vigour to a Discourse, an invincible Force, which commits a pleasing Rape upon the very Soul of the Reader; that whenever it breaks out where it ought to do, like the Artillery of Jove, it thunders, blazes, and strikes at once, and shews all the united force of a Writer« (I 359).

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Aufgrund der aktivierten Seelenkräfte verspürt das Subjekt einerseits die Ahnung einer höheren Präsenz in sich (die erhobene Seele) und außer sich (der erhabene Gott). Andererseits wird das Gemüt, das jene Gedanken generiert, im Gewahrwerden der eigenen außerordentlichen Leistung mit Stolz, Freude und Bewunderung erfüllt (vgl. I 217). Dieses spezifische Wohlgefallen lässt eine gedankliche Nähe zu René Descartes’ intellektueller Freude an der eigenen Seelentätigkeit vermuten,221 obzwar Dennis gerade nicht den Vorsatz des Franzosen teilt, eine ratiozentrierte Dominanz über die Leidenschaften zu kultivieren. Die in der Forschungsliteratur vertretene Meinung, die Appropriation des Longinischen Begriffs eines gewaltsamen Erhabenen behindere die Konstituierung eines eigenständigen, sich selbst behauptenden Subjekts, ist daher nur bedingt haltbar.222 Zu berücksichtigen ist, dass das Element der Selbsterhebung und Selbsttätigkeit, die Konzeption einer »greater Idea of it self«, wie sie Dennis in Anlehnung an Longin und Boileau herausgearbeitet hat, ebenfalls für die Formulierung eines subjektorientierten Erhabenheitsbegriffs in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bestimmend ist. Freilich trifft die innere Selbstbehauptung auf Schranken, solange der Bezugspunkt des Erhabenen in der absoluten Größe Gottes liegt. Die damit einhergehende Rückbesinnung auf die eigene Fallibilität bleibt weiterhin in den Betrachtungen von Johann Jacob Bodmer und Michael Conrad Curtius über die ungestüme Naturphänomene richtweisend.

b) Das Wunderbare und Erhabene in Johann Jacob Bodmers Critische Betrachtungen über die poetischen Gemählde der Dichter Der Zürcher Philologe Johann Jacob Bodmer hat sich schon früh mit dem Longinischen Traktat Vom Erhabenen befasst. In der Christian Wolff gewidmeten Vor221  Vgl.

folgende Stelle in Descartes’ Leidenschaften der Seele: »Ich füge weiter hinzu, daß es sich um etwas Gutes handeln muß, das die Eindrücke im Gehirn als der Seele zu eigen darstellen, um nicht diese Freude, die eine Leidenschaft ist, mit der rein intellektuellen Freude zusammenzuwerfen, die in der Seele allein durch ihre eigene Tätigkeit entsteht und die man eine angenehme Emotion, die in ihr selbst und durch sie selbst erregt wird, nennen kann, und die den Genuß von etwas Gutem enthält, das der Verstand als ihr zugehörig darstellt« (Art. 91). Weiterführend zu Descartes und die »intellektuelle Freude« siehe Carsten Zelles Beitrag »Mündigkeit und Selbstgefühl« 116–118. 222  Paul Barone bezeichnet das Konzept des hinreißend und gewaltsam wirkenden Erhabenen, das sich auf die Grundbestimmung Longins abstützt und von John Dennis befürwortet wird, als voraufklärerisch, weil es sich gegen die »aufklärerischen Grundwerte der Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstbehauptung« stemmt (136). James Kirwan hat in seiner Arbeit Sublimity (2005) hingegen aufgezeigt, dass die Steigerung enthusiastischer Leidenschaften nicht unbedingt dazu verwendet wurde, um das Selbstwertgefühl zu mindern: »The link between the sublime and enthusiasm, however, is generally made not in terms of how the sublime may cow the subject but rather in terms of the feeling of aggrandizement it inspires« (22).

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rede zur poetologischen Abhandlung Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungs-Krafft (1727) kündigen Bodmer und sein Mitstreiter Johann Jacob Breitinger (1701–1776) ein groß angelegtes, fünfteiliges Werk über die Vernünfftige Gedancken und Urtheile von der Beredtsamkeit an.223 Dem vorliegenden Teil über die Einbildungskraft sollten weitere Bände über den Scharfsinn und Witz, den guten Geschmack und die verschiedenen Dichtungsgattungen folgen. Für den letzten Band war eine gründliche Untersuchung über den »Tractat des Longinus« vorgesehen, die die »Schwächen seines Buches« ans Licht gebracht und dagegen »gantz neue Begrieffe von dem Erhabenen durch gültige Schlüsse« vorgestellt hätte. Das Erhabene wird in der Vorrede kurz als ein rhetorischer Terminus definiert: den »höchsten Grade der Vollkommenheit/ zu welchem die Seele in dem Punct der Wolredenheit hinauf steigen kan« (unpag.). Allerdings ist die großangelegte Longin-Kritik nicht zustande gekommen, da die Schweizer die Werkreihe in der angekündigten Form nicht vollendeten. Die kritische Aneignung des Traktats wurde stattdessen in vereinzelten Passagen in ihren dichtungstheoretischen Abhandlungen fortgesetzt. Mit dem aufklärerischen Bestreben Bodmers und Breitingers, die Dichtkunst einer breiteren bzw. weniger gebildeten Publikumsschicht schmackhaft zu machen, geht die Bereitschaft einher, die klassizistischen Normen einer ratiozentrierten Regelpoetik aufzubrechen. In diesem Sinne eignet sich das Erhabene und Wunderbare bestens dazu, sich der Herzen einer breiten Leserschaft zu bemächtigen und sie am Nutzen und Ergötzen literarischer Werke teilhaben zu lassen. Karl-Heinz Stahl hat diesen Sinneswandel folgendermaßen charakterisiert: Die Schweizer ziehen, ihrem totalen Publikumsbegriff gemäß, das ›Hertz‹ dem ›Verstand‹ vor, ihre Entscheidung ist der Gottscheds gerade entgegengesetzt. So helfen sie nicht nur, die klassizistische Vorstellung von der Dichtung als Nachahmung der ›schönen Natur‹ zu überwinden und Hässliches, Gräßliches, das Wirkung verheißt, in den Kreis poetischer Sujets aufzunehmen, sondern sie rücken damit auch eine ›Schreibart‹ in den Vordergrund: ›die pathetische, bewegliche oder hertzrührende‹. Unter den genera dicendi ist sie dem genus grande zuzurechnen. (135)

223 

Die Abhandlung wird in der Forschungsliteratur Bodmer und Breitinger zugeschrieben (vgl. dazu Baechtold 538). Gottsched und Carl Heinrich von Heineken (1707–1791) erkennen allerdings Bodmer die Autorenschaft zu. Ersterer äußert sich in der ersten Auflage der Critischen Dichtkunst (1730) wohlwollend über Bodmers gründliche Prüfung und Beurteilung über das Wunderbare, eine Würdigung, die in den nachfolgenden Editionen gestrichen wurde. Dieser hingegen beklagt in seiner Untersuchung von dem was Longin eigentlich durch das Wort Erhaben verstehe (1737) auf ironische Weise das Ausbleiben von Bodmers Schrift über Longins Traktat: »Jedoch ich bedaure, daß er die gelehrte Welt, welche nunmehro über tausend Jahr des Longins Schrifft für gülden gehalten hat, noch immer in ihrem Irrthume stehen läst (318). Vgl. dazu Torbruegge 341f.

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Im zweiten Teil des Journals »Discourse der Mahlern«, das die Schweizer nach dem Muster von Joseph Addisons »Spectator« gemeinsam in den Jahren 1721–1723 herausgaben, wird die für Bodmer so gewichtige Kategorie des Ungestümen in der Natur bereits erwähnt. Die verheerenden Naturkräfte werden als Korrektiv verstanden, das die Menschen dazu auffordert, sich ihrer pflichtmäßigen Tugendhaftigkeit zu besinnen. Nur allzu oft wirkt sich ein übermäßiges Glück im Leben korrumpierend aus und verleitet zur Hybris: Unvernunft und Lasterhaftigkeit sind die schwerwiegenden Folgen. Ganz nach dem moraldidaktischen Duktus aus den Bußpredigten ist ein hereinbrechendes Unglück »bequemer als die stärcksten Remonstrationen der Morale, die Menschen wieder aufzuwecken, und zu lehren an sich gedencken […]« (»Discourse« 2: 24). Die Notwendigkeit der Seelenerschütterung, die das verstockte Subjekt zur inneren Einkehr und zum Mitleiden bewegt, versinnbildlichen die Schweizer mit den nachstehenden typisierenden Schreckensszenarien: Der eine scheinet ein unpassionierter und den Schmertzen unausgesetzer Stoicus, er belacht die Thorheiten, zu welchen die Passionen verjähren, er weichet den Tod, biß daß ihn die Wiederwärtigkeit, und die Kranckheit empfindlich machet. Der andere glaubet niemals an Gott, als wann der Donner in sein Hause geschlagen hat, und die Flammen Wällen weise darüber zusammen stossen, ein andrer siehet ohne Mitleiden die Thränen einer Witwe die er aus dem Besitz ihrer Güter getrieben hat, und er höret ohne Bewegung die Klagen eines Seefahrers der Schiffbruch gelitten und nackend an das Land geschwommen, biß daß ein gleicher Fall ihn gleiche Thränen und gleiche Klagen auspresset. (»Discourse« 2: 24)

Anhand dieser Fallbeispiele soll sich zeigen, »wie das Unglück nützlich ist, indem es Passionen der Menschen und ihre Begriffe von sich selbst in die Ordnung stellt, […] daß derjenige nicht unglücklich gewesen, der von der Wiederwärtigkeit vernünftiger und tugendhafter gemachet worden« (»Discourse« 2: 24). Die starke Affizierung des Gemüts, deren Grund im Demutsbekenntnis vor dem unfehlbaren Gott besteht, ist ebenfalls in Bodmers dichtungstheoretischem Hauptwerk Critische Betrachtungen über die poetischen Gemählde der Dichter federführend.224 Übereinstimmend zur englischen Rezeptionsästhetik zeichnet sich darin die Wertschätzung der äußeren Natur als poetischen Topos und die deutliche Aufwertung der Sinnesvermögen ab.225 Ganz im Sinne der physikotheologischen 224  Zitiert

wird aus Critische Betrachtungen über die poetischen Gemählde der Dichter. Mit einer Vorrede von Johann Jacob Breitinger. Zürich: Conrad Orell und Comp., 1741. 225  Bereits im 24. Discours des dritten Teils der »Discourse der Mahlern« (1721–1723) hat sich Bodmer über die ästhetische Betrachtung der Natur wohlwollend geäußert. Hervorzuheben ist sein abschätziges Urteil gegen das Stadtleben: »Ich ziehe das Land der Stadt so weit vor, als ich die Natur höher schätze weder die Kunst. Meine Imagination liebet den Himmel in seiner Weite

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Naturvorstellung sind die wahrgenommenen Naturphänomene Teil eines harmonischen Naturganzen, in dem sich die Attribute Gottes widerspiegeln. Obgleich Bodmer vor den Auswüchsen der Phantasie warnt, die sich losgelöst von der Leitung des Verstandes ins »öde Reich des Unmöglichen« verirren (Betrachtungen 15), verbannt er das Wunderbare nicht aus der Dichtkunst. Mit der Hervorkehrung der wirkungspoetischen Komponente avancieren Schreckensereignisse wie Vulkanausbrüche, Seestürme und Ungewitter zu einem legitimen Topos für die poetischen Gemälde, sofern das von diesen wundersamen Ausnahmeerscheinungen ausgehende Pathos das Gemüt unwiderstehlich vereinnahmt. Je mehr sich die Kunstdifferenz zwischen Urbild und Abbild verschleift – »in so weit daß wir eben die Regungen in der Brust empfinden, welche jene durch ihre würckliche Gegenwart veranlassen würden« – desto intensiver wird auch die Leidenschaftserregung ausfallen (135). Als wesentlichen Anstoß für das dabei verspürte Vergnügen nennt Bodmer die Bewunderung für die Kunstfertigkeit des Dichters, der die göttliche Naturschöpfung mit seinen eigenen vortrefflichen Werken nachzuahmen vermag. Somit entspringt das Wohlgefallen keiner spontanen Neigung des Affekts, sondern dem vergleichenden Urteil, »welche[s] die Uebereinstimmung zwischen den Urbildern und der Nachahmung wahrnimmt« (138). Gegenstände und Begebenheiten, die wirklichkeitsnah beim wahrnehmenden Subjekt Furcht und Abscheu auslösen, wirken in ihrer künstlerischen Verarbeitung anziehend oder gar angenehm. Bodmer begründet das Vergnügen am Schrecken mit dem Verweis auf die rezipierte Kunstdifferenz.226 Dichtungstheoretische Rückendeckung liefert dabei das Zitat aus dem vierten Kapitel der aristotelischen Poetik:

und die Natur in ihrer Diversitet anzuschauen. Ich wolte gerne, daß diejenige, die in der Stadt eingemauert sind, eine Idee von denen Gedancken hätten, auf die mich offt die Beschauung dieser schönen Natur auf dem Lande führet« […] (185). Um den Stadtbewohnern einen Eindruck des harmonischen Naturhaushalts zu verschaffen, beruft sich Bodmer nicht auf eigene Beobachtungen, sondern führt eine zu diesem Zweck verfertigte Übersetzung der lebhaften Schreibart Ciceros an. Dabei handelt es sich um eine Textstelle aus De natura deorum (2, 120–130), worin der theologische Standpunkt der Stoa repräsentativ dargelegt wird. 226  Dieselbe Überlegung lässt sich auf Bodmers 20. Discours des ersten Teils der »Discourse der Mahlern« zurückführen: »Hingegen ergetzet uns auch die Beschreibung und Abschilderung des Lasters, der Boßheit, der Häßlichkeit, des Erschrecklichen, des Traurigen, wenn sie nur natürlich sind. […] Die Gedichte von Ovide, die derselbe die Traurigen genannt hat, die Stürme, die blutige Schlachten, die ungeheuren Thiere, kurtz alles was wol nachgeahmet ist, wird uns angenehm, es seye so gräßlich und erbärmlich als es will. Aristoteles hat wol angemercket, daß dieses Ergetzen, welches uns die Betrachtung einer schönen Nachahmung machet, nicht gerichts von dem Objecte komme, das uns vorgemahlet ist, sondern von der Reflexion, welche das Gemüth dannzumalen walten lasse, daß nichts ähnlicher und übereintreffender könne seyn, als ein solches Gemählde und sein Original; dermassen daß es bey dergleichen Anläsen geschähe, daß man etwas fremdes und neues gewahr werde, welches kitzele und gefalle« (97 f.)

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›Einige Urbilder, zum Ex. abscheuliche Thiere, todte Leichnahme, sterbende Menschen, die wir in der Natur anschauen dörften, oder nicht ohne Entsetzen und Furcht anschauen würden, sehen wir in der Schilderey mit Lust, und je geschickter sie nachgeahmet sind, desto mehr Lust macht uns ihr Anschauen.‹ (131)

In Anlehnung an Joseph Addisons Pleasures of the Imagination gliedert Bodmer die »Eindrücke und Würkungen« der poetischen Gemälde in drei primäre »Triebräder« (Betrachtungen 152). Allerdings wählt er im Unterschied zu Addison und Breitinger neben dem Schönen und dem Großen nicht das Ungewöhnliche bzw. Verwundersame, sondern das Ungestüme oder Heftige. Das Ungestüme bezeichnet Bodmer im neunten Abschnitt »Von dem Ungestümen in der Materialistischen Welt« als eine jede »gewalthätige Bewegung, die durch den Zusammenstoß der Dinge in dem materialistischen Reiche entsteht, insbesondere ihren Anfall auf den Menschen, der sich in ihrem Bezirke der Würbel befindet, wodurch in unsrem Zustand vielerley Veränderungen erfolgen, welche gewaltige und widrige Eindrücke machen und das Gemüthe etwann gäntzlich daniederschlagen« (154). Die gewaltsamen Veränderungen in der Natur werden durch dieselbe dynamische Kraft bewirkt, die allen Naturdingen innewohnt. (vgl. 239 f.). An diesem Punkt stellt Bodmer die Natur­ umwälzungen ganz im Sinne der empiriegeleiteten Wissenschaften als natürliche Ausnahmeerscheinungen im Naturhaushalt dar. Gerade weil diese Extremereignisse gewaltige und widrige Eindrücke im Gemüt bewirken, stehen sie dem Kunstschaffenden zu Diensten. Bodmers Textbeispiele vermitteln nicht nur den durch bedrohliche Naturkräften bewirkten Schrecken, sondern schildern ihre entfesselte Zerstörungskraft auch als wunderbare und seltsame Schauspiele. Die Charakterisierung des Ungestümen ist fließend. Maßgebend ist, was der Dichter mit seiner Darstellung beabsichtigt und ob diese Absicht mit der Wahl und Darstellung der Umstände übereinstimmt. Als gelungene Schreckensdarstellungen würdigt Bodmer die Passagen aus den Werken autoritativer Dichtergrößen wie Vergil und Homer. Den weitaus größten Teil des neunten Abschnitts nimmt neben dem Topos zerstörerischer Wasserfluten und der biblischen Sintflut 227 die Analyse der Schilderungen von Vulkanausbrüchen ein. Sein Hauptaugenmerk fällt auf Vergils Beschreibung des Feuer speienden Ätnas im dritten Buch der Äneis (29–19 v. Chr.)228 und jene in Pindars (um 522–443 v. Chr.) 227 

Die alttestamentarische Sintflut inspirierte Bodmer dazu, eine Noachide in 12 Gesängen zu verfassen, die im Jahr 1752 vollständig erschien. Siehe dazu Utz 153–155. 228  Bodmer zitiert Verse 571–577 aus dem dritten Buch der Äneis: »Horrificis juxta tonat AEtna ruinis,/ Interdumque atram prorumpit ad aethera nubem,/ Turbine fumantem piceo et candente favilla,/ Attolitque globos flammarum et sidera lambit:/ Interdum scopulos avolsaque viscera montis/ Erigit eructans, liquefactaque saxa sub auras/ Cum gemitu glomerat, fundoque exaestuat imo« (Betrachtungen 263). Edith und Gerhard Binders Prosaübersetzung derselben Stelle lautet: »Aber dicht daneben dröhnt der Aetna mit seinen schreckenerregenden Klüften,

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erster Pythischer Ode, 229 die dem Römer als Vorlage gedient haben soll. Worauf es in der Schreckensschilderung ankommt, ist die heftige Gefühlserregung des Rezipienten; eine Absicht, die die Verstöße gegen die strikte Befolgung poetischer Regeln legitimiert, solange sie der Affektsteigerung förderlich sind: So erforderte auch das Vorhaben des Poeten gar nicht, da er den Leser mit Schre­ cken über die Grösse der erlittenen Gefahr anfüllen wollte, den Umstand der Zeit in Betrachtung zu ziehen, sondern alleine die erschrecklichsten Umstände auszuwehlen, und dieselben so künstlich mit einander zu verbinden […]. Wir sehen auch, wie geschickt der Poet solches ausgeführt, da er von einem erschrecklichen und gefährlichen Umstande zu dem andern hinansteiget, wenn er erstlich des gräßlichen und donnernden Getöses, hernach des auffsteigenden Rauches, drittens der Flammen, und endlich der Felsen-Stücke, die der Berg mit Gewalt auswirft, Meldung thut. (Betrachtungen 269 f.)

Das Ergötzen am geschilderten Ungestümen ergibt sich also teils aus der geschickten Auswahl und Zusammensetzung der »erschrecklichsten Umstände«, teils aus dem daraus bewirkten Schrecken, der aufgrund der mentalen Rückversicherung genossen werden kann, dass es sich beim gefährlichen Gegenstand bloß um eine Nachahmung handelt. Die Frage stellt sich, ob Bodmer die in der Kategorie des Ungestümen behandelten Naturphänomene überhaupt mit dem Erhabenen in Verbindung bringt. Angesichts der unbegrenzten Natur zeugen Gefühlsreaktionen wie »angenehme Bestürzung« (211) und »erhabenes Ergetzen« (214) von der bereits vollzogenen Übertragung des Erhabenheitsbegriffs innerhalb der Kategorie des Großen. Im Falle der Natur als gewaltsamer Macht ist zu berücksichtigen, dass sie unterschiedliche Affekte erzeugt. Der Feuerregen der Vulkane oder die ungeheuren Wasserfluten sind seltsam, wundersam oder schrecklich; in manchen Fällen bringen sie gar das »Erschreckliche mit dem Grossen vermischt« hervor (262). Dass die gewaltsamen Naturkräfte nicht ausschließlich als bedrohliche Phänomene in Erscheinung zuweilen stößt er eine düstere Wolke aus in den Himmel, in der pechschwarzer Rauch hochwirbelt und glühende Asche, er speit Feuermassen und umzüngelt damit die Sterne: Zuweilen wirft er aufstoßend Felsbrocken aus, im Innern des Berges abgesprengte Trümmer, schleudert geschmolzenes Gestein unter Tosen in die Luft und wallt aus tiefstem Grund auf« (55). 229  Vgl. dazu Eugen Dönts deutsche Übertragung der zweiten Strophe der ersten Pythischen Ode Pindars (V. 21–28): »Aus seinen Tiefen brechen hervor reinste Quellen unnahbaren/ Feuers: am Tage verströmen feurige Bäche Schwaden von dunklem Rauch,/ in der Nacht wälzt eine blutrote Flamme Felsen/ krachend mit sich zum tiefen Grund des Meeres./ Jenes wilde Tier aber ist es, das diese unheimliche Feuergüsse/ hervortreibt: gespenstisch ist das Wunder anzusehen, gespenstisch, wenn man von Augenzeugen hört,/ wie es eingekerkert ist zwischen den dunkelbelaubten Gipfeln des Ätna/ und dem Grund, und wie es sich mit seinem ganzen Rücken gegen das Lager stemmt, das ihn wundscheuert« (87).

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treten, wird durch Bodmers Aussage bekräftigt, Pindars Ode schildere den Feuer speienden Ätna nicht als ein schreckliches sondern als ein wundersames Schauspiel. Dieses Urteil basiert auf der verbreiteten Hypothese, Longins Vulkanbeschreibung in der 35. Abteilung – »wo er von denen Sachen handelt, die uns zur Verwunderung bewegen müssen« – sei von Pindars Versen inspiriert worden (267).230 Bodmers Differenzierung der unterschiedlichen Absichten Pindars und Vergils macht deutlich, dass die Art der gefühlsmäßigen Perzeption der Naturgewalten vom jeweiligen Betrachterstandpunkt bestimmt wird. Ist die reflexive Distanz erst einmal gewährleistet, wandelt sich ein ungestümes Naturereignis in ein wundersames; aus unmittelbarer Nähe wird es Angst und Schrecken bereiten. Lu­k rez’ Konzept der physisch-psychischen Sicherheit vor der real auftretenden Gefahr, das dem ästhetischen Genuss des Ungestümen voraus zu setzten ist, wird Bodmer nicht unbekannt gewesen sein.231 Freilich vertritt er das poetologische Diktum, dass das Bedrohliche, Entsetzliche und Widerliche nicht in der reellen Anschauung, sondern bloß mittels der distanzierenden künstlerischen Nachahmung einen angenehmen Nervenkitzel bereite. Jegliches ästhetische Vergnügen an den übermächtigen Naturgewalten (darin sind sich die Erhabenheitstheoreme des 18. Jahrhunderts einig) beruht fundamental auf dem Sicherheitsgefühl des wahrnehmenden Subjekts. Daher ist der in der Forschungsliteratur geäußerte Einwurf, Bodmers Beurteilung der gewaltsamen Natur als primär Bedrohliches habe die Übertragung des Erhabenen auf diese Gegenstände verhindert, eine zu einseitige Charakterisierung des derzeitigen Naturverständnisses.232 Außerordentliche Schauspiele der ungestümen Natur, bedingt durch die Situierung des Betrachters, vermögen ein breit gefächertes Spektrum komplementärer Affekte zu erregen. In erster Linie verweist die betonte Bedrohlichkeit auf die Rückbindung an die rhetorisch-poetologische Stilfigur des Pathos: Durch die poetische Veranschaulichung schrecklicher Begebenheiten sind die Gemüter der Leserschaft bestmöglich zu bewegen. 230 

Boileau stellt die gleiche Verbindung der Verse Pindars mit Longins’ Ätnabeschreibung im 29. Kapitel seiner Longin-Übersetzung Le Traité du Sublime her (vgl. 74). 231  Johann Jacob Breitinger hat in seiner Critischen Dichtkunst (1740) Lukrez’ Schiffbruchszene aus De rerum natura (2. Buch, V. 1–5) wie folgt kommentiert: »Lucretius hat solches von der Furcht angemercket, welches eine ungestüme und bestimmende Leidenschaft ist; er sagt, daß die Nachahmung sie gleichsam von aller Gefährlichkeit erledige, und alle Bangigkeit davon sondere« (76). 232  Christian Begemann bestreitet Bodmers Bezeichnung der ungestümen Natur als erhaben: »Freilich bezeichnet Bodmer die ungestüme Natur noch nicht als erhaben, doch ist es, wenn die Übertragung des Begriffs auf Naturobjekte erst einmal möglich geworden ist, dazu nur noch ein Schritt, ein Schritt den Michael Conrad Curtius in einem in den späten 1750er Jahren entstanden Aufsatz gehen wird. Daß ›heftige‹ Naturphänomene kein ›erhabenes Ergetzen‹ bewirken, mag damit zusammenhängen, daß Bodmer sie primär unter dem Gesichtspunkt ihrer Bedrohlichkeit betrachtet; zu genießen sind sie allein in der künstlerischen Nachahmung« (»Erhabene Natur« 93).

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Bodmers Brückenschlag vom Wunderbaren hin zum Schrecklicherhabenen lässt sich in den 1746 erschienenen Critischen Briefen nachvollziehen. Gleich am Anfang des dritten Briefs wird die Frage aufgeworfen, ob »das Erhabene« dasjenige sei, welches »einen hohen und sonderlichen Grad der Verwunderung« verursache und ob diese Gemütsbewegung mit derjenigen vergleichbar sei, die die Seele mit »feyerlichen Vergnügen« erfülle, wenn sie das »Grosse und Ungemeine« betrachte (94). Genannt werden diesbezüglich die in der Natur anzutreffenden Topoi von den »unbegränzten Aussichten«, »stürmischen Seen« und »erstaunlichen Bergen«.233 Bedeutend ist, dass Bodmer daraufhin ausschließlich diejenigen Wirkungen und Taten als erhaben kategorisiert, die das Gemüt »plötzlich in Erstaunen« versetzen (97). Mit der Unwissenheit des Pöbels hat die vom Erhabenen hervorgerufene Verwunderung nichts gemein. Alltäglich erscheinende Naturphänomene können aufgrund ihrer »Schönheit«, »Größe« und »Verschiedenheit« durchaus bewundernswürdig sein, da sie den Rezipienten als Sinnbilder der »Macht« und »Weisheit des Werkmeisters« ergötzen und unterrichten. Gleichermaßen vermögen die Naturnachahmungen, wenn sie vom künstlerischen Geschick der Menschen zeugen, ein geringeres Maß von Bewunderung hervorzurufen. Jedoch reicht die routinierte Natur- und Kunsterfahrung nicht aus, um »einen starken Geist in Bewegung oder Unruhe« zu versetzen. Bodmers Augenmerk fällt stattdessen auf die wirkungsästhetische Wucht des Pathetischen, die den klassizistischen delectare – docere Endzweck in den Werken der Natur und der Kunst sprengt. Denn es gibt »gewisse grosse Wirkungen«, die in jedem Menschen »Bestürzung«, »Schrecken« und »Mitleiden« herbeiführen: »Die einen haben GOtt zum Urheber, andere den Menschen, und noch andere die übrigen freyen Wesen.« Als höchstes Wesen und Weltenschöpfer verfügt Gott, dessen alles überstrahlende Lichtgestalt die menschlichen Erkenntniskräfte blendet, sowohl über »ein vollkommenes Recht« als auch »eine unumschränkte Gewalt« über die ganze Natur: »Wir kennen ihn nur aus seinen Thaten, aus seiner Regierung und Anordnung der Dinge, und diese sind allemal seiner Unendlichkeit gemäß, und führen den Charakter eines unbegreiflichen Wesens.« Das göttliche Handeln erfüllt selbst den gebildetsten Verstand mit Bewunderung und Ehrfurcht, insbesondere wenn »die erschrecklichen Würkungen seines Zorns, von welchen die wunderbarsten Veränderungen in den Königreichen und Ländern entspringen, die das Gemüthe ganz danieder drücken; ferner die Würkungen seiner unermeßlichen Stärke, so wohl diejenigen die unmittelbar, als die so durch Mittel geschehen« (98). Mit dem Verweis auf die niedergedrückten Gemüter lässt sich eine gedankliche Überschneidung der gewaltsamen Machtäußerung Gottes 233  In

den Critischen Briefen treten das Erhabene und Wundersame als synonyme Begriffe auf. Im fünften Brief verortet Bodmer das Wunderbare gleichermaßen in den »unbegränzten Aussichten, stürmerischen Seen, und entsetzlich hohen Bergen« (109). Vgl. dazu Zelle, »Erhabenheit« 69.

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mit den in der Kategorie des Ungestümen beschriebenen Naturverheerungen fest­ legen. Ersichtlich wird, dass Bodmer seine Theorie des Erhabenen wie John Dennis grundlegend auf religiöse Ideen abstützt. Somit sind es nicht die außergewöhnlichen Naturphänomene an sich, die als erhabene Gegenstände figurieren, sondern die übernatürlichen Kräfte, die durch sie wirken und den Betrachter affizieren.234 Demjenigen, der sich der erhabenen Schreibart bedient, gelingt es, die Wirkungen der »freyen Wesen« – »Entzückung, Schrecken, Mitleiden« – zu verinnerlichen und dem Leser überzeugend zu vermitteln (101). 235 Die unerschütterliche Achtung vor dem Wunderbaren in der Welt zeugt von der traditionell-religiösen Geisteshaltung in Zürich. Wie Reinhart Meyer aufgezeigt hat, rezipierte Bodmer übersinnliche Erscheinungen wie Geister, Engel und Teufel nicht als Ausgeburten der Phantasie, sondern als der Natur übergeordnete Entitäten (vgl. 59). Mit diesem Zugeständnis auf die wirkliche Existenz numinoser Kräfte setzte er sich unmissverständlich von der cartesianischen Naturphilosophie ab. Insofern überrascht es nicht, dass die im Umkreis Zürich entstandenen Dichtungen das Lissabonner Erdbeben von 1755 als ein erschütterndes Gottesgericht schilderten.

c) Die schrecklicherhabene Natur in Michael Conrad Curtius’ Kritische Abhandlung von dem Erhabenen in der Dichtkunst In der Kritischen Abhandlung von dem Erhabenen in der Dichtkunst (1760) bezeichnet Michael Conrad Curtius das Erhabene als »die höchste Stuffe der dichtenden Wohlredenheit.« Demgemäß setzte es alle Regeln der Dichtkunst voraus und fordere die Wahrscheinlichkeit und Schönheit als seine grundlegenden Eigenschaften: »Abentheuerliche Dinge, ungeheure Geburten einer unregelmäßigen Einbildungskraft, und überhaupt alles, was die Gesetze der Natur und Vernunft nicht veredelt, sondern gänzlich über den Haufen wirft, ist unter den poetischen Horizont erniedriget, und kann also noch weniger erhaben seyn.« Es fällt auf, dass Curtius 234  Vgl.

dazu Spörl: Bodmer bleibt »freilich durch seine Orientierung an den durch Handlungen und/oder Handlungsdispositionen ausgelösten Affektwirkungen, die gerade nicht von natürlichen, sondern von übernatürlichen oder sich über ihre Natur erhebenden Wesen ausgehen, weit von einer Thematisierung der Natur als erhabenem Gegenstand entfernt« (255). Der Behauptung ist aber hinzuzufügen, dass der Zürcher Philologe eine Begriffsübertragung des Erhabenen auf die Natur am Anfang des dritten Briefs in Erwägung gezogen hat. Das anvisierte Pathos in der Erhabenheitserfahrung benötigt jedoch den Gedankensprung zur inkommensurablen Gottesmacht. 235  In den Critischen Briefen definiert Bodmer die »freyen Wesen« als »die Einwohner der unsichtbaren Welt«, zu denen die guten wie auch die bösen Engel gehören, und die erdichteten Wesen, die »der Aberglauben gebohren hat« oder aus den Mythen der antiken Götterwelt stammen (100).

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das Erhabene nicht nach einem binären Schema gliedert, sondern in drei Hauptabteilungen, die die erhabenen Gegenstände, die erhabene Art, die Gegenstände zu denken, und den erhabenen Ausdruck, die Gedanken zu vermitteln, beinhalten. Die für unseren Zusammenhang bedeutenden erhabenen Gegenstände werden nochmals in »würkliche Substanzen«, »Würkungen der Natur« und »Handlungen vernünftiger Wesen« unterteilt (10). Diese Gegenstände geben dem Dichter den Stoff zu seiner erhabenen Dichtkunst vor, wenn sie die gewöhnlichen Begriffe236 übersteigen und infolgedessen das Gemüt mit Bewunderung erfüllen. Das Erhabene deckt genau die Bereiche ab, die sich den Sinneskräften widersetzen: Ein Wesen, welches über die uns ins Auge fallenden Ordnungen der Geschöpfe erhöhet ist; eine Würkung, die die gewöhnlichen Bewegungen der Natur übertrift; eine Handlung, die aus solchen Triebfedern entspringet, welche bey dem grösten Theile der Menschheit selten in Regung gesetzet werden; ein Gedanke, von dem der Mensch fühlet, daß er über die gewöhnliche Denkungsfähigkeit hinausgehe; ein Ausdruck endlich, der sich von der unzählbaren Menge gewöhnlicher Ausdrücke vorzüglich ausnimmt; alles dieses erfüllet die Aufmerksamkeit des menschlichen Geschlechts mit Entzücken und Bewunderung, und verdienet bey demselben die Benennung des Erhabenen. (9)

Bezeichnenderweise beschränken sich die auf die äußere Natur bezogenen erhabenen Gegenstände ausschließlich auf die außerordentlichen Wirkungen gewaltsamer Naturkräfte, »welche zwar den Kräften der Natur, und den Gesetzen der Bewegung gemäß sind, welche sich aber von den gewöhnlichen Begriffen und Begebenheiten entfernen, und durch die fürchterlichen Umstände und Folgen, von welchen sie begleitet werden, die Gemüther der Menschen mit Erstaunen und Schrecken erfüllen.« Die bloße Beschreibung schrecklicher Verheerungen bewirkt selbst in den »empfindlichsten Seelen« die »lebhaftesten Eindrücke« und »erhöht und erweitert« die Denkkraft des Geistes (27). Curtius differenziert an dieser Stelle zwischen dem relativistischen und dem inneren Erhaben bzw. den eingebildeten und wirklichen Folgen dieser außerordentlichen Naturbegebenheiten. Zur ersteren Kategorie gehören solche, die einstmals als übernatürliche und demzufolge furchterregende Phänomene betrachtet worden seien, wie z. B. die Sonnenfinsternis bei den Naturvölkern. Doch auch neuere naturwissenschaftliche Theorien bergen ein Angstpotential in sich: Gewänne das »whistonische System«237 der Erdbälle zertrümmernden Kome236  Die

gewöhnlichen Begriffe »sind überhaupt diejenigen, welche mit den Gesetzen der Körper- und Geisterwelt, und mit den Regeln der Natur, so wie solche würklich erkannt werden, übereinstimmen, und folglich weder dem diese erkennenden Verstande widersprechend scheinen, noch der sie einzusehen glaubenden Einbildungskraft ungereimt vorkommen« (10). 237  Olaf Briese hat in seiner Arbeit Die Macht der Metaphern auf die paradoxe Situation hingewiesen, dass »die aufgeklärten Disziplinen, die doch eigentlich das Gespinst der Prophezei-

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ten an allgemeiner Akzeptanz, so würde die »Annäherung dieser seltenen Körper« eine Massenhysterie bewirken. Die zweite Kategorie umfasst hingegen die durch »Erdbeben, Donner, Orkane, Feuersbrünste, und Wasserfluthen« hervorgerufenen »natürliche[n], jedoch außerordentliche[n] Begebenheiten«, die durch die Hand des Dichters »erhabene Begriffe in den menschlichen Gemüthern würken.« Hervorzuheben ist, dass die Urheberschaft dieser zerstörerischen Naturgewalten auch hier an die doktrinäre Idee der göttlichen Wirksamkeit im Weltgeschehen gebunden bleibt und sozusagen die Prämisse des unbedingt empfundenen Erhabenheitsgefühls bildet. Curtius legt die »Entstehung und Würkungen« der »erschütternde[n] Empfindung«, die »unsere Gemüthskräfte durchdringet, und ein Merkmahl von der Gegenwart des Erhabenen ist«, in »Ueber­einstimmung der Völker einer gegenwärtigen und unmittelbaren göttlichen Würkung« fest (28). Seine Aufzählung stilisierter Schreckensbilder der göttlichen Rache affirmiert diesen Standpunkt nochmals: Zertrümmerte Thronen, und unter dem Schutt zerschmetternder Felsen begrabene Völker, brennende Meere, und aus den Fluthen steigende Vesuve, Ströme von Feuer, die sich über Palläste und Mauren welzen, der von einem Pole zum andern erschütterte und zerberstende Erdball, und hundert andere Werkzeuge der allmächtigen Rache, sind lauter natürliche Begebenheiten, deren Abschilderung erhabene Begriffe zu erwecken fähig ist, wenn der Pinsel von der Hand eines Dichters geführet wird, dessen Seele selbst das Erhabene kennet. (28 f.)

In Übereinstimmung zu den Unglücksmeldungen über das Erdbeben von Lissabon ist zum Anbeginn der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Erhabenheitsbegriff nach wie vor religiös bestimmt.238 Freilich unterstehen die Naturkräfte kausal-­ mechanischer Bewegungsgesetzen, doch verschafft eine solche immanente Naturbetrachtung bloß »gewöhnliche Begriffe« und keine Inspiration zur erhabenen Dichtkunst. Worauf es ankommt, ist die wirkungspoetische Absicht des Dichters, »das Herz der Menschen zu bessern, oder ihr Gemüth aufzuheitern, nicht aber eben ungen und Offenbarungen zerschlagen und die mittelalterlichen Ängste verdrängen wollten, […] nur einen Komplex neuer Ängste geschaffen [hatten]« (180). 238  Vgl. dazu die unfundierte Aussage von Christian Begemann: »[D]ie traditionelle Interpretation einzelner Naturereignisse [wird] als direkter Ausdruck des göttlichen Zorns, sofern sie in den Theorien des Erhabenen überhaupt noch erwähnt wird, meist nur in kritischer Abgrenzung diskutiert. Statt dessen bevorzugt man die immanente, physikalisch-mechanische Erklärung von Naturvorgängen, wie sie schon von Johann Jacob Bodmer, fraglos keinem Vertreter einer rein immanenten Naturanschauung, auf das ›Ungestüme‹ oder ›Heftige‹ in der ›Materialischen Welt‹ angewendet worden ist« (Furcht 125). Auch Stefan Matuschek berücksichtigt die religiöse Komponente in Curtius’ Konzept des unbedingt Erhabenen nicht, wenn er behauptet, der Inhalt der Kritischen Abhandlung stimme »mit der Kritik des Wunderbaren überein, die bei Fontenelle, Gottsched und auch Breitinger zu lesen war« (189).

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ihren Verstand zu erleuchten« (34). Die Verschränkung außerordentlicher Naturgewalten mit der Vorstellung der unbedingten Machtentfaltung Gottes versteht Curtius als Garanten für die leidenschaftliche Affektsteigerung eines jeden Lesers. Wie die Berichterstatter in den pathetischen Erdbebenbeschreibungen veranschlagt er eine Hervorkehrung des Schrecklicherhabenen, wenn er argumentiert, Macht und Schrecken machet einen stärkeren Eindruck auf das menschliche Gemüth, als Güte und Sanftmuth, obgleich diese dauerhaftere Würkungen nach sich lassen. GOtt scheinet also dem Menschen erhabener in seinem Zorn, und Grimm, als in seiner Güte; erhabener, wenn er Welten aus Staub hervorgehen, und wieder in Nichts zerfliessen läßt, als wenn er die Geschöpfe mit Langmuth und Weisheit regieret. […] Die Ausdrücke; GOtt ist allgegenwärtig, allmächtig, ewig, enthalten ohne Zweifel erhabene Begriffe, sie sind aber viel zu gewöhnlich, als daß sie auch poetisch erhaben seyn solten […]. (12)239

Aus seiner Forderung, der zeitgenössische Dichter habe sich nach der Denkart seines Volkes zu richten, lässt sich schließen, dass die Idee eines alttestamentlichen Richtergottes, dessen absolute Gewalt in den Umwälzungen der Natur zur Veranschaulichung gelangt, zu diesem Zeitpunkt im Bewusstsein des Zielpublikums verankert geblieben ist. Der Dreh- und Angelpunkt der von John Dennis, Johann Jacob Bodmer und Michael Conrad Curtius erläuterten Erhabenheitserfahrung gründet sich auf den beharrlichen Glauben an eine Naturordnung, in der sich das providenzielle Wirken Gottes auf wundersame Art und Weise äußert. Dass die Irregularitäten einer übergeordneten Zweckmäßigkeit unterstehen, wird als unumstößliches Grundprinzip akzeptiert. Innerhalb des poetologischen Diskurses lassen sich die Naturumwälzungen als wunderbare Gegenstände systematisch einordnen und gewissermaßen rechtfertigen. Auf diese Weise kann der beschwerliche Weg, den 239 

Carsten Zelle hat darauf aufmerksam gemacht, dass sich in Curtius’ Abhandlung »erstmalig in der deutschsprachigen Frühgeschichte des Erhabenen und unabhängig von Burke als Rechtfertigung des Schrecklich-Erhabenen« der Gedanke findet, Gottes Erhabenheit könne »nur in den dunklen Bildern seines Schreckens anschaulich gestaltet werden« (Grauen 344). Allerdings beurteilt Curtius das von ihm propagierte Gottesbild in der neueren Dichtkunst nicht ausschließlich als dunkel, sondern auch als erhellend: »Man findet bey den neuen mehr erhabene Stellen von der Gottheit und ihren Eigenschaften, als bey den alten Dichtern des Heidenthums, weil diesen die Grösse der Gottheit nicht in einem so hellen Lichte schien, als uns. Das unbegreifliche allerhöchste göttliche Wesen sahen sie nur, in Finsterniß und Dunkelheit verhüllet, oder vermengten es mit dem Weltgebäude; ihren Göttern selbst aber legten sie nur eingeschränkte Kräfte bey, und konten folglich nicht so erhabene Ausdrücke von ihnen gebrauchen, als unsere Dichter in unseren mehr erleuchteten Zeiten« (14). Die Lichtmetaphorik verweist auf die Doxa Gottes und war in den physikotheologischen Schriften und Lyrik ein wesentliches Merkmal (vgl. Philipp 11 ff.). Daraus lässt sich schließen, dass die unbedingte Machtentfaltung Gottes, auch wenn sie sich von ihrer zerstörerischen Seite zeigt, zu diesem Zeitpunkt nicht als dunkel bzw. antiaufklärerisch zu konnotieren ist.

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Sinneskern der Naturübel diskursiv, mit den Mitteln der Philosophie zu ergründen, umgangen werden. Worauf es ankommt, ist die durchschlagende Wirkungskraft des Wundersamen auf die Seelenkräfte und die dabei intuitiv wahrgenommene Präsenz des Übersinnlichen. 4. Die Wende zum subjektorientierten Begriff des Erhabenen a) Edmund Burkes empirisch-psychologische Auslegung des Erhabenen Edmund Burkes Frühschrift A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful genießt seit ihrer Veröffentlichung – eine Erstfassung erschien anonym 1756, die im Frühjahr 1759 überarbeitet mit erweiterten Abteilungen und der einführenden Abhandlung »Introduction on Taste« neu aufgelegt wurde – eine rege, bis in die Gegenwart andauernde Rezeption. Trotz der Ankündigungen von Gotthold Ephraim Lessing und Johann Gottfried Herder (1744–1803), die Zweitausgabe der Enquiry zu übersetzen, ist die vollständige deutschsprachige Edition erst Jahrzehnte später mit der Übertragung von Christian Garve (1742– 1798) im Jahre 1773 entstanden.240 Die Enquiry stieß aufgrund ihrer betont physiologischen Explikation des Erhabenen auf Ablehnung, dennoch ist ihr normativer Einfluss unübersehbar. Selbst Kant hatte sich in der Kritik der Urteilskraft wohlwollend über Burke geäußert, bevor er die inhärenten Limitationen einer empirischen Exposition der ästhetischen Urteile aufdeckte.241 Burkes Analyse der Leidenschaften und der Begleitumstände, die die Einwirkung der letzteren auf die körperliche Befindlichkeit diktieren, strebt nach der Begründung von allgemeingültigen Prinzipien, die ihren Ursprung nicht in althergebrachten Lehrmeinungen, sondern ganz in Gefolgschaft der empirischen Wissenschaften in den Erfahrungsgründen haben. Über Wirkungsursachen zu spekulieren, die außerhalb des menschlichen Erkenntnishorizonts liegen, ist für ihn ein sinnloses Unterfangen: 240 Genauere

Details zur Publikationsgeschichte von Burkes Enquiry vgl. Carsten Zelle, Grauen 186. Einen Einblick in die Entstehung der Abhandlung gibt James T. Boulton (1924– 2013) in der Einführung der von ihm editierten Ausgabe (XV–XXVI). Ich zitiere aus derselben Edition (Teil Abschnitt, Seite), die die Varianten der ersten und zweiten Auflage berücksichtigt: Edmund ­Burke. A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful. Ed. with an Introduction and Notes by J.T. Boulton. Notre Dame: Notre Dame UP, 1968. Den theoretischen Neuansatz in Burkes Enquiry hat Dietmar Till in seiner Studie Das doppelte Erhabene (2006) ausführlich behandelt: »Die Schrift markiert einen entscheidenden Bruch sowohl mit dem ›Erhabenen‹ in der Tradition Longins als auch mit rhetorischen Kategorien« (363). 241  »Als psychologische Bemerkungen sind diese Zergliederungen der Phänomene unseres Gemüts überaus schön, und geben reichen Stoff zu den beliebtesten Nachforschungen der empirischen Anthropologie« (KW 5: 369).

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That great chain of causes, which linking one another even to the throne of God himself, can never be unravelled by any industry of ours. When we go but one step beyond the immediately sensible qualities of things, we go out of our depth. All we do after, is but a faint struggle, that shews we are in an element which does not belong to us. (IV 1, 129 f.)

Metaphysische Idealbegriffe wie Vollkommenheit und Totalität, die für die theoretischen Ansätze des Erhabenen bestimmend gewesen sind, fallen aus dem methodischen Rahmen der Enquiry. Stattdessen ist es die Affizierung durch den Schrecken, die Burke zum überragenden Prinzip seines Erhabenheitskonzepts hervorkehrt. Dadurch verleiht er den gewalttätigen und unschönen Naturelementen nicht bloß in ihrer künstlerischen Verarbeitung, sondern unter gewissen Voraussetzungen auch in ihrem reellen Auftreten eine radikale Aufwertung. Dasjenige, was in irgendwelcher Form Schrecken bereitet, erhebt Burke zur Quelle des »sublime«, insofern die im Moment der empfundenen Lebensgefährdung entfachten Leidenschaften am weitaus heftigsten auf das Gemüt wirken. 242 Nichts wirke auf unser Denk- und Handlungsvermögen freiheitsberaubender als die Furcht vor den zu erleidenden Schmerzen oder vor dem Tod. Bedrängen sie das Gemüt aus nächster Nähe, wird es bloß mit Schrecken erfüllt; sind wir der Bedrohung nicht unmittelbar ausgesetzt, so verspüren wir »delight« eine Empfindung, die Burke strikt von den einfachen Empfindungen der Lust (»pleasure«) und des Schmerzes (»pain«) unterscheidet. Wann immer wir uns vom gewaltsamen Druck der Gefahr oder des Schmerzes befreit fühlen, werden wir durchdrungen von einer Art »delightful horror, a sort of tranquillity tinged with terror; which as it belongs to self-preservation is one of the strongest of all passions« (IV 7, 136). Auf die Schaden bringende Natur kommt Burke im fünften Abschnitt »Power« zu sprechen. Grundsätzlich wird die uns in höchstem Maße affizierende Idee des Schmerzes durch die Präsenz einer unserem Willen widersetzenden Übermacht erregt: »[…] pain is always inflicted by a power in some way superior, because we never submit to pain willingly« (II 5, 65). Durch den verspürten »Terror« gewinnen die Machtobjekte an Erhabenheit. Dieser Eindruck verblasst sofort, sobald die Gegenstände sich für einen bestimmten Nutzen instrumentalisieren lassen: That power derives all its sublimity from the terror with which it is generally accompanied, will appear evidently from its effect in the very few cases, in which it may

242  »Whatever

is fitted in any sort to excite the ideas of pain, and danger, that is to say, whatever is in any sort terrible, or is conversant about terrible objects, or operates in a manner analogous to terror, is a source of the sublime; that is, it is productive of the strongest emotion which the mind is capable of feeling. I say the strongest emotion, because I am satisfied the ideas of pain are much more powerful that those which enter on the part of pleasure« (I 7, 39).

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be possible to strip a considerable degree of strength of its ability to hurt. When you do this, you spoil it of every thing sublime, and it immediately becomes contemptible. (II 5, 65)

Infolgedessen bewundern wir an der Natur ihre nicht zu domestizierenden Kraftäußerungen (II 5, 66). Zerstörerische Naturgewalten finden typisierend in Bezug auf die furchterregende Allmacht Gottes ihre Erwähnung. Die Heilige Schrift gibt darüber ein einschlägiges Zeugnis: »In the scripture, wherever God is represented as appearing or speaking, every thing terrible in nature is called up to heighten the awe and solemnity of the divine presence« (II 5, 69). Burke differenziert explizit zwischen der anthropomorphen und aufgeklärten Vorstellung des höchsten Wesens: Einerseits äußert es sich als weiser, gerechter und gütiger Regent; in Attributen also, für deren Begründung ein vergleichendes Reflexionsurteil vorangehen muss. Das Attribut der unumschränkten Gottesmacht andererseits nimmt die Einbildungskraft unmittelbar gefangen. Trotz aller Apologetik haftet dem »Godhead« nach wie vor das Prädikat des Schreckens an. Folgende Passage verdeutlicht die Trennlinie zwischen dem deus absconditus und dem Gott der Naturtheologie, dessen Tätigkeit sich nach universell verbindlichen Vernunftgründen richtet. Von Seiten des letzteren Gottesbilds resultiert die schmerzhaft empfundene Selbstbeschränktheit weit eher aus der Vergegenwärtigung einer stupenden Vollkommenheit als aus der Furcht vor einem nach eigener Direktive agierenden Oberhaupt: But whilst we contemplate so vast an object, under the arm, as it were, of almighty power, and invested upon every side with omnipresence, we shrink into minuteness of our own nature, and are, in a manner, annihilated before him. And though a consideration of his other attributes may relieve in some measure our apprehensions; yet no conviction of the justice with which it is exercised, nor the mercy with which it is tempered, can wholly remove the terror that naturally arises from a force which nothing can withstand. (II 5, 68)

In Bezug auf die berühmte Maxime von Publius Papinius Statius (um 45–96 n. Chr.), »primos in orbe deos fecit timor« (Thebais 3, V. 661), konstatiert Burke berichtigend, dass nicht die Furcht den Ursprung der Religion ausmache, sondern die ihr vorangehende Idee einer übermächtigen, inkommensurablen Gottesmacht (II 5, 70). Deutlicher als in den vorangegangenen kritischen Abhandlungen über das Erhabene vertritt Burkes Enquiry den Standpunkt, dass die emotive Wirkungskraft real auftretender Kalamitäten weitaus ausgeprägter als ihre künstlerische Nachahmung ausfalle und somit ein qualitativ größeres Vergnügen bereite. Die herkömmlichen Begründungen aristotelischer und lukrezischer Provenienz, die die Lust am Schrecken zu erklären versucht haben, muten den Verstandeskräften einen zu großen

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Einfluss in der Erzeugung der Leidenschaften zu.243 Stattdessen verfolgt Burke eine Theoriebildung, die sich auf die »mechanical structure of our bodies« und den »natural frame and constitution of our minds« stützt (I 13, 45). Das von der göttlichen Vorsehung bereit gestellte Formprinzip, das die tragischen Ereignisse jeglicher Art für uns so reizvoll gestaltet, ist die Sympathie: For sympathy must be considered as a sort of substitution, by which we are put into the place of another man, and affected in many respects as he is affected; so that this passion may either partake of the nature of those which regard self-preservation, and turning upon pain may be a source of the sublime; or it may turn upon ideas of pleasure; and then, whatever has been said of the social affectations, whether they regard society in general, or only some particular modes of it, may be applicable here. (I 13, 44)244 243 

»The satisfaction has been commonly attributed, first, to the comfort we receive in considering that so melancholy a story is no more than a fiction; and next, to the contemplation of our own freedom from evils which we see represented. I am afraid it is a practice much too common in inquires of this nature, to attribute the cause of feelings which merely arise from the mechanical structure of our bodies, or from the natural frame and constitution of our minds, to certain conclusions of the reasoning faculty on the objects presented to us; for I should imagine, that the influence of reason in producing our passions is nothing near so extensive as it is commonly believed« (I 8, 44 f.). 244  Carsten Zelle hat darauf hingewiesen, dass Burke die Sympathie, »die von der MoralSense-Philosophie als Gegentrieb zum Egoismus herausgestellt worden war, auf die Psychologie der Selbstliebe zurückbezogen [hat]. Die Natur belohnt die Ausübung der Sympathie mit Frohsein« (Grauen 196). Bezeichnenderweise durchbricht der Sympathiebegriff die systematische Dichotomie zwischen dem auf das Erhabene bezogenen Bereich der Selbstliebe und der mit dem positiven Vergnügen verbundenen Liebe zur Gesellschaft und im erweiterten Sinne zum Schönen. Gerade weil wir uns in die Unglückssituation der betroffenen Person zu versetzen vermögen und an ihrem Schrecken und ihren Schmerzen teilhaben, wird der eigene Selbsterhaltungstrieb tangiert. Da wir aber auch Liebe für sie empfinden, wollen wir aktiv zu ihrem Schutz und weiterem Erhalt in der Gesellschaft beitragen. Das die Schreckensszene begleitende »delight« dämpft die Abscheu vor dem Leiden. Diese spezifische Art von »delight« scheint jedoch nicht identisch mit dem vom Erhabenen bewirkten zu sein. Es ist mit »pain« vermischt, sofern wir den Verlust des Mitmenschen beklagen würden, was wir im Falle des erhabenen Schreckensobjekts, ganz im Sinne der Selbstliebe, nicht unbedingt täten. Vielmehr treibt die Sympathie uns an, das empfundene »Mit-leid« zu lindern, indem wir die Schmerzen des Unglücklichen zu mindern versuchen. Zelles Nivellierung beider Arten des »Frohseins« lässt außer Acht, dass Burke den Sympathiebegriff nicht ausschließlich »in sein Gegenteil, in eine raffinierte Form der Selbstliebe« verkehrt (Grauen 197); er zielt nach wie vor auf das gesellschaftliche Allgemeinwohl. Vgl. dazu María Isabel Peña Aguados Analyse derselben Stelle: »Dem Mitleid kommt eine gesellschaftliche Funktion zu, die sich nicht auf Selbsterhaltung, sondern auf die Erhaltung der Gemeinschaft bezieht. Das Gefühl der Lust ist in diesem Fall ein notwendiges Gegengewicht zum Entsetzen, welches das Leiden anderer Menschen in uns erregt« (29 f.). Es gilt auch hier die voreiligen Verurteilungen der scheinbaren anti-aufklärerischen Tendenzen der Enquiry zu revidieren, die Zelle mit der Behauptung, »[m]it Burke ist die englische Aufklärung zu Hobbes zurückgekehrt«, zur Schau stellt (Grauen 197).

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Mit dem Rekurs auf den Sympathiebegriff erhofft sich Burke, die ethische Problematik der Lust am Schaden anderer aus dem Weg zu räumen. Ohne Lukrez beim Namen zu nennen, verwirft er dessen Begründung, die Immunität vor der Gefahr sei die Ursache des Vergnügens an schrecklichen Begebenheiten. Niemand, so urteilt Burke, sei so »strangely wicked«, dass sie aus sicherer Distanz London – »[t]his noble capital, the pride of England and of Europe« – von einer Feuersbrunst oder Erdbeben zerstört sehen möchte (I 15, 47 f.). Ist das Unglück aber einmal eingetreten, würden Schaulustige, die vorher überhaupt kein Interesse an der ehemaligen Pracht Londons zeigten, massenweise zur Metropole strömen, um die Ruinen zu bestaunen. Die moralischen Vorbehalte fallen also weg, sobald wir uns an einem Unglück ergötzen, das ungewollt und ohne unser Verschulden geschehen ist. Dieser apologetische Einwand des fait accompli wird Jahre später u. a. von Moses Mendelssohn in seiner Rhapsodie (1771) aufgegriffen (vgl. Zelle, Grauen 198). In der Absicht, die Wirkungsursache des Erhabenen und des Schönen gemäß allgemeingültigen Prinzipien festzulegen, verfährt Burke empirisch, d. h. er beschränkt sich lediglich auf die Frage, wie Körper und Geist miteinander korrespondieren und verfängt sich nicht in spekulativen Theoriegebilden, warum diese Wechselwirkungen überhaupt vonstattengehen. Seine Begründung – an dieser Stelle kommt Jean-Baptiste Dubos’ (1670–1742) Abhandlung Refléxions critiques sur la poésie et sur la peinture (1719) besonders zum Tragen – liegt im Verweis auf die notwendige Konditionierung der gröberen und feineren Organe, die das mentale und körperliche Wohlbefinden des Menschen fördern. Dubos’ Explikation der Lust am Schrecken beruht bekanntlich auf dem Gedanken, dass für den Erhalt der Seele die Erregung starker Leidenschaften unabdingbar sei. Nichts ist für sie widerwärtiger als die bleierne Langeweile und die Deprivation äußerer Reize.245 Deswegen üben die grauenhaften Schauspiele wie die Gladiatorenkämpfe der Römer oder öffentliche Hinrichtungen einen dauerhaften Eindruck auf die Zuschauer aus. Dubos erblickt in der Kunst ein vorzügliches Mittel, den negativen Folgen der Leidenschaftserregung entgegenzuwirken.246 Burke argumentiert ähnlich, indem er behauptet, Gott habe die menschliche Psyche analog zum Körper auf eine Weise 245  Vgl.

folgende Stelle aus dem ersten Abschnitt des ersten Teils von Dubos’ Refléxions: »L’ame a ses besoins comme le corps; & l’un des plus grands besoins de l’homme, est celui d’avoir l’esprit occupé. L’ennui qui suit bientôt l’inaction de l’ame, est un mal si douloureux pour l’homme, qu’il entreprend souvent les travaux les plus pénibles, afin de s’épargner la peine d’en être tourmenté« (6). 246  Im dritten Abschnitt des ersten Teils der Réflexions umreißt Dubos den Vorteil der Kunst wie folgt: »Quand les passions réelles & véritables qui procurent à l’ame ses sensations plus vives, ont des retours si [f]âcheux, parce que les momens heureux dont elles font jouir, sont suivis de journées si tristes, l’art ne pourroit-il pas trouver le moyen de séparer les mauvaises suites de la plûpart de passions d’avec ce qu’elles ont d’agréable? L’art ne pourroit-il pas créer, pour ainsi dire, des êtres d’une nouvelle nature? Ne pourroit-il pas produire des objets qui excitassent en nous des

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konstituiert, dass die Inaktivität gravierende Übel wie Melancholie, Verzweiflung und Selbstmord mit sich bringt und den Menschen deshalb zu einem tätigen Dasein zwingt: The best remedy for all these evils is exercise of labour; and labour is surmounting of difficulties, an exertion of the contracting power of muscles; and as such resembles pain, which consists in tension or contraction, in every thing but degree. Labour is not only requisite to preserve the coarser organs in a state fit for their functions, but is equally necessary to these finer and more delicate organs, on which, and by which, the imagination, and perhaps the other mental powers act. […] As common labour, which is a mode of pain, is the exercise of the grosser, a mode of terror is the exercise of the finer parts of the system […]. (IV 6–7, 135 f.)

Folglich ist in den angemessen dosierten Anstrengung der Nerven der eigentliche Grund des Wohlgefallens am Schrecken zu situieren. Das Konzept der energetischen Seelenbewegung, die das Selbstwertgefühl des Subjekts erhebt und zur Tätigkeit animiert, stößt in den deutschsprachigen Erhabenheitstheorien während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf eine breite Akzeptanz. Burkes Ausführung über die Ursachen des Erhabenen berücksichtigt weitgehend die sinnliche Wahrnehmung und Schilderungen von Phänomenen, die unser Begehrungsvermögen herausfordern und von denen das Erkenntnisvermögen keinen deutlichen Begriff bereitzustellen vermag. Es sind also diejenigen Dinge, die sich gegen den Zugriff der aufklärerischen Erkenntniserweiterung sperren. Denn sobald sie keine epistemologische Herausforderung mehr darstellen, büßen sie ihre Anziehungskraft als wundersame und bewunderungswürdige Gegenstände ein: It is our ignorance of things that causes our admiration, and chiefly excites our passions. Knowledge and acquaintance make the most striking causes affect but little. (II 4, 61)

Burke erkennt dem verbleibenden Obskuren, Monströsen und Schädlichen aufgrund ihrer Fähigkeit, heftige Leidenschaften zu erregen, eine funktionelle Daseinsberechtigung zu. Die Rechtfertigung der Schreckenslust lässt sich im Unterschied zu den vorangegangenen Erörterungen von John Dennis, Johann Jacob Bodmer und Michael Conrad Curtius allerdings ohne den Bezug auf religiöse Ideen bewerkstelligen. Sie basiert vielmehr auf der innersubjektiven Konditionierung der Seelenkräfte, die für die Beförderung der menschlichen Glückseligkeit ein ausreichendes Mittel ist. Gleichermaßen entfallen mit der subjektiven Wende des Erhabenheitsbepassions artificielles capables de nous occuper dans le moment que nous les sentons, & incapables de nous causer dans la suite des peines réelles & des afflictions véritables?« (25 f.).

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griffs die Vorbehalte gegen die pathetische Darstellung der schrecklichen Natur, da die Vermittlung metaphysischer Wahrheiten hinter die Absicht der Leidenschaftserregung zurück tritt. Insofern liegt der Neuansatz von Burkes Enquiry darin, dass sie in ähnlicher Weise wie die naturwissenschaftlichen Abhandlungen über die materielle Natur nun die psychische des Menschen zu beleuchten bezweckt: The more accurately we search into the human mind, the stronger traces we every where find of his wisdom who made it. If a discourse on the use of the parts of the body may be considered as an hymn to the Creator; the use of the passions, which are the organs of the mind, cannot be barren of praise to him, nor unproductive to ourselves of that noble and uncommon union of science and admiration, which a contemplation of the works of infinite wisdom alone can afford to a rational mind; whilst referring to him whatever we find of right, or good, or fair in ourselves, discovering his strength and wisdom even in our own weakness and imperfection, honouring them where we discover them clearly, and adoring their profundity where we are lost in our search, we may be inquisitive without impertinence, and elevated without pride; we may be admitted, if I may dare to say so, into the counsels of the Almighty by a consideration of his works. (I 19, 52 f.)

Mit der Erforschung der Sinneskräfte erhofft sich Burke trotz ihrer scheinbaren Unzulänglichkeiten, die Veranschaulichung des weisen Plans in Gottes Schöpfung darzulegen. Somit erfolgt in für die englische Physikotheologie typischer Weise – »that noble and uncommon union of science and admiration« – nicht bloß die Positivierung der schreckenerregenden Naturgewalten, sondern auch die Nobilitierung irrationaler Kräfte in uns. Wie Burke in der Enquiry vorangestellten »Introduction on Taste« ausgeführt hat, affizieren »[l]ove, grief, fear, anger, joy« das Gemüt nicht auf eine arbiträre Weise, »but upon certain, natural and uniform principles« (22).

b) Das Naturübel im Rahmen von Moses Mendelssohns Vollkommenheitsästhetik Jochen Schulte-Sasse hat in seiner Analyse zum Briefwechsel über das Trauerspiel (1756/1757) darauf hingewiesen, dass Moses Mendelssohn mit seinen dichtungstheoretischen Schriften die »Herauslösung der Ästhetik aus der Metaphysik« und ihrer zeitgleichen »Verankerung in der empirischen Psychologie« bedeutend vorangetrieben habe. Demzufolge verankert Mendelssohn »das Prinzip der Kunst nicht mehr in ihrer Erkenntnisleistung, sondern in ihrem Vermögen, Quelle der ästhetischen Lust zu sein« (184). Dagegen ist einzuwenden, dass Mendelssohns Dichtungstheorien auch in Nachfolge seiner Burke-Rezeption nach wie vor vom ra-

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tionalen Vollkommenheitsbegriff gestützt werden, wonach jegliches menschliches Handeln und Schaffen hinstrebt. 247 Somit kann nur bedingt von einem Bruch mit der leibniz-wolffschen Schulphilosophie gesprochen werden. Dieser Sachverhalt wird besonders deutlich, wenn man Mendelssohns Konzeptualisierung des Erhabenheitsbegriffs einer genaueren Analyse unterzieht. Im Folgenden wird aufgezeigt, dass in seinen ästhetisch-theoretischen Schriften sich die Naturübel gegen die Klassifizierung als bewunderungswürdige bzw. erhabene Gegenstände sperren. In dem 1755 verfassten und 1761 nochmals in überarbeiteter Form erschienenen Briefdialog Über die Empfindungen definiert Mendelssohn die wahre Vollkommenheit als eine Übereinstimmung des Mannigfaltigen. Im Gegensatz zum Schönen erfordert sie keine auf das begrenzte Vorstellungsvermögen zugeschnittene Einheit, sondern »vernünftigen Zusammenhang« und »Einhelligkeit«: Qualitäten, die bloß die göttliche Vernunft in anschaulicher Form zu fassen vermag (JubA 1: 252). Jegliche Übel in der an sich vollkommenen Naturordnung sind also auch hier nur scheinbar und beruhen auf dem beschränkten Erkenntnishorizont des Menschen: »[D]ie innersten, die kleinsten Theile der Schöpfung, dahin kein Auge dringt, hören nicht auf, vollkommen zu seyn; hören nicht auf, in gegenseitiger Ueber­ einstimmung, so viel zum allgemeinen Endzwecke beyzutragen, als sie vermögen; hören nicht auf, weder Ueberfluß noch Mangel zu dulden« (253). Theokles, eine von Shaftesburys Moralists (1709) inspirierte Figur, bekräftigt im dritten Brief die gängige Lehrmeinung einer begrenzten Schönheit, die weder deutliche noch dunkle Begriffe verträgt. Versucht einerseits die »eingeschränkte Seele« eine Mannigfaltigkeit deutlich zu erkennen, so muss sie »ihre Aufmerksamkeit von dem Ganzen abziehen« und die Teile einzeln nach und nach überdenken (242). Andererseits entzieht sich ein dunkler Gegenstand der begrifflichen Umfassung einer Mannigfaltigkeit völlig. Insofern ist das »unermeßliche All« kein »sichtbar schöner Gegenstand« (243). Dennoch bleibt die Betrachtung des Weltgebäudes für den Weltweisen eine unerschöpfliche Quelle des Vergnügens. Ein vorbereitendes Studium all der in der Fülle innewohnenden Einzelglieder befördert die »Empfindung des Ganzen« und durchdringt die Seele mit den »erhabensten Empfindungen« (244). Mendelssohn befasst sich ausführlich mit dem Erhabenen in den Betrachtungen über das Erhabene und das Naive in den schönen Wissenschaften (1758). Festzuhalten ist, dass die Fertigstellung der ersten Fassung der Betrachtungen vor Mendelssohns Rezeption von Burkes Enquiry erfolgt ist. Das Erhabene wird an die Empfindung der Bewunderung gekoppelt. Unter dieser angenehmen Empfindung lassen sich die 247  In

der Schrift Ueber die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften (1757) attestiert Mendelssohn, das Wesen der nachahmenden Künste bestehe in einer »künstlichen sinnlich-vollkommenen Vorstellung, oder in einer durch die Kunst vorgestellten sinnlichen Vollkommenheit« (JubA 1: 431). Ich zitiere aus der Jubiläumsausgabe der Gesammelten Schriften von Moses Mendelssohn (Sigle, Band, Seitenangabe).

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für das Erhabene charakteristischen Prädikate – das Unerwartete, das Plötzliche, das Neue – subsumieren. Für Mendelssohn ist die Bewunderung eine »plötzlich anschauende Erkenntniß einer Vollkommenheit, die wir dem Gegenstande in den Umständen, in welchen er sich befindet, nicht zugetrauet haben würden, oder überhaupt alles übertrifft, was wir uns vollkommenes gedenken können« (194). Es fällt auf, dass die topischen Gegenstände unbegrenzt erscheinender Naturgrößen erst in der erweiterten Fassung der Betrachtungen (1771) berücksichtigt werden. Mendelssohns Analyse des Erhabenheitsgefühls verläuft in Nachfolge seiner wegweisenden Abhandlung Rhapsodie, oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen nuancierter, insofern als er den Begriff des Sinnlichunermesslichen einführt und dessen Rolle in der Erregung vermischter Empfindungen genauer beleuchtet. Angesichts unermesslicher Gegenstände entsteht ein anfänglicher Schauer gefolgt von einer Art Schwindel (456). Das Scheitern der Sinne, sie zu umgrenzen und mit einer adäquaten Idee zu verbinden, bewirkt insbesondere in den an Ordnung und Symmetrie gewöhnten »wohlerzogenen« Gemütern ein Unlustgefühl, das freilich in vielen Fällen die vorangegangene verspürte Lust an der wahrgenommenen Größe umso reizender macht. Mendelssohn bezeichnet das Sinnlichunermessliche in seiner künstlerischen Nachahmung schlicht als das Große, das er in die »ausgedehnte« und »unausgedehnte« Größe bzw. das Unermessliche der Stärke gliedert. »Das große Weltmeer, eine weitausgedehnte Ebene, das unzehlbare Heer der Sterne, jede Höhe oder Tiefe, die unabsehnlich ist, die Ewigkeit« sind der ersten Kategorie zugeordnet (456), während die zweite »[d]ie Macht, das Genie, die Tugend« in ihrer unermesslichen Entfaltung umfasst (457). Das Erhabene, das als eine separate Kategorie des Unermesslichen betrachtet werden kann, kommt dann erst ins Spiel, wenn ein jedes Ding »dem Grade seiner Vollkommenheit nach« unermesslich ist oder scheint (457 f.). Daraus wird deutlich, dass die kontinuierliche qualitative Bevorzugung des Vollkommenen einer Begriffsverschleifung des Erhabenen mit dem Unermesslichen der Größe und der Stärke im Wege steht. Die Dichotomie zwischen der sinnlichen und geistigen Sphäre bleibt bestehen und der Kulminationspunkt des Erhabenen verbleibt in der Bewunderung einer – wenn auch außerordentlichen – Vollkommenheit.248 Die Frage drängt sich auf, ob die Kehrseite der Bewunderung, der vom Unvollkommenen provozierte Schrecken, in Mendelssohns Konstituierung des Erhabenen überhaupt einen Einlass findet. Auch wenn die Kategorien des Unermesslichen der Größe und der Stärke sowohl Kants als auch Schillers Binnengliederung des Erhabenen zu präfigurieren scheinen, so liegt ein wesentlicher Unterschied darin, dass 248  Demzufolge

gilt es Fritz Bambergers (1902–1984) Behauptung, Mendelssohns Erweiterung des Erhabenheitsbegriffs führe zu einer »Loslösung des Erhabenen von dem Begriff der Vollkommenheit« und zu seiner »Gleichsetzung mit dem ›Unermeßlichen‹« zu revidieren (»Einleitung«, JubA 1: XLIII f.).

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die im Dynamisch- und Praktischerhabenen veranschaulichte Macht verheerender Naturkräfte aus dem konzeptuellen Rahmen der Betrachtungen fällt. So zentral die gewaltsame Machtäußerung Gottes und der Natur in Michael Conrad Curtius’ Abhandlung von dem Erhabenen in der Dichtkunst auch ist, so verliert Mendelssohn kein Wort darüber, wenn er die Schrift in den Briefe, die neueste Literatur betreffend (1761) rezensiert. Gleichermaßen findet das Schreckliche in seiner ausführlichen Burke-Rezension Philosophische Untersuchung des Ursprungs unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen kaum Berücksichtigung in seiner Kritik.249 Der Schrecken wird lediglich im Hinblick auf die Wirkung mit derjenigen der Bewunderung gleichgestellt: »Wie oft, und wie sorgfältig sucht [Burke] uns nicht vielmehr einzuschärfen, daß die Bewunderung, das Erstaunen, eine Art von Schaudern hervorbringe, die der Wirkung des Schreckens ähnlich sind, und daher eine fruchtbare Quelle des Erhabenen seyn können?« (JubA 4: 236). Ergiebiger sind Mendelssohns Anmerkungen über das englische Buch: On the Sublime and the Beautiful. Schrecken und Bewunderung werden an dieser Stelle ebenfalls als verwandte Empfindungen behandelt, allerdings mit dem gewichtigen Unterschied, dass der Gegenstand des Schreckens als unvollkommen, der Gegenstand der Bewunderung hingegen als vollkommen vorgestellt wird. Somit sind »alle physikalische und psychologische Veränderungen, welche durch das Schrecken verursacht werden, unangenehm, durch die Bewunderung aber angenehm.« Es zeichnet sich eine weitere Binnengliederung des Erhabenen ab: Neben dem Erhabenen, das bloß in der Bewunderung zu orten sei, gibt es das »secundarie Erhabene«, dem die Vorstellungen, die »schrecklich, wild, rauh, ungeheuer und dergleichen« sind, zugeordnet werden. Beim letzteren würde er sich, so meint Mendelssohn, der Erörterungen Burkes bedienen und sie mit den eigenen allgemeinen Grundsätzen zu verbinden versuchen. Um dem Schrecken in der Natur das Unangenehme zu entziehen, bedarf es auch hier des distanzierenden Zwischenschritts der künstlerischen Mimesis. Hierdurch verbleibt dem Schrecken nur diejenige Bestimmung, die er mit dem Bewunderungswürdigen teilt, »nehmlich das Plötzliche und Unvermuthete«, wodurch die Wirkung des Erhabenen gesteigert wird (JubA 3,1: 252). Mendelssohn gelingt es jedoch auf eine andere Weise als im traditionellen Gefüge des intellektualistischen Urbild-Abbild-Vergleichs, dem Unvollkommenen eine Vollkommenheit abzuringen. In der Anmerkung zu Burkes »Sect. XIII. Sympathie« konstatiert er, dass die Vorstellung der Unvollkommenheiten eine Vollkommenheit des Geistes sei, insoweit sie zur »Erkenntniß der Schranken« beitrage und die Seele dazu bringe »Unvollkommenheiten zu verabscheuen« (239). Während die Vergegenwärtigung der wahrgenommenen Unvollkommenheit heftige Leidenschaften hervor249 

Carsten Zelle siedelt den Entstehungszeitraum der Burke-Rezension und der darauf folgenden Burke-Anmerkungen zwischen April und Mai 1758 an (vgl. Grauen 342).

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ruft, verspürt das Subjekt im Bewusstwerden der Seelenfähigkeit, diese Affekte zu empfinden, ein Lustgefühl.250 Diesen Reflexionsvorgang bringt Mendelssohn in der revidierten und erweiterten Fassung der Rhapsodie zu seiner vollen Entfaltung. Die Abhandlung Rhapsodie, oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen, die zum ersten Mal in den Philosophischen Schriften von 1761 erschien, gehört zu Mendelssohns bedeutendsten dichtungstheoretischen Erzeugnissen. Sie wird in der Forschungsliteratur als Wendepunkt für die »begriffliche Fassung der ›vermischten Empfindungen‹ im allgemeinen und der ›schmerzhaftangenehmen Empfindungen‹ im besondern betrachtet« (Zelle, Grauen 348). Mendelssohns rechtfertigende Erklärung des Vergnügens am Unvollkommenen, Bösen und Schreckhaften wird von seiner Rezeption der burkeschen Enquiry maßgeblich beeinflusst. Vollzieht sich das Übel unmittelbar vor unseren Augen, empfinden wir es als unangenehm; ist dieses aber einmal ohne unser Verschulden geschehen, besteht die notwendige physischpsychische Distanz, um sich an der Vorstellung der außergewöhnlichen Unglücksszenerie ergötzen zu können: Wir mißbilligen das geschehene Böse, wir wünschten, daß es nicht geschehen sey, oder daß es in unsrer Macht stünde, es wieder gut zu machen. Ist aber das Uebel einmal geschehen, ist es ohne unser Verschulden geschehen, und ohne daß wir es verhindern können; so hat die Vorstellung davon vielmehr einen starken Reiz für uns, und wir sehnen uns dieselbe zu erlangen. Das im Erdbeben untergegangene Lissabon reizte unzehlige Menschen, diese schreckliche Verwüstung in Augenschein zu nehmen. Nach dem Blutbade bey *** eilten alle unsere Bürger auf das mit Leichen besäete Schlachtfeld. Der Weise selbst, der mit Vergnügen durch seinen Tod dieses Uebel verhindert haben würde, watete, nach geschehener That, durch Menschen250  Mendelssohn gibt an, dass seine Überlegungen über die Lust am Unvollkommenen von einem »gewissen Brief von Herrn Lessing« inspiriert worden seien (JubA 3,1: 239). Im Brief an Mendelssohn, den Lessing am 2. Februar 1757 verfasste gibt er folgende Erläuterung über das Vergnügen an den heftigen Leidenschaften: »Darinn sind wir doch wohl einig liebster Freund, daß alle Leidenschaften entweder heftige Begierden oder heftige Verabscheuungen sind? Auch darinn: daß wir uns bey jeder heftigen Begierde oder Verabscheuung, eines größeren Grads unsrer Realität bewußt sind, und daß dieses Bewußtseyn nicht anders als angenehm seyn kann? Folglich sind alle Leidenschaften, auch die allerunangenehmsten, als Leidenschaften angenehm. Ihnen darf ich es aber nicht erst sagen: daß die Lust, die mit der stärkern Bestimmung unsrer Kraft verbunden ist, von der Unlust, die wir über die Gegenstände haben, worauf die Bestimmung unsrer Kraft geht, so unendlich kann überwogen werden, daß wir uns ihrer gar nicht mehr bewußt sind« (Briefwechsel 101). Fritz Bamberger hat in seiner Einleitung aufgezeigt, dass die Wendung, die Vorstellungstätigkeit sei an sich – ungeachtet des Inhalts und Gegenstandes – angenehm, auf die Leibniz-Wolffsche Monadenlehre zurückzuführen sei: »Das Wesen der Monaden ist Vorstellen, die Ausübung dieser Tätigkeit ist ihr Sinn und also lustvoll« (JubA 1: XXX). Vgl. dazu Artikel 91 in den Leidenschaften der Seele, wo Descartes auf ähnliche Weise die intellektuelle Freude an der Tätigkeit der Seele behandelt.

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blut, und empfand ein schauervolles Ergötzen bey Betrachtung dieser schrecklichen Stäte. (JubA 1: 383 f.)251

Grundlegend an Mendelssohns Unterfangen, die Anziehungskraft des Unvollkommenen psychologisch zu rechtfertigen, ist die Gliederung des Wahrnehmungsvorgangs in zwei distinkte Beziehungshälften. Jede Vorstellung steht nämlich in einer doppelten Beziehung, »einmal auf die Sache, als den Gegenstand derselben, davon sie ein Bild oder Abdruck ist, und so dann auf die Seele, oder das denkende Subjekt, davon sie eine Bestimmung ausmachet« (384). Von Seiten des Vorwurfs oder des denkenden Subjekts werden die bejahenden oder verneinenden Merkmale eines Gegenstandes bestimmt, d. h. etwas Sachliches wird ihm zu- oder abgesprochen. Die bejahenden Merkmale einer Sache werden einerseits als Elemente der Vollkommenheit beurteilt und rufen Wohlgefallen hervor, andererseits stoßen die verneinenden Merkmale, die die Elemente der Unvollkommenheit kennzeichnen, auf Missbilligung. Somit verspüren wir in Beziehung auf den Gegenstand, je nachdem dieser beschaffen ist, entweder Lust oder Unlust. Allerdings wird die Wahrnehmung von Merkmalen, wie »die Bezeugung des Wohlgefallens und Mißfallens an denselben«, von der Seele stets als eine bejahende Bestimmung aufgefasst (385). Daraus zieht Mendelssohn den Schluss, dass jegliche Beschäftigung der Erkenntnis- und Begehrungskräfte der Seele, auch wenn die Vorstellung unangenehm ist, »in Beziehung auf den Vorwurf nichts anders, als angenehm seyn können« (389). Die Vorstellung des Bösen wird demzufolge »selbst ein Element der Vollkommenheit, und führet etwas Angenehmes mit sich, das wir keinesweges lieber nicht empfinden möchten« (386). Mit außerordentlichen Anstrengungen ist Mendelssohn bemüht, das Übel mittels der ästhetischen Betrachtung in ein Sinngefüge zu pressen und dessen Darstellung gegen moralische Einwürfe abzusichern. Grundsätzlich stützt sich die Rechtfertigung unangenehmer Empfindungen auf die Hypothese Dubos’ und ­Burkes, dass die Wahrnehmung starker und lebhafter Eindrücke für das Wohlbefinden der Seelenkräfte förderlich sei: Was blos angenehm ist, führet bald eine Sättigung, und zuletzt den Eckel mit sich. Unsere Begierde erstreckt sich allezeit weiter, als der Genuß, und wenn sie ihre völlige Befriedigung nicht findet; so sehnet sich das Gemüt nach der Veränderung. Hingegen fesselt das Unangenehme, das mit dem Angenehmen vermischt ist, unsere Aufmerksamkeit, und verhindert die allzu frühe Sättigung. Bey dem sinnlichen Geschmacke zeiget die tägliche Erfahrung, daß eine reine Süßigkeit bald den 251 

Vgl. dazu Section XV »Of the effects of TRAGEDY« in Burkes Enquiry (48 f.). Während Mendelssohn das Erdbeben von Lissabon und das Grauen des Siebenjährigen Krieges als Beispiele aufführt, erwähnt Burke die Exekution eines Adligen und den Untergang Londons durch Feuer und Erdbeben.

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­ ckel nach sich ziehet, wenn sie nicht mit etwas Reizendem vermengt wird. (JubA E 1: 396 f.)

Dieser psychisch-physiologische Ansatz droht den Rahmen einer Vollkommenheitsästhetik zu sprengen, da er ohne präskriptive metaphysische Leitprinzipien auskommt. Unter diesem Gesichtspunkt benötigt der rezipierte Gegenstand keiner Vollkommenheit, um von anderen vorgezogen zu werden. 252 Die Darstellung des Ungestümen und Bedrohlichen, des an sich »Nicht-Haben-Wollenden«, lässt sich mit der Konzession an die Rezeptionsästhetik legitimieren; jedoch bleibt fraglich, wie unten genauer erläutert wird, ob Mendelssohn dazu bereit ist, die gewaltsamen Naturmächte ästhetisch als bewunderungswürdige Objekte des Erhabenen zu klassifizieren. Bedeutsamerweise rekapituliert Mendelssohn in seinen anschließenden Über­ legungen zum Unermesslichen den Standpunkt, dass den erhabenen Gegenständen notwendigerweise eine Vollkommenheit anhaften müsse. Wie in den Betrachtungen über das Naive und Erhabene in den schönen Wissenschaften kommt es an dieser Stelle zu keiner nennbaren Übertragung des Erhabenheitsbegriffs auf die von Burke angeführten Schreckensmächte. Hinsichtlich der durch das Sinnlichunermessliche erregten Lust und Unlust zeichnet sich wie in Sulzers Allgemeine Theorie der schönen Künste eine Differenzierung zwischen dem Erkenntnis- und Begehrungsvermögen ab. Einerseits hemmt die Wahrnehmung der extensiven Größe, sie »ermüdet« die Erkenntniskräfte, andererseits empfindet das Subjekt im Falle der intensiven Größen, »die wir bewundern, aber nicht erreichen können«, eine Beschränkung seiner Begehrungskräfte. In der Konfrontation mit den erhabenen Gegenständen wie »[der] Unermeßlichkeit des Weltgebäudes, [der] Größe eines bewunderungswürdigen Genies, [der] Größe erhabener Tugenden« kommt Mendelssohn auf das Grundprinzip der verspürten Unlust zu sprechen.253 Sie gründet sich grundsätzlich nicht auf die 252 Fritz

Bamberger geht in seiner Einleitung auf diese Problematik ein: »Die Vollkommenheitsästhetik wird hier deshalb in ihren Grundlagen getroffen, weil die Verankerung der Ästhetik in der Seelenlehre nicht mehr gleichbedeutend ist mit der Erklärung der allgemeinsten ästhetischen Tatsachen durch eine Wertlehre, die im Sinne Wolffs die Gründe des Vorziehens, des Lieberhabens in der Vollkommenheit erblickt, die der vorgezogene Gegenstand besitzt, und entsprechend für das Nicht-Haben-Wollen« (JubA 1: XLI). 253  Paul Barone argumentiert in seinem Abriss über das Erhabene in der deutschen Aufklärung, Mendelssohn rechne in der Rhapsodie »das Erhabene dem Unermeßlichen der unausgedehnten Größe« zu bzw. die Bewunderung des außerordentlichen Vollkommenen werde dem intensiv Großen untergeordnet. Diese Kategorie des intensiv Großen bezeichnet Barone als neu, da sie sich vom Erhabenen unterscheidet, das Mendelssohn in Über das Erhabenen und Naive noch im schulphilosophischen Sinn als eigenständige ästhetische Kategorie aufrechterhalten wollte: »Dieses Schwanken in der Begriffseinteilung könnte ein Zeichen dafür sein, wie stark die neue englische Ästhetik die schulphilosophischen Theoriebildungen zu erschüttern beginnt« (88). Barone übersieht jedoch, dass Mendelssohn in der Rhapsodie auch die »Unermesslichkeit des Weltgebäudes« und somit die extensive Größe berücksichtigt. Das Weltgebäude ist bekannt-

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Beziehung zum Gegenstand, der vollkommen ist und deshalb »ein unaussprechliches Vergnügen« bereitet, sondern auf »unsere Schwachheit«, die Beschränktheit der eigenen Vermögenskräfte (398). Mendelssohn beruft sich an dieser Stelle auf den herkömmlichen Größenvergleich zwischen der selbstempfundenen Nichtigkeit und der inkommensurablen Gottesgröße: Was für seelige Empfindungen überraschen uns, wenn wir an die unermeßliche Vollkommenheit Gottes gedenken! Unvermögen begleitet uns zwar auf diesem Fluge, und drückt uns in den Staub zurück. Aber die Entzückung über jene Unendlichkeit, und das Mißvergnügen über unser eigenes Nichts vermischen sich in eine mehr als wollüstige Empfindung, in ein heiliges Schauern. (398 f.)

Für uns »eingeschränkte Wesen« kann es kein reines Vergnügen an der göttlichen Vollkommenheit geben, weil sie von Seiten des Gegenstands »über alle Mängel unendlich erhaben« und mit der Unlust über die subjektiv empfundene Begrenztheit untrennbar verstrickt ist (399). Aus Mendelssohns Ausführungen lässt sich schlussfolgern, dass Naturübel nicht den genügenden Vollkommenheitsgrad aufbringen, um als erhaben klassifiziert zu werden. Dennoch vermag das Unvollkommene in der Natur ein gewisses Vergnügen zu bewirken, weil ein Gegenstand, der ein reines Missvergnügen bereiten würde, schlicht ein Ding der Unmöglichkeit wäre: Alles Böse, das in der Natur anzutreffen ist, das sich nur gedenken läßt, muß mit etwas Gutem vermischt seyn. Das vollkommenste Böse würde ein Wesen seyn, dem nichts als verneinende Merkmale zukommt, ein wahres Unding! Wenn nun […] die bejahenden Merkmale eines Dinges, wenn sie anschauend erkannt werden, allezeit Lust erregen; so kann die Vorstellung keines Wesens, auch in Beziehung auf den Gegenstand betrachtet, blos unangenehm seyn. (399)

Diese Kernaussage erhellt den metaphysischen Boden von Mendelssohns Theorie der vermischten Empfindungen. Wie bei der Apperzeption des Bösen muss auch das auftretende Übel in der Natur ein »bejahendes Merkmal« bzw. ein Element der Vollkommenheit beinhalten. Das Vollkommene verbleibt als Substrat in den Manifestationen der göttlichen Schöpfung ontologisch verankert und ist für die Beförderung der Glückseligkeit unumgänglich: »In der Vollkommenheit besteht das lich eine Chiffre für die Vollkommenheit seines göttlichen Urhebers und konstituiert deswegen einen erhabenen Gegenstand. Den anderen aufgeführten Beispielen, Tugend und Genie, die zur Kategorie des intensiv Großen zugehören, wird in jedem Falle eine Vollkommenheit attribuiert. Von einem »Schwanken der Begriffseinteilung« kann hier nicht die Rede sein, wenn man Mendelssohns enge Verschränkung des Vollkommenen mit dem Erhabenheitsbegriff berücksichtigt. Jeder Gegenstand sei erhaben, wenn er ein unermessliches Maß an »bejahenden Merkmale[n]« besitze (JubA 1: 399).

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Wesen Gottes; sie ist der Plan der Schöpfung, die Quelle aller natürlichen und übernatürlichen Begebenheiten, das Ziel aller unser Begierden und Wünsche, die Richtschnur unseres Thuns und Lassens; sie ist der höchste Grundsatz in der Sittenlehre, in der Politick, und in den Künsten und Wissenschaften des Vergnügens« (JubA 1: 408). Im erweiterten Sinne ist es dann auch die Vollkommenheit des unermesslich Ganzen, das das partikuläre Übel in sich relativiert. Im dritten Gespräch des umgearbeiteten platonischen Dialogs Phädon, den Mendelssohn im Sommer 1766 fertig stellte, wird in typischer Manier verdeutlicht, wie physische und moralische Mängel in der Vergegenwärtigung der Herrlichkeit Gottes verblassen. Hier verdrängt der aufgeklärte Gottesbegriff die Vorstellung des straftheologischen Richtergottes gänzlich vollends: In unsern Augen verleugnet das Sittliche so wenig, als das Physische dieser Welt, die Vollkommenheit ihres Urhebers. So wie sich in der physischen Welt Unordnungen in den Theilen, Stürme, Ungewitter, Erdbeben, Ueberschwemmung, Pest, u. s. w. in Vollkommenheiten des unermeßlichen Ganzen auflösen: eben also dienen in der sittlichen Welt, in dem Schicksale und den Begegnissen des geselligen Menschen, alle zeitlichen Mängel zu ewigen Vollkommenheiten, vergängliches Leiden zu unaufhörlicher Seligkeit, und kurze Prüfung zu dauerhaftem Wohlseyn. Das Schicksal eines einzigen Menschen in seinem gehörigen Lichte zu betrachten, müßten wir es in seiner ganzen Ewigkeit übersehen können. Alsdann erst könnten wir die Wege der Vorsehung untersuchen und beurtheilen, wann wir die ewige Fortdauer eines vernünftigen Wesens unter einen einzigen, unserer Schwachheit angemessenen Gesichtspunkt bringen könnten: aber alsdann seyd versichert, meine Lieben! würden wir weder tadeln, noch murren, noch unzufrieden seyn; sondern voller Verwunderung die Weisheit und Güte des Weltherrschers verehren und anbeten. (JubA 3,1: 122)

Die Textstelle attestiert unmissverständlich den kontinuierlichen Einfluss der leibnizschen Theodizee in Mendelssohns Denken. Es kommt daher nicht von ungefähr, wenn er trotz seiner enthusiastischen Rezeption der Burkeschen Seelenlehre nicht umhin kommt, ihre psychisch-physiologische Fundierung zu kritisieren: [Burke] sahe den Grundsatz, daß die anschauende Erkenntnis der Vollkommenheit Lust gewährt, für eine bloße Hypothese an, und die mindeste Erfahrung, die der Hypothese zu widersprechen schien, war ihm Grundes genug, sie zu verwerfen. Wer aber überzeugt ist, daß dieses Grundgesetz der Empfindungen keine Hypothese, sondern eine ausgemachte, und unumstößliche Wahrheit sey, der läßt sich keine Erfahrung irren, sie mag noch so sehr das Gegentheil darzuthun scheinen. (JubA 1: 400).

Demzufolge darf die ästhetische Betrachtung des Sinnlichunermesslichen nicht zum bloßen selbstzweckhaften Sinnesvergnügen ausarten. Der Gedankensprung

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hin zu einem in die Außenwelt projizierten ideellen Ganzen verbleibt ein grund­ legendes Kriterium der Erhabenheitserfahrung. Insofern bricht Mendelssohn nicht mit der deutschen Schulphilosophie. Das Erschauern gründet sich in seinen Ausführungen auf das Offenbarwerden der höchsten Wahrheit und des höchsten Seins. Nicht die aristotelische Verminderung, sondern die platonische Steigerung des Staunens erweist sich als epistemologische Richtlinie. Im Moment der ästhetischekstatischen Anschauung lösen sich die auftretenden Übel als belanglose Chimären auf und fügen sich unter die Herrschaft des vollkommenen Ganzen. Auch die Anziehungskraft schrecklicher Begebenheiten erweist sich als integrierter Bestandteil der Vollkommenheit. Zu bedenken ist, dass Mendelssohns theoretischer Beitrag über das Erhabene nicht auf ein autarkes Selbst hindeutet. Vielmehr bestimmt immer noch die Fallibilität der menschlichen Vermögen bzw. das Demutsbekenntnis vor dem Weltherrscher seine Formulierung der Erhabenheitserfahrung. Der empfindsame Betrachter oszilliert zwischen der Entzückung über das wahrgenommene inkommensurable Vollkommene und dem Missvergnügen an der eigenen Unvollkommenheit. Von einer heroischen Selbstbehauptung des Subjekts, das angesichts der Umwälzungen in der Erfahrungswelt sich der eigenen Seelenenergie bewusst wird und nach praktischer Tätigkeit und Veränderung drängt, kann in Mendelssohns Überlegungen – man erinnere sich an die obige Aussage: »[A]ber alsdann seyd versichert, meine Lieben! würden wir weder tadeln, noch murren, noch unzufrieden seyn« – nur beschränkt die Rede sein. Die Idee der Vollkommenheit absorbiert die vom physischen Übel bewirkten Verheerungen vollständig; das vom Individuum erlittene Leid gereicht nicht zur Kritik der göttlichen Ordnung und muss stillschweigend hingenommen werden: ein Standpunkt, der von der Generation des Sturm und Dranges als Tyrannei des Ganzen beanstandet wurde.

c)  Johann Georg Schlosser: das Erhabene als energetische Seelentätigkeit Johann Georg Schlosser, der aufgrund seiner Heirat mit Goethes Schwester Cornelia (1750–1777) als dessen Schwager der Nachwelt in Erinnerung geblieben ist, publizierte 1781 eine deutsche Neuübersetzung des Longinischen Traktats. In der Literaturwissenschaft zählt man Schlosser allgemein zum Kreis der »Stürmer und Dränger« was im Hinblick auf die »Fragilität der Periodisierungsmarke ›Sturm und Drang‹« wie Carsten Zelle bemerkt hat, allerdings nicht vorbehaltlos angenommen werden kann.254 Sicherlich gewann Longin in einem poetologischen Umfeld, in dem von wirkungsästhetischer Seite die Erregung heftiger Affekte energisch befürwortet wurde, an Auftrieb. Schlosser schätzte an Peri hypsous, was bei den früheren 254 

Vgl. Zelle, »Rhetorik« 164–69.

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Kommentatoren eher auf Kritik gestoßen war, nämlich das Fehlen einer einschlägigen Begriffskonstituierung des Erhabenen: »[Longin] giebt wenig Regeln, wenig Grundsätze, noch weniger Erklärungen; sondern er zeigt meist nur aus glücklich gewählten Beyspielen, was es ist in ihnen, das die Wirkung thut, die wir an uns fühlen« (Vorrede X).255 Nach seinem Geschmack waren die vorangegangenen Ausführungen über das Erhabene von François Silvain (um 1670–1742), Immanuel Kant und Edmund Burke ungenügend ausgefallen, und somit sah er sich berufen, den Begriff im Anhang seiner Übersetzung einer ausführlichen Analyse zu unterziehen.256 Bemerkenswert an seiner Schrift Versuch über das Erhabene als ein Anhang zum Longin vom Erhabenen ist, dass seine Begriffskonstituierung des Erhabenen gemäß psychologischen Beobachtungen verläuft (Vorrede XIV).257 Der Bezug auf eine äußere Vollkommenheit, an der sich das Subjekt misst und zu dem es emporstreben will, entfällt. Schlosser konzentriert sich vielmehr auf die energetischen Seelenkräfte, die zum Erhabenheitsgefühl beisteuern. Den Teil-Ganzen Vergleich stößt er von sich, was soviel bedeutet, dass das Vertrauen in die populärphilosophische Doktrin eines zweckmäßigen und harmonischen Naturganzen brüchig geworden ist. Diesbezüglich entledigt Schlosser sich einer grundlegenden Denkstruktur, das den Anhängern der leibniz-wolffschen Schultradition erlaubt hat, die den Menschen anfallenden Naturübel zu relativieren und zu rechtfertigen. Um den Bruch mit dieser Denktradition genauer zu erläutern, ist es in diesem Zusammenhang fruchtbar, auf eine Frühschrift Schlossers zurückzugreifen, die aufzeigt, weshalb seine Theorie des Erhabenen sich nicht auf das Vollkommenheitsganze stützt und stattdessen die dynamische Seelenenergie des empfindsamen Subjekts als Richtmaß hervorhebt. Im Jahre 1776 wurde eine deutschsprachige Prosaübertragung von Schlossers ursprünglich auf Englisch verfasstem Gedicht AntiPope oder Versuch über den Natürlichen Menschen veröffentlicht. Wie die popesche Vorlage hat er seine Verse in Briefkapiteln unterteilt, von denen die ersten vier, die 255  Zitiert

wird nach Johann Georg Schlosser. Longin. Vom Erhabenen mit Anmerckungen und einem Anhang. Leipzig: Bey Weidmanns Erben und Reich, 1781. 256  Insbesondere Kants vorkritische Schrift Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764) kritisiert Schlosser mit niederschmetternden Worten: »Cant hat ein bekanntes Buch über das Erhabene geschrieben, es ist aber sehr übel gerathen, und seine Begriffe von dieser Art der Empfindungen sind so verwirrt, und so unbestimmt, als sein Vortrag« (266 f.). Schlossers Polemik gegen Kant wird bis ins hohe Alter weitergeführt und trifft insbesondere die kritische Philosophie des Königsberger Philosophen. 257  In der Vorrede resümiert Schlosser den Stellenwert der Psychologie in der Poesie: »Es ist nun wohl kein Zweifel mehr, daß die Psychologie der Schlüssel zu allen schönen Künsten und Wissenschaften seyn muß. Die Kenntniß der Wege der Einbildung, und ihr und aller unserer Sinnen und unserer Seelenkräfte Einfluß auf unsere Empfindung, enthält das Geheimniß des Dichters, des Redners, des Künstlers. Auch kann nichts das Schiefe, das Halbwahre und das Wahre der Theorienschreiber besser sichten, als die Zusammenhaltung ihrer Grundsätze, auch nur mit dem Wenigen, was wir von der Psychologie wissen« (Vorrede XIV f.).

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bereits 1766 entstanden, den populärphilosophischen Optimismusgedanken aufs Schärfste attackieren. Anstelle einer abgeklärten Kontemplation über die Beste aller Welten stößt man im Anti-Pope auf sukzessive unbeschönigte Unglücksszenerien. Ganz nach dem Diktum des heilsamen Schreckens soll der stolze Mensch mit aufwühlenden Bildern konfrontiert werden, »um ganz glücklich zu werden, ganz sein Elend zu fühlen«; wie ein Arzt müsse der Dichter »ganz seine Wunde aufreißen, daß nicht der Brand die unterfreßne Glieder verstöre« (107). Folgendes Schauspiel ungestümer Naturgewalten offenbart Züge, die an Passagen aus Goethes Die Leiden des jungen Werther (1774) 258 und Lenz’ Verszyklus Die Landplagen gemahnen: Was für schreckliche Anblicke öffnen sich mir! Wie ist der Mond gehüllt in zehn­ fache Nacht! Die Welt ist verfinstert, hohle Berge seufzen, die schwere Wolken stürzen sich in Fluten herab, reißen ewige Hügel hin, brechen, wüten, und rufen den Donner zur Hilfe; die Angeln des Himmels springen auf, Nordwinde spornen, der Donner kömmt, er rollt, Welten starren; er schleudert den Keil, Welten brennen; die aufrührerische Natur und ihre Diener arbeiten die alte Welt zu verschlingen, oder eine neue auszuspeyen. – Ist das das goldene Land, das aromatische Thal, die blühende Wiese, die bunte Ebene, das? Tod heult siegend über meinen Scheitel, tobende Winde erschüttern unter mir den Mittelpunkt der Erde; hier droht ein schrecklicher Sturm, dort breitet sein Scepter Verwüstung aus; die Elemente streiten über ihre verstörten Gränzen, die Schöpfung seufzt, die hohle Welt schallt wieder; die gescheiterte Natur läst das zerschmetterte Ruder sinken; Welten fallen zum Chaos, Himmel liegen wüst. – Ja, so muste die seyn, die schwarze abscheuliche Scene, die Wohnung für Wesen, gemacht zum Elend. Eine kurze Mummerey vergüldeter Freude muste abwechseln mit allen Schrecken des Abgrunds, das selbst unsre Freuden, verbittert

258  Vgl. folgende düstere Gedankenschilderungen aus Werthers Brief vom 18. August, worin die idyllische mit der schrecklichen Natur gegenüber gestellt wird: »Es hat sich vor meiner Seele wie ein Vorhang weggezogen, und der Schauplatz des unendlichen Lebens verwandelt sich vor mir in den Abgrund des ewig offenen Grabes. Kannst du sagen: Das ist! da alles vorübergeht? da alles mit der Wetterschnelle vorüberrollt, so selten die ganze Kraft seines Daseins ausdauert, ach, in den Strom fortgerissen, untergetaucht und an Felsen zerschmettert wird? Da ist kein Augenblick, der nicht dich verzehrte und die Deinigen um dich her, kein Augenblick, da du nicht ein Zerstörer bist, sein mußt; der harmloseste Spaziergang kostet tausend armen Würmchen das Leben, es zerrüttet ein Fußtritt die mühseligen Gebäude der Ameisen und stampft eine kleine Welt in ein schmähliches Grab. Ha! nicht die große, seltne Not der Welt, diese Fluten, die eure Dörfer wegspülen, diese Erdbeben, die eure Städte verschlingen, rühren mich; mir untergräbt das Herz die verzehrende Kraft, die in dem All der Natur verborgen liegt; die nichts gebildet hat, das nicht seinen Nachbar, nicht sich selbst zerstörte. Und so taumle ich beängstigt. Himmel und Erde und ihre webende Kräfte um mich her: ich sehe nichts als ein ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer« (HA 6: 52 f.). Marion Hellwig hat darauf hingewiesen, dass Schlossers Anti-Pope den Zeitgenossen wie Goethe, Friedrich Schiller, Lenz und Johann Jacob Bodmer »wohlbekannt« war (249).

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durch den drohenden Streich, aus dann noch die Feindschaft der Natur bewiesen, wenn sie schmeichelt. (108 f.)

In Anbetracht der allgegenwärtigen Verwüstungen entlarvt Schlosser die Befürworter des Aufklärungsoptimismus, Leibniz, Wolff und Pope, als unbarmherzige Denker, die das Elend auf Erden mit ihren hämischen Machtsprüchen bloß vergrößert haben (vgl. 138 f.). Sein Hauptanklagepunkt richtet sich gegen die tyrannische Macht des Ganzen, die die auftretenden Übel im Weltensystem auf Kosten des individuell empfundenen Leids ins Belanglose relativiert: Was sind unsere Wünsche, wenn unser Schicksal von einem unbekannten Ganzen abhängt? Was ist wahrscheinlich unser, wenn jeder Stern das Glück wegreißen kann, das wir in der Ferne sehen? Und darum sollt er nicht, wenn ich in dem unendlichen Ganzen nicht Zweck, nur Mittel bin? Will das Ganze, daß ein Theil leide; der Theil kannst du seyn oder ich. (19 f.)

Auch wenn das Ganze Vollkommenheit beanspruchen kann, schließt dieses meta­ physische Konstrukt das Eigenrecht nicht aus, sich über die widerfahrenen Entbehrungen zu beklagen. Wenn Gott den Menschen für das Ganze erschaffen haben soll, warum hat er ihm keinen Instinkt für den großen Zweck eingepflanzt? Der dominante Trieb der Selbstliebe richtet sich ausschließlich auf das Wohl des Teils und selbst unter der Herrschaft der Vernunft lässt er sich nicht bändigen. Insofern vermag selbst die Vernunft den Ansprüchen des Ganzen nicht gerecht zu werden. Auch wenn die neue Naturphilosophie namhafte Fortschritte erzielt hat, ist die gegenwärtige Vernunft ebenso beschränkt wie bei den Alten. Wie kann man über das Weltganze ein verbindliches Urteil fällen, wenn es nach wie vor am klaren Verständnis der eigenen Psyche mangelt? Noch immer nickt die Vernunft; immer sich selbst unbekannt, bleibt ihr gröster Ruhm, ihre Unwissenheit zu gestehen; sie sah Flecken in der Sonne, Seen im Monde, zeichnete die Straße, die die Planeten laufen, fesselte die Luft, und zwang den Donner des Himmels, demütig zu gehorchen – das hat sie all gethan, aus sich gelehrt gethan! – wie viel bleibt noch zu thun? Ihr kennt Erde, Meer und Himmel, und kennt euch selbst nicht! (55 f.)

Schlosser charakterisiert die Seele als einen opaken Bereich. Als gewaltsame Natur im menschlichen Innern besitzt sie ein unberechenbares Eigenleben: »Was ist der Behälter von Gedanken, von dem ihr in euren Schulen so viel schwatzt; diese finstre Terra incognita der Seele, wo nicht Kinder des Sinns, von sich selbst, Gedanken, Wunder, Furcht, Freuden und Sorgen erwachen; wo in zehn tausend sehr harmonischen Seelen eben derselbe Gedanke aufwacht, so oft der Donner heult?« (60 f.). Freilich konstatieren die Schulphilosophen, dass gerade die Tugend sich stets von

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der Vernunft leiten lässt, jedoch verbleibt eine übergreifende Tugendnorm, die das Wohl der ganzen Menschheit umfasst, von Seiten der Erfahrung eine reine Spekulation: »Liegt alle unsre Tugend am Ganzen; wer kann Tugend wägen, wenn er das Ganze nicht sah?« (66). Vielmehr wird das menschliche Tun von den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Interessenkonflikten diktiert. Nicht auf abstrakte Gedankengerüste soll sich die Tugend abstützen, sondern auf der vom Herzen gewählten, großen Tat des Menschen: »Nie steigt sie über die Gränzen der Menschheit, in ihm muß alle Tugend anfangen und enden« (116). Allerdings darf daraus nicht geschlossen werden, dass sie durch die Temperamente mechanisch gesteuert wird, denn ein »denkendes Geschöpf« muss sich »höher schwingen« als die Befriedigung unmittelbarer körperlicher Bedürfnisse (65). Es zeigt sich, wie Schlossers Denken hin und her gerissen sich im Spannungsfeld des Ideellen und Materiellen bewegt. Im fünften und letzten Brief »Religion«, der nachträglich zusammen mit der deutschen Übersetzung entstanden ist, situiert er den transzendenten Ausgleich zum Vernunftpessimismus in den Glauben, wobei er aber kein strikt konfessionelles Christentum, sondern eine persönliche Hingabe an Gott und Christus propagiert. Die Liebe wird zum alleingültigen Leitprinzip für ein erfülltes Dasein auf Erden erklärt: Wer schwer beladen leidet, lerne Liebe; wer bis zum Ueberdruß den Becher der menschlichen Freude genossen hat, lerne Liebe! Sie ist das große unendliche Gesetz, das einzige Band der Geister. Spannt die einen Nerven, und schwingt dann die Flügel, sie geben euch zu Gott. Keine Weisheit führt zu Christus, nur Liebe und Wahrheit. (153)

Hinsichtlich der angefügten Apologie des Glaubens wird deutlich, dass das skeptische Vorhaben, gegen vorherrschende metaphysische Denkstrukturen anzukämpfen, auf Grenzen stößt. Obgleich der Rückzug ins Religiöse die Durchschlagskraft des Anti-Pope schmälert, zeugt die Anklage gegen die »Tyrannei des Ganzen« dennoch von einem sich selbst behauptenden Individuum. Schlossers ungeschmälerte Veranschaulichung des von den Naturumwälzungen hervorgerufenen Leids wird nicht durch den kosmischen Weitblick wieder relativiert. Die Rechtfertigung der Erregung von heftigen Empfindungen stützt sich grundlegend auf die selbstreferentielle Bewegung der Seelenkräfte. Im Widerstreit mit den außerordentlichen Naturmächten fühlt sich das ergriffene Subjekt nicht zur kontemplativen Reflexion, sondern zum tätigen Handeln angeregt. Dadurch erschließt sich ein Modus der Selbstbehauptung, der die bewährte Denkstruktur, das physische Übel im vollkommenen Naturganzen aufzuheben, hinter sich lässt. Trotz der starken Anlehnung an Longin lässt sich in Schlossers Versuch über das Erhabene ein deutlicher Neunansatz eines subjektorientierten Erhabenheitsbegriffs eruieren. Das Erhabene entzündet sich entweder an der »Begierde der Nacheife-

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rung«, oder am »Trieb zu widerstehen«, am »sympathetische[n] Gefühl, das alle Menschen in sich haben, und wodurch ihre Empfindungen alle die Tinten annehmen, welche die Gegenstände haben, die auf sie wirken«, an der Einbildungskraft, »die diesen »Gegenständen Einfluß auf den Menschen zuschreibt, oder selbst den Menschen ihnen gleichstellt«, oder zuletzt instinktmäßig am »bloße[n] sinnliche[n] Gefühl« (278 f.). Schlossers Auflistung der Seelen erhebenden Szenarien veranschaulicht gleichermaßen, wie unübersichtlich die Anzahl der topischen Beispiele mittlerweile geworden ist: So kann der hohe Berg, so kann der dahinreißende Fluß; der Sturm, der Donner, das Meer, der ausgebreitete Himmel, die Armee, die zum Angriff daher schreitet, ein Tempel, ein prächtiger Palast, eine edle Ruine, selbst der schneidende Ton der Flöte, oder der Geige, alles das kann die Seele heben; oft kann die bloße Finsterniß, und anderswo wieder das ausströmende Licht, diese Empfindung des Erhabenen geben; und niemand kann sagen, sie gebens auf diese Art, oder auf jene. (279)

Bezüglich der rezipierten Phänomene gibt Schlosser an mehreren Stellen zu bedenken, dass ihnen vom urteilenden Subjekt eine bedingte, oftmals unangemessene Größe zuerkannt werde (vgl. 281 f., 293, 308 ff.). Freilich existieren physische und moralische Gegenstände, die bereits »ungewöhnliche Größe, edle ungewöhnliche Kräfte, ungewöhnliche Thätigkeit« besitzen, denen die Seele mit Wohlgefallen nachhängt (281). Er verwirft jedoch das von Moses Mendelssohn aufgestellte Theorem, dass das Erhabene als eine »Unermeßlichkeit der Vollkommenheit« zu bezeichnen sei (281 f.). Denn verschiedenste Faktoren, »die Stimmung, worinn sich ein Mensch befindet, seine Erziehung, seine Vorurtheile, Religion, und die ganze Meublirung seiner Einbildungskraft« vereiteln die Konstituierung einer allgemeingültigen Richtlinie für die Beurteilung erhabener Gegenstände (310). Was hingegen eindeutiger bestimmbar ist, sind die mit der erhabenen Empfindung korrespondierenden körperlichen Sensationen: »[…] das Klopfen des Herzens, die ausgespannten Arme, die Thränen im Auge, das Beben der Glieder, das Zittern jeder Nerve, das starre Aufblicken des Auges: das alles zeugt, daß jede Kraft des Fühlers gespannt, und allen zusammen die Welt zu klein ist« (279 f.). Während Mendelssohn eine Übertragung des Erhabenen auf äußere Naturgrößen, solange sie außerordentliche Vollkommenheit besitzen, zugelassen hat, ortet Schlosser das Erhabene nicht in den Gegenständen, sondern in der energetischen Affizierung der Seelenkräfte.259 Mit dem Wegfallen des durch den Vollkommenheitsbegriff bereit gestellten meta259  Vgl.

folgende einschlägigen Bemerkungen Schlossers: »Am philosophischsten hat Mendelssohn von der Sache geschrieben; aber er suchte mehr die Ursache und die Eigenschaft des Gegenstandes, woher die Empfindung des Erhabenen entsteht, als das Wesen, als den Begriff des Erhabenen selbst« (267). »Wenn man über menschliche Empfindungen denkt, so soll man, denk ich, am meisten auf die Lage achten, in welcher die Seele ist, die diese Empfindung hat« (268).

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physischen Orientierungspunkts zeichnet sich die Perspektivverschiebung von den außergewöhnlichen Objekten hin zur außerordentlichen Leistung des denkenden Subjekts ab, die in Schlossers Definition des Erhabenen verdeutlicht wird: Erhaben ist alles, was größer ist als die Dinge, mit denen es in Verhältniß gesetzt wird. Die menschliche Seele wird also erhaben, wenn sie größer wird als sie war, oder wenn sie größer wird als andere, die mit ihr verglichen werden. (268 f.)

Die Seelenerhebung basiert auf dem Grundgedanken, dass jede Wirksamkeit des Menschen ihre Quelle in den Empfindungen hat. Große Taten setzen demnach große Empfindungen voraus, d. h. »Empfindungen, die auf die Spannung unserer Kräfte zur Thätigkeit Einfluß haben« (270). Eine Empfindung wird also erhaben, wenn sie »die ungewöhnlich große, edle Kräfte des Menschen zu ungewöhnlicher Thätigkeit spannt« (271). Mit der Vermehrung der Seelenkräfte erfolgt die ekstatische Steigerung des Selbstwertgefühls: Ergriffen von seiner ganzen Energie, fühlt sich der Mensch »gleich ein größeres, höheres Wesen als vorher; der Gott in seiner Seele wird gleich rege, und zeigt sich gleich in seiner Fülle« (272). Der berauschende Zustand wird von der edelsten Zielsetzung getragen, zu »leben in der Erinnerung der spätesten Nachwelt; auch im Grab von künftigen Welten verehrt zu werden; zu zertreten wer uns widersteht, zu halten, wer sich an uns lehnen will« (295). In das übersinnliche Substrat der Seele bzw. in das Wesen Gottes vorzudringen, bleibt den Erkenntniskräften allerdings verwehrt. Bloß in seiner Wirkung kann sich der Mensch davon einen Begriff machen: Wir können aber in aller unserer Philosophie über das Wesen der Dinge mehr nicht als die Kennzeichen angeben, wodurch sich dasselbe äußert; können uns keinen Begriff davon machen, als durch die Wirkung, worinn sich dies Wesen offenbaret. So erkennen wir Gott aus seinen Wirkungen, die menschliche Seele aus ihren. Das Wesen selbst, die Substanz, in welcher die Kräfte ruhen, deren Wirkung wir erkennen, bleibt uns aber immer unerklärbar. (272 f.)

Ein weiteres eigentümliches Wesensmerkmal des Erhabenen besteht darin, dass es stets mit Wohlgefallen wahrgenommen wird, während der Schrecken, der die Seele ebenfalls zur größten Tätigkeit anzustrengen vermag, den Menschen bloß zur Flucht bewegt und ihn mit Kräften konfrontiert, die sich »unter dem gemeinsten Niveau« befinden (277). Schlosser bleibt der klassizistischen Tradition verhaftet. Statt der von John Dennis und Edmund Burke vorangestellten Schreckensmächte sind es die idealen Vorstellungen »von großem selbständigem Menschenwerth, […] von Kraft, von Größe, von bleibender Herrlichkeit, jedes Bild von einem Zustand, in dem der Mensch ewig bleiben möchte«, die zu angenehmen und erhabenen Empfindungen führen (299). Das Konzept der vermischten Gefühle tritt bei Schlosser nicht auf. Der Naturbetrachter muss seine Ängste in stoischer Manier bereits ge-

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meistert haben, um sich am Ungestümen begeistern zu können. Derjenige, »wessen Seele mit der Zufriedenheit des Weisen den Donner rollen hört, der wird durch diese große Scenen der Natur erhoben werden können: aber […] nicht der Schwache, der die Augen schließt vorm Blitz, und die Ohren vorm Donner« (272). Es sind dann auch die außerordentlichen Taten und Gesinnungen, die zu allen Zeiten, bei allen Nationen und Menschen große Akkorde in der Seele bewirken: Großer Ausblick über die ganze Natur, große Kraft zu fassen, zu halten, wohlzu­ thun, oder zu zerstören, große Verläugnung, große Bändigung des eigenen Herzens, wo die stehen, wird nie das Bild verkannt werden, nie seinen Zweck verfehlen. Sobald diese allgemeine Züge der ganzen Menschheit vorscheinen, können wir uns in griechische, in celtische, in ägyptische, in jüdische, in christliche Religionen und Sitten fühlen und denken, diese Züge mögen nachher gelenkt und modificiert worden seyn wie sie wollen. (311)

Auffallend ist, dass Schlosser die Vermehrung der Seelenkräfte mit keiner moralischen Zweckerfüllung in Verbindung setzt. Sollte der Drang nach Tätigkeit sich praktisch äußern, so ist es nicht notwendig, dass die Tat moralisch gut wäre: »Es kommt bloß auf die ungewöhnliche Anstrengung ungewöhnlicher, edler Kräfte, nicht auf ihre Anwendung, auf ihre Zwecke an« (275). Tugend ist ein Begriff, der prinzipiell von den Begleitumständen bedingt wird. Sofern kann die qualitative Größe der Handlung unbeabsichtigt von ihrem moralischen Wert empfunden werden, obschon den Subjekten mit »eklen« moralischen Gefühlen die Präsenz eines erhabenen Bösewichts wohl unerträglich erscheinen muss (276). Was hier sichtbar wird, ist die außerordentliche Willensstärke erhabener Menschengrößen, die gegen die Beschränkungen und Bedrohungen des Lebens heroisch ankämpft. Die von Longin artikulierte dynamische Durchschlagskraft des Erhabenen koppelt Schlosser an die nach Tätigkeit drängenden Seelenkräfte – ein Leitgedanke, den Carl Grosse in seine Frühschrift Ueber das Erhabene ebenfalls einfließen ließ.

d)  Carl Grosse: Ueber das Erhabene Unter den Literaten des 18. und frühen 19. Jahrhunderts wurde Carl Friedrich August Grosse hauptsächlich als Autor von Schauerromanen gefeiert, von denen das vierteilige Werk Der Genius (1791–1794) am bekanntesten geblieben ist. Die Abhandlung Ueber das Erhabene gehört zu seinen frühesten publizierten Schriften, die 1788 zuerst anonym erschien und 1801 in der Zweitauflage mit Nennung des Autoren erneut veröffentlicht wurde. Zu Recht nennt Grosse das Buch einen »Haufen von Bruchstücken« (71). Es zeugt von seiner eklektischen Vielbelesenheit autoritativer philosophisch-poetologischer Schriften über das Erhabene. Verschiedenste

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Passagen berufen sich auf Texte von Immanuel Kant, Moses Mendelssohn, Johann Georg Schlosser und den Briten Joseph Addison, John Baillie, Edmund Burke, Hugh Blair (1718–1800) und James Beattie (1735–1803). Vom letzteren hat Grosse die Illustrations on Sublimity aus den Dissertations on Moral and Critical (1783) bereits 1785 während seiner Göttinger Studienzeit unter dem Titel Erläuterungen über das Erhabene übersetzt (vgl. Zelle, »Erhabenheit« 34). Der Wert der daraufhin eigens verfassten Abhandlung Ueber das Erhabene liegt im Bestreben Grosses, die heterogenen Gedankengänge ineinander verwoben, nicht als ein kaltsinniges Theoriengerüst, sondern auf eine für die Einbildungskraft empfängliche Art zu präsentieren. Seine Diktion beabsichtigt im klassischen Sinne zu belehren und zu unterhalten, wobei der Aspekt der Bewegung an vorderster Stelle rückt. Nicht der »langweilige Gang methodischer Sprache« wurde gewählt, sondern eine bisweilen rhetorisch bemühte Ausdrucksart, um die Erhabenheitserfahrung angemessen und wirksam zu vermitteln (8). Überblickt man Grosses Überlegungen über das Naturerhabene, fällt auf, dass er die von Mendelssohn unterschlagenen gewaltsamen Naturkräfte als wohlgefällige Schauspiele anführt. Diese Öffnung hängt mit der Loslösung von der Vollkommenheitsästhetik zusammen. Die ästhetische Empfindung des Erhabenen erfolgt nicht aus der Perzeption außerordentlicher Vollkommenheiten, sondern in Übereinstimmung zu Schlossers Ästhetiktheorie ausschließlich aus der dynamischen Tätigkeit der Seele: Ich will hier den Schlosserschen Begriff des Erhabenen, der auch ganz der meinige ist, heraufnehmen, um die Sache einleuchtender zu machen. Es ist eine Empfindung, die ungewöhnlich große und edle Kräfte der Seele in Thätigkeit setzt. Und aus dieser Erklärung ergiebt sich, daß nur die Spannung der Seele und ihre Erhebung den Eindruck zu einem erhabenen macht, oder vielmehr, daß allein diese Spannung eine Größe hat. […] Man […] nennt bloß die eigentliche Ausdehnung der Seele, die Anspannung hoher edeler Kräfte, die Begeisterung zu großen Handlungen und ihre Würkung nach außen erhaben. (14 f.)

Grosse versteht sowohl das Erhabene wie das Schöne als eine Qualities secundarie, deren Grund im wahrnehmenden Subjekt liegt und vom eigenen »Gesichtspunkt« und »Gesichtskreis« bzw. »Standpunkt« und »Sehewinkel« abhängt (14). Dieser »Gesichtskreis« ist jedoch nicht starr, sondern wandelt sich gemäß einem teleologischen Prinzip; unser Drang nach Vervollkommnung eröffnet den Erkenntnishorizont auf erhabenere Gegenstände und lässt niedrigere zurück. Der Endzweck erschließt sich auch hier in der platonischen Anschauung großer Ideen, die die Seele zu erhabenen Taten bewegt. Wie John Dennis in seinem Essay The Grounds of Criticism in Poetry erörtert hat, erscheinen dem Weisen bzw. Philosophen Dinge bewundernswert, die von den Menschen mit kleinlichen Seelen nicht beachtet oder bloß

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mit Grauen aufgefasst werden. Grosse erläutert diesen Sachverhalt in der Schilderung des ausbrechenden Ätnas; ein Topos, der in den Reisebeschreibungen der Italienreisenden während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts weit verbreitet war: [D]as Kochen der See um ganz Sizilien herum, und der Rauch und die Flammen, die einmahl aus den Wellen hervorschlugen; der Streit eines Lavastromes mit den Fluten, wenn er zehn Meilen breit, und zu einer unermeßlichen Höhe aufgewachsen und flammend mit einem tausendfachen Donner ins Meer stürzt; das dumpfe Gebrüll der Schlunde des Berges, die Nacht am Tage; das Blitzen, welches die Wolken trennt, und die Erdbeben. Der Zusammenfluß dieser erhabenen Gegenstände reist den Schwachen in dumpfe Angst und in hinstarrendes Grausen fort und erhebt den Weisen zur schauernden Bewunderung. (45)

Bezeichnenderweise beruft sich Grosse nach wie vor auf die »Allmacht Gottes im schreckenden Gewande«, die mit ihrem vernichtenden Auftreten die hohen Empfindungen zum Erliegen bringt (28). Edmund Burkes Theorem, der Schrecken sei erhaben bzw. alles Erhabene beziehe sich auf Selbsterhaltung und Leben, stößt bei ihm auf Kritik. Während das Erhabene die Seelenkräfte in Tätigkeit versetzt, bringt der Schrecken diese bloß zu einem paralysierenden Stillstand. Grosse kann nicht begreifen, wie das Entsetzliche angenehm wirken und zu hohen Entschlüssen führen könnte.260 Die Seelenerhebung benötigt weiterhin den Bezug aufs Ideelle. In Anbetracht zerstörerischer Naturmächte ist es nicht der Schrecken, sondern ihre Kraft, die assoziativ die Ausdehnung der Seelenkräfte bewirkt. Gewaltige Bewegung erhebt die Gegenstände zur »hohen Stufe des Großen«, und steigert »schöne und gemeine Bilder« zu wirklich erhabenen: »Ein sanfter Fluß, der gleich einem Spiegel in seinen Gestaden glatt und ungetrübt fortwandelt, ist ein Gegenstand des Schönen und Angenehmen; aber ein Strom, der empört seine Ufer zerreist, und halbe Länder verschluckt, ist groß und ein Gegenstand des Erhabenen« (39).261 Mithilfe der von der Einbildungskraft herbeigezogenen Ideen wird das Pathos der 260  »Wie

kann das Erhabene Eingang finden, wenn Furcht alle Poren der Seele zudrückt, ihren Sinn nur auf sich ziehet und von äußeren Empfindungen weg? Das Gewürz dieser Leidenschaft: die süße Empfindung in der Folge ihrer Modifikationen wird dann nur über die Seele gestreuet, wenn wir über Gefahren hinweg sind, und also nur in Vermischung mit dem Gefühle unserer Sicherheit« (27). Grosse folgt an dieser Stelle den Äußerungen aus John Baillies An Essay on the Sublime (1747): »The Prick of a Pin will give Pain, while the most delicious Food is flattering the Palate, or the highest Perfumes the Smell. The Sublime dilates and elevates the Soul, Fear sinks and contracts it; yet both are felt upon viewing what is great and awful« (32). 261  Vgl. folgende Stelle aus Hugh Blairs Lectures on rhetoric and belles lettres (1783): »In general we may observe, that great power and force exerted, always raise sublime ideas: and perhaps the most copious source of these is derived from this quarter. Hence the grandeur of earthquakes and burning mountains; of great conflagrations; of the stormy ocean, and overflowing waters; of tempests of wind; of thunder and lightning; and of all the uncommon violence of the elements. Nothing is more sublime than mighty power and strength. A stream that runs within its banks,

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gewaltsamen Naturkräfte absichtlich gesteigert, um die Widerstandskraft der Seele herauszufordern. Worauf die Bewunderung in Anbetracht der wütenden Elemente hinzielt, wird im folgenden Schreckenstableau verdeutlicht: Wenn die Elemente wüten, und im zügellosen Grimm sich zerkämpfen; wenn ein Erdbeben Länder zerreist, Städte vernichtet, und die Menschen in ihr ursprüngliches Nichts zurückziehet; wenn Berge Steine ergiessen und blitzenden Rauch und flüssiges Feuer in gränzenlosen Strömen, halbe Städte in Rauchwolken zergehen und die Flammen den Dampf röthen, Orkane das Meer zu Schaum zerwühlen, dann dehnt sich die Seele aus, um zu fassen, aber sie kann nicht und staunt; dann bebt sie vor Mitzernichtung und unter dem sanften Schauer, den die Größe des Wesens ihr abzwingt, auf dessen Wink halbe Welten verdampfen, und aus dessen Hand ein Tröpfchen die Gluten verlöschet, betet sie an. (38)

Innerhalb des Bezugsrahmens des Erhabenen fungieren Naturkatastrophen nach wie vor als ein Sinnbild der unüberwindbaren göttlichen Allmacht – ein unmissverständliches Zeugnis der longue durée des alttestamentarischen Gottesbilds. Allerdings setzt sich in Grosses Erhabenheitserfahrung verstärkt die psychologische Komponente durch, insofern sich das Staunen auf das erhebende Selbst, auf die außerordentliche Anspannung der Seelenenergie bezieht. Der Maßstab der Erhabenheitserfahrung erschließt sich ausschließlich im Subjekt bzw. in der selbstreferentiellen Ausdehnung hoher und edler Kräfte. Es kommt nicht von ungefähr, wenn Grosse dafür plädiert, das Gefühl der eigenen Energie bereits in der Erziehung des jungen Menschen zu fördern: »Dies Selbstgefühl, in der Schule, am Busen und Munde großer Männer erworben, hält gegen alle Stürme des Lebens den Menschen aufrecht, schwellt den Busen den Wellen des Unglücks entgegen und giebt ihm Ausdauer und Stärke« (72). Hiermit gewinnt die Vergegenwärtigung ergreifender Gegenstände in der Natur oder Kunst das Verdienst, wie Friedrich Schiller in Über das Erhabene genauer erläutern wird, die Seele vor zukünftigen Widrigkeiten abzuhärten: »Kleine Unfälle bereiten zu großen vor, und sind eine Schule, worin die Seele zur Fassung in künftigen Ungewittern sich bildet, und der Schiffer muß zuerst an kleinen Wellen seine Kräfte üben, ehe er sich in den Strudel des Ozeans, in den Sturm und unter die Klippen wagt« (74). Das Idealbild des sich über die Schranken hinwegsetzenden Subjekts birgt jedoch auch Schattenseiten in sich. Carsten Zelle hat aufgezeigt, dass Grosses unverhohlenes Wohlgefallen an der Tätigkeit erhabener Bösewichte und im erweiterten Sinne der zerstörerischen Naturgewalten »beiläufig das Band zwischen Ethik und Ästhetik« zerreißt (»Erhabenheit« 40). Das Übel wird in diesem Zusammenhang ästhetisiert, was in Grosses Kritik an James Beatties is a beautiful object; but when it rushes down with the impetuosity and noise of a torrent, it presently becomes a sublime one« (15).

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Äußerungen zum Anblick einer brennenden Zuckerplantage deutlich wird. Beattie meint, dass im Hinblick auf das Leid des Plantagenbesitzers bloß die Beschreibung einer solchen Schreckensszene als »sublime« bewundert werden könne.262 Darauf entgegnet Grosse, nicht ausschließlich der »eingebildete« Schrecken bewirke erhabene Gefühle: Dies nenn ich doch sehr übel aus der Sache gezogen; denn man wird dem leidenden Pflanzer freylich nicht zumuthen, hier erhabene Gefühle zu haben, aber der ferne Philosoph kann es, der außer Gefahr betrachtet, wenn er im ersten Entzücken, womit schöne Gegenstände immer betäuben, seines Herzens vergist und fremder leidender Herzen. Eben so wenig wird in einer brennenden Stadt allen Seelen, deren Körper halbnackt unter Flammen herumwandeln, das Prachtvolle des Anblickes erhabene Empfindungen geben, und nur das Auge ohne Furcht und ohne Thränen der Besorgniß für einen geliebten Gegenstand, wird unter den Flammen mit Entzücken verweilen und unter den brennenden Ruinen seines Standpunktes vergessend, mit Freude herumhüpfen. (30)

Dem lukrezischen Diktum, es wäre ein Vergnügen, Übel vor Augen zu haben, von denen man frei sei, wird ohne beschwichtigende Querverweise auf das Mitleidsgefühl konsequent Folge geleistet.263 Unsere Leidenschaft der Eigenliebe, so konstatiert Grosse, »thut nicht nur meistens, sondern immer ihre Hand zum Spiele« (25). Wir sind inzwischen an dem Punkt in der deutschsprachigen Aufklärung angelangt, wo die verheerenden Naturkräfte nicht mehr ihres künstlerischen Abdrucks bedürfen, der ohnehin »nur matt und leblos gegen den Ausdruck der Natur« (74) ist, um den ästhetischen Genuss zu bereiten.

262 

James Beattie beschreibt den Sachverhalt in den Dissertations Moral and Critical (1783): »An object more astonishing, both to the eye, and to the ear, there is hardly in nature, than (what is sometimes to be seen in the West Indies) a plantation of sugar-canes on fire, flaming to a vast height, sweeping the whole country, and every moment sending forth a thousand explosions, like those of artillery. A good description of such scene we should admire as sublime; for a description can neither burn nor destroy. But the planter, who sees it desolating his fields, and ruining all his hopes, can feel no other emotions than horror and sorrow. – In a word, the Sublime, in order to give pleasing astonishment, must be either imaginary, or not immediately pernicious« (614 f.). 263  Ebenfalls an diesem Punkt distanziert sich Grosse von Beatties ethischen Vorbehalten: »It is pleasant to behold the sea in a storm on account of its astonishing greatness and impetuosity; and it is pleasant to look down from an elevated situation, because here too there is greatness and delightful astonishment. But to see others in danger, or unhappy in their ignorance, must always give pain to a considerate mind, however conscious it may be of its own security, and wisdom« (607).

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5. Im Widerstreit mit der Natur: die Selbsterhebung des Vernunftwesens a) Immanuel Kant: das Erhabene in der Kritik der Urteilskraft Immanuel Kant hat sich mit dem Erhabenen bereits in den 1764 erschienenen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen befasst. Die ästhetischen Begriffe des Schönen und Erhabenen greift Kant in der Kritik der Urteilskraft wieder auf. Diesmal aber erfolgt die Analyse nicht unter der Prämisse der empirischen Psychologie, sondern der transzendentalphilosophischen Kritik. Paul Barone hat darauf aufmerksam gemacht, dass »[d]ie »kritizistische Frage nach den apriorischen Begründungen der Möglichkeit unserer Urteile über das Erhabene […] bei Kant zu einer idealistischen Konzeption [führt], deren ideengeschichtlicher Zusammenhang mit dem Erhabenen der englischen und deutschen Aufklärung auf den ersten Blick nur schwer zu erkennen ist.« Dennoch, so behauptet er weiter, »führt der epochale Übergang von den empirischen oder anthropologischen Erörterungen der Aufklärungsästhetik zur transzendentalphilosophischen Fragestellung bei Kant nicht zur Preisgabe des aufklärerischen Erbes, sondern vielmehr zur Weiterentwicklung bereits vorliegender Ansätze« (97). Freilich stützt sich Kants kritische Durchleuchtung der ästhetischen Urteile auf vorangegangene ästhetisch-theoretische Ansätze, jedoch geht mit seiner Transzendentalphilosophie eine folgenschwere bewusstseinsgeschichtliche Zäsur in der Beurteilung der äußeren Natur­objekte einher. In Nachfolge der »Kopernikanischen Wende« der Kritik der reinen Vernunft (1781) erweist sich das leibniz-wolffsche Metaphysikkonstrukt eines harmonisch-teleologischen Weltsystems als eine rein subjektiv bedingte Spekulation. Außerhalb des denkenden Subjekts besitzt es keine allgemein gültige Realität. Mit der wegfallenden Gewissheit, ob die Natur auf die menschlichen Bedürfnisse zugeschnitten sei, vollzieht sich gleichermaßen die Unterminierung des Gedankengerüsts der Theodizee. Olaf Briese und Hartmut Böhme haben darauf hingewiesen, dass gerade Kants Vorstellungen von Erhabenheit durch das Scheitern der Theodizee-Annahme eine entscheidende Veränderung durchlaufen habe (Briese, »Ethik« 328 ff.; Böhme, »Steinerne« 124 ff.).264 »In den Kategorien der Theodizee gesprochen«, so argumentiert Böhme einerseits, »ist die wüste und unvorstellbare Natur ein Übel – und man kann mit 264 

Wie ich im Abschnitt »Das Erdbeben von Lissabon – moderne Rezeption« bereits angeführt habe, deutet Hartmut Böhme an dieser Stelle das Programm der Kantischen Kritik inklusive der »Analytik des Erhabenen« in der Kritik der Urteilskraft psychologisierend als eine Replik auf das vom Lissabonner Erdbeben ausgehende Bewusstseinstrauma. Olaf Briese erwähnt in diesem Zusammenhang Lissabons Untergang ebenfalls, allerdings lässt er sich in seiner Aussage – »daß im Zuge dieses Jahrhundertereignisses die längst latent präsenten Theodizee-Zweifel sich eher explizierten, als daß sie daraus extrahiert wurden« – weniger zu unfundierten Behauptungen über die Erschütterung des Aufklärungsoptimismus hinreißen (»Ethik« 329).

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Odo Marquard, der die Entübelung der Welt als die große Aufgabe der Philosophie nach dem Kollaps der Theodizee angesehen hat, das Erhabene als eine Weise der Entübelung der Natur ansehen« (126). Briese andererseits erkennt im Fahrwasser der untergehenden Theodizee Kants Stilisierung eines bedrohlichen Naturbildes: Durch diesen Theodizee-Verlust und durch den mit ihm einhergehenden Zug zu menschlicher Selbstbehauptung wurde Natur bei Kant zur feindlichen, bedrohlichen Natur, zu einem wilden Residuum, das bezähmt werden musste. Die Natur, als widriger ontischer Bezirk, gewann eigenständige Macht und konnte als furchtbar erfahren werden. (»Ethik« 329)265

Beide Aussagen gilt es zu präzisieren, da sie für Kants Konstituierung des Erhabenen in der Kritik der Urteilskraft nur bedingt zutreffen. Zum einen ist festzuhalten, dass das Erhabene auch vor dem so genannten »Kollaps der Theodizee« die Funktion ausübte, die erkenntnistheoretisch inkongruenten Naturgegenstände und -ereignisse im Bezug auf ein unermessliches Idealganzes aufzuheben und somit dem Bestreben der Theodizee, die Einzelübel zu relativieren, entgegenkam. In Kants »Analytik des Erhabenen« sind es nun nicht mehr die sinnlich wahrgenommenen Naturgewalten, sondern die Vernunftideen, worauf sich die Größenschätzung zu richten hat und somit haftet allein ihnen die Konnotation der »wahren Erhabenheit« an. Der Totalitätsanspruch auf ein intelligibles Ganzes besteht immer noch, allerdings es ist von vornherein klar, dass die Einbildungskraft am Versuch, es in anschaulicher Form zu umfassen, scheitern wird (KW 5: 344). Im Gewahrwerden des eigenen Unvermögens fühlt sich das Subjekt paradoxerweise in seinem Selbstbewusstsein erweitert, sofern es in dialektischer Umkehr das unbeschränkte Vermögen, das Intelligible denken zu können, in sich entdeckt. Das Erhabene, das in den Theorieansätzen Bodmers, Burkes und Mendelssohns seine semantische Entsprechung in den außergewöhnlichen und bewundernswerten Naturgegenständen besaß, hat sich bei Kant vollends in die Innenwelt des Subjekts verlagert. Indem der Mensch das souveräne Vermögen herauskehrt, als vernunftbegabtes Wesen frei nach dem Gebot der unabänderlichen Moralgesetze zu handeln, widersetzt er sich der Heteronomie blind wirkender Mächte (sei es die entfesselte Natur oder die pathetischen Empfindungen). Wie Winfried Menninghaus treffend 265  Obwohl ich mit dieser These von Olaf Briese einverstanden bin, ist seine nachfolgende Differenzierung zwischen der Theodizee und der Physikotheologie verfehlt, sofern letztere nämlich eine nicht wegzudenkende Wortführerin des Theodizeegedankens im 18. Jahrhundert war: »Statt Theodizeen mußten nun eine Vielzahl von Physikotheologien – Akrido-, Astro-, Bronto-, Helio-, Hydro-, Insecto-, Litho-, Okular-, Pyro-, Sismo- bzw. Testaceotheologien – der empirisch gegebenen Unordnung der Natur ihre Ordnung auf den Menschen hin attestieren« (»Ethik« 329).

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auf den Punkt gebracht hat, ist Erhabenheit jetzt der Widerstand gegen das, »was vorher das Erhabene hieß« (6). Weiterhin ist vorab zu bemerken, dass Kant klar die Differenz zwischen dem ästhetisch-interesselosen und begrifflich-zweckmäßigen Aneignungsmodus der Natur markiert. Während letzterer den Gegenstand in Einzelelemente zergliedert, kommt es beim ersteren zu einer allumfassenden Anschauung, die kein Erkenntnisurteil beinhaltet. Aufgrund dessen kann selbst den unfassbaren und zweckwidrigen Naturphänomenen – dem bestirnten Himmel und der stürmischen See – im Vollzug des ästhetischen Urteils eine subjektive Zweckmäßigkeit zugesprochen werden, da sie im Rezipienten Wohlgefallen bereiten (vgl. KW 5: 360). Hans Blumenberg hat darauf aufmerksam gemacht, dass Kant einen der letzten großen Versuche unternahm, den immer bedrückender werdenden »Hia­ tus zwischen der objektiven Akkumulation von Erkenntnis und dem subjektiven Bedürfnis nach Anschauung und Totalität« zwar nicht vollends aufzuheben, aber »als positive Spannung zu rechtfertigen« (Genesis 77). Im nachkopernikanischen Universum, in der Wende zur kritischen Transzendentalphilosophie Kants, findet der Mensch keine Bestätigung seines privilegierten Standpunkts mehr; »genau das schlägt bei Kant um in die ästhetische Qualität, insofern als ›erhaben‹ nur gelten darf, was durch seinen Widerstand gegen das Interesse der Sinne unmittelbar gefällt« (78). Die Apotheose der Vernunft im Erhabenen und die daraus erbrachte Selbstbehauptung über die dynamische Naturgewalten soll in der Besprechung relevanter Textpassagen aus der Kritik der Urteilskraft nachfolgend beleuchtet werden. Bevor auf die »Analytik des Erhabenen« eingegangen wird, erfolgt eine Analyse der in der Forschungsliteratur zur Kantischen Ästhetik meist übergangenen Kritik der teleologischen Urteilskraft. Sie ist gerade deswegen bedeutsam, weil Kant in diesem Teil die Problematik einer bedrohlich und fremd gewordenen Natur mit aller Deutlichkeit umreißt. Wie Kant in der zweiten Einleitung zur Kritik der Urteilskraft dargelegt hat, versucht die Urteilskraft, die dazu bestimmt ist, »das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken«, die mannigfaltigen Formen der Natur unter ein einheitliches Prinzip zu subsumieren (KW 5: 251). Allerdings besteht zwischen den allgemeinen, von unserem Verstand a priori vorgeschriebenen Gesetzmäßigkeiten und den besonderen, von der Erfahrung a posteriori erschlossenen Gesetzen der Natur ein unvereinbarer Zwiespalt. Für die Urteilskraft ist es unmöglich, sich vom Besondern auf die Seite des Allgemeinen zu schlagen, weil das dafür notwendige Einheitsprinzip des Mannigfaltigen dem Erkenntnisvermögen verschlossen bleibt. Da aber eine solche Einheit für das auf Gesetzmäßigkeiten basierende Naturverständnis von der Vernunft unabdingbar gefordert wird, muss sie vom denkenden Subjekt angenommen werden, also »als ob gleichfalls ein Verstand (wenn gleich der unsrige) sie zum Behuf unserer Erkenntnisvermögen, um ein System der Erfahrung nach besonderen Naturgesetzen möglich zu machen, gegeben hätte« (253). Dieses

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in die Bresche springende Gemütsverfahren wird allein durch die reflektierende Urteilskraft bewerkstelligt. Im Gegensatz zur bestimmenden ist sie zu keinem objektiven Erkenntnisurteil fähig. Ihre Leistung liegt vielmehr darin, dass sie (als Heautonomie) der Reflexion über die Natur dasjenige Gesetz der »Spezifikation der Natur in Ansehung ihrer empirischen Gesetze« vorschreibt, das a priori in den Naturprozessen nicht konstatiert werden kann (259). Dem Verstand stellt sie dadurch eine Heuristik zur Erkenntnisfindung bereit. Ohne die regulative Einflussnahme der reflektierenden Urteilskraft würde eine Naturerkenntnis überhaupt nicht zu bewerkstelligen sein; sie muss somit als eine anthropologische Grundvoraussetzung angenommen werden. Die folgenschwere Konsequenz aus Kants kritischer Aufwertung der subjektiven Erkenntniskräfte ist, dass der Ursprung der Zweckmäßigkeit der Natur »lediglich« im Menschen selbst liegt: Denn den Naturprodukten kann man so etwas, als Beziehung der Natur an ihnen auf Zwecke, nicht beilegen, sondern diesen Begriff nur brauchen, um über sie in Ansehung der Verknüpfung der Erscheinungen in ihr, die nach empirischen Gesetzen gegeben ist, zu reflektieren. Auch ist dieser Begriff von der praktischen Zweckmäßigkeit (der menschlichen Kunst oder auch der Sitten) ganz unterschieden, ob er zwar nach einer Analogie mit derselben gedacht wird. (253)

Traditionelle metaphysische Denkmuster kommen mit Kants provokanter Maxime, dass eine objektive Zweckmäßigkeit der Natur nicht von Seiten der Objekte und ihrer Erfahrung a posteriori bestimmt werden könne, ins Wanken. Insbesondere die Physikotheologie gerät in der Kritik der teleologischen Urteilskraft ins Kreuzfeuer der kantischen Kritik. Ihr Bestreben, von den empirisch erkannten Zwecken der Natur induktiv einen von der »obersten Ursache der Natur« angeordneten Endzweck auszumachen, führt prinzipiell zu keinen objektiv-gültigen Erkenntnisschlüssen (565). Dennoch ist ein subjektiver Begriff von einer verständigen Weltursache zulässig, da wir »nach der Beschaffenheit und den Prinzipien unseres Erkenntnisvermögens, die Natur, in ihren uns bekannt gewordenen zweckmäßigen Anordnungen, nicht anders als das Produkt eines Verstandes, dem diese unterworfen ist, denken können« (566). Die Prinzipien einer teleologischen Weltbetrachtung gründen sich allerdings ausschließlich auf die theoretische Erkenntnis. Selbst wenn das gesamte Natursystem empirisch erschlossen wäre, so lässt sich die von den Physikotheologen anvisierte Klärung des Endzwecks, wozu der Mensch und die Natur überhaupt existieren, nicht bewerkstelligen, da sie im Bereich der a posteriori Erfahrungen stecken bleibt. Die Erhebung vom Bedingten zum Unbedingten würde sozusagen den Besitz gottgleicher Allwissenheit voraussetzen. Bezeichnenderweise folgt Kant an dieser Stelle einer Argumentationsstruktur, die sich mit derjenigen der Theodizee-Apologeten überschneidet. Während diese darauf bestanden, dass die Beschränktheit des menschlichen Erkenntnisvermögens kein abschätzendes Ur-

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teil gegen die von Gott verordnete Naturordnung erlaube, verkürzt Kant den zulässigen Erkenntnisanspruch noch weiter, indem er postuliert, dass grundsätzlich von Seiten der Naturbetrachtung die Absicht des intelligenten Ursprungs objektiv nicht erschließbar sei.266 Angesichts der opaken Komplexität des Weltgefüges, die keinen Einblick in die Zwecke der Natur in ihrem Gesamtzusammenhang zulässt, ist ein jeglicher Urteilsschluss unzulänglich, der der Natur einen konkreten Begriff eines übersinnlichen Substrats zuzuordnen beabsichtigt. Der Verweis auf ein fehlendes, dem Erkenntnisvermögen kommensurables Naturganzes markiert nicht nur den begrenzten Erkenntnishorizont der Physikotheologie, sondern unterminiert ebenfalls die Doktrin der besten Welt, sofern diese eine nicht realisierbare anschauende Erkenntnis aller möglichen Pläne der Weltsysteme impliziert, »mit denen in Vergleichung der gegenwärtige als der beste mit Grund beurteilt werden müßte« (566). Da der Einblick in sämtliche Kausalitätsverbindungen der Natur verwehrt bleibt, kann aus ihr unmöglich die unendliche Intelligenz der obersten Ursache deduziert werden. Trotz aller Vorbehalte, den Naturprozessen eine Zweckmäßigkeit nach bestimmten Vernunftbegriffen unterzuschieben, sieht sich Kant dennoch genötigt, »die Natur, in ihren uns bekannt gewordenen zweckmäßigen Anordnungen, nicht anders als das Produkt eines Verstandes, dem diese unterworfen ist«, zu denken (566). Er sträubt sich gegen den Gedanken, die Naturprozesse ausschließlich unter dem Gesichtspunkt mechanischer Gesetzmäßigkeiten, ohne jegliche teleologische Ordnung der Dinge zu beurteilen. Eine derartige Naturaneignung bleibt im Besonderen stecken und wirkt ohne Bezug zum Ganzen sinnentleert – ein Defizit, das, wie oben erläutert wurde, die empiriegeleitete Naturforschung nicht aufzuheben vermag. 267 An diesem Punkt erfüllt sich die in die neuen Wissenschaften gelegte Erwartung, die für den Menschen so vorteilhafte Zweckverbindung der Natur266  »[W]ie

und mit welchem Rechte darf ich da meinen sehr eingeschränkten Begriff von jenem ursprünglichen Verstande, den ich auf meine geringe Weltkenntnis gründen kann, von der Macht dieses Urwesens, seine Ideen zur Wirklichkeit zu bringen, von seinem Willen, es zu tun u.s.w., nach Belieben erweitern, und bis zur Idee eines allweisen unendlichen Wesens ergänzen?« (565). 267  Dieser Einwurf ist bedeutend. Kant konstatiert an verschiedenen Stellen in der Kritik der teleologischen Urteilskraft, dass die Naturprozesse keinesfalls nur mittels eines mechanischen Prinzips zu verstehen seien. Der Königsberger Philosoph ist beileibe kein Epikuräer oder Materialist! Als konkretes Beispiel dient die analysierbare innere Organisation von Naturwesen, die selbst der Naturwissenschaft zweifellos den Grund zu einer Teleologie verschafft (vgl. 488). Auch wenn die Naturforscher sich bemühen sollen, die Produkte und Ereignisse der Natur so weit möglich mechanisch zu erklären, so dürfen sie niemals aus den Augen verlieren, »daß wir die, welche wir allein unter dem Begriffe vom Zwecke der Vernunft zur Untersuchung selbst auch nur aufstellen können, der wesentlichsten Beschaffenheit unserer Vernunft gemäß, jene mechanischen Ursachen ungeachtet, doch zuletzt der Kausalität nach Zwecken unterordnen müssen« (535).

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kräfte umfänglich zu begründen, nicht mehr.268 Freilich fügen sich die aus ihnen akkumulierten Einsichten zu einem weniger ermutigenden Naturbild zusammen: Allein eine genauere Kenntnis der Beschaffenheit dieser Grundlage aller organischen Erzeugung gibt auf keine anderen als ganz unabsichtlich wirkende, ja eher noch verwüstende, als Erzeugung, Ordnung und Zwecke begünstigende Ursachen Anzeige. Land und Meer erhalten nicht allein Denkmäler von alten mächtigen Verwüstungen, die sie und alle Geschöpfe, auf und in demselben betroffen haben, in sich; sondern ihr ganzes Bauwerk, die Erdlager des einen und die Grenzen des andern, haben gänzlich das Ansehen des Produkts wilder allgewaltiger Kräfte einer im chaotischen Zustande arbeitenden Natur. So zweckmäßig auch jetzt die Gestalt, das Bauwerk und der Abhang der Länder für die Aufnahme der Gewässer aus der Luft für die Quelladern zwischen Erdschichten von mannigfaltiger Art (für mancherlei Produkte), und den Lauf der Ströme angeordnet zu sein scheinen mögen: so beweiset doch eine nähere Untersuchung derselben, daß sie bloß als die Wirkung teils feuriger, teils wässeriger Eruptionen, oder auch Empörungen des Ozeans, zu Stande gekommen sind: so wohl was die erste Erzeugung dieser Gestalt, als vornehmlich die nachmalige Umbildung derselben, zugleich mit dem Untergange ihrer ersten organischen Erzeugungen, betrifft. Wenn nun der Wohnplatz, der Mutterboden (des Landes) und der Mutterschoß (des Meeres) für alle diese Geschöpfe auf keinen andern als gänzlich unabsichtlichen Mechanism seiner Erzeugung Anzeige gibt: wie und mit welchem Recht können wir für diese letztern Produkte einen andern Ursprung verlangen und behaupten? (549 f.)

Als Replik auf diese düstere Schilderung blind agierender Naturmechanismen verweist Kant wiederum auf die Notwendigkeit, a priori dem Urteil über die natura naturans eine Teleologie bzw. ein subjektives Prinzip der Vernunft zu unterlegen. Nach wie vor müsse darauf beharrt werden, dass wir die Beschaffenheit der Naturprodukte nicht anders als nach Endursachen denken können, die größtmögliche Bestrebung, ja Kühnheit in Versuchen, sie mechanisch zu erklären, nicht allein erlaubt ist, sondern wir auch durch Vernunft dazu aufgerufen sind, ungeachtet wir wissen, daß 268 In

Bezug auf das Bestreben der Naturwissenschaften, die heterogenen Naturgesetze unter einheitliche Prinzipien zu bringen, verweist Kant auf zwei divergierende Urteile über das mögliche Gelingen eines solchen Unterfangens. Je tiefer und breiter sich die Kenntnis der Natur erstreckt, desto schwieriger wird es, die schiere Mannigfaltigkeit der Gesetze überhaupt auf ein für den menschlichen Verstand fassbares Prinzip zurückzuführen. Deswegen hören wir lieber, »wenn andere uns Hoffnung geben: daß je mehr wir die Natur im Innern kennen würden, oder mit äußern uns für jetzt unbekannten Gliedern vergleichen könnten, wir sie in ihren Prinzipien um desto einfacher, und, bei der scheinbaren Heterogenität ihrer empirischen Gesetze, einhelliger finden würden, je weiter unsere Erfahrung fortschritte« (262).

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wir damit aus subjektiven Gründen der besondern Art und Beschränkung unseres Verstandes (und nicht etwa, weil der Mechanism der Erzeugung einem Ursprunge nach Zwecken an sich widerspräche) niemals auslangen können. (550 f.)

Kraft der reflektierenden Urteilskraft, die die wahrgenommenen Naturphänomene als Teile eines zweckmäßig operierenden Ganzen erscheinen lässt, verfügt das denkende Subjekt über ein Mittel der Selbstorientierung: Es sei gut, so resümiert Kant, »selbst die unangenehmen und in besonderen Beziehungen zweckwidrigen Dinge auch von dieser Seite zu betrachten« (492). Trotz der verbleibenden Ungewissheit, ob die Naturabsichten auch tatsächlich bestehen, erweist sich eine Vorstellungsart nach teleologischen Prinzipien als unumgänglich. Dem tief verankerten Unbehagen vor chaotisch wirkenden Naturmächten, der Furcht vor dem Verlust jeglicher Selbstbestimmung, wird mithilfe des Als-ob-Modus der reflektierenden Urteilskraft Gegenwehr geleistet. Beharrt man weiter auf der Frage, ob die Schöpfung neben einem verstandesmäßigen Ursprung realiter auch einen Endzweck in sich enthalte, so verschweigt die epistemologisch undurchsichtige Natur die Lösung zu diesem philosophischen Kernproblem. Kant setzt sich über den in der Frühaufklärung noch vorherrschenden Topos der Natur als Chiffre Gottes hinweg. Für ihn ist sie am Ausgang des 18. Jahrhunderts ein stummes Gegenüber geworden: Was hilft’s, wird man mit Recht klagen: daß wir allen diesen Einrichtungen einen großen, einen für uns unermeßlichen Verstand zum Grunde legen, und ihn diese Welt nach Absichten anordnen lassen? wenn uns die Natur von der Endabsicht nichts sagt, noch jemals sagen kann, ohne welche wir uns doch keinen gemeinschaftlichen Beziehungspunkt aller dieser Naturzwecke, kein hinreichendes teleologisches Prinzip machen können, teils die Zwecke insgesamt in einem System zu erkennen, teils uns von dem obersten Verstande, als Ursache einer solchen Natur, einen Begriff zu machen, der unserer über sie teleologisch reflektierenden Urteilskraft zum Richtmaße dienen könnte. (565)

Gerade der metaphysische Leitgedanke, der Mensch als beabsichtigter Endzweck der Natur nehme in ihr eine privilegierte Stelle ein, wird durch die Erfahrung keinesfalls bestätigt, und Kant wendet sich vehement gegen das im Aufklärungsoptimismus vertretene Postulat, der Begriff der Glückseligkeit korreliere mit den wohltätigen Absichten der äußeren Natur. Nicht nur die willkürlich auftretenden Naturgefahren, sondern auch die irrationalen »Naturanlagen« im Subjekt verunmöglichen eine derartige Zweckverschränkung von Anfang an: Andrerseits ist so weit gefehlt, daß die Natur ihn zu ihrem besondern Liebling aufgenommen und vor allen Tieren mit Wohltun begünstigt habe, daß sie ihn vielmehr in ihren verderblichen Wirkungen, in Pest, Hunger, Wassergefahr, Frost, Anfall von

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andern großen und kleinen Tieren u.d.gl., eben so wenig verschont, wie jedes andere Tier; noch mehr aber, daß das Widersinnische der Naturanlagen in ihm ihn noch in selbstersonnene Plagen und noch andere von seiner eigenen Gattung durch den Druck der Herrschaft, die Barbarei der Kriege u.s.w. in solche Not versetzt und er selbst, so viel an ihm ist, an der Zerstörung seiner eigenen Gattung arbeitet, daß, selbst bei der wohltätigsten Natur außer uns, der Zweck derselben, wenn er auf die Glückseligkeit unserer Spezies gestellt wäre, in einem System derselben auf Erden nicht erreicht werden würde, weil die Natur in uns derselben nicht empfänglich ist. (552 f.)

Kant kehrt der phänomenalen Natur den Rücken und richtet stattdessen sein Augenmerk auf die transzendentale Ebene der Sittlichkeit; ein Gedankensprung, der, wie sich zeigen wird, auch für seinen Erhabenheitsbegriff prägend ist. Selbst wenn die Erfahrung aufzeigt, dass die Natur den Menschen nicht begünstigt, hält er allein als moralisches Wesen den höchsten Zweck in sich, »dem, so viel er vermag, er die ganze Natur unterwerfen kann, wenigstens welchem zuwider er sich keinem Einflusse der Natur unterworfen halten darf« (558 f.). Weder im geistigen und körperlichen Genuss noch in der Betrachtung der Welt äußert sich die Bestimmung des Menschen, sondern in der freien Ausübung der unbedingten Moralgesetze. Kant überführt die Physikotheologie in eine »Ethikotheologie«, um den Endzweck vom Sein in der Welt in der »Existenz vernünftiger Wesen unter moralischen Gesetzen« festzulegen (568–571). Der von uns zu verfolgende Endzweck, in Einstimmung mit den Moralgesetzen zu handeln, bereitet Glückseligkeit, und insofern ist er als »das höchste durch Freiheit mögliche Gut in der Welt« zu betrachten (576). Aufgrund dessen sollen sich unsere Willensäußerungen unabhängig von den sinnlichen Antrieben (und hiermit von der Natur) entfalten. Indem das Subjekt den Wert seines Daseins emanzipatorisch selbst setzt, handelt es nicht als »Naturglied«, sondern in der »Freiheit seines Begehrungsvermögens« (568). Um in die für die theoretische Erkenntnis verschlossene intelligible Sphäre vorzustoßen, muss die physische Teleologie in eine moralische übergehen. Bezeichnenderweise legt Kant den Ursprung des durch das Sittlichkeitsgesetz geforderten Endzwecks vorbehaltlos in einem moralischen Welturheber fest. Wie sich herausgestellt hat, bleibt die Ursache des Endzwecks für unser Vernunftvermögen in den Naturerscheinungen unauffindbar, weil zwischen dem »Begriff von der praktischen Notwendigkeit eines solchen Zwecks« und dem »theoretischen Begriffe von der physischen Möglichkeit desselben« ein unüberbrückbarer Widerstreit besteht (577). In Rücksicht auf die Notwendigkeit eines Endzwecks, der dem Menschen, der sich den unbedingten Moralgesetzen unterzieht, Glückseligkeit verspricht, leitet Kant den subjektiv gültigen Gottesbeweis ab:

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Folglich müssen wir eine moralische Weltursache (einen Welturheber) annehmen, um uns, gemäß dem moralischen Gesetze, einen Endzweck vorzusetzen; und, so weit als das letztere notwendig ist, so weit (d. i. in demselben Grade und aus demselben Grunde) ist auch das erstere notwendig anzunehmen: nämlich es sei ein Gott. (577)

Wie eng die praktische Ausübung der Moralgesetze mit der Gottesvorstellung verquickt ist, verdeutlicht sich im Einwand Kants, dass selbst ein ›Atheist‹ wie Spinoza die Existenz eines moralischen Welturhebers voraussetzen müsse, »um sich wenigstens von der Möglichkeit des ihm moralisch vorgeschriebenen Endzwecks einen Begriff zu machen« (580). Der Grund zu dieser Annahme liegt wiederum in der desillusionierenden Erfahrung des vorherrschenden moralischen und physischen Übels in der Welt. Von der Natur sei niemals eine nach beständigen Regeln eintreffende Übereinstimmung mit dem angestrebten Zweck, das Gute in der Welt mittels altruistischer, dem moralischen Gesetz vorgeschriebener Taten zu fördern, zu erwarten: Betrug, Gewalttätigkeit und Neid werden immer um ihn im Schwange gehen, ob er gleich selbst redlich, friedfertig und wohlwollend ist; und die Rechtschaffenen, die er außer sich noch antrifft, werden, unangesehen aller ihrer Würdigkeit glücklich zu sein, dennoch durch die Natur, die darauf nicht achtet, allen Übeln des Mangels, der Krankheiten und des unzeitigen Todes, gleich den übrigen Tieren der Erde, unterworfen sein und es auch immer bleiben, bis ein weites Grab sie insgesamt (redlich oder unredlich, das gilt hier gleichviel) verschlingt, und sie, die da glauben konnten, Endzweck der Schöpfung zu sein, in den Schlund des zwecklosen Chaos der Materie zurück wirft, aus dem sie gezogen waren. (579 f.)

Hinsichtlich der aufgeführten Schreckenspassagen, in denen Kant das Wirken einer chaotisch wirkenden Natur unapologetisch zur Veranschaulichung bringt, zeichnet sich ein äußerst pessimistischer Duktus in seiner Polemik ab. Gerade an diesen Stellen zeigt sich Kants ansonsten verklausulierte und trockene Diktion von ihrer spannungsgeladenen, wenn nicht gar pathetischen Seite: Sie wirkt affiziert und verunsichert. Was dabei thematisiert wird, ist nicht unbedingt das Widersinnige in der Natur, sondern, in dialektischer Manier, was sich dahinter verbirgt, nämlich die negative Präsenz der unbedingten Vernunftideen, die sich von der Natur absetzen. Man könnte behaupten, dass den blind agierenden, zerstörerischen Naturgewalten auf diese Weise eine strukturelle Funktion zugesprochen wird, sofern sie als Katalyst für die Vergegenwärtigung eines übergeordneten Zweckgefüges fungieren. Dieses von den Vernunftkräften geleistete dynamische Verfahren soll nun in Kants »Analytik des Erhabenen« weiter untersucht werden. Kant spricht bezüglich des Erhabenen in der Natur nicht von der teleologischen sondern von der ästhetischen Urteilskraft. Ein ästhetisches Urteil setzt voraus, dass

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die Naturgegenstände keinen Begriff von einem Zwecke mit sich führen. Des­wegen kann das Erhabene weder an Kunstprodukten noch an Naturdingen, »deren Begriff schon einen bestimmten Zweck bei sich führt (z. B. Tieren von bekannter Naturbestimmung)«, sondern bloß an der rohen Natur aufgezeigt werden (339). Während das Naturschöne ein »Gefühl der Beförderung des Lebens« mit sich führt, entspringt dem Gefühl des Erhabenen nur indirekt ein Gefühl der Lust (329). Von seinem Gegenstand wechselweise angezogen und abgestoßen, verspürt das Gemüt nach einer augenblicklichen Hemmung einen umso stärkeren Erguss der Lebenskräfte. Interessanterweise misst Kant der Naturschönheit im Vergleich zum Erhabenen der Natur eine größere Bedeutung zu. In ihr trifft man auf eine wohlgefällige Zweckmäßigkeit der Form, die die Gegenstände wie für unsere Urteilskraft vorbestimmt erscheinen lässt: Die selbstständige Naturschönheit entdeckt uns eine Technik der Natur, welche sie als ein System nach Gesetzen, deren Prinzip wir in unserm ganzen Erkenntnisvermögen nicht antreffen, vorstellig macht, nämlich dem einer Zweckmäßigkeit respektiv auf den Gebrauch der Urteilskraft in Ansehung der Erscheinungen, so daß diese nicht bloß als zur Natur in ihrem zwecklosen Mechanism, sondern auch als zur Analogie mit der Kunst gehörig beurteilt werden müssen. (330 f.)

Hingegen entzünden sich die Ideen des Erhabenen gerade nicht an demjenigen, was die Erkenntniskräfte dazu bewegen könnte, »besondere objektive Prinzipien« und »gemäße Formen« in der äußeren Natur aufzuspüren. Es ist eine Natur, die in ihrer »wildesten regellosesten Unordnung und Verwüstung« sich dem Subjekt als ein chaotisches, formloses Anderes präsentiert (331). Kant erhebt die gewichtige Supposition, dass solchen Zweckwidrigkeiten weder Bewunderung noch Achtung zukomme, und deshalb wäre es verfehlt – hier bricht er mit der traditionellen Erhabenheitsdiktion – das Prädikat des Erhabenen auf äußere Naturobjekte überhaupt zu transferieren: So kann der weite, durch Stürme empörte Ozean nicht erhaben genannt werden. Sein Anblick ist gräßlich; und man muß das Gemüt schon mit mancherlei Ideen angefüllt haben, wenn es durch eine solche Anschauung zu einem Gefühl gestimmt werden soll, welches selbst erhaben ist, indem das Gemüt die Sinnlichkeit zu verlassen und sich mit Ideen, die höhere Zweckmäßigkeit enthalten, zu beschäftigen angereizt wird. (330)

Wie oben bereits angeführt, fungieren die herkömmlichen Szenarien der unermesslichen und gewalttätigen Natur als Triebfeder, den durch sie durcheinander gebrachten Sinnzusammenhang auf der transzendentalen Ebene aufzusuchen. Die wahre Erhabenheit lässt deren Hypostasierung in eine angemessene, sinnlich anschaubare Form nicht zu; ihre Darstellung ist bloß im negativen Sinne mög-

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lich.269 Gerade dieses Scheitern der Sinnesvermögen bringt das Gemüt dazu, den Sprung in den Bereich der Ideen zu vollziehen. Kant würdigt die charakteristische Gemütsbewegung für das ästhetische Urteil über das Erhabene als »subjektiv zweckmäßig« (332). Im Gegensatz zum Schönen erfolgt im Modus des Erhabenen keine ruhige Kontemplation, da die Vernunft die Einbildungskraft mit aller Gewalt dazu zwingt, das rezipierte Überschwängliche und Abstoßende in ein absolut Ganzes zu formen. Dieser Totalitätsforderung können wir als Sinneswesen freilich nicht nachkommen. Vor der Einbildungskraft eröffnet sich ein Abgrund, »worin sie sich selbst zu verlieren fürchtet« (345). Unlust macht sich breit, die in Lust umschlägt, sobald die Realisation aufkommt, dass ein jegliches in der Natur im Vergleich zu den Vernunftideen unwesentlich ist: Es ist nämlich für uns Gesetz (der Vernunft) und gehört zu unserer Bestimmung, alles, was die Natur als Gegenstand der Sinne für uns Großes enthält, in Vergleichung mit Ideen der Vernunft für klein zu schätzen; und, was das Gefühl dieser übersinnlichen Bestimmung in uns rege macht, stimmt zu jenem Gesetze zusammen. (345)

Die Unangemessenheit der Einbildungskraft (und analog dazu das Unangemessene in der Natur) hebt sich im Gefühl des Erhabenen auf, sofern sich das denkende Subjekt »gestimmt« fühlt, als Vernunftwesen seiner Bestimmung Folge zu leisten. Was uns mit Wohlgefallen erfüllt, ist das willentliche Streben hin zum Absoluten, die Achtung vor dem Vernunftgesetz. Dementsprechend gründet sich die Lust am ästhetischen Urteil zerstörerischer Naturkräfte im Gewahrwerden einer von der Natur abgehobenen Zweckmäßigkeit in uns. Insbesondere in der zweiten Kategorie des Erhabenen, dem Dynamisch-Erhabenen der Natur, wird der Drang zur unbedingten Selbstbestimmung deutlich. Die Natur als furchterregende Macht – Kant erwähnt »[k]ühne überhangende gleichsam drohende Felsen, am Himmel sich auftürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend, Vulkane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt, Orkane mit ihrer zurückgelassenen Verwüstung, der grenzenlose Ozean, in Empörung gesetzt, ein hoher Wasserfall eines mächtigen Flusses« – ruft infolge des Bewusstwerdens der eigenen physischen Ohnmacht das Begehrungsvermögen zum Widerstand auf (349). In Opposition zu den chaotischen Naturgewalten erhebt das bedrängte Subjekt den Anspruch, sich als überlegene Größe unabhängig von ihnen zu beurteilen; dass es trotz der zu erleidenden materiellen Entbehrungen im Kern als frei agierendes Moralwesen unbesiegt bleibe.

269 

»Wir können nicht mehr sagen, als daß der Gegenstand zur Darstellung einer Erhabenheit tauglich sei, die im Gemüte angetroffen werden kann; denn das eigentliche Erhabene kann in keiner sinnlichen Form enthalten sein, sondern trifft nur Ideen der Vernunft: welche, obgleich keine ihnen angemessene Darstellung möglich ist, eben durch diese Unangemessenheit, welche sich sinnlich darstellen läßt, rege gemacht und ins Gemüt gerufen werden« (330).

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Auf solche Weise wird die Natur in unserm ästhetischen Urteile nicht, sofern sie furchterregend ist, als erhaben beurteilt, sondern weil sie unsere Kraft (die nicht Natur ist) in uns aufruft, um das, wofür wir besorgt sind (Güter, Gesundheit und Leben), als klein, und daher ihre Macht (der wir in Ansehung dieser Stücke allerdings unterworfen sind) für uns und unsere Persönlichkeit demungeachtet doch für keine solche Gewalt ansehen, unter die wir uns zu beugen hätten, wenn es auf unsre höchste Grundsätze und deren Behauptung oder Verlassung ankäme. (350)

Selbstverständlich ist eine solche Selbsteinschätzung bloß möglich, wenn sie aus sicherer Distanz zum furchtbaren Gegenstand vollzogen wird. Ein Schrecken, der ernst gemeint und lebensbedrohlich ist, drängt zur Flucht statt zum ästhetischen Reflexionsurteil über das Erhabene in der Natur. Es kommt nicht von ungefähr, dass das althergebrachte straftheologische Deutungsmuster, das »Gott im Ungewitter, im Sturm, im Erdbeben« vorstellig macht, bei Kant auf Kritik stößt (351). Solange die verheerenden Naturgewalten als fürchterliche Strafrute verstanden werden, empfinden wir eine gänzliche Ohnmacht vor der richtenden Gottheit. Von einer Erhabenheit der eigenen Bestimmung kann in einem solchen Fall nicht die Rede sein, denn ein zorniger Gott, vor dem man sich ständig fürchten muss, trifft das Selbstwertgefühl des Menschen in seinem Innersten. Kant verneint die Ansicht, eine knechtische Niederwerfung vor Gott sei mit der Idee der Erhabenheit einer Religion und ihres Gegenstandes notwendig verbunden. Im angsterfüllten Gemütszustand ist der Mensch unfähig, die göttliche Größe wirklich zu bewundern, wozu stets ein freies Urteil erforderlich ist: Nur […] wenn er sich seiner aufrichtigen gottgefälligen Gesinnung bewußt ist, dienen jene Wirkungen der Macht, in ihm die Idee der Erhabenheit dieses Wesens zu erwecken, sofern er eine dessen Willen gemäße Erhabenheit der Gesinnung bei sich selbst erkennt, und dadurch über die Furcht vor solchen Wirkungen der Natur, die er nicht als Ausbrüche seines Zorns ansieht, erhoben wird. (352)

Worauf es ankommt, ist, dass die zum moralischen Handeln drängende Instanz bereits im Innern des Subjekts verankert ist. Aus Ehrfurcht (nicht Furcht) vor dem Moralgesetz soll es »sich willkürlich dem Schmerze der Selbstverweise […] unterwerfen, um die Ursache dazu nach und nach zu vertilgen« eine durchaus erhabene Haltung, die sich über die abergläubische Unterwerfung vor einem übermächtigen Wesen hinwegsetzt (352). Resümierend ist festzuhalten, dass das grundlegende Kriterium für die Disposition zum Gefühl des Erhabenen die subjektive Empfänglichkeit für Ideen ist, die ihrerseits durch die Kultur gefördert wird. Kant definiert Kultur bzw. Bildung als die »Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken (folglich in seiner Freiheit)« (554). Besteht die Bedingung zur Tauglich-

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keit, so verfügt der Mensch über das Geschick, sich selbst Zwecke unabhängig von der Natur zu setzen und »die Natur den Maximen seiner freien Zwecke überhaupt angemessen, als Mittel zu gebrauchen« (553). Mit Kultur wird also die Grundlage geschaffen, der selbst aufgegebenen Zweckbestimmung, »betitelter Herr der Natur« bzw. »der letzte Zweck der Natur« zu sein, nachzukommen. Dementsprechend räumt Kant ein, ohne die Entwicklung sittlicher Ideen werde das, »was wir, durch Kultur vorbereitet, erhaben nennen, dem rohen Menschen bloß abschreckend vorkommen« (354). Diesen Sachverhalt illustriert er am Beispiel des verständigen savoyischen Bauern, der »alle Liebhaber der Eisgebirge« vorbehaltlos als »Narren« bezeichnete. Wer weiß auch, ob er ganz Unrecht gehabt hätte, wenn jener Beobachter [der Schweizer Alpenforscher Horace Bénédict de Saussure (1740–1799)],270 die Gefahren, denen er sich hier aussetzte, bloß, wie die meisten Reisende pflegen, aus Liebhaberei, oder um dereinst pathetische Beschreibungen davon geben zu können, übernommen hätte? So aber war seine Absicht Belehrung des Menschen; und die seelenerhebende Empfindung hatte und gab der vortreffliche Mann den Lesern seiner Reisen in ihren Kauf oben ein. (354)

Kant erteilt den pathetischen Bergbeschreibungen eine deutliche Abfuhr. Anstelle des Pathos bedarf es einer natürlichen Schreibart in den Naturdarstellungen. Diesbezüglich fällt Kant auf Gottscheds Diktum – die Leserschaft soll mit dem Wunderbaren in der Natur gebührend belehrt und nicht aufgeschreckt werden – zurück. Ein kultiviertes Individuum verspürt in der Anschauung der bedrohlichen Natur die Autonomie der eigenen Vernunftkräfte; gerät es als Sinneswesen jedoch unter den Bann des Schreckens, so verhält es sich bloß wie ein roher Mensch. Wie Winfried Menninghaus herausgearbeitet hat, bricht Kant mit der in der longinischen Erhabenheitssemantik enthaltenen Lust am Überwältigtwerden (8 f.). Das Element der Gewalt trifft nicht als äußere Macht unaufhaltsam aufs Gemüt des Rezipienten. Es wird vielmehr internalisiert und besitzt seine Ursache in der Vernunft, die »der Sinnlichkeit Gewalt antun muß, nur daß im ästhetischen Urteile über das Erhabene diese Gewalt durch die Einbildungskraft selbst, als einem Werkzeuge der Vernunft, ausgeübt vorgestellt wird« (358). Kant sieht sich genötigt, die Macht der Worte und der heftigen Affekte auszugrenzen, da sie freiheitsberaubend auf das Gemüt wirken: Für die Lehre von den heftigen Gemütsbewegungen, die in der antiken Rhetorik wie in der englischen Ästhetik von Dennis bis Burke, bei Dubos ebenso wie bei Klopstock zentral für die Bestimmung des Erhabenen ist, hat Kant dementsprechend nur 270  Vgl.

dazu Gernot Böhmes Untersuchung der Erwähnungen Kants von Saussures Forschungsreisen durch die Alpen in Kants Kritik der Urteilskraft in neuer Sicht (1999) 100–106.

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Spott übrig: heftige Gemütsbewegungen als solche gehören ›nur zur Motion, welche man der Gesundheit wegen gern hat‹; mangels des Bezugs auf die Vernunftideen wie Freiheit und Gott können sie ›keineswegs auf die Ehre einer erhabenen Darstellung Anspruch machen‹. (Menninghaus 9)

Es wird abermals deutlich, inwiefern sich der Königsberger Philosoph von der traditionellen Konzeptualisierung des Erhabenen abgesetzt hat, um den Idealanspruch der Freiheit in Abwehr gegen die blind agierenden Gewalten der äußeren (und inneren) Natur gewährleisten zu können. Bezüglich der furchterregenden »Gewalt der Natur in ihrer Zerstörung« ist diese Begriffsverschiebung, wie sich gezeigt hat, eine Reaktion auf das kollabierende Metaphysikkonstrukt eines zweckmäßigen, nach Endabsichten operierenden Naturganzen. Die Gewissheit seiner realen Existenz ist mit der Kantischen Kritik im ausgehenden 18. Jahrhundert endgültig abhanden gekommen. Was verbleibt, ist eine Natur, die sich der umfänglichen Erkenntnisfindung zu widersetzen scheint. Kant hat diese folgenschwere Problematik bezeichnenderweise mit dem Verweis auf den Mythos des Isis-Schleiers auf den Punkt gebracht: Vielleicht ist nie etwas Erhabeneres gesagt, oder ein Gedanke erhabener ausgedrückt worden, als in jener Aufschrift über dem Tempel der Isis (die Mutter Natur): ›Ich bin alles was da ist, alles was da war, und was da sein wird, und meinen Schleier hat kein Sterblicher aufgedeckt.‹ (417)

b)  Friedrich Schiller: Pathos und Erhabenheit Klaus Berghahn hat im Nachwort zu seiner Anthologie Vom Pathetischen und Erhabenen darauf hingewiesen, dass Friedrich Schillers Forderung an die tragische Kunst, die leidende Natur darzustellen, aufs engste mit seiner Naturvorstellung zusammenhängt: »Die Natur ist das ganz Unverständliche und Fremde; ihr ist der Mensch als Sinneswesen unterworfen und unterlegen; von ihr kann er nur Leid erfahren, aber in ihr keine Sinngebung seines Daseins finden« (139). Dieses pessimistische Urteil, das die Vorstellung einer den Menschen begünstigenden Naturteleologie verwirft, bezeugt einen dramatischen Sinneswandel im Denken Schillers.271 Wirft man einen Blick auf seine Frühschriften, so erstrahlt sein Naturbild in einem viel freundlicheren Licht. Während der Studienzeit setzte er sich u. a. mit der von Alexander Garve übersetzten und kommentierten Abhandlung Grundsätze der Moralphilosophie (1772) des schottischen Philosophen und Historikers Adam Ferguson 271  Die

Dialektik der Aufklärung in bezug auf Schillers kulturkritische Geschichtsauffassung, »die das Bild der Menschheitsentwicklung ins Negative umschlagen läßt«, hat Wolfgang Riedel in seiner fundierten Analyse von Schillers philosophischem Gedicht »Der Spaziergang« dargelegt (83).

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(1723–1816) ausführlich auseinander. Zu Beginn des von der Professorenschaft abgelehnten ersten Dissertationsversuchs Philosophie der Physiologie (1779) zitiert Schiller frei aus Fergusons Werk: Eine Seele, sagt ein Weiser dieses Jahrhunderts, die bis zu dem Grade erleuchtet ist, daß sie den Plan der göttlichen Vorsehung im ganzen vor Augen hat, ist die glücklichste Seele. Ein ewiges, ein großes, schönes Gesetz hat Vollkommenheit an Vergnügen, Mißvergnügen an Unvollkommenheit gebunden. (SW 5: 250)272

An den traditionellen Diskurs des metaphysischen Optimismus anknüpfend,273 legt Schiller das sinngemäße Handeln des Menschen in der »Überschauung, Forschung, Bewunderung des großen Plans in der Natur« fest (251).274 Ziel ist es, »erhaben« ausgedrückt, dass sein Geist der »Größe des Schöpfers« ähnlich werde: »[M]it eben dem Blick umfasse die Welt, wie der Schöpfer sie umfaßt – Gottgleichheit ist die Bestimmung des Menschen« (250). Trotz ihrer unerreichbaren Unendlichkeit ist diese ideale Vollkommenheit anzustreben, da sie ergötzend wirkt und zur Glückseligkeit führt: »Die Summe der größten Vollkommenheiten mit den wenigsten Unvollkommenheiten ist Summe der höchsten Vergnügungen mit den wenigsten Schmerzen« (251). Aus anthropologischer Sicht nehmen die Unvollkommenheiten und die daraus resultierenden physischen Übel eine grundlegende Funktion ein. Ferguson und sein Übersetzer Garve instrumentalisieren den Schmerz unmissverständlich als eine notwendige Triebfeder des menschlichen Fortschritts.275 Daraus ist zu folgern, dass 272 

Vgl. dazu den von Christian Garve übersetzten Abschnitt in Fergusons Moralphilosophie: »Um dieser Ursache willen, ist der Zustand einer Seele, die bis zu dem Grade erleuchtet ist, daß sie begreift, was der Gegenstand und was die Absichten der göttlichen Vorsehung im Ganzen sind, unter allen übrigen der ergötzendste, und kömmt einer völligen Befreyung von Schmerz am nächsten« (135). 273  Der Einfluss der optimistischen Metaphysik auf den jungen Schiller, bevor er sich mit der kritischen Philosophie Kants auseinandersetzte, hat Karl Wollf in seiner Monographie Schillers Theodizee (1909) gründlich untersucht 112–257. 274  Es ist bezeichnend, dass Garve in seinen Anmerkungen zu Fergusons Moralphilosophie nach wie vor an der Grundformel des populär-philosophischen Optimismus strikt festhält, dass die Partikulärübel in der Ordnung des Ganzen nicht ins Gewicht fallen. Ein weiteres Zeugnis von dessen Langzeitwirkung bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts: »Wenn es einen Menschen gäbe, der auf einmal nur die ganze Erde, oder alle Geschlechtsfolgen der Menschen übersähe; der die Empfindungen und Handlungen aller lebendigen Wesen nur in diesem Augenblicke, oder die Reihe aller Empfindungen und Handlungen nur eines einzigen mit Einem Blicke umfaßte; für diesen Menschen würde kein Uebel mehr seyn. Die Ordnung des Ganzen würde die Unordnungen der einzelnen Theile verschlingen; das Wenige Uebel würde unter dem Großen Guten verloren gehen; er würde nicht mehr seine abgesonderte Existenz empfinden, sondern sich mit dem ganzen System der lebendigen Wesen zusammenfassen; er würde wie Ferguson sagt, jedes Geschöpf lieben, und sich an jeder Begebenheit erfreuen« (409). 275  Ferguson rechtfertigt in den Grundsätzen der Moralphilosophie die Güte Gottes, insofern er das physische Übel als ein Zeichen einer tätigen Natur im Menschen darstellt, die dazu bestimmt ist, ihre Kraft zu äußern: »Ein Zustand, in welchem keine scheinbare Uebel zu verbes-

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der größte Missstand, dem die Menschheit anheim fallen könnte, ein Zustand der körperlichen und geistigen Lethargie sei.276 Schiller verarbeitet diesen Gedankenstrang in seiner diesmal gebilligten und gedruckten Dissertation Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner Geistigen (1780). Im Abschnitt »Aus der Geschichte des Menschengeschlechts« gründet er den inneren Drang sich zu vervollkommnen aus der Erfahrung des durch das physische Übel verursachten Leids. Die körperlichen Schmerzen setzen die Geisteskräfte in Bewegung, die primär nach einer Verbesserung der äußeren Lebensumstände drängen. Wo die Natur dem Menschen zuwiderläuft, muss sie sich seinem Willen beugen. Der Erdboden, samt seinen rohen und gefahrvollen Landstrichen, wird nach den menschlichen Bedürfnissen zurechtgeformt und kultiviert. Schiller zitiert aus August Ludwig Schlözers (1735–1809) Vorstellung seiner Universal-Historie, um diesen epochalen Urbarmachungsprozess der Natur zu illustrieren: Der Mensch […] dieser mächtige Untergott, räumt Felsen aus der Bahn, gräbt Seen ab und pflüget, wo man sonsten schiffte. Durch Kanäle trennt er Weltteile und Provinzen voneinander, leitet Ströme zusammen und führet sie in Sandwüsten hin, die er dadurch in lachende Fluren verwandelt; er plündert dreien Weltteilen ihre Produkte ab und versetzt sie in den vierten. Selbst Klima, Luft und Witterung gehorchen seiner Macht. Indem er Wälder ausstreuet und Sümpfe austrocknet, so wird ein heiterer Himmel über ihm, Nässe und Nebel verlieren sich, die Winter werden sanfter und kürzer, die Flüsse frieren nicht mehr zu. (304)277

Neben den dynamischen Naturkräften erkennt man also in den Taten des Menschen eine weitere Macht, die die Veränderungen auf dieser Welt vorantreibt. Entscheidend ist, dass unser Wissensstand ohne die ständige Auseinandersetzung mit sern, oder, welches einerley ist, keine Vermehrung des Guten möglich wäre, würde ein Zustand der Unthätigkeit seyn, welcher der Natur des Menschen zuwider ist. Oder mit andern Worten, ein Wesen, das keine Uebel empfände, oder keine Bedürfniße hätte, könnte auch keine Triebfedern zu Handlungen haben« (113 f.). 276  Vgl. dazu Ferguson: »Es ist eine unglückliche Meynung, daß Glückseligkeit, in einer Befreyung von Unruhe, oder darinnen bestehe, daß man nichts zu thun habe. […] Indem sie jeder Pflicht, und jeder Verbindung, die Arbeit und Thätigkeit fordern würde, ausweichen, machen sie sich das Leben zu einer Last, und beklagen sich dann, daß es eine Last sey« (145). 277  August Ludwig Schlözers Vorstellung seiner Universal-Historie, erschienen 1772/1773 in Göttingen, stellt die »Revolutionen des Erdbodens« ganz im Sinne der Palingenese als einen bis in die Gegenwart vorangehenden Schaffens- und Zerstörungsprozess der Natur dar: »Die Natur hat noch in neuern Zeiten den Zugang zum alten Grönland durch Eisberge verrammelt. Sie hat Herculaneum, Plürs, Lima, und viele andere Städte und Gegenden verschüttet; und dafür im Archipelagus eine neue Insel gebohren« (8). Mit Plürs meint Schlözer sicherlich den im Veltlin niedergegangenen Bergsturz vom 3. September 1618. Dieses Ereignis ist bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts des Öfteren in historiographischen Darstellungen und naturwissenschaftlichen Abhandlungen erwähnt worden. Siehe dazu Rosmarie Zeller, »Wahrnehmung und Deutung von Naturkatastrophen in den Medien des 16. und 17. Jahrhunderts« 330–333.

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den vorherrschenden Mängeln niemals auf die gegenwärtige Höhe vorgedrungen wäre: So mußte das Schlimmste das Größte erreichen helfen, so mußte die Krankheit und Tod drängen zum γνῶθι σεαυτόν: Die Pest bildete unsere Hippokrate und Syden­ hame, wie der Krieg Generale gebar, und der einreißenden Lustseuche haben wir eine totale Reformation des medizinischen Geschmacks zu verdanken. (305)

Sobald die Lebensumstände soweit gereift sind, dass sie die Forderungen der körperlichen Bedürfnisse zu stillen vermögen und eine gewisse Sicherheit und Ruhe gewährleisten, entsteht »jene fruchtbare Muße«, die den Künstlern und Denkern erlaubt, sich ihren geistigen Neigungen zu widmen (304). Abermals aus Garves Anmerkungen zu Fergusons Moralphilosophie zitierend, übernimmt Schiller die Supposition, »daß in diesen Handlungen selbst, wodurch der Mensch sich Nahrung und Bequemlichkeit verschafft hat, insofern sie aus gewissen Kräften eines Geistes entstehen, insofern sie diese Kräfte üben, ein höheres Gut liege als in den äußern Endzwecken selbst, die durch sie erreicht werden« (302).278 Worauf dieses höhere Gut hinzielt, ist die geistige bzw. moralische Vervollkommnung des Menschen. Schiller war sich des Spannungsfelds bewusst, worin sich die aufklärungsoptimistische Weltvorstellung bewegte. In der Philosophie der Physiologie äußert er den nagenden Zweifel der spinozistischen Gegenpartei an der erkennbaren Existenz eines zweckgerichteten Universums und seine Sorge um die Entzweiung von dem denkenden Subjekt und der äußeren, objektivierten Welt: Oder ist all unsere Vorstellung einer Welt ein einzig aus unserem Selbst hervorgesponnen Gewebe? Wir täuschen uns, wir träumen, so wir glauben, unsere Ideen und Empfindungen von außen zu empfangen. Wir sind unabhängig von der Welt, sie ist unabhängig von uns. […] So ist also die Welt ohne Absicht da. Freiheit und moralische Bildung sind Phantome. Meine Glückseligkeit ist Traum. Diese Meinung ist nichts als ein witziger Einfall eines feinen Kopfs, die er selbst nimmermehr glaubte. (SW 5: 252 f.)

Vergleicht man diese Textpassage mit den euphorischen Bemerkungen in Zerstreute Betrachtungen über verschiedene ästhetische Gegenstände (1791), so trifft man auf einen markanten Bewusstseinswandel im schillerschen Denken. Das sich selbst behauptende Subjekt bestimmt den Grund des unermesslichen Weltenraumes mitsamt der Gottheit in seinem eigenen Vorstellungsvermögen: Ich mag also in der schwindelnden Vorstellung des allgegenwärtigen Raums, oder der nimmer-endenden Zeit mich verlieren, oder ich mag in der Vorstellung der ab278 

Vgl. Garve 321.

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soluten Vollkommenheit meine eigne Nichtigkeit fühlen – ich selbst bin es doch nur, der dem Raum seine unendliche Weite und der Zeit ihre ewige Länge gibt, ich selbst bin es, der die Idee des Allerheiligen in sich trägt, weil ich sie aufstelle, und die Gottheit, die ich mir vorstelle, ist meine Schöpfung, so gewiß mein Gedanke der meinige ist. (SW 5: 564)

Schillers Reflexionen weisen Parallelen mit der kantischen Transzendentalphilosophie auf, insbesondere der »Analytik des Erhabenen«. Das reine und identische Ich hat sich gemäß dem von den Moralgesetzen gebilligten Anspruch nach Freiheit vor nichts zu beugen – eine Überzeugung, die sich ebenfalls in der Briefreihe Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) niederschlug. Für unseren Zusammenhang sind der 24. und 25. Brief aus der Ästhetischen Erziehung bedeutend, worin Schiller idealphilosophisch den Übergang der Menschheit von ihrem physischen zu ihrem moralischen Zustand behandelt. In seinem physischen Zustand unterliegt der Mensch der Macht der Natur, im ästhetischen Zustand entledigt er sich dieser Macht und im moralischen beherrscht er sie (SW 5: 646). Solange der Stofftrieb das Handeln noch völlig beherrscht, nimmt er die herrliche Fülle und Mannigfaltigkeit der Natur bloß als Beute wahr, in ihrer Manifestation als Macht und Größe hingegen verabscheut er sie. Mit dem Einsetzen des Formtriebs bzw. der Vernunft beginnt sich die Gebundenheit zur physischen Natur zu lösen. Die Abspaltung des intelligiblen Ich von der sinnlichen Natur spielt sich nach dem kantischen Vorbild ab. Solange der Mensch in seinem physischen Zustand verharrt, kann es zu keiner wahren Selbstschätzung kommen; erst als moralisches Wesen vermag er sich zum Ideal seiner Bestimmung emporzuheben. Ein entscheidender Zwischenschritt dazu erfolgt in der ästhetischen Betrachtung, die Schiller im 25. Brief erörtert. Sobald der Mensch die notwendige Distanz aufbringt, die Sinnenwelt objektivierend als ein Anderes zu beurteilen, sondert er sich als denkendes Wesen von seinem physischen Zustand ab. Im Moment der Reflexion kehrt in den Leidenschaften und in den streitenden Naturkräften ein augenblicklicher Frieden ein; auf dem »vergänglichen Grunde« wiederspiegelt sich »ein Nachbild des Unendlichen, die Form« (652). Schiller wertet die Leistung, die beschränkenden Naturmächte in eine verständliche Form zu pressen, als eine gewichtige Zäsur in der Menschheitsentwicklung. Sie kommt der cartesianischen Demystifizierung der Natur gleich, die die Furcht vor dem Numinosen mit Metaphern aus dem kausalmechanischen Bereich gebannt hat: Aus einem Sklaven der Natur, solang er sie bloß empfindet, wird der Mensch ihr Gesetzgeber, sobald er sie denkt. Die ihn vordem nur als Macht beherrschte, steht jetzt als Objekt vor seinem richtenden Blick. Was ihm Objekt ist, hat keine Gewalt über ihn, denn um Objekt zu sein, muß es die seinige erfahren. Soweit er der Materie Form gibt, und solange er sie gibt, ist er ihren Wirkungen unverletzlich; denn

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einen Geist kann nichts verletzen, als was ihm die Freiheit raubt, und der beweist ja die seinige, indem er das Formlose bildet. Nur wo die Masse schwer und gestaltlos herrscht und zwischen unsichern Grenzen die trüben Umrisse wanken, hat die Furcht ihren Sitz; jedem Schrecknis der Natur ist der Mensch überlegen, sobald er ihm Form zu geben und es in sein Objekt zu verwandeln weiß. (652)

Mit dem Sprung vom physischen zum ästhetischen Zustand – man erinnere sich an Joachim Ritters dargestellte Entzweiungsstruktur – geht allerdings ein folgenschwerer Bruch zwischen dem denkenden Subjekt und der objektivierten Außenwelt einher. Eine analoge Zweiteilung spaltet den Menschen in Sinnes- und Vernunftregionen. Als Vermittlerin zwischen den beiden Beziehungshälften operiert die Schönheit. Im Vollzug der freien Betrachtung des Schönen lässt sich die Divergenz zwischen der materiellen und der ideellen Welt aufheben. Leiden und Tätigkeit grenzen sich im Schönen nicht gegenseitig aus, sondern geben den Anschein, in einem gegenseitigen Wechselspiel miteinander zu harmonieren. Die zur Veranschaulichung gelangte »ästhetische Einheit« antithetischer Konzepte verhilft dem Menschen zur Erkenntnis, dass ihm trotz seiner physischen Bedingtheit der Zugang zur moralischen Freiheit, »die Vereinbarkeit beider Naturen« nicht verwehrt bleibt (654).279 Schiller gibt aber zu bedenken, dass ein Übergang von der »materiellen Welt« hin zur »Geisterwelt« die Schönheit, den Kernpunkt der ästhetischen Erziehung, überspringe (653). Die Frage stellt sich, inwiefern das Subjekt einen Weg von der gemeinen zur ästhetischen Wirklichkeit zu bahnen vermag, wenn es mit der Willkür der nichtschönen bzw. gewaltsamen Natur konfrontiert wird. Wirft man einen Blick auf Schillers Ausführungen zum Erhabenen, so wird in ihnen komplementär zum Schönen in der Ästhetischen Erziehung mit unverminderter Härte die Kluft zwischen dem Sinnes- und Vernunftwesen aufgezeigt. Die hier veranschaulichte Natur ist ganz und gar die schwere und gestaltlose Masse, die sich der bestimmenden Formgebung entzieht. Jegliches Bestreben der instrumentellen Vernunft, die Natur zu beherrschen, ist im Endeffekt zum Scheitern verurteilt. 280 Wie Renate Homann konstatiert hat, verändert Schiller Kants Erhabenheitsbe279  Zu

beachten ist, dass der Zustand der verspürten Ganzheit, der Summierung all unserer Kräfte, sich mit dem von Schlosser vertretenen Erhabenheitsbegriff überschneidet. Bei ihm kommt es zu keiner Aufsplitterung des sinnlichen mit dem intelligiblen Ich. Sein Erhabenheitskonzept unterscheidet sich diesbezüglich von demjenigen Kants und Schillers auf gravierende Weise. 280 Im Hinblick auf Schillers Ausschluss aller Naturbeherrschungsmaßnahmen aus dem Erhabenheitsbegriff verweist Christian Begemann auf »die Schwierigkeit für die von mir vertretene Interpretation«, dass die für das Erhabenheitsgefühl notwendige räumliche Distanz »weitgehend auf einer neuen, nämlich immanenten Wahrnehmung der Natur« beruhe, die ebenfalls »als eine Form von – theoretischer – Naturbeherrschung« identifiziert werden könne. Diese Voraussetzung werde von Schiller jedoch nicht berücksichtigt, da er unter Naturbeherrschung bloß »eine offenkundige, praktisch vollzogene Herrschaft über die Natur« verstehe (155). Begemann

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Naturkatastrophen als ­ä sthetische Herausforderung

griff »zu einem zentralen Begriff der Theorie tragischer Kunst« (61). Diesbezüglich nimmt das Praktischerhabene einen gewichtigeren Stellenwert ein als das Theoretischerhabene, das wie Kants Mathematischerhabene die sinnlichunermesslichen Naturgrößen umschließt. Für Schiller verweist das Erhabene auf die innere Größe des Menschen, auf seine moralische Unabhängigkeit von den gewaltsamen Naturmächten. Diese »innere Freiheit« lässt sich nicht wie bei Kant »an sich«, sondern erst im Moment der existentiellen Bedrohung nachweisen (Koopmann 580). Das Bewusstsein der eigenen moralischen Freiheit bezeichnet Schiller in seiner Abhandlung Ueber das Pathetische (1793) als etwas Übersinnliches (SW 5: 512). Der Begriff bezieht sich hier ausschließlich auf die innersubjektiven Kräfte, und hängt nicht »mit den antiken Göttern, mit dem Schicksal oder dem christlichen Gott« zusammen (Homann 63). Somit kommt die noch bei Moses Mendelssohn und Carl Grosse vorkommende Übereinkunft des Erhabenen mit den religiösen Ideen nicht zustande. Schiller kennt als Kantianer »keine Wahrheit jenseits der menschlichen Erfahrung« (Berghahn, »Pathetischerhabene« 31). Sein Hauptaugenmerk gilt nicht den erkenntnistheoretischen Problemen, sondern vielmehr der Einübung des praktischen Handelns, der Selbstbehauptung des Menschen gegen die ihn anfallenden Naturverheerungen. Schillers Konzept des Erhabenen findet seine präziseste Formulierung in der Schrift Über das Erhabene.281 Gleich zu Anfang setzt er mit der Kernproblematik an, dass der Mensch danach dränge, sein Geschick nach seinem Willen zu gestalten: »Alle andere Dinge müssen; der Mensch ist das Wesen, welches will« (SW5: 792). Ein Blick auf die Menschheitsgeschichte zeigt aber, dass dem Anspruch, von keiner Macht Gewalt zu erleiden, nicht Folge geleistet werden kann. Zwischen dem Trieb und dem Vermögen herrscht ein beschämender Widerspruch. Auf dem Wege der unterschätzt in seinem Lösungsvorschlag die Radikalität des schillerschen Erhabenen. In Nachfolge der kantischen Kritik vermag selbst ein immanenter Naturbegriff den Wegfall eines sinnstiftenden, teleologischen Naturganzen nicht zu kompensieren. Die Zuflucht zum intelligiblen Selbst bzw. zur autarken Vernunftkraft vollzieht sich vielmehr in der absoluten Abkehr zur fremd gewordenen Natur. In dieser Hinsicht ist Jürgen Nieraads Schlussfolgerung beizustimmen, dass »[m]it wachsender Naturbeherrschung […] das Erhabene als Erfahrung bzw. Vorstellungsmöglichkeit« verschwinden würde (81). 281  Die Entstehungszeit des Aufsatzes lässt sich nicht eindeutig ermitteln. Er wurde mit aller Wahrscheinlichkeit während der Niederschrift der Ästhetischen Briefen angefertigt, also zwischen den Jahren 1793–1795. Publiziert wurde er 1801 in der Sammlung Kleinere prosaischen Schriften, Teil III. Die Schrift gilt als ausgereifter als seine im Jahre 1793 angefertigte Abhandlung Vom Erhabenen, die sich noch eng an Kants Kritik der Urteilskraft orientierte. Nach dem kantischen Vorbild gliedert Schiller das Erhabene ebenfalls in zwei Kategorien. Das Mathematisch- und Dynamischerhabene wird von ihm allerdings als das Theoretisch- und Praktischerhabene behandelt (SW 5: 490). Interessanterweise tauchen beide Begriffe in der nachfolgenden Schrift Über das Erhabene nicht mehr auf. Vgl. dazu Klaus Berghahns Anmerkungen in der Anthologie Vom Pathetischen und Erhabenen 126.

Das Erhabene im poetologischen und philosophischen Diskurs

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Kultur eröffnen sich dem Menschen zweierlei Wege, die zur Erfüllung der gewollten Freiheit verhelfen können. Einerseits entwickelt er sich im Sinne der physischen Kultur selbst zu einer tätigen Macht, die die Naturkräfte mithilfe seines ausgebildeten Verstandes unterwirft. Diese Vorgehensweise scheitert jedoch am Unvermögen einer endgültigen physischen Herrschaft über die Natur. An diesem Problempunkt tritt andererseits die moralische Kultur auf den Plan, die Gewalt der Natur »dem Begriffe nach zu vernichten« bzw. sich ihr »freiwillig [zu] unterwerfen«. Bevor die Natur den Menschen erniedrigt, hat er sich dessen, was ihr als Angriffsfläche dienen könnte, bereits aus freien Stücken entledigt. Schiller räumt ein, dass so eine erhabene Gesinnung, gerade wenn sie aus der »freien Wahl und Überlegung« erfolgen soll, eine nicht der Norm entsprechende Denk- und Willens­k apazität abverlangt. Glücklicherweise ist sie bereits als »ästhetische Tendenz« in der menschlichen Natur vorhanden und braucht bloß mit dem Gebrauch von gewissen »sinnliche[n] Gegenstände[n]« kultiviert zu werden (794). In Anlehnung an die doppelte Ästhetik des 18. Jahrhunderts spricht Schiller dem Erhabenen einen anderen Aufgabenbereich in der ästhetischen Erziehung als dem Schönen zu. Auch wenn in der freien Betrachtung nicht das Bedürfnis besteht, den schönen Gegenstand zu besitzen, so verspüren wir dennoch das Verlangen, er möge in der sinnlichen Welt existieren, und insoweit bleibt die eigene Zufriedenheit von der Gunst der Naturmacht, der Gebieterin über allem Dasein, abhängig (795). Reagieren wir hingegen indifferent auf das Vorhandensein einer guten, schönen und vollkommenen Natur, während wir dennoch ihre Existenz fordern, so versetzen wir uns in eine erhabene und große Stimmung. Losgelöst von den Schranken der sinnlichen Welt fühlen wir uns als »reine Intelligenzen«: eine Empfindung, die sich mit der ästhetischen Erfahrung des Schönen nicht bewerkstelligen lässt (797). Im Gegensatz zum Schönen kommt es beim Erhabenen zu keiner Übereinkunft der Vernunft mit der Sinnlichkeit. Dementsprechend konstituiert das im Erhabenheitsgefühl charakteristische Aufeinanderprallen der sich widersprechenden Empfindungen – Lust und Unlust – den eindeutigen Beweis für die Souveränität der Vernunftgesetze über den Stofftrieb: Wir erfahren also durch das Gefühl des Erhabenen, daß sich der Zustand unsers Geistes nicht notwendig nach dem Zustand des Sinnes richtet, daß die Gesetze der Natur nicht notwendig auch die unsrigen sind, und daß wir ein selbständiges Prinzipium in uns haben, welches von allen sinnlichen Rührungen unabhängig ist. (796)

Mit der radikalen Abkopplung des »selbständigen Prinzipium« bzw. des Moralgesetzes im Menschen von den blind verlaufenden Naturgesetzen bricht Schiller vollends mit der Vorstellung eines teleologischen Naturhaushalts. Seine polemische Schilderung der sich den menschlichen Bedürfnissen widersetzenden, chaotischen Natur besticht in ihrer Kompromisslosigkeit:

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Wer freilich die große Haushaltung der Natur mit der dürftigen Fackel des Verstandes beleuchtet und immer darauf ausgeht, ihre kühne Unordnung in Harmonie aufzulösen, der kann sich in einer Welt nicht gefallen, wo mehr der tolle Zufall als ein weiser Plan zu regieren scheint und bei weitem in den mehresten Fällen Verdienst und Glück miteinander im Widerspruche stehn. Er will haben, daß in dem großen Weltlaufe alles wie in einer guten Wirtschaft geordnet sei, und vermißt er, wie es nicht wohl anders sein kann, diese Gesetzmäßigkeit, so bleibt ihm nichts anders übrig, als von einer künftigen Existenz und von einer andern Natur die Befriedigung zu erwarten, die ihm die gegenwärtige und vergangene schuldig bleibt. (802)

Das Nachbeben der kantischen Transzendentalphilosophie wird durch Schillers unverhohlene Bloßstellung unseres beschränkten Erkenntnishorizonts verdeutlicht. Jegliche metaphysische Spekulation, die mit wohlgemeinter Absicht versucht, »das, was die moralische Welt fordert, mit dem, was die wirkliche leistet, in Übereinstimmung zu bringen«, scheitert an den aus der Erfahrungswelt gewonnenen Beobachtungen (804). Statt die physischen und moralischen Übel zu rechtfertigen und sich weiter in Widersprüche zu verstricken, erhebt Schiller die inhärente Unbegreiflichkeit der Natur zum Kriterium der Beurteilung derselben. Insofern übt die für den Verstand unfassbare, chaotisch wirkende Natur einen unwiderstehlichen Reiz auf das Gemüt aus.282 Den Grund zu dieser Faszination legt Schiller nicht in den Gegenständen selbst, sondern in der Apperzeption der negativen Darstellung des Übersinnlichen fest. Gleich wie in der kantischen »Analytik des Erhabenen« figuriert die wilde »Ungebundenheit der Natur« als vorzügliches Sinnbild, in der die reine Vernunft ihre »eigene Unabhängigkeit« dargestellt findet (803). Im Gegensatz zu Kant scheut sich Schiller nicht vor der wirkungsästhetischen Affizierung gewaltsamer Leidenschaften; die chaotische, furchtbare Natur soll ungeschmälert vor Augen geführt werden. Ziel ist es, die eigene Gesinnung in stoischer Manier gegen die unvorhergesehenen Schicksalsschläge zu stählen. Sollte kein weiterer Widerstand gegen die Übermacht der Natur möglich sein, so wird wir ihr zuvorgekommen, indem wir durch eine »freie Aufhebung alles sinnlichen Interesse« uns würdevoll »moralisch […] entleiben« (805). Um diese Geistesdisposition zu erlangen, ist die vorsätzliche Offenlegung und nicht die Verschleierung der uns umgebenden physischen und moralischen Übel notwendig. Schiller fügt sich dem dichtungstheoretischen Einwand, dass das ästhetische Wohlgefallen an den zerstörerischen Naturgewalten und am tragischen Leid anderer eine gewisse 282 

Bezeichnenderweise bezieht sich Schiller in seiner Aufführung bedrohlicher Naturkräfte auf typisierte Bilder: »Wer bestaunt nicht lieber den wunderbaren Kampf zwischen Fruchtbarkeit und Zerstörung in Siziliens Fluren, weidet sein Auge nicht lieber an Schottlands wilden Katarakten und Nebelgebirgen, Ossians großer Natur, als daß er in dem schnurgerechten Holland den sauren Sieg der Geduld über das trotzigste der Elemente bewundert?« (802).

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physische und psychische Distanz voraussetze. Sofern in den dargestellten Schreckensszenarien niemand wirklich zu Schaden kommt, verfügt das wahrnehmende Subjekt über den notwendigen Reflexionsraum seine geistige Unabhängigkeit von den physischen Mächten anzueignen: »Das Pathetische, kann man daher sagen, ist eine Inokulation des unvermeidlichen Schicksals, wodurch es seiner Bösartigkeit beraubt und der Angriff desselben auf die starke Seite des Menschen hingeleitet wird« (805 f.). Demnach nimmt das künstliche Unglück, das Pathetische, einen höheren Stellenwert ein als die »Begegnung mit der überlegenen und zerstörerischen Natur« (Berghahn, »Pathetischerhabene« 38). Erst die künstlerische Vergegenwärtigung des menschlichen Leids verschafft die von Schiller beabsichtigte erhabene Gesinnung. Das Spektakel »der alles zerstörenden und wieder erschaffenden und wieder zerstörenden Veränderung« erhält in der tragischen Kunst seinen funktionellen Nutzen (SW 5: 806). Dabei geht es Schiller, wie Helmut Koopmann festgestellt hat, »nicht um die Darstellung des künstlichen Unglücks auf dem Theater, sondern um […] die Befreiungsmöglichkeiten des Menschen aus der Welt des Sinnlichen« (582). Mit Schillers ästhetischer Erziehung wird eine Vorgehensweise vorgezeichnet, wie der Mensch im Falle einer wirklich eintreffenden Katastrophe sich mit derselben Selbständigkeit und Willensenergie seine innere Freiheit behaupten kann, wie er sie in der »ästhetischen Einstellung« eingeübt hat (Barone 146). Hingegen kann die ästhetische Bewältigung als bloße symbolische Ersatzhandlung aufgefasst werden, die keine wirkliche Veränderung auf die bestehenden Lebensumstände bewirkt. Rolf Peter Janz hat darauf hingewiesen, dass Schillers Theorie eine Erhabenheit vorsieht, »die sich nur gegen das Leiden selbst, nicht gegen dessen Ursachen verhält« (156). Tatsächlich bekundet Schiller in der vorangegangenen Schrift Vom Erhabenen (1793), dass die durch das Praktischerhabene bewusst gewordene »idealische […] Sicherheit« nicht auf »Überwindung oder Aufhebung« der drohenden Gefahr gründet (SW 5: 502). Ersichtlich wird die verbleibende Unverfügbarkeit über die rohen und ungebundenen Naturmächte. Ihre in der Menschheitsgeschichte verursachten Verheerungen konstituieren semantische Leerstellen. Dem moralischen Subjekt bieten die auftretenden Katastrophen Möglichkeiten, seine Erhabenheit zu erproben, aber ansonsten verweisen sie auf keinen übergeordneten, metaphysischen Sinnzusammenhang. Genau wie bei Kant dürfen die Naturrevolutionen nicht mit der erzürnten Gottesmacht in Verbindung gebracht werden. Schiller attes­tiert, die Gottheit könne bloß durch die »Einstimmigkeit mit dem reinen Vernunftgesetze in uns« und nicht durch »Autorität, nicht durch Belohnung oder Strafe, nicht durch Hinsicht auf ihre Macht« Einfluss auf unsere Willensbestimmungen nehmen (500). Der aufgeklärte Mensch erkennt im höchsten Wesen keine Schreckensmacht, wie es Edmund Burke und Carl Grosse noch taten, sondern den deistischen Gott der Vernunft (vgl. Barone 151). Die bedrohlichen Naturgegenstände – Schiller rekurriert auf die typischen Topoi des brennenden Vulkans, des Meeressturms und der

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Wasserfluten – geben unter der Bezeichnung des Kontemplativerhabenen »nichts her als einen Gegenstand als Macht« (SW 5: 504). Es bleibt der Einbildungskraft überlassen, aus ihnen etwas Schreckenerregendes zu gestalten. Bezeichnenderweise besteht zwischen dem Vermögen, die Naturgefahren lebhaft vorzustellen, und dem notwendigen Maß an moralischer Kraft, ihnen mit Furchtlosigkeit zu begegnen, eine Disparität. Einer ungebundenen Phantasie erscheint alles, was außergewöhnlich erscheint, schreckenerregend und sie zeugt daher von einem kindlichen bzw. rückständigen Entwicklungsstand. Ganz im Sinne eines aufgeklärten Naturverständnisses verwirft Schiller die abergläubische Achtung vor dem Wunderbaren. Im Zustand der Kultur werden die Naturgefahren von ihrem übersinnlichen Wirkungsursachen entbunden und die Furcht vor dem Außerordentlichen verschwindet, »aber nicht so ganz, daß in der ästhetischen Betrachtung der Natur, wo sich der Mensch dem Spiel der Phantasie freiwillig hingibt, nicht eine Spur davon übrigbleiben sollte« (506). Als wirkungsästhetisches Beiwerk verbannt darf der wundersame Naturschrecken in den Dichtkünsten noch sein Dasein fristen. Dem zeitgenössischen Kulturstand entspricht die Vorstellung einer von numinosen Mächten erfüllten Natur jedoch nicht mehr. Das sich behauptende Subjekt zollt keiner außerordentlichen dynamischen Gewalt außer sich, sondern der in sich selbst befindenden moralischen Macht seine Ehrbietung. Freilich besitzen die von den Naturrevolutionen herrührenden Gefahren einen realen Grund, doch diese beeinträchtigen lediglich die stoffliche Existenz des Menschen. Als moralisches Wesen bleibt er in seiner Würde erhaben. Mit dem Kollaps der populärphilosophischen Doktrin der besten Welt im ausgehenden 18. Jahrhundert sieht man sich dazu berufen, das in der Außenwelt verloren gegangene ideelle Ganze in sich, durch den emanzipatorischen Akt der Selbsterhebung, zur Verwirklichung zu bringen.

R esümee R esümee

 M

it dem Siegeszug der Naturwissenschaften und der damit einhergehenden Säkularisierung des Weltbilds kommt es während des 18. Jahrhunderts zu einer Pluralisierung der Erklärungs- und Deutungsmodelle von Naturkatastrophen. Die bewusstseinsgeschichtliche Entwicklung einer neuzeitlichen Bewältigung von Naturgefahren lässt sich verkürzt wie folgt umreißen: Zerstörerische Naturgewalten erweisen sich als natürliche Phänomene und können auf empirische Gesetzmäßigkeiten hin erforscht und verständlich gemacht werden. Ihre traditionell-religiöse Auslegung als wundersame Zeichen einer erzürnten Gottesmacht verliert in den Gelehrtenkreisen zunehmend an Boden. Sobald die aufgeklärte Naturlehre zur ungebildeten Bevölkerungsschicht durchdringt, wird der Schrecken des Numinosen auch dort ausgetrieben. Anhand der geleisteten Entzauberung der außerordentlichen Naturereignisse eröffnet sich die Möglichkeit, verbesserte Maßnahmen zum Schutz vor zukünftigen Verheerungen zu konzipieren und zu implementieren. Die subjektive Selbstbehauptung gegen die entfesselten Naturmächte hat sich in den Werken der deutschsprachigen Aufklärung jedoch nicht auf homogene Art und Weise herausgebildet. Sie stellen trotz der rational-immanenten Naturaneignung, die von den Cartesianern bereits am Ende des 17. Jahrhunderts propagiert wurde, eine beständige epistemologische und moralische Herausforderung dar und wirken insoweit destabilisierend auf das bestehende soziale und geistige Ordnungsgefüge. Freilich setzt sich eine objektive Naturbetrachtung, die sich metaphysischer und religiöser Spekulationen entledigt hat, im naturwissenschaftlichen Diskurs durch. Sir William Hamilton und Déodat Gratet de Dolomieu folgten dem Vorsatz, die verheerenden Auswirkungen der seismischen Umwälzungen, die Sizilien und Kalabrien im Frühjahr 1783 heimsuchten, wahrheitsgemäß und sachlich zu dokumentieren. Auf ihrer Reise durch die Krisenregion haben Friedrich Münter und Johann Heinrich Bartels die Riten und Beschwörungen der Süditaliener gegen die drohenden Naturgefahren als Gebärden eines rückständigen und abergläubischen Volkes beanstandet. Das außergewöhnliche Naturereignis wird als kurioses Studienobjekt rezipiert, das keine zu dechiffrierende Zeichenhaftigkeit in sich birgt. Insofern sperrt sich die reduktionistische Sichtweise des naturwissenschaftlichen Diskurses gegen das Verlangen, den Naturkatastrophen einen höheren Sinn aufzupfropfen. Gleichwohl kommt es gerade in Bartels’ Reisebericht zu einer gelegentlichen Vermischung diskursiver Stränge. Das Vertrauen in eine von Gott festgelegte, zweckmäßige Naturordnung bleibt unterschwellig bestehen und insoweit knüpft der Appell zur gesellschaftlichen Erneuerung Kalabriens an den philosophischen Optimismus an.

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Resümee

Allerdings hat sich der argumentative Schwerpunkt von der Rechtfertigung des göttlichen Plans auf die pragmatische Kritik der sozial-politischen Missstände verlagert, die den Tatendrang der Kalabresen zum Wiederaufbau ins Stocken gebracht haben. Von Seiten der Philosophie hat Immanuel Kants kritische Transzendentalphilosophie zusätzlich die Auflösung des aufklärungsoptimistischen Leitprinzips eines vollkommenen Naturganzen befördert. Damit ist im ausgehenden 18. Jahrhundert ein grundlegendes Metaphysikkonstrukt, anhand dessen sich die auftretenden Naturübel sinnfällig relativieren ließen, abhanden gekommen. Unter diesem Gesichtspunkt haben sich die dynamischen Naturmächte zu einer blind wirkenden Kraft gewandelt, die die Bedürfnisse des Menschen unberücksichtigt lassen. Das symbolische Feld einer ökonomisch operierenden Natur, das sich auf die naturphilosophische Tradition der Stoa gründet, hat das von den nachkopernikanischen Kosmologien herbeigeführte Unbehagen aufgefangen. Die im gesamten Kosmos auftretenden Verheerungen konnten im Bezug auf das entgrenzte Weltganze relativiert werden. Erdbeben, Überschwemmungen und Vulkanausbrüche unterstehen einer von Gott installierten Zweckmäßigkeit. Mit dem fleißigen Naturstudium erhellt sich der in der Natur widergespiegelte weise und gütige Gottesplan. Gleichermaßen haftet den schreckenerregenden Naturphänomenen der Zeichencharakter der providentia Dei an. Gemäß diesem traditionellen Deutungsmuster zeugen die im kopernikanischen Weltsystem auftretenden kataklysmischen Veränderungen, der Untergang von Städten, Ländern, wenn nicht gar ganzer Planeten, vom punktuellen Einfluss der unermesslichen Gottesmacht. Der Verlust von Leben im Mikro- und Makrokosmos wird durch die übermäßige Fekundität der Natur wieder aufgehoben und das damit verbundene Leid fällt in Anbetracht des unendlich mannigfaltigen Weltganzen nicht ins Gewicht. In den physikotheologischen Studien der deutschen Frühaufklärung bleibt der moraltheologische Verweis auf die möglichen Strafgerichte Gottes bestehen; der providenziellen Wirkung im Weltgeschehen wird nicht widersprochen. Die Verschränkung der Naturwissenschaften und des populärphilosophischen Optimismus mit der Religion zeigte sich mit aller Deutlichkeit in den deutschsprachigen Reaktionen auf das Erdbeben von Lissabon 1755. Wie ich dargestellt habe, ist gerade an diesem Punkt, der in der gegenwärtigen Forschungsliteratur als bewusstseinsgeschichtliche Zäsur des 18. Jahrhunderts stilisiert wird, keine Krise des leibnizschen Optimismusgedanken eingetreten. Das metaphysische Leitprinzip eines zweckmäßigen Naturganzen hat sich bewährt. Für die aufgeschreckten Zeitzeugen von Lissabons Untergang fungierte dieses als ein sinnstiftender Orien­ tierungspunkt. Auffallend an den zeitgenössischen Darstellungen des Lissabonner Erdbebens sind die typisierten Schreckensbilder, die auf die moralische Ertüchtigung der Leserschaft abzielen. Die Dichter und Berichterstatter sind mit der Schwierigkeit konfrontiert, die unfassbare Verwüstung und Misere der Katastro-

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phe in angemessene Worte zu fassen. Insofern überrascht es nicht, dass sie auf tradierte Tableaus und Stilmittel rekurrieren, die bereits in den Erdbebenschriften und Unglückschroniken des 16. und 17. Jahrhunderts verwendet wurden. Selbst in Münters und Bartels’ säkularisierten Berichterstattungen kommt es zur charakteristischen Häufung von Einzeldarstellungen des grausamen Schicksals der Erdbebenopfer und der wundersamen Errettung aus den Trümmern. Die Sensationsund Schreckenslust wird mit Absicht geschürt; ein Darstellungsmodus, der der Absicht einer objektiven und distanzierten Betrachtung gewaltsamer Naturkräfte entgegen gesetzt ist. Gerade in den wirkungsästhetischen Dichtungen, die die Einbildungskraft des Rezipienten pathetisch zu vereinnahmen bezwecken, bleibt das Wundersame in der Natur erhalten. Ersichtlich wird, dass die plötzlich hereinbrechenden Kalamitäten nicht allein mit den Mitteln der Ratio zu bewältigen sind. Die Fliehkraft der von ihnen bewirkten Leidenschaften widersetzt sich dem Herrschaftsbereich der Vernunft und muss anderweitig in zweckmäßige Bahnen gelenkt werden. Inwiefern die Naturübel im harmonischen Naturganzen zweckmäßig eingebettet sind, ist aufgrund der mangelnden Erkenntnisfähigkeit des Menschen nicht vollumfänglich nachvollziehbar. Im Moment der heftigen Affekterregung erfolgt eine Annäherung an das sinnlich Unfassbare, die das diskursive Denken schlagartig umgeht. Diese dem Erhabenen anhaftende Empfindung entzündet sich während der Frühaufklärung in der ästhetischen Perzeption der sinnlich unermesslichen Naturgrößen und -gewalten, die zum Aussetzen der Verstandeskräfte führt. In der Reverenz vor Gott bzw. dem metaphysischen Vollkommenheitsganzen findet das ergriffene Subjekt seine Daseinsbestimmung wieder. Freilich können die in der Natur vorkommenden Ausnahmeerscheinungen als natürliche Phänomene rezipiert werden, doch so eine rational-immanente Naturaneignung ohne den ideellen Bezug auf die göttliche Allmacht verhilft den Seelenkräften nicht dazu, den für das Erhabene charakteristischen Sprung ins Übersinnliche zu vollziehen. Mit der am Ende des 17. Jahrhunderts einsetzenden Popularisierung von Longins Peri hypsous gewannen die poetischen Schilderungen wundersamer und bedrohlicher Naturereignisse an Akzeptanz. Longin verschaffte den Philologen wie John Dennis, Johann Jacob Bodmer und Michael Conrad Curtius, die mit ihren Poetiken die leidenschaftliche Affizierung einer breiten Leserschaft propagierten, einen Anknüpfungspunkt an die Rhetorik- und Dichtungstradition der Alten. Die sich abzeichnende Hervorkehrung der wirkungsästhetischen Komponente in ihren Poetiken war größtenteils religiös bestimmt. Allerdings musste das im longinischen Erhabenen mitschwingende Element der Gewalt, die freiheitsberaubende Macht des Pathos, in einem Umfeld, wo die Ratio bestimmend war, auf Widerstand stoßen. Es hat sich gezeigt, dass gerade im französischen Klassizismus die Erregung starker Leidenschaften nur schwer mit dem Ideal der stoischen Selbstbeherrschung

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zu vereinbaren war. Diesbezüglich hat sich die Domestizierung der inneren und äußeren Natur als herrschendes Prinzip geltend gemacht. Bei den Aufklärern Johann Christoph Gottsched und Joseph Addison finden entfesselte Naturkräfte nur im begrenzten Rahmen Einlass in ihre poetologischen Ausführungen. Ausschlaggebend ist für Addison die Kultivierung eines gefühlsmäßig temperierten Menschen, der selbst in den scheinbar unkultivierten Naturszenarien eine Schönheit zu erblicken vermag. Statt der bewegenden und veränderlichen ist es die weite und kosmische Natur, die den Betrachter mit einem angenehmen Erstaunen beglückt. Gottsched hingegen scheut sich in seiner Critischen Dichtkunst vor der pathetischen Darstellungsweise bedrohlicher Naturphänomene, insofern jene die Furcht des Lesers unnötig schürt. Im Gegensatz zu John Dennis soll die Natur nicht mit den unaufgeklärten Ideen dämonischer Kräfte in Verbindung gebracht werden. Moses Mendelssohns philosophisch-poetologischen Betrachtungen über das Erhabene können als Versuch verstanden werden, das empirisch-psychologische Erhabenheitstheorem von Edmund Burke in Einklang mit der leibniz-wolffschen Schultradition zu bringen, wobei die Empfindung der Bewunderung vor derjenigen des Schreckens tonangebend geblieben ist. Trotz der vordergründigen Unterschiede ist festzuhalten, dass sich das Naturbild der vorhin erwähnten Philologen auf das symbolische Feld der ökonomischen Natur stützt. Sobald dieser Orientierungspunkt zu bröckeln anfing, sah sich das Subjekt dazu genötigt, ausschließlich in sich selbst das Beständige und das Richtmaß der Erhabenheitserfahrung festzulegen. Johann Georg Schlosser verdeutlichte in seinem Anti-Pope die Problematik der tyrannischen Totalität des Ganzen. Für den beschränkten Menschenverstand bleibt es ein rein spekulatives Metaphysikkonstrukt, das angesichts der individuell empfundenen Leidensempfindung kaum Trost zu spenden vermag. Schlossers Erhabenheitsbegriff, seine Unterstreichung der energetischen Seelentätigkeit, die sich den Widerständen heroisch widersetzt, kommt ohne Bezug auf das Vollkommenheitsganze aus. Das Göttliche ist in der Seele des Menschen verankert. Ansätze von Schlossers Erhabenheitsbegriff sind in Carl Grosses eklektischen Beitrag eingeflossen. Die gewaltsamen Naturphänomene werden dort als ästhetische Objekte behandelt, wobei die ethischen Vorbehalte, sich am Leid anderer zu vergnügen, aus dem Blickfeld fallen. Mit Immanuel Kants kritischer Transzendentalphilosophie ist das Vertrauen in ein für den Menschen vorteilhaftes Natursystem vollends entfallen. Im Widerstreit mit der bedingten Sinnesnatur entdeckt das Subjekt seine Souveränität als Moralwesen, ohne dabei den Anspruch zu erheben, über die äußere Natur zu herrschen. Statt des Pathos ist die Vernunft bestimmend in Kants »Analytik des Erhabenen« und insofern bricht der Königsberger Philosoph mit der longinischen Tradition. Das Erhabene besitzt keine angemessene Darstellung, weder in den nachahmenden Künsten noch in der sinnlich wahrnehmbaren Natur. Friedrich Schiller allerdings

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nimmt das Pathetische in seine luziden Ausführungen über das Erhabene wieder auf. Auf unmissverständliche Weise vergegenwärtigt die Schaden bringende Natur die Ohnmacht und Beschränktheit des Menschen in seiner physischen Wesenheit. Die rührende bzw. tragische Kunst bietet dem Subjekt die Gelegenheit, sich mit den künftigen Übeln vorbereitend auseinanderzusetzen. Das freie Vergnügen an den zur Schau gestellten Unglücksszenarien verweist auf die moralische Kraft in uns allen, die sich im Zweikampf gegen das Chaotische (d. h. die Empfindungen, Triebe, Affekte und Leidenschaften) der innersubjektiven Natur behauptet. Für die vernünftige Natur erweist sich das empfundene Leid im dialektischen Sinne als zweckmäßig, indem es zur Tätigkeit und Verbesserung der gesellschaftlichen Umstände auffordert. Im ausgehenden 18. Jahrhundert verschiebt sich der Schwerpunkt in den Debatten über Gottes Zulassung des physischen Übels und die Ursachenerforschung bedrohlicher Naturgewalten von epistemologischen hin zu ethischen Fragestellungen. Der Kernkonflikt liegt nicht in der Überzeugung, dass man trotz des begrenzten Erkenntnishorizonts dazu befähigt sei, die Naturverheerungen anhand des Axioms eines vollkommenen Naturganzen zu rechtfertigen. Stattdessen findet er sich in der Verantwortung des Menschen, sich angesichts des allgegenwärtigen Leids zu erheben und die Gelegenheit wahrzunehmen, als moralisches Wesen rechtschaffen zu agieren. Nicht Selbstkasteiung oder Schuldzuweisungen, sondern aufrichtiges Mitempfinden und schlagkräftiges Handeln sind gefordert. Mit dem Wegfallen bewährter metaphysisch-theologischer Orientierungspunkte geraten Naturkatastrophen zu verhängnisvollen Schicksalsschlägen. Die kausalmechanischen Abläufe ihrer Verwüstungen mögen durch den naturwissenschaftlichen Diskurs an Transparenz gewonnen haben, aber dieser Rationalisierungsmodus verschließt sich gegenüber der Frage nach dem eigentlichen Sinn katastrophischer Zwischenfälle: ein Dilemma, das Heinrich von Kleist beispielhaft in seiner zutiefst verstörenden Erdbebennovelle ans Licht führte. Mittlerweile hat selbst die von Kant und Schiller veranschlagte Zuflucht in die Ebene transzendenter Ideen sich als trügerisch erwiesen. In der bewusstseinsgeschichtlichen Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts ist das Vertrauen in die Unverfänglichkeit der Moralgesetze und der menschlichen Vernunft durch anthropogene Desaster von ungeahnter Destruktivität – Weltkriege, Genozide und Umweltkatastrophen – maßgeblich erschüttert worden. Hingegen haben die vergangenen Epochen auch aufgezeigt, dass in der medialen Aufarbeitung von katastrophischen Ereignissen instinktiv auf Deutungs- und Bewältigungsmuster zurückgegriffen wird, die sich über Generationen halten konnten. In einer sich ständig verändernden Welt verbleiben sie dem von Katastrophen heimgesuchten Menschen eine kulturgeschichtliche Konstante, die ihm den Weg zurück zum geordneten Alltag ermöglichen.

Siglenverzeichnis

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Entworfen von Einer unpartheyischen Feder. Zweytes Stück. Frankfurt am Main, Möllerische Buchhandlung, 1755. Das erschütterte Sicilien, oder ordentlicher Bericht des grausamen Erdbebens, welches sich den 9. 10. und 11. Januar. dieses 1693. Jahrs, in den gantzen Königreich, mit Verherung vieler Städte und Gebäude verspühren und entsetzlich mercken lassen, wodurch viel 1000. Menschen aufgerieben worden. 1693. Das wolfeilste Panorama des Universums zur erheiterten Belehrung für Jedermann und alle Länder. 3. Jg. Prag: Gottlieb Haase Söhne, 1836. Ein erschröckenliche Newe Zeytung/ so geschehen ist den 12. tag Junij/ in dem 1542. Jar/ in einem Stetlein Schgarbaria genent/ 16. Welsch meyl wegs von Florentz gelegen. Da haben sich grausamer Erdbidem siben in einer stundt erhaben. Wie es da zu sit gangen/ wirdt man hryin begriffen finden. 1542. Eyn ware/ Erschröckliche/ vnd Erbermliche Neue zeytung/ Von den sieben Stetten/ so Gott der Allmechtig durch eyn vnerhörten/ Grausamen Erdbidem/ alles in grundt vrerderbt/ Vnd vil vmb ligende Stett zerstört/ Also wüst vnd ödt gemacht/ Das die menschen sich förchten da zu wonen/ sampt andern erschröcklichen wunderzeichen/ Darob sich yglichs Christliches hertz mag entsetzen/ in Ittalia nahet bey Villafranca/ vnd Piamont. im 1564. Jar/ Den 20. Julij. geschehen/ wie hie vnden volgt/ Soliches aus dem Welsch in das Teutsch gepracht/ vns allen zu einer warnung/ vnd bußbredigt für gestelt. Nürnberg: Hanns Adam, 1564. A farther Account of Memorable Earthquakes, to the present Year 1756. Wherein is inserted a short and faithful Relation of the late dreadful Calamity at Lisbon. Cambridge: Bentham, 1756. Historische und geographische Beschreibung von Messina und Calabrien, und meteorologische Beobachtungen über das Erdbeben, welches diese Stadt und Landschaft den 5. Hornung 1783. verwüstet hat. Nebst interessanten und merkwürdigen Noten, welchen zwey Briefe angehängt sind, der eine von Herrn du Fay von Messina aus, der andere von Herrn Abbe Soulavie in Paris, welche eine zuverläßige Nachricht von dieser schreckvollen Begebenheit, und wichtige Beyträge zu der Geschichte der Erdbeben in diesen Ländern, mit der Geschichte der Ausbrüche des Vesuvs verglichen, enthalten. Straßburg: Albrecht Friedrich Bartholomäi, 1783. Kurzverfaste Beschreibung der vortreflichen, mächtigen und reichen Haupt= und Residenz=Stadt Lissabon im Königreiche Portugall. Nebst einer ausführlichen Nachricht, wie solche den ersten November 1755. durch ein erschreckliches Erdbeben verderbet worden. Mit zweyen Kupfern, welche vorstellen, wie Stadt in ihrem Flor gestaltet war, und wie Sie gegenwärtig in den Ruinen liegt. Frankfurt und Leipzig, 1756. La vraie et fidèle relation du tremblement de terre en Lisbonne capital de Portugal, ce 1. de Novembre M.D.CC.LV. Anvers: Hubert Bincken, 1756. Lettre d’un négociant de Lisbonne à son correspondant de Paris, contenant une Relation fidelle du tremblement de terre arrivé à Lisbonne le 1 Novembre 1755, 1755. Neu=eingeflossene Bewegliche und umständliche Beschreibung des entsetzlichen Erdbebens,

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welches den 1. Wintermonat 1755. die trefliche portugiesische Haupt=Stadt Lissabon, samt umliegenden Gegenden, zerstöret und fast gänzlich zernichtet hat. Nebst drey zuverläßigen Brief, welche Tit. Herr Rathsheer Rüffier, vornehmer Handelsmann in Straßburg, von daher erhalten. Zur Erweckung einer wahren Furcht GOttes und christlichen Mitleidens mitgetheilet. 1756. Neue Genealogisch=Historische Nachrichten von vornehmsten Begebenheiten, welche sich an den Europäischen Bösen zutragen, worinn zugleich vieler Standes=Personen Lebens=Beschreibungen vorkommen. Der 73 Theil. Leipzig: Johann Samuel Heinsii, 1756. Newe Zeittung/ Bericht/ so geschehen von dem fürnemen Obersten Hauptman des Venedischen Kriegs Zeuge auff dem Meer/ an den Durchleuchtigen Hertzogen von Venedig/ antreffende die grausam vnd vngestüm Zerstörung der Stat Cataro/ welche durch einen Erdbidem den 6. tag Brackmonats des 1564. Jars zerstört/ sampt andern erschröcklichen Zeichen/ so erschienen sind. Augsburg, 1564. Physikalische Betrachtungen von den Erdbeben und den daraus erfolgten auserordentlichen Bewegungen der Gewässer wie auch von den anderen Natur=Begebenheiten, welche am 1ten Nov. 1755. den grösten Theil von Europa und andere Welt=Theile betroffen, besonders aber die Königl. Portugisische Haupt=Stadt Lisabon bis aus den Grund zerstöret haben. Frankfurt und Leipzig: Heinrich Ludwig Brönner, 1756. »Sammlung authentischer Briefe, welche während und kurz nach dem Erdbeben zu Lissabon in dieser unglücklichen Stadt und in der Nähe derselben geschrieben worden.« Hannoverisches Magazin 17. Jg. (1779): 1009–1038, 1073–1120, 1201–1246. The Spectator. A New Edition with Biographical Notices of the Contributors. Complete in one Volume, with Portraits. London: Washbourne, 1847 Vorstellung und Beschreibung des ganz erschröcklichen Erdbebens, wodurch die königl. portugiesische Residenz=Stadt Lissabon samt dem grösten Theil der Einwohnern zu grunde gegangen. Augsburg: Georg Caspar Pfauntz, 1755. Waare Zeytung von dem grossen vnnd grusamen Erdbidem/ so zuo Ferrär in Italia beschähen: Ouch dem schädlichen schwalb vnd vßbruch deß Rhoddens/ inn vnd vmb die Statt Leon in Franckrych. Mit angehenckter beschrybing deß schräcklichen Gewässers/ vnnd jemerlichen vndergangs viler Stetten/ Fläcken vnd Dörfferen/ im Niderland/ Seeland/ Holland/ vnd Frießland: sampt wahrhafftem bericht/ was grossen schadens/ jamers/ angst/ vnd nodt/ an Lüt/ Vych vnd gebüwen sich hiemit zuo getragen habe. Alles diß M.D.LXX. Jars verlouffen. 1570. Zweytes Gespräche eines Portugiesen und eines Deutschen über den kläglichen Zustand der Stadt Lissabon: worinnen eine Beschreibung dieser Stadt und des ganzen Königreichs mitgetheilet, von den Wirkungen und Ursachen des Erdbebens die neueste Nachricht gegeben und geurtheilt, und über den verursachten kläglichen Schaden und Ruin nützliche und lehrreiche Betrachtungen angestellet werden. Frankfurt am Main: Dan. Christ. Hechtel, 1755.

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Abbildungen 393

Abb. 1 (S. 67): Beschreibung deß erschrecklichen Erdbebens/ so den 6. April deß 1667. Jahrs / in und ausser der Stadt Ragusa in Dalmatia entstanden (1667).

394 Abbildungen

Abb. 2 (S. 68): Erschröcklicher Untergang vnd Verbrennung der Statt Ragusa (1677).



Abbildungen 395

Abb. 3 (S. 73): Das erschütterte Sicillien (1693).

396 Abbildungen

Abb. 4 (S. 174): Lisbone Abysmée (um 1760).



Abbildungen 397

Abb. 5 (S. 177): Grund-Riß der ehmahligen Stadt Lissabon (1756).

Abb. 6 (S. 177): Fürstellung des Erdbebens zu Lissabon (1756).

398 Abbildungen

Abb. 7 (S. 178): Tobias Conrad Lotter, Lisabon die prächtige Königl. Residenz=Statt in Portugall und florisanteste Handels Plaz am Ausfluß des Tagi (nach 1755).



Abbildungen 399

Abb. 8 (S. 178): Johann Michael Probst, Prospect der Königl. Portugiesischen Residentz zu Lissabon Seewerts (1756).

400 Abbildungen

Abb. 9 (S. 179): David Herrliberger, Perspectivische und Exacte Abbildung der Mächtig = und Prächtigen Stadt Lisabon (1756).



Abbildungen 401

Abb. 10 (S. 179): Prospect von Lisabon auf der Seite des Tagi (1756).

Abb. 11 (S. 180): Pieter van der Aa, Vuë de LISBONNE du côte du Tage (1741).

402 Abbildungen

Abb. 12 (S. 183): Friederich Schoenemann, Lissabon (1756).



Abbildungen 403

404 Abbildungen

Abb. 13 (S. 183): Gottfried Beck, Prospect der Stadt Lisabona (1756).



Abbildungen 405

Abb. 14 (S. 185): Gottfried Beck, Lisabona / Fetz (1766).

Abb. 15 (S. 186): Johann David Nesenthaler, Mequenetz / Lisabon (1756).

406 Abbildungen

Abb. 16 (S. 188): Jacques Philippe Le Bas, Igreja de S. Paulo (1757).

Abb. 17 (S. 191): Jacques Philippe Le Bas, Basilica de Santa Maria (1757).



Abbildungen 407

Abb. 18 (S. 192): Die Ruinen der Kathedralkirche zu Lissabon während des Erdbebens 1755 (1836).

Abb. 19 (S. 192): Ruins of Lisbon Cathedral, after a drawing of 1755 (1890).

Bildnachweis Abb. 1: Beschreibung deß erschrecklichen Erdbebens / so den 6. April deß 1667. Jahrs/ in und ausser der Stadt Ragusa in Dalmatia entstanden (1667), Bibliothèque nationale de France; New Kozák Collection in Prague: KZ 46. Abb. 2: Erschröcklicher Untergang vnd Verbrennung der Statt Ragusa (1677), Universitätsbiblio­ thek Augsburg, 02/IV.13.2.26-10; Tafel nach 740. Abb. 3: Das erschütterte Sicillien (1693), Staats­ bibliothek zu Berlin, PK, Handschriftenabtei­ lung;  Einbl. YA 11990 m. Abb. 4: Lisbone Abysmée (um 1760), Bibliothèque nationale de France, VB-156-FOL. Abb. 5: Grund-Riß der ehmahligen Stadt Lissabon (1756), Niedersächsische Staats- und Universi­ tätsbibliothek Göttingen, DD99 A 277; Tab. II. Abb. 6: Fürstellung des Erdbebens zu Lissabon (1756), Niedersächsische Staats- und Universi­ tätsbibliothek Göttingen, DD99 A 277; Tab. III. Abb. 7: Tobias Conrad Lotter, Lisabon die prächtige Königl. Residenz=Statt in Portugall und florisanteste Handels Plaz am Ausfluß des Tagi (nach 1755), Deutsches Historisches Museum, Inv.-Nr.: GR53/1729. Abb. 8: Johann Michael Probst, Prospect der Königl. Portugiesischen Residentz zu Lissabon ­Seewerts (1756), Universitätsbibliothek Basel, Sign. Ew 401 Folio. Abb. 9: David Herrliberger, Perspectivische und Exacte Abbildung der Mächtig = und Prächtigen Stadt Lisabon (1756), Universitätsbibliothek ­Basel, Sign. Hp VI 14:3.

Abb. 10: Prospect von Lisabon auf der Seite des Tagi (1756), Bayerische Staatsbibliothek Mün­ chen, Res/4 Diss. 564#Beibd.7; fol. 33. Abb. 11: Pieter van der Aa, Vuë de LISBONNE du côte du Tage (1741), Universitätsbibliothek Bern, Zentralbibliothek, ZB Römisch IV 104:3; Tafel nach 242. Abb. 12: Friederich Schoenemann, Lissabon (1756), Harvard Map Collection: 011298154. Abb. 13: Gottfried Beck, Prospect der Stadt Lisabona (1756), Universitätsbibliothek Basel, Sign. Ew 401 Folio. Abb. 14: Gottfried Beck, Lisabona / Fetz (1766), Universitätsbibliothek Basel, Sign. Ew 401 Folio. Abb. 15: Johann David Nesenthaler, Mequenetz / Lisabon (1756), Universitätsbibliothek Basel, Sign. Ew 401 Folio. Abb. 16: Jacques Philippe Le Bas, Igreja de S. Paulo (1757), New Kozák Collection in Prague: KZ 87. Abb. 17: Jacques Philippe Le Bas, Basilica de Santa Maria (1757), New Kozák Collection in Prague: KZ 88. Abb. 18: Die Ruinen der Kathedralkirche zu ­Lissabon während des Erdbebens 1755 (1836), New Kozák Collection in Prague: KZ 79. Abb. 19: Ruins of Lisbon Cathedral, after a drawing of 1755 (1890), UC Berkley Library, Earth Science/Map Collection (NRLF): QE534.B58.

Personenregister (Auswahl)

Addison, Joseph 280 – 287, 292, 298, 300, 331, 362 Adrašević, Vitale 67 Aldridge, Alfred Owen 169 Alewyn, Richard 279 Alexander der Große 256 Aquin, Thomas von 28, 43, 48 Aristoteles 28, 41, 43, 45 – 49, 52, 58, 65, 235, 240, 248 f., 264, 267, 272, 275, 291, 299 Arndt, Johann 22 – 24, 101 Attila 173 Augustinus von Hippo 220 Bacon, Francis 227 Baillie, John 285, 331 f. Bamberger, Fritz 316, 318, 320 Bapst, Michael 47, 56 Baretti, Giuseppe 195 – 197 Barnouw, Jeffrey 281, 290 Barone, Paul 269, 296, 320 f., 335, 357 Bartels, Johann Heinrich 19, 205 – 218, 359, 361 Bartholomäi, Albrecht Friedrich 200 Baum, Constanze 175, 188 Bayle, Pierre 75 – 79, 83, 258 Beattie, James 331, 33 f, Beck, Johann Gottfried 183, 185 Begemann, Christian 14, 19, 220 – 222, 224 f., 227 f., 262 f., 266, 302, 306, 353 f. Benjamin, Walter 119, 140 Benkowitz, Carl Friedrich 199 Berghahn, Klaus 348, 354, 357 Bernhertz, Michael 46 Beroaldo d. Ä., Filippo 41 – 43, 45, 55 Bertrand, Eli 115 Bindi, Bindo 56

Blair, Hugh 331 – 333 Blasig, Uwe 151 f. Blumenberg, Hans 231, 233, 240 f., 251, 281, 337 Bodes, Johann Elert 250 Bodmer, Johann Jacob 17, 19, 151, 229, 266, 276, 280, 283 f., 287, 296 – 304, 306 f., 313, 325, 336, 361 Böhme, Gernot 227, 347 Böhme, Hartmut 112 f., 227, 335 f. Boileau-Despréaux, Nicolas 266, 271 – 273, 281, 289, 291, 296, 302 Bonnet, Charles 152 Borst, Arno 12 – 14, 44, 74 f. Boscowitz, Arnold 192 Bouhours, Dominique 280 – 282 Boulton, James T. 308 Bradick, Walter 140 f., 188 Brahe, Tycho 55, 232 Braun, Georg 73, 177 – 179, 181 f. Breidert, Wolfgang 95, 114 f., 119, 121, 126, 150 f. Breitinger, Johann Jacob 297 f., 300, 302, 306 Briese, Olaf 119, 122, 305 f., 335 f. Brockes, Barthold Heinrich 26, 105 Brody, Jules 271 f. Bruno, Giordano 231 f., 234 – 240, 244, 253, 264 Brydone, Patrick 200 Buffon, Georges-Louis Leclerc de 37 f., 93, 98 Burgauer, Johann 53 – 55 Burke, Edmund 220, 266 f., 307 – 315, 317, 319 f., 322, 324, 329, 331 f., 336, 347, 357, 362

410

Personenregister

Burnet, Thomas 85, 246 – 249, 254, 260 Caligula 84 Calzoni, Raul 197, 200, 213 Castres, Abraham 145, 148 Catilina, Lucius Sergius 125 Čermák, Vladimir 40, 182 Cicero, Marcus Tullius 28, 92, 232, 264, 299 Cromwell, Oliver 144 Cronk, Nicolas 272, 281 Croock, Georg 66 Curtius, Ernst Robert 271 Curtius, Michael Conrad 266, 280, 287, 296, 302, 304 – 307, 313, 317, 361 Eifert, Christiane 126, 130, 142 Epikur 11, 75 – 77, 79. 81, 224 f., 234, 237 Damm, Sigrid 107 f. Damm, Jakob van 66 f. Davy, Charles 139 f. Delille, Maria Manuela Gouveia 167 – 170 Delumeau, Jean 51 Demokrit 42, 234 Demosthenes 270 Dennis, John 266, 280 f., 287 – 296, 304, 307, 313, 329, 331, 347, 361 f. Denso, Johann Daniel 117 – 120, 122, 125, 127 Derham, William 86 – 89, 226, 246 Descartes, René 29, 80, 226, 229, 242 f., 252 f., 274, 277 f., 296, 318 Dinkler, Johann Simon Gottlieb 118, 120 Dio, Cassius 54, 60 – 62, 64 f. Dockhorn, Klaus 264 f., 287 Dolomieu, Déodat Gratet de 207 f., 212, 215, 359 Dubos, Jean-Baptiste 312 f., 319, 347

Farmer, Benjamin 141 Faujas de St. Fond, Barthélemy 202 f. Fay, Philippe de 202 f. Ferguson, Adam 348 – 351 Figueiredo, Antonio Pereira de 195 Franklin, Benjamin 15 Fabricius, Johann Albert 86, 90 f. Fabricius, Johannes 232 Fontenelle, Bernhard Le Bovier de 250 – 254, 256, 260, 277 f., 280, 284, 306 Frankland, Charles Henry 144 – 148 Frisch, Max 9 Funk, David 73 Gagnebin, Abraham 152 Galilei, Galileo 71, 232, 239 – 243, 248 Gallo, Andrea 202 – 204 Garve, Christian 308, 348 f., 351 Gassendi, Pierre 71 Gellius, Aulus 42 Gelus, Marjorie 169 Gessner, Hans Jakob 33 f., 52 Gessner, Johannes 152 Gessner, Salomon 17 Gilpin, William 188 f. Giraud-Soulavie, Jean-Louis 202, 204 Gisler, Monika 39, 115 Goddard, Richard 174 Goethe, Cornelia 323 Goethe, Johann Wolfgang von 110 f., 113 – 115, 164, 215, 217 f., 225 f., 264, 323, 325 Gotthelf, Jeremias 151 Gottsched, Johann Christoph 172 f., 246, 250, 253, 266, 274 – 277, 297, 306, 347, 362 Granier, Abbé de 141 Groh, Dieter 11, 14, 16, 27 f., 88, 219 f., 223 f., 230 Groh, Ruth 14, 27, 88, 219 f., 223 f., 230 Grosse, Carl Friedrich August 222, 267, 330 – 334, 354, 357, 362 Guidoboni, Emanuela 41, 59, 198, 214

Personenregister

Günther, Horst 114 f. Haller, Albrecht von 37, 115 Hamacher, Werner 165, 172 Hamilton, William Douglas 206 f., 209, 212 – 214, 359 Happel, Eberhard Werner 25 – 27 Heineken, Carl Heinrich von 297 Heinrichsdorff, Paul 103, 105 f. Hellwig, Marion 84, 325 Helmont, Johan Baptista van 35 f. Herder, Johann Gottfried 308 Hermogenes von Tarsos 291 Herrliberger, David 179 – 182 Hervey, Christopher 146, 194 – 196 Heyn, Johann 119 Hippokrates von Kos 351 Hobbes, Thomas 80, 226, 311 Hogenberg, Frans 177 – 179, 181 f. Holmes, Oliver Wendell 148 Homann, Renate 353 f. Homer 269 f., 286, 300 Hooker, Edward Niles 288, 292 Höpfner, Nicolaus 42, 67 Horaz 267, 275, 292 Horn, Peter 173 Hume, David 277 – 279 Hunter, Thomas 141 f. Jakubowski-Tiessen, Manfred 16 José I. (Joseph von Portugal) 134 f, 137 f., 160 f., 189 Kant, Immanuel 19 f., 31, 109, 112 f., 115, 119 – 126, 164, 173, 208, 217, 220 f., 224, 246, 260 f., 267, 283, 308, 316, 324, 331, 335 – 349, 353 f., 356 f., 360, 362 f. Keckermann, Bartholomäus 54 Keller, Susanne B. 175, 188, 190 Kemmerer, Arthur 124 Kempe, Michael 11 f, 14 – 16, 46

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Kendrick, Thomas 114 f., 190 Kepler, Johannes 71 Kircher, Athanasius 65 Kleist, Ewald Christian von 103 – 106 Kleist, Heinrich von 73, 116, 149, 164 – 173, 209, 363 Klopstock, Friedrich Gottlieb 347 Konstantin der Große 64, 91 Kopernikus, Nicolaus 28 f., 71, 231, 233 Košenina, Alexander 140, 149, 165 – 167 Kozák, Jan 40, 179, 182, 185, 190 Krolzik, Udo 22, 28 Krüger, Johann Gottlob 98, 130, 134 Kühnlin, J. H. 127, 137 f., 138 f., 142, 145, 180 – 182, 184, 186 Laktanz 78 Lausberg, Heinrich 63 f. Lavater, Johann Caspar 198 f., 205 Le Bas, Jacques-Philippe 176, 187 f., 190 – 194 Lebrun, Ponce-Denis Écouchard 150 Ledanff, Susanne 164, 172 Leibniz, Gottfried Wilhelm 18, 75 f., 79 – 85, 88, 109, 112, 115, 172 f., 227, 239, 246, 257 f., 264, 326 Lémery, Nicolas 38 Lenz, Christian David 101 Lenz, Jakob Michael Reinhold 18, 26, 76, 101 – 109, 325 Leroy, Julien-David 199 Lesser, Friedrich Christian 86, 91 f. Lessing, Gotthold Ephraim 76, 97, 99 – 101, 173, 308, 318 Leuchter, Heinrich 70 Lieberkühn, Gottlieb 164 Linder, Wolfgang 35 Lochner, Christoff 65, 67 f. Locke, John 285 Löffler, Ulrich 36 f., 107, 110, 115, 119, 124, 145, 159 f., 168, 190

412

Personenregister

Longin (Pseudo-Longinus) 158, 266 – 271, 283 f., 286, 291, 294 – 297, 302, 308, 323 f., 327, 330, 361 Longin, Cassius 267 Lotter, Tobias Conrad 178 f., 182 Lovejoy, Arthur Oncken 237, 244, 254 Ludwig I. (Ludwig der Große) 44 Lukrez 11, 42, 73, 224 f., 227, 234, 236, 238 f., 302, 312 Lütgert, Wilhelm 112 f. Luther, Martin 21 f., 24, 50 Lycosthenes, Conrad (Conrad Wolffhart) 40, 49 f. Magnus, Albertus 43 Manetti, Giannozzo 41 Marcellinus, Ammianus 42, 54, 60, 62 – 65 Marmontel, Jean-François 164 Marquard, Odo 336 Matuschek, Stefan 272 – 274, 277, 279, 290, 306 Mauelshagen, Franz 11, 16 Maupertuis, Pierre Louis 113, 173 Megenberg, Konrad 41, 43 – 45 Melanchthon, Philipp 50, 55 Mendelssohn, Moses 19, 173, 261, 267, 283, 312, 314 – 323, 328, 331, 336, 354, 362 Menninghaus, Winfried 336 f., 347 f. Merchant, Carolyn 226 Merian, Matthäus 66, 68 Milton, John 289 Mogiol, Frantzesco 59 f. Monk, Samuel 281 f., 288, 292 More, Henry 220, 226, 249 f., 260 Moritz, Karl Philipp 279 Morris, David B. 272 f., 282, 289 Müller, Johannes 51 – 53 Münter, Friedrich 19, 205 – 210, 214 f., 359, 361 Mylius, Christhelf Siegmund 250

Mylius, Christlob 18, 76, 96 – 100, 107 Nason, Elias 146 Nausea, Friedrich 41 Neiman, Susan 114 f. Nero 84, 173 Neubeck, Johann Caspar 50 f. Nevermann, Theodor 148 f., 165 – 167, 172 Newton, Isaac 87, 257 Nicolson, Marjorie Hope 220, 232, 246, 281 f., 286 f. Nieraad, Jürgen 187, 354 Nietzsche, Friedrich 241 Nowosadtko, Jutta 11, 14 Opitz, Martin 92 Ovid 284, 299 Paice, Edward 147 f. Paracelsus, Theophrastus 50, 54 f. Pascal, Blaise 243 – 246, 254 f. Paulus von Tarsus 294 Pedegache (Miguel Tibério Pedegache Brandâo Ivo) 187 Petrarca, Francesco 222 Pfister, Christian 16 Philipp, Wolfgang 87, 219, 307 Piderit, Johann Rudolph Anton 132 f., 167 Pignatelli, Vincenzo D. 201, 210 Pindar 300 – 302 Piranesi, Giovanni Battista 188 Platon 28, 231, 257, 270 Plinius Secundus, Gaius 41, 43, 45, 55, 89, 98 Pockels, Karl Friederich 277, 279 Poirier, Jean-Paul 149 Pombal, Marquês de (Sebastiâo José de Carvalho e Mello) 189 f. Pompignan, Le Franc de 151 Pontoppidian, Erich 117

Personenregister

Pope, Alexander 113, 125, 162, 255, 259, 326 Poseidonios 270 Preu, Johann Samuel 93 – 95 Probst, Georg Balthasar 178 Probst d. Ä., Johann Michael 178 Pröve, Ralf 11, 14 Ptolemäus, Claudius 231 Pyra, Immanuel Jakob 275 Quenet, Grégory 17 Quiller-Couche, Arthur 148 Quintilian, Marcus Fabius 63, 264 Racine, Jean 150 Racine, Louis 150 f. Ragor, Johann Ulrich 32, 48, 56 Rapin, G. 134, 143 Rapin, René 272 Rasch, Johannes 40 f., 44 Ray, John 93, 226, 246 Rector, Martin 161, 163 Reinhard, Adolf Friedrich 113 Richter, Karl 97, 226, 233 Richter, Peter 185 Ricou, Jean François 15 Ritter, Joachim 222 f., 228, 352 Rohr, Christian 12, 43, 45 Rohrer, Berthold 115 f. Rosanow, M. N. 101, 107 f. Roth, Johann Michael 183 Rousseau, Jean-Jacques 95, 112 f., 115, 121, 164, 173 Sandby, George 140 Saussure, Horace Bénédict de 347 Scheuchzer, Johann Jakob 14 f., 38 – 40, 74, 224 Schiller, Friedrich 19, 31, 220, 223 f., 246, 267, 316, 325, 333, 348 – 358, 362 f. Schlosser, Johann Georg 267, 323 – 331, 353, 362

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Schlözer, Ludwig 350 Schneider, Reinhold 190 Schoenemann, Friederich 183 Seneca, Lucius Annaeus 30 – 32, 39, 41 f., 45, 51, 54, 58, 60, 89, 91 f., 216, 224 f. Seutter, Georg Matthäus 178 f. Shaftesbury (Anthony Ashley-Cooper, 3. Earl of Shaftesbury) 112, 264 Shrady, Nicolas 143 f. Sieferle, Rolf Peter 21, 28 f. Silvain, François 324 Sloterdijk, Peter 109 – 111 Spinoza, Baruch 80, 227 f., 238, 276, 343 Spörl, Uwe 282 f., 285, 304 Statius, Publius Papinius 310 Stukeley, William 93 Sulzer, Johann Georg 38 f., 222, 254 – 262, 320 Surriage, Agnes 146 – 148 Sydenham, Thomas 351 Tappan, Eva March 140 Tischbein, Johann Heinrich Wilhelm 217 Torcia, Michele 204, 213, 216 Trajan 61 f. Tuveson, Ernest 220, 230 – 232 Utz, Peter 17 f., 137 f., 151 Vergil (Publius Vergilius Maro) 293, 300 f., 302 Viëtor, Karl 273 Vico, Giambattista 264 Voltaire 95, 112 – 115, 121, 136, 164 f., 172 f. Waldherr, Gerhard 30, 61, 63 Walter, François 16 f., 34, 164 Weinrich, Harald 113 f. Weizsächker, Carl Friedrich von 226 Wesley, John 140 Whiston, William 118 f.

414

Personenregister

Whitefoord, Caleb 193 f., 196 Wieland, Christoph Martin 116, 151 – 158, 160, 163 Winchester, Simon 10 f. Winthern, Alexander Polycarpus 68 – 72, 74 Witham, Catherine 146 Wolfall, Richard 142, 172 Wolff, Christian 84, 87, 89 f., 100, 115, 173, 227, 296, 320, 326 Wood, Robert 188 Edward, Young 101

Zelle, Carsten 88, 275, 281 f., 295 f., 307, 311, 303, 307 f., 317 f., 323, 331, 333 Zeller, Rosmarie 24 f., 350 Zellweger, Laurenz 151 Zenge, Wilhelmine von 173 Ziegler, Jakob 52 Ziegler und Klipphausen, Anselm von 133 Zimmermann, Johann Georg 116, 132, 136, 150, 152, 155, 157 – 163, 217 Zimmermann, Johannes Jacob 246 Zwinger, Theodor 48, 53 – 55, 74 Zwingli, Ulrich 55