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German Pages [287] Year 2013
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© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Haja Molter / Rose Schindler / Arist von Schlippe (Hg.)
Vom Gegenwind zum Aufwind Der Aufbruch des systemischen Gedankens
Mit 8 Abbildungen und 16 Tabellen
Vandenhoeck & Ruprecht © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-40184-2 ISBN 978-3-647-40184-3 (E-Book) Umschlaggestaltung: Johannes Milhoffer © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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Inhalt
Cornelia Oestereich Vom Gegenwind zum Aufwind – eine Erfolgsstory des systemischen Denkens in unterschiedlichen Handlungsfeldern. Geleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Wiebke Otto / Ilke Krone Vom Gegenwind zum Aufwind: Der Aufbruch des systemischen Gedankens. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Haja Molter im Gespräch mit Arist von Schlippe, Wilhelm Rotthaus, Kurt Ludewig, Cornelia Oestereich, Jochen Schweitzer und Jürgen Kriz Vom Gegenwind zum Aufwind. Der Kampf um die wissenschaftliche Anerkennung der systemischen Therapie . . 23 Arist von Schlippe Intuition – Plädoyer für die Abschaffung eines Begriffes . . . . . 36 Wolfgang Loth Zwischen instrumentellem Denken und existenzieller Erfahrung. Einige Überlegungen zum Helfen in der Not . . . . . . 48 Elisabeth Nicolai »Eigentlich bin ich ganz anders, ich komme nur so selten dazu« – Was hat Karl Valentin mit systemischer Therapie zu tun? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
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Inhalt
Michael Grabbe Weg ist das Ziel – nichts wie weg! Oder: Das Ziel ist im Weg! Oder: Die Freiheit der Leere … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Sylke Meyerhuber Soziale Nachhaltigkeit im Spannungsfeld postmoderner Arbeit. Systemische Zusammenhänge von Entgrenzung, Arbeitssucht, Burnout und Mobbing sowie Vertrauen, Verantwortung und Achtsamkeit in Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Kurt Pelzer Mit Klarheit und Bescheidenheit. Systemische Überlegungen zur Beratung »hochstrittiger Eltern« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Peter Luitjens »Schwierige« Kinder in der systemischen Therapie. Eine Aufforderung zu einer Erweiterung der Kontextsensibilität auf gesellschaftlich vermittelte Problemtrancen . . . . . . . . . . . . 185 Peter Wetzels Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit und Demokratiedistanz junger Menschen. Begleiterscheinung einer Ökonomisierung des Sozialen und der Etablierung von Ellenbogenmentalitäten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Revital Ludewig / Rebecca Wullschleger Wachstum nach Trauma? »Eine schwarze Perle in der bunten Perlenkette«. Integration von traumatischen Erfahrungen in die eigene Lebensgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Rudolf Klein Wandel und Wandlungen. Zur Veränderung der Alkoholabhängigkeit, ihren Herausforderungen, Chancen und Risiken 256 Thomas Kieselbach / Michael Stadler Die systemische Perspektive als Brücke zwischen marxistischer Psychologie und Individualpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274
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Inhalt
Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
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Nein, schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind! Seid mißtrauisch gegen ihre Macht, die sie vorgeben, für euch erwerben zu müssen! Wacht darüber, daß eure Herzen nicht leer sind, wenn mit der Leere eurer Herzen gerechnet wird! Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet! Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt! Günter Eich
Hans Schindler zu seinem 60. Geburtstag in Dankbarkeit und Verbundenheit
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Gedichtauszug aus: Günter Eich, Träume. Vier Spiele, S. 190. © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1953. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin.
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Vom Gegenwind zum Aufwind – eine Erfolgsstory des systemischen Denkens in unterschiedlichen Handlungsfeldern Geleitwort Cornelia Oestereich
Wann beginnt die systemische Erfolgsgeschichte? Wann und wie wurde aus der Familientherapie die systemische Therapie? Vermutlich würde eine Mehrheit von Systemikerinnen und Systemikern die Anfänge der systemischen Therapie in den 1980er Jahren, also vor etwa 30 Jahren datieren. Die damalige Familientherapie, eher psychoanalytisch, mehrgenerational, strukturell, wachstumsorientiert und/oder strategisch ausgerichtet, wurde in diesen Jahren beflügelt durch neue Theorien, die aus der Biologie, der Kommunikationswissenschaft (Watzlawick) und der Soziologie stammen. Bahnbrechend erwiesen sich die Theorie der Autopoiese (Umberto Maturana, Francisco Varela), die Konzepte der Kybernetik zweiter Ordnung (Heinz von Foerster) und der Systemtheorie (Niklas Luhmann), der Radikale Konstruktivismus (Ernst von Glasersfeld), die Theorie der Dynamik nichtlinearer Systeme, eingeschlossen die Synergetik (Günter Schiepek), sowie der Soziale Konstruktionismus (Kenneth Gergen, Harlene Anderson). In Deutschland wurde die Heidelberger Systemisch-Konstruktivistische Familientherapie (Helm Stierlin, Fritz Simon, Gunthard Weber, Arnold Retzer, Gunther Schmidt), die vom Mailänder Modell (Selvini Palazzoli, Boscolo, Cecchin und Prada) inspiriert war, zu einem Kristallisationspunkt der Entwicklung der systemischen Therapie. In internationalem wissenschaftlichen Austausch wurden therapeutische Entwicklungen aufgegriffen und integriert (z. B. die Kurzzeittherapie des Steve de Shazer oder die Hypnotherapie von Milton Erickson). Systemische Techniken und Methoden wie das Hypothetisieren, das zirkuläre Fragen, die Konzepte von Neutralität und Neugier, Visualisierungstechniken wie die Genogrammarbeit und Externa© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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lisierungstechniken wie die Arbeit mit dem Familienbrett ebenso wie konstruktivistische Aufstellungen bereicherten die therapeutische Arbeit mit Familien, Paaren und Einzelnen. Rosmarie Welter-Enderlin lenkte die Aufmerksamkeit auf die Notwendigkeit der affektiven Rahmung in therapeutischen Begegnungen. Narrative Ansätze (Michael White) und die Konzepte des Open Dialogues (Harry Goolishan, Harlene Anderson) sowie die Ideen um das Reflecting Team (Tom Andersen) modifizierten die »klassischen« systemischen Interviews. 1998 wurde die erste Expertise (Günter Schiepek) über die systemische Therapie beim Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie (WBP) vorgelegt und der Antrag auf Anerkennung als wissenschaftlich begründetes Psychotherapieverfahren gestellt. Entgegen den Erwartungen wurde die systemische Therapie 1999 als nicht ausreichend wissenschaftlich begründet abgelehnt. Kritisiert wurden zudem der fehlende Bezug zwischen Theorie und Therapiepraxis und die nicht ausreichend belegte Wirksamkeit. Die Ablehnung muss sicher auch im Kontext mit dem 1998 in Kraft getretenen Psychotherapeutengesetz und der Konkurrenz um die Verteilung der finanziellen Ressourcen im ambulanten psychotherapeutischen Feld gesehen werden. Diese Ablehnung, die Heftigkeit dieses Gegenwindes, erschütterte die systemische Szene zutiefst. Der Schock und die Enttäuschung führten dazu, dass viele klinisch tätige systemische Therapeuten und Therapeutinnen der Psychotherapie, den Kliniken und sogar dem Gesundheitswesen den Rücken kehrten und ihr Glück und ihren Lebensunterhalt in Beratung, Supervision, Coaching und Organisationsberatung suchten. Wind von vorn kann als Gegenwind erlebt werden. Man muss sich anstrengen, um voranzukommen. Segler aber gehen mit Wind anders um: Sie nutzen ihn. Bei Gegenwind gehen sie auf die Kreuz. Sie kreuzen auf, fahren ein Wendemanöver und kreuzen in der Gegenrichtung erneut auf. Im Zickzackkurs gewinnen sie Raum, kommen voran und erleben wechselnde Perspektiven. Die frische Brise wirkte in das systemische Feld hinein. Durch die Erschließung und Weiterentwicklung neuer Beratungskontexte fand systemisches Denken und Handeln Eingang in die unterschiedlichsten Handlungsfelder. Systemisches Denken erzeugte lebhafte Böen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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in den Feldern von Jugendhilfe, Suchtberatung, Paar- und Familienberatung, Erziehungsberatung und Organisationsberatung. Über die Supervision von Teams in der Psychiatrie ebenso wie Kinder- und Jugendpsychiatrie fanden systemische Perspektiven erneut ihren Weg in die Kliniken und ambulanten Therapieeinrichtungen. Mitarbeiter/-innen in psychosozialen Arbeitsfeldern profitierten von den systemischen Sichtweisen und erlebten, wie ihnen die systemischkonstruktivistischen Perspektiven die Arbeit erleichterten und ihren Klientinnen und Klienten ungeahnte Entwicklungsmöglichkeiten und Handlungsspielräume eröffneten. Aus dem Gegenwind war Aufwind geworden und belebte die systemische Szene. In den beiden systemischen Dachverbänden Systemische Gesellschaft (SG) und Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) organisierten sich immer mehr Lehrinstitute, die nach hohen Qualitätsstandards in systemischer Therapie, Beratung, Supervision und Coaching weiterbildeten. Viele Psychotherapeuten, die bereits in anderen Therapieverfahren ausgebildet waren, wurden nach abgeschlossener systemischer Weiterbildung von den beiden wissenschaftlichen Verbänden als Systemische Therapeuten zertifiziert. Eine Umfrage unter niedergelassenen Psychotherapeuten (Hans Schindler und Arist von Schlippe, 2006) zeigte, dass 14 % der befragten Psychotherapeuten neben einem Richtlinienverfahren eine Weiterbildung in systemischer Therapie gemacht hatten. 25 % der Befragten sahen systemische Ideen als sehr nützlich für ihre therapeutische Tätigkeit an. Überraschenderweise gaben mehr als 40 % der Befragten an, dass die systemische Therapie für ihre Identität als Psychotherapeuten eine große Rolle spielte, auch wenn sie in einem anderen Verfahren approbiert waren und die wissenschaftliche Anerkennung der systemischen Therapie noch fehlte. Auf dem von beiden Verbänden 2004 in Berlin organisierten EFTA-Kongress (European Familiy Therapy Association) mit mehr als 3000 Teilnehmer/-innen aus mehr als 40 Ländern erfuhr die systemische Szene erneut eine Frischluftzufuhr und lebhafte Unterstützung zur Frage der Wissenschaftlichkeit der systemischen Therapie. Im gleichen Jahr beauftragten die Vorstände von SG und DGSF eine Gruppe von Wissenschaftler/-innen (Kirsten von Sydow, Jochen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Schweitzer, Rüdiger Retzlaff und Stefan Beher), eine Expertise zur Wirksamkeit der systemischen Therapie zu erstellen. Im Sommer 2006 reichten die Vorstände der beiden Verbände die Expertise beim Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie (WBP) ein. Nach einer langen ungewissen Großwetterlage, Wetterfühligkeiten und Stimmungen, die abwechselnd von Flauten, frischen Böen, stürmischen Winden und unvorhergesehenen Gewittern beeinflusst wurden, kam dann im Dezember 2008 die ersehnte Nachricht, dass der WBP die systemische Therapie als wissenschaftlich begründetes und wirksames Psychotherapieverfahren anerkannt habe. Die Anerkennung rief große Freude und Stolz ebenso wie Bedenken und Sorge hervor. Befürchtet wurde, dass die systemischen Konzepte sich an ein medizinisches Krankheitskonzept und störungsspezifische Behandlungsstrategien würden anpassen müssen, also das Systemische verlieren würden. Der Aufwind hat sich stabilisiert. Er trägt seither die Entwicklung des systemischen Feldes, wenn er auch noch nicht zu neuen Höhenflügen geführt hat. Die berufsrechtliche Anerkennung ist erreicht, das Psychotherapieverfahren als wissenschaftlich begründet und wirksam anerkannt. Es fehlt noch die sozialrechtliche Anerkennung der systemischen Therapie. Diese Prüfung nimmt der gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) der Selbstverwaltungen der Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser und Krankenkassen vor. Er prüft neben der wissenschaftlich nachzuweisenden Wirksamkeit den zusätzlichen Nutzen im Vergleich zu den bereits zugelassenen Therapien, die Effektivität sowie die ökonomische Effizienz jeder neuen Therapie. Nur wenn dies alles bejaht wird, kann die systemische Therapie als Richtlinienverfahren anerkannt werden. Wie geht es weiter? Wohin weht ein günstiger Wind? Wenn die sozialrechtliche Anerkennung erfolgt, sollte die systemische Szene vorbereitet sein, um zur Approbation führende Ausbildungen in systemischer Therapie gemäß der Richtlinie durchführen zu können. Die beiden systemischen Dachverbände unterstützen Lehrinstitute, die entsprechende Ausbildungsinstitute gründen wollen. Eine große theoretische, didaktische und praktische Herausforderung wird es sein, so viel Multiperspektivität, so viel Kybernetik zweiter Ordnung und so viel sozialkonstruktionistische Konzepte © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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wie möglich in die neu zu entwickelnden Ausbildungsgänge hineinzubringen. Ein systemischer, spielerischer Umgang mit Diagnostik und Diagnosen, mit traditionellem Krankheitsverständnis und Störungskonzepten muss gelehrt werden und es müssen Ideen entwickelt und vermittelt werden, wie systemische Therapeuten auch innerhalb der Richtlinie damit so umgehen können, dass sich die Handlungsoptionen für Patienten und Therapeuten erweitern. Die systemische Haltung von Neutralität und Neugier muss auch innerhalb des traditionellen medizinischen Behandlungskontextes vermittelt und fortentwickelt werden. Die systemischen Institute werden aber auch selbstbewusst ihre bisherigen multiprofessionellen und multidisziplinären systemischen Weiterbildungen fortführen können. Unter den psychologischen Psychotherapeuten und KJP-Therapeuten anderer Richtlinienverfahren werden nämlich auch zukünftig viele sein, die nach ihrer Approbationsausbildung nach dem Psychotherapeutengesetz und nach einiger Zeit in der Praxis gerne noch eine Weiterbildung in systemischer Therapie (SG/DGSF) machen werden, weil die systemische Praxis auch zukünftig attraktiv sein und überzeugend wirken wird. Die Herausforderung wird darin bestehen, auch in Zukunft wertschätzend und nicht destruktiv konkurrierend mit den übrigen Richtlinienverfahren oder mit der neu zu entwickelnden systemischen Therapie nach der Richtlinie umzugehen. Wenn solcher konstruktive Umgang gelingt, ergeben sich für Patienten und Therapeuten gute neue Wahlmöglichkeiten. Dem systemischen Denken in den vielfältigen Handlungsfeldern sind weiterhin gute, kräftige Winde zu wünschen, die eine Entwicklung und Ausbreitung systemischer Ideen in unterschiedliche Richtungen ermöglichen. Viele gesellschaftliche Herausforderungen würden von systemischen Sichtweisen profitieren. Zum erfolgreichem Kurshalten bei Flaute ebenso wie bei stürmischen Winden braucht es neben einem guten Orientierungsvermögen die Bereitschaft, Umwege zu machen, ebenso wie die Fähigkeit, gegebenenfalls die Richtung zu wechseln und immer wieder neue Ziele ins Auge zu fassen. Und: »Manchmal erfordert das Halten des richtigen Kurses einen Akt der Piraterie. Könnte die Piraterie selbst der richtige Kurs sein?« (Gouverneur Swan im Film »Fluch der Karibik«). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
Vom Gegenwind zum Aufwind: Der Aufbruch des systemischen Gedankens Einleitung Wiebke Otto / Ilke Krone
Mit dieser Festschrift »Vom Gegenwind zum Aufwind – Der Aufbruch des systemischen Gedankens« würdigen Wegbereiter, Freunde, Kollegen und Mitgestalterinnen möglicher systemischer Ideen und Gedanken den 60. Geburtstag von Hans Schindler. Hans Schindler hat sich in dem vor 23 Jahren mit Wiebke Otto gemeinsam gegründeten Institut für Systemische Therapie und Supervision der Verbreitung und Implementierung systemischen Denkens und Handelns verschrieben. Insbesondere in den letzten Jahren widmete er sich engagiert und beharrlich der Anerkennung systemischer Beratung und Therapie in der Wissenschaft und nun auch im Sozial- und Gesundheitsrecht. Sein vielfältiges Wirken in der »systemischen Szene« spiegelt sich auch in den unterschiedlichsten Beiträgen dieses Buches wider. So lassen sich nicht nur die Autorinnen und Autoren in ihren jeweils persönlichen Bezügen zu Hans Schindler beschreiben – auch die verschiedenen inhaltlichen Aspekte lassen sich mit dem beruflichen Leben von Hans Schindler verbinden. Die Beiträge stellen Bezüge her zu gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wie Armut, Arbeitslosigkeit und Arbeitsbelastung bzw. -verdichtung, sie behandeln besondere Lebenswelten wie Traumatisierungen und deren Bewältigung oder greifen individuelle Themen wie Lebenskrisen in Partnerschaften oder süchtiges Verhalten auf. Und nicht zuletzt findet sich auch das Thema der berufspolitischen Anerkennung der systemischen Therapie in einem Expertengespräch wieder. Die erfahrene Leserin neuerer systemischer Beiträge wird selbstbewusst und wissend genau diejenigen Beiträge für sich herausfiltern, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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die zu einer persönlichen Bereicherung – sei es in Gedanken oder auch ganz praktisch im Handeln – beitragen können. In diesem Sinne: »Lieber Leser, liebe Leserin, machen Sie doch, was Sie wollen – Sie wissen eh am besten, was zu Ihnen passt!« Gelesen werden kann in alle Richtungen – von vorne bis hinten (traditionell), von hinten nach vorne (postmodern), immer mal ein bisschen (im Stil der 68er) oder auch ganz anders (New Age). Die Einleitung gibt (hoffentlich) hilfreiche Hinweise und Anregungen für ein spannendes und zielführendes Lesevergnügen. »Vom Gegenwind zum Aufwind«, so der Titel des Buches, aber auch Überschrift eines Expertengespräches zum Kampf um die wissenschaftliche Anerkennung der systemischen Therapie1, das Haja Molter mit den »großen Größen« der systemischen Fachwelt geführt hat. Mit Ausnahme von Jürgen Kriz, der als Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie die wissenschaftliche Anerkennung der systemischen Therapie mit erkämpft hat, waren (Arist von Schlippe, Wilhelm Rotthaus, Kurt Ludewig) oder sind (Cornelia Oestereich und Jochen Schweitzer) 1. Vorsitzende einer der beiden deutschen Dachverbände Systemische Gesellschaft (SG) und Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF). Eine differenzierte, sehr zum Nachdenken anregende Auseinandersetzung mit dem Thema »Intuition« bietet Arist von Schlippe in seinem Beitrag »Intuition – Plädoyer für die Abschaffung eines Begriffs«. Sind wir angesichts zunehmender Unsicherheitsgefühle vielleicht viel zu sehr fasziniert von der Idee, in uns selbst einen Ort zu haben, der Sicherheit bietet? Ausgehend von dieser Hypothese stellt er den Plot des »weisen Unbewussten«, das keine Fehler macht, in Frage und beschreibt in seinem Text Risiken und Nebenwirkungen der Intuition. Mit dem Blick auf Machtzuschreibungen auch in psy1
Haja Molter hat Hans Schindler als Lehrtherapeut am Institut für Familientherapie Weinheim in seinen »systemischen Kinderschuhen« begleitet, mit allen anderen verbindet ihn jahrelange Zusammenarbeit in seiner Funktion als Vorstandsmitglied der Systemischen Gesellschaft. Arist von Schlippe ist schon lange ein guter, enger Freund, auch zu Cornelia Oestereich sind freundschaftliche Bezüge gewachsen und sie ist regelmäßig Gastreferentin im Bremer Institut.
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chosozialen Kontexten zeigt er auf, wie Intuition auch zur unsichtbaren Festigung beraterischer Macht benutzt werden kann. Arist von Schlippe plädiert für die Abschaffung des Begriffs »Intuition« und schlägt vor, zu dem Begriff »Vermutung« zurückzugehen und sich der damit verbundenen Unsicherheit mutig zu stellen. In seinem Beitrag »Zwischen instrumentellem Denken und existenzieller Erfahrung – Einige Überlegungen zum Helfen in der Not« widmet sich Wolfgang Loth2 der Frage, wie eine Zukunft der systemischen Therapie skizziert werden kann, die nach möglichen Lösungen in einer Welt sucht, in der die konkreten Lösungsmöglichkeiten des Einzelnen durch gesellschaftliche Bedingungen wie Armut, Arbeitslosigkeit, Alter begrenzt werden. Eine systemisch-existenzielle Perspektive beschreibt nach Wolfgang Loth ein »Spannungsfeld zwischen Wirken als Maßnahme und Wirken als kommunikative Teilhabe«. Mit dem Horváth-Zitat »Eigentlich bin ich ganz anders, ich komme nur so selten dazu« und der Frage, was Karl Valentin mit systemischer Therapie zu tun hat, hebt Elisabeth Nicolai3 neben den kognitiven Prozessen besonders auch die Bedeutung assoziativer Prozesse in der systemischen Therapie hervor und beschreibt verschiedene Möglichkeiten, durch verstörend anregende Angebote kleine Muster- bzw. Erwartungsstörungen zu initiieren. Ausgehend von der noch heute geltenden und als grundlegend erachteten Prämisse, dass Ziele und deren Formulierung sowohl im täglichen Leben als auch in systemischer Beratung und Therapie eine zentrale Rolle spielen, stellt Michael Grabbe4 in »Weg ist das Ziel – nichts wie weg!« anregende – und manchmal verwirrende – Fragen. Wenngleich die Sinnhaftigkeit gut formulierter Ziele, die Fokussie2
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Wolfgang Loth und Hans Schindler verbinden nicht nur (nächte-)lange systemisch-philosophische Diskurse – beide arbeiten seit vielen Jahren in der Redaktion der Fachzeitschrift »systhema« zusammen. Elisabeth Nicolai hat durch einen Vortrag vor der Psychotherapeutenkammer Bremen Hans Schindlers Bestreben unterstützt, in der Kammerpolitik deutlich mehr systemische Präsenz zu zeigen. Hans Schindler und Michael Grabbe verbindet u. a. die gemeinsame Arbeit im Vorstand der Systemischen Gesellschaft und im Kampf um die wissenschaftliche Anerkennung der systemischen Therapie sowie gemeinsame Begegnungen auf Tagungen, Kongressen und Jubiläen.
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rung auf einen erwünschten Zustand in der Zukunft, die Entwicklung von Visionen und deren möglichst konkretes (Vorweg-)Empfinden in seiner Sinnhaftigkeit für Klienten und Therapeuten nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden, so versucht Michael Grabbe doch, die darin liegende vermeintliche Sicherheit zu de-konstruieren. Als Expertin für Sozial- und Organisationspsychologie widmet sich Sylke Meyerhuber5 in ihrem Beitrag »Soziale Nachhaltigkeit im Spannungsfeld postmoderner Arbeit« den besonderen Veränderungen der postfordistischen und globalisierten Arbeitsgesellschaft und formuliert eigene Hypothesen zu einem aus ihrer Sicht dringend erforderlichen Wandel. Sylke Meyerhuber beschreibt verschiedene arbeitsgesellschaftliche Phänomene, die zu einer komplexen und explosiven Mischung führen und in Wechselwirkungen zueinander stehen. Als Stichworte seien hier Leistungsdruck und Arbeitsverdichtung, Fachkräftemangel und hohe Arbeitslosenzahlen bei älteren Arbeitnehmern sowie die Zunahme an arbeitsbedingten Erkrankungen und Todesfällen genannt. Kurt Pelzer6 beschäftigt sich in seinem Beitrag »Mit Klarheit und Bescheidenheit – Systemische Überlegungen zur Beratung ›hochstrittiger Eltern‹« mit systemischen Überlegungen zur Beratung von Eltern, die nach Trennung oder Scheidung in hartnäckigste Konfliktdynamiken verwickelt sind. Es werden Merkmale hochkonflikthafter Eltern aus der Perspektive einer Kybernetik erster Ordnung beschrieben. Im Anschluss versucht der Autor aus der Perspektive einer Kybernetik zweiter Ordnung Hochstrittigkeit als Interaktionsphänomen zu verstehen und weist darauf hin, dass bei einer interaktiven Betrachtung des Phänomens Hochstrittigkeit viele »Mitspieler« benötigt werden, um es aufrechtzuerhalten. 5
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Sylke Meyerhuber wurde am Bremer Institut für Systemische Therapie und Supervision ausgebildet und gehörte viele Jahre der von Hans Schindler initiierten offenen Supervisionsgruppe an. Beide sind über ihre Leidenschaft für edle Pferde und die »Reiterei« auch persönlich eng verbunden. Kurt Pelzer und Hans Schindler haben mehrere Jahre zusammen im Vorstand der Systemischen Gesellschaft mitgearbeitet und sich dort kennen und schätzen gelernt. Gemeinsam ist ihnen, dass sie sich nicht nur als systemische Therapeuten verstehen, sondern auch als politische Kämpfer mit langen Erfahrungen in Verbands- und Gremienarbeit.
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Peter Luitjens7 bietet in seinem engagierten Beitrag »›Schwierige Kinder‹ in der systemischen Therapie – Eine Aufforderung zu einer Erweiterung der Kontextsensibilität auf gesellschaftlich vermittelte Problemtrancen« einen ressourcenorientierten Blick und alternative Beschreibungen zum Umgang mit »schwierigen« Kindern und Jugendlichen in der systemischen Therapie. Wohl wissend, dass unsere normativen Konzepte über eine gelungenen Entwicklung auch systemische Therapeuten und Therapeutinnen beeinflussen, regt er an, sich die gesellschaftliche Systemebene bewusst zu machen und in die therapeutische Arbeit mit einzubeziehen. Einem hochaktuellen Thema widmet sich Peter Wetzels8 in seinem Beitrag »Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit und Demokratiedistanz – Begleiterscheinung einer Ökonomisierung des Sozialen und der Etablierung von Ellenbogengesellschaften?«. Für all diejenigen, die im Bereich der Prävention von Rechtextremismus, Gewalt und Hasskriminalität arbeiten, ist es wichtig, genaue Informationen über die Verbreitung und Hintergründe solcher Haltungen zu bekommen. Peter Wetzels stellt die Ergebnisse einer repräsentativen Studie in Bremen dar und skizziert die sich daraus ergebenden Konsequenzen für Schul- und Sozialarbeit. »Eine schwarze Perle in der bunten Perlenkette« lautet der Titel der Beitrages von Revital Ludewig 9 und Rebecca Wullschläger. Er widmet sich den theoretischen Aspekten des Phänomens des »posttraumatischen Wachstums« und der Erforschung der Bewältigungsstrategien von Menschen mit traumatischen Erfahrungen. Wie ist es möglich, dass Traumatisierte, wie z. B. Überlebende des Holo7
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Peter Luitjens leitet mit seiner Frau Renate Jegodtka u. a. ein Weiterbildungsinstitut für Systemische Traumapädagogik und Traumafachberatung. Beide sind Lehrtherapeuten am Bremer Institut und darüber schon seit vielen Jahren mit Hans Schindler verknüpft. Peter Wetzels und Hans Schindler haben gemeinsam zu Arbeitslosenforschung gearbeitet und veröffentlicht. Sie sind sich seit langem Freunde und Wegbegleiter. Revital Ludewig-Kedmi und Hans Schindler begegneten sich 1998 auf einem Kongress in Düsseldorf. Mit einer israelischen Kollegin sein individuelles Interesse an der deutschen Geschichte und den Folgen des Holocaust zu teilen und in seine systemische Arbeit integrieren zu können, hat ihn sehr beeindruckt.
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causts, körperlich und seelisch gesund bleiben, während andere nach einem ähnlichen Ereignis eine chronische posttraumatische Belastungsstörung entwickeln? Neben aller Heterogenität der jeweiligen Bewältigungsstrategien scheint es übereinstimmend hilfreich zu sein, dass die betroffene Person sich mit ihren Stärken und Schwächen beschäftigt und sich bewusst mit den traumatischen Erfahrungen auseinandersetzt. In seinem Artikel »Wandel und Wandlungen – Zur Veränderung der Alkoholabhängigkeit, ihren Herausforderungen, Chancen und Risiken« entwickelt Rudolf Klein10 seine auf langjähriger Erfahrung basierenden Thesen zu Entstehung und Aufrechterhaltung abhängigen Trinkens weiter. Er geht davon aus, dass jede Form der Berauschung als plausible Antwort auf überfordernde Entwicklungsaufgaben betrachtet werden kann, die sich im Sinne einer Selbstorganisationsdynamik zu einem abhängigen Trinken entwickelt, wenn keine alternativen Lösungsstrategien gefunden werden. Dabei spielen auch biografische Aspekte wie traumatisierende Erlebnisse oder defizitäre Sichtweisen auf die eigenen Lösungsmöglichkeiten eine Rolle. Selbst dann, wenn das abhängige Trinken (bereits) ein erhebliches gesundheitliches Risiko darstellt und soziale Beziehungen in Gefahr geraten, bzw. vom »Trinken« dominiert werden, scheinen lebbare Alternativen meist nicht umsetzbar. Eine persönliche Widmung des gemeinsamen Lebensweges schreiben Thomas Kieselbach und Michael Stadler mit dem Titel »Die systemische Perspektive als Brücke zwischen marxistischer Psychologie und Individualpsychologie«. Professor Dr. Thomas Kieselbach verstarb im Dezember 2011 in Italien.
10 Rudolf Klein ist seit einigen Jahren als Gastdozent am Bremer Institut für Systemische Therapie und Supervision tätig. Darüber hinaus teilt er mit Hans Schindler die Liebe zu einem guten Rotwein.
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Vom Gegenwind zum Aufwind Der Kampf um die wissenschaftliche Anerkennung der systemischen Therapie Haja Molter im Gespräch mit Arist von Schlippe, Wilhelm Rotthaus, Kurt Ludewig, Cornelia Oestereich, Jochen Schweitzer und Jürgen Kriz
Haja Molter: Arist, heute hat die systemische Therapie die wissenschaftliche und berufsrechtliche Anerkennung. Möglicherweise wird die sozialrechtliche Anerkennung in Kürze folgen. Mit welchen Gefühlen und Gedanken bist du am 18. Dezember 2004 zu dem Treffen aus den Vorständen der SG und der DSFG gegangen, wo die Entscheidung fiel, für die wissenschaftliche Anerkennung zu kämpfen? Arist von Schlippe: Das war eine schwierige Entscheidung. Der Vorstand der Systemischen Gesellschaft (SG) steckte damals in einem ziemlichen Dilemma, das wir intensiv und kontrovers diskutierten. Überspitzt gesagt, sahen wir uns vor der Frage, ob wir auf die eine oder auf die andere Art untergehen wollten. Wir sahen die Gefahr der Marginalisierung auf der einen Seite, wenn wir uns aus den Diskursen der Psychotherapeuten-Community zurückziehen würden. Auf der anderen Seite waren wir uns der Gefahr bewusst, dass unsere Konzepte, wenn wir den Weg der erneuten Beantragung gehen würden, sich vielleicht so stark würden anpassen müssen, dass wir Essentials aus der Hand geben würden – wie etwa das systemische Verständnis des Begriffs der sogenannten »psychischen Krankheiten«. Ich bin damals mit der Haltung in die Sitzung vom 18. Dezember 2004 (im Hotel »Hopper St. Antonius« in Köln) gegangen, dass ich die Gefahr des Identitätsverlustes ein wenig stärker gewichtete als die der Marginalisierung. Ich war zu 55 % gegen den Weg, die Anerkennung erneut zu suchen, und zu 45 % dafür, ein klassisches »Splitting«, ich glaube, das spiegelte auch in etwa die Haltung des SG-Vorstands. In der Sitzung selbst trug Kirsten von Sydow die Ergebnisse ihrer ersten Recherchen über den Stand der wissenschaftlichen Befund© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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lage vor. Das hatte mich damals schon sehr beeindruckt. Wir waren uns schon bewusst, dass die systemische Therapie auch aus der Sicht klassischer Forschungsmethoden »wirksam« war (vor allem in den Bereichen Alkohol-/Drogenabhängigkeit, somatische Krankheiten, dissoziale Störungen, Depression, Suizidalität). Doch die Aussage, dass der Forschungsstand von 2004 vermutlich bereits ausreichen würde, um eine Anerkennung als wissenschaftliches Psychotherapieverfahren zu erreichen, war ein starkes Argument dafür, das Feld nicht einfach zu räumen, sondern Kirsten und eine Arbeitsgruppe mit einer Expertise zu beauftragen, die wir anschließend berufspolitisch nutzen könnten. Es sollte dabei direkt an den ersten Antrag angeschlossen werden, um explizit zu zeigen, dass die damals bemängelten Nachteile (fehlende Beziehung zwischen Theorie und Praxis, unzureichende Wirksamkeitsbelege) heute nicht mehr bestünden. Und dann gab es noch einen weiteren Gesichtspunkt, nämlich den der historischen Gelegenheit. Wir standen insgesamt gut da, die systemischen Institute erfreuten sich nach einem Knick zur Jahrtausendwende wieder steigender Beliebtheit und es gab in dem wissenschaftlichen Beirat einige Persönlichkeiten, die die systemische Therapie wohlwollend beurteilten. »Jetzt oder nie!«, so stimmten wir schlussendlich der Veränderung der Marschrichtung zu – eine Kehrtwende, denn gerade ein paar Monate zuvor hatte der Vorstand der SG noch in der »Kölner Erklärung« entschieden, die Ablehnung unseres ersten Antrags (von 1999) als Chance und Glücksfall zu bezeichnen, da es uns so möglich sein würde, ohne künstliche Begrenzungen systemische Konzepte in den Feldern weiterzuentwickeln, in denen sie explizit willkommen waren (wie etwa Pädagogik, Sozialpädagogik, Jugendhilfe, Organisationsberatung u. v. a. m.). Haja Molter: Wilhelm, du warst Vorsitzender des anderen großen Dachverbandes für Familientherapie und systemische Therapie, der sich auch für die wissenschaftliche Anerkennung engagiert hat. Wie hast du die Situation damals erlebt? Wilhelm Rotthaus: Ich habe die Idee, die Ablehnung des ersten Anerkennungsantrags als Glücksfall und Chance zu bewerten, immer für eine »Saure-Trauben-Theorie« gehalten. Das war mir schon © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Anfang der 1990er Jahre so gegangen, als ich nach unseren so positiven Erfahrungen mit systemtherapeutischem Arbeiten in der Klinik »Stierlins Jungens« zu bewegen suchte, sich für eine sozialrechtliche Anerkennung der systemischen Therapie einzusetzen, und eben diese Antwort bekam, ein solcher Schritt würde die Dynamik und Kreativität der Entwicklung der systemischen Therapie gefährden. Insofern bin ich in diese Besprechung mit anderen Voraussetzungen gegangen. Ich hatte sehr überrascht reagiert, als ich nach der Heidelberger Forschungstagung von Jochen Schweitzer im Juli 2004 hörte, dass es – auch im »RCT-Sinne«1 des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie (WBP) – eine große Zahl guter Studien vor allem zur systemischen Kinder- und Jugendlichentherapie gebe. Zunächst noch etwas ungläubig haben wir das in den nächsten Monaten im Vorstand der DGSF diskutiert, sahen durchaus die Gefahr, dass die systemische Szene im Falle einer zweiten Ablehnung erneut in tiefe Depression fallen könne, und leiteten daraus die Überlegung ab, sehr genau darauf zu schauen, ob der Zeitpunkt, eine neue Prüfung anzustoßen, im Augenblick günstig sei oder ob ein weiteres Zuwarten die Chancen erhöhen würde. In der Diskussion um diese Frage am 18. Dezember 2004 kamen dann viele Argumente zutage, die dafür sprachen, die Gelegenheit jetzt zu nutzen. Sicherlich spielte auch eine Rolle, dass wir noch den kräftigen Wind von dem EFTA-Kongress in Berlin unter unseren Flügeln verspürten und sich nach unseren Informationen in den Diskussionen im WBP Veränderungen andeuteten, die die Mauern vor einer Anerkennung noch erhöhen würden. Insofern hatten wir – soweit ich mich erinnere: schließlich gemeinsam – ein gutes Gefühl bei der Entscheidung, Kirsten von Sydow und Kollegen anzuregen, einer Expertise zur Wirksamkeit der systemischen Therapie zu erstellen und – in Erinnerung an die Kritik des WBP bei Ablehnung des ersten Antrags – insbesondere den Theorieteil in Abstimmung mit den Vorständen der beiden systemischen Gesellschaften zu formulieren, um damit dann die Wiederaufnahme des ersten Antrags und eine neue Bewertung der systemischen Therapie durch den WBP zu veranlassen. 1
RCT: Randomized Controlled Trial.
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Ich habe damals dieses Vorgehen aus Sicht der DGSF als »wunderbar widersprüchlich« erlebt, versuchten wir doch gerade auf dem Klagewege – und das ja ziemlich erfolgreich –, dem WBP das alleinige Entscheidungsrecht über die wissenschaftliche Anerkennung eines Therapieverfahrens zu bestreiten, und planten nun, dem WBP Materialien vorzulegen, damit er genau eine solche Entscheidung in unserem Sinne treffe. Aus heutiger Sicht halte ich dieses zweigleisige Vorgehen zum damaligen Zeitpunkt für genau richtig und denke, die Klagen haben den Prozess der wissenschaftlichen Anerkennung durchaus befördert. Haja Molter: Kurt, du warst in der damaligen Sitzung auch dabei und hattest den Prozess der wissenschaftlichen Anerkennung betrieben und mit gestaltet. Wie hast du die Situation damals eingeschätzt? Kurt Ludewig: Das Treffen in Köln fand im Anschluss an eine Abschlusssitzung des AGST (Arbeitsgemeinschaft Systemische Therapie, eine lose Verbindung von DGSF und SG), des Teams also, das Monate zuvor die erfolgreiche EFTA-Tagung 2004 in Berlin organisiert hatte. Da meine Beteiligung am Projekt »Anerkennung der systemischen Therapie« mit der betreffenden Sitzung in Köln endet, muss ich mich hier im Wesentlichen auf die Vorgeschichte dieses Treffens beschränken. Bevor ich aber in einen historischen Überflug einsteige, sollte ich klarstellen, dass die Planungen, die im Dezember 2004 entstanden, mich eher skeptisch gestimmt haben. Nicht so sehr, weil ich am Erfolg des Projekts zweifelte, sondern vielmehr, weil ich die Befürchtung hatte, man würde dabei zu sehr die Sprache der anderen sprechen und unter Umständen das Eigene vergessen. Wenn man sich heute in den systemischen Buchregalen umschaut, findet man allerhand »Lehrbücher«, die allesamt eine störungsspezifische Melodie anstimmen und durchhalten. Insofern waren meine Befürchtungen nicht ganz unbegründet. Andererseits habe ich aber immer die Meinung vertreten, dass wir als Ausbilder verpflichtet sind, für die jüngeren Kolleginnen und Kollegen, die wir weiterbilden, akzeptable Arbeitsumstände unter anerkannten Bedingungen mit zu erwirken. Das lässt sich nicht zuletzt an den Bemühungen ablesen, die in die Verfassung des ersten © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Antrags auf Anerkennung beim Ausschuss der Ärzte und Krankenkassen und dann beim Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie (WBP) und in die Organisation der EFTA-Tagung 2004 eingingen. Die allzu arrogante Haltung, die mancherorts geherrscht hatte und vorschlug, Wildwuchs wild zu belassen, habe ich nie geteilt. Sie baute zu sehr auf der Sicherheit auf, über die beruflich und wirtschaftlich Etablierte verfügten, und dies war bei weitem nicht jedem gegeben. Das Projekt Anerkennung findet seine erste Umsetzung in die Praxis am 15. November 1996 am Rande einer Tagung, wenn ich es richtig erinnere, in Berlin. Marie-Luise Conen für die Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Familientherapie (DAF), Anni Michelmann für den Dachverband für Familientherapie und systemische Arbeit (DFS) und ich für die Systemische Gesellschaft (SG) erteilten Günter Schiepek den Auftrag, bis spätestens März 1997 eine wissenschaftlich begründete Stellungnahme zu den 26 Fragen zu erarbeiten, die uns der damals noch allein zuständige Ausschuss der Ärzte und Krankenkassen gestellt hatte und die als Bedingung für eine etwaige Anerkennung galten. Diesem Auftrag war Verschiedenes vorausgegangen, mitunter die Gründung des DFS, der sich als beruflichen Arm der älteren DAF verstand, und die Gründung der SG, die 1993 mit der erklärten Absicht entstanden war, zu einer gesellschaftlichen Anerkennung der systemischen Therapie beizutragen. In vielen Gesprächen zwischen den Vorsitzenden der drei damaligen Vereine wurde immer wieder die Frage diskutiert, was wir sinnvollerweise tun könnten, um das Ziel der Anerkennung zu erreichen. Schließlich haben sich im Jahr 1996 die drei Vorstände geeinigt, das Projekt mit vereinten Kräften voranzutreiben. Es war damals schon klar, dass wir bei diesem Vorhaben schnell sein müssten, denn die Vorbereitung des Psychotherapeutengesetzes war im Gange und so auch die Entstehung von schwieriger zu erfüllenden Bedingungen, z. B. eines WBP. Anni Michelmann hatte bereits einige Vorarbeit geleistet, und wir durften durchaus auf eine wohlwollende Prüfung unseres Anliegens hoffen. Es sollte sich leider zeigen, dass Günter Schiepek nicht in der Lage war, den Vertrag rechtzeitig zu erfüllen. Da sich zu der Zeit keine gangbare Alternative anbot, wurde in einem weiteren Vertrag mit Günter Schiepek vereinbart, dass er eine druckreife Fassung seiner © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Stellungnahme bis Juni 1998 liefern sollte. Den dann fertigen Antrag reichte Anni Michelmann, die Mitglied im Bundesausschuss war, am 26. Juni 1998 persönlich beim Ausschuss ein. Mittlerweile war aber zehn Tage früher das Psychotherapeutengesetz verabschiedet worden. Der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen beschloss deshalb, unseren Antrag nicht zu behandeln, sondern uns an den neu zu gründenden Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie zu verweisen. Dieser Beirat sollte die wissenschaftlich Anerkennungswürdigkeit eines neuen Verfahrens klären, bevor der Bundesausschuss die sozialrechtliche Anwendbarkeit prüfen würde. Im Dezember 1998 reichten wir einen daraufhin umformulierten Antrag beim WBP ein, der ihn dann am 29. September 1999 mit einem – bezeichnenderweise – von einem Verhaltenstherapeuten und einem Psychoanalytiker unterzeichneten Gutachten ablehnend beantwortete. Alle dann unternommenen Bemühungen, Briefe, öffentliche Reaktionen auf die Ablehnung, Sammlung von Unterschriften prominenter Wissenschaftler und Psychotherapeuten hatten keine positive Wirkung. Die Jahrestagung der SG im November 1999 in Marburg war geprägt von Trauer, Frust und dem Gefühl, ungerecht und erniedrigend behandelt worden zu sein. Zwischen dieser Tagung, an der ich den Vorsitz der SG an Arist von Schlippe weiterreichte, bis zur Sitzung Ende 2004 in Köln, wo das zweite Projekt Anerkennung begann, wurden viele kleinen Schritte unternommen, die dann einige Jahre später zur endgültigen Anerkennung durch einen erneuerten Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie beitragen sollten. Haja Molter: Der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie (WBP) hatte 1999 der wissenschaftlichen Anerkennung der systemischen Therapie eine Abfuhr erteilt. Auf der Grundlage einer Expertise der beiden systemischen Verbände SG und DGSF im Jahre 2006 war es dann am 14. Dezember 2008 soweit, der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie gab grünes Licht für die wissenschaftliche Anerkennung der systemischen Therapie: Nach den Beurteilungskriterien des WBP kann systemische Therapie als Verfahren für die vertiefte Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten empfohlen werden. Arist hat zu Beginn von dem Dilemma gesprochen, dass einerseits die Gefahr der Margina© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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lisierung bestand und anderseits eine starke Anpassung erfolgen müsste, wenn man Essentials aus der Hand geben würde – wie der Umgang mit sogenannten »psychischen Krankheiten« aus einem systemischen Verständnis heraus. Cornelia, du bist heute die erste Vorsitzende der Systemischen Gesellschaft, wie beurteilst du die Entwicklung der systemischen Therapie seit der Anerkennung: Besteht das Dilemma noch weiter? Wie schätzt du die Situation heute ein? Cornelia Oestereich: Die Anerkennung der systemischen Therapie als wissenschaftlich begründetes und wirksames Psychotherapieverfahren war ein großer Erfolg. Ich habe mich riesig gefreut und war auch stolz – auf uns als Strategiegruppe aus den Vorständen der SG und DGSF, auf die wissenschaftlichen Autoren der Expertise, ja, auf alle Beteiligten – auf euch beispielsweise, die ihr die Weichen zum richtigen Zeitpunkt gestellt habt! Und für mich war es spannend, dass ich während der Erstellung der Expertise dazukam und nach dem Einreichen beim WBP die Achterbahn der Gefühle (»Schaffen wir die Anerkennung? Ja? Nein? Vielleicht jetzt noch nicht? Ah, jetzt wieder gute Nachrichten – aber noch vertraulich …«) hautnah miterleben konnte. Jetzt bedarf es der nächsten Schritte, nämlich der sozialrechtlichen Anerkennung – damit die systemische Therapie auch den Patienten zugute kommt –, und der Anerkennung als Richtlinienverfahren. Das genannte Dilemma möchte ich heute eher als besondere Herausforderung beschreiben: Die lehrenden systemischen Therapeuten und Supervisoren in den zukünftigen, zur Approbation führenden Ausbildungsinstituten, die die Vertiefung in systemischer Therapie (ein umständlicher Name, nicht wahr) anbieten werden, werden nämlich aufgefordert sein, das systemische Menschenbild in seinen Beziehungen und den systemischen Umgang mit Krankheitsverständnis und Diagnosen, mit Pathologie und Therapieverfahren zu lehren und systemisch-didaktisch so umzusetzen, dass die Konzepte erfahrbar und erlebbar werden, und diese Konzepte nicht in ein Gegenüber, sondern eher in ein Nebeneinander zu den klassischen medizinisch-psychotherapeutischen Herangehensweisen, den Diagnoseklassifikationen und Therapieleitlinien zu stellen, die sie ebenfalls lehren müssen. Sie werden den Aspekt der Sinnhaftigkeit © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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und der Nützlichkeit der unterschiedlichen Ansätze in unterschiedlichen Kontexten und die Kybernetik zweiter Ordnung in einem vorgegebenen curricularen Rahmen verdeutlichen müssen. In den systemischen Verbänden haben sich hierzu übergreifend Arbeitsgruppen gebildet. Ich bin sehr gespannt auf die Ergebnisse! – Derzeit hat der G-BA (der gemeinsame Bundesausschuss der Selbstverwaltung der Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten sowie der Krankenhäuser und Krankenkassen) in einer Vorprüfung die systemische Therapie nach seinen Kriterien bewertet. Die Bewertungskriterien sind andere als beim WBP – und wir müssen uns in Geduld üben und trotzdem Gespräche führen und die Interessen der systemischen Therapie und der zukünftigen approbierten Therapeuten vertreten. Ich sehe aber eine neue Gefahr: nämlich bei all den Bemühungen um Anerkennung als Richtlinienpsychotherapieverfahren diejenigen systemisch Aktiven aus den Augen zu verlieren, die in anderen Kontexten als dem Gesundheitssystem die systemische Beratung oder Supervison, Coaching oder Organisationsentwicklung anwenden. Diese brauchen auch den wissenschaftlichen Diskurs zur Weiterentwicklung der systemischen Konzepte. Sie brauchen die Multiprofessionalität und die Interdisziplinarität des Diskurses ebenso wie auch die zukünftigen approbierten Psychotherapeuten, die den Schwerpunkt systemische Therapie wählen. Denn dieser Austausch, diese Multiperspektivität und das Denken in übergreifenden Zusammenhängen, Kontexten und Netzwerken ist ja gerade das Besondere an der systemischen Arbeit und dem systemischen Denken. Diese Aspekte müssen wir systemisch Denkenden und Handelnden uns erhalten und befördern. Im Übrigen werden wir nicht nur Ausbildung, Weiterbildung und Fortbildung in systemischem Denken und Handeln benötigen, sondern auch Forschung in den unterschiedlichen systemischen Kontexten. – Es geht also weiter! Und es bleibt spannend! Haja Molter: Jochen, dir als erster Vorsitzender der DGSF stelle ich die gleiche Frage, wie beurteilst du die Entwicklung? Besteht das Dilemma noch weiter? Jochen Schweitzer: Ich sehe mehrere Gefahren, die aber zu bewältigen sind, wenn wir klug und offensiv damit umgehen. Ich habe © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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im März 2011 einen Strategietag beider Verbände in Frankfurt initiiert. Wir haben dazu Befürworter wie Kritiker einer möglichen kassenfinanzierten systemischen Therapie eingeladen. Es kamen knapp 30 prominente Vertreter des Feldes. Dort haben wir mögliche negative Nebenwirkungen zusammengetragen und diskutiert, wie diesen entgegengewirkt werden könnte. Ich will drei davon kurz skizzieren: – Kassenfinanzierte Psychotherapie kann Richtlinien bekommen, die das Potenzial systemischer Strategie strangulieren könnten. Jedoch werden für die systemische Therapie eigene Richtlinien entwickelt werden müssen, die wir dann zwar nicht entscheiden, aber mitbeeinflussen können. Hier müssen wir m. E. für Richtlinien und Finanzierungsregeln eintreten, welche einen kurzzeittherapeutischen Ansatz mit Mehrpersonengesprächen, aufsuchendem Arbeiten, Teamarbeit inklusive Reflecting Teams und Kooperation mit Mitbehandlern, Integration von Erwachsenen- und Kinder-/Jugendlichentherapie besonders fördern. – Wenn es systemische Approbationsausbildungen gibt – die sind ja schon am Leben bzw. im Werden –, dann müssen wir diese möglichst eng mit den bisherigen systemischen Weiterbildungsgängen verknüpfen. Sie sollten von DGSF-/SG-Instituten angeboten werden, »unter dem selben Dach«, und in engem auch personellem und räumlichem Kontakt mit den DGSF-/SG-zertifizierten Weiterbildungsgängen. – Die derzeitige Richtlinientherapie ist ja nicht nur deshalb zu kritisieren, weil systemische Therapie als Verfahren noch nicht dazu gehört. Das jetzige System lädt ein zur regelmäßigen wöchentlichen, nach Möglichkeit nicht zu kurzzeitigen Einzeltherapie mit Mittelschicht-Patienten mit eher »internalisierenden« Störungen. Deshalb ist es im Zugang sozial ungerecht und die Wartezeiten sind oft zu lang. Sobald die systemische Therapie ins System »hineinkommt«, muss sie m. E. dort in Zusammenarbeit mit fortschrittlichen Kollegen und Kolleginnen der anderen Verfahren an diesen Missständen etwas ändern. Ja: Die systemische Therapie wird sich ändern, wenn sie ins Kassensystem kommt. Ich hoffe und glaube, sie wird dann wie bei jeder Ko© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Evolution gleichermaßen zu wichtigen und produktiven Änderungen des kassenfinanzierten Psychotherapiesystems beitragen. Man darf die praktische Bedeutung der Themen Kassenzulassung und Approbation für die systemische Szene und die systemischen Verbände nicht überschätzen. Ich würde für die DGSF schätzen, dass maximal ein Viertel unserer Mitglieder, unserer Fachgruppen, unserer internen Mitteilungen und Diskussionen, unserer Projektgelder sich mit diesen Themen überhaupt befassen. Für die anderen Mitglieder und Gruppen aus der sozialen Arbeit, der Pädagogik, der Seelsorge, der Unternehmensberatung, der Mediation und anderen Feldern haben sie keine oder nur minimale praktische Relevanz. Ich bin mir auch sicher, dass das zuweilen beklagte Erlahmen der epistemologischen und theoretischen Debatten nichts mit diesen berufspolitischen Prozessen zu tun hat, sondern mit dem Älterwerden des Ansatzes und seiner Protagonisten. Wir müssen uns mehr mit den aktuellen Konfliktlinien konfrontieren, anstatt nostalgisch die 1980er Jahre zurückzusehnen. Wir sollten den Rückstand zu den angelsächsischen Ländern aufholen, der unseren Umgang mit Diversität, also mit »ageism, racism, sexism, classism« betrifft – mit Migranten, Flüchtlingen, Hartz-IV-Empfängern, Schwulen und Lesben, mit den Problemen der Lebensspanne. Insbesondere »Geld und Zeit«, deren produktive Verwendung und deren zunehmend ungleichere Verteilung sollten uns als Herausforderung auch als systemische Therapeuten und Berater beschäftigen. Mir wäre ein Anliegen, die ökosystemischen (multisystemischen, Multifamilien-aufsuchenden) Ansätze besser weiterzuentwickeln. Und wir sollten verstärkt die heute 20- bis 40-Jährigen einladen, dabei aktiv mitzumischen. Ich habe 1983 mit 29 Jahren meine erste Supervisionsgruppe und 1989 mit 35 Jahren meinen ersten systemischen Weiterbildungsjahrgang geleitet und war damit damals gar nicht untypisch. Wie viele Endzwanziger-Supervisoren und wie viele Mittdreißiger-Kursleiter haben wir heute in unseren Weiterbildungsinstituten? Haja Molter: Jürgen, du hast durch deine Auseinandersetzung mit systemischen Theorien und deinem leidenschaftlichen Einsatz für einen wissenschaftswürdigen Umgang mit systemischer Therapie – so vermute ich – entscheidend im WBP mit dazu beigetragen, dass die systemische Therapie die wissenschaftliche Anerkennung erhalten © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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hat. Die systemische Therapie befindet sich zurzeit in Wartestellung zur sozialrechtlichen Anerkennung. Wie beurteilst du die Entwicklung und was sollte deiner Meinung nach von den beiden Verbänden weiter unternommen werden? Jürgen Kriz: Ich halte es für wichtig, dass einerseits der »Weg durch den G-BA« zur sozialrechtlichen Anerkennung in der BRD stringent verfolgt wird, dass dabei aber andererseits beide Verbände darauf achten, dass ihre Kräfte und Ressourcen nicht verschlissen werden. So ist es nämlich den Verbänden der Gesprächspsychotherapie in ihrem seit rund zwei Jahrzehnten dauernden Kampf gegen die Winkelzüge eines mit wirklich allen Mitteln verschleppenden und verhindernden G-BA gegangen – und das sollte zur Warnung gereichen. Ob die Kräfte, die mit unvorstellbar destruktiver und unredlicher Finesse im G-BA dessen Entscheidungen manipulierten, noch heute und in Bezug auf die systemische Therapie so viel Energie entfalten werden, vermag wohl niemand abzuschätzen. Immerhin sind die Pfründe von Ausbildungsinstituten und Kassensitzen weitgehend verteilt und haben den sogenannten Richtlinienverfahren das Monopol und die damit verbundenen Einnahmequellen und Machtpositionen gesichert. Und selbst unter Kollegen der Verhaltenstherapie wächst zunehmend die Einsicht, dass dieser kurzfristige Nutzen den angerichteten langfristigen Schaden für die Psychotherapie, ihre Pluralität und Weiterentwicklung insgesamt nicht aufwiegt. Aber immerhin liegt die dem WBP mühsam abgerungene Feststellung, dass die systemische Therapie wissenschaftlich und wirksam ist, trotz der auch dort langen Verzögerungen nun seit Jahren vor – und ein G-BA, dem wirklich am Wohl der Patienten und der Versorgung läge, hätte längst ein Verfahren beginnen und abschließen müssen. Dass es immer noch darum geht, wer wann welchen Antrag stellt, kommt mir nur zu bekannt vor und sollte keine zu großen Hoffnungen auf ein recht bald positiv abgeschlossenes Verfahren durch den G-BA wecken. Die großen Ressourcen des systemischen Ansatzes jenseits des medizinischen Systems von Kassen und Richtlinien liegt in dem eher größer werdenden Sektor von Beratung bis Coaching. Diese sind, wie auch die gemäßigten Konstruktivisten wissen, zunächst einfach Begriffe, die so oder so praktische Bedeutung erlangen müssen. Ange© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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sichts der Tatsache, dass z. B. »Psychotherapie« – mit einem zudem immer mehr »gläsern« werdenden Bürger – die zunehmend wichtige private Rentenversicherung gefährdet oder mit großen Aufschlägen verteuert, wird sich die Einsicht herumsprechen, dass es vielleicht billiger ist, sich nicht vom Kassensystem behandeln und registrieren zu lassen. Vielmehr gibt es zunehmend Gründe, lieber zu jemand zu gehen, der hohe Qualifikationen als Psychotherapeut hat, sich aber im G-BA-System z. B. »Gesundheitsberater« oder »Gesundheitscoach« oder noch kreativer nennen muss. Den selbst zu bezahlen, spart ein Vielfaches an überhöhten Rentenversicherungsbeiträgen ein. Gerade als Systemiker wissen wir doch um die Relevanz von Reframing und von Adaptabilität an scheinbar unveränderliche Bedingungen. Das sollten wir – neben dem Weg durch den G-BA – durchaus offensiver und kreativer gestalten. Und zwar auch auf dem Sektor, in dem durch die deutsche Definitionshoheit über »Psychotherapie« ein kleines, vom G-BA bewachtes und abgeschottetes Fort inmitten einer blühenden Landschaft steht. Das Spiel mit Trojanischen Pferden ist da ebenso angebracht wie das weitere Klopfen an die Eingangstür – vor allem aber auch die Nutzbarmachung der blühenden Landschaften drum herum (konkret: der großen Fülle an außer-»therapeutischen« Feldern und Bedürfnissen in unserer Gesellschaft). Letztlich geht es auch um Überwinterung: Denn ich kann mir nicht vorstellen, dass in einigen Jahrzehnten ein so rigides, wissenschafts- und entwicklungsfeindliches System wie die deutsche Richtlinientherapie, mit ihren absurden »Reinhaltungsgeboten« etc. nicht längst abgelöst sein wird. Ähnlich wie die systemische Therapie längst wissenschaftlich anerkannt war, bevor der WBP dies langwierig und mühsam nachvollzogen und verkündet hat, ist sie auch längst stärker sozialrechtlich etabliert: in Kliniken, aber auch in Praxen (egal unter welchem reframend-adaptiven Begriff ) und selbst in der Psychotherapeutenausbildung. So mache ich z. B. beim Rhein-Eiffel-Institut mit, das eine Ausbildung mit der Approbation in »tiefenpsychologisch fundierter Therapie« anbietet mit gleichzeitigem Erwerb eines Weiterbildungszertifikates der Landeskammer in systemischer Therapie. Dies ist eines der Trojanischen Pferde – das sicherlich viele Fohlen bekom© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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men wird; und hoffentlich werden sich bald noch viele weitere und anders aussehende Pferde auf dieser Wiese tummeln. Egal, was der G-BA macht und mit welchen Tricks, Finten oder Verschleppungen er die Tür zu seinem kleinen Fort verrammelt: So wird denn beharrliches Anklopfen nicht zu einem lebensentscheidenden Frust, sondern zu einer netten, lockeren Nebenbeschäftigung – auch wenn sie, wie alle Nebenbeschäftigungen, mit der genügend rituellen Ernsthaftigkeit betrieben werden sollte. Kurz: Nehmen wir doch unseren eigenen Ansatz (noch) ernster: dass nämlich nicht die Dinge selbst, sondern unsere Meinungen, Ansichten und Begrifflichkeiten von diesen Dingen die Realität der Strukturen unserer Lebenswelt schaffen! Eine systemische Weisheit, die weit über zweitausend Jahre alt ist. Haja Molter: Ich danke euch allen. Mir ist deutlich geworden, dass wir damit rechnen müssen, dass ein erfreulicher Aufwind weht und der Gegenwind einen langen Atem hat.
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Intuition – Plädoyer für die Abschaffung eines Begriffes Arist von Schlippe
Die Demontage unseres Bildes vom sicheren Wissen Wie können wir eigentlich etwas wissen? Seit Jahrhunderten befassen sich Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie mit dieser Frage. Immer wieder mussten Bastionen der Selbstverständlichkeit der Erkenntnis geräumt werden, nach der die Wahrnehmungen der Alltagswelt genauso wie die wissenschaftliche Erkenntnis sich auf »reale Dinge« beziehen, die »wirklich« vorhanden sind. Das selbstverständliche »So-Sein« der Welt wurde problematisiert. In schrittweisen Etappen, die ich an dieser Stelle nur ansatzweise skizzieren kann, wurden alle Vorstellungen der Möglichkeit definitiven Wissens zerschlagen. Der logische Empirismus stellte den naiven Empirismus in Frage, nach dem es möglich sei, »wahre« Erkenntnisse über die Natur zu sammeln. Dies ist aus Sicht des logischen Empirismus nicht möglich, denn theoriefreie Beobachtung ist nicht möglich. Wissenschaft beginnt also nicht mit Erfahrung, sondern mit Theorie, mit der Formulierung von widerspruchsfreien und überprüfbaren Sätzen, die auf Beobachtungsdaten bezogen werden können. So könne es möglich sein, schrittweise zur Erkenntnis der Wirklichkeit zu gelangen. Diese Überlegungen wurden durch Popper in Frage gestellt, der nur noch erlaubte, von Wahrheitsnähe zu sprechen, da es immer nur eine begrenzte Zahl von Beobachtungen gebe, die sich niemals auf alle möglichen Ereignisse der Welt beziehen könnten, ein positives Wissen, dessen man sicher sein könne, gebe es nicht (Herzog, 1984, S. 3). In einem seiner Texte zitiert Popper den Vorsokratiker Xenophanes, den er übrigens selbst in Hexameterform übersetzte:
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Intuition – Plädoyer für die Abschaffung eines Begriffes
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Nicht von Beginn an enthüllten die Götter den Sterblichen alles, aber im Laufe der Zeit finden wir suchend das Bessere. Sichere Wahrheit erkannte kein Mensch und wird keiner erkennen, über die Götter und alle die Dinge, von denen ich spreche. Sollte einer auch einst die vollkommenste Wahrheit verkünden, wüsste er selbst es doch nicht. Es ist alles durchwebt von Vermutung. (Popper u. Albert, 2000, S. 223)
Für Popper bedeutet Wissenschaft das Aufstellen von durchaus gewagten Hypothesen, deren Kriterium ihre Falsifizierbarkeit sein müsse. Wenn sie sich als falsch erwiesen, seien wir der Wahrheit ein Stück näher gekommen. Er ersetzt also den Wahrheitsbegriff durch den schwächeren der Wahrheitsnähe. In den 1960er Jahren wurde auch diese Vorstellung, die immer noch das Bild eines kumulativ weiter wachsenden Wissens um die Welt beinhaltete, durch die Theorie von Thomas Kuhn erschüttert. Er versteht Wissenschaft als ein Unternehmen sozialer Akteure, die auf dem Boden bestimmter Prämissen, wie die Welt zu sehen sei, ihre Modelle entwerfen und verfeinern. Wenn sich die modellimmanenten Widersprüche häufen, komme es zu einem Paradigmenwechsel, einer wissenschaftlichen Revolution auf der Ebene der basalen Prämissen der Erkenntnis (Stegmüller, 1979; s. a. Kriz et al., 1987). Dieser Wechsel wird aber nun, so Kuhn, nicht etwa als Fortschritt begrüßt, sondern vielmehr von den Vertretern des alten Paradigmas heftig bekämpft. Sie werden nicht überzeugt, sie sterben aus. Zunehmend setzte sich die Wissenschaftstheorie mit der Frage auseinander, wie eigentlich der Gegenstand von Erkenntnis konstituiert wird. Die Frage danach, wie die Dinge sind, verschob und verschiebt sich immer mehr auf die Frage, auf welchen Prämissen eigentlich die Erkenntnis der Dinge beruht, wie wir erkennen. Wer sich mit Fragen der Kybernetik erster und zweiter Ordnung befasst hat, dem werden diese Gedanken vertraut sein. Tatsächlich haben sich auch Vordenker der systemischen Praxis an diesen Überlegungen beteiligt, zu nennen sind an dieser Stelle Namen wie Heinz von Foerster, Ernst von Glasersfeld, Ken Gergen. Fazit aus diesem ersten Abschnitt: Das mehr oder weniger einhellige Urteil der jahrhundertealten Diskussion um die Frage nach der Wahrheit der Erkenntnis lautet: Diese ist nicht möglich. Wie wir © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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es auch drehen und wenden, wir sind nicht in der Lage, wahre Aussagen zu machen.
Intuition – Eine letzte Bastion sicheren Wissens? So ist also »ganz Gallien besetzt«, sprich, es gibt eine breite Einigkeit über die Unmöglichkeit wahren Erkennens. Ganz Gallien? Nein, es gibt ein Schlupfloch der wahren Erkenntnis: ein kleines unbeugsames Dorf leistet Widerstand. Intuition ist sozusagen das Asterixdorf der Erkenntnistheorie. Denn intuitive Erkenntnis hat einen besonderen Anspruch auf Wahrheit. Aus einem mir nicht erklärbaren Grund ist gerade heutzutage Intuition sehr im Gespräch. Sogar die Zeitschrift des deutschen Hochschullehrerverbandes widmete ihr einen Artikel (Haupt, 2009), das Buch »Bauchentscheidungen – Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition« von Gerd Gigerenzer wurde zum Wissenschaftsbuch des Jahres 2007 erklärt. Der Spiegel (April 2007) schrieb unter dem Titel »Die Macht des Unbewussten«: »Der Mensch weiß viel mehr, als er denkt. In seinem Unbewussten lagern riesige Wissensschätze. Wer es versteht, sie freizulegen, kann wahre Wunder vollbringen.« Vielleicht ist genau der letzte Halbsatz das, was uns aktuell so fasziniert: angesichts zunehmender Unsicherheitsgefühle einen Ort zu haben, der Sicherheit bietet – und auch noch scheinbar so gut erreichbar ist, nämlich in uns selbst: die Intuition. Als Intuition wird zum einen die Fähigkeit betrachtet, angesichts einer großen Komplexität auf Anhieb eine richtige Entscheidung zu treffen, ohne die Komplexität des Feldes rational durchdrungen zu haben. Im psychotherapeutischen Bereich sprechen wir von Intuition, wenn es möglich ist, die Emotionalität des Gegenübers schnell zu erfassen, vor allem die noch nicht ausgedrückten, nur erfühlten Aspekte. Für C. G. Jung war Intuition eine Funktion, mit der man »buchstäblich um die Ecke sehen« könne (zit. nach Kriz, 2001, S. 58). Die rechte Gehirnhälfte scheint der Ort zu sein, an dem intuitive Entscheidungen gefällt werden, und zwar unbewusst, unter Umgehung der Rationalität. Der Preis für den Einsatz der Intuition ist der Verzicht auf bewusstes Wissen. »Gute Intuition ignoriert Informationen«, erklärt Gerd Gigerenzer. Intuition bietet schnelle adaptive © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Heuristiken, also Daumenregeln, die eher geeignet sind, spezifische Information aufzugreifen, viele andere Informationen dagegen zu ignorieren. Gute Expertenurteile sind in der Regel intuitiv. Es wird nur auf wenige Schlüsselreize geachtet: »simple heuristics make us smart«, komplexe Probleme müssen nicht unbedingt mit komplexen Heuristiken gelöst werden. Gigerenzer (2008; s. a. 2000) berichtet von einem hoch erfolgreichen Drogenfahnder in L. A., der unter Tausenden von Fluggästen mit einer hohen Trefferquote die Drogenkuriere erkannte. Gefragt, was sein Erfolgsrezept sei, konnte er nicht antworten, erst nach einiger Zeit wurde ihm bewusst, dass er nach jemandem Ausschau hielt, der nach jemandem wie ihm Ausschau hielt (Gigerenzer, 2008, S. 23). Doch das Thema dieses Textes sollen die Risiken und Nebenwirkungen der Intuition sein und die haben damit zu tun, in welchen Sinnzusammenhängen wir von Intuition sprechen und was wir tun, wenn wir uns auf sie berufen.
Intuition als Instrument des »Sensemaking« Vergleichen Sie doch einmal diese beiden Aussagen: – Den Titel für diesen Text habe ich intuitiv gewählt. Ich habe nicht nachgedacht, plötzlich war er da. – Ich hatte das Gefühl, der Titel für diesen Text ist der Richtige. Mit welcher Aussage mache ich mich angreifbarer? Klar, mit der zweiten: Gefühle, die können irren, das haben wir alle schon erlebt (zumindest die, die schon in einer zweiten Partnerschaft leben). Aber Intuition, nein, die kann nicht irren. Der Bezug auf sie entfaltet einen besonderen Begründungszusammenhang, um ein Verhalten oder eine Entscheidung zu erklären. Wir können auch von »Sensemaking« sprechen, also einer überzeugenden retrospektiven Sinnzuschreibung für einen Vorgang. Karl Weick, der den Begriff prägte, spricht davon, dass wir im Nachhinein vor allem eine gute Geschichte brauchen, mit der wir erklären, was wir gemacht haben: »In short, what is necessary in sensemaking is a good story« (1995, S. 61). Eine Entscheidung, die wir nicht weiter begründen können, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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zu der wir aber doch mit Überzeugung stehen, bezeichnen wir als »intuitiv« und entziehen sie damit der Nachfrage. »Instinktiv« und »intuitiv« machen wir Dinge richtig. Während »Instinkt« auf einen willkürlichen Automatismus verweist, ist die Intuition daran gekoppelt, dass eine spezifische Form von Erkenntnis aktiviert wurde, zwar unbewusst, aber auf jeden Fall richtig. Der Plot des »weisen Unbewussten«, das keine Fehler macht, wird aktiviert. Intuition wird so zu einem Begründungszusammenhang, der nicht negiert werden kann, zu einer den Kommunikationsvorgang abkürzenden Unterstellung, die nicht mehr hinterfragt werden darf. Intuition kommt aus dem Unbewussten, ist daher automatisch gut und richtig. Wir sprechen vom »intuitive parenting«, also dem ohne Lernvorgang vorhandenen Wissen der Eltern, wie sie mit Säuglingen und Kleinkindern altersangemessen umgehen, wir sprechen von den »intuitiven Strategien« eines Unternehmers (meist ist es einer, der es geschafft hat, in einem undurchsichtigen Marktumfeld zu überleben – wie viele Unternehmer mit ihrer »intuitiven Strategie« gescheitert sind, wissen wir nicht). Wir sprechen von intuitiver Diagnostik und von intuitiver Didaktik. Und die »weibliche Intuition« ist sprichwörtlich, der Bezug darauf kürzt ebenfalls die Diskurse über die Frage nach richtig und falsch drastisch ab, sicher nicht zuletzt in vielen Partnerschaften (oder kennen Sie das etwa nicht von zu Hause?). Heute sehen wir weibliche Intuition auch nicht mehr mit dem etwas geringschätzigen Beigeschmack des Rationalitätsgläubigen, wie er noch in der Aussage von Stanley Hall, immerhin Gründer der American Psychological Association (APA), zum Ausdruck kommt, der 1904 über weibliche Intuition schrieb: »Sie [die Frau] lässt sich von Intuition und Gefühl leiten […] Wenn sie ihre naturgegebene Naivität ablegt und es auf sich nimmt, ihr Leben bewusst zu planen und zu reflektieren, verliert sie in der Regel mehr, als sie gewinnt, gemäß der alten Weisheit: die Frau, die nachdenkt, ist verloren« (zit. nach Gigerenzer, 2008, S. 81). Heute ist Intuition gesellschaftsfähig, folglich dürfen auch Männer sie haben, doch sind sie in ihrer Intuition der der Frauen klar unterlegen. Wenn wir also Intuition als einen Begründungszusammenhang sehen, der nicht in Frage gestellt werden kann, dann kommen wir den Risiken und Nebenwirkungen dieses Begriffs schon näher. Denn was © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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nicht abgelehnt werden kann, muss angenommen werden – und das kann in Konstellationen kritisch sein, die nicht auf gleicher Augenhöhe basieren, sondern in denen wir Machtunterschiede beobachten, etwa in Organisationen, in Familien, in der Schule oder in Therapie und Beratung – auf die ich mich im Folgenden konzentrieren möchte.
Intuition im Kontext zugeschriebener Macht – am Beispiel psychosozialer Arbeitsfelder Wer im Feld von Beratung, Supervision oder Therapie arbeitet, ist immer wieder mit einer bestimmten Klasse von Fragen konfrontiert. Klienten, Kunden, Patienten, auch dann, wenn sie nur als Klagende oder gar Besucher kommen, bringen Fragen mit, die jeweils zur Grundlage der Beziehungsgestaltung in der Beratung werden. Diese Fragen lassen sich meist im Wesentlichen um eine Emotion herum gruppieren: Hilflosigkeit. Wer die Idee hat, nicht aus eigener Kraft heraus die vor ihm liegenden Herausforderungen meistern zu können, wird um Hilfe nachsuchen – und damit dokumentieren, dass er oder sie in irgendeiner Form Hilf-los ist und ohne das Bewusstsein der eigenen Macht: ohn-Mächtig. Wer sich dem Berater/der Beraterin als hilflos präsentiert, verleiht ihm zunächst viel, manchmal absolute Macht. Nicht selten geschieht dies mit dem unbewussten Ziel, ihm diese später auch wieder zu nehmen – ich erinnere an die Konzeptualisierungen der frühen Mailänder, die sehr explizit auf das Machtspiel in Familien abzielten und auf die Versuche, die Therapeuten in dieses Machtspiel mit hineinzuziehen. In dem Moment, wo es um das Thema Ohnmacht geht, ist Macht implizit mit thematisiert. Machtzuschreibung ist ein Thema in psychosozialen Kontexten, weniger als in der Kaserne oder im Gefängnis, aber vielleicht deswegen auch schwerer zu erkennen. Auch wenn – oder gerade weil – wir aus einer systemischen Perspektive heraus Macht weniger als feststehende Gegebenheit, sondern eher als eine besondere Form sozialer Konstruktion ansehen, an der beide Seiten beteiligt sind, durchzieht das Thema implizit oder explizit die Beziehungen. Für Bateson war es nicht die An- oder Abwesenheit von Hierarchie, sondern der Glaube an die Macht, der im Zentrum von Pathologie steht. Er bezeichnete diesen als den © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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zentralen erkenntnistheoretischen Irrtum, ja mehr noch als die »erkenntnistheoretische Krankheit«, der die Menschheit unterworfen sei (1981, S. 614 ff.). Indem man in Begriffen von Macht denke, schaffe man eine sich selbst erfüllende Prophezeiung: Man beginnt, jede Interaktion in Kategorien von Manipulation, Taktik, Strategie und Kontrolle zu betrachten, sich entsprechend zu verhalten und so den Kreislauf von Machtfixierung aufrechtzuerhalten. Ich will das Thema hier nicht zu sehr vertiefen, mir ist nur wichtig, den Stellenwert von Intuition im Kontext der Zuschreibung von Macht zu diskutieren. Macht durchdringt – mit Foucault gesprochen – über ein Kontinuum von Vorstellungen und Ideen die Gesellschaft (Han, 2005, S. 51) und sie ist umso mächtiger, je stiller sie wirkt (S. 9).1 Intuition kann im Kontext ungleich verteilter, ungleich zugeschriebener Macht dann ein Instrument werden, das demjenigen, dem Macht zugeschrieben wird, einen besonderen Selektionsvorteil für eine dominante Wirklichkeitskonstruktion sichert. Dies sei an einem Beispiel verdeutlicht (nach: Schlippe et al., 2010): »Die verlorenen Locken«: Es geht um eine junge Frau, sie hatte bis vor einigen Jahren einen prachtvollen Lockenkopf, eine Löwenmähne. Keiner weiß, wieso, aber gegen Ende des Studiums verloren sich die Locken, seither trägt sie glatte Haare. Aber sie vermisst ihre Locken und so geht sie zu Ärzten und anderen Helfern, bis man ihr einen besonders fähigen Heilpraktiker empfiehlt. Dieser macht mit ihr eine Reihe seriös wirkender Tests, als deren Ergebnis sich eine Laktoseintoleranz herausstellt. Bei der Präsentation der Befunde setzt er sich mit wichtiger Miene neben sie auf die Behandlungsliege und schaut ihr tief in die Augen: »Bei dieser Art von Befunden gehen wir davon aus, dass ein schwerer Konflikt mit der Mutter besteht!« – »Ach, das glaube ich eigentlich nicht!«, sagt die junge Frau, sie erlebt zu ihrer Mutter eine herzliche und warme Beziehung. »Ja«, sagt der Behandler, »dann liegt das Problem wohl eher in Ihrer eigenen Weiblichkeit …« »Was sollte ich da sagen?«, berichtete sie später, »ich bin 25 und habe noch keinen Freund, vielleicht ist da ja was dran …« Und so kommt es zu der Empfehlung, doch einmal eine »Familienaufstellung« zu machen, er kenne da eine sehr erfolgreiche Aufstellerin in der Region. Es ist zufällig eine, von der bekannt ist, dass schon mehrere ihrer Kunden nach einer Aufstellung dort dekompen1
Luhmann definiert Macht als die Chance, die »Wahrscheinlichkeit des Zustandekommens unwahrscheinlicher Selektionszusammenhänge zu steigern« (Han, 2005, S. 16).
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sierten und dringend therapeutische Hilfe brauchten.2 Die junge Frau ist selbst Psychologin, kennt das Thema, sie sagt dem Heilpraktiker dies, was seine Motivation, weiter auf seiner Meinung zu insistieren, entscheidend verringert, und verabschiedet sich, nachdem sie sich noch heftig dagegen wehren musste, Medikamente für 300 Euro zu kaufen, die nur bei diesem Mann zu beziehen sind.
Was hat diese Geschichte mit Intuition zu tun? Auf den ersten Blick scheint sie mehr das Thema Macht im Kontext von Beratungsbeziehungen zu berühren. Doch Intuition wird hier benutzt zur unsichtbaren Festigung beraterischer Macht. Wir gehen einmal davon aus, dass der Kollege in guter Absicht gehandelt hat, dass er nicht an erster Stelle seinen Verdienst im Auge hatte, sondern selbst ehrlich an das glaubte, was er sagte. Doch der Kontext struktureller Macht verleiht seinen Worten besonderes Gewicht und verwandelt damit das »Nein«, das immer möglich ist – und insbesondere im Kontext psychotherapeutischer Interaktion auch immer möglich sein sollte –, mit einer größeren Wahrscheinlichkeit in ein »Ja«. Der Kontext validiert die Interaktion! Was wäre denn gewesen, wenn – und vermutlich wird genau das oft passieren – eine verzweifelte Frau in Not an ihn gerät, der bei der Erwähnung ihrer Mutter die Tränen in die Augen steigen? Er hätte sich bestätigt gesehen in seiner »intuitiven Diagnose« und sie wäre beeindruckt gewesen von seiner Fähigkeit, in ihr Innerstes zu blicken – und so hätten sie wechselseitig das validiert, was sie dann »Intuition« genannt hätten. Daraus hätte sich in diesem Interaktionsspiel im Kontext struktureller Macht ein Bestätigungszirkel ergeben, in dem Intuition ein bedeutsamer Begriff ist: Da kommt jemand in einer existenziellen Notsituation, ist sehr empfänglich für orientierende Information, der Berater gibt diese bereitwillig und »intuitiv« – und erlebt die bestätigende »Quittung« in Form von 2
Nicht zuletzt waren es Erfahrungen wie diese, die den Vorstand der Systemischen Gesellschaft 2004 dazu veranlassten, sich in der »Potsdamer Erklärung« explizit gegen eine Praxis der Aufstellungsarbeit abzugrenzen, in der mit einer Erkenntnistheorie, die sich mit systemischer Praxis nicht vereinbaren lässt, nach »verborgenem Wissen« und »verdeckten Wahrheiten« über Systemdynamiken gesucht wird. Hans Schindler war an dieser Erklärung sehr maßgeblich beteiligt.
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Tränen und Rührung. Beide bestätigen damit die Machtbeziehung und verfestigen das Konzept von Intuition als einer entscheidenden Form der Erkenntnis des Wahren. Zugleich wird der soziale Aspekt des Zustandekommens dieser »gemeinsamen Konstruktion« verschleiert, die Zuschreibung geht nur an eine Adresse, an die des Therapeuten, er »ist« intuitiv. Die Verführung, an den Mythos der Macht, von der Bateson sprach, zu glauben, ist in unserer Arbeit allgegenwärtig und ich bin inzwischen sehr sensibel für Zuschreibungen, man könnte sie auch Tricks nennen, mit denen wir in unserer Branche in diesem undurchsichtigen Feld operieren – ein anderer Therapeut hatte zu derselben jungen Frau übrigens einmal gesagt: »Das sind die Haare einer traurigen Frau!« – verbunden mit einem tiefen Blick in die Augen »klappt« so etwas nicht selten. Die Gefahr: So ergeben sich therapeutische Mystifikationen – und der Begriff »Intuition« hilft dabei mit, diese Mystifikationen Realität werden zu lassen. Mystifikation als Begriff bezeichnete ursprünglich in der Marx’schen Theorie die Verschleierung realer Ausbeutungsverhältnisse in der Auseinandersetzung zwischen Unternehmer und Arbeitern.3 Im psychotherapeutischen Kontext wurde er von Laing übernommen (z. B. Laing et al., 1973) für eine verrücktmachende Konstellation: Die ultimative Zuschreibung von Empfindungen und Gefühlen, die eine Person haben müsse, durch eine andere (»Ich weiß doch, was du fühlst!«) sahen die Autoren als wichtiges Moment zum Verständnis von Verrücktheit. In allen Kontexten, in denen die Gefährdung durch Zuschreibungsprozesse durch strukturelle Macht gegeben ist, ist größte Zurückhaltung und Verantwortlichkeit seitens der Profis angebracht – so etwa auch und besonders in der Arbeit mit unterprivilegierten Klientengruppen (Schindler, 2009). Die Bezugnahme auf »Intuition« für psychotherapeutisches Handeln könnte beide Seiten dazu verführen, diese Verantwortungszusammenhänge nicht nur zu leugnen, sondern gar nicht mehr wahrzunehmen: Zuschreibung von »Unfehlbarkeit« und eigene Annahme dieser Unfehlbarkeit könnten eine unheilige Allianz eingehen.
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http://www.wirtschaftslexikon24.net [Zugriff Februar 2012].
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Plädoyer zur Abschaffung eines »Jokerbegriffs« Wie kann Intuition von Willkür und Mystifikation abgegrenzt werden, vor allem dann, wenn die Mechanismen der Macht selbst nicht voll bewusst sind? M. E. ist dies unmöglich. Darum plädiere ich an dieser Stelle dafür, den Begriff Intuition abzuschaffen und ihn ersatzlos zu streichen. Eine solche Handlung wird natürlich nicht die Phänomene abschaffen können, auf die sich der Begriff bezieht – das ist auch gar nicht erstrebenswert, denn sie helfen ja oft im therapeutischen Prozess, in neue Felder vorzustoßen! Doch wenn dafür nicht mehr der Jokerbegriff der Intuition zur Verfügung steht, sind die Akteure gezwungen, sich in ihren Aussagen wieder stärker selbst zu hinterfragen. Statt »Haare einer traurigen Frau« wird dann vielleicht so interveniert: »Gerade frage ich mich, ob Sie traurig sind« – und damit wird der (fehlbare, fragende) Beobachter wieder eingeführt, den der Begriff Intuition getilgt hatte. Intuition, die sich ihrer Hinterfragbarkeit nicht bewusst ist, droht gerade im Kontext struktureller Macht der Verführung ihrer selbst zu erliegen. Die größte Gefahr hier dürfte übrigens der Erfolg sein. Wer immer wieder erlebt, dass er mit seinen Aussagen höchste Grade von Anschlussfähigkeit erzeugen kann, wer erlebt, dass Menschen ihm voller Begeisterung zustimmen, weil er »genau das Zentrum« getroffen habe, der ist vermutlich am stärksten gefährdet. Von Intuition zu sprechen, auch bei sich selbst, ist gefährlich. Denn man benebelt sich selbst. Wer sich auf Intuition als Instanz bezieht, hört auf zu fragen, es ist das Ende der Neugier, ich erinnere an Cecchins engagiertes Plädoyer für genau diese Tugend (1988). Wer sich auf Intuition bezieht, glaubt dann nicht mehr an die Möglichkeit des Andersseins – eine wesentliche Quelle systemischer Haltungen. Wenn dieser einfache Weg verlegt ist, weil das Wort »Intuition« nicht mehr verfügbar ist, dann wird es wieder mühsamer. Unsere Faszination durch die »Intelligenz des Unbewussten« ist vielleicht doch zu einem großen Teil die Faszination, endlich eine sichere Quelle von Erkenntnis gefunden haben, endlich zu wissen, welche Entscheidung richtig ist. Und das ist das Gefährliche an der Intuition. Wer das Wort »Intuition« nicht mehr zur Verfügung hat, der © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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muss zurückgehen zu dem alten, mühsameren Wort, das zu Beginn des Beitrags erwähnt wurde, zu dem Wort »Vermutung«. Vermutung ist ständiger Ungewissheit ausgesetzt, Vermutung muss sich selbst immer wieder hinterfragen und ihre Hinterfragbarkeit vor allem aktiv anbieten – etwa im Gespräch mit Klienten und Klientinnen. »Vermutung« führt in die Gespräche wieder etwas ein, das wir eigentlich gern draußen lassen wollen: Ungewissheit. Und Ungewissheit auszuhalten, ist das Schwerste für uns Menschen, es ist aber auch das, was uns menschlich macht – und was uns, wenn wir genau hinschauen, nicht so sehr von denen unterscheidet, die als Klientinnen oder Klienten zu uns kommen. Alles, was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt – der kann sich irren, denn auch seine Erkenntnisinstrumente sind menschlich. Das mag enttäuschen, auch die Klienten. Damit kann dann aber auch das gelingen, was so etwas wie die Quadratur des Kreises sein könnte, nämlich im Kontext der Zuschreibung struktureller Macht weder ihrer Verführung zu erliegen noch einfach »auszusteigen« und die eigene Ohnmacht zu erklären. Vielmehr geht es darum, Professionalität im Umgang mit den eigenen Vermutungen zu zeigen, ohne die vermeintliche Sicherheit der Intuition zu nutzen, um die eigene Unsicherheit zu absorbieren.
Literatur Bateson, G. (1981). Ökologie des Geistes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Cecchin, G. (1988). Zum gegenwärtigen Stand von Hypothetisieren, Zirkularität und Neutralität – eine Einladung zur Neugier. Familiendynamik 13 (3), 190–203. Gigerenzer, G. (2000). Adaptive thinking. Rationality in the real world. Oxford/ New York: Oxford University Press. Gigerenzer, G. (2008). Bauchentscheidungen. Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition. München: Goldmann. Han, B.-Ch. (2005). Was ist Macht? Stuttgart: Reclam. Haupt, T. (2009). Intuition wird oft belächelt. Forschung und Lehre 16, 520–521. Herzog, W. (1984). Modell und Theorie in der Psychologie. Göttingen: Hogrefe. Kriz, J. (2001). Grundkonzepte der Psychotherapie. Weinheim: Beltz/PVU. Kriz, J., Lück, H., Heidbrink, H. (1987). Wissenschafts- und Erkenntnistheorie. Opladen: Leske + Budrich. Laing, R. D., Phillipson, H., Lee, A. (1973). Interpersonelle Wahrnehmung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
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Luhmann, N. (1984). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Popper, K., Albert, G. (2000). Vermutungen und Widerlegungen. Das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis. Tübingen: Mohr Siebeck. Schindler, H. (2009). Arbeitslosigkeit, Armut, Depression und Psychotherapie. Systhema 23 (2), 179–188. Schlippe, A. von, Fischer, H.-R., Borst, U. (2010). Wie viel Macht der Intuition? Familiendynamik 26 (2), 162–164. Stegmüller, W. (1979). Rationale Rekonstruktion von Wissenschaft und ihrem Wandel. Stuttgart: Reclam. Weick, K. (1995). Sensemaking in organizations. London/Thousand Oaks, CA: Sage.
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Zwischen instrumentellem Denken und existenzieller Erfahrung1 Einige Überlegungen zum Helfen in der Not Wolfgang Loth
The essence of good therapy. To be able to descend with people into their hell and yet keep one foot in possibility-land. (Bill O’Hanlon, 2003, S. 15)
Wenn ich über Sinn und Zweck meiner Arbeit als professioneller Helfer nachdenke, komme ich immer wieder auf diesen Satz von Bill O’Hanlon, den ich als Motto für meinen Beitrag ausgesucht habe. Wie ein stets präsentes Rauschen im Hintergrund begleitet er mich – anregend und verstörend zugleich. Wie geht das: Systemische Praxis und mit einem Bein in jemandes Hölle einsteigen und eins im Möglichkeiten-Land verankern? Wie macht man das? Systemisches Möglichkeiten-Land, ja gut, denkbar, aber Hölle? Was lässt sich daraus machen? Machen?! Und so gerät das »Dazwischen«, die Lage zwischen instrumentellem Denken und existenzieller Erfahrung, wie von selbst zum Thema des Nachdenkens über Helfen in der Not. In seinen Überlegungen zur Zukunft der Psychotherapie schreibt Peter Fuchs: »Die Therapie ist aufgeladen mit Existenzialität. Vielleicht könnte man sagen: mit Lebens- und Sterbensernsthaftigkeit« (2011a, S. 50). Therapie sei keine »Freizeitbeschäftigung für gelangweilte Menschen«, sondern es gehe »um einen Einsatz […], darum, dass etwas aufs Spiel gesetzt wird« (S. 50). Und was ist es, das da aufs Spiel gesetzt wird? Fuchs beschreibt die Lage in »ausdifferenzierten Gesellschaften«, in denen es nicht mehr möglich sei, einem Bedürfnis nach Übereinstimmung mit sich selbst gerecht zu werden – wenigs1
Überarbeitete und erweiterte Fassung eines Beitrags auf der Jahrestagung der Systemischen Gesellschaft in Marburg im September 2010 zum Thema »Lebenswandel als Dialog« – Forum: Philosophie und systemische Praxisformen.
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tens nicht ohne weiteres. In seiner systemtheoretischen Reflexion beschreibt Fuchs psychische Systeme als »via Wahrnehmung sinnerlebende Systeme. Für sie gibt es Sinnbrüche, Sinn-Aberrationen, Unoder Wahnsinn. Wird die Reproduktion sinnförmiger Operationen gestört, wodurch auch immer, ist die Psyche existenziell betroffen, vor allem, wenn sie miterlebt, dass ihre soziale Adresse bzw. ihre soziale Anschlussfähigkeit aus dem Ruder läuft« (2011a, S. 102). Was in der Therapie »aufs Spiel gesetzt« wird, ist somit das Bild von sich selbst, vielleicht genauer: das Bild von sich selbst, wie man es aus dem Blick der Anderen vermutet. Wenn nichts stört, ist dieses Bild meist unhinterfragte Leitplanke für das eigene Leben. Wenn dieses Bild nicht zusammenzubringen ist mit dem, was ansonsten Halt gäbe (auch dies nicht ambivalenzfrei: Halt könnte sowohl erhofft wie befürchtet werden), wird es eng. Wem es, aus welchen Gründen auch immer, wichtig (womöglich: lebenswichtig) ist, sich selbst als zuverlässig stimmig zu erleben (oder: »jemand Bestimmtes zu sein«, und dies überdauernd), hat unter den Bedingungen einer ausdifferenzierten Gesellschaft schlechte Karten. Nicht nur, dass dieser Mensch keine für alle Lagen mehr geltenden Rollen vorfindet, er/sie sich also rollenflexibel zeigen müsste, sondern auch, dass er/sie in dieser Rollenflexibilität auch für unterschiedliche Zuschreibungen auf sich als Person herhalten muss. Während es vielleicht noch möglich erscheint, den jeweiligen allgemeinen Erwartungen gerecht zu werden, die sich je nach Rolle unterscheiden, wird es bei den personspezifischen Erwartungen schon enger: Diese sind nicht mehr allgemein, sondern richten sich an spezifische (benannte) Adressen. Dies lässt sich immer schwerer unter einen Hut bringen, je bedeutsamer die jeweilige Rolle erscheint, je widersprüchlicher sich die daraus ergebenden Aufgaben darstellen und je druckvoller die personspezifischen Erwartungen erlebt werden. Das Kunststück, heute gleichzeitig gute Eltern und gute Arbeitnehmer/-innen zu sein, ist nur ein Beispiel dafür, wenn auch ein sehr folgenreiches.2 Ebenso 2
Vgl. z. B. Statistisches Bundesamt (2011); siehe auch die im Jahr 2008 gestartete, auf 14 Jahre angelegte Längsschnittuntersuchung mehrerer deutscher Universitäten »zur Erforschung der partnerschaftlichen und familialen Lebensformen in der Bundesrepublik Deutschland«: http://www.pairfam. uni-bremen.de/; Einführung: Huinink u. Feldhaus (2008).
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folgenreich wirkt diese Dynamik im Fall unfreiwilliger Erwerbslosigkeit (Schindler u. Otto, 1990; Schindler, 2009). Brandtstädter (2001) sieht darüber hinaus »gewisse Entsprechungen zwischen den Lebensumständen der Moderne und den adaptiven Herausforderungen des Alterns« und erwähnt in diesem Zusammenhang »Probleme der Verknappung von Handlungsressourcen, der zunehmenden Zukunftsunsicherheit und, damit verbunden, der Aufrechterhaltung langfristiger Sinn- und Zielperspektiven« (S. 22). Insgesamt erweist sich die Thematik der »kritischen Lebensereignisse« als eine nicht abschließend zu bändigende Herausforderung dafür, sich mit sich selbst, mit Anderen und »mit der Zeit an sich« im Reinen zu fühlen – wenigstens nicht mit allen drei Bereichen gleichzeitig (vgl. Filipp, 2007; Filipp u. Aymanns, 2009). In verschärfter Form kann das mit dem Gefühl korrespondieren, »keinen Boden mehr unter den Füßen zu haben«, »kein Land mehr in Sicht«, nicht mehr mithalten zu können oder »auf dem falschen Dampfer zu sein«. In diesem Zusammenhang könnte der Begriff der »Unperson« brauchbar sein, den Fuchs in seinen Überlegungen diskutiert. »Unperson« als eine Art Privatlösung, im Sinne von: mehr oder weniger heimliche bzw. »unsichtbar« gehaltene Reaktions- und Verhaltenskomplexe. Innere Immigration, Flucht in Phantasiewelten, aber auch Inszenierungen von Irrelevanz3 ließen sich hier ansiedeln. Was dieses Zwischenlager möglicher Antworten auf das Motiv der inneren Stimmigkeit von einer wirklichen Lösung unterscheidet, ist die Not, genau dann, wenn auf diese Weise Stimmigkeit hergestellt wird, nicht mehr in soziale Bezüge zu passen, die – aus welchen Gründen auch immer – jemandem als unverzichtbar gelten. Mit anderen Worten: Die Wahrscheinlichkeit für Störgeräusche der jeweiligen Unperson ist höher, als jemandem lieb sein mag. Was würde geschehen, wenn das, was die Unperson zurückhält, durch irgendeine Weise doch öffentlich, also Bestandteil der spezifischen Erwartung an diese (benannte) Person würde? »Dann bist du draußen«, »they never come back«, »Hast du schon gehört, der hat doch …!!?«, und manche tun ihre Pflicht, indem sie »plötzlich und unerwartet aus einem Leben für
3
Sensu Satir (1990).
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(die Familie/die Arbeit/den Verein/… – je nach Gusto und Leitbild) gerissen wurden«. Dann geben sie ein letztes Beispiel. Die von Fuchs angesprochenen psychotherapeutischen »Strategien, die zu viablen Identitätskonzepten führen«, müssten also entweder dafür sorgen, – dass die Scham geringer wird (Unperson nicht mehr als Bedrohungspotenzial), – der Latenzschutz der Unperson undurchlässiger wird (die Gnade des zuverlässigen Blackout), – die Unabhängigkeit von Bewertungen der Personzuschreibungen steigt (souveräne Autonomie) oder – dass das sozialverträgliche Bedienen der Unperson möglich wird und damit das Eröffnen eines erweiterten Personspektrums. Dies nun sind »eigentlich« eher ungewöhnliche Themen aus systemischer Sicht, sie scheinen eher zu humanistischen, personzentrierten Konzepten zu passen. Und doch, wenn systemische Perspektiven auch als valide Hilfen in solcher Not zur Verfügung stehen sollen, nützt es nichts, den Blick ausschließlich auf soziale, kommunikative Kontexte zu richten als dem Medium, das zur »unmittelbaren« Beobachtung zur Verfügung steht. Systemische Therapie nicht nur als Expertin für »Tabula-rasa-Themen« (Hauptsache Kommunikation, und wenn möglich anders), sondern auch für die Unwägbarkeiten »polyphrener« Selbsterfahrung (vgl. Ludewig, 2011). Ich plädiere daher für eine systemisch-existenzielle Perspektive (Loth, 2010). Und was könnte das mit Gegenwind und Aufwind zu tun haben, den Leitmetaphern dieses Buches? Als erste Idee: Gegenwind und Aufwind nicht als Gegensätze anzunehmen, sondern als Elemente eines Zusammenwirkens, zu dem im Übrigen auch noch Rückenwind gehört, ebenso wie Flauten oder Sturm. Und so wie Luft an sich nur indirekt wahrnehmbar ist, über ihre Folgen und ihre Markierungen durch andere Elemente (wie Sand im Sandsturm), so könnte auch systemische Therapie ein Leben führen, das sich in unterschiedlicher Form verwirklicht und dabei dennoch nicht beliebig ist. Mir scheint, dass sich aus solchem Blick wie von selbst philosophische Fragen ergeben, die es oft genug mit dem Gegenwind unmittelbarer Wirksamkeitsforderungen zu tun bekommen. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Systemische Therapie und ihre Gretchenfrage Ich möchte im Folgenden darüber nachdenken, wie sich systemische Therapie im Spannungsfeld zwischen Wirken als Maßnahme und Wirken als kommunikative Teilhabe denken lässt. Vielleicht lässt sich die Entwicklung der systemischen Therapie sehr knapp so skizzieren4: – »Mailänder Anfänge«: Fokus auf System als erweitertes kommunikatives Spielfeld; dabei »Wirken« weiterhin verstanden als möglichst präzises Einwirken (Interventionen); – »konstruktivistische Wende«: Wirken als aufmerksames Mitwirken innerhalb eines sozialen Gebildes (inter esse); – in den letzten Jahren: Trend zu einer Art Kanon von Anwendungswissen und zum Packen von Interventions-Koffern (interventive Kooperation). Als Gretchenfrage ließe sich hier stellen: Wie hältst du’s mit der Idee der Intervention? Diese Frage führt wieder in das anfänglich erwähnte »Dazwischen«, in das Gelände zwischen instrumentellem Denken und existenzieller Erfahrung. Instrumentelles Denken erscheint »an sich« als ein Merkmal fortgeschrittener Lebewesen. Köhlers (1917, 1999) Affen machten ja deswegen Furore, weil sie wider Erwarten in der Lage waren, sich Leckerbissen mit Hilfe geeigneter Gegenstände heranzuholen. Sie konnten sich offenbar geeignete Gegenstände als zweckdienliche Instrumente vorstellen. Dass und wie Menschen in zunehmendem Tempo die Fähigkeit weiterentwickelten, Instrumente nicht nur zu nutzen, sondern auch herzustellen, und dies jeweils in Dimensionen, die für vorangehende Generationen undenkbar erscheinen mochten, ist Teil des Allgemeinwissens. In seiner Maximierung ist instrumentelles Denken jedoch unter dem Begriff der »instrumentellen Vernunft« kritisch reflektiert worden: als »zweckrational bestimmte Vernunft, die die Welt ausschließlich als Gegenstand technischer Manipulation, die Natur (auch die menschliche) allein als subjektiven 4
Ausführlicher z. B. Levold (2008, 2011).
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Zwecken und Interessen verfügbares Objekt betrachtet« (Romeder, o. J.).5 Über kritische philosophische Betrachtungen hinaus reicht heutzutage ein einziges Wort, um Folgen instrumenteller Hybris zu kennzeichnen: z. B. »Fukushima«6. Existenzielle Erfahrung ist somit durchaus möglich im Kontext instrumentellen Denkens – als Folgeerscheinung der genannten Hybris (wieder z. B. »Fukushima«). Grundsätzlich verweist sie jedoch auf einen davon unterschiedenen Bereich und meint hier die Art von Erfahrung, die über das individuell-empirisch beschreibbare lebensgeschichtliche Dasein hinaus weist. Im Unterschied zu den Erfordernissen instrumentellen Denkens entzieht sich solche Erfahrung den Bemühungen einer technisch verstandenen Manipulation. Es geht dabei nicht darum, ob das Bemühen groß und ausdauernd genug war – der Widerspruch besteht in sich, folgt man Jaspers’ Argument: »Es ist die wesentliche Frage des menschlichen Tuns, was es planvoll als Zweck wollen kann und was nicht; oder was es begehren kann und was als begehrt gerade verschwindet; oder was es planend auch faktisch erreichen kann, und was es dadurch, daß es zweckhaft wird, gerade unmöglich macht« (1960, S. 121). Deutlich werden kann das am Begriff der Grenzsituation, wie Jaspers ihn verwendet. Er schreibt: »Situationen wie die, daß ich immer in Situationen bin, die ich nicht ohne Kampf und ohne Leid leben kann, daß ich unvermeidlich Schuld auf mich nehme, daß ich sterben muß, nenne ich Grenzsituationen. Sie wandeln sich nicht, sondern nur in ihrer Erscheinung; sie sind, auf unser Dasein bezogen, endgültig. Sie sind nicht überschaubar; in unserem Dasein sehen wir hinter ihnen nichts anderes mehr. Sie sind wie eine Wand, an die wir stoßen, an der wir scheitern. Sie sind durch uns nicht zu verändern, sondern nur zur Klarheit zu bringen, ohne sie aus einem Anderen erklären und ableiten zu können. Sie sind mit dem Dasein selbst« (Jaspers, 1932, S. 203).
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Zitat: http://dr-phil.info/vernunft.htm; zur »Kritik der instrumentellen Vernunft«: Horkheimer (1967/2007). Unabhängig von Tagesaktualität: Altner (1991).
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Erste Schritte im Spannungsfeld »dazwischen« Ich gehe davon aus, dass professionelles Helfen in der Not einen geschützten Rahmen dafür bereitstellen muss, sich sowohl ernsthaft für erreichbare Ziele einzusetzen als auch sich den Herausforderungen von Grenzsituationen zu stellen. Hierzu scheint es mir notwendig, – zwischen veränderbaren und nicht veränderbaren Aufgaben zu unterscheiden, – zwischen möglichen Zielen und möglichen Ergebnissen zu unterscheiden und – zwischen den Beiträgen therapeutisch-beraterischer und den Beiträgen philosophischer Praxis zu unterscheiden7. Die genannten Unterscheidungen können dabei helfen, das eigene Handeln an den Anliegen der Hilfesuchenden zu orientieren.8 Anliegen können sich nicht nur darin unterscheiden, wie ausformuliert sie vorgebracht werden; sie können sich auch in der allgemeinen Richtung unterscheiden, in die sie weisen. Sie können sich sowohl auf das Lösen umgrenzter Aufgaben beziehen als auch auf die umfassendere Auseinandersetzung mit der eigenen Person und dem Leben, das jemand führen möchte. Mir scheint, dass es brauchbar ist, hier zwischen beraterisch-therapeutischen und philosophischen Zugängen zu diesen Anliegen zu unterscheiden. Ich gehe dabei von zwei Thesen aus: – These 1: Psychosoziale Therapie/Beratung und philosophische
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Zu Philosophischer Praxis siehe besonders Gutknecht et al. (2008). Im Prinzip wären bereits durch die Wahl des Wortes »Praxis« Vorzeichen gesetzt: Mit Verweis auf die aristotelische Unterscheidung kann praxis als etwas gelten, das »allein dadurch, dass sie existiert, bereits Sinn macht«, im Unterschied zu poiesis, die »ihren Sinn und Wert allein aus der Güte des Produktes (bezieht), das hergestellt wird« (Maio, 2011, S. 133). Die Auseinandersetzung mit Fragen des Wertes aus sich heraus und der Wertzuschreibung per Mach-Werk hat also schon lange Tradition. Allgemein zum Unterscheiden von Anlässen, Anliegen und Aufträgen und zum Übersetzen dieser Unterscheidungen in praktische Angebote zur Hilfe siehe Ludewig (1992, 2005), Loth (1998, 2005, 2011b), Hargens (2004).
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Praxis nähern sich der Frage des Helfens aus zunächst gegensätzlichen Positionen: Therapie und Beratung orientieren sich an der Möglichkeit, zu einem Ende zu kommen: Ziele sollen erreicht, Probleme aufgelöst werden. Philosophische Praxis orientiert sich an der Auseinandersetzung mit dem »Umgreifenden«: an der Unruhe, am nicht Lösbaren, am Überdauernden. – These 2: Diese beiden Positionen können nicht in eins gebracht werden. Sie können sich jedoch annähern. Sie können sich umso eher annähern, je eindeutiger Helfen als Beisteuern zum Erfahren von Sinn verstanden wird.
Endliche vs. unendliche Geschichten Die in These 1 angesprochene unterschiedliche Ausgangsperspektive der beiden Praxisformen lässt sich vielleicht mit dem Gegensatzpaar »endliche vs. unendliche Geschichten« illustrieren. Die Endlichkeit einer Geschichte setzt zwingend voraus, dass sie empirisch übersetzt, untersucht und bewertet werden kann. Darin unterscheidet sie sich von unendlichen Geschichten und mir scheint es brauchbar, hier noch einmal auf Jaspers zu verweisen, der kurz und knapp formuliert: »Dasein ist empirisch da, Existenz nur als Freiheit« (1932, S. 2). Wie kann ich das für eine reflektierte Praxis nutzen? Zunächst lässt sich annehmen, dass sich Daseinsfragen und Existenzfragen nach unterschiedlichen Regeln entwickeln. Wieder Jaspers: »Für Dasein ist das Handeln aus möglicher Existenz fragwürdig, denn Daseinssorge um seinen Bestand in der Zeit muß sich gegen das Unbedingte wenden, dessen Weg ihr zweifelhaft ist, da er für das Dasein Verluste bringen und zur Vernichtung führen kann. Daseinssorge möchte das existentielle Tun unter Bedingungen seines eigenen Bestandes setzen« (1932, S. 2). Das heißt: Was immer sich an weiterführenden Möglichkeiten eröffnen mag, wird erst dann zu einem »realisierbaren« Projekt für mich, wenn mir zunächst einmal genügend sicher scheint, dass ich mein Leben, wie ich es kenne, weiterführen kann: Etwas soll anders werden, wenn ich so bleiben kann. Was hier vielleicht etwas zögerlich wirken mag, ist im Prinzip einer © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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der wesentlichen motivationalen Momente bei der Entscheidung für oder gegen praktische Konsequenzen, die sich aus der Suche nach hilfreichen Wendungen ergeben (vgl. Loth, 2011a). Für Jaspers, der sich als Philosoph den existenziellen Fragen zuwendet, gelten als Zugang zu hilfreichen Entwicklungen die Bereitschaft und Fähigkeit zur existenziellen Kommunikation. Es lassen sich aus meiner Sicht grundlegende Querverbindungen zu sozialkonstruktionistischen Positionen9 erkennen, wenn Jaspers etwa schreibt: »Denn auch den Sinn der Kommunikation erreiche ich nicht durch mein eigenes Tun allein; es muß das Tun des Anderen entgegenkommen. […] Wird der Andere in seinem Tun nicht eigenständig er selbst, so auch ich nicht. […] Erst im gegenseitigen Anerkennen erwachsen wir beide als wir selbst. Nur zusammen können wir erreichen, was jeder erreichen will.« Und – sowohl in Sprache wie Gehalt herausfordernd: »Das Selbst hat seine Gewißheit in dieser Kommunikation als der absolut geschichtlichen, von außen unerkennbaren. Allein in ihr ist das Selbst für das Selbst in gegenseitiger Schöpfung. In geschichtlicher Entscheidung hat es durch Bindung an sie sein Selbstsein als isoliertes Ichsein aufgehoben, um das Selbstsein in Kommunikation zu ergreifen« (Jaspers, 1932, S. 57 f.). Solche für das Einlassen auf existenzielle Themen gedachten Anregungen markieren deutlich einen Knackpunkt für die beraterisch-therapeutische Praxis. Denn diese Art existenzieller Kommunikation ist nach Jaspers »empirisch nicht vorhanden; ihre Erhellung ist philosophische Aufgabe« (S. 51) und »Das Endziel ist in der Kommunikation nicht zu wissen« (S. 70). Wenn ich mich in therapeutisch-beraterischer Praxis davon anregen lasse, stehe ich somit vor der Frage: Wie kann ich so helfen, dass – in einem umgrenzten Bereich brauchbare (empirisch fassbare) Schritte erfolgen können, – während gleichzeitig die Verbindung zu existenzieller Freiheit nicht unterbrochen wird? Mir scheint die Lösung darin zu bestehen, einerseits den Blick auf umgrenzte Themen zu richten, zu deren Erhellung und praktischer 9
Gergen (2002); Gergen u. Gergen (2009).
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Brauchbarkeit beizutragen, und andererseits gleichzeitig davon auszugehen, dass eine endliche Geschichte nur dadurch dabei zustande kommt, dass darüber eine persönlich motivierte »Kooperation auf Zeit« vereinbart wurde. Diese vereinbarte Kooperation auf Zeit umfasst folgende Momente (Loth 2006, 2007): – Die prinzipiell nicht abschließbare Komplexität des Lebendigen wird als valider Ausgangspunkt anerkannt. Leben ist stets mehr als die mitteilbaren Aspekte, aber die mitteilbaren Aspekte reichen in der Regel völlig aus, um sich auf den Weg zu machen. Dabei bleibt klar, dass man zwar auf Wegen die Welt umwandern kann, dass die Welt jedoch nicht nur aus Wegen besteht. Solange klar ist, dass man am Ende »nur« etwas über die Wege wissen kann (bzw. über die Erfahrungen auf diesem Weg) und nur etwas darüber, ob einem die Wegstrecke ergiebig und hilfreich genug vorkam oder nicht (ob einem also dieser Ausschnitt aus der prinzipiell nicht abschließbaren Komplexität ausreicht oder nicht), und insofern die Idee der Freiheit (Weg weiter erforschen oder nicht) im Spiel bleibt, sind sowohl Zielorientierung wie existenzielle Freiheit als Idee berücksichtigt. – »Es geht« auf diesem Weg um die gemeinsame Suche nach Möglichkeiten, sich auf »brauchbare« Aufträge zu verständigen, die ein Thema herausgreifen, es zieldienlich reflektieren und zu einem akzeptierten provisorischen Ende bringen. – Von grundlegender Bedeutung erweisen sich dabei die Beziehung zwischen Hilfesuchenden und Hilfeanbietern und das sich darauf aufbauende abgestimmte Vorbereiten eines Ergebnisses, das von den Hilfesuchenden selbst als sinnvoll eingeschätzt und als hilfreich erlebt wird (Loth u. von Schlippe, 2004). Helfen erweist sich somit als Hilfe zur Selbsthilfe und zielt auf das Unterstützen des Selbstwirksamkeitserlebens der Hilfesuchenden. – Dieser im Grunde lebenslange Prozess kann nur unter zwei Bedingungen portioniert werden: unter künstlichen Bedingungen (etwa im Labor), in Form von Absprachen darüber, was gelten soll für den Weg zum Ziel »Hilfe erfolgt«. Letztlich bleibt Sinn eine »Lebensaufgabe« (von Schlippe, 2005).
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Helfen als Beisteuern zum Erfahren von Sinn »Beisteuern ist nicht das Gleiche wie Steuern. Es ist aber auch nicht das Gleiche wie einfach dabeizusitzen. Beisteuern meint die Kompetenz, sich erkennbar, verantwortlich und anschlussfähig daran zu beteiligen, Perspektiven zu weiten und neue Möglichkeiten zu erschließen, ohne dies einseitig und allein entscheidend tun zu können« (Loth, 1998, S. 41 f.). Während sich über die Idee des Beisteuerns beschreiben lässt, dass ein auch existenziell brauchbares Helfen nicht einseitig gesteuert werden kann, ist damit noch nicht gesagt, wie Sinn in die Geschichte kommen kann. Wann weiten sich Perspektiven? Und wie erschließen sich neue Möglichkeiten? Ein Begriff wie »Sinn« liegt mir hier nahe, auch und gerade weil er nicht im Geringsten so eindeutig verwendet wird, wie es scheinen mag (Loth, 2012). Mir scheint, es lassen sich wenigstens drei Zugänge zu Sinn beschreiben: – Sinn als Bedeutung, – Sinn als Bedeutung »unter Umständen«, – Sinn als »laufendes Aktualisieren von Möglichkeiten«. Sinn als Bedeutung: intuitives Verständnis von Sinn
Umgangssprachlich wird etwas als sinnvoll betrachtet, wenn es in der Lage ist, dem Ungewissen einer Erfahrung einen brauchbaren Rahmen zu geben. Dieser Rahmen erklärt etwas, was vorher unbegreiflich schien, zumindest unbegriffen. Diese Erklärung entlastet, indem sie eine Erfahrung unter positive(re)n Vorzeichen zugänglich macht. Unter diesem Vorzeichen verliert die betreffende Erfahrung ihre Fremdheit und kann prinzipiell dem eigenen Bereich zugeordnet werden. Sozusagen: Eine Erfahrung hat dann »Sinn gemacht«. Allerdings ist auch dann, wenn eine Erfahrung Sinn gemacht hat, noch nicht unbedingt klar, »wozu das gut sein soll«. Das heißt, ohne weitere kontextuelle Rahmung bleiben auch Sinnerfahrungen offen für unterschiedliche Bewertungen. Was wäre etwa zu sagen gegen eine Überlegung wie die folgende von Meggle, wenn er über Sinnfragen schreibt: »Sinnfragen […] sind Handlungen, die zwar äußerlich betrachtet Äußerungen von Sätzen in Frageform sind, in Wirklichkeit aber gar keine echten Fragen ausdrücken. Sie sind etwas ganz anderes. Es sind Handlungen mit einer versteckten Bot© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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schaft. Sie sind ein ziemlich verlässliches Signal dafür, dass mit dem Betreffenden etwas nicht stimmt« (1997, S. 184). Sinn als Bedeutung »unter Umständen«
Unter Umständen könnte auch Wittgenstein weiterhelfen, unabhängig davon, ob wir mit ihm »an der Oberfläche« bleiben oder uns nicht davon abhalten lassen, ein wenig hinter die Kulissen zu schauen. Nehmen wir: »Ist nicht die Frage ›Haben diese Worte Sinn?‹ ähnlich der: ›Ist das ein Werkzeug?‹, indem man, sagen wir, einen Hammer herzeigt. Ich sage ›Ja, das ist ein Hammer‹. Aber wie, wenn das, was jeder von uns für einen Hammer hielte, woanders z. B. ein Wurfgeschoß oder Dirigentenstock wäre. Mache die Anwendung nun selbst« (Wittgenstein, 1970, Satz 351). Eine Anwendung scheint mir z. B. möglich in Bezug auf die Idee des Reframings. Reframing, so folgere ich aus dem »unter Umständen«, funktioniert nicht als Intervention. Sondern: Reframing verstehe ich als das Ergebnis eines Zusammenspiels an den Grenzen möglicher Bedeutungen. Sinn kann nicht einfach »gemacht« werden, auch wenn manches »Sinn macht«, was man tut auf der Suche nach Sinn. Daher meine These: Sinn ist kein Ziel, sondern ein (mögliches) Ergebnis. Die sich daraus ergebende weiterführende Frage ist: Wie kann ich einem solchen möglichen Ergebnis dienen? Sinn als »laufendes Aktualisieren von Möglichkeiten«
Luhmann spricht von Sinn als etwas »basal Instabiles«: »Sinn haben heißt eben: daß eine der anschließbaren Möglichkeiten als Nachfolgeaktivität gewählt werden kann und gewählt werden muss, sobald das jeweils Aktuelle verblaßt, ausdünnt, seine Aktualität aus eigener Instabilität selbst aufgibt« (1987, S. 100). Sinn erhält aus solcher Sicht keine spezifische, inhaltliche Bedeutung, sondern erschließt sich für Beobachter ausschließlich daraus, ob sich Kommunikation fortsetzt oder nicht. Systemtheoretisch betrachtet erweist sich Sinn als eine Art Leerformel: Der »Sinn« vom Sinn ist nicht vorgegeben, sondern erschließt sich aus dem, was geschieht. Sinn somit als Unterschied zwischen der Fülle des Möglichen und dem, was sich tatsächlich zeigt. Dass das, was geschieht, nicht mit Sicherheit vorausgesagt werden kann, ist nicht entscheidend. Entscheidend ist die Aufmerksamkeit © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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für das, was geschieht. Diese Aufmerksamkeit ist das Kennzeichen für Nichtwissen10. Kennzeichnend für Wissen wäre: (Abweichungs-)Kontrolle. Die Aufgabe lautet daher: Nichtwissen annehmen. Nichtwissen lässt sich sowohl als Ergebnis philosophischen Denkens beschreiben wie auch als pragmatische Haltung in systemischer Praxis.
Nichtwissen philosophisch Im Rahmen philosophischen Reflektierens scheint Nichtwissen als Haltung und als Lösung denkbar. Als Haltung verwirklicht sie sich in der Bereitschaft, sich nicht auf ein »Wissen von einem Gegenstand« zu richten, sondern als »Ziel und Sinn eines philosophischen Gedankens […] die Veränderung des Seinsbewußtseins und der inneren Haltung zu den Dingen« anzunehmen (Jaspers, 1960, S. 68 f.). Ein Begriff wie »Existenzerhellung«, wie er für Karl Jaspers zentrale Bedeutung gewinnt, könnte ansonsten leicht missverstanden werden als ein Ansinnen, das Wesentliche sichtbar zu machen und somit als »Wirklichkeit« fassbar. Dem hält Jaspers entgegen: »Existenzerhellung erkennt nicht die Existenz, sondern appelliert an ihre Möglichkeiten« (S. 66). Dieses Appellieren an die Möglichkeiten wiederum bietet sich aufs Erste als Verbindungsstück zu therapeutisch-beraterischer Praxis an. Fuchs (2011b) weist darauf hin, dass Möglichkeit das »Antonym von Wirklichkeit« ist, so wie Wirklichkeit »der aktuelle Ausschluß von Möglichkeiten«. Genau dies steht in therapeutisch-beraterischer Praxis auf der Agenda: aus einem (womöglich) zwingend erscheinenden Wirklichkeitseindruck (»Problem!«) die Möglichkeit alternativer Wirklichkeiten entstehen zu lassen, aus denen heraus wiederum ein möglichst stabiler Wirklichkeitseindruck entstehen kann, der erwünschter ist als der ursprünglich beklagte.11 10 Als zentrales Moment kollaborativer Therapiekonzepte: u. a. Anderson u. Goolishian (1992); Anderson (1999). 11 Das Unterscheiden von Wirklichkeitseindruck (im Singular und im Notfall als eine eindeutige Angelegenheit so erlebt) und möglichen Wirklichkeiten (im Plural) wird von Peter Fuchs (2011b) betont und erscheint mir wie ein missing link zwischen einem (beliebigen) Allerweltskonstruktivismus und dem, was Fuchs empirischen bzw. naturalen Konstruktivismus nennt. Erst
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Was sich für therapeutisch-beraterische Praxis als leitmotivische Anwendungsidee erweist, wäre für Karl Jaspers als Bestandteil philosophischer Erwägungen nicht sinnvoll. Er möchte existenzerhellende Aussagen unterscheiden von solchen, die auf einen Inhalt als etwas Gewusstes zielen, aus dem »ein zweckhaft zu planender Willensinhalt abgeleitet würde. […] Dann werden in der Folge dieses Missverstandes existenzerhellende Begriffe angewendet, um andere Menschen und mich selbst, ihr Verhalten und meines, unter sie zu subsumieren, es wird also Existenzerhellung wie Psychologie verwendet« (S. 120). Aus Jaspers’ Sicht zielt eine Haltung des Nichtwissens daher nicht auf eine Lösung im Sinne des konkreten Erschließens von »gangbaren« Auswegen aus Daseinsnöten, sondern auf eine radikale Lösung im Sinne eines »echten Scheiterns«: »Wer philosophiert, drängt zum wissenschaftlichen Wissen, weil es der einzige Weg ist zum eigentlichen Nichtwissen. Es ist, als ob die großartigste Erkenntnis gerade dadurch erwüchse, daß der Mensch die Grenze sucht, an der das Erkennen strandet, nicht falsch und vorläufig, sondern eigentlich und endgültig strandet, nicht in Verlust und Verzweiflung, sondern im eigentlichen Innewerden. Erst ein vollendetes Wissen würde das vollendete Nichtwissen ermöglichen, erst hier gelänge das echte Scheitern, in dem das Sein selbst, nicht mehr das erlernbare Seiende offenbar würde« (1949, S. 12).
Nichtwissen pragmatisch Im Unterschied zu philosophischem Nichtwissen richtet sich Nichtwissen in der therapeutisch-beraterischen Praxis auf praktikable Lösungen – praktikabel im Sinne von möglichst erreichbarem Nutzen für die Daseinssorge. Nichtwissen sollte hier also nicht als »generelle beraterische Unwissenheit« missverstanden werden (Lindner, 2004). Nichtwissen ist nicht dasselbe wie Nicht-weiter-Wissen. Stattdessen eröffnet Nichtwissen Gesprächsräume, die »wie von selbst« Sichtweisen und Motive derjenigen beleben, die letztlich darüber befinden werden, ob das Angebot zur Hilfe auch in erlebter Hilfe der »Wirklichkeitseindruck« macht aus Therapie eine »lebens- bzw. sterbensernsthafte« Angelegenheit (vgl. Fuchs, 2011a).
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mündete. Nichtwissen kann sich wesentlich leichter mit dem verbünden, was Hilfesuchende bewegt – auch »bewegt« in Richtung möglicher Lösungen. Mir scheint, dass Luhmann dies auf eine ungemein anregende und plausible Weise auf den Punkt gebracht hat, als er sagte: »Das Interessante ist die Frage, unter welchen Bedingungen ein System anregungsoffen für Zufälle ist, und wie eine Umwelt aussehen kann, daß genügend häufig Gelegenheiten angedient werden. Wie kann man eine therapeutische Praxis so gestalten, daß die Gelegenheiten häufiger kommen, als sie von selbst kommen würden? Wie kann man von vornherein in der Kommunikation ein System so anlegen, daß eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür besteht, daß irgendetwas so Nutzbares gesagt wird, obwohl man das nicht voraussehen kann?« (1988, S. 132). Für die Praxis ergeben sich daraus Anregungen für Therapeuten und Therapeutinnen, dafür zu sorgen, dass sie selbst zuhören, hinsehen und ein Gefühl des Begreifens entwickeln können. Sie erkunden ihre Möglichkeiten, ein Geschehen aus der Sicht der Hilfesuchenden nachzuvollziehen. Sie bieten dadurch die Möglichkeit zum Erfahren einer Ähnlichkeit an, die es Hilfesuchenden evtl. erlaubt, diese (eigentlich) Außensicht probeweise als Variation ihrer eigenen Binnensicht zu behandeln. Die unvermeidlichen Abweichungen von der (ursprünglichen) Binnensicht können somit probeweise vielleicht dem »eigenen Bereich« zugeschrieben werden. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit dafür, dass Hilfesuchende sich selbst als wirksam erfahren können, zum Fluss der Ereignisse erkennbar beizusteuern. Wenn und indem dies geschieht, ist die Bedingung der Möglichkeit für Sinnerleben gegeben sowie praktisch die Möglichkeit, sich weiter aneinander anzuschließen. Fragen dazu: – Wie trage ich dazu bei, dass aus prinzipiell Flüchtigem etwas Andauerndes wird, dessen Vorkommen ich erwarte? – Will ich, dass das so bleibt? Oder bevorzuge ich »eigentlich« etwas anderes? – Wie passt beides zu dem, wie ich mich »in der Welt« erfahren möchte (in Beziehung zu [bestimmten] Anderen)? – Wie entscheide ich für mich, ob ich dies für mich als sinn-voll zu erachte (oder nicht)? © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Konsequenzen für das Verständnis von philosophischer im Unterschied zu therapeutischberaterischer Praxis Philosophisches und pragmatisches Nichtwissen können als Umwelten füreinander genommen werden, die sich beim »Beisteuern zum Erfahren von Sinn« gegenseitig anregen. Aus einer philosophischen Perspektive frage ich: Kann ich begreifen, was ich nicht erfassen kann? Und kann ich im Umgang mit dieser Herausforderung eine mir gemäße Form finden? Aus einer pragmatischen Perspektive frage ich: Wie kann ich auf einem Weg (vor)gehen, der nicht gewusst werden kann, in seinem Verlauf jedoch nicht beliebig ist? Ich möchte die Wechselwirkung zwischen diesen beiden Frageperspektiven eine existenzielle Orientierung auf dem Weg zu pragmatischen Provisorien nennen. Ich nehme als Ausgangspunkt, dass als Anlass für das Nachfragen um professionelle psychosoziale Hilfen meistens zugespitzte Daseinsfragen bedrängen. Hierbei spielen die zu Anfang angedeuteten Stolperstellen einer »ausdifferenzierten Gesellschaft« eine wesentliche Rolle. Es wird in der Regel zunächst darum gehen, diese Daseinsfragen miteinander so zu erkunden, dass mögliche Ansatzpunkte für einen alternativen (leichteren, sinnvolleren) Umgang damit erkennbar werden. Solange dies auf eine sichtbar zufriedenstellende Weise vorangeht, dürfte der Daseinsaspekt sinnvoll im Vordergrund bleiben. Daseinsfragen lassen sich jedoch nicht immer in bevorzugte Veränderungsbewegungen übersetzen, die Hilfesuchende »sinnhaft« überzeugen (so dass sie zunehmend sicherer daran anschließen). Dies kann dafür sprechen, Daseinsfragen in umfassenderem Sinn zu erkunden. Unter Umständen führt dies zur Auseinandersetzung mit Grenzsituationen (sensu Jaspers). Eine »existenzielle Orientierung« beraterisch-therapeutischer Hilfen zeigt sich dann darin, – sich vor dem Thema Grenzsituation weder zu verschließen – noch Grenzsituationen als auflösbar zu betrachten. Dies setzt die Bereitschaft voraus, – das Nichtlösbare mit auszuhalten, jedoch – den Umgang mit Nichtlösbarem als veränderbar zu erkunden, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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– dies für die alltägliche Lebenspraxis als sinnhaft (= anschlussfähig) zu erschließen – und dabei zu ermutigen, die »in der Not erreichte Vertrautheit« mit Grenzsituationen nicht auszufädeln, sondern für zukünftige Herausforderungen zu nutzen. Es bleibt somit dabei, dass auch eine existenziell orientierte therapeutisch-beraterische Praxis ein vereinbartes Ende anstrebt. Dabei kann jedes Ende als Provisorium angesehen werden, solange ein empirisches, individuelles Leben weitergeht. In diesem Sinn lässt sich ein komplementär befruchtendes Verhältnis von therapeutischberaterischer und philosophischer Praxis annehmen: – Eine existenziell orientierte therapeutisch-beraterische Praxis konzentriert sich auf Möglichkeiten konstruktiver Daseinssorge – und zieht dabei auch das Umgreifende in Betracht, das jegliche Daseinssorge prinzipiell zu einem Provisorium werden lässt. – Eine lebensweltlich orientierte philosophische Praxis konzentriert sich auf Existenz als das Umgreifende – und zieht dabei auch die Friktionen des Alltags und der Daseinssorge in Betracht als die Stolperstellen, die in der Regel jedes Bemühen um umfassendere Erkenntnis »auf den Boden der Tatsachen« holen.
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Zwischen instrumentellem Denken und existenzieller Erfahrung
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»Eigentlich bin ich ganz anders, ich komme nur so selten dazu« – Was hat Karl Valentin mit systemischer Therapie zu tun? Elisabeth Nicolai
Der systemischen Therapie und Beratung haftet manchmal der Ruf an, sie sei zu kognitiv und zu wenig gefühls- und erlebnisorientiert. Tatsächlich spielen in der systemischen Therapie kognitive Prozesse eine große – aber keine ausschließliche – Rolle. Geschichtlich ist der Bezug klar: Die Idee, alles sei Kommunikation (Watzlawick, Beavin u. Jackson, 1969), führte zu der Erfindung zirkulärer und hypothetischer Interviewmethoden (Selvini Palazzoli et al., 1981) und revolutionierte damit psychotherapeutische Vorgehensweisen. Lösungsorientiert ging man davon aus, dass Probleme durch das gemeinsame reflektierende Sprechen des gesamten Familiensystems veränderbar seien. Die bisher eingefahrenen Muster und Interaktionen können so besprochen werden, durch zirkuläre Fragen wird es den Beteiligten selbst möglich, die Wechselwirkungen in den Interaktionen zu entdecken, und durch hypothetische Fragen werden sie angeregt, in bisher nicht gedachten Möglichkeitsräumen neue Lösungsideen zu generieren. Das Faszinosum systemischer Therapie bestand und besteht bis heute in der Wirkung, die das bloße reflexive zirkuläre Denken und Sprechen über die Folgen der im System vorhandenen Wirklichkeitskonstruktionen auszulösen vermag. Gemäß Bateson geht es bei Veränderungsprozessen um die Kreation von Information, die einen Unterschied herstellen, irgendwo in den bisher für unveränderlich geglaubten Zusammenhängen und Wechselwirkungen der Geschichte, die ein Mensch von sich und der Welt erzählt und die er sich selbstreferentiell permanent bestätigt (Maturana u. Varela, 1987; Luhmann, 1984). Wenn Menschen in Beratung oder Therapie kommen, wünschen sie in irgendeiner Weise eine Veränderung bei sich, bei anderen oder © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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der Situation, in der sie sich befinden. Die selbstreferentiell erzeugte Geschichte bildet durch Wiederholung und selektive Bestätigung einen sicheren Lebensraum mit begrenzten, aber stabilisierenden Möglichkeitskonstruktionen. Dieser »das bin ich«-Möglichkeitsraum steckt gleichzeitig die scheinbar unüberwindlichen Grenzen zu den vielleicht gewünschten Lösungsräumen hin ab. Wir sind in der eigenen Geschichte gefangen und vernetzen uns – mit dieser Erwartung, wie die Welt ist und wir in ihr – mit anderen, deren innere Prozesse vergleichbar ablaufen. Das Ausmaß an Komplexität dieser sogenannten Erwartungs-Erwartungen (Luhmann, 1984) und ihrer zahlreichen Verstrickungsmöglichkeiten ist leicht denkbar. In der Therapie nutzen wir verschiedene Methoden, um die Verstörung der Erwartungs-Erwartungen zu ermöglichen. Wir können ja nie wirklich sicher sein, ob eine Verstörung eintritt, ob anregende Veränderungen wahrgenommen werden oder nicht, aber wir können Angebote machen.
Verstörungsangebot »Postkarten« Als ein solches Angebot in therapeutischen Prozessen mit Einzelklienten nutze ich seit langer Zeit eine inzwischen umfangreiche Postkartensammlung. Ich stelle Bilder zur Verfügung, die einen kleinen Erwartungsbruch bereits in sich tragen. Etwas Ungewöhnliches, das die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich zieht. Gerald Hüther (2004) zufolge sind unsere inneren Bilder, Visionen und Ideen, im Gehirn abgespeicherte Muster, die wir benötigen, um auf die Herausforderungen unseres täglichen Lebens reagieren zu können. Laut Hüther verfügt das Gehirn sowohl über die Fähigkeit, Muster auszubilden, als auch neue Verbindungen zu kreieren. Jedoch ist Neues stets an die bereits vorhandenen Hirnstrukturen angebaut und daher jeweils als Erweiterung zu verstehen, die durchaus weitreichend sein kann, aber im Prinzip vom Vorhandenen ausgeht. Wenn ich also eine größere Auswahl an Bildern darbiete, die in sich jeweils eine kleine Muster- bzw. Erwartungsverstörung tragen, so bietet der Auswahlprozess durch den Klienten mindestens zwei interessante Aspekte: Zum einen ergibt sich die Frage, wo dieses © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Angebot bei dem Klienten an bereits Bestehendes andockt, insofern, dass er sich diese und nicht eine der anderen Karten auswählt. Zum anderen stellt sich die Frage, wie der Klient mit dem Erwartungsbruch nun weiter umgeht, welche Anregungen und Verstörungen im wahrsten Sinne daraus »erwachsen«, wenn wir im Sinne Hüthers an eine Erweiterung der Strukturen und im Blick auf die Therapie an die Generierung neuer Lösungsmöglichkeiten denken.
Fallbeispiel Die Mitarbeiterin eines Sozialdienstes suchte meine Hilfe im Einzelcoaching, da sie sich den Anforderungen ihrer steigenden Fallzahlen nicht mehr gewachsen sah. Sie wählte diese Karte aus.
Abbildung 1: »Rotkäppchen hat sich entschlossen, doch nicht zur Großmutter zu gehen« © Frank Kunert
Im Märchen ist die zentrale Botschaft, Rotkäppchen solle sich nicht davon ablenken lassen, seiner Pflicht, die kranke Großmutter zu versorgen, nachzukommen. Nun wird in der Karte ein überraschendes Angebot gemacht, das zum Weiterdenken einlädt, wenn sich Rotkäppchen entschließt, nicht den Erwartungen der Umwelt gerecht zu werden. Die Klientin entwickelte in der Reflexion über die Karte und die damit verbundenen Themen einige Ideen zur Lösung ihres Überlastungsproblems. Eine andere Karte zeigte vier Rocker in Lederkleidung, die aus zartem Chinaporzellan mit fein abgespreiztem kleinen Finger Tee trinken. Dieses Bild wählte die Mitarbeiterin eines Allgemeinen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Sozialen Dienstes aus, die sich selbst in einer »Problemtrance« ihren Klienten gegenüber beschrieb. Sie könne selbst nicht mehr über die Probleme hinausschauen. Mit dem Bild assoziiere sie die raue Schale der Klienten, mit denen sie arbeite. Gleichzeitig musste sie lachen, da diese Typen ja auch eine witzige Seite hätten, in der Art, wie sie sich bemühten, »sich gut zu benehmen«. Das innere Bild, dass die Klienten sich ja möglicherweise, von ihr unbemerkt, sehr bemühten, nehme sie mit zu den nächsten Hausbesuchen. Was hat Karl Valentin mit all dem zu tun?
Karl Valentin (1882–1948) selbst nannte sich Humorist, Komiker und Stückeschreiber. Der Humor seiner Sketche und Stücke beruhte insbesondere auf seiner Sprachkunst und seinem »Sprach-Anarchismus«; 1924 lobte ihn der Kritiker Alfred Kerr als Wortzerklauberer. Karl Valentin könnte mit diesen Selbstkonstruktionen sehr gut an systemische Denkwelten anschließen als jemand, der humorige Verstörungen bewirkte, indem er in der Verwendung der Sprache Erwartungsbrüche erzeugt. Einige Postkarten-Zitate
»Jedes Ding hat drei Seiten, eine positive, eine negative und eine komische« Erwarten wir nicht wie selbstverständlich, dass jedes Ding zwei Seiten hat? Tag und Nacht, laut und leise, schwarz und weiß, heiß und kalt … Fortgeschrittene erwarten, dass es nicht nur um die beiden Pole geht, sondern auch um die Zwischenstufen, die Grautöne zwischen schwarz und weiß, die Töne zwischen laut und leise. Die Differenzierung wird aber hier um eine nicht passende Kategorie erweitert, jedes Ding hat eine negative, eine positive und eine komische Seite. Die Verstörung wird durch die Assoziationen hervorgerufen, die mit dem Komischen meistens verbunden sind. Das Komische ist ein freies Element, es erlaubt uns in dieser Betrachtung eine Metaperspektive, von der aus man über sich selbst und die Geschicke schmunzeln kann. »Prognosen sind schwierig, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen« Moment – Prognosen betreffen doch immer die Zukunft. Und ja, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Prognosen sind schwierig, weil man ehrlicherweise zugeben muss, dass man nie weiß, wie es wirklich kommt. Und doch sind Prognosen stabilisierend. Sie geben das Gefühl, als wüsste man doch etwas über die Zukunft, das sich nur noch bestätigen muss. In Anlehnung an die Zeitlinienarbeit von Hans Schindler (1995) ist das flexible Hin- und Herpendeln zwischen dem aktuellen Bild der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ein wichtiger Teil der therapeutischen Arbeit. Die Bedeutung der Prognosen zu relativieren, ermöglicht unter Umständen etwas mehr Abstand von negativen Verallgemeinerungen in einer schwierigen akuten Lage. »Eigentlich bin ich ganz anders, ich komme nur so selten dazu« Der Mensch als Geschichtenerzähler, der sich selbst einschränkt durch die stetige Verfestigung seiner Geschichten, möchte sich mehr erlauben, scheint es aber nicht zu können. Die Frage der Veränderung entscheidet sich an der Selbstbegrenzung dessen, was für möglich gehalten wird. Wenn die Plastizität des Gehirns sich in der Ausbildung neuer Strukturen stets an bereits vorhandenen orientiert, so scheint es richtig, dass wir angebaute, erweiterte, aber nicht beliebige neue Lösungen und Veränderungsmöglichkeiten er-finden können. In diesem Sinne ringen die Klienten oftmals um das Wie und Was, aber nicht um das Wann. Eigentlich bin ich ganz anders, eröffnet also zunächst die Kontingenz, die Vielfalt der Entscheidungsmöglichkeiten als Anknüpfungspunkt. Die Anregung, oder man könnte auch sagen: der Erwartungsbruch, besteht dann darin, dass wir die Zeit üblicherweise nicht als Grund für das Nicht-Nutzen von Möglichkeiten sehen. Ist dieser Zusammenhang im Sinne eines Lösungspfades für den Klienten attraktiv, kann er leichter auf Veränderungspotenziale zugreifen, da es nur noch um die Bereitstellung von Zeit, nicht um grundsätzliche Fähigkeiten geht. Anregungen aller Art
Es gibt eine ganz Reihe anderer Zitate, die ich Klienten zur Auswahl anbiete, um darüber mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Meine Hypothesen zu den möglichen Anregungen und Verstörungen sind dabei nur ein Ausgangspunkt für eine spannende Erkundungsreise mit den Klienten. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Literatur Hüther, G. (2004). Die Macht der inneren Bilder. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Luhmann, N. (1984). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Maturana, H. R., Varela, F. J. (1987). Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Bern u. a.: Scherz. Schindler, H. (1995). Die Zeitlinie. Systhema 1 (9), 53–60. Schweitzer, J., Weber, G. (1982). Beziehung als Metapher: Die Familienskulptur als diagnostische, therapeutische und Ausbildungstechnik. Familiendynamik 7, 113–128. Selvini Palazzoli, M., Boscolo, L., Cecchin, G., Prata, G. (1981). Hypothetisieren, Zirkularität, Neutralität: drei Richtlinien für den Leiter der Sitzung. Familiendynamik 6, 123–139. Watzlawick, P., Beavin J., Jackson D. (1969). Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Bern, Stuttgart: Huber.
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Weg ist das Ziel – nichts wie weg! Oder: Das Ziel ist im Weg! Oder: Die Freiheit der Leere … Michael Grabbe
Zielformulierungen Zielformulierungen werden im täglichen Leben und mit großem Konsens auch bei den verschiedensten Therapie-, Beratungs- und Supervisionsverfahren als hilfreich, sogar notwendig erachtet. Nicht nur Systemiker haben Kriterien entwickelt, denen diese Zielformulierungen entsprechen sollten (von Schlippe u. Schweitzer, 1996). Ziele sollten hiernach – positiv formuliert werden, d. h., es soll benannt werden, wo es denn hingehen soll, im Unterschied zu dem, was man nicht mehr möchte. »Was soll ein gutes Ergebnis für dieses Gespräch, diese Beratung sein? Was wäre ein guter Unterschied, so dass dieser Unterschied einen relevanten, lohnenswerten Unterschied macht?« – Ziele sollten konkret und genau definiert werden. Es sollte klare Bezüge geben. Sie sollten operational nachvollziehbar sein. Ein »weniger davon und mehr hiervon« gilt als zu unspezifisch und diffus. Am besten scheint zu sein, dass ein zu erreichendes Ziel messbar ist und auch für andere von außen sinnlich wahrnehmbar und nachvollziehbar: »Woran würde Ihr Partner, Supervisor, Chef etc. merken, dass Sie das Ziel erreicht haben?« – Ziele sollten schriftlich formuliert werden, da das Aufschreiben die Kraft der Ziele erhöht: Aus »frommen« Wünschen werden dann feste Beschlüsse. Ausgehend von einem Anlass wird über das Anliegen der Klienten ein Kontrakt formuliert. – Ziele sollten möglichst aus eigenen Mitteln erreichbar sein und nicht nur in Abhängigkeit von anderen. Die zur Zielerreichung nötigen Kompetenzen und die fachlichen, persönlich-qualitativen wie auch ggf. finanziellen Ressourcen sollten vorhanden © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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sein, damit das Ziel nachhaltig verfolgt werden kann. Ziele sollten nicht zu groß, unerreichbar, aber auch nicht zu klein und unbedeutend sein. – Auch wird mit Kontextsensibilität darauf geachtet, dass ein Ziel mit dem Ziel von relevanten Bezugssystemen vereinbar ist: »Passt das Ziel in die Kultur des Systems, was werden die Eltern, die Kollegen davon halten? Ist es ethisch, ökologisch etc. vertretbar?« – Ziele sollten eigene Ziele sein und nicht die von anderen. Das Modell der Auftragsklärung (von Schlippe 1996) kann hier klärend helfen. Das Modell zeigt m. E. auch, dass Ziele nicht unbedingt in der Zukunft liegen müssen, sondern auch so gestaltet werden können, dass versucht werden kann, in der Vergangenheit liegende, evtl. internalisierte Aufträge zu erfüllen – oder sich davon abzugrenzen. Zielformulierungen im Rahmen der Auftragsklärung helfen, die Vielzahl der von Klienten vorgebrachten Anliegen in eine Prioritätenreihe zu bringen, um Energien zu fokussieren. Ein Ziel nach dem anderen. Das Erreichen eines Ziels mag dann motivieren, auch die nächsten anzugehen. Und schließlich muss ja auch die Therapeutin oder der Berater wissen, wo es hingehen soll. Verfolgen Letztere dabei allerdings eigene Ziele, kann das eher problematisch werden. Ein formuliertes Ziel hat eine erhöhte Zugkraft. Ziele haben Macht. Man lenkt die Sinne darauf, spürt nicht mehr so sehr die schlimme Gegenwart, sondern ist mit seinen Sinnen und Illusionen (hypothetisch) in der Zukunft. Die aktuelle Wahrnehmung kann zielgerichtet selektiert erscheinen: Man sieht und erlebt »überall« Menschen, die dieses Ziel schon erreicht haben. Hypnotherapeutisch werden Visionen entwickelt, wie man sich in diesem Zukunftsszenarium, also nach Erreichen des Ziels, fühlt, was man sieht, hört, schmeckt und wie man aussieht, was man sagt etc. Man projiziert sich in den gesunden Zustand in der Zukunft und postuliert, dass das schon Auswirkungen auf die Gegenwart habe (vgl. auch hypnotherapeutisches Vorgehen). Besonders mag es dabei auch den Therapeuten und Beratern helfen, wieder auf eine Zielorientierung zu lenken, wenn Klienten dazu neigen, »chaotisch« von »Hölzchen aufs Stöckchen« zu kommen oder © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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sich gar ständig in einem anderen Wald bewegen. Dann fühlen sich Therapeuten in der Regel sicherer und können dem Prozess leichter folgen oder gar versuchen, die Steuerung zu übernehmen. Auch schützt es die Professionellen davor, unerwartet auf Problematiken zu stoßen, denen sie sich nicht gewachsen fühlen. Ziele gewähren auch Sicherheit für beide Seiten in der Beratung. Klar kommunizierte Ziele helfen dabei, immer wieder in gemeinsamer Betrachtung abzugleichen, ob man noch auf dem richtigen Weg ist oder sich zu weit davon entfernt hat. Das mag Sicherheit und Orientierung vermitteln, auf jeden Fall für die Therapeuten/Berater. Hilfeplangespräche in der Jugendhilfe werden akzentuiert durch sogenannte Zielvereinbarungen, die allen zur Orientierung genügen und den guten Willen der Beteiligten dokumentieren sollen. Manchmal sollen sie allerdings auch nur Professionalität signalisieren, eine Zielvereinbarung hat dann schon einen Sinn an sich und genügt sich selbst (und ist gespickt mit Worthülsen). Ob damit erreichbare Ziele für betroffene Eltern beschrieben werden und diese auch von ihnen mit genügend Motivation als erreichbar erachtet werden oder utopischen Beigeschmack haben, tritt dann etwas zurück. Das Ziel hat auch einen Wert an sich. Verhaltenstherapie, aber auch tiefenpsychologische Verfahren und Psychoanalyse legen Wert auf Zielformulierungen, kurzzeit- und lösungsorientierte Ansätze ebenso. Systemische Professionelle übernehmen in der Regel keine Verantwortung für das Erreichen dieses Zieles, wohl aber für einen hilfreichen, konstruktiven Prozess. Systemisches Coaching verbindet sich auch parteilich mit dem Ziel. So weit, so gut.
Zweifel erlaubt Zweifel an der Unstrittigkeit dieser Konstruktion können jedoch auftauchen, wenn man in der therapeutischen (beraterischen) Praxis auf Klienten trifft, bei denen man den Eindruck hat, sie würden nur mit erheblichen inneren Mühen an einer Zielformulierung mitwirken – etwa um die Beziehung zum Therapeuten nicht zu gefährden. Sie scheinen gemerkt zu haben, dass dieser das offenbar besonders braucht. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Dann können auch Worthülsen Platzhalterfunktionen für Zielformulierungen übernehmen, wenn keine Formulierungen erzielt werden können, die den obigen Kriterien genügen: »Verselbständigung«, »Eigenverantwortung« oder »Verantwortung überhaupt übernehmen«, »Autonomie«, »Beziehungsfähigkeit«, »sozial-emotionale Kompetenz steigern« wollen, einer »Erziehungsverantwortung« gerecht werden usw. Sie bleiben diffus und gelten schnell als Ergebnis, ohne dass operationale Kriterien gefasst werden, an denen man sehen kann, ob das Ziel erreicht wird. Leid und Not, d. h. die aktuelle Befindlichkeit, können so dominant unerträglich sein, dass die Aufmerksamkeit nicht auf irgendeinen hypothetischen Zustand in der Zukunft gelenkt werden kann, sondern zunächst Flucht und Verzweiflung die Rettung bringen müssen. Der (körperliche oder seelische) Schmerz kann so vorherrschend sein, dass dieser unerträgliche Zustand nur beendet werden soll. Da kann die Frage von Therapeuten nach Richtung und Ziel sogar zynisch ankommen. Menschen in einem brennenden Haus fragt man nicht, wie sie gern zukünftig wohnen wollen, solange sie sich nicht gerettet fühlen. Es mag eine wunderbare Übung sein, sich einen »idealen Tag« vorzustellen, wenn aber das steigende Wasser schon bis zum Hals steht, sollte man eher schwimmend versuchen, aus der Untiefe wegzukommen – egal an welches Ufer. »… und nichts als Verzweiflung kann uns retten« (Christian Dietrich Grabbe). Menschen sind manchmal in der Welt, in der sie leben bzw. die sie sich konstruieren, verzweifelt, pessimistisch und negativ gestimmt – und weit davon entfernt, mit Resilienz, optimistisch, mit Zuversicht und lösungsorientiert, wohlfeile Ziele zu formulieren. Im Drama »Herzog Theodor von Gotland« lässt der Dichter Grabbe seinen Oberfeldherrn Berdoa die aktuelle Bedrohungssituation durch die Schweden strategisch als aussichtslos und todgeweiht darstellen, um damit als letztes Mittel zu versuchen, zusätzliche Kräfte der Finnen freizusetzen. Eine paradoxe Intervention. Therapeuten und Berater versuchen durch Zielvisionen dagegen, »Hoffnung als Prinzip zu ontologisieren« (Wiemer, 1992). Wiemer schreibt Ch. D. Grabbe sogar zu, dass er den »archimedischen Punkt der Moderne bezeichnet« haben könnte. »Das Projekt der Moderne […] krankt von Beginn an daran, dass es die Zukunft in © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Beschlag nimmt, indem es sie mit Hoffnung identifiziert« (S. 10). Nun birgt der Wunsch, aus einem unerträglichen Zustand zu entkommen, auch eine Zukunftsorientierung, aber nicht in dem Sinne einer Zukunftsvision bzw. Zielvereinbarung. Um nicht den Rahmen zu sprengen, sei an dieser Stelle auch auf Adornos (1986, S. 405 ff.) philosophisch orientierte Auseinandersetzung mit dem Nihilismus, der Aufklärung und Gegenaufklärung verwiesen. Verzweiflung und Hass werden dort als wirksamere Produktivkräfte angesehen als der ungebrochene (zielorientierte) Optimismus. Ziele sind eher kriterienfolgend, rational formuliert, sollten durchdacht sein. Die Strategie der Verzweiflung folgt mehr den Mächten des Affektiven, dem Irrationalen und entzieht sich oft einer sprachlichen Formulierung. Dabei können aber Kräfte freigesetzt werden, die nötig sind, um Widerstand zu aktivieren, um dem aktuellen Zustand entkommen zu können. Sie »bezieht ihre Energie nicht mehr aus einem gläubigen Verhältnis zur Zukunft, sondern erhält sich in der Erinnerung an das Grauen des Gewesenen [und des aktuellen Seins; d. Verf.]« (Wiemer, 1992, S. 12). Ein Klient in meiner Praxis platzt bei meiner Frage nach dem Ziel seiner Therapie heraus: »Sie können mich totschlagen, ich habe keine Ahnung, ich halt es nur so nicht mehr länger aus – keinen Tag.« War das auch ein Ziel? Im oben definierten Sinne sicher nicht. In einer Live-Supervision wurde ich Zeuge einer fast inquisitorischen, folterartigen Befragung eines Jugendlichen, der endlich sagen sollte, was er denn nun und im Leben überhaupt erreichen wolle. Der Ausbildungssupervisand hat es wirklich gut gemeint und wollte eine buchgerechte Auftragsklärung präsentieren. Die Therapeut-KlientBeziehung wurde in dieser Phase sehr strapaziert – bis die Eltern für ihren Sohn Partei ergriffen und ihn gegen den Therapeuten verteidigten. Das war dann interessanterweise erstmalig der Fall und stiftete eine neue Beziehungsqualität – bislang hatten sie ihn fast ausschließlich angeklagt. Aber auch in weniger dramatischen Situationen kann eine Zielfokussierung irritieren und verhindern oder erschweren, dass das Ziel erreicht wird. Erfahrungen aus vielen Sportdisziplinen scheinen das zu belegen. Einerseits gilt es im hypnotherapeutischen Sinn als psychisch stabilisierend, sich mit einem Ziel zu identifizieren, sich in © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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einen positiv motivierenden Sog zu begeben, andererseits kann das Ziel aber auch einer Erreichung im Weg stehen. Dann ist das Ziel im Weg! Das Erreichen sportlicher Höchstleistungen werde oft im Kopf entschieden – ein »mentales Problem« (Stefan Effenberg). Wenn man zu viel will, den Golfball mit Zielzwang einputten will, sich schon mit Erfolg und Sieg verbindet und die Angst vor dem Nichterreichen, die Angst vor dem Misserfolg sich einschleicht, dann verkrampft man sich und erreicht paradoxerweise ein durchaus mögliches Ziel gerade deshalb nicht. Nur nicht denken! – hat er gedacht. Dann kann das Ziel im Weg stehen. Schon ein Blick auf den Gegner, ins Publikum oder auf sich selbst kann den Erfolg kosten und die Erreichung des Zieles verhindern. An anderer Stelle wurde über den »Zwang zum Erfolg – der Sinn des Scheiterns« geschrieben (Grabbe, 1997). Visualisiert man mit Objekten (Klötzchen) eine unerwünschte Ausgangssituation in der Gegenwart mit dem Fokus (Klient), dem Ziel, wie auch den erlebten Hindernissen und notwendigen Ressourcen, so kann der Wunsch oder der Zwang, das Ziel zu erreichen, als ein weiteres Strukturelement den Blick ablenken. Das visualisierte Ziel kann mit Personen oder Institutionen verbunden werden, wie z. B. »Wenn diese Therapie nicht klappt und du dich nicht änderst, dann verlasse ich dich!«, »Dies ist deine letzte Chance, den Arbeitsplatz zu behalten, wir grenzen dich aus«. Dann kann das Erreichen des Ziels, der definierte Erfolg, wichtiger werden als das Ziel selbst. Das klingt paradox, ist aber auch eine Alltagserfahrung: Menschen streben nach Geld, ohne zu wissen, was sie in dem angestrebten Maße damit überhaupt kaufen wollen und wie es ihnen damit gehen soll. Menschen fahren an Urlaubsziele, weil andere dort auch hinfahren, ohne zu spüren, welche innere Erfüllung damit erreicht werden soll. Dann können sowohl das Ziel wie auch ein Erfolgsdruck im Weg stehen und ein Wohlsein oder gar eine Heilung verunmöglichen. Man ist so sehr mit dem (vermeintlichen) Ziel verbunden, dass man unterwegs nicht merkt, ob einem Weg und Schritte noch gut tun. Perfektionistisch orientierte Menschen entwickeln schnell sehr hohe Maßstäbe. Werden diese nicht erreicht, werden Abwehrstra© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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tegien nötig, die eine Selbstwertbedrohung abwenden helfen sollen: Es kann zu emotionalen Überreaktionen oder zu unangemessenen Schuldzuweisungen kommen. Oder Selbstanklagen sind die Folge, welche zukunftsorientiert eher Resilienz vermindern. Wird der avisierte Plan nicht eingehalten, können auch Bagatellisierungen oder Verleugnungen Energien binden. Eine Überprüfung des Ziels, des Plans kann dabei unterbleiben – im Gegenteil, es wird starr am Plan, am Ziel festgehalten. Chancen für Veränderung werden nicht genutzt. Sie sind demotivierend mit Enttäuschungen verbunden, wobei die Täuschung in der konkreten Zielformulierung oder einer Zielfestlegung überhaupt gelegen haben könnte. Da wäre eine Ent-Täuschung sogar hilfreich, aus der neue Motivation zum Weitermachen entstehen könnte (»weiter, weiter« – Torwartprofi Oliver Kahn allerorts). Erfahrungen mit Planwirtschaft, »Fünfjahresplänen«, seien hier nur erwähnt. Denn Ähnliches kann auch für Therapien und Beratungen gelten: Man möchte, schon aus Dankbarkeit für die gute Beziehung zum Therapeuten ein Ziel unbedingt erreichen, ohne auf dem Wege zu überprüfen, ob das Ziel denn noch stimmig ist, sich evtl. »unterwegs« verändert hat. Das Ziel, der Plan verselbständigt sich dann eher, als dass sich der Klient verselbständigt. Die Angst vor dem Nicht-Erreichen des Erfolges, nämlich das definierte Ziel nicht zu erreichen, kann zu Leistungsdruck und Stress führen, verbunden mit der Scham eines möglichen Versagens, welches Symptome hervorrufen kann, die zu beseitigen man eigentlich in eine Therapie gegangen war.
»Was kümmert mich mein Gerede von gestern« (Konrad Adenauer) Kleist beschreibt in seinem Essay »Über das Marionettentheater« (1810) die Unmöglichkeit, Spontaneität kontrolliert (wieder-)herzustellen. »Meine Frau möchte, dass ich spontaner werde – das möchte ich auch« (Zielformulierung eines Klienten in meiner Praxis). Die Vertreibung aus dem Paradies der Unschuld nach dem Essen vom Baum der Erkenntnis führe dazu, aus dem »Schwerpunkt der Bewegung« zu geraten. Da der Zugang zum Paradies verriegelt sei, müsse © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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man versuchen, sozusagen durch die Hintertür wieder zurückzukommen. Eine anmutige Bewegung, wie die des römischen Dornausziehers (Bronzestaue eines Knaben in Rom, Entstehungszeit und Künstler unbekannt), lässt sich nicht mechanisch-technokratisch mit Bewusstsein erzeugen, sondern müsse »dem Weg der Seele des Tänzers« folgen. »Ziererei [z. B. Ablenkung; d. Verf.] erscheint […] wenn sich die Seele (vis mortis: treibende Kraft) in irgendeinem anderen Punkt befindet als im Schwerpunkt der Bewegung« – also z. B. im Ziel. Das Bewusstsein über das Tun und Vorhaben könne erhebliche »Unordnung in der natürlichen Grazie« anrichten. Im Kleist’schen Text wird von einem zunächst anmutigen jungen Mann berichtet, der, vom Ziel getrieben, eine Bewegung zu wiederholen (ein Ziel), nach tagelangen Bemühungen immer mehr an Reiz verlor, »eine unsichtbare und unbegreifliche Gewalt schien sich wie ein eisernes Netz um das freie Spiel seiner Gebärden zu legen«. Man brauche, »um in den Stand der Unschuld zurückzufallen«, entweder »gar kein oder ein unendliches Bewusstsein«, das sei aber dem Gliedermann [der Marionette; d. Verf.] oder Gott vorbehalten – wir »müssten wieder von dem Baum der Erkenntnis essen«. Auch wenn diese Überlegungen, bei denen es eher um Beeinträchtigungen durch das Bewusstsein geht, und der Transfer auf bewusste Zielformulierungen vielleicht etwas gewagt erscheint, so könnte man doch interpretieren, dass zu viele Überlegungen und zielverbundene Gedanken eher blockieren, als dass sie förderlich für einen heilenden Entwicklungsprozess wären. Weilt man zu oft hypothetisch in der Zukunft, dann kann die Harmonie des Hier und Jetzt gestört werden und einen stimmigen Schritt aus dem Elend in eine heile Zukunft beeinträchtigen. Dann kann der starke Wunsch nach dem Erreichen das Erreichen vereiteln oder zumindest die Ästhetik der Therapie (Ludewig, 1992). Ist man sehr mit dem Weg zum Ziel beschäftigt, so kann man sich schnell damit frustrieren, wenn man darauf schaut, was man noch erreichen muss, wodurch das bisher Erreichte entwertet werden kann. Man starrt nach vorne, die noch zurückzulegende Wegstrecke kann entmutigen. Man sieht dann vielleicht eher auf den übernächsten Schritt, als auf den nächsten zu achten, und gerät dabei ins Straucheln oder Stolpern (ironischerweise Schäuble bei einem Fernsehauftritt © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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am 24. 9. 2011, von seinen Wandererfahrungen berichtend als Analogie zu Entscheidungen zur Bewältigung der aktuellen Finanzkrise).
»Kümmere dich nicht um die Ernte, sondern um den Acker« (Konfuzius) Bei dem am Zen orientierten intuitiven Bogenschießen werden Pfeil und Bogen zwar in die gedachte Richtung gewendet, die Aufmerksamkeit liegt aber beim Bewegungsablauf des Loslassens und nicht auf der Fixierung und Erreichung des Zieles. So soll es bei der Perfektion eines Samurai möglich sein, auch um die Ecke zu schießen. Oft sind die bei der Auftragsklärung erarbeiteten Ziele auch dem bisherigen Denksystem verhaftet. Der dem linearen Denken verhaftete Wunsch, vom unerträglichen Zustand A schnell zum definierten oder heiß ersehnten Ziel B zu kommen, kann andere mögliche und spannende Lebenserfahrungen verhindern, die nur auf Um- oder Abwegen oder zirkulär zu finden gewesen wären. Wenn man keine eingefahrenen Pfade betreten will, die zumeist zum ähnlichen Ergebnis führen, und man nicht auf der Strecke bleiben will, muss man wohl zulassen, auch mal vom Weg abzukommen. Pioniere betreten immer Neuland. Kolumbus soll das Ziel Indien gehabt haben – gut wohl, dass er auch in Amerika an Land gegangen ist und nicht umgekehrt ist, als er merkte, dass er »falsch«, am Ziel vorbeigefahren war. Es heißt, dass man auch einmal Fehler machen muss, um zum Ziel zu kommen, und dann ist es oft ein anderes Ziel (vom Sinn des Scheiterns; aus Scheitern kann man gescheiter werden; Grabbe, 1997). Vielleicht ist die Zielfestlegung selbst der Fehler. Oft weiß man nicht, welche Möglichkeiten sich einem bieten werden, wenn man beschlossen hat, das Risiko einzugehen, ein bekanntes Unglück (Grabbe, 2001, S. 5–16) herzugeben und gegen die Chance eintauscht, ein unbekanntes Glück zu finden. Im Sinne der eingangs definierten Zielkriterien schließt sich das aber wohl eher aus. Im Film »Down by law« zeigt Jim Jarmusch eine Szene, in der die Protagonisten an einer Weggabelung stehen und sich fragen, wohin man gehen wolle. Da man den weiteren Weg nicht einsehen kann, geht einer (Tom Waits) einfach los. Offensichtlich ist nur, dass er nicht mehr zusammen (mit John Lurie) weitergehen kann. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Nun könnte man spitzfindig formulieren, dass ja das Loslassen von Zielen auch ein Ziel sei oder sein könnte. Ziel ist, kein Ziel zu haben! Aus diesem Dilemma kann man versuchen herauszukommen, wenn man nicht so sehr darauf fokussiert, wo denn jemand hinwolle, und die Klienten (oder gar Berater) nicht Ziele formulieren müssten, nur um eine Legitimation oder einen Vorwand zu haben, von einer als schwierig erlebten Ausgangssituation wegzukommen, sondern wenn man sich auf dahinterliegende Werte besinnt. Das Umsetzen dieser Werte könnte nun auch als ein Ziel angesehen werden, dennoch geht es nun nicht mehr um das Erreichen eines zukünftigen Zustandes, sondern um eine in der Gegenwart angesiedelte Motivationslage. Da mag eine Checkliste helfen: – Kommt die Kraft der Veränderungswünsche daher, dass bisherige Versuche, eigene Werte zu leben, nicht erfolgreich waren? Sind also pragmatische Gründe motivierend? Steve de Shazer (z. B. 2004) postuliert: Wenn etwas klappt, mach mehr davon, wenn es nicht klappt, lass es. – Dieses greift m. E. zu kurz: Wenn etwas funktioniert, ein Ziel erreicht scheint, ein Prozess pragmatisch erfolgreich war, dann mag es dennoch unter moralischem Aspekt zweifelhaft sein. Schlägt ein Vater sein Kind, mag es sein Verhalten ändern (aus Angst oder aus Einsicht der Wichtigkeit, die es für den Vater hat). Das heißt, das Verhalten des Vaters scheint erfolgreich zu sein, das Ziel scheint erreicht – die Verhaltensänderung. Dennoch ist mir die Frage wichtig, ob das Verhalten hinsichtlich der auf sich selbst angewendeten Moral zum motivierenden Wert passt. Mag man sich selbst nicht bei den bisherigen Lösungsversuchen? Bewertet man sich als schlecht (statt gut) oder falsch (statt richtig)? Mag man noch in den Spiegel schauen? Auch wenn einem (humanistisch) vielleicht nicht zusteht, andere Menschen zu beoder entwerten, sollte man moralische Kategorien durchaus auf eigenes Handeln anwenden. – Oder hat man den Überblick verloren? Ist man nicht mehr Manager seines eigenen Lebens? – Oder droht die Verbindung zu den wichtigen Menschen verloren zu gehen, gerät man in die Isolation – sowohl hinsichtlich der © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Adressaten des eigenen Tuns wie auch hinsichtlich der erforderlichen Unterstützung? Statt ein Ziel in der Zukunft zu definieren, mögen dann eher Vorsicht und Rücksicht auf sich selbst ein Ziel in der Gegenwart sein.
Berufspolitischer Exkurs Im obigen Sinne mag es vielleicht fahrlässig klingen, gerade in der Berufspolitik auf Ziele zu verzichten, z. B. auf das Ziel der berufsrechtlichen wie sozialrechtlichen Anerkennung der systemischen (Psycho-)Therapie. Alle Kraft sollte dafür eingesetzt werden. Dennoch mag es nicht ausgeschlossen sein, dass gerade das unermüdliche Kämpfen für das Ziel Widerstand und »Lager« stärken könnte und die Kräfte mobilisiert, die dagegen sind. Ein beharrliches Eintreten für die systemischen Werte und Grundhaltungen unabhängig vom Ziel mag zwar idealistisch verbrämt klingen, könnte aber vor ständiger Fremd- und Selbstentwertung schützen. Selbst das Schreiben dieses Beitrags ist ein gutes Beispiel für die geschilderten Thesen. Ich hatte eine Mitwirkung an diesem Buch abgesagt, da ein würdiger Artikel, spannend und wissenschaftlich relevant, mein Ziel war. Ich wollte nichts beitragen, was »nur« die Seiten füllt. Das Vorhaben, dem vorgegebenen Rahmen gerecht zu werden und einen angemessenen Beitrag zu leisten, war ein Ziel, das mich hinderte anzufangen. Erst meine Entscheidung, einfach loszugehen, loszuschreiben und mich auf den Weg zu machen, weg von dem Zustand der Nichtbeteiligung, der mich sehr unzufrieden machte, ermöglichte diese Zeilen. Die Leser mögen entscheiden, ob ich besser dort geblieben wäre. Ziel dieses Beitrags ist nicht, den Leser zu dem Ziel zu bewegen, Ziele aufzugeben – dieses wäre ein metalogischer Widerspruch. Bewegung gilt als Grundbedürfnis des Menschen. Man weiß zwar nicht, ob man ankommt und ein Ziel überhaupt erreicht. Vielleicht ist auch das Ziel nach dem Ziel relevanter als ein zunächst formuliertes. Falls es das letzte Ziel im Leben ist, sollte man es wohl besser nicht vorzeitig erreichen. »Wer am Ziel ist, ist naturgemäß todunglücklich« (Thomas Bernhard). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Der Jazzmentor und buddhistisch orientierte Weltmusikförderer Joachim-Ernst Berendt soll formuliert haben, dass nicht allein, nicht immer – entsprechend der östlichen Weisheit – der Weg das Ziel sei, sondern dass es (beim Jazz, beim Hören – Nada Brahma) auf das Gehen ankomme: losgehen und (über-)schreiten, auch von Grenzen. In innerem Einklang und vielleicht auch mit professioneller Unterstützung. Dabei sind sicherlich Behutsamkeit, Umsicht und Achtsamkeit für innere Befindlichkeiten, aber auch für äußere Gegebenheiten erforderlich. Joachim-Ernst Berendt soll auf einem Zebrastreifen in Folge eigener Unvorsichtigkeit tödlich überfahren worden sein.
Literatur Adorno, T. W. (1986). Keine Angst vor dem Elfenbeinturm. Gesammelte Schriften 20. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Grabbe, Ch. D. (1831). Herzog Theodor von Gotland. Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe in sechs Bänden. Emsdetten. Grabbe, M. (1997). Von Zwang zum Erfolg – der Sinn des Scheiterns. In A. HeiglEvers, I. Helas, H. C. Vollmer (Hrsg.), Die Person des Therapeuten in der Behandlung Suchtkranker (S. 45–53). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Grabbe, M. (1998). Zum Umgang mit Tabus und Geheimnissen in der Systemischen Therapie und Familienrekonstruktion. Systhema 12 (1), 35–43. Grabbe, M. (2001). Lieber das bekannte Unglück als ein unbekanntes Glück. Veränderungsprozesse in Familien und Organisationen. Systhema 15 (1) 5–16. Kleist, H. von (1810). Über das Marionettentheater. Ludewig, K. (1992). Systemische Therapie. Stuttgart. Klett-Cotta. Schlippe, A. von, Schweitzer, J. (1996). Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Shazer, S. de (2004). Der Dreh. Überraschende Wendungen und Lösungen in der Kurzzeittherapie. Heidelberg: Carl Auer. Wiemer, C. (1992). Für eine Strategie der Verzweiflung. Eine andere Lesart von Grabbes Herzog von Gotland. In: Grabbe Jahrbuch 1992. Bielefeld: Aisthesis Verlag.
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Soziale Nachhaltigkeit im Spannungsfeld postmoderner Arbeit Systemische Zusammenhänge von Entgrenzung, Arbeitssucht, Burnout und Mobbing sowie Vertrauen, Verantwortung und Achtsamkeit in Organisationen Sylke Meyerhuber
Aus Perspektive der Autorin ist eines der zentralen Zukunftsziele, im Arbeitskontext (wieder und mehr) sozial nachhaltig zu handeln – im Hinblick auf den Umgang mit Mitarbeiter/-innen und Kolleginnen und Kollegen sowie auch in Bezug auf die eigene Arbeitskraft in der Führungsrolle. Dies ist aus verschiedenen, psychologisch sowie soziologisch erklärbaren Gründen nicht einfach, zumal damit in der globalisierten Postmoderne verschiedene Zielkonflikte einhergehen. Es lohnt sich, für menschengerechte Arbeit langfristig entsprechende Konflikte anzugehen. Die systemisch-rekonstruktive Analyse entsprechender Probleme aus makro-, meso- und mikropolitischen Blickwinkeln mündet in Hinweise auf organisationale und rollenbezogene Verantwortung sowie individuelle Courage zur Gesunderhaltung einer zu einseitig ökonomisierten Arbeitswelt.
Vorbemerkung – Zeitzeichen Schätzungen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin zufolge verursachten im Jahr 2009 459,2 Mio. AU-Tage volkswirtschaftliche Produktionsausfälle von 43 Mrd. bzw. 75 Mrd. Euro […] (Meyer, Stallauke u. Weirauch, 2011, S. 224)
In der postfordistischen und globalisierten Arbeitsgesellschaft, als welche die deutsche Gesellschaft heute industriesoziologisch verstanden wird (vgl. Senghaas-Knobloch, 2011), geistert einerseits regelmäßig das Schlagwort vom »Fachkräftemangel« durch die Presse, andererseits finden sich nahezu täglich Meldungen zum Personal© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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abbau in Organisationen in den Nachrichten. Diese Gleichzeitigkeit regt zum Nachdenken an: Die Botschaft einer Nichtverfügbarkeit von Personal läuft der Botschaft des Freisetzens von Personal durchaus zuwider. Dass Arbeitslose im logischen Spagat dieser Phänomene als Arbeitsunwillige oder -ungeeignete etikettiert werden oder dass Erwerbspersonen ab Mitte 40 weniger Chancen auf eine Neubeschäftigung haben, während zugleich im Bildungssektor – bspw. mit dem Abitur nach der 12. Klasse – der Druck auf junge Menschen erhöht wird, möglichst rasch Ausbildung oder Studium zu absolvieren, um dann hochgebildet, noch formbar und zum günstigen Einstiegsgehalt dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen, diese Phänomene verursachen beim Nachdenken weitere Kopfschmerzen. Wobei bei den jungen Menschen stets auch die Angst mitschwingt, dass der Markt sie womöglich nicht braucht oder nicht will. Die Ankündigung geburtenschwacher Jahrgänge einerseits sowie die Freisetzungs- und Abfindungspraxis zur Frühpensionierung in den letzten Jahrzehnten andererseits schüren so trotz hoher Arbeitslosenquote die Rede vom Fachkräftemangel. So mancher Pensionär/ manche Pensionärin, ein weiteres Zeitphänomen, wird auf Honorarbasis (oder ehrenamtlich!) erneut beschäftigt, weil anscheinend keiner sonst die einstige Aufgabe kompetent wahrnehmen kann: Wäre es nicht sinnvoller, solche verdichteten Experten-Arbeitsplätze ganz neu zu ordnen und die Arbeit auf zwei bis drei Mitarbeitende zu verteilen? Zumal mancher schon mit 50 keine adäquate Arbeit mehr findet, trotz Bemühen, hoher Qualifikation und unverschuldeter Arbeitslosigkeit. Das Marktforschungsinstitut Galupp (2010) diagnostiziert eine wachsende Arbeitsunzufriedenheit deutscher Beschäftigter und schreibt: »Jeder fünfte Arbeitnehmer hat innerlich gekündigt.« Die Krankenkassen registrieren einen erheblichen Zuwachs an Erkrankungen der Arbeitnehmer/-innen mit Kopfschmerz, Depression und Angststörungen sowie mit psychosomatischen Syndromen wie Rückenschmerzen und der Erschöpfungsdepression (hier: analog Burnout) (vgl. dpa, 2011). Diese Phänomene sind zu verstehen als Ausdruck einer zunehmenden Arbeitsplatzverdichtung mit arbeitspsychologisch erwartbaren Folgen für die Menschen: Stress, Verantwortungsdruck sowie Isolation und Überforderung, mangelnde © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Anerkennung und – oft als Folge – auch zunehmende Konflikte am Arbeitsplatz bilden eine belastende Gemengelage für Erwerbstätige. Auch Präsentismus (Anwesenheit trotz Krankheit) aus Angst vor Arbeitsplatzverlust nimmt zu; mit hohen Folgekosten für das Gesundheitssystem. Zum Jahresende 2011 findet sich selbst in der Tagespresse mit Bezug auf aktuelle Statistiken der Rentenversicherung: »Fast jeder zweite Beschäftigte geht vorzeitig in den Ruhestand und nimmt dafür eine niedrigere Rente in Kauf« (Weser-Kurier, 2011), während zugleich ab Januar 2012 die Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre politisch in die Umsetzung geht. Gesellschaftlich, scheint es, wird die Gefahr eines Altersprekariats zunehmen, weil Erwerbstätige den postmodernen Arbeitsbelastungen nicht, wie politisch erwartet, standhalten. Diese exemplarische Liste arbeitsbezogener Phänomene lässt sich erweitern. In der Zusammenschau entsprechender Entwicklungen könnte man womöglich denken, die Arbeitswelt sei verrückt geworden – womöglich ist sie das auch, im übertragenen Sinne: zunehmend ver-rückt (ent-rückt) von den Bedürfnissen der Menschen, die diese Arbeitswelt einerseits formen und andererseits auch erleben. Die politische Erwartung, wonach der Trend zur Wissensund Dienstleistungsarbeit Arbeitsplätze mit sich bringt, die bis ins höhere Lebensalter hinein gut zu bewältigen sind, scheint sich nicht zu erfüllen – während Handwerk und Industrie weiterhin auch physisch ihren Tribut fordern, entpuppen sich die modernen Arbeitsformen im Dienstleistungssektor vor allem für untere Gehaltsstufen als psychisch hoch gesundheitsbeeinträchtigend (vgl. Meyer, Stallauke u. Weirauch, 2011, S. 223 ff.). Es fragt sich, worin genau die Belastungen liegen. Und es fragt sich, welche psychologisch sinnvollen, gesunderhaltenden Strategien das arbeitende Individuum innerhalb zunehmend inhumaner Arbeitsweltstrukturen (auf verschiedenen Ebenen) zum eigenen Schutz verfolgen sollte. Diese Fragerichtung nimmt also, durchaus in Parteinahme, den arbeitenden Menschen zum Bezugspunkt, auch wenn die Probleme – z. B. im Rahmen der Globalisierung – womöglich zunehmend auch in den emergent höheren Strukturebenen von Arbeit angelegt sein mögen. Insofern zielt meine Frage auf eine »Trotzdem-Strategie« (in Anlehnung an Luhmann, 1968) © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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für Führungskräfte und einzelne Mitarbeiter/-innen gleichermaßen unter der humanistischen Zielsetzung einer langfristigen Gesunderhaltung bei Teilhabe an der Erwerbsarbeit. Aus systemtheoretischer Perspektive liegt also eine komplexe und durchaus explosive Mischung von Zeitphänomenen vor, welche sich alle in den Systemkontexten der Arbeitswelt ereignen und die in Wechselwirkung miteinander stehen. Eine kritische, exemplarische Beleuchtung der hier wirksamen Interdependenzen ist zentrales Ziel dieses Beitrags. Methodologisch soll meine Analyse sich vor allem an den Gegebenheiten der real existierenden sozialen Welt und dem subjektiven Erleben ihrer Akteure orientieren, wie es bspw. der soziologische Methodologe Wilson (1973) als adäquat für ein qualitatives und interpretatives Verständnis voraussetzt. Eine kritische Reflexion zentraler (Fehl-)Entwicklungen unserer Arbeitswelt ist neben diesem qualitativen Anspruch nur möglich, wenn verschiedene Schulen systembezogenen Denkens hinzugezogen werden: z. B. Tiefenpsychologie für die Einbeziehung auch unbewusster Anteile, Phänomenologie für szenisches Verstehen, Systemtheorie für konstruktivistische Gefüge höherer Ordnung, Interaktionismus für Fragen des sozialen Zusammenwirkens sowie soziologische und politische Überlegungen. Des Weiteren wäre nach meinem Verständnis eine Erwartung gedanklich mitzuführen, wonach Aspekte des komplexen sozialen Gefüges sich emergent zueinander verhalten, also je nach Systemebene andere Ausformungen annehmen und nicht immer eins zu eins zusammenpassen (ich denke hier an Ebenen wie: global, politisch, organisationsspezifisch, arbeitsplatzbezogen und gruppendynamisch sowie individuell). Insofern ist mein eigenes systemisches Verständnis als Psychologin nicht nur von explizit systemisch genannten Ansätzen geprägt, sondern auch von implizit systemisch angelegten Theorien »davor und daneben«. Nachdem Problemlage, Blickrichtung sowie methodologische Vorüberlegungen thematisiert wurden, diskutiere ich die Thematik wie folgt: einführend programmatische Überlegungen zur sozialen Nachhaltigkeit als zukunftsbezogenes Leitziel. Skizzieren der Rahmenbedingungen einer Entgrenzung und Subjektivierung von Arbeit sowie einer Entwicklung hin zum Arbeitskraftunternehmer. Problematisierung von Unternehmenskulturen der Identifikation als © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Förderer von Tendenzen zur Arbeitssucht als oft unerkannte, problematische Nebenwirkung und – so meine These – als Einfallstor für die Phänomene Burnout einerseits und Mobbing andererseits (deren Zusammenhang eine zweite These impliziert). Exemplarische Untersuchung des Salutogenese-Modells (Verhaltensprävention), des Betrieblichen Gesundheitsmanagements und des Konzepts »organisationale Achtsamkeit« nach Weick und Sutcliffe sowie Becke (Verhältnis- und Verhaltensprävention) auf ihre Tauglichkeit als Lösungsansätze für die verdeutlichten Probleme. Ergänzende Überlegungen mit der Vertrauenstheorie nach Luhmann, zur Führungsverantwortung sowie dem Verhältnis von Fürsorge und Selbstfürsorge. Politische, soziologische, psychologische und ethische Überlegungen werden so für eine integrative, arbeits- und gesundheitsbezogene Systemtheorie zusammengeführt und für Hinweise fruchtbar gemacht, wie heute im Arbeitskontext sozial nachhaltig gehandelt werden kann.
Soziale Nachhaltigkeit als Leitziel für das Handeln in Organisationen Es wird von 2,3 Millionen arbeitsbedingten Todesfällen jährlich ausgegangen, wovon ca. 2 Millionen auf Erkrankungen zurückgeführt werden können. In Europa liegt die Zahl arbeitsbedingter Todesfälle wegen Erkrankungen bei jährlich etwa 160.000, wobei auf eine erhebliche Unterschätzung hingewiesen wird. (Larisch, Ritter u. Müller, 2010, S. 165)
Für ein Umsteuern hin zu gesundheitsförderlicherem Handeln in Organisationen bedarf es einer programmatischen Stoßrichtung, die es ermöglicht, trotz einer marktwirtschaftlichen Ausrichtung von Arbeitsorganisationen auch ethisch-humanistische Werte systematisch mit in den Blick zu nehmen. Dafür möchte ich den Begriff der sozialen Nachhaltigkeit als Leitziel für das Handeln in Organisationen vorschlagen. Zunächst ist zu prüfen, ob eine solche Perspektive fruchtbar und wegweisend sein könnte. Zu fragen wäre auch, wozu es nützlich wäre, solch einen normativ-programmatischen Begriff in Diskussionen um das Handeln in Organisationen und das Wohlbe© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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finden arbeitender Menschen zu nutzen. Um dies herzuleiten, bedarf es zunächst einiger Worte zur Genese des Nachhaltigkeitsbegriffs bis hin zur Frage seines Nutzens für das Nachdenken über Menschen im postmodernen Arbeitskontext. Politisch ist mit dem Begriff der Nachhaltigkeit eines der großen Ziele zur Korrektur globaler Entwicklungen gemeint, seit die UNKonferenz für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro ein Leitbild nachhaltiger Entwicklung programmatisch festgelegt hat. Dem liegen Erkenntnisse zugrunde, wonach sich eine globale, rein radikal-marktwirtschaftliche Dynamik als zu kurzsichtig erweist, um nicht in Katastrophen zu führen. Der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung 1987 benennt dazu drei Grundprinzipien: globale Perspektive, untrennbare Verknüpfung zwischen Umwelt- und Entwicklungsaspekten sowie Zukunftsverantwortung (Generationen- und Verteilungsgerechtigkeit). In Deutschland wurde Nachhaltigkeit durch die Bundesregierung ab etwa 2002 als ein politisches Leitziel auf die Agenda gesetzt; seither versucht sie, dieses Leitziel, operationalisiert in verschiedene Felder, mit Leben zu füllen. Konzeptionell hat sich für eine relativ gleichrangige Berücksichtigung zentraler Dimensionen von Nachhaltigkeit (auch in Bezug auf Organisationen) durchgesetzt, sich ein gleichschenkeliges Dreieck vorzustellen, dessen Ecken die ökologische, die ökonomische sowie die soziale Dimension repräsentieren (vgl. DIW, 2000). In ihrem Grundlagenwerk zur Nachhaltigkeit geben Grunwald und Kopfmüller (2006, S. 41 f.) dazu zu bedenken, dass dem ökologischen Systemaspekt unter Nachhaltigkeitsperspektive im Zweifel stets Vorrang vor den beiden anderen Dimensionen einzuräumen ist nach dem Grundsatz, dass soziale und ökonomische Erwägungen ohne eine Lebensgrundlage obsolet sind. Für die ökonomische Dimension sei hier skizziert, dass sie sich, so die Autoren, aus den Akteursgruppen »private Haushalte, Unternehmen und Staat« zusammensetzt (S. 47). Für die soziale Dimension, um die es mir hier gehen soll, verweisen die Autoren auf soziale Grundgüter und ihre Weiterentwicklung; d. h. individuelle Güter wie Leben, Gesundheit, Grundversorgung, politische Rechte und auch soziale Ressourcen wie Toleranz, Solidarität, Integrationsfähigkeit, Gemeinwohlorientierung sowie Rechts© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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und Gerechtigkeitssinn (S. 49). Die Autoren betonen, dass unter der Perspektive einer nachhaltigen Wahrung des sozialen Friedens bspw. akzeptable Lösungen bei Verteilungsproblemen zwischen Regionen, sozialen Schichten, Geschlechtern und Altersgruppen anzustreben sind. Heins (1998, S. 25 ff., zit. nach Grundwald u. Kopfmüller, 2006, S. 49 f.) zufolge ist hier auch an soziale Schutz- und Gestaltungsziele wie Gesundheitsschutz, Sicherung der sozialen Stabilität sowie die Entwicklungs- und Funktionsfähigkeit einer Gesellschaft, die gerechte Verteilung von Wohlstand und Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung zu denken. Sozial nachhaltig zu handeln ist also als ein Rahmenziel zu verstehen, das auf verschiedenen Interaktionsebenen auch im Arbeitskontext sozial sowie individuell zu konkretisieren ist. Für ein sozial nachhaltiges Handeln in Organisationen und gedenk der eingangs dargestellten Probleme auf dem Arbeitsmarkt stellt sich also die durchaus politisch motivierte und systemisch nicht triviale Frage, wie in der Arbeitsorganisation ökologische, ökonomische und soziale Nachhaltigkeit gleichermaßen beachtet bzw. auch fair balanciert werden können. Oder pointierter: Wie kann Erwerbsarbeit auch sozial nachhaltig (um)gestaltet bzw. (um)gesteuert werden, statt unter primär ökonomischem Verwertungsinteresse, an dem Arbeitende offensichtlich krank werden? Die Zahlen im Eingangszitat zu diesem Abschnitt illustrieren, wie existenziell es ist, Arbeit sozial nachhaltig im Sinne einer guten Balance zwischen Arbeitskraft und Leben zu gestalten. Begreift man soziale Nachhaltigkeit als ein wichtiges Leitziel für das Handeln in Organisationen, so ergeben sich, da in größeren zeitlichsystemischen Dimensionen Auswirkungsverläufe abgewogen werden müssen, womöglich andere Überlegungen, Prioritäten und Handlungen als nur im Hinblick auf Quartalserfolge. Insofern möchte ich den Begriff der sozialen Nachhaltigkeit hier als ein Prüfkriterium verstehen, welches man gedanklich auf Arbeitsbedingungen anlegen kann und das erfüllt sein muss, wenn gefragt wird: Kann diese Organisation oder Interaktion in diesem Arbeitskontext über fünf, zehn und mehr Jahre funktionieren, ohne so tätige Menschen zu erschöpfen, zu frustrieren, erkranken zu lassen? Dies wäre meines Erachtens eine sowohl individuell legitime als auch volkswirtschaftlich sinnvolle Frage. In der aktuellen Arbeitsforschung wird soziale Nachhaltigkeit entsprechend als ein normatives, dynamisches und gestaltungs© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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orientiertes Konzept verstanden, welches auf eine »Dauerhaftigkeit im Wandel« (Senghaas-Knobloch, 2008, S. 39) angelegt ist und zwei verschiedene Ansätze integriert: Ein erstes, ressourcenbezogenes Modell betont die möglichst langfristige, auch gesunderhaltende Verwertungsform von Arbeitskraft im Sinne einer Mittel-ZweckRelation, während ein zweites, sozial-integratives Modell daneben die Eigenwertigkeit und Eigendynamik des Sozialen selbst betont, die »Zukunftsfähigkeit sozialer Einheiten mit Blick auf ihre soziale Kohäsion« (S. 29). Ziel dabei ist es, die oben politisch-programmatisch genannten Themenfelder zu operationalisieren; also zu konkretisieren, wie Bedürfnisbefriedigung, Gesunderhaltung, sozialer Schutz und Gerechtigkeit in der Arbeit des Einzelnen aussehen und wie arbeitende Menschen diese Ziele im Alltag verfolgen können. Hierzu werden in den Arbeitswissenschaften organisationale Gestaltungskonzepte entwickelt, auf die ich weiter unten eingehe. Diesen Erwägungen zufolge wäre es sowohl aus einzelfallbezogenem Verwertungsinteresse als auch unter der Perspektive sozialintegrativer Erwägungen ein sinnvolles Anliegen, Arbeit sozial nachhaltig zu gestalten, systemimmanent wie auch als Erwägung jedes einzelnen Individuums. Um arbeitsfähige und -willige Menschen langfristig zu halten, muss die Arbeit selbst über eine Lebensspanne angelegt gesunderhaltend gestaltet sein. Krankenstatistiken und arbeitsbedingte Erkrankungen bis hin zu Todesfällen legen aber nahe, dass dieses Ziel bei weitem nicht erreicht ist, sondern im Gegenteil immer mehr entgleitet. Sind erwerbstätige Menschen in unserer Gesellschaft heute weniger belastbar, oder wie kann das sein?
Entgrenzung von Arbeit und das Problem identifikatorischer Anpassung Die Arbeitskraft ist an die Person der Menschen und deren Würde gebunden; der Arbeitsmarkt darf daher nicht als Markt wie jeder andere begriffen werden. (Senghaas-Knobloch, 2011, S. 27)
Postmoderne Arbeitsverhältnisse bergen spezifische sowie neuartige Belastungen und Risiken in sich. Die soziologische Situationsbe© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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schreibung einer Entgrenzung und Subjektivierung von Arbeit findet sich in arbeitswissenschaftlicher Literatur seit den 1990er Jahren und wurde mit Perspektive auf Folgerungen für das Individuum z. B. von Pongratz und Voß (2000) mit dem Begriff Arbeitskraftunternehmer pointiert thematisierbar. Als entgrenzt werden dabei bspw. Flexibilitäts- und Mobilitätsanforderungen, Arbeitszeitmodi, Verfügbarkeits- und Engagementerwartungen, Arbeitsstrukturen sowie -orte verstanden. Es wird soziologisch zur Normalität gezählt, dass Menschen mehrere Berufe in ihrer Biografie erlernen. Ebenso verlangt die Arbeit heute Einsatzflexibilität, Mobilität bis hin zu internationalem Arbeitsplatzpendlertum, unbezahlte Überstunden oder geteilte Dienste, Arbeiten abends, am Wochenende und im Urlaub sowie häufig wechselnde Kooperationen. Auch die Notwendigkeit mehrerer Jobs zur Existenzsicherung setzt sich für immer mehr Menschen durch. Für Erwerbstätige bedeutet das laut Pongratz und Voß (2000, S. 229 ff.) zur Jahrtausendwende, dass für eine adäquate Anpassung an diese Anforderungsstrukturen zunehmend ein selbstgesteuerter, auf spezifische Prinzipien des Umgangs mit der eigenen Arbeitskraft zielender Menschentypus entsteht, den die Autoren charakterisieren durch erhöhte Selbstkontrolle der Tätigkeit am Arbeitsplatz, Selbstökonomisierung des eigenen Arbeitsvermögens insgesamt sowie Selbstrationalisierung des gesamten Lebenszusammenhangs (S. 230). Für postmoderne Arbeitkraftunternehmer heute hat sich diese Anpassung m. E. weiter konkretisiert und wandelt sich nicht selten, wie bspw. in Psychotherapien deutlich wird, von einer zunächst positiven Identifikation mit der Arbeitsrolle in eine zunehmende Abweichung von der Arbeitsrolle, um das eigene Arbeitsvermögen langfristig zu wahren (vgl. Gauer, 2010). Eine solche Veränderung arbeitender Menschen steht ganz in der Logik des Arbeitskraftunternehmers: Will eine Person sich langfristig rational und ökonomisch managen und nicht nur sozial erwünscht im Hier und Jetzt verausgaben, so muss sie heute aktiv – entgegen der oben skizzierten Entgrenzungsdynamik – versuchen, die eigene Arbeitskraft so einzuteilen, dass sie tatsächlich bis zur Rente mit 67 verfügbar bleibt. Erwerbstätigkeit im Sinne eines verantwortungsvollen Selbstmanagements kann demnach nicht bedeuteten, fleißig zu versuchen, alle © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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angetragenen Aufgaben zu bearbeiten. Es bedeutet, immer wieder neu abzuwägen und auch zurückzuweisen. Sich selbst entsprechend pfleglich zu behandeln bedeutet aber zunehmend auch, Konflikte im Interaktionsgefüge der Zusammenarbeit zu riskieren, weil ein verantwortungsbewusstes Selbstmanagement es mit sich bringt, die entgrenzende Arbeitsdynamik im eigenen Beruf in Frage oder sich ihr entgegenzustellen, also womöglich in den Arbeitsablauf von Führungsperson und Arbeitsgruppe einen auch unbequemen Kontrapunkt zu setzen. Die sozialpsychologischen Implikationen dieser Anforderung greife ich weiter unten wieder auf. Postmoderne entgrenzte Arbeitsverhältnisse bergen also unter dem Aspekt der Gesundherhaltung Risiken für Erwerbstätige. Die Psychologin Gauer (2010) erhob mit qualitativen Interviews bei niedergelassenen Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen, woran diese vordringlich mit Klienten und Klientinnen arbeiten, die sie wegen einer Erschöpfungsdepression (Burnout) aufsuchen: In solchen Psychotherapien werden den Therapeuten zufolge vor allem die Entwicklung von mehr Ambiguitätstoleranz, Konfliktfähigkeit, der Aufbau sozialer Netzwerke und insgesamt mehr Eigensinn und Nein-Sagen der Klienten gefördert. Therapieziele sind laut der Studie eine bessere Abgrenzung, Wiedergewinn der Erholungsfähigkeit und Lebensfreude sowie eine gesündere Work-Life-Balance. In diesen Zielen auf dem Weg zur Gesundung spiegeln sich die Auswirkungen entgrenzter Arbeit auf die Innenwelt von Menschen. Subjektives Erleben und objektive Bedingungen von Arbeit stehen in einem spezifischen Zusammenhang; veränderte strukturelle Bedingungen bewirken stets auch Veränderungen in Gefühlen und Sichtweisen der Menschen (Meyerhuber, 2009, S. 104 ff.). »Die Lebensbedingungen in einer Gesellschaft sind davon geprägt, wie Arbeit organisiert ist«, hebt entsprechend auch die Arbeitswissenschaftlerin Senghaas-Knobloch (2011, S. 27) hervor und fasst Eckpunkte dessen zusammen, wie diese für Arbeitende in der postfordistischen Arbeitsgesellschaft beschaffen sind: Seitens der Politik beschreibt die Autorin zunächst eine Tendenz der zunehmenden Senkung der Zumutbarkeitsschwellen für angebotene Arbeit, Kürzung des Arbeitslosengeldbezugs und Anreize für atypische Beschäftigungsformen. Senghaas-Knobloch erläutert: »Zu letzteren gehören © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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befristete Beschäftigung, sozial versicherte Teilzeit ohne existenzsicherndes Einkommen, geringfügige Beschäftigung, Leiharbeit und Alleinselbstständigkeit. All diese Beschäftigungsformen sind mit einem größeren Risiko mit Blick auf Einkommen, Sozialschutz, Mitsprachemöglichkeiten und Arbeitsbedingungen verbunden, mit weniger arbeitsrechtlichem Schutz und prekären Lebensbedingungen« (Senghaas-Knobloch, 2011, S. 27). Die Autorin folgert, dass grundlegende Veränderungen der Erwerbsarbeit in dreifacher Hinsicht stattfinden, nämlich durch politisch flexibilisierte Beschäftigungsformen, organisationsinterne Vermarktlichungsprinzipien und drittens durch höhere Anforderungen an das persönliche Engagement der Beschäftigten (S. 28). Senghaas-Knobloch plädiert nachdrücklich dafür, Arbeit als »Decent Work« zu organisieren: »Die Arbeitskraft ist an die Person der Menschen und deren Würde gebunden; der Arbeitsmarkt darf daher nicht als Markt wie jeder andere begriffen werden. Diese Einsicht ist schon 1919 bei der Gründung der IAO feierlich in der Verfassung der Organisation verankert worden. Seit 1999 bemüht sich die IAO mit ihrer ›Agenda für Decent Work‹1, den Fehlentwicklungen der Globalisierung im Arbeitsleben entgegenzutreten. Zu den Säulen der Decent-Work-Agenda gehören Rechte bei der Arbeit, Beschäftigungsförderung, Sozialschutz und Sozialdialog. Man könnte dies ein Programm zur Achtsamkeit in Gesellschaften und Unternehmen nennen. […] Neben diesen gesellschaftspolitischen Ansätzen müssten auf der Seite der Unternehmen Routinen für Achtsamkeit eingeführt werden, zum Beispiel durch gesicherte (Zeit-)Räume für geschützte Dialoge zur gesundheitspräventiven Thematisierung problematischer Organisationsabläufe. […] Eine innovative Wissens- und
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Die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) besteht seit über 90 Jahren als älteste UN-Organisation mit dem Auftrag, die Situation der Menschen in der Welt der Arbeit zu verbessern. Vorrangiges Ziel der IAO ist die Förderung einer menschenwürdigen und produktiven Arbeit für Frauen und Männern in Freiheit, Sicherheit und Würde und unter gleichen Bedingungen. Die »Decent Work Agenda« seit 1999 enthält vier strategische Bestandteile: Förderung der Rechte bei der Arbeit, Beschäftigung, Sozialschutz sowie Sozialdialog (vgl. Senghaas-Knobloch 2010, S. 15 ff.).
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Dienstleistungsgesellschaft ist ohne humane Arbeitsbedingungen nicht zukunftsfähig« (Senghaas-Knobloch, 2011, S. 31). Dem Hinweis der Autorin, dass Arbeitskraft immer »an die Person der Menschen und deren Würde gebunden« zu sehen ist, wohnt die Empfehlung inne, auch eine ethische Dimension statt rein rational-verwertungsbezogener Erwägungen zu beachten, wenn es um Arbeit geht. Dieser Aspekt geht in arbeitsbezogenen Debatten m. E. oft unter. Demgegenüber findet sich seit den 1990er Jahren die Tendenz in Unternehmen, über explizierte Leitbilder, Unternehmensphilosophien und -kulturen die Innenwelt ihrer Subjekte zu kolonialisieren, indem versucht wird, die psychologische Bindung von Mitarbeitenden an Unternehmen und Aufgaben zu stärken, um eine intrinsische Motivation auch ohne externe Kontrolle sicherzustellen. Diesem postmodernen Geist zu folgen stellt sich aus subjektiver Perspektive womöglich auch zunächst als angenehm und erstrebenswert heraus: Wer möchte sich nicht mit dem identifizieren können, was er/sie tut? Aus diesem Streben formte sich seit Ende der 1990er Jahre der psychologisch wirksame, innenweltliche Anteil des oben beschriebenen Arbeitskraftunternehmers, noch sehr fokussiert auf die positiven Seiten der Aufgabendelegation mit mehr Eigenverantwortung, dem Erleben der eigenen Selbstwirksamkeit, auf der Suche nach sozialem Feedback und Wertschätzung durch Aufgabenzuwachs nach dem Motto »Du machst es gut, man traut es dir zu, weiter so«. Implizit treibt dies aber auch die Entgrenzungsspirale an und schürt zunehmend die Aufgabenüberlastung, vor allen bei den gut mit ihrer Arbeit identifizierten, engagierten Menschen (Meyerhuber, 2009, S. 106 ff.). Formulierungen wie »sich in den Dienst einer Sache stellen«, »sich die Organisationssicht zu eigen machen«, »sich loyal verhalten« oder »sich identifizieren mit den Aufgaben und proklamierten Zielen« illustrieren, dass eine solche Kolonialisierung der Innenwelt systematisch auf das Handeln, Denken und Fühlen des arbeitenden Menschen zielt. In den 1970er Jahren interessierten sich Arbeitgeber für die Arbeitskraft, zum Millennium zunehmend auch für die Persönlichkeit Erwerbstätiger. Diese Tendenz ist relativ jung und psychologisch nicht unproblematisch. Solange eine Person in Übereinstimmung mit den verinnerlichten organisationalen Zielen und bei © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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guter Gesundheit ihre Arbeit tun kann, fühlt sie sich wahrscheinlich zufrieden, in Anteilhabe, selbstwirksam, sozial zugehörig und bestätigt. Was aber bringt solch eine (zu) starke Identifikation psychologisch, unter dem Einfluss der Entgrenzung von Arbeit, mittel- und langfristig für erwerbstätige Menschen mit sich? Die Kehrseite ist hohes Risikopotenzial: Zunächst stellt eine identifikatorische Anpassung mit den Aufgaben, die man ausführt, aus tiefenpsychologischer Sicht zwar eine angenehme Form der psychischen Verarbeitung von Erwerbsarbeit dar. Schon seit Sigmund Freud in den 1920er Jahren werden Möglichkeiten der menschlichen Bedürfnisbefriedigung durch Arbeit im Sinne einer Triebsublimierung thematisiert. Freud weist aber auch darauf hin, dass mit der Einsozialisation in eine (Arbeits-)Kultur auch »das Kultur-Über-Ich seine Ideale ausbildet und seine Forderungen erhebt« (1930/2000, S. 267), also eine verinnerlichte Forderungsinstanz bildet, welche bei Nichtbefolgung zu Gewissensängsten führt und das Individuum mit seinen »strengen Idealanforderungen« in Spannung versetzt. Demnach gelingt es besonders gut, Menschen psychisch an ihre Arbeit zu binden, indem sie hier Chancen der Triebsublimierung vorfinden, bspw. durch das Erfahren der eigenen Formungskräfte bei einer Produkterschaffung, durch Angebote der sozialen Bindungen, Anerkennung und persönlichen Erfolge. Beruflich und persönlich ist es zweifellos langfristig auch sehr wichtig, gern und zufrieden seine täglichen Aufgaben zu bearbeiten. Eine Triebkanalisierung in sozial erwünschte Handlungen, wie vordringlich die Erwerbsarbeit, ist kulturell erwünscht, lebenslang erlernt und positiv konnotiert. Die Arbeitslosenforscherin Jahoda verweist entsprechend auf ein Zitat von Freud, wonach »die Arbeit der Menschen stärkste Bindung an die Realität ist. Diese Bindung an die Realität brauchen wir alle, wenn wir uns nicht verlieren wollen in Tagträumen und Phantasien« (Jahoda, 1983, S. 46). Eine so weitreichende innere Kolonialisierung von Erwerbstätigen in der Weise, wie sie postfordistisch erfolgt, hatte Freud jedoch nicht im Sinn. Die heutige Kolonialisierung der Innenwelt mit Anforderungen in der entgrenzten Arbeit macht es psychisch sehr schwer, sich gelegentlich zu distanzieren und Erwerbsarbeit gegen andere soziale Aktivitäten abzugrenzen oder auch nur andere Aktivitäten © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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neben der Arbeit zu pflegen. Sie trägt somit einen intrapersonellen Strukturkonflikt in die Psyche des Individuums hinein: Der Soziologe Sennett (1998) umschreibt dieses Problem mit dem Begriff Verantwortungsdrift, um zu thematisieren, was passiert, wenn die Verlagerung der Verantwortung für Aufgaben auf die arbeitende Person es mit sich bringt, dass es keine Person im Außen mehr gibt, der man tatsächlich eine Aufgabe zurückgeben oder die man um Unterstützung bitten kann. Arbeit kann an dieser Stelle seltsame Einbahnstraßen-Blüten treiben: Vorgesetzte kommunizieren zwar für das Ziel einer einvernehmlichen Aufgabenübernahme, stehen aber oft nicht hinreichend zur Verfügung, wenn es um Aspekte wie Überlastanzeige und Reduktion geht. Durch Personalabbau, Aufgabenverdichtung, Zeitprobleme und weniger direkte Kommunikation muss die arbeitende Person die Verantwortungsdrift zunehmend mit sich selbst ausmachen. Bestenfalls bedeutet das, sich quasi von sich selbst zu distanzieren, in Konflikt mit sich selbst (psychisch: selbstfürsorgliche vs. arbeitsverinnerlichte Instanz) oder mit der sozialen Umwelt zu geraten – und viele Menschen treten zunächst in Konflikt mit sich selbst, ehe sie mit den Sozialpartner/-innen um sich herum eine Auseinandersetzung beginnen! Hier sehe ich ein zentrales Erklärungsmoment für die hohe Zunahme arbeitsbezogener, psychosomatischer Erkrankungen, und hier setzen auch die o. g. Therapieziele an. Eine aus psychologischer Perspektive kritische Folge der entgrenzten Arbeit ist es auch, dass Lebensbereiche neben Arbeit an Bedeutung verlieren. Dies ist aus folgenden Gründen bedenklich: Therapietheoretisch werden für eine gesunde Entwicklung fünf Säulen der Identität unterschieden, die es auszubilden gilt: Spiritualität, Familie, soziale Aktivitäten und Freunde, Arbeit sowie Gesundheit (vgl. Rahm, Otte, Bosse u. Ruhe-Hollenbach 1993). Für die Postmoderne lässt sich feststellen, dass die ersten drei Identitätssäulen zugunsten der Arbeit zunehmend eingeschränkter im Leben Erwerbstätiger vorkommen. Geht entgrenzte Arbeit zudem zu Lasten der Gesundheit, dann wirkt sich dies auch deshalb besonders nachteilig aus, weil die normalerweise stützenden anderen Säulen der Identität nicht mehr hinreichend verfügbar sind – Familienbande, Religion, Vereinsmitgliedschaften etc. verlieren gesellschaftlich an © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Bedeutung. Das Individuum wird durch die Entgrenzungsdynamik also psychisch (zu) stark an seine Arbeit gebunden; es findet eine einseitige Identifikation mit der Arbeitsrolle statt, ohne andere soziale Rollen daneben hinreichend zu kultivieren. Und diese Tendenz wird belohnt: Beruflichen Erfolg zu erlangen, hat nicht nur unter jungen Erwachsenen noch immer hohes Sozialprestige – neben den existenziellen Erwägungen. Der Sozialphilosoph Negt konstatiert schon in der 1980ern: »Wenn es uns nicht gelingt, die Sinnfrage von der Arbeit abzukoppeln – und es ist gegenwärtig kaum sichtbar, wie das gelingen sollte – so wird der psychische Druck der Menschen sich gewaltig verstärken und die Pathologie der Normalität anwachsen« (1984, S. 165 ff.). Dies hat sich bewahrheitet, und es scheint sich, legt man die Krankenstatistik zugrunde, noch kaum eine Umkehrung dieses Trends abzuzeichnen.
Gesundheitliche und soziale Folgen – Arbeitssucht, Burnout, Mobbing The workplace is the most important environment for most people’s health, whether it is a home, office, factory or forest. (Kjellström, Hakansta u. Hogstedt, 2007, S. 14)
Nachdem die strukturelle Entgrenzung der Arbeit inklusive ihrer Auswirkungen für auch innere Strukturkonflikte Erwerbstätiger aus einer psychologisch-kritischen Perspektive skizziert ist, werden im Weiteren spezifische gesundheitliche und soziale Folgen dieser Dynamik diskutiert. Die meisten Menschen in unserer Gesellschaft wählen nach Möglichkeit einen Beruf, der ihren Interessen und Neigungen entgegenkommt, und gehen gern einer Beschäftigung nach, in der sie sich produktiv mit ihren Fähigkeiten als selbstwirksam und sozial akzeptiert erleben können. Der eingangs zitierten sozialmedizinischen Einsicht zufolge hat das Arbeitfeld, in dem man sich den ganzen Tag befindet, einen zentralen Einfluss auf die Gesundheit. Der Druck auf die Menschen in ihrer Arbeit hat sich trotz entsprechenden Wissens in der Gesellschaft verstärkt und die »Pathologie der Normalität« ist angewachsen. Die Deutsche Presse Agentur meldet im Dezember 2011: »Arbeitnehmer in Deutschland wer© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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den immer häufiger krankgeschrieben. Der Krankenstand bei den Betriebskrankenkassen stieg von Januar bis September im Vergleich zu demselben Zeitraum 2010 von 4 auf 4,2 Prozent im Monatsschnitt. Das geht aus der monatlichen Krankenstand-Statistik des BKK Bundesverbandes hervor. Damit steigt der Wert nun bereits im fünften Jahr kontinuierlich an. Psychische Krankheiten und Atemwegserkrankungen spielten eine besonders große Rolle. Die Krankheitstage wegen psychischer Erkrankungen stiegen in den ersten drei Quartalen um 13,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Von 2004 bis 2010 kletterte die Zahl der Tage, an denen Mitarbeiter mit Burnout-Syndrom krankgeschrieben waren, von 4,6 auf 63,2 pro 1000 Kassen-Mitglieder« (dpa 29. 12. 2011). Es wird den Statistiken der Krankenkassen zufolge anscheinend für arbeitende Menschen immer schwieriger, erwerbstätig und langfristig gesund zu bleiben. Aber sollte Arbeit nicht in gesunder Weise positive Anteilhabe bieten, Austausch entlang kollektiv wertvoller Aufgaben bereithalten, dem Einzelnen Anerkennung und Respekt verschaffen und damit zu Lebensfreude und Schaffensdrang beitragen, indem sie dem Einzelnen Ventile bietet, die eigenen Fähigkeiten durch berufliches Mitwirken sinnvoll und regelmäßig zu entfalten und auch weiterzuentwickeln? Durchaus. Ein entsprechendes Arbeitsverständnis zählt schon seit längerer Zeit zu den zentralen Zielen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bezogen auf eine Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz. Der Arbeitspsychologe Ulich zitiert aus der Ottawa-Charta der WHO 1986 dazu: »Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Lebensumstände und Umwelt zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen. […] Menschen können ihr Gesundheitspotenzial nur dann entfalten, wenn sie auf die Faktoren, die ihre Gesundheit beeinflussen, auch Einfluss nehmen können. […] Die Art und Weise, wie eine Gesellschaft Arbeit und die Arbeitsbedingungen organisiert, sollte eine Quelle der Gesundheit und nicht der Krankheit sein. Gesundheitsförderung schafft sichere, anregende, befriedigende und angenehme Arbeits- und Lebensbedingungen« (Ulich, 2008, S. 8). Ulich kommt nach Analyse arbeitsbezogener Studien allerdings zu dem Schluss, dass diese lange bekannten Ziele im Arbeitsmarkt © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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nicht erreicht werden, sondern dass es im Gegenteil einen fortwährenden Anstieg arbeitsbedingter Erkrankungen zu verzeichnen gibt. Die volkswirtschaftlichen Kosten durch Krankmeldungen sind immens, überall: Die europäische Beobachtungsstelle für berufsbedingte Risiken nennt arbeitsbezogenen Stress und daraus entstehende Folgeerkrankungen2 als zweithäufigstes Gesundheitsproblem in Europa (2008), mit steigender Tendenz. Auf Gesundheitsförderung zielen, wie oben erläutert, auch die Konzepte zur Nachhaltigkeit. Aber der tiefgreifende Strukturwandel infolge von Globalisierung und Entgrenzung scheint von immer mehr Erwerbstätigen nicht mehr auf Dauer verkraftbar. Dabei sind Krankmeldungen nur die Spitze eines Eisbergs – wie stark müssen Symptome werden, ehe jemand sich krankmeldet? Wie viele gehen arbeiten trotz wiederkehrender Schlafstörungen, Kopf- oder Rückenschmerzen, trotz Erkältungen oder einer hohen Angespanntheit? Wie gesellschaftsfähig sind entsprechende Symptome, wie sehr werden sie auch im Arbeitsumfeld als dazugehörig erklärt oder gar wie ein Ritterschlag stoisch ge- und ertragen? M. E. ist es die Grauzone vor der Krankmeldung, die der sozialpolitischen wie -psychologischen sowie letztlich der innerorganisatorischen Aufmerksamkeit bedarf! Obwohl also viele arbeitende Menschen gern ihren Beruf ausüben, wird durch steigenden Leistungs- und Verantwortungsdruck, meist ohne an den Rahmenbedingungen etwas ändern zu können und oft mit einer Angst vor Arbeitsplatzverlust gekoppelt, der Stress gesteigert. Gerade engagierte Personen, die ihre Arbeit gern tun, übernehmen auch mehr Aufgaben, machen sie gut, werden mit weiteren wichtigen Aufgaben belohnt, machen sich so die Entgrenzungslogik zu eigen, eine Anpassungsstrategie. Jedoch: Viel zu tun zu haben macht noch nicht krank. Das ist sicher richtig. Viel zu tun zu haben verführt jedoch sehr wohl dazu, über Warnsignale des Körpers hinwegzusehen, sie zunehmend als normal (fehl-)einzuschätzen nach dem Motto: »Oft liege ich halt im Bett und kann wegen der (noch offenen) Aufgaben nicht gut abschalten«, oder: »Ja, abends habe ich oft Rückenschmerzen vom langen Sitzen in 2
Als Folgererkrankungen verweisen sie bspw. insbesondere auf Depressionen und Krankheiten in Muskeln, Skelett und Bindegewebe.
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Besprechungen und am PC.« Solche Einsichten führen nicht dazu, sich weniger zu beanspruchen. Die Arbeitsaufgaben gehen ja weiter. Und Belastungssignale gelten gesellschaftlich als Erfolgsindikator: Man hat viel zu tun, kümmert sich gut um wichtige Dinge, hat leider wenig Zeit … – all das wird eher positiv konnotiert, gilt als Anzeichen gelungener Identifikation und Rollenaneignung. Fleißige und zuverlässige Mitarbeitende werden von Vorgesetzten geschätzt, von der Familie als erfolgreich bewundert, von Bekannten beneidet und von der Klientel angefragt. Alles prima? Nein, viel zu tun zu haben allein macht nicht krank. Zu viel jedoch ist ein Einfallstor für Erkrankungen, weil der Körper damit einseitig belastet wird: durch ein chronisches Zuviel an statischer Belastung, an Stresshormonen, an Schlafmangel etc. Während in den 1970er Jahren von Medizinern unter dem Stichwort »Typ-A-Verhalten« entsprechende Stressanzeichen vor allem für einzelne Führungskräfte als ein Verhaltensmuster diskutiert wurden, welches in ein erhöhtes Herzinfarktrisiko mündet, während der Psychoanalytiker Schmidtbauer (1977) zu etwa gleicher Zeit für helfende Berufe in Deutschland erstmals eine Burnout3-Phänomenologie beschrieb, haben diese beiden Inselphänomene sich heute zu Zeitphänomenen postmoderner Dienstleistungsarbeit verdichtet. In einem Arbeits3
Das Burnout-Syndrom wurde 1975 von dem amerikanischen Psychologen Freudenberger erstmals beschrieben als ein Zustand physischer oder seelischer Erschöpfung. Das Syndrom entsteht im Wechselspiel zwischen ungünstigen Organisationsbedingungen und personenbezogenen Faktoren: Oft entwickeln gerade die Engagiertesten ein Burnout. Es stellt als eine Unterform depressiver Erkrankungen einen empfindlichen Einschnitt im Leben leistungsbereiter Menschen dar. Warnsignale für drohendes Burnout-Syndrom sind: Verlust der Fähigkeit, sich zu regenerieren, Kontakteinschränkungen sowie der Verlust von Selbstvertrauen. Symptome sind bspw. emotionale Erschöpfung, Gleichgültigkeit oder Gereiztheit, verminderte Lebenszufriedenheit und reduzierte Leistungsfähigkeit. Werden die erbrachte Leistung eines Arbeitnehmers auf der einen Seite sowie Entwicklungsmöglichkeiten, Arbeitsplatzsicherheit und Gehalt auf der anderen Seite als ausgewogen wahrgenommen, so nehmen die Stressbelastung und zugleich das Burnout-Risiko ab. Neue Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass für eine Prävention wichtig sind: Anerkennung und Belohnung, ein unterstützendes Team, Fairness, Respekt und soziale Gerechtigkeit, klare Werte sowie eine als sinnvoll erlebte Tätigkeit.
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umfeld, in dem entsprechende Belastungssignale »dazugehören«, in dem ein zunehmend entgrenzter Arbeitsstil gepflegt wird, bleiben Warnungen des Körpers unverstanden. Die Entwicklung hin zu entgrenztem Arbeiten haben sich in vielen Arbeitskontexten über Jahre vollzogen, bleiben unhinterfragtes Muss, und die Belastungsreaktionen summieren sich individuell, zum Teil über viele Jahre. Sich auch körperlich belastet zu fühlen beginnt in solchem Arbeitsumfeld, als Zeichen von guter Auslastung missverstanden zu werden. Neben dem strukturell in entgrenzter Arbeit angelegten Druck leidet offenbar – auch durch diesen Druck – zugleich das soziale Miteinander: In den generell schon psychisch herausfordernden, sich fortlaufend wandelnden und verdichtenden Arbeitsbedingungen wird in neueren Studien neben anderen Faktoren auch die gesundheitsrelevante Bedeutung einer echten Wertschätzung und Unterstützung durch Vorgesetzte betont (vgl. Frieling u. Kauffeld, 2004; European Foundation for the the Improvement of Living and Working Conditions, 2007). Es zeichnet sich demnach die Erkenntnis ab, dass die physische und psychische Belastung besonders dann zur Überlastung wird, wenn vor allem direkte Vorgesetzte es an spürbarer Anerkennung und Wertschätzung im Alltag fehlen lassen. Dies misst sich u. a. daran, ob ernstgemeinte Partizipation ermöglicht wird – d. h. nicht nur ein Problem ansprechen zu können, sondern auch wahrnehmbare Handlungen zur Verbesserung der thematisierten Punkte danach zu erleben. Es sei an das WHO-Zitat oben erinnert: »Menschen können ihr Gesundheitspotenzial nur dann entfalten, wenn sie auf die Faktoren, die ihre Gesundheit beeinflussen, auch Einfluss nehmen können« (nach Ulich, 2008, S. 8). Insofern könnte man das Vorgesetztenverhalten als den Tropfen sehen, der ein Fass zum Überlaufen bringt. Zahlen stützen diese Anschauung. Ein belastendes Sozialklima sowie wenig unterstützendes Vorgesetztenverhalten erhöhen Studien zufolge das Risiko für Erschöpfungsdepressionen und ähnliche Erkrankungen um ein Vielfaches (vgl. Klemens, Wieland u. Krajewski, 2004). Man könnte argumentieren, dass respektvoller und kooperativer Umgang unter Erwachsenen selbstverständlich sein sollte, jedoch scheint es, dass Grundregeln zwischenmenschlicher Kommunikation vor allem dann, wenn Arbeitsverdichtung herrscht, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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weniger Beachtung finden. Volkswirtschaftlich kommt das teuer und zwischenmenschlich ist das bitter. Besonders unter Stress jedoch verfallen Menschen in regressive Reaktionsmuster. Medizinisch ist verbrieft, dass auch frühe Erfahrungen die individuelle Stresstoleranz prägen (vgl. Mayer, 2007). Insofern reagieren Menschen vor allem unter Druck nicht immer klug. Ein gutes Arbeitsklima zu pflegen – gerade auch unter Stress und Arbeitsverdichtung – wird damit zu einem zentralen Prüfstein menschenwürdiger Arbeit4 und ist die zentrale Herausforderung für Führungskräfte unter der Rahmenbedingung entgrenzter Arbeit. Hier profitieren Vorgesetzte, die selbst auch oft unter Druck stehen, sicherlich von entsprechender Fortbildung oder Coaching, um eine Gewahrsamkeit für entsprechende Probleme im eigenen Arbeitsalltag sowie angemessene Reaktionsweisen zu entwickeln und diese dann auch unter Stress einsetzen zu können. Auch ist eine Reflexion eigener Anpassungsleistungen im Arbeitsfeld sicher sinnvoll, um bspw. eigene blinde Flecken zu erkennen, die den Blick verstellen, konträre Aspekte in Mitarbeitenden angemessen wahrnehmen zu können. Dies ist einfacher gesagt denn umgesetzt. Aus langjähriger Erfahrung als Beraterin in Organisationen weiß ich, dass entsprechende Themen in den Fachausbildungen vieler Menschen, die in Führungspositionen sind, kaum vorgekommen sind. Auch in sozialen Berufsfeldern kommt eine kritische Selbstreflexion – hier hat der Schuster womöglich auch nicht immer die besten Schuhe? – oft zu kurz, selbst wenn sie bei der Klientel professionell gefördert wird. Und eine berufsbezogene Nachsozialisation zu leisten ist oft gar nicht einfach. Es gibt neben hierfür offenen Vorgesetzten auch Führungskräfte, die der Auffassung sind, selbst keinen Entwicklungsbedarf zu haben, und auch solche, die noch nicht einmal diesbezügliche Probleme wahrnehmen. Und selbst wenn generell eine sozialethische Haltung und Wahrnehmung für entsprechende Fragen besteht, so wird es immer dann besonders schwierig, wenn die Führungskraft selbst mit betroffen ist, also im System mitagiert, statt professionelle Distanz wahren zu können. Die o. g. arbeitswissenschaftlichen Daten 4
Im Sinne der »Decent Work«-Agenda 1999 und auch der WHO-Richtlinie zur Gesundheit am Arbeitsplatz 1986.
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ergeben allerdings ein Bild, wonach Vorgesetzte eine der wichtigsten Stellschrauben unserer Zeit sind, um dem alarmierenden Krankenstand entgegenzuwirken. Wirklich ernst gemeinter, spürbarer »sozialer Rückhalt gehört zu den wichtigsten protektiven Faktoren, die gegen Krankheit durch Stress schützen«, schreibt daher der Psychologe Oetting und mahnt: »Sicherlich sind die Mittel in jeder Organisation begrenzt. Es müssen aber mit den Mitarbeitern vertretbare Regelungen bezüglich der Mittelzuweisung getroffen werden, um sie nicht mit unlösbaren Problemen allein zu lassen, für die sie später die Konsequenzen tragen müssen« (2008, S. 57). Denn im Regelfall sind zunächst strukturelle Bedingungen Ausgangspunkt einer psychischen Belastung von Mitarbeitenden – und diese sind nur mit der Unterstützung Vorgesetzter zu ändern. Hier kann neben Finanz- auch an Arbeitsmittel, an eine chronisch enge Personaldecke, an zu viele Aufgaben im Arbeitsbereich usw. gedacht werden: alle unlösbaren Probleme, mit denen Mitarbeitende allein gelassen werden und für die sie die – auch gesundheitlichen! – Konsequenzen tragen müssen. Zum Prüfstein guten sozialen Rückhalts gerät daher insbesondere der Fall, in dem es darum geht, kooperativ über »weniger statt mehr« zu sprechen, bspw. wenn Mitarbeitende erkranken und für längere Zeit das bisher übliche Pensum nicht mehr leisten. Psychosoziale Klimapflege am Arbeitsplatz ist generell eine zentrale Führungsaufgabe; sie wird aber spätestens dann besonders wichtig, wenn bisherige Handlungsstile auf den Prüfstand müssen, weil für die Gesundheit ernsthafte Fürsorge und Umsteuern notwendig werden. Was macht dies so schwierig? Aus sozialpsychologischer Perspektive lohnt es, an dieser Stelle zu fragen, was Personen mit Führungsverantwortung selbst wollen, sollen und können. Dazu ein Szenario: Erkrankt ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin, so heißt das einerseits, unerledigte Aufgaben ruhen zu lassen oder auf andere Schultern umzuverteilen, womöglich auch auf die eigenen. Angesichts der entgrenzten Arbeitsbedingungen für alle ist dies erwartbar belastend und kann kein Dauerzustand sein. Der Einsatz von Zeitarbeitern ist eher bei industriellen Tätigkeiten denkbar; die meisten Arbeitsplätze sind heute im Sektor Dienstleistungs- und Wissensarbeit und nicht einfach delegierbar. Geht es © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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darum, dass ein langjähriger Erfahrungsträger ausfällt, so hat diese Person ihren Arbeitsplatz meist auf die eigenen Routinen zugeschnitten, die Dritten nicht spontan entsprechen mögen, und oft auch ein sehr hohes Aufgabenpensum in diesen Routinen zusammengewoben. Vertretungsprinzipien bestehen in vielen Arbeitsfeldern nur noch theoretisch – um die Aufgabenerledigung anderer wirklich zu kennen, bräuchte man im Alltag Zeit, um zu erleben, wie diese wirklich abläuft. Personalabbau und Aufgabenverdichtung seit den 1990ern haben dies in vielen Arbeitsfeldern verunmöglicht. Es gibt darum nur noch selten tatsächliche Vertretung, sondern es besteht eine hohe Erwartung an ausfallende Kollegen, rasch wieder zu gesunden. Dies jedoch ist bei den in den Statistiken genannten Erkrankungen gerade nicht erwartbar, sie bedürfen oft längerer Genesungszeiträume: Chronische Kopf- oder Rückenschmerzen, Belastungs- oder Erschöpfungsdepression, Infektanfälligkeiten und Allergien, Herzinfarkt oder Schlaganfall sind kein Schnupfen! An dieser Stelle geraten auch wohlmeinende Personen in der Führungsrolle in ein schwieriges Fahrwasser – auf die Erkrankung eines Teammitglieds mit Unverständnis, Ungeduld, Ausgrenzung oder Bagatellisierung zu reagieren, verschärft einerseits durch eine unfreundliche Atmosphäre das gesundheitliche Problem. In unserer entgrenzten Arbeitswelt gehört es andererseits zu den psychischen Bewältigungs- und Abwehrstrategien jener, die in ihr bestehen wollen, dass Unpässlichkeiten bagatellisiert werden (»Fieber – ich nehme Medikamente, den Termin können wir nicht absagen!«), schnell vorübergehen sollen (»Sicher sind Sie zum Ende der Woche wieder dabei?«), als Störfaktoren ausgeblendet und wegorganisiert werden (»Solange Sie nicht zur Verfügung stehen, brauchen Sie auch keine diesbezüglichen Informationen«) oder auch irritiert abgewertet (»Krank? Mir tut der Rücken auch mal weh, es sind halt lange Tage«). Der Leib stört mit seinen Bedürfnissen den Kopf, welcher wie gewohnt weitermachen möchte, und ausfallende Kollegen erinnern daran. Das ist unbequem – zumal entgrenzende Rahmenbedingungen oft nicht änderbar scheinen. Es bieten sich zwei Wege an, damit umzugehen: entweder systemimmanente Arbeitsroutinen in Frage zu stellen oder einen Symptomträger zu definieren und sich von diesem abzugrenzen. Oft findet sich in der Praxis leider Letzteres. Psycho© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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logisch kann davon ausgegangen werden, dass Führungspersonen selbst Teil entgrenzter Arbeitsroutinen sind, sie oft sogar erzeugen. Das bringt es mit sich, dass sie sich nicht vorstellen können, bspw. Aufgaben wegzulassen oder mehr Personal einzustellen. Und ihre eigene psychische Anpassungsleistung an hohe Arbeitsverdichtung führt zu einer projektiven Abwehr des »Nicht-mehr-Schaffens«/ »Versagens« im Gegenüber. Der erkrankte Mitarbeiter verkörpert so im wörtlichen Sinne die abgewehrten Ängste, woraus für eine führungsseitige psychosoziale Klimapflege folgt: Klimawandel – es bricht die Eiszeit aus. Insofern greift hier eine spezifische, soziopsychologisch-problematische Dynamik, die ich mit folgender These auf den Punkt bringen möchte: Entgrenztes, ich möchte es arbeitssüchtiges Verhalten nennen, in einem Arbeitsfeld als Normalität zu kultivieren, produziert nach einer Weile einerseits gesundheitliche Ausfälle5 und andererseits Mobbing (Ausgrenzung jener, die nicht mehr mithalten). Aus dieser Verkoppelung erklären sich zugleich viele Teamkonflikte und Erkrankungen in unserer Arbeitswelt. Dies ist im Folgenden genauer zu zeigen. Zur These der Arbeitssucht als eine oft unerkannte Nebenfolge entgrenzter Arbeit und eine dem Burnout und anderen Erkrankungen vorausgehende Problematik
Die These einer Gleichsetzbarkeit von chronisch entgrenztem mit arbeitssüchtigem Verhalten bedarf zunächst einer Herleitung. Arbeitssucht stellt keine medizinisch kategorisierte Krankheit des ICD-10-Index der WHO dar. Dennoch häufen sich Erkenntnisse, wonach es Verhaltensweisen in Bezug auf Arbeit gibt, welche es erlauben, von einer Suchtkrankheit zu sprechen. Süchte gehen mit spezifischen Verdrängungsmechanismen einher: Relationen verschieben sich; suchtbezogenes Verhalten wird rationalisiert, aufgesucht und in seinen absoluten Aspekten verschleiert; langsam entgleisen jedes Maß und die Kontrolle; was zunächst Spaß machte, wirkt zunehmend gesundheitsschädigend; etc. Symptome können sich physiologisch 5
Eskalierend: Anspannung, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Infekte, Magenprobleme, Allergien, chronische Schmerzen, Burnout, Herzinfarkt.
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und auch im Verhalten manifestieren, wobei einige äußerlich sichtbar werden, während andere mehr in der Person selbst ablaufen. Vier deutsche Autoren haben sich insbesondere mit einer Diagnostik und Intervention entsprechender Phänomene befasst. Die Unternehmensberaterin Fassel (1992) entwickelt aus ihren Fallbeschreibungen heraus drei Typen von Arbeitssüchtigen; der Psychologe Poppelreuter (1996) erhebt empirisch mittels Fragebogen arbeitssüchtige Verhaltensmerkmale und unterscheidet vier Arbeitssuchttypen; der Familientherapeut Robinson (2000) typisiert aus Fällen in seiner Therapiepraxis fünf Erscheinungsformen von Arbeitssüchtigen; und der Ökonom Heide (2000) differenziert aus Beobachtungen in Selbsthilfegruppen Arbeitssüchtiger sowie aus einer interdisziplinären Zusammenschau bisheriger Ansätze in zwei Grundtypen Arbeitssüchtiger. All den vorgeschlagenen Ansätzen und Typisierungen liegt die Erkenntnis zugrunde, dass arbeitssüchtige Menschen sich von ihrer Arbeit gedanklich kaum zu lösen vermögen und dass sie mit Hilfe von Arbeit – durch verschiedene Formen ihrer Ausübung oder auch ihrer Vermeidung – Adrenalinausschüttungen im eigenen Körper erleben. Während dies bei Stress ähnlich ist, sehnt die gestresste Person ein Ende herbei, während die arbeitssüchtige Person das Gefühl aufsucht, weil sie es normal findet oder genießt. Eine erste Einschätzung, wonach das Verhalten Arbeitssüchtiger mit dem eines Alkoholikers vergleichbar und eine Krankheit ist, findet sich schon bei Mentzel (1979, S. 115), damals noch als Phänomen bei manchen Managern. Dass konkrete, differenzierende Ansätze im deutschen Raum alle seit den 1990ern, parallel zur Entgrenzung und Subjektivierung der Arbeit, verfasst wurden, ist sicherlich kein Zufall und dokumentiert auch die vielen Gestalten, die das Syndrom annehmen kann. Die Ökonomin und Personalreferentin Meißner zeigt in ihrer Studie »Die Droge Arbeit. Unternehmer als Dealer und Risikoträger« (2005) erstmals systematische Zusammenhänge auf zwischen der arbeitsmarktlichen Tendenz zum Arbeitskraftunternehmer bzw. der Entgrenzung von Arbeit sowie deren Folgen für ein Entgleisen der innenweltlichen Verarbeitung dieser Anforderung in Form von Arbeitssucht und errechnet zudem die durch diese Tendenz organisationsseitig entstehenden Kostenrisiken. Diese sind demnach erheb© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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lich. Für Meißner stellt Arbeitssucht ein – verschwiegen gefördertes, da vordergründig rentables – Massenphänomen dar. Nach Ansicht des Sozialökonomen Heide hängt die Entwicklung zum Massenphänomen vor allem zusammen mit einer »exzessive[n] Betonung des Leistungsprinzips im gesamten Sozialisationsprozess […]; zum anderen wird der Ausbruch der Arbeitssucht durch Verschiebung des Verantwortungsdrucks innerhalb der Unternehmenshierarchie nach unten und die zunehmende Konkurrenz um die weniger werdenden Arbeitsplätze gefördert« (Heide im Vorwort zu Meißner, 2005, S. 9). Heide konstatiert also, wie auch Meißner, eine aus einseitiger Leistungsorientierung resultierende Fehlentwicklung. Die Entwicklung zu entgrenzter Arbeit in Organisationen erzeugt und fördert eine oft unerkannte, kaum reflektierte Suchtproblematik in der Arbeitswelt als Nebenfolge. Der Autor selbst geht noch einen Schritt weiter; ihm zufolge herrscht in der Praxis eine Einschätzung vor, »ohne ein gewisses Mindestmaß an Arbeitssucht bei seinen qualifizierten Angestellten könne ein Unternehmen heute kaum überleben« (Heide in Meißner, S. 9). In dieser Logik scheint es für Unternehmen wirtschaftlich vorteilhaft, Menschen mit hoher Leistungsbereitschaft und Einsatzfreude zu finden und diese möglichst lange auf maximalem Niveau auszulasten: Es rentiert sich (scheinbar, zunächst!). Dass es für Betroffene dabei, ähnlich wie bei anderen Süchten, zu zunehmendem körperlichen sowie verhaltensbezogenen Problemen bis hin zum Tod kommen kann, ist in Deutschland ein bisher verschleiertes und individualisiertes Thema. Heide stellt fest: »Arbeit mit etwas Pathologischem in Verbindung zu bringen, stößt auf Abwehr« (S. 9)6. 6
In andern Ländern kann das womöglich anders thematisiert werden: In Japan hat sich der Begriff Karoshi (= Tod durch Arbeit) eingebürgert, in Anerkennung der Gefahr tödlicher Überarbeitung. Auch gibt es dort einen Begriff für das – in Deutschland ebenso undenkbare – Nickerchen im Büro: Inemuri (= anwesend sein und schlafen), im Herkunftsland als Zeichen des Einsatzes in der Arbeit bis zur Erschöpfung positiv konnotiert und z. B. von Politikern regelrecht in Szene gesetzt (vgl. Etzold, 2004). In Deutschland sprechen wir bspw. vom Herzinfarkt (was ein Organversagen thematisiert) statt vom Arbeitstod (was ein Sozialversagen thematisieren würde) – m. E. des Nachdenkens wert.
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In Deutschland, sicherlich auch geprägt durch historische Momente wie die protestantische Arbeitsethik (Weber, 1905/2009, S. 81 ff.) und die Aufbaujahre im Wirtschaftswunderland, hat Arbeit ein durchweg gutes Image: »Ohne Fleiß kein Preis«, heißt es, »Der frühe Vogel fängt den Wurm!« und »Arbeit ist die beste Medizin«. Leistungsbereitschaft wird gesellschaftlich sehr positiv konnotiert. Arbeit als Droge und auch kritisch anzusehen, liegt erst einmal fern. Doch jede Medizin muss wohldosiert sein für eine optimale Wirkung, und statt »viel hilft viel« ist eine Überdosis gesundheitsschädlich. Dies passiert durch die Entgrenzung vielen Menschen in einer Arbeitsumwelt, die es belohnt, wenn Mitarbeiter so viel wie irgend möglich arbeiten. Hellert (2011) bezieht sich auf eine Arbeitszeitstudie des ISO von 2003, wenn er schreibt: »Täglich eine Überstunde gefährdet das Herz: Wer pro Woche mindestens fünf Überstunden arbeitet, verdoppelt fast sein Herzinfarktrisiko.« Auch steigt statistisch das Unfallrisiko um 1 % je Mehrarbeitsstunde (vgl. Hellert, 2011). Wie also das gesunde Maß sichern? Leitung hat hier wiederum eine zentrale Rolle. Personen, die selbst ein hohes Suchtpotenzial in sich tragen und Personal auswählen, erhalten und entwickeln sollen, neigen laut Heide (Heide in Meißner, 2005, S. 10) oft dazu, Arbeitssüchtige eher zu fördern und diesen Zusammenhang mit den eigenen Neigungen zu verdrängen. Der Autor vermutet, dahinter stehe ein unbewusster Versuch der Vermeidung, Nichtsüchtige um sich zu haben, um nicht mit der eigenen Sucht und deren destruktiven Konsequenzen konfrontiert zu werden. Führungskräfte und andere Personen mit arbeitssüchtiger Neigung, die Personal rekrutieren, werden sich demnach möglichst zur eigenen Anpassungs- und Abwehrformation passende Mitarbeitende suchen und es vermeiden, dass arbeitssüchtige Tendenzen thematisiert oder hinterfragt werden. Die weiter oben geführten Überlegungen zur Rolle Vorgesetzter und ihren psychischen Bewältigungs- und Abwehrmustern fügen sich hier ein. Meißner definiert Arbeitssucht wie folgt: »Arbeitssucht ist eine zwanghafte und pathologische Fixierung auf die Arbeit (Erwerbsarbeit), auf die Arbeitsergebnisse bzw. auf das Arbeiten, der der Süchtige sich ausliefert bzw. hingibt und damit die Verantwortung des eigenen Handelns im Umgang mit sich selbst und seinem Umfeld abgibt und die Kontrolle darüber verliert« (2005, S. 36). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Eine Fixierung auf die Arbeit wird durch das Arbeitskraftunternehmertum, also durch die Art und Weise postmoderner Mitarbeiterführung, sehr gefördert. Zudem tragen Aufgaben- und Personalverdichtung zu einem generell engen Zeitbudget bei, was für viele Menschen Stress mit sich bringt. Wie unterscheidet sich Stress von Arbeitssucht? Bei Stress werden vermehrt Hormone (Adrenalin, Noradrenalin) in den Körper ausgeschüttet, die aber in den meisten Dienstleistungs- und Wissensberufen nicht durch körperliche Bewegung wieder abgebaut werden können, da sitzende Tätigkeiten überwiegen. Der modernen Stressforschung liegt entsprechend ein transaktionaler Ansatz zugrunde, wonach bei Stress eine Wechselwirkung von Situation und Person vorliegt (Schwarzer, 2000, S. 14; Lazarus 1999, S. 76). Als gesundheitliche Folgen dauerhafter Stresshormonausschüttungen nennt Vester (2000, S. 46 ff.) bspw. angestaute Aggressionen, Neurosen, verminderte Immunabwehr, Stoffwechselstörungen, Asthma, Gefäß- und Herzerkrankungen sowie erhöhte Krebsdisposition. Stress und Arbeitssucht gemeinsam ist Meißner (2005, S. 37) zufolge die wiederholte Adrenalinausschüttung sowie deren Gesundheitsfolgen. Während Stresskonzepte jedoch auf punktuelle Situationen und deren physiologische Auswirkungen fokussieren unter der Prämisse, dass Menschen die Stressoren kennen und dann konstruktiver zu steuern lernen, wird bei Arbeitssucht die Persönlichkeitsentwicklung in den Mittelpunkt gerückt mit ihrer Prädisposition (familiäre und schulische Sozialisation) sowie der suchtfördernden Umwelt (gesellschaftliche und berufliche Sozialisation), in der auch arbeitsbezogener Stress als Auslöser von Arbeitssucht gewertet werden kann, wie Meißner (S. 38) betont. Insofern hat Arbeitssucht immer auch die Stresskomponente, Stress für sich aber nicht zwingend eine Arbeitssuchtkomponente.
Dem betrieblichen Umfeld und seiner Leitkultur kommt Meißner (S. 52 ff.) zufolge bei der Entwicklung von Arbeitssucht eine erhebliche Bedeutung zu. Daneben spielen auch Vorerfahrungen als Kind (z. B. Lob und Zuwendung für Leistungen, Außenorientierung über viele Termine, Sport als Wettbewerb), die eigene soziale Einbettung (wie erfüllende Sozialbeziehungen vs. SichAblenken mit Arbeit) sowie kulturelle Werte (z. B. Sich-Verausgaben als erfülltes Leben beschreiben, Yuppies idealisieren und das © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Leistungsprinzip betonen) eine Rolle bei der Frage, wie verführbar Erwerbstätige dafür sind, sich auf eine entgrenzte Leitkultur an ihrem Arbeitsplatz einzulassen und sie so zu internalisieren, dass Arbeitssucht dabei entsteht. Unter den heutigen Arbeitsbedingungen, wo in den meisten Berufen Aufgabenverdichtung und enge Personaldecke bestehen, fragt man sich demnach: Teufel oder Weihwasser oder …? Denn entweder man identifiziert sich mit dem, was und wie etwas im Arbeitsumfeld gemacht wird (Introjektion und Identifikation7), ist dadurch auch ganz zufrieden bei dem hohen Arbeitsdruck und riskiert zugleich, im Laufrad nie endender Aufgaben arbeitssüchtig zu werden – voraussichtlich hält man dann so lange durch, bis gesundheitliche Störungen dem ein Ende setzen. Oder man identifiziert sich nicht mit seiner Arbeit (Distanzierung), muss aber dennoch mit der Aufgabendichte zurechtkommen – dann haben wir es zumindest mit permanenten Stressreaktionen zu tun und einer höheren Unzufriedenheit, da die Identifikation mit dem Arbeitsstil fehlt. Logische Alternativen sind also, entweder zufrieden oder unglücklich auf Dauer ungesund zu arbeiten! Welche dritte Möglichkeit gibt es? Ein ruhigeres Arbeitsumfeld zu finden erweist sich in der Postmoderne als immer unwahrscheinlicher. Personalpolitisch wäre es laut Meißner (2005, S. 54) wichtig, Mitarbeitende zu haben, die zugleich stabil zur Verfügung stehen und sich abzugrenzen verstehen, um in guter Work-Life-Balance langfristig verlässliche Partner im Unternehmen sein zu können. Unter 7
Unter Introjektion kann der Prozess des In-sich-Aufnehmens von Werten und Normen verstanden werden, die jemand im Rahmen der Persönlichkeitsentwicklung durch Sozialisation verinnerlicht. Werden so verinnerlichte Pflichten vernachlässigt, empfindet der Mensch Schuld- oder Schamgefühle, ein schlechtes Gewissen. Introjizierte Normen und Werte werden im Laufe der Entwicklung passiv und ohne eigene freie Entscheidung von außen eingegeben, können daher mehr oder weniger von der eigenen Persönlichkeit abweichen und im Extremfall konträr dazu stehen. Die Introjektion kann so von Formen der Identifikation und Internalisierung unterschieden werden, bei denen Normen und Werte aktiv aufgenommen und durch Assimilation in das Gesamt der Persönlichkeit integriert werden. (Vgl. Laplache u. Pontalis, 1992, und http://de.wikipedia.org/wiki/ Introjektion [Zugriff 12. 01. 2012].)
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entgrenzten Arbeitsbedingungen wird es jedoch immer schwieriger, nein zu sagen und das eigene Aufgabenpensum in einem während der Arbeitszeit bewältigbaren Level zu halten. Meißner führt dazu aus (mit Verweis auf Pongratz u. Voß, 2003, S. 22 f.; Pickhaus et al., 2001, S. 12): »Die Kontrolle wird direkt auf die Mitarbeiter übertragen, indem durch gruppendynamische Prozesse entsprechender Druck von Kollegen auf Kollegen ausgeübt wird, die nicht den erwarteten Arbeitseinsatz bzw. die erwartete Arbeitsleistung erbringen. […] Das Management steuert indirekt durch die strategische Vorgabe von Leistungsbedingungen und -zielen und überträgt ihre bisherige Führungsaufgabe der Arbeitssteuerung in wesentlichen Teilen auf die Arbeitnehmer, denen somit auch die Eigenverantwortung obliegt. […] Dies verlangt von ihnen steigende Flexibilität und Ausdehnung der Arbeitszeit weit über die normale Arbeitszeit hinaus, hohe Leistungsbereitschaft sowie häufig weitestgehende Verfügbarkeit für die Unternehmen, damit sie sicherstellen, dass ihre Fähigkeiten gebraucht und effektiv genutzt werden. Damit einhergehende, einschneidende Veränderungen im Privatleben, welches sich verstärkt auf die Arbeit ausrichtet, werden von den Arbeitnehmern toleriert« (Meißner, 2005, S. 61). Meißner nennt diese Form der Führung auch »Management of Emotions« (S. 61), da Vorgesetzte mit diesem Stil nicht nur die fachliche Rationalität, sondern auch die innerliche Gestimmtheit ihrer Mitarbeiter/-innen an sich zu binden suchen. Durch die Verinnerlichung bzw. Identifizierung mit der Arbeit wird zugleich das Über-Ich für die Leistungserfüllung in Anschlag gebracht. Dann, so die Autorin, »wird das schlechte Gewissen instrumentalisiert, in dem der Druck erhöht wird« (S. 62), bspw. durch schrittweise Erhöhung von Zielvorgaben, Personaleinsparung bei gleicher Aufgabenlast, knappe Ressourcenzumessung und Zurücknahme von Ressourcen und Gratifikationen bei Misserfolgen. »Das Neue […] besteht darin, dass die Beschäftigten dies aus eigenem Willen exekutieren und mit einem Denken verbinden, welches vollständig von der unternehmerischen Logik bestimmt wird«, führt Meißner (S. 62) aus. Der Arbeitspsychologe Sauer (2006) nennt diese Entwicklung »freiwillig die Gesundheit zu riskieren«. Wobei m. E. psychologisch über den © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Grad dieser Freiwilligkeit reflektiert werden sollte, wenn Angst vor Arbeitslosigkeit einerseits und kontextuelle Gehirnwäsche andererseits dazu führen, dass der Mensch in unguter Weise will, was er wohl auch soll. Psychoanalytisch verweist ein solches Bewältigungsmuster auch auf eine Identifikation mit dem Aggressor8. Die Frage ist natürlich, wie lange so etwas gut geht. Wie kann trotz breiter Leistungsprinzipsozialisation ein gesundes Maß überhaupt noch realisiert werden?9 Letztlich sind Menschen, die sich auf die Entgrenzung von Arbeit einlassen, gefährdete Menschen und heute der Regelfall, den WHO-Vorgaben und neueren Programmatiken zum Trotz. Entgrenzt zu arbeiten bedeutet »Pokern auf Zeit«, also mitzuhalten, so lange es geht. Entsprechend merkt Meißner nachdenklich an: »Kritisch wird es für den Mitarbeiter, wenn seine Kraft nachlässt und er aufgrund gesundheitlicher Probleme dieser indirekten Steuerung mit dem einhergehenden Druck nicht mehr 8
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Identifikation mit dem Aggressor bezeichnet in der Tiefenpsychologie einen Abwehrmechanismus, bei dem eine Person, die von einem Aggressor körperlich und/oder emotional misshandelt oder unterdrückt wird, sich unbewusst mit ihm identifiziert. Die Person verinnerlicht und übernimmt dabei unbewusst und oft gegen ihre bewusste Überzeugung Persönlichkeitseigenschaften, Werte und Verhaltensweisen des Aggressors und macht sie zu Selbstanteilen. Die Reaktion dient dem Schutz des eigenen psychischen Systems und hat den Charakter einer »letzten Notbremse« vor einem drohenden Zusammenbruch des Selbst angesichts überwältigender und nicht integrierbarer Attacken. Psychisch von hoher Bedeutung, um hilfsweise die Funktionsfähigkeit des Selbst aufrechtzuerhalten, wirken sich die Folgen der Identifikation mit einem Aggressor jedoch in hohem Maße gegen die Integrität (Unversehrtheit) und das Wohlergehen des Selbst aus, da die Entwicklung persönlicher Autonomie unterdrückt wird (vgl. Laplache u. Pontalis, 1992, und http://de.wikipedia.org/wiki/Identifikation_mit_dem_Aggressor [Zugriff am 12. 01. 2012]). Eine Frage, die in Hinblick auf die jüngeren Generationen womöglich noch mehr an Brisanz gewinnt. Man denke bspw. an die frühkindliche Bildung im Kindergarten, durchorganisierten Freizeitaktivitäten neben der Schule, Abitur nach zwölf Jahren, Promotion mit 25 und die Juniorprofessur bis max. 35 Jahre … – wo haben solche Menschen noch Lebenserfahrungen jenseits des Leistungsprinzips, auf die sie als Ressource und Korrektiv werden zurückgreifen können? Wie wird das therapeutisch nachsozialisierbar, wenn schon der Kindergarten auf Schule vorbereiten soll, statt individuelles Erleben und Neigungen zu fördern, egal wie »verwertbar« diese einmal sein mögen?
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standhalten kann. Er kann nicht ohne weiteres aus diesem Prozess aussteigen, obwohl er seine Arbeit vordergründig eigenverantwortlich organisieren darf« (Meißner, 2005, S. 62). Einerseits ist ein Ausstieg aus bisheriger Arbeitspraxis psychisch schwierig, weil dazu bisher als gut und richtig verstandene, oft seit der Kindheit verinnerlichte Ziele völlig neu bewertet werden müssten – das erzeugt Selbstzweifel und Schuldgefühle. Andererseits argumentieren Vorgesetzte auf die Bitte einer Aufgabenrücknahme mit der Fairness im Hinblick auf andere Kollegen, mit Appellen hinsichtlich der eingegangenen Verpflichtungen und nicht zuletzt mit persönlicher Enttäuschung sowie der Rücknahme von Anerkennung. Sie können so einen erheblichen psychischen und sozialen Druck aufbauen. Sich als krank und zugleich sozial inkompatibel zu erfahren ist doppelt beunruhigend für Betroffene, sie geraten in eine eigentümliche Isolation. All dies erhöht die Gefährdung Erwerbstätiger, entweder gegen ihre Gesundheit weiterzumachen oder – zusätzlich sozial erschöpft – aufzugeben. Dynamisch wird an solch einem Moment der Übergang von Arbeitssucht zu Burnout gut nachvollziehbar. Arbeitszeitflexibilität erlaubt es vermeintlich, sich selbstgesteuert bei Bedarf Erholungszeit zu nehmen und in Phasen guter Energie mehr zu geben. In kleinem Rahmen funktioniert das gut. Chronisch überarbeitete Menschen können solch graduelle Zeitzonen aber für Erholung kaum mehr nutzen, weil die Erschöpfung zu tiefgehend ist und echte Entspannung auch verlernt wird.10 Immer mehr nimmt derzeit der Trend zur sogenannten Vertrauensarbeitszeit (oder auch »amerikanische Arbeitszeit« = kommen, wann man möchte) zu. Meißner weist in ihrer Studie nach, dass entsprechende Vertrauens10 Als arbeitsermöglichende Lebensführung wird die Freizeit auf die Sorge um Bewegung, Schlaf und Nahrung verdichtet: das Fitness-Studio als Ausgleich zur sitzenden Tätigkeit als ein weiteres Muss statt optional, die Rationierung von Schlaf (viele Menschen halten sechs bis acht Stunden für ausreichend, statt in sich hineinzuspüren, wie viel sie gerade benötigen); sogar Ernährung unterliegt mehr der Erhalt- statt einer Genusslogik und muss schnell gehen. Müßiggang und vermeintlich »unnütze« Dinge gehen aus der Lebensführung verloren, Familie wird aufgeschoben auf Mindestund Pflichtbesuche, Freundschaften werden vor allem telefonisch oder via E-Mail gepflegt – sich zu treffen wäre zeitlicher Luxus.
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arbeitszeit- und Arbeitszeitkonten-Modelle sowie der tatsächliche Umgang damit Entgrenzung fördern, weil Erwerbstätige dazu neigen, lieber etwas mehr Arbeitszeit statt zu wenig zu leisten. Ohne Zeiterfassung gibt es immer jemanden, der eher kommt oder länger bleibt: Ein »Aha, kommst du auch schon?« oder »Och, gehst du jetzt schon?« erzeugt Legitimationsdruck und kann zermürben. Meißner stellt fest: »Je weniger Führungskräfte auf die Einhaltung des Arbeitszeitgesetzes achten, desto freier und unkontrollierter können Arbeitssüchtige agieren« (2005, S. 165). Und jene, die es mit der Zeit dadurch werden. Die firmeninterne Logik scheint der Studie zufolge etwa so zu gehen: Personalabteilungen weisen Vorgesetzte immer mal auf das Arbeitszeitgesetz hin und haben damit ihre Pflicht getan, Vorgesetzte nehmen Arbeitszeiten eher dann zur Kenntnis, wenn sie Bedarf sehen (also eher, wenn sie den Eindruck haben, jemand arbeitet nicht genug), und Mitarbeitende sehen sich auf den Aspekt der Leistungserbringung reduziert, ohne Anerkennung der tatsächlich dazu aufgewendeten Zeit. Die so entstehende Grauzone war früher eine von arbeitssüchtigen Managern aufgesuchte, heute ist sie eher die Pufferzone vieler Erwerbstätiger, ihre Aufgaben überhaupt zu schaffen. Gleichzeitig besteht der Studie zufolge ein unternehmensseitiges Desinteresse an tatsächlicher Evaluation von Erkrankungen von Mitarbeitern im Hinblick auf betriebliche Auslöser: Personalabteilungen sowie Vorgesetzte führen den Erkenntnissen zufolge höchst unregelmäßig Krankenrückkehrgespräche, und diese kaum unter der Perspektive, ob arbeitsbezogene Auslöser für die Erkrankung gesehen werden (Meißner, 2005, S. 171). Während viele Unternehmen programmatisch Gesundheitsförderung im Zielkatalog führen, gibt es der Studie zufolge einen Trend zur individuellen Lösung statt breiter Angebote oder steuernder Eingriffe vor oder bei Erkrankungen. Meißner: »Auf der einen Seite werden die Mitarbeiter aufgrund des starken Leistungsdrucks und den hohen Erwartungen an ihre Grenzen gebracht, auf der anderen Seite werden sie jedoch bei gesundheitlichen Beschwerden unterstützt, damit sie schell wieder ihre Leistungen und somit Profit für das Unternehmen bringen« (S. 173). Der Studie der Autorin zufolge sind Fluktuationen eher auf Unzufriedenheit mit Vorgesetzten als auf eine Überforderung allein © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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zurückzuführen (S. 174). Solange das soziale Klima stimmt, halten Mitarbeitende die Überlastung lange durch – gesundheitlich womöglich angeschlagen, aber nicht so, dass sie ganz ausfallen (analog zu den in Abschnitt 4 zitierten Befunden). Eine annehmende Konfliktkultur, bei der zeitnah und offen Probleme in der Hierarchie besprochen und auch gelöst werden können, gibt es nur selten. Der Burnout-Forscher Müller (1995, S. 39) erläutert, dass Institutionen, die Mitarbeitern nur begrenzte Einflussmöglichkeiten auf problematische Angelegenheiten einräumen, ein wichtiges Grundbedürfnis des Menschen untergraben, nämlich das Streben nach Autonomie und die Kontrolle über das eigene Leben. Der Autor schreibt: »Mitverantwortlich für ein Ausbrennen ist weiterhin eine belastende zwischenmenschliche Atmosphäre am Arbeitsplatz. Dazu rechne ich […] autoritäre […] und desinteressierte Führungsstrukturen genauso wie mangelnde Kommunikation. Außerdem sorgt […] Mobbing für dicke Luft. Gefahr droht, wenn das Firmenklima sich verschlechtert und die stabilisierende Kraft der wechselseitigen Bekräftigung an Wirkung und Macht verliert. So wie engagierte […] Menschen ausbrennen, wenn die Enttäuschungen überhand nehmen, sind auch die mit ihrer Firma hoch identifizierten Personen dann gefährdet, wenn der Anerkennungs- und Erfolgsrückfluss nicht mehr stimmt« (Müller, 1995, S. 40). Das innerbetriebliche Geschehen mit rahmender Arbeitssituation und Vorgesetztenverhalten entfaltet demnach eine Dynamik von Entgrenzung, Überarbeitung, Enttäuschung, Erkrankung und Mobbing, welche in gesundheitliche Ausfälle mündet. Es folgert, dass den Krankheiten gemäß aktueller Statistik bis hin zu Erschöpfungsdepression und Herzinfarkt entgrenzte Arbeit und oft auch Arbeitssucht (vom »Dealer« Führung/Unternehmen gefördert) vorausgehen. Klinisch auffällig wird diese Praxis aber erst nach langer physischer und psychischer Überforderung in individuellen Erkrankungen. Oft gibt es dabei sich über Jahre summierende körperliche Symptome, bis diese in einer Arbeitsunfähigkeit kulminieren. Nachdem Arbeitssucht näher bezeichnet und ihr Zusammenhang mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen exemplarisch abgeleitet ist, wird im Folgenden die (anti-)soziale Kehrseite der Erschöpfung diskutiert, welche nicht selten Mobbing ist. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Zur These des Mobbings als eine psychosoziale Abwehrformation von Versagensängsten, von NichtAnerkennung eigener Überforderung und Versehrbarkeit sowie letztlich auch der Angst vor Arbeits(platz-)verlust
Bis hierher wurden verschiedene Hinweise erarbeitet, die Zusammenhänge entgrenzter Arbeit mit wachsenden Ausgrenzungs- und Mobbingtendenzen in der Arbeitswelt verdeutlichen. Arbeitskraft wurde als untrennbar an die Person und Würde eines Menschen ausgewiesen und eine ethische Dimension aufgezeigt. Es wurde hergeleitet, dass der Arbeitsplatz das wichtigste Umfeld in Bezug auf die Gesundheit darstellt. Mit der Entgrenzung von Arbeit wurde einerseits deutlich, dass der moderne Arbeitskraftunternehmer, um mitzuhalten, eine Identifikation und Verinnerlichung entsprechender Prinzipien vollzieht und diese, als strenges Über-Ich als innerer Strukturkonflikt verankert, auf Einhaltung drängen, während zugleich psychische und physische Überlastungssignale systematisch ausgeblendet und umgedeutet werden. In diesem Klima, welches von Leistungs-, Verwertungs- und Erfolgsinteressen geprägt ist, konnte der zentrale Einfluss anerkennender, wertschätzender Führungskräfte auf Wohlbefinden und Gesunderhaltung von Mitarbeitenden als Zünglein an der Belastungswaage herausgearbeitet werden. Zugleich wurde aber auch betont, dass Führungskräfte selbst ebenso der Entgrenzungsdynamik und ihren psychologischen Implikationen unterworfen sind und sie sich daher (sei es bewusst oder unbewusst) bei Infragestellung der entsprechenden Werte und Handlungen in ihren Anschauungen und auch eingelebten Abwehrroutinen bedroht sehen. Ein Ausfallen durch Krankheit und in Folge Versuche von Mitarbeitenden, die Entgrenzung in Frage zu stellen und einzudämmen, konnten als Auslöser dieser Bedrohung, die dann womöglich in projektiver Abwehr auf den Symptomträger zurückgeworfen und dort bekämpft wird, näher bestimmt werden. Dies wurde einerseits als ein blinder Fleck von Vorgesetzen problematisiert und andererseits zum zentralen Prüfstein menschenwürdiger Arbeit erklärt: Ein gutes Arbeitsklima, auch unter Stress und wenn Mitarbeitende einbrechen, verlässlich zu sichern, stellt aus Sicht der Arbeitsforschung eine zentrale Führungsaufgabe dar. Ansonsten, so wurde argumentiert, schwindet der © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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wichtigste protektive Faktor, der gegen Krankheit durch arbeitsbedingten Stress schützt; vor allem wenn zugleich die anderen »Säulen der Identität« unterentwickelt blieben. Resümiert wurde auch, dass Vorgesetzte, die auf erkrankte Mitarbeitende mit Unverständnis, Ungeduld, Ausgrenzung und Bagatellisierung reagieren, die gesundheitlichen Probleme durch Entzug ihrer Anerkennung und eine Verschlechterung des sozialen Klimas weiter verschärfen. Mündet diese Abwehrformation gegenüber wachsenden Gesundheitsproblemen, die mit gesundem Menschenverstand erwartbar sind, in Verleugnung, dann nimmt sie reaktiv-zunehmend destruktive Formen an bis hin zur sozialen Eiszeit, so die Herleitung. Deshalb geht es im Folgenden darum zu untersuchen, warum die entsprechende Dynamik nicht selten Züge von Ausgrenzung bis hin zu Mobbing trägt. Um sich dem Thema anzunähern, sei zunächst die psychosoziale Abwehr als eine Form kollektiver Abwehr in einsozialisierten Kontexten näher spezifiziert. »Die psychische Regulation im Menschen erfolgt nicht nur innerseelisch, z. B. mit Hilfe von Abwehrmechanismen, sondern zum Teil auch durch unbewusste, psychosoziale Abwehrarrangements mit Institutionen, Organisationen oder Sozialgebilden wie dem Staat« (Auchter u. Strauss, 1999, S. 27). Solche Abwehrarrangements werden für Organisationen auch als institutionalisierte Abwehr näher spezifiziert (vgl. Mentzies, 1974; vgl. Mentzos, 1988). Mit der einseitigen Leistungsorientierung und -verdichtung in Arbeitsbereichen wird aber wahrscheinlicher, dass eigene Versagensängste und Belastungsreaktionen psychisch in Schach gehalten werden müssen, wozu bspw. das Aufwerten der eigenen Abteilung/Arbeitsgruppe und die gleichzeitige Abwertung von anderen Bereichen/Gruppen zählen kann. Entsprechende In-OutGroup-Phänomene sind aus der sozialpsychologischen Gruppenforschung bekannt (vgl. Forgas, 1992; Sbandi, 1973). Psychosoziale Abwehr als Bewältigungsform in Arbeitskontexten greift in eingespielten sozialen Gruppen als eine institutionalisierte Routine, also mittels Selbstverständlichkeiten. »Das macht man hier so« und auch Impulse der Irritation beim Erleben, wenn andere abweichen vom als selbstverständlich eingelebten Stil, sind Indizien solcher Routinen. Soziodynamisch verstanden wehren Vorgesetzte und Mitarbeiter/ © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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-innen mit der Sach- und Erfolgsfokussierung auf manifeste Produkte als deren Kehrseite zugleich latent mitschwingende Überforderungsund Versagensängste ab. Sie bestärken sich dazu wechselseitig und schließen sich zugleich gegen die das System (ver-)störende Person zusammen, wenn ein Mitglied der Gruppe diese unausgesprochene Übereinkunft, z. B. aus gesundheitlichen Gründen, zu hinterfragen beginnt. Als Symptomträger drückt die betroffene Person aus systemischer Perspektive jedoch ein Problem aus, welches sich im Arbeitskontext insgesamt manifestiert hat. Das Krisensymptom wird vom Umfeld oft individualisiert und nicht als Chance zum Nach- und Umdenken insgesamt aufgegriffen. Die Isolierung und Ausgrenzung der Index-Person aus ihrem bisherigen Sozialbezug bietet sich als einfachste Konsequenz aus der Innensicht an (»ignorieren und weitermachen«). In Arbeitskontexten sind auch aus diesen psychodynamischen Gründen Strategien des subtilen oder offenen »Abstrafens«, »Aufs-Abstellgleis-Stellens« bis hin zum »Rausmobben« nicht unbekannt. Ein störendes Element im sozialen Kontext »zurechtzustutzen« oder auch zu »entfernen«, entspricht einer Single-Loop-Strategie organisationalen Lernens nach Argyris und Schön (1996).11 Das heißt, es werden nur Änderungen unter Beibehaltung des bestehenden Rahmens ermöglicht. Eingelebte Verfahren, Routinen und Ansichten werden selbst nicht zur Disposition gestellt. Solch eine Strategie mag systemisch unklug sein, ist aber vordergründig bequemer. Damit einher geht weiterhin ein Selbstverständnis, wonach das eigene Tun unanfechtbar in Ordnung ist. Und neben der psychischen Abwehr der Führungskraft wird in solch einem Geschehen womöglich auch das Interesse von Kollegen befriedigt, bspw. einen ungeliebten Konkurrenten auszubooten. Entsprechende Konflikte gehen – für alle Beteiligten – mit hohem Stress einher. Schon darum 11 Argyris und Schön unterscheiden organisationales Lernen erster und zweiter Ordnung mit den Begriffen Single-Loop-Learning und Double-Loop-Learning. Ersteres bezeichnet Lernen, welches sich nur auf Fragen oder Änderungen im gesetzten Rahmen beschränkt, während zweiteres beinhaltet, Ursachen und Motive grundsätzlicher zu hinterfragen und ggf. auch Grundsätzliches zu verändern. Eine dritte Variante, das Deutero-Lernen, bedeutet zudem, über das erlebte Lernen selbst noch einmal zu reflektieren.
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lohnt es sich, statt einseitiger Zuschreibungen das interaktionelle Gefüge psychodynamisch genauer zu erkunden. In der Mobbingforschung nimmt der Betriebswirt und Psychologe Leymann eine zentrale Stellung ein. Für ihn stellt Mobbing aus Betroffenenperspektive eine posttraumatische Stressbelastung dar. Ihm ist es zu verdanken, dass in einer Liste von 45 Einzelhandlungen deutlich wird, in wie vielen kleinen sozialen Interaktionen, subtiler oder offener, ein Klima der Zurückweisung, Ausgrenzung, Beschämung und Entwertung inszeniert werden kann. Allerdings betont er auch: »Per Definition gibt es eigentlich gar keine Mobbinghandlung, weil ja ein Zeitfaktor berücksichtigt werden muss. Es gibt einen Mobbingverlauf oder -prozess« (Leymann, 1993/2009, S. 127). Entsprechende Dynamiken entstehen langsam und steigern sich mit der Zeit. Der Wirtschaftspsychologe Neuberger (1999) hat eine Zusammenschau von Erkenntnissen zum Mobbing verfasst und legt den Schluss nahe, dass die Nutzung des Begriffs selbst ein Zeitphänomen darstellt: Konflikte in Organisation sowie Mikropolitik beschreibt er als immer schon vorhanden und auch unausweichlich, fortwährend kooperatives Miteinander als illusorisch und den postmodernen Menschen als durchaus rücksichtslos und aggressiv. Er schreibt zu dieser Seite des Menschseins: »Damit die Potenz zur Realität wird, müssen sowohl äußere Gelegenheiten wie innere Bereitschaft vorhanden sein. […] Die Einsicht dieser Gegebenheiten bedeutet, dass man grundsätzlich von der Ambivalenz der Arbeitssituation ausgehen muss und die Ziele nicht Harmonie, Sensibilität, Mitfühlen heißen können, wenn diese Kriterien allenfalls in Nischen verwirklicht werden können. […] Ein noch so gut gemeintes Organisationsentwicklungsprojekt kann die Funktionsbedingungen eines Wirtschaftssystems nicht umkrempeln« (Neuberger, 1999, S. 163). Demnach muss kritisch hinterfragt werden, inwiefern sich bspw. äußere Gegebenheiten seit seiner Schrift verändert haben. Die oben zitierten Zahlen, wonach gerade in den letzten Jahren psychosoziale Belastungsreaktionen in der Arbeitswelt stark zugenommen haben, könnten dafür sprechen, dass Mobbing als Zeitphänomen unter postmodernem Druck zunimmt. Auch kann es nicht um eine illusorische Konfliktvermeidung gehen, wohl aber um eine auf Fairness © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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und Wertschätzung fußende Konfliktkulturentwicklung. Neuberger spricht im obigen Zitat zudem gut gemeinte Bemühungen an, in moderierten und beteiligungsorientierten Prozessen unternehmensinterne Aushandlungs- und Kooperationsprozesse kommunikativ und ausgleichend zu gestalten. Aushandlungen und Interessenlagen unterliegen stetem Wandel und bedeuten Veränderung. Sie sind geprägt von mikropolitischen Interessen, Koalitionen, Gelegenheiten und wechselnden Gegebenheiten sowie unbewussten Wünschen. Veränderungen verlangen generell von den Beteiligten Anpassungsleistungen12 und lösen Stress aus, zusätzlich zur postmodernen Aufgabenverdichtung und neben dem Wandel, der aus ökonomischen Anpassungsleistungen an die globalisierte Wirtschaft fortlaufend zu leisten ist – eine Herausforderung, die wohl fast alle Arbeitsfelder betrifft. Sicher resultieren aus entsprechendem Stress auch Ärger und unbewusste Wünsche, den psychischen Druck irgendwo ablassen zu können, und sei es an einzelnen Personen. Neuberger stellt bis zum neuen Millennium vorliegende Erklärungsmodelle zum Mobbing in der Arbeitswelt erstmals vergleichend zusammen. In Ergänzung der bisher geführten Überlegungen, die für ein systemisches Verständnis vor allem soziologisch, sozialpsychologisch und psychoanalytisch geführt wurden, seien im Folgenden einige sich daran anschließende Hinweise des Autors diskutiert. Unter gruppendynamisch-systemischer Perspektive thematisiert Neuberger die soziale Situation, in der sich das Ausgrenzungsgeschehen als interpersonale Interaktion entfaltet: »Im Opfer reflektiert sich das System« (1999, S. 173), schreibt er mit Bezug auf den Systemiker Stierlin. Aus dieser Perspektive fragt er danach, welche latente (Psycho- und Sozio-)Dynamik die betroffene Arbeitsgruppe sowie ihre Funktionsbedingungen charakterisiert. In systemischer Perspektive werde das Geschehen als Oberflächenausdruck sozialer Spannungen verstehbar, welche sich auch an anderen hätten entladen können: »Es ist eine alte Technik, durch Schaffung und Bekämpfung eines äußeren Feindes innere Befriedung zu erreichen. Das Opfer ist 12 Hier ist an manifest-weltliche sowie an latent-psychische Anpassungsleistungen gleichermaßen zu denken. Oft stellen letztere die größere Barriere für Veränderungen dar.
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lediglich Symptomträger, aber nicht Ursache, die Interaktionen […] haben eine Funktion zur Erhaltung des Systems« (S. 173). Daraus folgere auch, dass bald nach Wegfall der Index-Person ein neuer Sündenbock (jemand, der »es nicht bringt«) gefunden werden muss und es wahrscheinlich auch davor schon Personen gab, auf die bspw. als »unfähig« herabgesehen wurde. Neuberger erläutert jedoch noch eine weitere aus dieser Perspektive resultierende Einsicht im Hinblick auf das Konfliktgeschehen: »Die unerbittliche Verfolgung […] kann die Weitergeltung bestimmter Gruppennormen oder -standards unterstreichen. An der abweichenden Person wird die ›ganze Schärfe des Gesetzes‹ demonstriert, was durchaus auch eine generalpräventive Wirkung auf alle anderen Mitglieder haben soll, die sich versucht sehen, ebenfalls abzuweichen. Dies lässt sich an vielen Mobbingfällen veranschaulichen: Opfer wird häufig diejenige Person, die prekäre Gruppennormen in Frage gestellt hat. […] Durch das Ausgrenzen Abweichender wird dann die Gruppen-Identität [Kohäsion wieder-] hergestellt« (1999, S. 174). Früher haben Herrscher Opfer auf Altaren getötet, um ihre Macht zu demonstrieren und sich die Götter gefällig zu machen. Haben wir es womöglich auch mit solch einem archaischen Aspekt zu tun? Aktuell finden sich jedenfalls in der Arbeitswelt Mobbingphänomene längst nicht mehr nur unter Kollegen. Immer öfter steuern Vorgesetzte das soziale Klima im Sinne einer kollektiven Abwehr, erzeugen es in ihrer zentralen Rolle mit Ausgrenzung, der Einschränkung von Information und Partizipation, Initiierung sozialer Isolation und Förderung negativer Projektionen unter Kollegen mittels des Prinzips »teile und herrsche«. Dies erfolgt bspw. durch mit als Rücksicht verschleierter Informationsselektion, spöttischen Unterton, kleine Gesten der Abwertung und subtiles Infragestellen der Seriosität einer Erkrankung. Entsprechende Überlegungen zur Dynamik bietet Neuberger zufolge (S. 177) auch die Organisationspsychologin Rastetter (1994) an mit ihrer »Anregung, Mobbing im Sinne einer Strategie des ›Spaltens und Herrschens‹ zu sehen«. Er folgert, eine solche Praktik gezielter Isolation »untergräbt Solidarität und produziert Abweichler, an denen ein Exempel statuiert werden kann. […] Mobbende übernehmen so eine Disziplinierungsfunktion« (Neuberger, 1999, S. 177). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Diese Disziplinierungsfunktion korrespondiert m. E. eng mit der durch das »gesundheitsbedingte Weggleiten« eines unliebsamen Mitarbeitenden in Frage stehenden Kontrolle Vorgesetzter: Gegen eine Krankheit »darf!« man ja nichts sagen, also kann man nichts machen, »muss!« das akzeptieren. Das kann ärgerlich machen. Und dies ist womöglich für leistungsbewusste und disziplinierte (auch: sich selbst disziplinierende) Menschen eine besondere Kränkung, da das eigene Selbstverständnis, d. h. auch in der bisherigen Arbeitsweise ausgelebte Wünsche und Selbsterweiterungen (durch den verfügbaren Mitarbeiterkorpus) schmerzlich beschnitten werden. Dies sollte man sich verdeutlichen: Mitarbeitende stellen für eine Führungskraft ein nicht unerhebliches Potenzial dar, sich zu verwirklichen, weit über eigenes Vermögen hinaus. Neuberger trägt auch Überlegungen aus psychodynamischen Interpretationen zum Geschehen zusammen, welche gut zu den bisherigen Überlegungen passen und diese ergänzen. Aus psychoanalytischer Perspektive weist der Autor zunächst auf Übertragungsund Gegenübertragungsphänomene hin, die unbewusst an Interaktionsfiguren aus frühkindlichen Konstellationen und Problemen der Konfliktbeteiligten orientiert sind. Hier wird also die interpersonale um eine intrapersonale Perspektive ergänzt. Weiter oben wurden arbeitsbezogene Voraussetzungen einer projektiven Abwehr eigener Versagensängste schon erarbeitet. Psychodynamisch bestätigt Neuberger diese Überlegungen und führt aus: »Je stärker das eigene Selbstbild gefährdet ist, desto radikaler ist der Versuch, die Erinnerung an die eigenen dunklen Seiten zu tilgen; der Sündenbock […] wird davongejagt. […] Aber man muss zugleich verdrängen, dass und was man verdrängt hat; die Spuren, die zum Opfer führen und die den Täter verraten könnten, müssen verwischt werden, auch vor einem selbst: Das Opfer hat es verdient, es ist wirklich schlecht – und ganz allein schuld« (1999, S. 188). Solch eine unbewusste, innerpsychische Figur erklärt den oft irritierend regressiven Charakter im Mobbingverlauf, wo zivilisierte Führungskräfte entgleisen, absurde Anschuldigungen formulieren und aggressiv reagieren, wo also Verständigung zunehmend keine Option mehr zu sein scheint. Psychoanalytisch ist dies als Triebdurchbruch erklärlich, welcher mit der Angstabwehr eng korreliert: © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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»Wer andere mit solcher Unerbittlichkeit verfolgt, muss damit große eigene Ängste abwehren. Es wäre deshalb zu fragen, welche Ängste das Opfer auslöst«, erklärt Neuberger (S. 188) dazu. Im Fall der aus Überarbeitung und sozialer Zurückweisung resultierenden gesundheitlichen Ausfälle, dem Rückzug des Mitarbeiters aus Notwendigkeit also, werden primäre Ängste der Umstehenden, selbst auch nicht mehr standzuhalten, greifbar und nachvollziehbar aktiviert. Die abgewehrte Person »erlaubt sich« etwas, das man sich selbst nicht zugestehen kann: für sich zu sorgen, sich zurückzuziehen, nein zu sagen und Ansprüche geltend zu machen (womöglich arbeitsrechtlich gestützt). Zugleich können frühkindliche Ängste aktiviert werden und den regressiv-unerbittlichen Anteil des Geschehens klären helfen, bspw. so: Vielleicht wird einerseits eine Geschwisterrivalität wiederbelebt (eine Führungskraft kann das früher von den Eltern bevorzugte Geschwisterkind im ihm ähnelnden – da ähnlich beliebten und fleißigen – Mitarbeiter abstrafen, es/ihn verschwinden lassen) und andererseits geht es für einen Mitarbeiter vielleicht darum, gegenüber einer Autoritätsfigur die eigene Autonomie zu entwickeln (als Mitarbeiter im Vorgesetzten die ihn in Abhängigkeit haltenden Eltern wiedererkennen und den Konflikt um den eigenen Autonomiegewinn – hier: Abnabelung von Erwartungen der Führungskraft – erneut bearbeiten). Es lässt sich folgern, dass unbewusste wechselseitige Re-Inszenierungen womöglich im Mobbinggeschehen mitwirken. Mit Hinweis auf entsprechende Phänomene erläutert Neuberger (S. 189), dass die psychodynamische Perspektive insbesondere dazu beiträgt, die enorme emotionale Beteiligung zu erklären, mit der oft agiert wird. Der regressive Wunsch Mobbender, den Anderen, wenn schon nicht unterzuordnen, so stattdessen regelrecht zu vernichten, kann groteske Züge annehmen, z. B. die Löschung jeder Datenspur eines langjährigen Mitarbeiters, Versuche einer Einmischung in die Folgetätigkeit an anderer Stelle, Verleumdung sowie sonstige mikropolitische Versuche des Abspaltens und des sozialen Todes der Person. Dies überschreitet oft tatsächliche Befugnisse bei weitem und beschädigt nicht selten auch das eigene Ansehen. Solch ein Rollen- und Machtmissbrauch scheint aber, wo es von der Organisation her auch möglich ist, aus regressivem Impuls gespeist, nicht selten © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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ausgelebt zu werden. In der Zusammenschau zeigt sich, dass systemische und psychodynamische Ansätze sich gut ergänzen darin, das komplexe Geschehen moderner Konflikte mit Mobbingtendenzen im Arbeitsleben besser zu verstehen. Ein »Rausmobben« eingeschränkt Erwerbstätiger aus einem Arbeitskontext stellt heute neben dem früher typischeren »Wegloben« die vermeintlich billigste und zugleich sozialethisch verwerflichste Form dar, um ohne Abfindungskosten oder Infragestellung eigener Routinen bisher eher geschätzte und engagierte, nun aber körperlich und psychisch erschöpfte Mitarbeitende loszuwerden. Jedoch ist diese Praxis (neben tatsächlich hohen Kosten) soziodynamisch gefährlich, da die Verbleibenden vor Augen geführt bekommen, wie es auch ihnen ergehen kann, wenn sie nicht mehr mithalten (s. o. Disziplinarfunktion). Solange diese sich nicht zusammenschließen und einvernehmlich auf eine Veränderung arbeitssüchtiger Routinen hinwirken, bleibt die Frage als Damoklesschwert über allen hängen, wen es als Nächsten trifft. Wie ein Aussteigen aus dieser Dynamik von innen heraus gelingen kann, bleibt fraglich. Tatsächliches Verändern würde DoubleLoop-Learning erfordern (vgl. Argyris u. Schön, 1996), das heißt ein tatsächliches Infragestellen bisheriger Routinen, mit aus dem gewohnten Rahmen heraus Denken und es künftig grundsätzlich anders machen. M. E. kann dies nur mit Antrieb der Vorgesetzten selbst gelingen, da sie die kulturprägende und -steuernde Einflussgröße sind. Müssen Führungskräfte erst selbst betroffen sein, körperlich ausfallen, ehe hier ein Umdenken erwartbar wird? Welchen Beitrag können Konzepte der Verhältnis- und Verhaltensprävention und -intervention hier leisten – insbesondere: Wie erreichen sie gerade die problematischen Arbeitsbereiche einer Organisation bzw. deren Führungskräfte? Oder welche weiteren Ansätze gibt es, die Lösungen versprechen? Wie Meißner (2005, S. 91 ff.) eindrucksvoll vorrechnet, kommt ein gesundheitlich längerer Ausfall und auch jedes Ausscheiden von Leistungsträgern ein Unternehmen sehr teuer, und da das Problem alle Wirtschaftsbereiche betrifft, heißt das, volkswirtschaftlich summieren sich entsprechende Kosten erheblich auf. Muss also nicht innegehalten und grundsätzlich sozial nachhaltiger zwischen ökonomischen und (human-)ökologischen Ressourcen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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vermittelt werden, zum Wohle der Menschen, der Organisationen, der Gesellschaft?
Verantwortung, Vertrauen und Achtsamkeit als Eckpunkte sozialer Nachhaltigkeit in Organisationen In diesem Zusammenhang spielen Führungskräfte eine zentrale Rolle. Zum einen tragen sie Verantwortung für die Mitarbeiter, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Leistungen, sondern auch für ihre Gesundheit, denn nur gesunde und motivierte Mitarbeiter sind auch produktive Mitarbeiter. (Badura, Ducki, Schröder, Klose u. Macco, 2011, S. V)
Nachdem verdeutlicht ist, wie gesundheitliche und interaktionsbezogene Probleme in postmoderner Arbeit entstehen, fragt sich, wie diese zu lösen sind. Programmatisch liegen zahlreiche Vorschläge vor: Weiter oben wurde exemplarisch auf die globale Wichtigkeit der Entwicklung von Konzepten zur Sozialen Nachhaltigkeit in Organisationen (Leitbild Nachhaltige Entwicklung der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung, 1992), aus dem die Nachhaltigkeitsbemühungen der Bundesregierung mit ihrer Übersetzung in konkrete, arbeitsbezogene Teilprogramme der Agenda 21 resultiert, und ebenso auf die Decent-Work-Konzeption der IAO für Europa eingegangen. Arbeitsbezogene Daten (quantitative wie qualitative) dokumentieren durchweg eskalierende Gesundheitsrisiken für Erwerbstätige in den entgrenzt-subjektivierten und ökonomisierten Arbeitsverhältnissen der Postmoderne. Schon die WHO verdeutlicht 1986: Menschen können ihr Gesundheitspotenzial nur dann entfalten, wenn sie auf die Faktoren, die ihre Gesundheit beeinflussen, auch Einfluss nehmen können. Ein eingangs formuliertes Ziel dieses Aufsatzes ist es, zu konkretisieren, wie genau Bedürfnisbefriedigung, Gesunderhaltung, sozialer Schutz und Gerechtigkeit in der Arbeit des Einzelnen aussehen und wie arbeitende Menschen diese Ziele im Alltag verfolgen können. Hierzu werden in den Arbeitswissenschaften organisationale Gestaltungskonzepte entwickelt, die im Folgenden Thema sind. Um diese jedoch einzubetten, noch einige Überlegungen zur Verantwortung. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Soziale Nachhaltigkeit als kollektive Verantwortung durch Teilrücknahme der Subjektivierung von Arbeit
Programmatisch wird mit dem Konzept der Nachhaltigkeit Grunwald und Kopfmüller (2006) zufolge heute eine dualistische Stoßrichtung verfolgt: das Bewahren von Ressourcen sowie ein Werteethos im Hier-und-Jetzt zum besseren Leben aller Menschen. Das bessere Leben aller Menschen in ihrer Arbeit im Sinne gesunderhaltender »Decent Work« ist ein menschlich, unternehmerisch sowie volkswirtschaftlich gleichermaßen sinnvolles Ziel. Darum kommt politisch dem Gesetzgeber ebenso wie organisational dem Management die Aufgabe zu, nicht nur kurzfristige Erfolge, sondern ein langfristig kluges Ressourcenmanagement auch im Hinblick auf die menschlichen Erfahrungsträger zu sichern, und zwar viel flächendeckender und konsequenter als bisher. Die Diskussion bis hierher hat gezeigt, dass über zwei Jahrzehnte entfaltete, unter humanistischer Perspektive weit über sinnvolle Ziele hinaus geschossene Gewohnheiten zu starker Entgrenzung und Subjektivierung innerhalb von Arbeitsroutinen geführt haben. Die Systemakteure selbst verlieren, wohl auch der graduellen Entwicklung über die Jahre hinweg geschuldet, oft ein gesundes Gefühl dafür, was gut und zumutbar ist. Hier bedarf es eines Korrektivs von außen und/ oder oben, auch entgegen Widerständen, die erwartbar sind, wenn eingelebte Routinen umgestaltet werden müssen. Denn langfristig gilt, wie Grunwald und Kopfmüller im Kontext der Nachhaltigkeitsdiskussion anmerken, für die organisationsinternen Akteure mit ihren komplexen Problemen, dass sie selbst systemisch meist zu begrenzt sind, um langfristig klug zu handeln, aus folgenden Gründen: – Sie verfügen selbst nur über eine begrenzte Steuerungsfähigkeit. – Es herrschen oft scheinbar unvereinbare Interessen und eine von der Innensicht her dominierte Bewertung der Situation vor. – Eine hohe Vielfalt und Konfliktträchtigkeit möglicher Maßnahmen wird unter Perspektive eigener mikropolitischer Vorteilsnahmen zu einseitig genutzt. – Unvollständigkeit von Wissen und eine an Gewohnheiten festhaltende Perspektive (Grunwald u. Kopfmüller, 2006, S. 11 ff.).
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Aus diesen Erwägungen sind Eingriffe aus emergent höherer Systemebene nicht nur begrüßens-, sondern auch empfehlenswert. Das Schutz- und Gestaltungsziel Gesundheit kann offensichtlich nicht evolutionären Alltagsroutinen Einzelner überlassen bleiben, wie die Statistiken spiegeln. Subsumierend ist festzustellen, dass Menschen manche Veränderung von Gewohnheiten nicht einfach allein hinbekommen. Das betriebliche Umfeld und die Kultur wurden mit Meißner (2005) als zentral für die Entwicklung von Tendenzen der Arbeitssucht und des Mobbing identifiziert. Gesundheitspolitische Rahmenanforderungen sind durch das Management zu operationalisieren, um im Sinne einer sozial nachhaltigen Kulturentwicklung einzuwirken. Betriebliches Gesundheitsmanagement für ein systematisches Umsteuern
Eine gut strukturierte und weitreichende Möglichkeit, steuernd zu regulieren, stellt bspw. das Instrument des Betrieblichen Gesundheitsmanagements dar. Immer mehr Unternehmen implementieren heute ein Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM)13. Entsprechende Konzepte sind weit entwickelt, gut beforscht und auf den jeweiligen Kontext anpassbar. Unter der Annahme, dass die Entgrenzung von Arbeit (Arbeitsdichte, Durchsiedelung des Alltags) nicht beliebig rücknehmbar ist, setzt ein vom Management betriebenes, ernst gemeintes BGM im Unternehmen zumindest auf eine teilweise Rücknahme der Subjektivierung von Arbeit, indem die 13 Betriebliches Gesundheitsmanagement ist ein von der Unternehmensleitung getragenes und mit verschiedenen Akteursgruppen im Unternehmen umzusetzendes Verfahren zur Organisation der Gesunderhaltung der Belegschaft, welches an drei Ebenen ansetzt: Verhaltensprävention setzt auf eine gesunde Selbststeuerung der Individuen. Hierzu zählen bspw. Beratung, Seminare, aber auch betriebsärztliche Unterstützungen (wie Impfungen). Verhältnisprävention nimmt die Arbeitsbedingungen (Organisation, Ergonomie) in den Blick. Systemprävention dient einem gesunden Miteinander und der Prävention bzw. Abwendung sozialer Konflikte (Interaktion und Kooperation, Betriebsvereinbarung, Mobbingprävention). Verschiedene Methoden zur Problemanalyse werden kombiniert (z. B. Fehlzeiten- und Gefährdungsanalysen, Demografiedaten, Befragungen, Workshops und Gesundheitszirkel). Studiengänge bieten Weiterbildungen als Gesundheitsmanager/-in an.
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Verantwortungsdrift (vgl. Sennett) hin zum Individuum zugunsten klarer Fürsorgezuständigkeiten der Vorgesetzten und des Unternehmens insgesamt abnimmt. Ein entsprechendes Nachsteuern bringt gesunderhaltende Wirkungen auf das Erleben und Handeln von Führungskräften und von Mitarbeiter/-innen gleichermaßen mit sich. Schon im Jahre 1999 haben Badura, Ritter und Scherf zufolge viele Unternehmen eigene Gesundheitsprogramme etabliert und nutzen Konzepte des Betrieblichen Gesundheitsmanagements, die v. a. auf Verhältnis- und Verhaltensprävention zielen. Dennoch sind aktuelle Krankenstatistiken alarmierender denn je. In den letzten Jahren wurden entsprechende Konzepte aus arbeitswissenschaftlicher Sicht daher intensiv weiterentwickelt und evaluiert. Sollten Unternehmen breiter als bisher gesundheitsbezogene Konzeptionen zum festen Bestandteil ihres Arbeitsalltags werden lassen, so würde ein Trend zum Umsteuern der prekären Gesundheitslage erwartbarer. Die Notwendigkeit betrieblicher Gesundheitspolitik zur Sicherung der Ressource Arbeitskraft dringt zunehmend ins Bewusstsein von Vorständen und Management und dient den Gesundheitsforschern Badura, Walter und Hehlmann zufolge heute insbesondere »der mitarbeiterorientierten Unternehmensführung. […] Die dafür fachlich Verantwortlichen müssen für ihre anspruchsvollen Tätigkeiten hinreichend gut qualifiziert werden« (2010, S. VI). BGMKonzepte setzen also mit ihrer Mitarbeiterorientierung auf überhierarchische Beteiligung und eine Orientierung an Belangen all ihrer Mitglieder. Entsprechende Prozesse erfordern innerhalb des Unternehmens, dazu notwendige Kompetenzen auszubilden – es kann nicht davon ausgegangen werden, dass das dazu notwendige Wissen und Können bei allen Beteiligten vorhanden ist. Und die Autoren führen weiter aus: »Wir sind überzeugt davon, dass Investitionen in das Sozialkapital von Unternehmen in Form eines systematisch betriebenen Gesundheitsmanagements einen wichtigen Beitrag leisten zur besseren Nutzung ihrer Möglichkeiten. […] Sie fördern Gesundheit durch eine mitarbeiterorientierte Gestaltung von Kultur, Klima und Führung« (Badura et al., 2010, S. 6). Mit seinem Fokus auf eine mitarbeiterorientierte Gestaltung im Hinblick auf das soziale Klima und Führungsfragen zielt das BGM somit direkt auf die gesundheitlich so bedeutsame Zielgruppe der © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Vorgesetzten in Unternehmen. Ein betriebliches Gesundheitsmanagement sollte an die Philosophie eines Hauses anschlussfähig entwickelt sein und muss durch geeignete Promotoren auf verschiedenen Ebenen systematisch betrieben werden. Badura, Walter und Hehlmann unterscheiden für die Entwicklung und Durchsetzung »Machtpromotoren, Fachpromotoren sowie Projektleitungen und Prozessbegleitungen« (S. 6), die auf den verschiedenen Ebenen der Planung, Abstimmung und Operationalisierung in koordinierter Weise auf ein gesundheitsbezogenes Klima und Verhalten einwirken sollen. Auch wenn eine Firma sich für die Einführung eines BGM entscheidet, so bleibt die Frage offen, ob und wie die guten Ideen den gesundheitskritischen Führungsalltag erreichen können. Womöglich sind gerade jene Vorgesetzte, die es besonders betreffen sollte, wenig bereit dazu, an der Umsetzung (d. h. an eigenem Umlernen) mitzuwirken. Es bedarf also mehr als nur programmatischer Vorsätze; Commitment und eine sozialethisch-achtsame Gewahrsamkeit für Gesundheitsfragen müssen entwickelt werden. Der Psychologe und Arbeitswissenschaftler Rudow (2011, S. 214) empfiehlt dazu, als integralen Aspekt des BGM-Programms Führungsgrundsätze mit möglichst breiter Beteiligung aller Ebenen der Organisation zu entwickeln und diese als generelle Ausrichtung der Personalführung im Unternehmen verbindlich zugrunde zu legen. Solche Führungsleitlinien stellen ihm zufolge »beschreibend Verhaltenserwartungen an Führungskräfte dar, sie sind überdauernd und zugleich veränderbar, sie thematisieren Rechte und Pflichten in sachlich generalisierter Weise und sind meist schriftlich fixiert« (Rudow, 2011, S. 214). Die Idee, ein höheres Commitment mit gesundheitsbezogenem Führungsverhalten durch solch eine Agenda zu erreichen, ist wegweisend. Nur durch verbindliche Rahmungen, welche führungsseitiges Fehlverhalten wie arbeitssüchtig-unsoziales Klima oder Mobbinghandlungen offen als indiskutables Verhalten ahnden, entsteht ein Bewusstsein im Unternehmen, entsprechende Verhaltensweisen nicht zu tolerieren. Zugleich sind andere Handlungsoptionen und Unterstützung zur alternativen Konfliktlösung14 anzubieten. 14 Denkbare sind: externe oder interne Mediation oder Moderation, Schulungen, Einzelcoaching, Supervision, aber auch Management-Vorgaben und
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Rudow warnt vor entsprechenden Schwierigkeiten, frei nach dem britischen Motto »The proof of the pudding is the eating«, wenn er lakonisch anmerkt: »Ein Hauptanliegen, oft auch ein Problem, ist die Umsetzung von Führungsgrundsätzen. […] sie sollen sich im Verhalten besonders von Führungskräften zeigen. Kurzum: Sie sollen […] ge- und erlebt werden.« Ob dies im Alltag der einzelnen Arbeitsbereiche tatsächlich gelingt, ist von vielen Faktoren abhängig und wird sicher besonders unter Stress zum Prüfstein. Rudow empfiehlt daher, regelmäßig eine Umsetzung zu überprüfen: »Wird das Gesundheitsmanagement als Führungsaufgabe wahrgenommen? […] Erfüllen Vorgesetzte ihre Fürsorgepflicht gegenüber Mitarbeitern? Sind Führungskräfte handlungskompetent, motiviert und sensibel genug für diese Führungsaufgabe? Sind die Führungskräfte Vorbild im Gesundheits- und Sicherheitsverhalten? […] Wie weit können Führungskräfte arbeitsbedingte Fehlbelastungen (wie Überund Unterforderung) […] erkennen und vermeiden? Sind sie […] hinreichend geschult?« (S. 215). Der Autor stellt mit diesen Evaluationsfragen eine Achillesferse der BGM-Idee dar und zeigt auch auf, worum es für eine gelingende Umsetzung gehen muss: eine gesundheitsbezogene Achtsamkeit, entsprechendes Commitment, ergänzende Schulungen und die Begleitung von Führungskräften in der Umsetzung einer mitarbeiterorientierten Haltung im eigenen Arbeitsalltag. Nur so kann ein gesundheitsförderliches soziales Klima seitens Vorgesetzter als protektiver Faktor auch unter der Last von viel Arbeit wirksam etabliert werden. Eine Programmatik allein reicht also nicht aus, da – wie in Abschnitt 4 entfaltet – Führungskräfte unter der Prämisse eigener Betroffenheiten mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht immer professionell handlungsfähig bleiben können, sondern mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit unbewusst suboptimal zu agieren beginnen. Management muss seinen Willen in Wort und Tat dokumentieren,
deren Evaluation, eine No-Tolerance-Policy mit definierten Schritten im Konfliktfall, Zielvereinbarungsgespräche mit Vorgesetzten, in deren Bereich Mitarbeitende erkranken, das Vorhalten entsprechender Qualifikationen zur Problemerkennung und Prozessbegleitung in Personalabteilung und Betriebs- bzw. Personalrat.
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so dass Gesundheitsmanagement zur prioritären Führungsaufgabe wird. Intermediäre Akteure benötigen Begleitung für nachhaltig wertschätzenden Umgang auch bei Überlastung und Einbrüchen einzelner Mitarbeitender. Bemerkenswert als Gegenrichtung zur Subjektivierung von Arbeit, wobei die Eigenverantwortung von Mitarbeitenden betont wird, ist die mit der BGM-Konzeption ausgedrückte Stoßrichtung, die Fürsorgepflicht Vorgesetzter (wieder) mehr zu betonen und damit zugleich das unter der Perspektive des Arbeitskraftunternehmers entfaltete Selbstverantwortungsprimat (vgl. Sennett zur Verantwortungsdrift) etwas zu relativieren. Arbeit bleibt womöglich entgrenzt, wird aber zugunsten einer Kooperationslogik ein Stück weit entsubjektiviert: Eine wertschätzend-fürsorgliche Arbeitskultur bedeutet insofern ein Umsteuern, welches Führungspersonen und Mitarbeitenden gleichermaßen für eine Gesunderhaltung aller betrieblichen Akteure in die Pflicht nimmt. Dies käme m. E., sofern umgesetzt, einem postmodern-arbeitsparadigmatischen Richtungsumschwung nahe. Der Zusammenhang von Führung und Gesundheit ist zunehmend nicht nur ein ökonomischer und ethischer, er wird ein existenzieller angesichts der Zahlen zu Langzeiterkrankungen und Frühberentung15. Badura und andere, die jedes Jahr unter der Überschrift »Fehlzeiten-Report« aktuelle Arbeitsmarktanalysen unter der Perspektive der Gesundheit zusammenstellen, haben den Report 2011 dem Thema »Führung und Gesundheit« gewidmet; dem aktuell wohl drängendsten Handlungsfeld. Darin fassen Ducki und Felfe aktuelle Befunde wie folgt zusammen: »Führung und Gesundheit sind mehrfach miteinander verbunden. […] Gesundheitsförderung […] betrifft die Managementfunktion […] Gleichzeitig hat die Art und Weise, wie Mitarbeiter geführt werden, wie und in welchem Umfang Informationen an Mitarbeiter weitergeleitet werden, wie Teamarbeit und wie einzelne Mitarbeiter gefördert und unterstützt werden, Auswirkungen auf das Erleben und die Gesundheit der Mitarbeiter. Dies betrifft die unmittelbare Mitarbeiterführung. In dieser Funktion tra15 Demografischer Wandel sowie Fachkräftemangel werden die Problematik verschärfen.
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gen Führungskräfte […] durch ihre Vorbildfunktion Verantwortung, wie mit den eigenen Belastungen und Ressourcen und der eigenen Gesundheit umgegangen wird. […] denn erschöpfte oder kranke Führungskräfte bedeuten für ein Unternehmen ebenso ein Risiko wie erschöpfte und erkrankte Mitarbeiter« (Ducki u. Felfe, 2011, S. VII). Fürsorge und Selbstfürsorge erhalten den Autoren zufolge unter humanistischer, volkswirtschaftlicher und betrieblich-ökonomischer Perspektive zentralen Stellenwert. Auch Krankenkassen und Unfallversicherer adressieren die Zielgruppe Führung vermehrt (Ducki u. Felfe, 2011, S. VII). Prümper und Becker können in dem Report zeigen, dass Mitarbeiter von freundlich-respektvollen Führungskräften arbeitsfähiger und gesünder sind (S. VII). Echterhoff thematisiert eine Ambivalenz der Einstellung von Führungskräften zu ihrer Rolle und Verantwortung für die Gesundheit von Mitarbeitenden und hebt hervor, dass darum eine gesamtgesundheitliche Ausrichtung in einem Unternehmen wichtig ist, will man nachhaltig gesundheitsgerechtes Vorgesetztenverhalten etablieren (S. VII). Insgesamt trägt das Werk Hinweise und Beispiele einer guten Praxis zusammen, die zeigen, dass und wie gesundheitsgerechte Führung mittels mitarbeiterorientiertem Betrieblichem Gesundheitsmanagement umgesetzt werden kann, damit Verhältnis- und Verhaltensprävention gut ineinandergreifen. Führungsfokus – Verantwortung des Managements und jeder Führungskraft in enger Kooperation und im Dialog mit Mitarbeitenden
Für nachhaltige Leistungsfähigkeit muss als Konsequenz aus den zuvor zusammengetragenen Überlegungen das (Wieder- oder Neu-) Erlernen von Fürsorge und Selbstfürsorge durch alle betrieblichen Akteure ein Ziel werden. Führungspersonen – seien es Fach- oder Dienstvorgesetzte, Projekt-, Team- oder Abteilungsleitungen – haben als direkte, hierarchische Ansprechpartner/-innen hierbei eine ganz besondere Verantwortung, fair, transparent, respekt- und vertrauensvoll sowie in langfristig nachhaltiger Weise zu handeln – vor allem in Krisenzeiten und nicht nur dann, wenn Mitarbeiter »ihr Bestes« geben (dann ist es immer leicht, wertschätzend zu sein). Ansonsten wird nicht nur das Vertrauen als Basis guten sozialen Klimas nach© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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haltig beschädigt, mit weiteren negativen gesundheitlichen Folgen, es kommt auch zu kostspieligen Motivations- und Loyalitätseinbußen. Insofern ist es nicht nur ethisch und menschlich angezeigt, sondern dient letztlich wiederum auch dem unternehmerischen Nutzenkalkül unter langfristiger Perspektive, gerade bei Leistungsträgern, die gesundheitlich einbrechen, fürsorglich und nicht nur kurzfristigbequem zu denken.16 Mittlere Führungskräfte müssen daher ganz besonders darin unterstützt werden, in ihren Rollen die Verantwortung, die sie auch für die ihnen unterstellten Menschen mittragen, (wieder) zu erkennen und auch im Alltag füllen zu lernen. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass das »von sich aus« klappt – Sozialisations- und Vermarktungslogik lassen es oft an kommunikativer und konfliktlösender Kompetenz mangeln: Welche Familie, welche Schul- und Berufsausbildung legt auf diese Aspekte gesteigerten Wert? Führungskräfte kommen in der Regel aus fachlichen Erwägungen in ihre Rolle und eignen sich überfachliche Kompetenzen der Mitarbeiterführung mehr oder weniger an. Führungskräfte und Mitarbeitende müssen lernen, was es heißen kann und wie es gehen kann, auch unter Druck in achtsamer Anerkennung der jeweiligen Gegebenheit zusammen zu gangbaren Lösungen im Interesse aller Beteiligten zu finden. Das bedeutet, es sind Double-Loop-Lernschleifen in organisationale Prozesse zu einzuführen. Dazu müssen innerbetrieblich Zeiten und Orte etabliert werden, ebenso wie es der Anleitung zu einer angemessenen Art und Weise bedarf. Nicht jedes Unternehmen hat ein BGM, welches in der bezeichneten Form die eigene zukunftsfähige Rollenentwicklung der betrieblichen Akteure unterstützen und begleiten kann. Personen mit Führungsverantwortung – ich denke hier an intermediäre Akteure – sehen sich zudem nicht selten einem Zielkonflikt gegenüber, einerseits sehr kurzfristig (bspw. quartalsweise) gute Zahlen vorlegen zu müssen oder zu wollen und andererseits unter nachhaltiger Pers16 Dass sich diese Empfehlung auszahlt, zeigt Meißner (2005, S. 91 ff.) mit eindrücklichen Kostenrechnungen zu betriebs- und personalwirtschaftlichen Wertschöpfungsverlusten durch Tendenzen zur Arbeitssucht und deren gesundheitlichen Folgen.
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pektive eher mittel- und langfristig mit aufzubauenden Leistungsträgern ihren Arbeitsbereich zu gestalten. Für die Perspektive solch einer Führungskraft ist also zu fragen: Wie passen ökonomische und soziale Nachhaltigkeit zusammen? Würde es eine existenzielle Gefährdung des Arbeitsbereichs oder der Organisation bedeuten, wenn statt »möglichst viel Leistung und Profit« ein Umdenken hin zu »schwarze Zahlen sind ausreichend« definiert würde? Diese Frage kann ein Ökonom sicherlich eher beantworten. Klar ist: Die Organisation muss bestehen können, sonst sprechen wir statt von Überlastung in der Arbeit von Arbeitslosigkeit, laut der europäischen Expertengruppe Gesundheit in Restrukturierungen (vgl. Kieselbach, Kuhn, Armgarth et al., 2009 im HIRES-Report). Wie Vorgesetzte (womöglich selbst arbeitssüchtig), die sich mit Erfolgen profilieren möchten, zu bewegen sein mögen, Verantwortung für eine gute (bessere) Selbstfürsorge sowie auch eine Fürsorgepflicht für die ihnen unterstellten Mitarbeitenden anzunehmen, bleibt somit eine zentrale Frage. Sicherlich gibt es Menschen, die für sich selbst und andere eher ein Gespür für humanistisches Handeln entwickeln und bewahren konnten, während andere in ihrer Sozialisationsgeschichte nie entsprechende Werte und Wahrnehmungen haben ausbilden können. Salutogenese-Modell unter der Perspektive der Selbstfürsorge
Als wichtiger Trend der Bewältigung entgrenzter Arbeitsbedingungen findet sich ein von Krankenkassen, betrieblichen Gesundheitsmanagern sowie in beruflich-gesundheitsbezogenen Weiterbildungen favorisierter Ansatz: das Salutogenese-Modell17. Erkenntnisse 17 Das Salutogenese-Modell nach Antonovsky (1997) fokussiert die Resilienz des Individuums und setzt damit beim Einzelnen an. Der israelische Gesundheitsforscher hat in seiner Studie untersucht, weshalb manche Überlebende von KZs scheinbar unbeschadet weiterleben, während andere Menschen in der Folge mit posttraumatischen Belastungsstörungen und somatischen Beschwerden umzugehen haben. Seiner Forschung zufolge ist der entscheidende Faktor der etwa 30 % seiner Untersuchungsgruppe umfassenden Unbeschadeten ein stabiles »Kohärenzgefühl«. Dieses setzt sich aus den Faktoren Sinnhaftigkeit, Verstehbarkeit und Handhabbarkeit zusammen,
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zum menschlichen Kohärenzgefühl als Resilienzfaktor werden dort für den Arbeitskontext verhaltenspräventiv gedeutet, um die Belastbarkeit arbeitender Menschen möglichst zu verbessern. Mein Eindruck von Debatten in der Praxis dazu ist, dass gesellschaftliche Institutionen unserer Gesellschaft aus dem SalutogeneseModell den Schluss ableiten, dass Menschen mit stabilem Kohärenzgefühl unter den heftigsten (Arbeits-)Bedingungen gesund bleiben könnten und dass eine solch resiliente Disposition (von jedem) erlernbar sei. Demnach wäre es nur eine Willensfrage, in subjektivierter, entgrenzter Arbeit standzuhalten, und wem es nicht dauerhaft gelingt, der wäre selber schuld. Eine solche, die strukturell in postmoderner Arbeit angelegte Probleme individualisierende Denkweise halte ich für zynisch. Verhältnisprävention sollte nicht zugunsten von Verhaltensprävention vernachlässigt werden; sie müssen einander ergänzen. Resilienz kann aus einer gesundheitspsychologischen Perspektive in entgrenzten Arbeitsverhältnissen m. E. nicht bedeuten, belastende Bedingungen länger durchzuhalten, indem die Erfüllung der Kriterien für ein Kohärenzgefühl in den bestehenden Arbeitsbedingungen allein gestärkt wird: Das heißt, Sinn im entgrenzten Tun zu sehen, die Aufgabenfülle als handhabbar zu erleben sowie eine Verstehbarkeit des Aufgabenzusammenhangs. Arbeitende Menschen werden wohl in der Mehrzahl angeben, dass sie den Sinn ihres Tuns kennen, verstehen, wie ihre Inhalte zusammenhängen, und sie jede einzelne Aufgabe auch handhaben können. Unter der Bedingung, dass die Arbeit zentraler Lebensinhalt einer Person (geworden) ist, ist es m. E. nicht wie er weiter herausfand. Das Werk »Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit« (amerik. Orig. 1987) erläutert also, unter welcher psychischen Konstitution Gesundheit trotz solch massiver Belastung bestmöglich gelingt. Der Autor konstatiert auf Basis seiner Analysen, dass einige Menschen mehr Kohärenzgefühl entwickeln können als der Rest und dass es auch ein Stück weit trainierbar sei. Zu fragen wäre, was mit den anderen 70 % der Überlebenden-Stichprobe ist und auch mit all jenen, die das KZ gar nicht überlebt haben (die Grundgesamtheit war also viel höher) – lässt das nicht den Schluss zu, dass die allermeisten Menschen unter unmenschlichen Bedingungen leiden und erkranken? Und den Schluss, dass nur eine kleine Stichprobe stabil entsprechende Erfahrungen von sich abgleiten lassen kann (vielleicht eher 10 % der Grundgesamtheit?)!
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unwahrscheinlich, dass ein gutes Kohärenzgefühl auch einen Aspekt des Suchtpotenzials in entgrenzt-identifizierter Leistungserbringung ausmacht. Es ist anzunehmen, dass in der Aufgabenverdichtung der Aspekt der Handhabbarkeit ganz manifest entgleiten kann, wenn die Menge nicht mehr bewältigbar erscheint. Oder wenn psychisch infolge von Überlastung und eines Weggleitens der Handhabbarkeit (»ich schaffe das nicht mehr«) auch zunehmend Zweifel am Sinn und Zweck der Art und Weise insgesamt aufkommen. Kommt dann im sozialen Umfeld auf entsprechende Anmerkungen auch noch Verständnislosigkeit und soziale Kühle auf, so wird rein arbeitsbezogenes Kohärenzgefühl sicherlich gefährdet (bis es verloren geht). Insofern bietet das Salutogenese-Modell sehr wohl einen Rahmen, in dem vorstellbar wird, wie sich für einen leistungsbereiten Erwerbstätigen mit der Zeit der Blick und auch die Widerstandskraft verschieben, bis der gesundheitliche Einbruch – dann womöglich durchaus auch gekoppelt an eine psychische Sinnkrise (»Was machen wir hier eigentlich …?«) – einsetzt. Hier ist der Punkt, wo Führungskräfte ihre protektive Wirkung nicht unterschätzen dürfen und viel früher korrektiv und kooperativ im Sinne langfristiger Gesunderhaltung mitwirken müssen. Allerdings wäre eine Einschränkung des Blicks mit dem Salutogenese-Modell auf die Arbeitswelt als Lebensumwelt generell zu eng geführt. Es bedarf eines grundsätzlichen Reframings: Ein gesundes Kohärenzgefühl muss sich m. E. auf das Leben einer Person insgesamt beziehen und die Arbeit darin angemessen einbetten. Arbeit muss im Leben einer Person sinnhaft, handhabbar und verstehbar eingefügt sein und sich in seinen Werten sowie zeitlich zu sonstigen Lebensbereichen als integrierbar erweisen. In solch einer Rahmenlogik müsste sich der Sinn der Arbeit etwas relativieren, die Handhabbarkeit würde sich auch an der Balance zwischen den verschiedenen Lebensbereichen (Work-Life-Balance) messen lassen müssen, und die Verstehbarkeit sollte ebenfalls auf alle Lebensbereiche bezogen bleiben. Um es in Anlehnung an Negt zu formulieren: Die Sinnfrage würde dann etwas von der Arbeit abgekoppelt und zugleich die Pathologie der Normalität reduziert. Darum auch muss der Salutogenese-Ansatz, wenn allein auf Arbeit selbst bezogen argumentiert wird, wichtige Antworten schul© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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dig bleiben. Im größeren Lebenszusammenhang hingegen steuert er interessante Hinweise für die innere Balance von Menschen bei und schließt damit auch an die zuvor thematisierten fünf Säulen der Identität aus der Therapietheorie an, welche für eine stabile Persönlichkeitsentwicklung aus therapietheoretischer Perspektive gleichmäßig im Leben vorkommen sollten. Salutogenese im Sinne der Verhaltensprävention setzt beim Individuum an und stärkt es gegenüber belastenden Verhältnissen. Individualstrategien der Selbstfürsorge, in Krisenzeiten verbunden mit sozio- oder psychotherapeutischer Begleitung, ergänzen die bis hierher exemplarisch diskutierten Möglichkeiten, langfristig »Decent Work« in unserer Arbeitsgesellschaft zu etablieren. Ein selbstfürsorgliches und erwachsenengemäßes Zurückweisen überzogener Ansprüche in der Arbeit trägt dazu bei. Das beinhaltet möglichst eine (ggf. Reaktivierung und) Stärkung der weiteren Säulen der Identität neben Arbeit, d. h. zunächst natürlich die eigene Gesundheit, daneben jedoch auch soziale Gefüge wie Familie, Freundschaften und Hobbys sowie ggf. geistige Dimensionen neben der Rationalität der Arbeitwelt, d. h. die eigene Spiritualität. Meißner (2005, S. 69, mit Verweis auf Fassel, 1994, S. 151) schreibt bspw. zur Psychotherapie mit Arbeitssüchtigen: »Ziel einer therapeutischen Behandlung ist, eine gesunde Beziehung zur eigenen Arbeit zu entwickeln. Dabei ist eine teilweise Abstinenz durchaus denkbar, wie z. B. Verzicht auf Hetze oder übertriebene Fürsorge.« Aus dieser Sicht könnte manche Langzeitkrankschreibung Züge eines kalten Entzugs tragen, sofern zu Hause wirklich nicht gearbeitet und sich regeneriert wird. Auch der Burnout-Experte Müller verdeutlicht, dass zu guter Selbstfürsorge »innere Ressourcenprüfung, Ökonomieerwägungen oder Ausgleichsbemühungen« (1995, S. 85) zählen, um Warnsignale eines Ausbrennens rechtzeitig zu bemerken und gesundheitsbezogene Gefahren abzuwenden.
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Für soziale Nachhaltigkeit in Organisationen: Entwicklung von Vertrauen, organisationaler Achtsamkeit und Selbstfürsorge
Immer dann, wenn man im Arbeitskontext über belastende Aspekte miteinander ins Gespräch kommen möchte (sei es im Rahmen einer BGM-Konzeption oder auch bilateral), stellt sich die Frage nach dem Vertrauen. Denn Vertrauen stellt die vielleicht wesentlichste Voraussetzung für ein gutes soziales Klima dar. Es fragt sich: Gibt es eine vertrauensvolle Basis, auf der man überhaupt miteinander sprechen kann? Ohne einen Grundkonsens, dass mit geteilter Information gut umgegangen wird, ist es nicht möglich, überhaupt über Belastendes ins Gespräch zu kommen. Das gilt vor allem in der Hierarchie: Ist es nicht erwartbar, dass das (machtvollere) Gegenüber eine Information nicht dazu nutzt, die Situation noch weiter zu verschlimmern, so behält man ohnehin schon Schwieriges für sich. Vertrauen ist aus dieser Perspektive Voraussetzung und voraussetzungsvoll zugleich – es muss im Mindestmaß bestehen, und es muss sich auch in Probeinteraktionen bewähren. Besteht vom Grundsatz her kein Vertrauen darin, dass auch der andere sich verständigen will, dann kommt ein Gespräch gar nicht erst zustande (vgl. Habermas, 1971). Für ein gutes soziales Klima ist Vertrauen absolut notwendig. Führungskräfte profitieren darum davon, die Mechanismen zu kennen, in denen Vertrauen sich entwickelt oder auch reduziert. Der Soziologe Luhmann hat 1968 ein Buch über Vertrauen verfasst, welches meines Wissens noch immer der umfassendste Ansatz darüber ist, wie Vertrauen sich im Alltag von Menschen herstellt, bewahrt, absichert und auch verloren geht. Für Luhmann ist Vertrauen eine »riskante Vorleistung zur Komplexitätsreduktion« (Luhmann, 1968/1989, S. 23), um die eigene Handlungsfähigkeit, ja die Selbsterhaltung zu sichern in einem faktisch unüberschaubaren Möglichkeitsraum. Nach Luhmann stellt Vertrauen ein verbindendes Grundprinzip des Psychischen und des Sozialen dar, das als eine vermittelnde Qualität in der Interaktion und Verarbeitung sozialer Komplexität wirkt und der kognitiven sowie emotionalen Entlastung (Entspannung) dient. Man geht ein Risiko ein und gewinnt Kooperation, wenn die wiederholte Erfahrung gemacht wird, dass mit einem dem Gegenüber gegebenen Vertrauensvorschuss gut – © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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d. h. auch im eigenen Sinne – umgegangen wird, gerade auch wenn etwas problematisch ist. Luhmann unterscheidet Vertrauen in Personen von Vertrauen in Systeme. Personenvertrauen wird ihm zufolge in kleinen Schritten der Kommunikation allmählich aufgebaut und immer wieder am konkreten Erleben überprüft. Vorgesetzte müssen sich in bilateralen Interaktionen als vertrauenswürdig bewähren. Systemvertrauen wird eher generalisierter wahrgenommen und vermittelt sich über symbolische Codes sowie Kommunikationsmedien. Dabei wird ein Wahrheitsbezug unterstellt und auf schrittweise Kontrolle verzichtet: Systemvertrauen baut auf systemimmanente Erwartungsstrukturen. Übertragen auf das Vertrauen in eine bestimmte Organisation hieße dies: Menschen vertrauen darauf, dass die Organisation auch morgen noch funktioniert, weiter besteht. Signale, die dies in Frage stellen, werden zwar wahrgenommen, aber das weckt zunächst keine grundsätzlichen Zweifel. Vielmehr wird das Systemvertrauen dann an Personen zurückgebunden: Man fragt sich, welcher Manager Fehler gemacht oder welcher Pressemensch sich geirrt hat. Folgerung nach Luhmann: Wenn Systemvertrauen zur Disposition steht, wird es zunächst einmal an Personen zurückgebunden und dort verhandelt. Auch das inszenierte »einer muss seinen Hut nehmen« hat hier seinen Sinn; es schützt das Systemvertrauen über ein symbolisches Opfer. Das grundsätzliche Wissen (Zutrauen) um das Funktionieren eines Systems zusammen mit Kommunikation im Notfall sichern so das Systemvertrauen ab (vgl. Meyerhuber, 2001, S. 142 ff.). Organisationen, Arbeitsgruppen und Einzelpersonen sind auf Vertrauen als zentral-kohäsives Mittel gleichermaßen angewiesen. Das Vertrauen in Organisationen basiert, so die Folgerung aus dem Ansatz Luhmanns, einerseits auf Systemvertrauen und andererseits auf Personenvertrauen. Führungskräfte sind dabei in den Augen ihrer Mitarbeitenden oft auch Repräsentanten des Systems. Vorgesetzte müssen darum gerade in schwierigen Zeiten verlässlich und stabil zur Verfügung stehen, Fragen beantworten, anwesend und ansprechbar sein, auch Ängste aushalten und ruhig bleiben, um Schaden auf der Mitarbeitendenebene (bspw. Verunsicherungen, Demotivation, innere Umorientierung) im Störfall zu minimieren (Luhmann, 1968/1989, S. 36). Insofern verantworten Führungskräfte © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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nicht nur selbst erzeugte Klimaschwankungen im sozialen Miteinander, sondern stehen im eigenen Bereich auch mit ein für die Verarbeitung entsprechender Wetterlagen aus der umgebenden Organisation. Hier sind Vorgesetzte in einer nicht einfachen Doppelrolle als »auch Angestellte« und als Vorgesetzte/Systemrepräsentanten. Zur Rollenreflexion bieten sich Führungsrunden, Supervision oder Coaching an, um vor allem in komplizierten Zeiten nicht unbewusst zusätzlich Verunsicherungen unter den Mitglieder des eigenen Arbeitsbereichs zu fördern. Für postmoderne Dienstleistungs- und Wissensarbeit thematisierten Gondek, Heisig und Littek für die 1990er Jahre eine Tendenz, wonach die Strukturen wechselseitiger Abhängigkeit stiegen; es entstanden zu dieser Zeit in den Organisationsstrukturen zunehmend ungleichmäßig verteilte Verfügungsgewalten. Gondek et al. erläutern: »[…] ökonomische Ressourcen und legale Machtausübung der dominanten Gruppe [werden] durch das Funktionswissen und Know-How begrenzt, über das die ›niederen‹ Gruppen verfügen. Hier bildet sich eine wechselseitige Abhängigkeit […] heraus, auf der soziale Tauschbeziehungen aufbauen […] von denen beide Seiten profitieren« (1992, S. 47). Diese Tauschbeziehungen, heute mehr denn je, beinhalten einen inhaltlichen sowie auch psychologischen Vertrag, wonach das Unternehmen Mitarbeitende verlässlich beschäftigt sowie fair behandelt und Mitarbeitende ihr Wissen sowie Engagement dem Unternehmen zur Verfügung stellen. Das Beschäftigungs- und Fairnessversprechen wird in der Postmoderne jedoch immer mehr aufgekündigt, während zugleich der Anspruch an das Wissen und Engagement Beschäftigter gestiegen ist – aus dieser zunehmenden Unwucht entstehen viele Vertrauensprobleme im Arbeitskontext. Hier ist das Management gefragt, strukturelle Sicherheiten zu geben, und Führungskräfte sind gehalten, das Fairnessgebot gesundheitsbezogen in Alltagsinteraktionen einzulösen. Luhmann ist zudem der Hinweis zu verdanken, dass es nicht möglich ist, Vertrauen direkt zu thematisieren (dies käme einem Misstrauensvotum gleich und würde das Vertrauensverhältnis zusätzlich belasten), weshalb ich 2001 den Schluss formulierte: »Aus dieser Perspektive kann die Möglichkeit des Einzelnen, Transparenz zu thematisieren, einzufordern oder herzustellen, als diskursive Handlungsmöglichkeit © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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angesichts vertrauensrelevanter Problemlagen verstanden werden. Wo formelle Sicherheiten schwinden und die soziale Komplexität ansteigt, ist nach Luhmann Vertrauen mehr denn je notwendig. Daher bedarf es neuer Thematisierungsgaranten in der organisationalen Kommunikation, ohne dass das Vertrauen selbst besprochen werden müsste. Der arbeitsbezogene Transparenzbegriff ist eine diskursive Formel, die dies ermöglicht« (Meyerhuber, 2001, S. 159). Eine Thematisierung von Transparenz in Organisationen ist demnach immer auch als eine Diskursformel für vertrauenswirksame Fragen zu deuten. Anzunehmen ist, dass mit einem Gesundheitsmanagement ähnliche Effekte genutzt werden: Der definierte Thematisierungshorizont erlaubt es, über das Schlüsselthema Gesundheit die auch personenbezogenen Probleme – ein zu wenig hilfreiches bis belastendes Führungsverhalten – in den Blick zu nehmen, ohne jemanden explizit bloßzustellen. Zugleich nimmt es alle Beteiligten in die Pflicht, sich an gesundheitsförderliche Regeln des Miteinanders (mehr) zu halten, und bietet dabei Unterstützung an. Unter verdichteten Arbeitsbedingungen können kontraproduktive Interaktionen im Alltag zunehmen und sich gesundheitlich negativ auswirken. Noch nicht viele (bzw. nicht genug) Unternehmen haben ein alle ihre Bereiche durchdringendes Gesundheitsmanagement etabliert und können eine soziale Kultur vorweisen, die soziale Nachhaltigkeit stützt. Ihr Vorbild jedoch ist wegweisend (Badura et al., 2011, S. 169 ff.). Welche sonstigen Konzepte, die vertrauens- und gesundheitswirksam sind, können herangezogen werden? Entwicklungen in Unternehmen können sozial angemessener gestaltet werden, indem interne Prozesse als dialogorientierte Beteiligungsverfahren gestaltet und mit externer Moderation begleitet werden, die in kommunikativen und konfliktlösenden Gesprächsführungstechniken geschult ist und diese bedarfsbezogen anleitet und vorlebt. Häufig entscheiden sich Firmen für moderierte Verfahren, wenn sie sich auf den Weg machen, mit bestehendem Personal zu versuchen, ihre Zukunftsfähigkeit durch Innovationen zu steigern. Oder sie gehen auf diese Weise die Zusammenlegung zweier Bereiche an. Egal, wie breit oder exklusiv das definierte Problemfeld ist, generell sind dialogische Verfahren besonders gut geeignet, Aushandlungs- und Veränderungs© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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prozesse zu unterstützen. Eine Form, dies zu tun, ist das BGM. Aber auch andere Türöffner-Themen können als Vehikel dienen, um unter Beteiligung der betrieblichen Akteursgruppen zu sozial nachhaltigeren Kooperationsformen zu finden, welche sich positiv auf die Vertrauensbildung, die Kommunikations- und Konfliktkultur sowie die Gesundheit der beteiligten Menschen auswirken. Sozialdialog gehört neben Sozialschutz, Arbeitsrechten und der Förderung der Beschäftigung zu den Zielen, die die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) mit ihrer Decent-Work-Agenda unterstützt. Es ist ein nicht unerhebliches Recht Beschäftigter, kommunikativ an der Gestaltung (und auch Verbesserung) ihrer Arbeitsumwelt beteiligt zu sein. Dazu sei an das Zitat von Senghaas-Knobloch weiter oben erinnert: »Zu den Säulen der Decent-Work-Agenda gehören Rechte bei der Arbeit, Beschäftigungsförderung, Sozialschutz und Sozialdialog. Man könnte dies ein Programm zur Achtsamkeit in Gesellschaften und Unternehmen nennen. […] Neben diesen gesellschaftspolitischen Ansätzen müssten auf der Seite der Unternehmen Routinen für Achtsamkeit eingeführt werden, zum Beispiel durch gesicherte (Zeit-)Räume für geschützte Dialoge zur gesundheitspräventiven Thematisierung problematischer Organisationsabläufe. […] Eine innovative Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft ist ohne humane Arbeitsbedingungen nicht zukunftsfähig« (Senghaas-Knobloch, 2011, S. 31). Mit dem Konzept der organisationalen Achtsamkeit entwickeln Becke und Kollegen (vgl. Becke, Behrens, Bleses, Evers u. Hafkesbrink, 2011) eine Form themenfokussierter Prozessbegleitung nach den Prinzipien der sozialpsychologischen Organisationsentwicklung (vgl. French u. Bell, 1994), die den Schwerpunkt auf Dialogverfahren legt und offen dafür bleibt, an welchem Inhalt oder konkretem Entwicklungsbedarf eines Unternehmens das Konzept konkret genutzt wird. Becke (2011) konzeptualisiert den Achtsamkeitsbegriff dabei in Anlehnung an Weick und Sutcliffe (2007), die aus Beispielen in Arbeitsfeldern, die auf ein Umgehen mit Unerwartetem18 spezialisiert sind, im Sinne eines Double-Loop- und Deutero-Lernen ableiten, 18 Weick und Sutcliffe ziehen Beispiele aus Arbeitsfeldern heran, die mit stark unplanbaren, gefährlichen Ereignissen umzugehen haben (High Reliability
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welche Modifizierungen in Organisationen geeignet sind, von einer Schuldzuschreibungs- zu einer Lernkultur zu finden (S. 138). Dabei kommt dem Begriff der Achtsamkeit (dort: mindfulness) zentrale Bedeutung zu. Die Autoren erläutern: »Mindfulness is about the unexpected events that show up everywhere in corporate life […] Whether we like it or not, if the world is filled with the unexpected, we’re all firefighters putting out one fire after another. […] Improvements in resilient performances lie in the hands of those who have a deeper grasp of how things really work. And that grasp comes in part from mindfulness. […] Mindful people hold complex projects together because they understand what is happening« (Weick u. Sutcliffe, 2007, S. 160). Die Autoren verstehen Achtsamkeit als ein Grundprinzip des Planens, Organisierens und Reagierens in Arbeitskontexten. Sie betonen eine generell achtsame Gestaltung von Verfahren und Abläufen, um abgestimmt und intern gestärkt (resilient) Herausforderungen begegnen zu können, statt sich an internen Konflikten aufzureiben. Becke adaptiert diese Grundidee und konzeptualisiert organisationale Achtsamkeit als ein Gestaltungskonzept, das geeignet ist, für die arbeitenden Menschen notwendige Stabilitätsanker in Zeiten verunsichernder Veränderungsprozesse zu setzen und eine betriebliche Vertrauenskultur trotz im Wandel befindlicher Rahmenbedingungen zu fördern. Das unter der Überschrift »Achtsamkeit« angelegte, partizipative Dialogverfahren erlaubt es ihm zufolge, Perspektivenvielfalt zu organisieren, eine betriebliche Auseinandersetzungskultur zu fördern, nachhaltige Arbeitsqualität anzustreben und darüber auch das Vertrauen ineinander und in das Unternehmen zu stärken (Becke, 2011, S. 67). Dazu werden zu anstehenden Themen bspw. Workshops initiiert, in denen Blickwinkel auf ein Problem erst statusgruppenintern und in einem späteren Schritt statusgruppenübergreifend gesammelt, gebündelt und verhandelt werden. Ein für Führungskräfte positiver Effekt solchen Vorgehens ist es m. E., dass diese auch beginnen, sich organisationsintern untereinander besser auszutauschen, und Foren erhalten, als Statusgruppe kooperativ an ihren Organizations), wie in der Waldbrandbekämpfung, im Seuchenmanagement, in Notfallambulanzen oder auch in der Raumfahrt.
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relevanten Themen zu arbeiten. Ebenso ergibt sich für Mitarbeitende ohne Führungsverantwortung mehr Kontakt untereinander sowie eine Klärung und Stärkung eigener Positionen mit der Möglichkeit, ihre Anliegen in Prozesse einzubringen. Als Gegenbewegung zur Subjektivierung von Arbeit sind kollektivere Formen der Interessenklärung und -äußerung sicherlich wegweisend. Entsprechende Möglichkeiten unterstützen auch das Erleben sozialer Anteilhabe, der Wertschätzung und der Anerkennung (Becke, 2011, S. 73). Dialogische Verfahren stehen und fallen – ähnlich dem BGM – mit der verlässlichen Bereitschaft des Managements, sich hinter den Prozess zu stellen, ihn voranzutreiben und sich mit partizipativ entwickelten Überlegungen auch ernsthaft zu befassen. Entsprechend berichtet auch Becke: »Von zentraler Bedeutung ist hierbei die Bereitschaft von Führungskräften, sich mit Veränderungsvorschlägen von Mitarbeitenden konstruktiv auseinanderzusetzen, Ablehnungen im Sinne des Transparenzgebots stets zu begründen sowie organisatorische Vorkehrungen zu treffen und Verantwortlichkeiten zu klären, die sicherstellen, dass in Dialogräumen vereinbarte Problemlösungen oder hervorgebrachte innovative Handlungsräume auch unternehmensintern verbindlich umgesetzt werden« (S. 85). Transparenz und Verbindlichkeit sind zentrale Qualitätskriterien und werden in definierten Dialogräumen auch einforderbar. Führungskräfte finden untereinander sowie im Feedback durch Mitarbeitende ein Regulativ, welches es ihnen bestenfalls erlaubt, ihre Vorgesetztenfunktion konstruktiv weiterzuentwickeln. Externe Moderation, die in der Praxis von Entwicklungsprozessen vorübergehend auch Aspekte von Coaching und Beratung beinhalten kann, hat hier einen vorlebenden und – mit dem Auftrag der Etablierung von Achtsamkeitsroutinen – regulierenden Einfluss. Führungskräfte stehen in der Regel mehrfach unter Erwartungsdruck: Mitarbeitende erwarten, dass ihre Belange gegenüber dem Management in einer Weise kommuniziert werden, dass sich (gewünschte) Konsequenzen in der Umsetzung wiederfinden. Management erwartet von ihrem Führungskreis ein Mittragen, Weitervermitteln und Umsetzen bekundeter Ziele und Entwicklungsvorstellungen in den einzelnen Arbeitsbereichen. Intermediäre Akteure haben zudem ihre eigenen Interessen zu vertreten. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Achtsamkeit ist – egal an welchem inhaltlichen Vehikel – m. E. ein gutes Einfallstor für die Sensibilisierung und Unterstützung gerade auch von Führungskräften, mit sich selbst und ihren Unterstellten in konstruktiv-unterstützender Weise umzugehen und ein gutes, soziales Klima im Alltag (v. a. bei Problemlagen) zu pflegen. Für Becke stellen Personen dieser Zielgruppe qua Rolle und Reputation oft innerbetriebliche Vertrauensanker dar (2011, S. 95 ff.), die sozial besonders stark gefordert sind. Ich denke, Luhmann meint mit der Repräsentanzfunktion (Systemvertrauen vertreten) etwas ganz Ähnliches. In der Sandwich-Position zwischen Management und Mitarbeitenden sind Führungskräfte besonders gehalten, sich kommunikativ, ausgleichend, übersetzend, vermittelnd etc. zu verhalten: Das ist eine hohe Anforderung neben arbeitsinhaltlichen Aufgaben. Darum ist es ein zentrales Anliegen im Rahmen des Konzepts organisationaler Achtsamkeit, diese Gruppe zu unterstützen, in spezifischer Gewahrsamkeit auch achtsam mit sich selbst umzugehen; Becke dazu: »Intermediäre Akteure stehen schließlich vor der Herausforderung, Achtsamkeit auf die eigene Person zu richten. Dies beinhaltet die Fähigkeit zur Selbstfürsorge, um einer psycho-physischen Erschöpfung vorzubeugen. Diese Gefahr besteht vor allem bei unteren und mittleren Führungskräften. In Prozessen der Ökonomisierung betrieblicher Arbeits- und Sozialbeziehungen werden Führungsebenen häufig ausgedünnt und Leitungsspannen erweitert. […] Intermediär tätige Führungskräfte sind daher besonders hohen gesundheitlichen Gefährdungen ausgesetzt. […] Diese psychischen Belastungen können im Verein mit dem ohnehin hohen psychischen und oft auch arbeitszeitlichen Belastungsniveau der Führungskräfte in einen psycho-physischen Erschöpfungszustand münden. Indizien konnten wir in drei unserer vier Untersuchungsunternehmen finden« (Becke, 2011, S. 101 f.). Achtsamkeit als Ziel für Arbeit zu definieren und es auf die eigene Person zu richten, wenn dies verlernt wurde oder in einem Arbeitskontext insgesamt nicht zur Kultur zählt, ist sicherlich eine große Herausforderung. Allein ein Projekt »Achtsamkeit« zu nennen ist m. E. schon von einigem Wert in der entgrenzten, ökonomisierten Arbeitswelt und hat Signalcharakter. Darin wird Gesundheit als © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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impliziertes Ziel im Sinne einer »Huckepackstrategie« (vgl. Becke, 2011) mit traktiert.19 Auch hier gilt: Management muss dranbleiben, den Prozess wollen, auch die unliebsamen, in kontraproduktiven Routinen verharrenden Personen mit ins Boot holen (auch: Rollen zur Disposition stellen, wenn gesundheitliche Ausfälle auf der Mitarbeiterebene wiederholt Misstand signalisieren). Eine achtsame Führungs- und Entwicklungskultur im Unternehmen zu pflegen dürfte sich auf das soziale Klima auch beim Umgang mit gesundheitlichen Einbrüchen und im Konfliktfall als sehr unterstützend erweisen.
Folgerungen Sozial nachhaltig im Spannungsfeld postmoderner Arbeit zu handeln setzt also voraus, achtsam mit sich selbst und mit anderen umzugehen. Um dies in postmodernen Organisationen zu tun, bedarf es einerseits programmatischer Rahmungen (die vorliegen) und andererseits ihrer tatsächlichen Umsetzungen im Alltag der arbeitenden Menschen. Es wurde – gestützt vor allem durch gesundheitsbezogene Daten seit 2005 – deutlich, dass nicht davon auszugehen ist, dass eine Mehrzahl der Erwerbstätigen in Organisationen eine solche Umsetzung schon aus sich heraus bewerkstelligen könnte, im Gegenteil. Entgrenzte und subjektivierte Arbeitsbedingungen bringen, wie gezeigt werden konnte, aus psychologischer Perspektive spezifische Konflikte in den Menschen selbst und zwischen Personen hervor, die sich langfristig als gesundheitsschädigend sowie organisationsschädigend erweisen: Ein Fördern von Tendenzen zu arbeitssüchtigem Verhalten durch die Entgrenzungsdynamik mündet für die Menschen einerseits in Erkrankungen und Burnout sowie andererseits in Ausgrenzung und Mobbing. Entsprechende individual- und gruppendynamische Phänomene konstituieren sich in postfordistischer Arbeit nicht mehr singulär,
19 Gerade wenn Gesundheit ein implizites Entwicklungsziel ist, wäre es günstig, wenn externe Prozessbegleitungen nicht nur Ausbildungen in Gesprächsführung und Konfliktmediation, sondern auch im Erkennen und Behandeln von Arbeitssucht und Burnout haben, also eine klinische Zusatzqualifikation mitbringen.
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sondern zunehmend als interdependente und strukturimmanente Problemlagen. Daher sind neben wegweisenden Programmatiken in Organisationen angelegte Maßnahmen zu erwägen, die ein Umdenken und Umsteuern im Arbeitsalltag unterstützen können. Ein mitarbeiterorientiertes Management, Sozialdialog und Sozialschutz müssen bis in das tägliche Miteinander hineinreichen und die Leistungsorientierung in eine neue Balance mit der Gesundheitsorientierung bringen. Dazu sind organisationsseitig eine psychologisch angemessene Selbstfürsorge von Führungskräften sowie eine Wiederbesinnung auf die Fürsorgepflicht gegenüber Mitarbeitenden gleichermaßen zu fördern. Die mit diesem Beitrag aufgezeigten psychologischen Dynamiken eines gewohnheitsgemäß entgrenzten Arbeitsalltags machen es dazu voraussichtlich notwendig, für eine verantwortliche Personalpolitik steuernde Eingriffe aus höherer Systemebene zu entwickeln, die die Arbeitsgewohnheiten der Menschen wieder in eine langfristig gesündere Richtung zu führen erlauben. Hierzu ist das Primat der Subjektivierung von Arbeit durch eine Teilkollektivierung abzulösen: Es muss als ein gemeinschaftliches Problem erkannt werden, wenn produktive Mitarbeitende gesundheitlich langfristig ausfallen, mit der Einsicht, dass es nur gemeinschaftlich gelöst werden kann und kein Individualproblem darstellt. Betriebliches Gesundheitsmanagement und Unterstützungsformen, die die Arbeitsbedingungen, die soziale Interaktionen sowie die individuelle Verarbeitung gleichermaßen in den Blick nehmen, sind dazu konsequenter als bisher im Alltag mit Leben zu füllen. Die Fürsorge für Mitarbeitende als gleichrangig mit der Fürsorge für Kunden und Produkte zu verstehen, ist eine Verantwortung, die von jeder Führungsperson in Organisationen neu anzunehmen und mit Leben zu füllen ist. Insofern sind Erkrankungen auch aufrüttelnd und die Zivilcourage Einzelner, ihre Gesundheit gegen die Leistungskultur abzuwägen und damit in Konflikt mit ihrem Arbeitsumfeld zu treten, impliziertes Signal für systemischen Handlungsbedarf. Soziale Nachhaltigkeit als Prüfkriterium an Arbeitsprozesse und -interaktionen anzulegen sowie zu fragen, ob es so, wie es läuft, auch über Jahre gesund laufen kann, ist wegweisend. Gesundheit als Maßstab für die »good practice« eines Arbeitsbereichs könnte gar © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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als ein Leistungsindikator operationalisiert werden. Soziale Nachhaltigkeit steht entsprechend nicht in Widerspruch zu ökonomischen Interessen, sondern kommt diesen entgegen, gerade in Zeiten des demografischen Wandels sowie des Fachkräftemangels. Langfristig gesunde Erwerbstätige stellen ein allseits sinnvolles, zentrales Zukunftsziel dar: für das Individuum, jede Arbeitsorganisation sowie die Gesellschaft.
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Mit Klarheit und Bescheidenheit Systemische Überlegungen zur Beratung »hochstrittiger Eltern« Kurt Pelzer
Vorbemerkung Die Beratung von Familien, die von Trennung und Scheidung betroffen sind, hat sich in den letzten zwanzig Jahren, nicht zuletzt wegen der stetig ansteigenden Nachfragen, zu einem Hauptarbeitsfeld der Erziehungs- und Familienberatung entwickelt. Seit der Jahrtausendwende bildet sich, angeregt durch amerikanische Forschungen, ein neuer Schwerpunkt des fachlichen Interesses heraus, der sich mit den hartnäckigsten Konfliktdynamiken in Folge von Trennung und Scheidung beschäftigt. Es entstehen neue Begrifflichkeiten wie z. B. »hochstrittige Eltern« oder »hochkonflikthafte Familien«. Insofern war es nur folgerichtig, dass im deutschsprachigen Raum die Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (BKE) den fachlichen Austausch und die wissenschaftliche Weiterentwicklung der Thematik initiierte und förderte. Hier seien vorweg zwei Publikationen benannt, die für die Praxis der Beratungsstellen anregend und hilfreich sind und auf deren Positionen sich der folgende Beitrag hauptsächlich bezieht: – zum einen der Sammelband von Matthias Weber und Herbert Schilling (Hrsg.): Eskalierte Elternkonflikte von 2006 und zum anderen die – »Handreichung« des Deutschen Jugendinstitutes (DJI) mit dem Autorenteam P. Dietrich, J. Fichtner, M. Halatcheva, E. Sandner, M. Weber: Arbeit mit hochkonflikthaften Trennungs- und Scheidungsfamilien von 2010. Auf der Basis langjähriger Erfahrung in der Beratung nach Trennung und Scheidung und aus einer dezidiert systemischen Perspektive © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
Systemische Überlegungen zur Beratung »hochstrittiger Eltern«
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möchte ich im Folgenden zu einer wertschätzenden und gleichzeitig kritisch weiterfragenden Reflexion der Arbeitsansätze für dieses spezielle Arbeitsfeld einladen.
Was ist eine »hochkonflikthafte Familie« bzw. was sind »hochstrittige Eltern«? – Von den Tücken der Definitionen In der Handreichung des DJI wird vorsichtig und sensibel von einer »sehr heterogenen Gruppe« gesprochen: »Das Auftreten und die Intensität typischer Merkmale variiert stark. Ein einheitliches Verständnis von hochkonflikthaften Familien gibt es […] nicht« (Dietrich, Fichtner, Halatcheva, Sandner, Weber, 2010, S. 8). Man greift auf die amerikanischen Forscher/-innen zurück, die, wie so oft bei komplexen Forschungsgegenständen, diverse »Charakteristika« für Hochstrittige zusammengetragen haben. Beim Vorliegen mehrerer solcher Merkmale kann dann eine »Diagnose« und Zuordnung erfolgen. So werden z. B. Homrich, Muenzenmeyer-Glover, BlackwellWhite (2004) mit folgenden Kriterien zitiert: »Hochkonflikthaftigkeit besteht dann, wenn – deren emotionalen Probleme ursächlich erscheinen, – die ehemaligen Partner unfähig oder nicht willens sind, solche Konflikte ohne Hilfe des Gerichts zu lösen, – die Eltern ihre Kinder in Paarkonflikte einbeziehen, die Beziehung zum anderen Elternteil belasten und Kinder potenziell emotionale und physische Schäden davon tragen, – mehrere Versuche gescheitert sind, den Konflikt mit herkömmlichen außergerichtlichen Interventionen/Mediation) zu beenden« (Dietrich, Fichtner, Halatcheva, Sandner, Weber, S. 11). Schauen wir uns die vier Kriterien im Einzelnen an: Das erste scheint eine defizitorientierte Sicht und eine entsprechend linear-kausale Erklärung zu bevorzugen. Hochstrittigkeit wäre demnach die Folge einer »gestörten« Persönlichkeit bzw. einer mangelhaften Selbstregulation der Eltern. Auch das zweite Kriterium zielt auf Defizite der Eltern, wobei hier © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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schon interessanterweise der Interaktionspartner Gericht benannt wird. Das dritte Kriterium benennt Belastungen und »Schäden« der Kinder, die in den Paarkonflikt einbezogen werden. Da diese verständlicherweise nicht genauer bestimmt werden, kann sich hier ein weites und damit diffuses Bild eröffnen. Denn wenn man voraussetzt, dass alle Kinder bei jeder Scheidung eine Belastung erfahren und es nie auszuschließen ist, dass sie »potenziell Schäden« davon tragen, ist dieses Kriterium immer erfüllt und somit nicht mehr trennscharf. Es liefert keine Unterscheidung und damit keine neue Information. Eine sinnvolle Unterscheidung wäre ja nur dann nützlich, wenn es strittige Eltern gäbe, die ihre Kinder nachweislich nicht in Paarkonflikte einbeziehen und nicht (wenn auch ungewollt) potenziell belasten. Das widerspricht aber jeder Alltagserfahrung. Das vierte Kriterium führt schließlich zu einer neuen Perspektive. Es beschreibt nämlich, erstmalig eher systemischem Denken folgend, das Problem als ein Interaktionsphänomen. Sieht man Hochstrittigkeit streng als Merkmal einer Persönlichkeit, müsste dieses konstant vorhanden sein, und zwar unabhängig von möglichen vergeblichen Beratungsversuchen. Weiterhin könnte eine Beratungsstelle die Diagnose »hochkonflikthaft« nur dann vergeben, wenn sie oder andere mit mehreren Beratungsansätzen vorher bereits gescheitert sind. Wenn aber nun in einer denkbaren Zukunft die Professionalisierung so weit fortgeschritten ist, dass zunehmend auch in einer ersten Beratung ohne vorherige Fehlversuche solche Fälle in konstruktivere Bahnen gebracht werden können, könnte man sie nach der vorliegenden Definition in der nächsten Jahresstatistik nicht unter »Hochstrittige« einordnen. Wir sehen also schon zu Beginn, dass der Gegenstand unseres Interesses schwieriger zu erfassen ist, als man spontan annimmt. Die Autorengruppe des DJI versucht folglich ihren Forschungsgegenstand am Begriff des »hohen Konfliktpotenzial« festzumachen und beschreibt drei Beeinträchtigungen in Folge eines solchen: – »Beeinträchtigungen auf den Ebenen des Verhaltens und/oder der Persönlichkeit mindestens eines Elternteils, – Beeinträchtigungen der Beziehung zwischen den Eltern untereinander und zwischen ihnen und dem Kind, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
Systemische Überlegungen zur Beratung »hochstrittiger Eltern«
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– Beeinträchtigungen der Nutzung von institutioneller Hilfe zur Klärung der Konfliktsituation« (Dietrich, Fichtner, Halatcheva, Sandner, Weber, S. 20). Auch hier zielt der erste Punkt auf Defizite der Eltern und der zweite auf Beeinträchtigungen in den familiären Beziehungen, die, so allgemein ausgedrückt, in einer solchen Lebenssituation wohl immer vorhanden sind. Der dritte Punkt schließlich setzt implizit den Nutzen institutioneller Hilfen in jedem Fall schlichtweg voraus und verortet damit die Defizite wiederum bei den Eltern, die die Hilfen nicht oder nicht richtig abrufen. Kommt also eine positive Zusammenarbeit nicht in Gang, liegt die Ursache (Schuld?) dafür ausschließlich auf einer Seite, nämlich bei den »Kunden«. Institutionelle Hilfen sollten eben auch die Passung ihrer Angebote für die Kunden reflektieren, sich mit den Grenzen eigener Möglichkeiten auseinandersetzen und ihre Konzepte danach evtl. überarbeiten. Ansonsten könnte das so wirken, als würde die Deutsche Bahn, nachdem es nach der Installation neuer Fahrkartenautomaten zu Problemen und Beschwerden gekommen ist, dies ausschließlich auf »Beeinträchtigungen« auf Seiten der Nutzer zurückführen. Merkmale hochkonflikthafter Eltern – Die Perspektive einer Kybernetik erster Ordnung
Bei der Beschreibung hochkonflikthafter Eltern unterscheiden die DJI-Autoren zwischen »individuellen, beziehungsdynamischen und soziodemografischen Merkmalen«. Als individuelle Merkmale werden u. a. benannt: – reduzierte Verträglichkeit, – gering erlebte Selbstwirksamkeit, – unflexible Denkstrukturen, – Wahrnehmungsverzerrungen, – eingeschränkte Emotionsregulation (Dietrich, Fichtner, Halatcheva, Sandner, Weber, S. 11 f.). Es bleibt unbestritten, dass diese Phänomene in der praktischen Arbeit mit hochstrittigen Eltern oft beobachtet werden können und © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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große Herausforderungen für die Beratung nach sich ziehen. Die Frage ist nur: Handelt es sich um stabile »Persönlichkeitsfaktoren« oder zeigen sich hier die Eltern in ganz besonderen Interaktionsoder Umweltbedingungen mit einem spezifischen kognitiv-affektiven Muster? Sind sie also überall und immer verträglichkeitsreduziert, unflexibel und schlecht reguliert oder lediglich in bestimmten Kontexten? Es ist klar, dass hier die zweite, systemisch-kontextorientierte Betrachtung mehr Raum für eine wohlwollendere Sicht und eine ressourcen- und lösungsorientierte Beratung lässt. Zumal niemand von uns ausschließen kann, dass, in einer eigenen Krisensituation, obige »Persönlichkeitsmerkmale« von kritischen Beobachtern einem selbst zugeschrieben werden könnten. Die zweite Gruppe der Merkmale stellt den elterlichen Kommunikationsstil und die sich gegenseitig aufschaukelnden Vorwürfe als konfliktverstärkende Elemente heraus. Interessant dabei ist, dass die Quintessenz der gegenteiligen Vorwürfe darin besteht, dem Expartner Defizite und Mängel in seiner Persönlichkeit zu unterstellen (»Du bist … erziehungsunfähig, psychisch krank, süchtig, egoistisch, nur am Geld interessiert« etc.). Sie folgen also der gleichen Logik wie manche Fachleute, die die Ursache der Probleme vorwiegend in der defizitären Persönlichkeit der Eltern festmachen. In der dritten Gruppe der Merkmale verweisen die DJI-Autoren auf – die stärkere Gerichtsanhängigkeit und – den häufigeren Wechsel von Rechtsbeiständen. Spätestens hier erscheint der Wechsel zu einer systemisch-interaktiven Sichtweise angebracht. Hochstrittigkeit als Interaktionsphänomen (Konfliktmuster) – Die Perspektive einer Kybernetik zweiter Ordnung
Der Blickwinkel auf die sogenannten Merkmale hochstrittiger Eltern folgt oft noch klassisch der Perspektive einer Kybernetik erster Ordnung, d. h., der Beobachter stellt sich außerhalb des zu beobachteten Systems und bildet seine Hypothesen ausschließlich über das Klientensystem. In einer Kybernetik zweiter Ordnung hingegen wird das © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
Systemische Überlegungen zur Beratung »hochstrittiger Eltern«
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beobachtende System – in unserem Fall also alle anderen mit den Familien interagierenden Helfersysteme – in die Betrachtung und in die Hypothesenbildung eingeschlossen. Bereits Homrich et al. (2004) hatten »wiederholte Gerichtspräsenz« und »mehrere gescheiterte außergerichtliche Interventionen« als Vorraussetzung für die Definition »hochkonflikthaft« gesetzt. Bei einer linear-kausalen Sicht wird die Ursache für das – neutral ausgedrückt – intensive Zusammenwirken von Eltern, Gericht und Rechtsanwälten bei den Eltern gesehen oder – wie oben – als Merkmal hochstrittiger Eltern beschrieben. Mit einer systemisch-zirkulären Perspektive hingegen könnte man gerade das »intensive Interagieren« zwischen Eltern, juristischem System und anderen Hilfesystemen als das problemerschaffende Muster und damit den Kern des hochkonflikthaften Geschehens bezeichnen. Auch Dietrich und Paul weisen schon auf den »Einfluss der Rechtsdynamik« hin, die »eine Eskalation des Paarkonfliktes begünstigt, wenn nicht initiiert« (in Weber u. Schilling, 2006, S. 24). Zirkulär gedacht gleicht der Streit darüber, ob die Gerichtsverfahren kein Ende finden, weil die Eltern hochkonflikthaft sind, oder ob die Eltern im hochstrittigen Muster verbleiben, weil die Gerichtsverfahren kein Ende finden, der berühmten Frage nach der Henne und dem Ei. Viel interessanter werden nun Fragen danach, welche »Zutaten« bei den verschiedenen Interaktionspartnern (Eltern, Gericht, Anwälte, Jugendamt, Berater etc.) eher konfliktverschärfend (Eskalation) oder konfliktmindernd (Deeskalation) wirken. Bevor wir uns diesen Fragen im Detail widmen und nach den möglichen Konsequenzen für beraterisches Handeln fragen, sei jedoch festgehalten, dass bei einer interaktiven Betrachtung des Phänomens Hochstrittigkeit viele »Mitspieler« benötigt werden, um es aufrechtzuerhalten. Nicht nur in der Eigenlogik der Eltern, sondern auch in der Eigenlogik der institutionellen Systeme müssten problemverstärkende Phänomene zu finden sein. Oder zugespitzt und sicher ein wenig vereinfacht gesprochen: Eltern könnten das hochstrittige Spiel nicht ohne bestimmte Rahmenbedingungen und ohne Mitwirkung von anderen (Verbündeten) gestalten. Dass die Verweigerung des »Mitspielens« durchaus Wirkung zeigen kann, ist gelegentlich zu beobachten, wenn ein Gericht den © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Antrag auf Kostenübernahme (für die Prozesskosten) wegen »mangelnder Erfolgsaussicht« ablehnt und sich daraufhin plötzlich neue Chancen für die Verhandlungsoption eröffnen.
Eskalationsdynamik Die Eskalationsstufen nach Alberstötter
Eine Strittigkeit kann sich zu einer Hochstrittigkeit verfestigen, wenn es zu einem chronifizierten Interaktionsmuster (vgl. Merkmal hohe Gerichtsanhängigkeit) auf einem hohen Konfliktniveau kommt. Bei der Einschätzung des Konfliktniveaus hilft das dreistufige Eskalationsmodell, das Alberstötter (in Weber u. Schilling, 2006, S. 29–51) in Anlehnung an Glasl entwickelt hat und mittlerweile eine hohe Bekanntheit in Fachkreisen erlangt hat. Alberstötter unterscheidet zwischen einer – ersten Stufe – zeitweilig gegeneinander gerichtetes Reden und Tun, – einer zweiten – verletzendes Agieren und Ausweitung des Konfliktfeldes, – und einer dritten Stufe – Beziehungskrieg, Kampf um jeden Preis. In allen drei Stufen finden sich bereits die oben beschriebenen Interaktionen mit Dritten, wobei es in der ersten Stufe noch um eine konstruktive, lösungsorientierte Einbeziehung gehen kann, in der zweiten aber bereits von Infizierung, dem Überengagement Dritter und eskalationsfördernden Bündnisgenossenschaften die Rede ist. Sehr anschaulich beschreibt Alberstötter auch, wie die Instrumentalisierung von professionellen Dritten durch »mächtige Geschichten«, die von beiden Eltern bewusst oder unbewusst sehr geschickt platziert werden, eingeleitet und fortgesetzt wird: »Wo hochprofessionelle Dritte in den Sog mächtiger Geschichten geraten, laufen sie Gefahr, einen festen Part im gerechten Krieg gegen die Achse des Bösen zu übernehmen. Den mächtigen Geschichten auf Klientenseite entsprechen dann ebenso mächtige Schutz- und Rettungsphantasien auf Seiten der professionellen Dritten« (in Weber u. Schilling, 2006, S. 37). Hier erweist sich Alberstötter als systemisch geschulter Autor, der auf die Gefahren des Involviertwerdens aller Beteiligter in ein »mächtiges Konfliktmuster« hinweist. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Leider wird jedoch in der Praxis das Alberstötter’sche Eskalationsmodell eher so benutzt, dass man wiederum lediglich die Eltern »diagnostiziert« und einer dieser Stufen zuordnet. Auch Alberstötter fördert vielleicht ungewollt diese Nutzung seines Konzeptes, wenn er im Folgenden nahezulegen scheint, dass man erst die Eltern einer Konfliktstufe zuordnen müsse, um dann zu entscheiden, ob mit ihnen ein Vertrag (für Stufe 1) ausgehandelt werden kann, eine Schlichtung (für Stufe 2) angesagt ist oder man nur noch auf Kontrollmaßnahmen (für Stufe 3) setzen sollte. So hilfreich das angebotene DreiKategorien-System für den Praktiker zunächst auch ist, so gewiss lauert in ihm, wie in allen Kategoriensystemen, der Schubladeneffekt. Fühlt man sich dem ethischen Imperativ Heinz von Foersters, die »Zahl der Möglichkeiten zu erhöhen«, verpflichtet, bleibt man aber aufgefordert, für die »Möglichkeit des Andersseins« und das Auftreten »unwahrscheinlicher Ereignisse« jenseits der Etiketten offen zu bleiben. Aus eigener Praxis lässt sich belegen, dass mancher Fall mit Eltern der Eskalationsstufe 1 sich doch frustrierend verhärten kann und andere, wenn auch wenige, »hoffnungslose 3er« eine unerwartet positive Wendung nehmen. So z. B. in dem Fall, wo nach zweijähriger Konfliktverhärtung, etlichen Verhandlungen vor Gerichten und sich im Kreis drehender Beratungsbemühungen eine plötzliche Wendung in konstruktives Verhandeln und Miteinander möglich wurde, nachdem der neue Partner der Mutter sich überraschend wieder von dieser getrennt hatte. Auch dieses Beispiel mag zeigen, dass Hochstrittigkeit nicht unbedingt ein stabiles Charaktermerkmal von Einzelnen ist, sondern immer nur in einer bestimmten, komplexen Beziehungskonstellation stattfindet und sich bei Veränderung derselben auch wieder verabschieden kann. Kognitiv-affektive Teufelskreise
Welche Phänomene wirken nun in »hochstrittigen Interaktionen« konfliktverstärkend? Beginnen wir mit den kognitiven Zutaten für hochkonflikthafte Muster, also den Geschichten und Überzeugungen über sich und die Welt, die in den Teufelskreis eines hochkonflikthaften Musters hineinführen können. Einer gütlichen Verhandlungslösung steht wohl am meisten die Überzeugung entgegen, selbst im © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Recht zu sein, von einem anderen Unrecht zugefügt zu bekommen und dieses sicher auch gefühlte Ungleichgewicht mit Hilfe mächtiger Dritter korrigieren zu können. Die Lösung wird also mit Hilfe einer Machtoption und der Hoffnung, einen gerechten Kampf (Krieg) gewinnen zu können, gesucht. Das Kampffeld bietet hier die Justiz, die sich schließlich selbst als Hüterin der Gerechtigkeit versteht und die gesellschaftliche Aufgabe wahrnimmt, dem Recht – auch mit Hilfe von Macht (staatliches Gewaltmonopol) – Geltung zu verschaffen. Gerechtigkeit kann in dieser Logik aber nur hergestellt werden, wenn eindeutig zwischen Recht oder Unrecht unterschieden werden kann und auch die Macht gegeben ist, eine gefällte Gerichtsentscheidung durchzusetzen (was z. B. bei manchen Umgangsregelungen gar nicht so einfach erscheint). Nun könnte man also die These aufstellen, dass gerade die Eltern Familiengerichte anrufen oder sich an Anwälte wenden, die eine Lösung über Kampf, Macht und Kontrolle (evtl. auch in anderen Fragen des Lebens) suchen. Zum festen Weltbild solcher Eltern scheint also das Festhalten am Schuldprinzip zu gehören und damit auch das Aufrechterhalten einer Täter-Opfer-Perspektive. Für Menschen mit dieser Grundüberzeugung sind die Abschaffung des Schuldprinzips und die Einführung des Zerrüttungsprinzips im Familienrecht wahrscheinlich immer noch nicht nachvollziehbar und frustrierend ungerecht. Sie sind der festen Überzeugung, dass das Gericht dafür da ist und auch kompetent genug sein müsse, Recht zu sprechen (und zwar ausschließlich in dem Blickwinkel, wie man es selber wahrnimmt), Entscheidungen zu fällen und diese durchzusetzen. Je mehr jedoch Richter und Richterinnen, insbesondere am Familiengericht, diese Rolle verlassen, eher moderierend arbeiten, Entscheidungen verzögern oder gar verweigern, umso mehr frustrieren sie (ungewollt) die Erwartungshaltung jener Eltern. Dies kann einerseits Chancen eröffnen, indem die Grundüberzeugungen der Eltern so stark irritiert werden, so dass neue Möglichkeiten aufkommen, diese zu hinterfragen. Andererseits kann es die Eltern provozieren, im Sinne eines »Mehr desselben«, wie Watzlawick et al. (1974) es nannten, mit noch mehr Verbissenheit und Hartnäckigkeit darum zu kämpfen, dass das Familiengericht endlich die Rolle einnimmt, die man ihm zugeschriebenen hat (ein neuer © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Teufelskreis entsteht). Hier könnte übrigens ein Motiv für den oben beschriebenen häufigen Anwaltswechsel liegen. Man hält an seiner Grundüberzeugung fest und wechselt nur die Bündnispartner aus, um das Ziel zu erreichen. In eine ähnliche Richtung geht natürlich auch das Anrufen der nächsthöheren Instanz. Auch hier werden nicht die Überzeugung und die Zielrichtung hinterfragt, sondern nur eine neue Bühne gesucht für das gleiche Spiel. Ciompi (1999) beschreibt, wie starke Gefühle als mächtige »Attraktoren« die Beteiligten in einen »kognitiven Tunnel« hineinführen. Die oben beschriebenen beengenden Denkwelten produzieren neue Frustrationen, da sie keine erfolgreichen Lösungen nach sich ziehen, und fördern somit ungewollt das Aufrechterhalten starker Gefühle. Das Opfer-Täter-Weltbild führt über ein zunehmend chronifiziertes Opfergefühl entweder zu Ärger, Hass und/oder Wut (mehr Eskalation, mehr Machtkampf) oder auch zu Trauer und Resignation (mit der Gefahr, dass hier Helfer tätig werden, die dann als selbsternannte Retter den Machtkampf stellvertretend führen). Kognitive und affektive Faktoren verstärken sich also auf eine zirkuläre Art und Weise und verunmöglichen jede Form der inneren Distanzierung, des Gehens auf die sogenannte Metaebene, des Hinterfragens (was machen wir hier eigentlich?), des Nachdenkens über sich selbst. Entwicklung, Veränderung und kreative Lösungssuche sind umso unwahrscheinlicher und unzugänglicher, je höher die affektive Aufladung der Beteiligten ist. Was bleibt, sind Versuche oder Einladungen des Beraters/der Beraterin, das Gespräch in Bahnen zu lenken, die weniger negativ »aufgeladen« sind, und evtl. im Einzelsetting ein biografisches Verstehen und Einordnen des kognitiv-affektiven Geschehens und somit eine bessere Affektregulation zu fördern. Dies unterscheidet den hier vorgestellten Ansatz einer »mediativ orientierten Beratung« von der klassischen Mediation. Für den kollegialen Dialog ist es ebenso lohnend, das Risiko der eigenen affektiven Involviertheit als wahrscheinlich konfliktverstärkenden Faktor, der neues Denken, Fühlen und Handeln eher behindert, im Auge zu behalten. Bemerkt der Profi, dass er selber angesichts einer so wahrgenommenen und erlebten schreienden Ungerechtigkeit wütend wird, dass er am liebsten sofort »dazwi© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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schenschlagen« möchte, gilt für ihn der gleiche Rat, den man wahrscheinlich den Eltern in einer ähnlichen Verfassung mitgeben würde, nämlich: durchatmen, Abstand suchen, Räume zur Neuorientierung suchen. Eine gelingende Affektregulation des Beraters beugt also nicht nur bekannten Spiegelungseffekten und damit der Instrumentalisierung durch die Konfliktparteien vor, sondern bietet auch ein unverzichtbares Modell für ein alternatives »inneres Management«. Bei Streitpaaren kann man übrigens sehr gut die Verselbständigung affektiv kognitiver Teufelskreise beobachten, wenn bereits kleinste Gesten oder Bemerkungen ausreichen, um heftige Gefühle und Reaktionen auszulösen. Solche Trigger verstärken scheinbar automatisch den eigenen Tunnelblick, verunmöglichen die Wahrnehmung evtl. versteckter »Angebote« des Anderen und aktivieren die bekannten negativen Gefühle. Der einzige und immer wieder beschriebene Ausweg liegt im Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung und einer sicheren Bindung, hier natürlich erst mal zwischen dem einzelnen Klienten und dem Berater. Auf diesen Königsweg aller Veränderungshoffnungen in Beratung und Therapie können wir wahrscheinlich nicht verzichten. Das fordert unbestritten meistens Zeit, gute Nerven und eine klare Positionierung der Rolle des Beraters/der Beraterin bzw. des Therapeuten/der Therapeutin. Auf diese Rollenklarheit werden wir an anderer Stelle noch zurückkommen. Die Idee der Macht als Antreiber der Eskalationsdynamik
Nicht nur hochstrittige Eltern wollen sich mit Hilfe von Macht und Kontrolle gegen einen Antragsgegner durchsetzen. Auch auf Seiten der »Helfer« wird das rasch zur bevorzugten Option, wo kein anderer Weg gangbar erscheint, die Eltern in eine gewünschte Richtung zu bewegen. Der Druck, dass rasch etwas »geschehen muss«, kommt vor allem dort auf, wo eine Kindeswohlgefährdung vermutet oder gesehen wird. Nun wird in hochstrittigen Diskursen von allen Beteiligten kein Begriff so oft strapaziert wie der des Kindeswohls und es ist klar, dass sich jeder damit schmückt, genau dafür zu »streiten« (!). Viele Berater/-innen reagieren deshalb schon leicht genervt, wenn »hochstrittige« Eltern ihr Verhalten mit dem Engagement für das Kindeswohl © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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begründen und dabei ignorieren, dass gerade der Dauerkonflikt das Kind am nachhaltigsten belastet. Aber auch für Helfer scheint es verführerisch, moralisch scheinbar unanfechtbar mit dem Kindeswohl zu argumentieren, um zu belegen, dass der Rückgriff auf die Instrumentarien der Macht »alternativlos« ist. Wenn es jedoch so einfach wäre, die Grenzen, wo eine Kindeswohlgefährdung anfängt, eindeutig zu bestimmen, dann gäbe es keine unzähligen Gerichts- oder Gutachterstreitigkeiten dazu. Bei erwiesener Gewalt oder Missbrauch wird man kaum Widerspruch ernten. Wenn heute jedoch Verhaltensweisen heftig streitender Eltern mancherorts schon prinzipiell mit dem Etikett »psychischer Missbrauch« versehen werden, gehen Augenmaß und besonnener Pragmatismus verloren. Von dort ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zur grundsätzlichen Etikettierung scheidungswilliger Eltern als »Kindeswohlgefährder«. Die betroffenen Kinder selbst sehen das übrigens in der Regel durchaus differenzierter: Sie beklagen zwar zu Recht, wenn sie instrumentalisiert, manipuliert und auch vernachlässigt werden. Aber sie erkennen dies nicht selten als Begleitsymptome einer »bösen Krise« an und halten die Hoffnung aufrecht, dass sich hierin eben nicht die »eigentliche« Persönlichkeit Ihrer Eltern widerspiegelt, sondern dass die im Hochkonflikt verschütteten »guten Seiten« mit der Zeit wieder Raum gewinnen können. Versteht sich Beratung als vermittelnde Alternative zum chronifizierten Machtkampf, bietet sich an, die elterliche Verhandlungsbereitschaft und den möglichen elterlichen Konsens als den chancenreichsten Weg zum Kindeswohl zu sehen. Konsequenterweise würde sich der – mediativ orientierte – Berater dann in erster Linie als Anwalt der Verhandlungsoption verstehen und erst in zweiter (indirekter) als Anwalt des Kindeswohls. In Teambesprechungen machten wir die Beobachtung, dass es Kollegen, die vorher Kontakt zu den betroffenen Kindern hatten (z. B. innerhalb einer therapeutischen Gruppe), deutlich schwerer fiel, prinzipielle Zugewandtheit, Geduld und Rollenklarheit für eine verhandlungsorientierte Beratungsarbeit mit den Eltern aufrechtzuerhalten. Insofern stellt sich die Frage, welche evtl. unbeabsichtigten Nebenwirkungen die gern proklamierte Positionierung des »Kindes in den Mittelpunkt« für eine Beratung, die sich praktisch doch an die © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Eltern richtet, bereithält. Auch in einer (unveröffentlichten und sicher nicht repräsentativen) kleinen Umfrage unter rheinischen Beratungsstellen wurde deutlich, dass die meisten Praktiker/-innen das Kind zwar thematisch und gelegentlich bildlich (mit Hilfe eines Fotos) in den Mittelpunkt der Arbeit stellen, aber fachliche und ethische Bedenken gegenüber einer obligatorischen Einbeziehung der Kinder in den Beratungsprozess geltend machen. Die Kinder selbst berichten immer wieder von der Angst, für ihre Offenheit bestraft zu werden, und von ihren Hoffnungen, »dass die Erwachsenen die Dinge für sie im Guten regeln mögen«. Der Kindeswille könnte bei Bedarf auch von den Verfahrensbeiständen oder anderen »Anwälten des Kindeswohls« in die mediativ orientierte Beratung eingebracht werden und so die Allparteilichkeit des Beraters/der Beraterin glaubwürdig erhalten. Aus der Heimerziehung ist zudem das Phänomen bekannt, dass über die Frage, wer am besten für das Kind sorgt, heftige, oft verdeckte Konkurrenzen zwischen professionellen Helfern und den Eltern die Kooperation erschweren, wenn nicht auf Dauer zerstören. Jeder noch so wohlwollende Versuch von Außenstehenden, die Interessen eines Kindes in dessen Familie zu vertreten, kann eben von Eltern als Einmischung oder Depotenzierung ihrer Elternrolle wahrgenommen werden. Wenn dies von den Helfern als Beleg für deren Unfähigkeit oder Unwilligkeit gedeutet wird, entsteht wiederum eine teuflische Eskalationsschleife, besonders, wenn die Metakommunikation darüber nicht genutzt wird. Keine Gesellschaft und kein Rechtssystem kann ohne Machtmittel, mit deren Hilfe Gesetze durchgesetzt werden, funktionieren. Und dennoch sei hier an Positionen erinnert, die die Schattenseiten machtorientierter Lösungen beschreiben. So bezeichnete schon Gregory Bateson (1984) Macht als einen »erkenntnistheoretischen« Irrtum. Und Haim Omer und Arist von Schlippe (2002) warnen Eltern und Fachleute nachdrücklich vor machtgeleiteten Erziehungspraktiken und orientieren sich stattdessen am Prinzip des gewaltlosen Widerstandes von Mahatma Gandhi. Omer und von Schlippe (2002) beschreiben in wenigen Thesen, welche Bedingungen eine Eskalationsdynamik anheizen können: – »Je größer die Herrschaftsausrichtung der Teilnehmer einer konflikthaften Interaktion, desto größer das Eskalationsrisiko.« © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Folglich steigt das Eskalationsrisiko auch, wenn von Seiten der »Helfer« vor allem auf die Kontrolloption gesetzt wird. – »Je höher die psychophysische Erregung der Beteiligten, desto höher ist die Eskalationsgefahr.« Auch dies gilt für die Profis. Es ist also besondere Vorsicht angeraten, je mehr – angesichts kaum auszuhaltender, leidvoller Bedingungen durchaus verständliche – Empörung auf Helferseite mitschwingt. Auch für Berater/-innen gilt also der bekannte Spruch der beiden Autoren: »Schmiede das Eisen, wenn es kalt ist«. Bemerkenswert ist hierbei, dass Omer und von Schlippe die gewaltlosen Prinzipien gerade für den Umgang mit Jugendlichen entwickelten, die Gewalt gegenüber ihren Eltern ausüben. Sie warnen eindrücklich vor den Folgen symmetrischer Eskalationsschleifen, wenn Macht mit Gegenmacht beantwortet wird oder eben Gewalt mit Gegengewalt. Stattdessen plädieren sie für: – Beziehung statt Kontrolle, – Stärke statt Macht und – Beharrlichkeit statt Dringlichkeit. Zwar kommt der Berater/die Beraterin nicht umhin, sich zu positionieren, sich klar abzugrenzen gegen die Vereinnahmungsversuche der Konfliktparteien oder auch abwertende und aggressive Kommunikation zu stoppen. Es bedarf aber auch einer stetigen Reflexion, inwieweit der Einsatz der Kontrolloption ungewollt die (destruktive) Überzeugungswelt der Eltern bestätigt. So verringern sich nur die ohnehin kleinen Chancen für die Verhandlungsoption noch weiter, da keine nachhaltige Veränderung im Denken, Fühlen und Handeln der Eltern in Gang kommt. Eskalationsdynamik und »Anstrengung«
Anne Loschky und Birgit Nölke-Hartz mahnen Berater/-innen: »Bitte anseilen, es kann mehr als unübersichtlich werden«, und weiter: »Hochstrittige Familiensystemen bringen jede Profession an die Grenzen der eigenen Kompetenz und Möglichkeiten.« Und sie schließen daraus, dass »Beraterinnen und Berater gefordert sind zu überprüfen, ob ihr beraterisches und therapeutisches Handwerkszeug © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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ausreichend ist, um die Arbeit mit hochstrittigen Familiensystemen kompetent zu bewältigen« (in Weber u. Schilling, 2006, S. 243). Hier wird zunächst einmal folgendes Bild festgeklopft: – Diese Arbeit ist ungemein anstrengend und in hohem Maße herausfordernd. – Nur die besten und kompetentesten können diese Arbeit bewältigen. – Das (gesetzlich vorgegebene) Ziel muss unter Einsatz aller Kräfte erreicht werden. Welche Kollegen/Kolleginnen könnten so für diese Arbeit interessiert oder motiviert werden? Welche impliziten »Haltungen« finden sich hier wieder und wo sind sie evtl. typisch für hochkonflikthafte Systeme? Hochstrittige Eltern zeigen interessanterweise eine ähnliche Grundhaltung: – Sie strengen sich unglaublich an. – Sie halten verbissen an einmal für »richtig« bewerteten Zielen fest. – Sie suchen Verbündete, die mit vielen »Muss-Sätzen« moralisch zum Mitstreiten gedrängt werden sollen. Die DJI-Autoren beschreiben die Vorgabe des reformierten Kindschaftsrechtes mit der »Regelvermutung, dass alle Kinder Kontakt zu ihren getrennt lebenden Eltern haben sollen« (Dietrich, Fichtner, Halatcheva, Sandner, Weber, S. 52). Sie sehen einen »Herstellungsauftrag« darin, den Umgang des Kindes mit beiden Eltern gegen den Widerstand oder das Unterlaufen von Vereinbarungen durchzusetzen. Und auch Loschky et al. führen aus: »Das Kind hat das Recht auf Beziehungskontinuität zu beiden Eltern« (in Weber u. Schilling, 2006, S. 244). Nun zeigt die Praxis, dass dies auch in der überwiegenden Zahl der Fälle gelingt. Nur eine kleine, hartnäckige Minderheit widersetzt sich dieser gesetzlichen Vorgabe. Aus der Distanz betrachtet ist dies erst einmal ein normales Phänomen, da sich immer Minderheiten gesetzlichen Regeln entziehen oder sie übertreten. Wirklich bedrohlich wird es nur für eine Gesellschaft und ihr Rechtssystem, wo die Abweichung zum Massenphänomen wird. Nun wird niemand abstreiten, dass es sinnig und förderlich ist, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Ressourcen, Kompetenzen und Erfindungsreichtum einzusetzen, um auch Teile der widerstrebenden Minderheiten für ein gesetzeskonformes Verhalten zu gewinnen. Als Systemiker, der Maturana und dessen These über autopoietische Systeme, die sich nicht beliebig »instruieren« lassen, verinnerlicht hat, bleibt man jedoch achtsam für die Grenzen und Risiken dieses Zieles: Es wird immer eine Minderheit geben, die sich nicht im Sinne der gesetzlichen Intention verhält (und die sich dann auch nicht über eine folgende Sanktion/ Strafe wundern sollte). Beratung als »Herstellungsauftrag« für eine gesetzlich vorgegebene Norm kann aber nicht mehr ergebnisoffen sein und droht zudem die Fähigkeit zur Differenzierung, zum kritischen Zweifel an der Sinnhaftigkeit gegebener Normen zu verlieren. Beratung sollte aber vorzugsweise Reflexionsraum und nicht Exekutive sein. Das gilt insbesondere dort, wo Werte und Normen in einem Gestus der Unhinterfragbarkeit daherkommen oder Teil einer ideologisch überhöhten »Mission« werden. Für Letzteres lassen sich in der Praxis leider viele Beispiele finden. So bei dem Verfahrenspfleger, der schon im ersten Gespräch einer Mutter (wie diese dann später bei uns berichtete) »in Aussicht stellte«, dass die Richterin vor Ort ihr sowieso das Aufenthaltsbestimmungsrecht wegnehmen würde, wenn sie den Besuchen der Kinder zum Vater nicht sofort zustimmen würde. Oder die Anfrage eines Verfahrensbeistandes, ob wir einen begleiteten Umgang eines rechtskräftig verurteilten pädophilen Vaters (mit der Diagnose »narzisstische Persönlichkeitsstörung«, aber ohne Motivation zu einer Therapie) mit seinem neunjährigen Sohn organisieren könnten. Hier entsteht dann doch der Eindruck eines eher missionarischen Eifers für ein abstraktes und überhöhtes Ziel, das man »Umgang ist immer gut« nennen könnte und das jedes Gefühl für Grenzen, für »Nichtpassung« einer Regel verliert. Wird dann diese quasi »modisch« überhöhte Norm mit einem kategorischen »Herstellungsauftrag« versehen, wird schlagartig klar, dass ein solches Vorhaben sehr anstrengend werden kann. Anstrengung und Stress entsteht in erster Linie dann, wenn unsere Möglichkeiten und Kompetenzen nicht mit den gesetzten © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Zielen Schritt halten können. Natürlich hilft zur Verbesserung der Situation die von Loschky et al. vorgegebene Lösung, die Kompetenzen zu erhöhen (durch Fortbildung, Training, Supervision etc.). Gerade aus supervisorischer Perspektive wäre es aber fahrlässig, die zweite Lösungsrichtung zu unterschlagen, nämlich auch die Ziele kritisch hinterfragen und reflektieren zu können. Tut man dies, wird deutlich, dass eine eher ideologisch-moralische Motivation, womöglich verbunden mit einem impliziten Allmachtsanspruch (»Umgang muss in jedem Fall hergestellt werden«), eine fast ideale Mischung erzeugen, Überforderungen, Frustrationen und im schlimmsten Fall einen »Burnout« zu produzieren. Mit zunehmender Verbissenheit verliert man aber auch die Freiheit für Quergedachtes und den Blick für neue Chancen nach überraschenden Wendungen. Zum Beispiel setzten drei Jungen (12, 14 und 17 Jahre) gegen eine Armada von Juristen, Gutachtern, Umgangspflegern und Sozialarbeitern ihre sture Weigerung durch, die Mutter zu besuchen. Die Jungen nahmen aber nach drei Jahren, nachdem die Protagonisten des unbedingten Umgangs, vielleicht klugerweise, kapituliert hatten, von sich aus (in unterschiedlicher Form) den Kontakt wieder auf. Liebe, Bindung und Akzeptanz lassen sich eben nicht erzwingen, sondern wollen verdient werden. Oder es gibt eben manche Fälle, wo es zu einer Stabilisierung des Kindes gerade dann kommt, wenn (evtl. nach einem längerem, für alle Beteiligten mühsamen und verkrampften begleiteten Umgang) ein Elternteil das »Feld« verlässt (was eben nicht nur im kaukasischen Kreidekreis zu einer Lösung im eigentlichen Sinne führen kann). Wer sich zu zwanghaft einem vorgegeben Ziel verschreibt, wer »zu viel will«, darf sich über Frustration und einen Mangel an Effektivität und damit erlebter Selbstwirksamkeit nicht beschweren. Ein Verweis auf das sogenannte »therapeutische Hebelgesetz«, wie es von Schlippe (2010) formuliert hat, mag dieses für manchen paradox erscheinende Phänomen verdeutlichen: »Es sitzt immer der am längeren Hebel, der weniger Interesse an einer Veränderung hat.«
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Klarheit und Bescheidenheit, zwei Wege zur Deeskalation Selbstbewusste Bescheidenheit
Die obigen Überlegungen führen uns zu einer heute eher ambivalent gesehenen Tugend, nämlich der Bescheidenheit. Um ihr ein wenig von ihrem schlechten Ruf zu nehmen, habe ich an anderer Stelle (Pelzer, 2011) den Begriff der »selbstbewussten Bescheidenheit« angeboten. Die Bescheidenheit drückt sich aus im Wissen um die prinzipiellen und fallspezifischen Möglichkeiten und Grenzen des eigenen Wirkens (der eigenen Macht). Sie schließt dabei aber die Möglichkeit für eine Neueinschätzung dieser Grenzen nicht aus, sondern bleibt offen für neue, bisher unerkannte Chancen und somit für eine Neuorientierung. Bescheidenheit grenzt sich jedoch klar und transparent ab, wo ein Auftrag oder Ziel unbedingt und absolut durchgesetzt werden soll, und hinterfragt den oft darin verborgenen Allmachtswahn. Sie hält die alte Tugend der Demut wach in einer Welt von Macht und Machern. Als Leitidee mag hierbei auch ein populärer Spruch des Theologen Reinhold Niebuhr Orientierung geben: »Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.« In einem lesenswerten Essay schreibt Hans Magnus Enzensberger (2011): »Man tut gut daran, lösbare von unlösbaren Problemen zu unterscheiden. Leider ist dies leichter gesagt als getan.« Und er führt weiter aus, dass nicht nur die Physik mit den Tücken der Komplexität zu kämpfen habe, sondern erst recht unsere modernen Lebenswelten (Wirtschaft, Finanzmärkte, Gesundheitssystem etc.). Zu bedauern sei nur der Politiker, der wider besseres Wissen »stets den Anschein erwecken muss, als hätte er alles im Griff«. Das Selbstbewusstsein nährt sich aus der fachlichen Kompetenz und der Berufserfahrung in der Gestaltung von Beratungsprozessen. Es drückt sich aus in der klaren Positionierung einer beraterischen Identität und in der Verteidigung fachlicher Autonomie im Diskurs über Sinn und Möglichkeiten von Beratung. Nicht zuletzt benötigt man das Selbstbewusstsein, um jede von einer aktuellen Mehrheits© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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meinung propagierte Norm in der Passung auf die eigene Praxis oder Lebenserfahrung zu prüfen und ggf. kritisch zu hinterfragen. So ist und bleibt gerade die Frage das Hauptwerkzeug des selbstbewussten Beraters und eben nicht, wie z. B. beim Richter, die Weisung oder das Urteil. Und fragend wird in der Beratung engagiert und beharrlich die Erweiterung des Möglichkeitsraumes gesucht. Dabei kann man sich durchaus vom Abschlusssatz des Butlers in Freddie Frintons: »Dinner for one« leiten lassen: »I will do my very best!« Mit der kleinen Ergänzung: »But not more!« Klarheit
Eine klare Positionierung kann ebenso deeskalierend wirken, wenn sie in folgenden Punkten umgesetzt wird. Klarheit im prinzipiell zugewandten Zugang zu den Ratsuchenden Geht man von der allgemein akzeptierten Annahme aus, dass Beratung oder Therapie nur in einer guten Beziehung bzw. Bindung sich entfalten und Wirkung erzielen kann, so steht am Anfang jeder Beratung mit Hochstrittigen der Beziehungsaufbau. Greifen wir noch einmal die alte Idee Watzlawicks et al. (1974) auf, dass jedes Problem aus einem dysfunktionalen Lösungsversuch entsteht, so können wir in jedem Fall beiden Eltern (und anderen Beteiligten) im Sinne einer konstruktiven Konstruktion eine ursprünglich positive Absicht unterstellen, ein Problem lösen zu wollen. Im chronifizierten, hässlichen Machtkampf ist in der Regel der Blick auf das positive Grundmotiv verloren gegangen. Der »Gegenseite« werden ausschließlich destruktive Motive unterstellt. Bleibt der Berater beharrlich dabei, positive Urmotive zu unterstellen (eine gute Lösung für das Kind, der Erhalt eines fairen Miteinanders etc.), kontrastiert er die Welt von Kampf und Vorwürfen mit dem wohlwollenden ressourcenorientierten Blick und vor allem mit Bestätigung und Anerkennung (als wichtigen Voraussetzungen für eine vertrauensvolle Gesprächskultur). In einem zweiten Schritt konstatiert man, ohne lange nach den »Warums« zu fragen, dass bedauerlicherweise aus den ursprünglich guten Motiven ein hässlicher und für alle Beteiligten sicher auch belastender Kampf geworden ist. Im Gegensatz zu den Konfliktpartnern, die sich persönlich gegen-
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seitig immer die Schuld zuschieben wollen, kann der Berater das »Böse« externalisieren (z. B.: »der Kampfroboter« in ihnen). Nicht der ursprünglich gut meinende Mensch (Vater oder Mutter), sondern eine zunächst unbeabsichtigte, unglückliche Verstrickung, eine evtl. aus Unwissenheit geborene falsche Strategie, die verführerischen Einflüsterungen eines Machtinstinktes oder Ähnliches haben die Beteiligten in einen sich selbst verstärkenden Teufelskreises hineinmanövriert, wo sie ohne Hilfe nicht mehr herausfinden. Bei der detaillierten Beschreibung eines solchen Teufelskreises machen die Konfliktpartner oft durch verbale oder nonverbale Zustimmungsgesten deutlich, dass sie sich verstanden fühlen. Der externalisierte gemeinsame »Feind« bleibt die sich verselbständigende Konfliktdynamik, die, wenn man nicht achtsam ist, Fühlen, Denken und Handeln der Beteiligten »versklavt«. Vorsorglich wird darauf hingewiesen, dass die Verführungskraft dieser Konfliktdynamik auch weiterhin bestehen bleibt und immer mit ihr zu rechnen ist, also sogenannte Rückfälle eingebaut werden können. Klarheit in der Rolle des mediativ orientierten Beraters In der Eingangsphase einer Beratung ist es für sogenannte hochstrittige Eltern oder andere Konfliktparteien bedeutsam, dass sie begreifen, welcher Art das Angebot der Beratung ist und was sie hier nicht bekommen können bzw. welche »Kommunikationsspiele« hier nicht gespielt werden. Sie kommen nämlich sehr oft mit einer unklaren Vorstellung von Beratung und setzen ihr altes Kommunikationsmuster fort, indem sie z. B. den anderen anklagen und implizit erwarten, dass der Berater ihnen recht gibt. Wir befinden uns also noch in einem Vorraum zur Beratung und hier eignet sich die sogenannte Flurmetapher (Abb. 1), um den Eltern die Notwendigkeit einer Entscheidung zu verdeutlichen. Man lädt die Eltern ein, sich vorzustellen, dass sie sich in einem Flur befinden, wo sie verschiedene Türen mit unterschiedlichen Türschildern vorfinden. Dann bespricht man mit ihnen, was ihrer Meinung nach hinter den jeweiligen Türen an unterschiedlichen Angeboten zu erwarten ist. So bietet sich eine gute Gelegenheit, das eigene Konzept (hinter der Beratungstür) zu erklären und von den anderen abzugrenzen. Die Eltern müssen nun nach gründlichem
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Familiengericht
Jugendamt
Verfahrensbeistand
Gutachter
Beratung
Abbildung 1: Flurmetapher
Abwägen des Für und Wider die Entscheidung treffen, durch welche Tür sie hindurchgehen wollen, welcher Grundidee sie folgen wollen und welche Implikationen damit verbunden sind. Eine wichtige Bedingung hierbei ist, dass man nur durch eine Tür gleichzeitig gehen kann. Später holt man sich dann die Erlaubnis, die Eltern im späteren Verlauf der Beratung darauf hinweisen zu dürfen, wenn sie in der Art und Weise, wie sie kommunizieren, evtl. wieder in eine andere Tür hineingeraten sind (z. B.: »In Ihrer Frage scheint mir der Wunsch, dass ich als Gutachter/Experte über den rechten Umgang entscheiden sollte, deutlich zu werden. Dies ist vielleicht verständlich, aber ich kann dem nicht nachkommen. Als Berater kann ich Sie aber dabei unterstützen, sozusagen als Experten für Ihre Familie, eine eigene Lösung zu entwickeln«). Die Flurmetapher ist eine kleine Hilfe, um Rollenklarheit zu produzieren und Rollendiffusion zu vermeiden. Das ist kein einfaches Ziel, da sich in den letzten Jahrzehnten Rollenbilder oft veränderten und vielfältiger wurden. Gerade Familienrichtern ist in letzter Zeit in vielen Fortbildungen nahegelegt worden, moderierender zu arbeiten, Vergleiche anzustreben und eben nicht nur nach Rechtslage Streitfälle einzuordnen, zu bewerten und abschließend ein Urteil zu verkünden. Margarete Bergmann, Familienrichterin aus Köln, drückte es einmal so aus, dass »wir Richter mehr und mehr zu Sozialingenieuren geworden sind« (mündliche Mitteilung). In der Jugendhilfe werden nicht selten Sozialpädagogen im Rahmen einer Sozialpädagogischen Familienhilfe als Hilfe zur Erziehung in einer Familie installiert, wobei sie verdeckt eigentlich einem Kontrollauftrag nachgehen sollen, etwa ob an einem Missbrauchsverdacht etwas dran ist. Die Eltern fühlen sich diffus gedrängt, eine Hilfe © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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anzunehmen, und beantworten diese mit verschiedenen Varianten unkooperativen Verhaltens. Die Sozialarbeiter wiederum reagieren gekränkt, wenn ihr Engagement nicht als Hilfe, sondern nur als lästige Kontrolle wahrgenommen wird. Es gibt eben eine Menge Tücken bei der diffusen Vermischung von Hilfe und Kontrolle und es stellt sich die Frage, ob hier nicht eine transparente, klare Markierung nicht nur ehrlicher, sondern auch zieldienlicher wäre. Dass sich die verschiedenen Rollen teilweise wesentlich voneinander unterscheiden, mag beispielhaft an folgendem Diagramm (Abb. 2) veranschaulicht werden, wo die verschiedenen Rollen auf den beiden Achsen parteilich/neutral und ergebnisorientiert/ergebnisoffen dargestellt werden. Eine mediativ orientierte Beratung sollte sich entsprechend nur im oberen, rechten Quadranten ansiedeln, Rollenklarheit neutral
Gutachter/in
Schlichter/in
Ziele vorgebend
Berater/in
ergebnisoffen
Verfahrensbeistand Anwalt/in Fachkraft 8a
parteilich
Abbildung 2: Rollen in einem Konfliktfall
wenn sie Rollendiffusion vermeiden möchte. Vertretbar wäre allenfalls noch die Rolle des Schlichters für den Fall, dass die Konfliktparteien evtl. nur noch wenige Schritte von einer Konsenslösung entfernt scheinen. In diesem Fall könnte man sich die Erlaubnis geben lassen, die weitergedachte Kompromisslösung wie in einem Schlichterspruch zu formulieren und den Eltern und/oder dem Gericht zur Verfügung zu stellen. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Klarheit in der Konzeption und den damit verbundenen Regeln Eine Konzeption dient zur Klärung der eigenen Positionen sowohl im Innenbereich (also interkollegial) als auch zu den Ratsuchenden und zu den Kooperationspartnern, wie z. B. Familiengerichten, Jugendämtern etc. Sie sollte Aufklärung geben über: – die Grundidee (dem Grundparadigma) des Beratungsansatzes, – das Anmeldeverfahren, – den Umgang mit der Schweigepflicht, – andere Regeln wie z. B. den Ausschluss gleichzeitiger anwaltlicher Aktivitäten, die Einbeziehung von Kindern usw. (siehe beispielhaft das Konzept des Psychologischen Beratungszentrums Düren im Anhang).
Bewährt hat sich in unserer Praxis insbesondere die Differenzierung zwischen den beiden Zielen kooperativer und paralleler Elternschaft. Je heftiger die Konfliktdynamik tobt, desto eher scheint es angeraten, mehr auf Entflechtung denn auf Kooperation zu setzen. Dies eröffnet die Chance, die Zerrüttung der Beziehung, die damit verbundene »negative Attraktion« und die weitgehende Unmöglichkeit einer konstruktiven Kommunikation zunächst einmal zu akzeptieren und nicht erzwingen zu wollen. Die Beteiligten können lernen, Distanz als Musterunterbrechung und damit Chance zum Zeitgewinn, zur individuellen Aufarbeitung und zur Heilung der Wunden zu verstehen. Der Logik der Entflechtung folgt auch das gemeinsame Bemühen, die Zahl der am Konflikt Beteiligten zu reduzieren. Weiterhin hilfreich ist gelegentlich die sogenannte »Hoheitsregel«. Sie besagt, dass der Elternteil, bei dem das Kind gerade ist, die Hoheit über alle Regelungen des Alltags (wie z. B. was im Fernsehen geschaut wird, wann die Hausaufgaben gemacht werden etc.) innehat, ohne dass der andere sich einmischen darf. Da eine gemeinsame Verständigung über solche Alltagsdinge erst möglich wird, wenn ein Minimum an Verständigungsbereitschaft und Verhandlungskompetenz erarbeitet wurde, kann ein Mitspracherecht über die Alltagsgestaltung beim anderen Elternteil erst im späteren Verlauf einer Beratung eingeräumt werden. So verhindert man den Dauerkrieg über immer neue Detailfragen und setzt ein © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Zeichen, dass Einflussnahme bzw. Mitbestimmung nicht über Machtkampf, sondern nur über die Verhandlungsoption möglich wird. Es hat sich als nützlich erwiesen, ein solches Konzept mit den entsprechenden Regeln auch in (verkürzter) schriftlicher Form den Eltern vorzulegen und sich zu Beginn einer Beratung unterschreiben zu lassen.
Ausblick In den letzten beiden Jahren sind vor allem in den Beratungsstellen des Landes viele auch unterschiedliche Konzepte und Umgangsformen für eine gerichtlich angeordnete Beratung mit sogenannten hochstrittigen Eltern entstanden. Eine vielfältige Praxis blüht, die Diskussionen sind lebendig und die Weiterentwicklung dauert an. Es gibt in der Praxis bewährte Konzepte zu anfangs problematisch wahrgenommenen Punkten, wie z. B. den Umgang mit der Schweigepflicht, und es gibt noch offene Fragen, z. B. zur Bewertung der Effektivität solcher Beratungen. In manchen Beiträgen werden sehr aufwendige Konzepte bevorzugt, wo z. B. immer in Ko-Arbeit mit zwei Beratern/Beraterinnen, mit obligatorischer Einbeziehung und Diagnostik der Kinder, mit vielfachen Kooperationsgesprächen mit anderen professionellen Partnern gearbeitet werden soll. Diese sind aber im Rahmen der gegebenen Ressourcen einer Beratungsstelle in der Regel nicht umzusetzen und führen unweigerlich zum Ruf nach einer gesonderten Finanzierung (Wer bestellt, muss auch bezahlen!). Das ist jedoch politisch vor Ort schwer durchsetzbar und führt so zu dem Ergebnis, dass die Praxis der Beratung von Hochstrittigen am ehesten da blüht, wo die Arbeit im begrenzten Maße und im Rahmen der üblichen Finanzierungsbedingungen geleistet wird. Auch hier bewährt sich augenscheinlich ein bescheidener Pragmatismus angesichts der mit vielen Muss-Sätzen daherkommenden Propagierung eines Ideals. Dieser Beitrag kann hoffentlich ein kleines Stück dazu beitragen, sich mit Hilfe einer systemisch inspirierten Haltung relativ unangestrengt, neugierig und lebendig einer mediativ orientierten Beratung hochkonflikthafter Muster zuzuwenden und sogar hin und wieder © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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sagen zu können: »Ich mache das gerne«, »Diese Arbeit ist sinnvoll« und zuletzt: »I will do my very best, but not more!«
Literatur Bateson, G. (1982). Geist und Natur. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Ciompi, L. (1999): Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Dietrich, P., Fichtner, J., Halatcheva, M., Sandner, E., Weber, M. (2010). Arbeit mit hochkonflikthaften Trennungs- und Scheidungsfamilien. Eine Handreichung für die Praxis. München: Deutsches Jugendinstitut. Enzensberger, H. M. (2011). Tropfen auf dem See. Der Spiegel 43/2011. Homrich, A., Muenzenmeyer-Glover, M., Blackwell-White, A. (2004). Program profile. The Court Care Center for divorcing families. Family Court Review 41 (1). Omer, H., Schlippe, A. von (2002). Autorität ohne Gewalt. Coaching für Eltern von Kindern mit Verhaltensproblemen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Pelzer, K. (2011). Systemische Haltung und Balance. In H. Schindler, W. Loth, J. von Schlippe (Hrsg.), Systemische Horizonte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Schlippe, A. v. (2010). Rösselsprünge, Improvisation und die Möglichkeit des Andersseins. Systhema 2, 126–129. Watzlawick, P., Weakland, J., Fisch, R. (1974). Lösungen. Bern: Huber. Weber, M., Schilling, H. (Hrsg.) (2006). Eskalierte Elternkonflikte. Beratungsarbeit im Interesse des Kindes bei hoch strittigen Trennungen. Weinheim: Juventa.
Anhang: Konzeption des Psychologischen Beratungszentrums Düren Leitlinien für eine mediativ orientierte Beratung nach Anordnung oder Empfehlung des Familiengerichtes 1. Grundidee
Grundidee einer solchen Beratung ist es, Räume für neues Verständnis zu eröffnen und zu neuen Verhandlungen mit dem Ziel einer außergerichtlichen Einigung in den strittigen Fragen zu kommen. Das Beratungsangebot richtet sich vor allem an die Eltern (ggf. auch © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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andere »Konfliktparteien«). Kinder stehen zwar thematisch im Mittelpunkt, sollen aber nach Möglichkeit selbst aus der Konfliktdynamik herausgehalten werden und darauf vertrauen können, dass »die Erwachsenen« eine gute Lösung finden. 2. Beratungsziele
Das Hauptziel bleibt die (Wieder-)Herstellung der (elterlichen) Verhandlungskompetenzen. Je nach dem Grad des konflikthaften Geschehens bzw. der Verhärtung der Fronten, können zwei unterschiedliche, gleichwohl dem Kindeswohl dienende Wege beschritten werden: – hin zu einer Verbesserung der elterlichen Kooperation (kooperative Elternschaft), – hin zu einer klareren Entflechtung und Distanzierung der Konfliktpartner (parallele Elternschaft). Letzteres ist im Fall des Hochkonfliktes oft die realistischere Option. 3. Voraussetzungen und Regeln einer »mediativ orientierten« Beratung
Für den Erfolg einer solchen Beratung ist es bedeutsam, dass die Konfliktparteien (meistens die Eltern) die unterschiedlichen Blickwinkel und Zielrichtungen von Rechtsstreitigkeiten einerseits und Beratungsansätzen andererseits verstehen. In der Beratung geht es nicht darum, Recht zu bekommen gegen einen anderen, sondern die Chancen zu Verständigung und Kompromissen auszuloten. Ebenso wenig wird ein Berater/eine Beraterin im Sinne eines Gutachtens über richtig und falsch entscheiden oder Lösungswege vorgeben. Vielmehr sollen Lösungen im Einvernehmen miteinander gesucht und gefunden werden. Ratsuchende müssen also die Rolle und das Selbstverständnis der Berater/-innen verstehen, von anderen Professionen unterscheiden und akzeptieren können. Einer erfolgreichen Beratung steht oft die Idee der Beteiligten im Wege, man könne den anderen zur Einsicht oder zur Veränderung bewegen, indem man mit Druck, Vorwürfen oder Kritik operiert. Insofern ist dies meist das Erste, was man in einem Beratungsprozess zu stoppen und in andere Gesprächsformen umzuleiten versucht. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Folgende Regeln sollten von den Ratsuchenden – möglichst schriftlich – akzeptiert werden: – Die Eltern sollten möglichst schon im Gerichtstermin über die Entbindung von der Schweigepflicht informiert werden und dieser zustimmen, so dass kein Zweifel darüber besteht, dass die Beratungsstelle über Verlauf und Ergebnis der Beratung einen Bericht an Gericht und/oder Jugendamt abliefert. Im optimalen Fall umfasst dieser Bericht nur den in Gesprächen erarbeiteten Konsens der beiden Parteien. – Während des Verlaufes der Beratung können keine anwaltlichen Aktivitäten, insbesondere keine Anträge, die Themen der Beratung (Umgangs- und Sorgerecht) betreffen, akzeptiert werden. Wird dies von einem der Beteiligten nicht eingehalten, wird die Beratung beendet bzw. ausgesetzt. – Während der angeordneten Beratung sollten keine parallelen Gespräche mit anderen Fachleuten (Verfahrensbeistand oder Jugendamt etc.) zu womöglich den gleichen Themen geführt werden. Nur wenn die Beratung »in einem Raum gebündelt« wird, können Ausweichmanöver und konfliktverstärkende Koalitionsbildungen mit anderen vermieden werden. – Hilfreich für den Beratungsprozess ist eine vom Gericht vorgegebene geregelte Basis für das Verhalten der Konfliktparteien (z. B. eine Umgangsregelung), zu deren Einhaltung sich beide Eltern verpflichten, solange keine neue gemeinsame Einigung erzielt werden kann. – Bei Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung wird eine entsprechende Fachkraft (intern oder extern) als »Anwalt des Kindes« hinzugezogen. Der/die »mediativ orientierte« Berater/-in kann so in der neutralen Rolle als »Anwalt für die Verhandlungsoption« bleiben. – Bei Bedrohungen (auch evtl. gegen die Beraterin/den Berater) oder erwiesener Gewalt ist eine mediativ orientierte Beratung nicht mehr zielführend und sollte nach einem Klärungsversuch beendet werden.
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4. Anmeldung
Nach dem Gerichtstermin müssen sich beide Eltern innerhalb von 14 Tagen telefonisch bei der Beratungsstelle anmelden, damit ein Beratungsprozess in Gang kommen kann. Meldet sich nur einer an, wird das Gericht nach spätestens drei Wochen darüber informiert, dass keine Beratung angelaufen ist. 5. Gesprächsform
Die mögliche Gesprächsform in der Beratung kann sehr unterschiedlich sein und wird letztendlich vom zuständigen Berater aus seiner Fachlichkeit heraus entschieden. In der Regel wird mit jeweils einem Einzelgespräch begonnen, darauf können weitere Einzelgespräche, gemeinsame Gespräche mit beiden Eltern, mit den Kindern in Anwesenheit der Eltern, mit den Kindern alleine oder auch mit anderen »relevanten Personen« stattfinden. Die Ratsuchenden, wie auch andere Beteiligten im Verfahren, können evtl. Vorschläge zu den verschiedenen Gesprächsformen einbringen, die letzte Entscheidung liegt jedoch bei den Fachleuten von der Beratungsstelle. Werden von anderer Seite Vorschläge zu Form und Ziel der Beratung gemacht, muss den Eltern mitgeteilt werden, dass dies nicht notwendigerweise so umgesetzt wird bzw. dass es keinen (rechtlichen) Anspruch auf das vorgeschlagene Verfahren gibt. 6. Abschlussoptionen
– Schriftlicher Konsens ans Gericht, – Schlichtungsvorschlag ans Gericht (wenn die Parteien dem zustimmen), – Beendigung wegen mangelnder Erfolgsaussichten, – Beendigung wegen Regelverstoß, – Beendigung aus anderen Gründen (Umzug etc.), – Überweisung an andere, – eine »Denkpause« (Aufschub der Beendigung für eine festgelegte Frist).
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7. »Besuchsanbahnung« statt »begleiteter Umgang«
Hat ein Kind längere Zeit keinen Umgang mit einem Elternteil gehabt oder hat ein Elternteil Bedenken gegen den Umgang, bietet das Psychologische Beratungszentrum eine sogenannte Besuchsanbahnung an. Hier werden Sorgen und Bedenken mit Eltern und Kindern besprochen und vertretbare Lösungen dafür gesucht. Nach ersten Elterngesprächen können dann ca. drei erste Besuchskontakte in unserem Beratungszentrum zur Vertrauensbildung durchgeführt werden. Danach soll in jedem Fall eine Besuchsregelung in Eigenregie von den Eltern abgestimmt werden. Dabei können dritte Personen aus dem Umfeld, z. B. Großeltern oder Nachbarn usw., einbezogen werden. Einen »begleiteten Umgang« über längere Zeiten, ohne dass die Konflikte der Parteien nicht wenigstens teilweise durch gemeinsame Absprachen gemildert werden können und ohne Aussicht auf Verselbständigung der Besuchsregelung, bieten wir nicht an, weil nach unserer Auffassung hier Aufwand und Erfolgswahrscheinlichkeit in keinem vertretbaren Verhältnis stehen und es auch nur sehr selten hierüber zu einer stabilen Bindung kommt. 8. Kapazität
Das Psychologische Beratungszentrum kann mit dem derzeitigen Personalschlüssel bis zu zehn gerichtlich angeordnete Fälle gleichzeitig bearbeiten. Sollte die Nachfrage darüber hinaus gehen, sind spezielle Wartezeiten für diese Fälle unvermeidlich (auch wenn aus fachlicher Sicht klar ist, dass längere Wartezeiten gerade in diesen Fällen kontraindiziert sind). Sollte sich hier verstärkt eine Kluft zwischen Angebot und Nachfrage zeigen, muss dies in der kommunalen Planung der Jugendhilfe thematisiert werden.
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»Schwierige« Kinder in der systemischen Therapie Eine Aufforderung zu einer Erweiterung der Kontextsensibilität auf gesellschaftlich vermittelte Problemtrancen1 Peter Luitjens
Je mehr es sind, die leiden, desto natürlicher erscheinen ihre Leiden also. Wer will verhindern, dass die Fische im Wasser nass werden? Und die Leidenden selber teilen diese Härte gegen sich und lassen es an Güte fehlen sich selbst gegenüber. Es ist furchtbar, dass der Mensch sich mit dem Bestehenden so leicht abfindet, nicht nur mit fremden Leiden, sondern auch mit seinen eigenen. (Bertolt Brecht, 1938)
Systemische Ansätze und Heranwachsende Eine grundlegende Denkfigur des systemischen Ansatzes besteht darin, dass jegliches Verhalten eines Menschen in irgendeiner Weise als Lösungsversuch auf Herausforderungen zu betrachten sein könnte – auch Verhalten, das aktuell eher Probleme als Lösungen erzeugt. Der Mensch, der durch problematisches Verhalten auffällt, wird dabei nicht als individueller problematischer Mensch »behandelt«, sondern als »IP« (Index-Person), dessen problematisches Verhalten Teil eines interaktionellen Zusammenhangs bildet. Den ursprünglichen oder intendierten Nutzen eines für die Umwelt oder die betreffende Person »schwierigen« Verhaltens zu erkunden, kann nur auf der Grundlage der Konzepte der handelnden Personen gelingen, so dass an dieser Stelle der häufig bemühte »kundige« Klient auftritt. Diese Ideen tragen dazu bei, die Pathologie-Orientierung als Reaktion auf abweichendes, schwieriges Verhalten aufzuweichen – aber reicht das aus? 1
Überarbeitete Version eines Artikels in der Zeitschrift »systhema« (3/2008).
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Während es in der therapeutischen Arbeit mit Erwachsenen oftmals nicht ins Gewicht fällt, wenn wir lebensgeschichtliche und historische Rahmenbedingungen außer Acht lassen (was nicht bedeutet, dass eine derartige Vorgehensweise in jedem Fall zu empfehlen wäre), sind wir bei Heranwachsenden immer mit der Thematik der lebensgeschichtlichen Entwicklung konfrontiert – und daher mit der Notwendigkeit, die interaktionellen Besonderheiten auf der Folie des jeweiligen Entwicklungsstands des/der beteiligten Heranwachsenden und ihrer bedeutsamen Bezugspersonen zu reflektieren. Das beinhaltet Vorstellungen über gelingende Entwicklungsprozesse, zeitlich zu erwartende Entwicklungsschritte, Anforderungen an »hinreichend gute« Bezugspersonen usw. Das bedeutet, dass wir Heranwachsenden in der systemischen Therapie auch oder vor allem auf der Grundlage unserer (normativen) Konzepte von Entwicklung begegnen. Damit stellt sich in meiner Wahrnehmung die Therapie mit Heranwachsenden immer deutlicher als Prüfstein für die Angemessenheit der theoretischen Fundierung unserer therapeutischen Arbeit heraus – mit der deutlichen Anforderung, einen angemessen hohen Grad an Komplexität in der Reflexion nicht zu unterschreiten.
Entwicklung: ein Prozess im Zusammenspiel von Biologischem und Sozialem Als Beispiel für aktuelle Überlegungen zum Entstehen von Entwicklungspsychopathologie greife ich auf Ausführungen von Wolfgang Jantzen (1999) zurück, der als ein Ergebnis der Forschung zur Mutter-Kind-Interaktion bei geistig behinderten Kindern feststellt: »Einerseits simplifizieren Mütter ihre Sprache und modifizieren ihr Verhalten, um sich dem Niveau des Kindes anzupassen, andererseits bilden sie ein soziales Gerüst […] Bei dieser Gratwanderung, immer die gesellschaftliche Norm im Rücken, ist es eher die Regel als die Ausnahme, dass intrusive Verkehrsformen entstehen: die Mütter sind in ihren Reaktionen zu schnell, sie achten zu wenig das Orientierungsverhalten des Kindes, stellen die zweite Frage, bevor das Kind die erste beantwortet hat usw.« (S. 9). Diese Darstellung lässt sich auf mehreren Ebenen lesen: – Es wird beobachtet, dass Mutter-Kind-Interaktionen nicht opti© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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mal verlaufen – mit der Folgerung, dass wir mit angemessenen Interventionen hilfreiche Veränderungen bewirken können. – Es treten in der speziellen Interaktionssituation zwischen Mutter und geistig behindertem Kind regelhaft Interaktionssequenzen auf, die weniger entwicklungsangemessen sind. Jantzen vermutet daher, dass die Ursache dafür etwas damit zu tun hat, dass diese Interaktionssituation nicht der gesellschaftlichen Norm entspricht (was die Mutter dann im Rücken spürt). Auf der Folie dieses Verständnisses der Situation ist zunächst ganz Anderes nötig (und selbstverständlich): die nichtnormale Lebenssituation als solche anzuerkennen, Unterstützung zu leisten, um mit der Un-Normalität leben zu können, Belastungen benennen und nach Möglichkeiten der Balance zwischen Unterund Überforderung suchen. In der Auseinandersetzung mit Behinderung sind dies inzwischen weitgehend akzeptierte Ideen. Und wenn wir diese Ideen auf den Umgang mit »schwierigen Kindern«, die keinerlei Behinderung aufweisen, übertragen? Machen wir nicht häufig in diesem Zusammenhang die Erfahrung, dass unser Handeln zwar zunächst positiv aufgegriffen wird, aber langfristig keine Veränderungen bewirkt? Mögliche Erklärungsversuche lassen sich in vorhersagbarer Weise konstruieren. Am Beschämendsten/Unverschämtesten erscheint mir in diesem Zusammenhang: Diese Familien waren keine Kunden, sondern nur Besucher. Oder: Ob unsere Interventionen aufgegriffen werden und Veränderung zur Folge haben, darüber entscheiden die Adressaten selber. Auch wenn Letzteres stimmt – können wir nicht dafür sorgen, dass unsere Angebote besser »passen«? Wenn systemische Therapie ein kollaboratives Projekt (Anderson u. Goolishian, 1992) ist, könnte es dann nicht hilfreich sein, uns mit den Gegebenheiten des Menschseins in dieser Welt umfassend auseinanderzusetzen? Vielleicht zunächst einmal mit den Rahmenbedingungen für das »Menschwerden« in dieser Welt.
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Dissoziale Kinder und soziale Transaktionen Eine Stärke des systemischen Ansatzes liegt in der Einbeziehung des Kontextes eines Verhaltens in die Reflexion und der Entwicklung von Vorgehensweisen, die kontextsensibel ausgerichtet sind. Unter Orientierung an Bronfenbrenners (1981) ökologischer Entwicklungspsychologie wären hier Mikro-, Meso-, Exo- und Makrobereich der Entwicklung zu unterscheiden. Bedauerlicherweise findet die Kontextsensibilität in der Regel ihre Grenze im Mikrobereich, das heißt im Austauschbereich mit den unmittelbaren Bezugspersonen, bzw. im Mesobereich, zu dem weitere bedeutungsvolle Personen außerhalb der Familie gehören. Reflexionen zum Exo- und Makrobereich scheinen demgegenüber genauso wenig zum Standardrepertoire systemischer Therapieüberlegungen zu gehören wie bei anderen Ansätzen, die von vorneherein auf das Individuum und sein Handeln fokussiert sind, obwohl der systemische Ansatz derartige Erweiterungen nahelegt. Die Auswirkungen dieser übergreifenden Bereiche auf das von uns im Mikrobereich wahrgenommene Problem lassen sich dabei sowohl theoretisch konzeptionell fassen als auch empirisch belegen. An dieser Stelle beschränke ich mich auf Letzteres. Die sozialwissenschaftliche Gesundheitsforschung zeigt, dass gesundheitliche Belastung für Jugendliche in den letzten Jahrzehnten zunimmt. In diesem Sinne formuliert Klaus Hurrelmann folgende Aussage: »Trotz der […] Erfolge bei der Versorgung der Bevölkerung mit materiellen Gütern und wichtigen Dienstleistungen ist aber das soziale, psychische und körperliche Wohlbefinden großer Teile der jungen und jüngsten Bürgerinnen und Bürger keineswegs ausreichend gewährleistet. Sie zahlen, um im Bild zu sprechen, einen ›hohen Preis‹ für die fortgeschrittene Industrialisierung und Urbanisierung, der sich in körperlichen, psychischen und sozialen Belastungen ausdrückt« (1990, S. 58, zit. nach Keupp, 1999). Hans Schindler spezifiziert 2009 diese Aussagen für die Lage der Kinder von Arbeitslosen: »Hießen zur Zeit der Weltwirtschaftskrise bezüglich der Kinder von Arbeitslosen die Themen: schlechtere Ernährung, Absinken von Schulleistungen, emotionale Instabilität und Verlust der väterlichen Autorität […] Heute liegen uns Ergeb© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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nisse über gesundheitliche Defizite, frühes Rauchen und Alkoholkonsum bei Kindern in Armut vor. Bei den Sechsjährigen zeigen 1999 31 % und 2003/4 26 % der armen Kinder gesundheitliche Defizite, bei den ›Nicht-Armen‹ sind es nur 20 % bzw. 19 %« (Schindler, 2009, S. 185). Heiko Boumann setzt in seiner umfangreichen Analyse der Lebenssituation von dissozialen Heranwachsenden deren deprivierte Lebenslage und die zu beobachtenden dissozialen Verhaltensweisen in Zusammenhang: – »Bei Kindern und Jugendlichen existiert ein Zusammenhang zwischen einer Deprivation im Bereich des ökonomischen Kapitals (vor allem Einkommensarmut) und Deprivationen ihres sozialen, kulturellen, symbolischen und gesundheitlichen Kapitals, was in einer kumulativ deprivierten Lebenslage mündet. – […] lässt sich formulieren, dass ein depravierter Lebensstil somit geradezu als Verarbeitungsweise einer deprivierten Lebenslage interpretiert werden kann. – Deprivierte Lebenslage und depravierter Lebensstil führen zu einer nachhaltigen Restriktion des gesundheitlichen Kapitals, weil Bewältigungshandeln und Risikohandeln aus der Balance geraten« (2008, S. 248 f.).
»Soziopsychische Traumatisierung« als Auswirkung gesellschaftlicher Entwicklungen Unsere Erfahrungen mit den Folgen von Arbeitslosigkeit, mit den Auswirkungen der Hartz-IV-Gesetzgebung und mit den Veränderungen im Jugendhilfesektor lassen es naheliegend erscheinen, die davon Betroffenen als Opfer struktureller Gewalt (u. a. Gast, 2002) wahrzunehmen. Mit den angesprochenen Erlebensbereichen kommen wir in unserer Arbeit in Kontakt, sie erscheinen aber ansonsten nicht aufeinander bezogen. Im Rahmen einer Betrachtung von der gesamtgesellschaftlichen Ebene aus gibt es jedoch Möglichkeiten, Verbindendes dieser Bereiche zu benennen. In Übereinstimmung mit zahlreichen politischen Analysen (z. B. Butterwegge, 2008; Butterwegge et al., 2008) gehen wir davon aus, dass die gegenwärtige ökonomische Situ© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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ation auf den Begriff einer Vorherrschaft neoliberalen Gedankenguts, kurz des Neoliberalismus, gebracht werden kann. Im ökonomischen Sektor nehmen wir einerseits eine Orientierung an der Gewinnmaximierung für Shareholder, andererseits eine Managementpolitik der Massenentlassungen und der realen Absenkung der Arbeitseinkommen für die unteren Einkommensgruppen wahr.2 Da hier der ökonomische Bereich nicht vorrangig interessiert, reicht für unsere Zwecke diese verkürzte Charakterisierung aus. Die strukturelle Massenarbeitslosigkeit stellt nach Bianchi (2003) die Kerntraumatisierung im Neoliberalismus dar. Dass Arbeitslosigkeit ein individueller Stressor ist, ist seit langem bekannt und erforscht. In den Pionierstudien u. a. von Marie Jahoda (»Die Arbeitslosen von Marienthal«, 1933) wurden als wesentliche Folgen der Arbeitslosigkeit materielle Verelendung und der Verlust der Zeitstruktur herausgearbeitet, während in neueren Studien Arbeitslosigkeit als umfassender soziopsychischer Angriff auf Selbstwert- und Identitätsgefühl der Betroffenen gewertet wird. »Arbeitslosigkeit ist ein Gewaltakt. Sie ist ein Anschlag auf die körperliche und seelisch-geistige Integrität, auf die Unversehrtheit der davon betroffenen Menschen« (Negt, 2001, S. 10). Fischer und Riedesser haben die Arbeitslosigkeit als »man made disaster« in ihrem »Lehrbuch der Psychotraumatologie« (1998) thematisiert und die tiefgreifenden traumatischen Auswirkungen auf die Betroffenen beschrieben. Dass die Hartz-IV-Gesetzgebung Ähnliches bewirkt, illustriert folgender Fall aus unserer Praxis: Ein älterer Klient ist vor einigen Jahren als hochrangiger Marineoffizier in Pension gegangen, hatte also finanziell für seinen Ruhestand gut vorgesorgt, zudem ein großes schuldenfreies Haus usw. Leider wurde seine Ehefrau in Folge einer Demenz in kurzer Zeit derart pflegebedürftig, dass er selbst darüber erkrankte und sie in ein Pflegeheim mit der höchsten Pflegestufe kam. Es musste ergänzende Hilfe nach Hartz IV beantragt werden – mit der Folge, dass nach den Regelsätzen das Haus zu groß war und 2
»Die Lohnschere öffnet sich weiter. Billigkräfte haben immer weniger im Portemonnaie/Frauen weiter benachteiligt […] Geringverdiener [haben] seit 1995 Lohneinbußen von 13,7 % […] Gleichzeitig nahm der Anteil der Geringverdiener von 15 auf 22 % zu« (Weser-Kurier vom 27. 08. 2008, S. 1).
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geräumt werden sollte und die Pension bis auf den Regelsatz für eine Person für die Pflege einbehalten werden sollte. Reisen zu Verwandten, Urlaube usw. waren ab sofort nicht mehr finanzierbar. In einem gerichtlichen Verfahren konnte dieser Klient zwar nach einem Jahr wesentliche Verbesserungen erreichen, aber er hat sich in dieser Zeit von seinem »Opferschicksal« nicht wieder befreien können. Im Zusammenhang mit der Vorherrschaft des Neoliberalismus setzen sich erneut sozialdarwinistische Interpretationen durch: Wer der Arbeitslosigkeit zum Opfer fällt oder auf andere Weise Opfer der gesellschaftlichen Entwicklung wird, wird auf irgendeine Weise dazu beigetragen haben. Und weitergehender: Die Opfer, die Verlierer belasten den Staat und damit diejenigen, die (noch nicht) zu den Verlierern gehören; Abwertung und Aggression gegen die Ausgestoßenen nehmen zu. Die »Bild«-Zeitung brachte eine Serie über »Sozial-Abzocker«. Darin wird beschrieben, wie sich Hartz-IV-Empfänger vor Jobs drücken oder schwarzarbeiten. Sat.1 brachte die Dokumentation »Gnadenlos gerecht – Sozialfahnder ermitteln«, die zeigen will, wie Geld erschlichen wird (taz 5. 09. 2008, S. 7). Auf diese Weise werden die Opfer der gesellschaftlichen Entwicklung ein zweites Mal zum Opfer (doppelte Viktimisierung). Pascal Parisot bringt diese Haltung in seinem Song »Tralala pas toi« (2003) pointiert zum Ausdruck: »Tu n’as pas de toit, tu dors sous un carton – je vaux mieux que toi j’ai tout ce que tu n’as pas tralalalala […] Je n’suis un simple mortel tout est prévu pour mon départ – au paradis bien mérité pour toute l’éternité tralala – pas toi, pas toi.«3 Das Thema dissozialer Kinder und Jugendlicher erscheint nur hin und wieder an der gesellschaftlichen Oberfläche. Üblicherweise dann, wenn es darum geht, Ressentiments und irrationale Ängste zu aktivieren, um die daraus erwachsenden kollektiven Strafbedürfnisse in einem Aufwasch gleich mit zu befriedigen. Das herrschaftsstrategische Kalkül solcher und ähnlicher Kampagnen ist es stets, störende
3
»Du hast kein Dach, du schläfst unter einem Karton – mir geht’s besser als dir, ich habe alles, was du nicht hast, tralalalala […] ich bin kein einfacher Sterblicher, alles ist für mein Ableben vorgesehen – ins wohlverdiente Paradies für die ganze Ewigkeit – tralala – nicht für dich, nicht für dich.« (Übersetzung: Peter Luitjens)
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soziale Symptome und die sie verursachenden gesellschaftlichen Bedingungen medial voneinander zu trennen, um ihren kausalen Zusammenhang zu verschleiern. Insofern handelt es sich immer um eine schlichte Ablenkungsstrategie, die den bekannten Romanautor Philip Roth einmal zu der klugen Bemerkung veranlasste: »die Ursache kommt ungestraft davon, die Wirkung muss ins Gefängnis« (zit. nach Boumann, 2008, S. 7). Die gesamtgesellschaftliche Entwicklung bleibt nicht ohne Auswirkung auf das Selbstbild der Betroffenen und auf unheimliche Weise korrespondieren die Wertlosigkeitsempfindungen der Arbeitslosen mit der menschenverachtenden Sicht von neoliberalen Managern auf ihre Opfer: Arbeitslose als »Wohlstandsmüll« oder als »Sozialparasiten« (vgl. auch Kleve, 2005, S. 82, der diagnostiziert, dass Soziale Arbeit an gesellschaftlichen Problemdefinitionen »parasitiert«: »Sie lebt sozusagen von den ›System-Abfällen‹«). Fischer und Riedesser (1998, S. 46) sehen im Viktimisierungssyndrom ein Phänomen mit spezieller Relevanz für soziale Gewalterfahrung. Wesentliche Punkte dieses Syndroms finden wir in der Situation von Arbeitslosen wieder, »z. B. allgemeine Passivität, mangelnde Selbstbehauptung, Gefühle von Isolation, Unfähigkeit, anderen zu vertrauen, übermäßige Unterdrückung oder exzessiver Ausdruck von Ärger, Bagatellisieren der zugefügten Verletzung, Selbstbeschuldigung, Übernahme des verzerrten Weltbildes der Täter« (Duchrow et al., 2006, S. 115). Für unsere therapeutische Arbeit bedeutsam sind zwei weitere Kennzeichen der »soziopsychischen Traumatisierung« unter den aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen: – eine Orientierungstraumatisierung (Fischer u. Riedesser 1998, S. 67) bedeutet eine Verwirrung der kognitiven Kategorien des Opfers, das heißt darin, dem Opfer einer Traumatisierung das Trauma als positiv, notwendig darzustellen und den Täter zu rechtfertigen (bzw. an die Stelle des Täters den »Sachzwang« einzuführen), das Opfer in seinem Bemühen um Verständnis der Situation zu verwirren und seine Motivation zu Selbstbehauptung und Gegenwehr zu unterminieren; – ein Fortdauern der traumatisierenden Bedingungen: Es gibt keine Möglichkeit, den traumatisierenden gesellschaftlichen Bedingungen zu entkommen – im Gegenteil: Seit Jahren heißt es immer © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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wieder, dass »die Deutschen« immer noch zu hohe Ansprüche stellen, dass die »Globalisierung« unausweichlich weitaus größere Opfer fordere.
Traumatisierung als Prozess David Becker (2006), der sich intensiv mit traumatischen Prozessen in Folge des Militärputsches Pinochets in Chile und der anschließenden jahrzehntelangen Militärdiktatur beschäftigt hat, greift für das Verständnis von Traumatisierung Keilsons Konzept der sequenziellen Traumatisierung (1979) auf und entwickelt es weiter. Für die hier beschriebene Problematik ist dies Modell besonders hilfreich: – Es geht nicht um Traumatisierung in Folge individuell ausgeübter Gewalt oder infolge einmaliger Ereignisse (wie Unfälle), sondern um Traumatisierung in Folge sozialpolitischer Gewalt; – das Modell macht deutlich, dass der Verlust der Eingebundenheit in soziale und politische Kontexte ein wesentlicher Faktor der Traumatisierung ist (vgl. »doppelte Viktimisierung«); – das Modell unterscheidet zwischen den Sequenzen direkter traumatischer Erfahrung (hier z. B. Verlust des Arbeitsplatzes) und der Chronifizierung bei andauernden äußeren Bedingungen, die zur direkten traumatischen Erfahrung führten (z. B. der neue Arbeitsplatz ist nur befristet, in der Branche wird allgemein Personal »abgebaut« etc.); – das Modell macht deutlich, dass der Prozess der Traumatisierung auch mit dem Ende der Bedrohung keineswegs abgeschlossen ist: »Der traumatische Prozess selbst endet damit (mit dem Ende der Bedrohung) nicht, obwohl die eigentliche Bedrohung nicht mehr existiert. Wichtiger noch, erst in dieser Phase entwickelt sich die langfristige individuelle und soziale Pathologie« (Becker, 2006, S. 193). Becker behält auf diesem Wege den komplexen Zusammenhang verschiedener Systemebenen im Blick und vermeidet es einerseits, die traumatisierende Erfahrung in der Vergangenheit zum Dreh- und Angelpunkt therapeutischer Überlegungen zu machen, und sorgt © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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andererseits dafür, sie bei der Gestaltung der Therapie in der Gegenwart als gegenwärtig virulent zu berücksichtigen. Für die Gestaltung der Beziehung zwischen Therapeut und gesellschaftspolitisch traumatisiertem Patienten wurde in Chile das Konzept des »vinculo comprometido« entwickelt, was man ungenau als »sich verpflichtende, sich einlassende Bindung« ins Deutsche übersetzen könnte. Becker hält die damit verbundene aktive und parteiische Haltung für den Dreh- und Angelpunkt der Behandlung: aktiv, um den Patienten/die Patientin ausreichend zu stützen, zu halten und ihm/ihr die Möglichkeit zu bieten, die eigene Struktur in der Therapeutin wiederzuerkennen und deren Strukturen zu nutzen, um sich (zerstörte) eigene Strukturen (wieder) anzueignen; parteiisch, um dem traumatisierten Menschen nicht als Inquisitor zu begegnen, sondern als Mitwissende(r), um mit ihm das zu teilen, was ihm real widerfahren ist und nicht nur ein »persönliches Problem« darstellt, sondern in Abhängigkeit von politischen Strukturen steht (Becker, 2006, S. 46 ff.).
Ko-traumatische Prozesse in der Eltern-Kind-Beziehung Die in den Medien vielfach beklagte Hilflosigkeit von Eltern gegenüber ihren Kindern und das Nicht-Einnehmen von Erziehungsverantwortung sieht Pleyer (2004) im Blick auf die Eltern seiner Klienten als Merkmale traumatischer Verarbeitung. Er beobachtet bei diesen ein Bündel derartiger Merkmale: – eine verengte oder verzerrte Art, wie Eltern ihre Kinder wahrnehmen; – Konfliktvermeidung im Umgang mit dem Symptomverhalten und Vermeidung von Präsenz; – Tendenz, Erziehungsverantwortung zu umgehen oder sie an andere zu delegieren; – Tendenz, sich in der Erziehung zu isolieren und Kooperation mit Erziehungspartnern zu vermeiden. Pleyer berichtet im Weiteren davon, dass in der Anamnese von Kindern in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, in der er tätig ist, wie üblich zunächst Belastungen auf Seiten der Eltern im Zusammenhang © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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mit der Entwicklung der Eltern–Kind-Beziehung (prä-, peri- und postnatal) registriert wurden, später jedoch Belastungen der Eltern aus ihrer eigenen Kindheitsgeschichte ebenfalls in den Blick genommen wurden: »Wir fanden eine signifikante Häufung traumatischer Trennungs- und Vernachlässigungserfahrungen in den Geschichten unserer Eltern« (Pleyer, 2004, S. 144). Demgegenüber werden allgemeine gesellschaftliche Bedingungen von Pleyer nicht in den Blick genommen, der Einfluss »struktureller Gewalt« bleibt bei diesem Individuum-orientierten Ansatz notwendigerweise außen vor. Entsprechend defensiv formuliert Pleyer: »Weil das Selbst- und Weltbild (man-made-)traumatisierter Eltern oft tief erschüttert ist und aufgrund ihrer konstriktiven und dissoziativen Kommunikationsmuster eine Tendenz zu sozialer Isolierung besteht, brauchen sie in ganz besonderer Weise das Angebot eines sicheren Ortes, wo sie Schutz erhalten gegen bestehende soziale Abwertungen und Ausgrenzungen und eine Akzeptanz ihrer (post-traumatisch geprägten) Problemsicht vorfinden« (S. 146).
Auswirkungen auf die Praxis Meine Ausführungen möchten die Grundlage für den Appell von Pleyer ein wenig, aber entscheidend verändern: Diese Eltern brauchen unsere besondere Unterstützung einerseits wegen des erschütterten Weltbildes und der verloren gegangenen Überzeugung von Selbstwirksamkeit und andererseits und insbesondere, weil die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen diesen Zustand perpetuieren: So ist z. B. soziale Isolation ein Kennzeichen neoliberaler Gesellschaften, ist sozusagen »normal«. Was gefordert ist, ist von daher besser als Solidarität zu bezeichnen – was in der therapeutischen Haltung dem »vinculo comprometido« Beckers entspricht –, da auch wir als Professionelle unter diesen Rahmenbedingungen leben und z. B. ebenso von entsprechenden Traumatisierungsprozessen betroffen sein können (vgl. Situation in der Jugendhilfe). Eine Haltung der Solidarität scheint im Übrigen mit einer systemischen Grundhaltung des Respekts für unsere Klienten gut vereinbar, des Respekts auf der Grundlage von Wissen um unser Dasein in einer Welt, die wir uns nicht auf beliebige Weise konstruieren können. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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In der Beziehungsgeschichte zwischen traumatisierten Eltern und ihren Kindern wird Traumatisierung wie Traumabewältigung gelebt. Kinder erleben und verarbeiten die Bewältigungsprozesse ihrer Eltern – wie die Haltung der Umwelt/Gesellschaft dazu –, so dass Traumatisierungen über die Generationen weitergegeben werden. Haben die traumatischen Erfahrungen und Bewältigungsprozesse der Eltern »parentale Hilflosigkeit« im Umgang mit den Kindern zur Folge, können sich rekursiv aufeinander bezogene Prozesse von kindlicher Symptombildung und parentaler Hilflosigkeit entwickeln, die sich in Teufelskreisen zu ko-traumatischen Beziehungsmustern verfestigen können. Auch unter derartigen Bedingungen sind Möglichkeiten für therapeutisches Handeln gegeben und lassen sich nicht auf rezeptmäßig eingesetzte Methodik reduzieren. Dort, wo ko-traumatische Beziehungsmuster die Familiendynamik bestimmen, gilt es noch mehr als sonst in der Therapie, einige Grundregeln zu beachten: – Rosmarie Welter-Enderlin betont: »Ich bin der Ansicht, dass Arbeitslosigkeit nicht nur ein psychologisches, sondern ein weitgehend wirtschaftliches und politisches Thema ist. Aber selbst wenn wir die größeren Systeme wenig beeinflussen können, ist es mir wichtig, diese Zusammenhänge zu erkennen und sie in der Praxis zu benennen, um damit die Schuldzuweisungen an Einzelne aufzulösen« (Welter-Enderlin, 2007, S. 7). – Michael Grabbe betont als wichtige Aufgabe des Therapeuten in der Therapie mit Kindern und ihren Eltern das Sorgen dafür, dass Eltern und Kinder sich »auf der gleichen Seite« in der Auseinandersetzung mit der Problematik erleben und sich von daher unterstützen können (Grabbe, 2001). Eine derartige Veränderung der festgefahrenen Positionen in der Familie bedarf hier eines längerfristigen Beharrens des Therapeuten darauf, dass eine derartige Veränderung nicht nur hilfreich, sondern auch möglich ist. – Retzlaff (2008) weist zu Recht auf die Problematik einer allzu einseitigen Ressourcenorientierung hin, die in den letzten Jahren im psychosozialen Bereich vor allem als Fortschritt gegenüber der Defizit- und Problemorientierung verkauft wird, aber problematisch wird, wo sie nur Mittelkürzungen kaschieren soll: »Eine allzu einseitige Ressourcenorientierung birgt allerdings die © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Gefahr, soziale Benachteiligung, Ungerechtigkeiten und Unterdrückungsverhältnisse zu ignorieren. Die Erwartung, Kinder sollten ihre Probleme alleine mit ihren eigenen Ressourcen lösen, ist eine Überforderung. Sie erinnert an die Legende des Barons von Münchhausen« (Retzlaff, 2008, S. 25). Demgegenüber kann therapeutisches Handeln, ohne an Ressourcen anzuknüpfen, zwar nicht funktionieren, zweckmäßigerweise werden jedoch Ressourcen nicht zu jeder Zeit den therapeutischen Diskurs bestimmen. – Wie in jeder Traumatherapie (insbesondere bei unsicheren äußeren Bedingungen) ist eine wesentliche Aufgabe des Therapeuten, für mehr Sicherheit und Stabilität im Leben der Klienten und Klientinnen Sorge zu tragen. Das bedeutet im Weiteren, dass destabilisierende Effekte der Therapiestunde auf die Zeit bis zum nächsten Therapietermin vermieden werden sollten. Zudem sollte sich der Therapeut fragen, für welchen Bereich der Alltagspraxis der Familie praktische Hilfestellung (praktische Solidarität) möglich und notwendig sein könnte: z. B. eine Stellungnahme für eine Behörde, ein Verfahren, ein Telefonat mit der Schule, mit einem Sachbearbeiter etc. Derartige unterstützende Aktivitäten müssen in jedem Fall mit der Familie vorher besprochen und vereinbart werden; diese Absprachen sollten auch schriftlich festgehalten werden. – Pleyer sieht aufgrund der von ihm wahrgenommenen Schwierigkeiten die Aufgabe des Therapeuten noch weitergehender, wenn er die Notwendigkeit eines von den Therapeuten »bewachten und geschützten Rahmens« betont. Diese Forderung nach einem bewachten und geschützten Rahmen ist im Kontext stationärer Therapien nicht nur metaphorisch zu verstehen – und häufig bedaure ich, dass ich entsprechende Rahmenbedingungen des Schutzes im Kontext ambulanter Therapie nur unzureichend gewährleisten kann: Die Therapiestunde ist im zeitlichen Kontinuum des Familienlebens im sozialen Umfeld nur eine kleine Insel.
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Ein Fallbeispiel Als Frau K. mit ihren beiden Söhnen zum Erstgespräch bei uns erscheint, nimmt mich die Familie mit ihrem frotzelnden, aber den Respekt voreinander wahrenden Umgang sofort für sich ein. Offensichtlich wird dem neunjährigen Jonas wenig Verantwortung im Zusammenleben abverlangt; ebenso deutlich ist, dass der elfjährige Frieder seine Grimassen nicht unter Kontrolle hat. Das Anliegen von Frau K. ist, dass die Tics wieder verschwinden. Im Laufe der Therapie wird deutlich, dass das Leben in der Familie wesentlich durch den beständigen Kampf von Frau K. gegen Schicksalsschläge bestimmt ist; und Frieders Tics machen alles Bemühen noch fragwürdiger. – Der getrennt lebende Vater der Kinder, der sich nur sporadisch Zeit für seine Söhne nimmt – und dann seine Spielleidenschaft mit ihnen auslebt (ein wesentlicher Grund für die Trennung); und Frieder hat inzwischen wegen seiner Leidenschaft für Yu-Gi-Oh Hausverbot bei Freunden. – Das Sozialamt, das zu dem Sonderbedarf der Kinder (Schulbücher, Fußballverein, Klassenfahrt …) nichts beiträgt, aber vom Regelsatz nach Hartz IV kann Frau K. das Geld auch nicht absparen. – Der lädierte Rücken, der durch Arbeiten wie Putzen oder »Regalpflege« im Supermarkt noch mehr Schmerzen verursacht – aber ohne die zusätzlichen Einnahmen käme Frau K. finanziell gar nicht klar. Trotzdem hat Frau K. noch »Träume«: Neben dem großen Traum einer erfüllten harmonischen Partnerschaft (»aber ich greife doch immer wieder in die gleiche Sch…«) würde sie gerne selber eine qualifizierte Arbeit machen. Aber die täglichen Sorgen scheinen dafür keinen Raum zu lassen. So soll es zumindest den Kindern besser gehen. Im Umgang mit den Kindern kommt sich dann vieles in die Quere. In der Therapie gelingt es durch enge therapeutische Begleitung Frieders, dass seine Symptomatik sich allmählich reduziert. Im Weiteren verändert sich auch das Verhältnis der Brüder zueinander: © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Auch Jonas kann im Haushalt Verantwortung übernehmen und Frieder kann lernen, eigene Wege zu gehen, mit gleichaltrigen Freunden unterwegs zu sein, statt auf seinen Bruder aufzupassen (oder ihn zu gängeln). Die sich dazu parallel entwickelnde Verschlechterung der schulischen Leistungen macht die Multidimensionalität der Prozesse deutlich – und Frieder gelingt es, die Herausforderung anzunehmen. Frau K. nutzt die Möglichkeit der therapeutischen Begleitung für sich – zur Selbstvergewisserung; – zur Auseinandersetzung mit der sie umgebenden Realität; – zur Stabilisierung in ihrem Bemühen um Selbstachtung trotz aller Niederlagen im Alltag; – zur Bestätigung von Erfolgen; – zur Wahrnehmung dessen, was sie ändern möchte und was ihr trotzdem nicht immer gelingt; – um nicht aufzugeben. Leider hat die Geschichte kein Happy End. Im Laufe des zweiten Jahres der Therapie entwickeln sich Tics bei Jonas. Die Mutter ist (wieder einmal) alarmiert, aber jetzt stellt das Jugendamt die weitere Finanzierung der Therapie ein. Die Möglichkeit, den etablierten therapeutischen Kontakt nutzen zu können, wird nicht wahrgenommen, stattdessen wird der Mutter empfohlen, mit Jonas einen Facharzt aufzusuchen. Bei weitergehendem Unterstützungsbedarf wäre ein Elternkurs bei der VHS vielleicht hilfreicher: »Sie müssen die Ratschläge auch umsetzen – was sollen wir denn sonst noch alles für Sie tun!«
Fazit Systemische Kinder- und Jugendlichentherapeuten sollten in der Lage sein, die Auswirkung dieser Prozesse in jedem Einzelfall im Sinne eines erweiterten Kontextverständnisses in den Blick zu nehmen. – In der Anfangsphase von Therapie werden sie so in die Lage versetzt, eigene Erwartungen an die Klienten und in der Folge gebildete Zuschreibungen in einer Struktur höherer Komplexität zu reflektieren. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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– Die Berücksichtigung der vorgestellten Prozesse könnte die Wahrscheinlichkeit verringern, im therapeutischen Handeln durch die unreflektierte Übernahme neoliberaler Grundsätze gesellschaftliche Prozesse der Ausstoßung und Traumatisierung fortzusetzen. – Für den Verlauf von Therapien ist bei traumatisierenden Lebenserfahrungen die Notwendigkeit von längerfristiger Stabilisierung, die Wahrscheinlichkeit komplizierterer Therapieverläufe sowie die Möglichkeit von fortgesetzter Traumatisierung bei anhaltenden Auslösefaktoren zu erwarten. Darüber hinaus ist typischerweise eine eingeschränkte Möglichkeit zu erwarten, eigene Zielvorstellungen und Aufträge umzusetzen. Infolgedessen erscheint es manchmal mühselig, ist aber doch unumgänglich, die Klient/ -innen darin zu unterstützen, an ihren Zielen festzuhalten und nicht aufzugeben in ihrem Veränderungsbemühen. – Systemische Therapie im ambulanten Setting bietet im Zusammenhang mit dazu passenden traumaspezifischen Vorgehensweisen (z. B. PITT nach Reddemann, 2003) gute Möglichkeiten der therapeutischen Unterstützung für Familien mit ko-traumatischen Beziehungsmustern. Zusätzlich können nach unserer Erfahrung im Einzelfall komplementäre Maßnahmen im Alltag (wie Sozialpädagogische Familienhilfe) sowie zeitweise stationäre Unterstützung angebracht sein.
Literatur Anderson, H., Goolishian, H. (1992). Der Klient ist Experte: Ein therapeutischer Ansatz des Nichtwissens. Zeitschrift für Systemische Therapie, 10, 176–209. Becker, D. (2006). Die Erfindung des Traumas – verflochtene Geschichten. Freiburg: Edition Freitag. Bianchi, R. (2003). Neoliberalismus als soziopsychischer Traumatisierungsprozess. Zeitschrift für Psychotraumatologie und Psychologische Medizin 1, 51–64. Boumann, H. (2008). Diagnose »Störung des Sozialverhaltens«. Kinder- und Jugendpsychiatrie unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen. Gießen: Psychosozial-Verlag Bronfenbrenner, U. (1981). Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Natürliche und geplante Experimente. Stuttgart: Klett-Cotta.
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Butterwegge, C. (2008). Kinderarmut in einem reichen Land – ein Armutszeugnis für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. http://www.uni-koeln.de/ew-fak/seminar/sowi/politik/butterwegge/pdf/Kinderarmut3.pdf [Zugriff: 01. 09. 2008] Butterwegge, C., Lösch,B.; Ptak, R. (Hrsg.) (2008). Neoliberalismus. Analysen und Alternativen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Duchrow, U., Bianchi, R., Krüger, R., Petracca, V. (2006). Solidarisch Mensch werden. Psychische und soziale Destruktion im Neoliberalismus – Wege zu ihrer Überwindung. Hamburg: VSA-Verlag. Fischer, G., Riedesser, P. (1998). Lehrbuch der Psychotraumatologie. München: Ernst Reinhardt Verlag. Gast, U. (2002). Dissoziative Identitätsstörungen im Gesundheitswesen. Zwischen struktureller Retraumatisierung und strukturierender Hilfe zur Genesung. In I. Özkan, A. Streeck-Fischer, U. Sachsse (Hrsg.), Trauma und Gesellschaft. Vergangenheit in der Gegenwart (S. 127–138). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Grabbe, M. (2001). Kooperation mit kleinen Kindern in Therapie und Beratung. In A. von Schlippe, G. Lösch, C. Hawellek (Hrsg.), Frühkindliche Lebenswelten und Erziehungsberatung. Die Chancen des Anfangs (S. 220–240). Weinheim: Beltz. Hurrelmann, K. (1990). Familienstreß, Schulstreß, Freizeitstreß. Gesundheitsförderung für Kinder und Jugendliche. Weinheim: Beltz. Jahoda, M., Lazarsfeld, P., Zeisel, H. (1933/1975). Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit. Frankfurt a. M.: Edition Suhrkamp. Jantzen, W. (1999). Aspekte struktureller Gewalt im Leben geistig behinderter Menschen. Versuch, dem Schweigen eine Stimme zu geben In M. Seidel, K. Hennicke (Hrsg.), Gewalt im Leben von Menschen mit geistiger Behinderung(S. 45–65). Reutlingen: Diakonie-Verlag. Keilson, H. (1979). Sequenzielle Traumatisierung bei Kindern. Stuttgart: KlettCotta. Keupp, H. (1999). Riskantes Heranwachsen im gesellschaftlichen Umbruch: Eine salutogenetische Perspektive. Vortrag am 3. 12. 1999 in Innsbruck http:// www.ipp-muenchen.de/texte/riskantes_heranwachsen_im_gesellschaftlichen_umbruch.pdf Zugriff: 01. 02. 2012 Kleve, H. (2005). Der systemtheoretische Konstruktivismus: eine postmoderne Bezugstheorie sozialer Arbeit. In H. Hollstein-Brinkmann, S. Staub-Bernasconi, S. (Hrsg.), Systemtheorien im Vergleich – Was leisten Systemtheorien für die Soziale Arbeit? (S. 63–92). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Negt, O. (2001). Arbeit und menschliche Würde. Göttingen: Steidl-Verlag. Pleyer, K. H. (2004). Co-traumatische Prozesse in der Eltern-Kind-Beziehung. Systhema 2, 132–149. Reddemann, L. (2003). Psychodynamisch imaginative Traumatherapie (PITT). ZPPM 1/2, 1–8.
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Retzlaff, R. (2008). Spiel-Räume. Lehrbuch der systemischen Therapie mit Kindern und Jugendlichen. Stuttgart: Klett-Cotta. Schindler, H. (2009). Arbeitslosigkeit, Armut, Depression und Psychotherapie. Systhema 2, 179–188. Welter-Enderlin, R. (2007). Arbeit, Arbeitslosigkeit und Familie. Vortrag 25. 04. 2003 bei den 53. Lindauer Psychotherapiewochen.
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Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit und Demokratiedistanz junger Menschen Begleiterscheinung einer Ökonomisierung des Sozialen und der Etablierung von Ellenbogenmentalitäten? Peter Wetzels
Fragestellung Dieser Beitrag greift das Problem der Verbreitung unterschiedlicher Formen der Intoleranz unter jungen Menschen auf. Diese werden mitunter auch als rechtsextreme Einstellungen bezeichnet, wiewohl dieser Begriff recht unscharf erscheint und besser stärker im Hinblick auf die damit verbundenen Haltungen und Zielgruppen konkretisiert betrachtet werden sollte (vgl. Klein u. Heitmeyer, 2012). Im Zentrum der Analysen stehen im Folgenden Demokratiedistanz und Autoritarismus einerseits sowie Fremdenfeindlichkeit andererseits. Neben einer Beschreibung der Verbreitung und sozialen Verortung solcher Formen der Intoleranz unter jungen Menschen im Land Bremen wird auch die Frage nach möglichen Erklärungshintergründen aufgegriffen. Aus dem Umstand, dass Verbreitung und Hintergründe von Formen der Intoleranz und ausgrenzender, rechtspopulistischer Haltung speziell bei jungen Menschen hier aufgegriffen werden, ist freilich nicht zu folgern, dass diese nur dort oder auch vordringlich in diesem Alterssegment ein Problem wären. Wie zahlreiche Studien gezeigt haben, so z. B. die seit zehn Jahren andauernden Längsschnittuntersuchungen zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (vgl. Heitmeyer, 2012a) oder auch die wiederholten Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung zum Thema Rechtsextremismus (vgl. Decker, Brähler, Weißmann u. Kiess, 2010), ist das Potenzial solcher Haltungen bei Erwachsenen, insbesondere älteren Menschen, zum Teil ungleich größer. Junge Menschen sind indessen wohl eher bereit und fähig, solche Vorurteile auch in Handeln umzusetzen. Insbesondere vor dem Hintergrund ihrer Prägbarkeit und Erreichbarkeit über © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Schulen und andere Sozialisationsinstanzen stellen sie zudem eine unter präventiven Gesichtspunkten besonders bedeutsame Gruppe dar. Gerade hier gilt die Formulierung des »wehret den Anfängen« in einer pädagogischen Wendung in besonderer Weise. Insofern bedürfen wir gerade hier auch eines differenzierten Wissens über Verbreitung, Formen und Hintergründe, wozu auch kriminologische Forschung methodisch wie theoretisch Beiträge zu leisten vermag, wie im Folgenden zu zeigen sein wird.
Ökonomisierung, Ellenbogenmentalitäten und Intoleranz: Theoretische Vorüberlegungen Ausgangspunkt der folgenden Analysen sind – jenseits der Tagesaktualität(en) skandalträchtiger Feststellungen von bedrohlichen Varianten des Rechtsextremismus und damit assoziierter Terrorbedrohungen bzw. darauf bezogener Sicherheitsbemühungen und hektischer Betriebsamkeiten, die schnell wieder auch aus dem Fokus der Aufmerksamkeit zugunsten anderer Skandale verschwinden können – in den letzten 10 bis 15 Jahren zu registrierende nachhaltige gesellschaftliche Veränderungen. Diese lassen sich als eine zunehmende Etablierung von Leistungs- und Verwertungsorientierungen in verschiedensten gesellschaftlichen Sphären beschreiben. Es sind Phänomene, die recht treffend als eine Ökonomisierung des Denkens charakterisiert und als Entwicklung »ökonomistischer Einstellungen« beschrieben wurden (Heitmeyer u. Endrikat, 2008; Groß, Gundlach u. Heitmeyer, 2010). Dies geht anscheinend einher mit einer wachsenden Bereitschaft zur Exklusion von Minderheiten und Schwächeren in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen sowie mit einer sinkenden Bereitschaft zu Fürsorge und Solidarität. Gleichzeitig ist die gesellschaftliche Gesamtlage in mehrfacher Hinsicht gekennzeichnet durch Phänomene, die als »Entsicherung« bezeichnet werden können (Heitmeyer, 2012b), d. h. des partiellen Verlustes wohlfahrtstaatlicher Absicherungsgewissheiten wie auch der Vermehrung gesellschaftlicher Platzierungsunsicherheiten. Es findet sich eine Verunsicherung nicht nur im Hinblick auf die materielle Lebensgrundlage, sondern auch bezogen auf Anerkennung, soziale Zugehörigkeit und sozialen Status. Diese gesellschaftlichen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Phänomene auf der Makroebene können auf individueller Ebene Ängste und Bedrohungsgefühle auslösen und den sozialen Zusammenhalt in Frage stellen (Grau, Groß u. Reinecke, 2012). In der Kriminologie wird diese Problematik mit Bezug zu den Auswirkungen solcher gesamtgesellschaftlicher Prozesse auf Kriminalität und Gewalt auf der Makroebene in der Theorie der institutionellen Anomie (Messner u. Rosenfeld, 2007) aufgegriffen. Messner und Rosenfeld nehmen darin den sogenannten »American dream«, die Leitvorstellung von der Option des individuellen Erfolgs für alle im Wege der Durchsetzung im Wettbewerb, die Bewertung des Individuums am Maßstab dieses primär in materiellen und wirtschaftlichen Erträgen auszudrückenden Erfolges, kritisch in den Blick. Sie thematisieren dessen problematische Implikationen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wesentlich ist hier die Wirkung, die solche Entwicklungen auf der Ebene gesellschaftlicher Leitvorstellungen und Werte für die Funktionsfähigkeit sogenannter intermediärer Institutionen (z. B. Schule, Familie, Vereine etc.) haben. Darüber vermittelt sind Effekte im Sinne gesellschaftlicher Desintegration und anomischer Zustände anzunehmen. So sehen Messner und Rosenfeld die Gefahr, dass die sozial-integrative Kraft von Bildung, Erziehung, aber auch von Kultur ebenso wie die sozialisierenden Wirkungen von Familien, Vereinen und Nachbarschaften verloren zu gehen drohen, wenn diese Sphären von einer ihnen eigentlich fremden Marktlogik der Verwertbarkeit und wirtschaftlichen Nützlichkeit, des Profits, des monetären Ertrags, der individuellen Leistung und der Ideologie bzw. gar der Maxime der legitimen Durchsetzung des Stärkeren durchdrungen werden. In dieser Hinsicht wurden in jüngster Zeit Theorien gesellschaftlicher Entwicklungen auf der Makroebene mit Prozessen auf der Mesoebene der intermediären Institutionen sowie der Mikroebene der Individuen, ihre Einstellungen und Handlugen als personale Akteure, in den Blick genommen (Messner, 2012), die auch in psychologischer Hinsicht hoch bedeutsam erscheinen. Die dazu von Messner und Rosenfeld vorgelegten Analysen potenziell desintegrierender Prozesse lassen sich auch auf in Deutschland zu erkennende Entwicklungen übertragen, so z. B. auf die Befunde der Forschergruppe um Heitmeyer (2012a) für Deutschland über einen Zeitraum von zehn Jahren. Es geht um Entwicklun© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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gen, die Bildung und Erziehung betreffen, vor allem Schulen und Universitäten. Dies gilt aber auch in anderen Feldern, in denen es um Gemeinwesenarbeit und Kultur geht. Reduzierungen der Bereitschaft zu wohlfahrtsstaatlichen Leistungen oder von Aufwendungen zur Integration von Schwächeren gehören ebenso zu derartigen Phänomenen wie Veränderungen im Umgang mit Langzeitarbeitslosen, Obdachlosen oder allgemein der Haltungen zu und Bewertungen von Menschen, die von Sozial- und Transferleistungen abhängig sind. Sie manifestieren sich ferner in der Reduktion von Leistungen der Gesundheitsfürsorge oder der Pflege und Betreuung alter Menschen vor dem Hintergrund einer prioritären Betrachtung unter ökonomischen Nützlichkeitskalkülen. Eines der zentralen Themen, mit denen ich mich in unterschiedlichen Forschungsvorhaben gemeinsam mit Mitarbeitern und Kollegen befasse, betrifft in diesem Sinne das Zusammenspiel von Entwicklungen auf der gesellschaftlichen Makroebene, dort beobachtbare Prozesse der Individualisierung, Entsolidarisierung und Ökonomisierung und deren Niederschlag, teilweise unbewusst und quasi hinter dem Rücken der Beteiligten, in individuellen Haltungen und Einstellungen – u. a. bei jungen Menschen. Dies betrifft sowohl den Bereich der Einstellungen zu Kriminalität und Strafe, die Analyse von »Punitivität«, verstanden als eine Neigung, auf Normabweichung mit exkludierenden, harten Maßnahmen zu reagieren und gerade nicht mit Ausgleich oder dem Bemühen um soziale Inklusion. Dies betrifft aber auch Formen der Kriminalität sowie, abseits dessen bzw. eher allgemeiner, den Umgang mit Andersartigkeit, mit Vielfalt und den Haltungen zu Prozessen der Verständigung und des sozialen Ausgleichs, auch in politischer Hinsicht. Dies steht im Weiteren im Mittelpunkt.
Untersuchungsleitende Fragen und Hypothesen Eine der leitenden theoretischen Annahmen der hiermit vorgelegten Studie lautet, dass unter Bedingungen zunehmender Ökonomisierung wichtige Institutionen der Sozialisation und der Herstellung von sozialer Integration ihre Funktionsfähigkeit – zumindest partiell – einbüßen und für die Absicherung von Werten wie Solidarität und © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Fairness, Toleranz, Fürsorge und Anteilnahme weniger zur Verfügung stehen. In einer solchen Konstellation droht auf individueller Ebene die vermehrte Entwicklung von Haltungen, die man als »Ellenbogenmentalität« bezeichnen kann. Es handelt sich um Einstellungen und Wertorientierungen, die dem Motto folgen, dass der Erfolg alles, der Weg dahin aber, vor allem die dabei im Durchsetzungsprozess ausgestochenen Anderen, die »Opfer« des Wettbewerbs also, unbedeutend, unwichtig oder legitimerweise ausgegrenzt, weil einfach nur schwächer sind. Es ist ein Blick auf »schwache« Personen und Außenseiter als »Schmarotzer« bzw. »Versager«, die Zugehörigkeit und Unterstützung nicht verdient zu haben scheinen. Dem liegen »Ungleichwertigkeitsideologien« zugrunde, die basale Einsichten in die Gleichheit von Menschen, deren Freiheitsrechte und Würde so nicht teilen. Eben solche Ungleichwertigkeitsvorstellungen stellen den Kern und die Basis von Haltungen dar, die wir gerade in der letzten Zeit zunehmend als ein Problem unter dem Begriff des Rechtsextremismus thematisieren. Im Folgenden wird analysiert, in welchem Umfang derartige Haltungen unter Bremer Jugendlichen verbreitet sind. Neben einer Beschreibung des Umfangs solcher Einstellungen wird auch untersucht, in welchem Maße sich derart definierte Formen von Ungleichwertigkeitsideologien in Verbindung mit einer hohen Gewaltakzeptanz finden. Diese stellen eine besondere Herausforderung für Prävention und ein spezifisches Risikopotenzial dar. Weiter wird die Frage verfolgt, inwieweit sich die Annahme, dass zunehmende Konkurrenzorientierung und Durchsetzungsbereitschaft einen wichtigen Hintergrund derartiger Formen der Intoleranz darstellen, empirisch abstützen lässt. Die Hypothese lautet, dass Einstellungen im Sinne von Ellenbogenmentalitäten, über mögliche Effekte sozialstruktureller Merkmale wie Bildung und über die Effekte einer allgemeinen Gewaltakzeptanz hinaus, für die Erklärung von Fremdenfeindlichkeit auch multivariat einen wichtigen Erklärungswert besitzen.
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Peter Wetzels
Erhebungsmethode und Stichprobe Die Daten für die hier vorgelegten Analysen stammen aus einer kriminologischen Dunkelfeldstudie, die in Bremen durchgeführt wurde. Im Rahmen standardisierter Befragungen repräsentativer Stichproben von Schulklassen in den Städten Bremen und Bremerhaven wurden bei Schülerinnen und Schülern der 7. und 9. Jahrgangsstufe zum Schulhalbjahrswechsel 2008/2009 Daten zu Opfererfahrungen, Anzeigeverhalten, Tathandeln, Einstellungen in Bezug auf Normen und Werte sowie zu familiären Hintergründen und zur sozialen Lage junger Menschen erhoben. Begrenzt auf Jugendliche der 9. Jahrgangsstufe erfolgte auch eine Erhebung fremdenfeindlicher Einstellungen sowie von Haltungen zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freiheitsrechten im Sinne von Demokratiedistanz und Autoritarismus. Auf Basis einer nach Schulform und regionaler Verteilung stratifizierten Zufallsstichprobe von Schulklassen wurden in den 9. Jahrgangsstufen insgesamt N = 1.364 Schülerinnen und Schüler mit dieser Befragung erreicht. Die Rücklaufquoten waren in Bremen (n = 1.075) mit 82,5 % der in den erreichten Klassen beschulten Jugendlichen und in Bremerhaven (n = 379) mit 77,0 % sehr zufriedenstellend. Die Verteilung über Stadtteile und Bildungsstufen entspricht recht gut den Verhältnissen in den Grundgesamtheiten. 54,0 % der Befragten sind männlich und 46,0 % weiblich. Das Durchschnittsalter liegt bei 14.8 Jahren (min. = 13 J.; max. = 18 J.). 56,5 % der Befragten (n = 765) sind einheimische Deutsche. Weitere 26,6 % (n = 360) sind Migranten mit einem deutschen Pass (deutsche Staatsangehörige mit Migrationshintergrund); 16,9 % (n = 228) sind Migranten mit einer anderen als der deutschen Staatsangehörigkeit (ausländische Jugendliche). Von den n = 588 Jugendlichen mit Migrationshintergrund sind n = 159 (11,7 % der Stichprobe) nicht in Deutschland geboren (also Migranten der ersten Generation). Die Übrigen sind in Deutschland geboren, d. h., bei ihnen handelt es sich um Migranten der zweiten oder späterer Generationen (N = 429; 31,7 % der Stichprobe der 9. Jahrgangsstufe). In der Stichprobe besuchen 10,9 % der Jugendlichen eine Förderschule; weitere 28,8 % eine Sekundarschule, 24,3 % eine Gesamtschule und 39,9 % der Schülerinnen und Schüler besuchen ein Gymnasium. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit und Demokratiedistanz junger Menschen
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Die Erfassung von Ellenbogenmentalitäten: Das hierarchische Selbstinteresse Nach den theoretischen Vorüberlegungen sollte die Verbreitung von individualistischen, die eigene rücksichtslose Durchsetzung favorisierenden Einstellungen im Sinne von »Ellenbogenmentalitäten« ein wesentlicher Aspekt der Beförderung von Ungleichwertigkeitsideologien sein, darunter auch fremdenfeindliche Haltungen sowie demokratiedistante, autoritaristische Einstellungen. Hagan, Hefler, Classen und Boehnke (1998) haben zur Erfassung solcher Haltungen – die Präferenz für rücksichtslose Selbstdurchsetzung auf Kosten Dritter auf individueller Ebene – ein Konstrukt vorgeschlagen, das sie als »Hierarchisches Selbstinteresse« (HSI) bezeichnen (siehe auch Hadjar, 2004). Sie definieren HSI als eine Dominanzideologie, die mehrere Dimensionen individueller Orientierungen im Sinne eines Faktors zweiter Ordnung zusammenfasst. Bei diesen Subdimensionen handelt es sich um Konkurrenzorientierung, Leistungs- und Erfolgsorientierung sowie Individualismus, letzterer verstanden als sozial desintegrativer Individualismus in Form einer Ignoranz gegenüber den Interessen anderer Menschen. Als vierte Dimension hat Hadjar (2004) die Einbeziehung von Machiavellismus vorgeschlagen. Es handelt sich dabei um eine Subskala, die instrumentelle Erfolgsorientierung, Dominanzstreben und Egoismus thematisiert (siehe auch Thome u. Birkel, 2007, S. 346). Empirisch konnte gezeigt werden, dass HSI mit Delinquenz, anomischer Amoralität und der Akzeptanz von Ungleichheit korreliert ist (Hagan et al., 1998). Weiter finden sich Zusammenhänge zwischen Machiavellismus und egoistischem Individualismus einerseits und Gewaltakzeptanz andererseits (vgl. Thome u. Birkel, 2007). Hadjar (2004) berichtet für Deutschland ferner, dass ein Zusammenhang zwischen HSI und Fremdenfeindlichkeit besteht. Im Einklang damit konnten auch Baier, Pfeiffer, Simonson und Rabold (2009) auf Basis mehrerer 2005 in verschiedenen deutschen Städten durchgeführter Schülerbefragungen zeigen, dass hierarchisches Selbstinteresse signifikant positiv mit Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit assoziiert war. Zur Messung des Hierarchischen Selbstinteresses waren den © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Peter Wetzels
Jugendlichen Fragen vorgelegt worden, die sich auf die Dimensionen Machiavellismus, Konkurrenzorientierung, Leistungsorientierung und Durchsetzung zu Lasten Schwächerer (Sozialdarwinismus) beziehen. Die Items stammen zum Teil aus den Studien von Hagan et al. (1998), Hadjar (2004) sowie Rabold, Baier und Pfeiffer (2009). Einige Items wurden vor dem Hintergrund theoretischer Überlegungen sowie früherer Studien (Brettfeld u. Wetzels, 2007) selbst entwickelt. Die folgenden Analysen werden auf jene beiden Subskalen begrenzt, die theoretisch einen starken Bezug zu Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit aufweisen sollten: Machiavellismus und Sozialdarwinismus. »Machiavellismus« wurde mit fünf Items erfasst. Gemessen wird damit ein Einstellungsmuster, in dem persönlicher Erfolg und Nutzen höher eingestuft werden als die Einhaltung von Regeln und Gesetzen. Erfolgsstreben um jeden Preis wird propagiert, auch auf Kosten Dritter, also genau das, was mit Ellenbogenmentalität im Alltag bezeichnet werden kann. Tabelle 1: Verteilung der Items der HSI-Subskala »Machiavellismus« stimme gar nicht zu
stimme eher nicht zu
teils/ teils
stimme eher zu
stimme völlig zu
MW
Ich will viel Geld machen, selbst wenn ich dafür manchmal die Regeln brechen muss.
22,9 %
31,1 %
23,1 %
11,4 %
8,4 %
2.45
Unehrlich zu sein ist in Ordnung, wenn man damit Erfolg hat.
35,5 %
31,1 %
21,5 %
6,7 %
5,2 %
2.15
Es ist wichtiger, im Leben weiter zu kommen, als nach den Regeln zu spielen.
21,6 %
27,6 %
27,9 %
13,6 %
9,4 %
2.62
Es ist nicht wichtig wie man gewinnt, sondern dass man gewinnt.
26,6 %
29,0 %
26,5 %
9,4 %
8,5 %
2.44
Es ist in Ordnung, auch mal das Gesetz zu brechen, wenn es einem persönlich wirklich nützt.
29,7 %
28,1 %
23,6 %
10,7 %
7,8 %
2.39
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Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit und Demokratiedistanz junger Menschen
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Auf der Ebene der Einzelitems findet sich bei den befragten Jugendlichen die geringste Zustimmung für die Aussage »Unehrlich zu sein ist in Ordnung, wenn man damit Erfolg hat« (11,9 %). Die höchste Zustimmung erfährt die Aussage »Es ist wichtiger, im Leben weiterzukommen, als nach den Regeln zu spielen« (23,0 %) (vgl. Tab. 1). Die aus diesen Items gebildete Skala erweist sich als einfaktoriell und intern konsistent (α = .86). Der Mittelwert der Skala liegt bei MW = 2.41 (SD = .97). 13,1 % (N = 157) der Jugendlichen erreichen in dieser Skala einen Wert von über 3,5, was als eine stark ausgeprägte Einstellung in dem hier gemessenen Sinne einer rücksichtslosen Durchsetzungsbereitschaft zu bezeichnen ist. Zur Erfassung von »Sozialdarwinismus« wurden vier Items verwendet. Diese thematisieren soziale Ausgrenzung von Schwachen und deren Schädigung mit Verweis auf einen vermeintlichen inferioren Status. Es finden sich hier deutlich niedrigere Zustimmungsraten als zum Machiavellismus. Am geringsten ist die Akzeptanz des Items »Ich finde es richtig, wenn die Starken siegen und die Schwachen verlieren« mit 7,4 %. Am höchsten ist die Zustimmung zu dem Item »Wer sich von anderen ausnutzen lässt, ohne es zu merken, verdient kein Mitleid« mit 13,3 % (vgl. Tab. 2). Tabelle 2: Verteilung der Items der HSI-Subskala »Sozialdarwinismus« stimme gar nicht zu
stimme eher nicht zu
teils/ teils
stimme eher zu
stimme völlig zu
MW
Es ist für alle gut, wenn sich nur die Besten und die Stärksten durchsetzen.
35,1 %
29,0 %
28,4 %
3,5 %
4,0 %
2.12
Ich finde es richtig, wenn die Starken siegen und die Schwachen verlieren.
48,8 %
28,1 %
15,6 %
4,4 %
3,0 %
1.85
Dumme verdienen es, wenn andere sie ausnutzen.
44,5 %
27,2 %
17,8 %
5,5 %
5,0 %
1.99
Wer sich von anderen ausnutzen lässt, ohne es zu merken, verdient kein Mitleid.
29,6 %
30,2 %
27,0 %
7,3 %
6,0 %
2.30
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Peter Wetzels
Die aus diesen Items gebildete Skala ist eindimensional und mit α = .75 zufriedenstellend reliabel. Die Skala hat einen Mittelwert von MW = 2.07 (SD = .83), ist also nach links verschoben in Richtung auf eher geringere Zustimmung. Eindeutig hohe Werte (Skala > 3.5) weisen in dieser Skala 6,6 % (N = 79) der Stichprobe auf. Machiavellismus und Sozialdarwinismus sind untereinander positiv korreliert (r = .65). Beide Skalen thematisieren, wenn auch mit unterschiedlicher Akzentuierung, Rücksichtslosigkeit zu Lasten Dritter. Machiavellismus ist bei männlichen Jugendliche (MW = 2.64) signifikant höher als bei weiblichen (MW = 2.15; t = –8.98; df = 1192; p < .001). Gleiches gilt für die Skala Sozialdarwinismus (MWm = 2.27, MWw = 1.83; t = –9.68; df = 1172.08; p < .001). Auch das Bildungsniveau der Schülerinnen und Schüler hat einen signifikanten Effekt: (Machiavellismus: F[3,1202] = 10.91, p < .001; Sozialdarwinismus: F[3,1197] = 9.81, p < .001): Je höher das Bildungsniveau, desto geringer sind die Skalenwerte.
Einstellungen zu Gewalt: Zum Potenzial Gewalt akzeptierender Jugendlicher Im Hinblick auf die Frage, in welchem Umfang die in dieser Studie fokussierten Phänomene von Fremdenfeindlichkeit und Demokratiedistanz in Verbindung mit Gewaltbereitschaft auftreten, waren auch Daten zu Gewalteinstellungen im Sinne von Gewaltakzeptanz und -bereitschaft in die Analysen einzubeziehen. Dazu wurden drei unterschiedliche Facetten der Einstellungen zu Gewalt fokussiert. Neben (1) der Akzeptanz eines instrumentellen Einsatzes von Gewalt, so u. a. im Kontext z. B. von Aneignungsdelikten, wurde (2) erfasst, inwieweit Gewalt als Form des Lustgewinns, als Risikosuche, als »Gewalt aus Spaß« positiv bewertet wird. Eine weitere Form der Einstellungen zu Gewalt (3) wird anknüpfend an Anderson (1999) als »Code of the Street« (CoS) bezeichnet. Anderson (1999) postuliert, dass unter sozial prekären Bedingungen Gewalt zu einer überlebenswichtigen Ressource werden kann. Das Konzept »Ehre« bzw. das Insistieren auf »Respekt« stellt unter solchen Umständen eine subjektive Legitimation dar, nicht nur defensiv, sondern auch präventiv, proaktiv Gewalt zu praktizieren. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit und Demokratiedistanz junger Menschen
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Dem »Code of the Street« folgend hat eine Person auf Provokationen oder auch nur geringe Anzeichen von Missachtung mit Gewalt zu reagieren, will sie nicht das Risiko eingehen, selbst Opfer zu werden bzw. ihren sozialen Status als zu respektierende, durchsetzungsfähige Person zu verlieren. Im Einklang damit konnte mehrfach gezeigt werden, dass positive Bewertungen von Gewalt in besonderem Maße bei solchen jungen Männern zu finden sind, die mit Bedingungen von Perspektivlosigkeit, sozialer Exklusion und der Erfahrung, in der Gesellschaft kaum Anerkennung finden zu können, konfrontiert sind (Enzmann, Brettfeld u. Wetzels, 2004; Block, 2009; Baier, Pfeiffer, Rabold, Simonson u. Kappes, 2010). Zur Erfassung von CoS wurde eine aus sieben Items bestehende Einstellungsskala entwickelt (siehe Tab. 3). Zwischen 5,5 % und 28,4 % der befragten Jugendlichen stimmen den vorgelegten Aussagen eindeutig zu. Tabelle 3: Einstellungsskala »Code of the Street« (CoS) stimme gar nicht zu
stimme eher nicht zu
stimme eher zu
stimme völlig zu
MW
Jemand, der sich nicht traut, seine Rechte mit körperlicher Gewalt zu verteidigen, verdient keinen Respekt.
62,0 %
24,3 %
8,2 %
5,5 %
1.57
Wenn man verächtlich behandelt wird, muss man mit körperlicher Gewalt klarmachen, dass man respektiert werden möchte.
41,7 %
30,3 %
20,1 %
7,8 %
1.94
Wenn man den Leuten nicht zeigt, dass man hart im Nehmen ist, wird man von ihnen ausgenutzt.
31,2 %
29,3 %
25,9 %
13,7 %
2.22
Wer hart und aggressiv ist, wird von anderen respektiert.
40,5 %
24,2 %
22,9 %
12,4 %
2.07
Wenn jemand Gewalt gegen einen anwendet, ist es wichtig, das mit gleicher Münze zurückzuzahlen, um es nicht auf sich sitzen zu lassen.
32,9 %
30,1 %
22,9 %
14,0 %
2.18
Manchmal ist es nötig, andere zu bedrohen, damit sie einen fair behandeln.
46,3 %
29,4 %
17,9 %
6,3 %
1.84
Es ist wichtig, anderen zu zeigen, dass man sich nicht einschüchtern lässt.
16,0 %
20,9 %
34,7 %
28,4 %
2.76
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Peter Wetzels
Es handelt sich um eine eindimensionale Skala, die mit = .85 zufriedenstellend reliabel ist. Sie hat einen Gesamtmittelwert von MW = 2.08 (SD = .72). Die Skala »expressive Gewalt« (Gewalt aus Spaß) besteht aus sieben Items. Zwischen 2,4 % und 12,6 % äußern sich hier eindeutig befürwortend zu den formulierten Aussagen (siehe Tab. 4). Auch diese Skala ist einfaktoriell sowie mit α = .87 zufriedenstellend reliabel. Die Gesamtskala hat einen Mittelwert von MW = 1.74 (SD = .67). Tabelle 4: Einstellungsskala »expressive Gewalt« stimme gar nicht zu
stimme eher nicht zu
stimme eher zu
stimme völlig zu
MW
Man muss zu Gewalt greifen, weil man nur so beachtet wird.
56,7 %
30,3 %
10,0 %
2,9 %
1.59
Ohne Gewalt wäre alles viel langweiliger.
53,9 %
27,5 %
14,0 %
4,7 %
1.70
Es ist in Ordnung, wenn Jugendliche sich aus purer Lust und Laune mal gegenseitig prügeln.
47,3 %
28,9 %
16,4 %
7,4 %
1.84
Ein bisschen Gewalt gehört einfach dazu, um Spaß zu haben.
49,4 %
28,0 %
17,3 %
5,3 %
1.79
Es ist ein geiles Gefühl, jemanden einfach so aus Spaß mal zusammenzuschlagen.
73,7 %
18,0 %
5,9 %
2,4 %
1.37
Auge um Auge, Zahn um Zahn, so ist nun mal das Leben.
37,3 %
30,9 %
19,2 %
12,6 %
2.07
Wenn ich zeigen muss, was ich drauf habe, würde ich auch Gewalt anwenden.
48,0 %
28,2 %
14,8 %
9,0 %
1.85
Schließlich wurde aus zwei Items eine Kurzskala zur Erfassung von Einstellungen bezogen auf aneignungsmotivierte, instrumentelle Gewalt gebildet (vgl. Tab. 5). 11,2 % stimmen der Aussage zu, dass man auch bereit sein muss, Gewalt anzuwenden, um an Reichtum zu kommen; etwa genauso viele Jugendlichen meinen, dass man auch mal zu Gewalt greifen darf, um an Geld zu kommen, wenn es gar nicht anders geht. Der Mittelwert dieser Kurzskala liegt bei MW = 1.48 (SD = .70).
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Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit und Demokratiedistanz junger Menschen
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Tabelle 5: Einstellung zu »instrumenteller Gewalt« stimme gar nicht zu
stimme eher nicht zu
stimme eher zu
stimme völlig zu
MW
Um an Reichtum zu kommen, muss man auch bereit sein, Gewalt anzuwenden.
66,3 %
22,4 %
7,7 %
3,5 %
1.49
Wenn es gar nicht anders geht, darf man auch mal zu Gewalt greifen, um an Geld zu kommen.
66,1 %
23,2 %
7,0 %
3,8 %
1.48
Wie theoretisch vermutet sind diese drei Varianten gewaltbezogener Einstellungen zwar interkorreliert, jedoch keinesfalls deckungsgleich: Die Skala CoS korreliert am stärksten mit den Einstellungen zu expressiven Formen der Gewalt (r = .79), mit instrumenteller Gewalt ist der Zusammenhang deutlich schwächer (r = .60). Die Korrelation expressiver und instrumenteller Gewalt beträgt r = .71. Das indiziert, dass Gewalteinstellungen im Sinne des »Code of the Street« in erster Linie soziale Dominanz bzw. Gewalt als Zeichen von Stärke und Modus der Herstellung von Anerkennung und Respekt, ganz im Sinne des Konstrukts, betreffen, weniger hingegen die Bereicherung zu Lasten Dritter. Bivariat zeigt sich ferner ein eindeutiger Zusammenhang mit dem Bildungsniveau der Jugendlichen: Instrumentelle Gewalt (F[3,1355] = 11.09; p < .001), expressive Gewalt (F[3,1360] = 18.36; p < .001) wie auch CoS (F[3,1357] = 15.06; p < .001) sind umso stärker ausgeprägt, je bildungsferner die Jugendlichen sind. Alle drei Formen der Gewalt befürwortenden Einstellungen sind zudem bei weiblichen Jugendlichen signifikant geringer (p 2.5) dichotomisiert. Danach erweisen sich 6,8 % als klar instrumentelle Gewalt akzeptierend, 14,0 % als expressive Gewalt akzeptierend und 29,2 % als Gewaltlegitimationen im Sinne des Code of the Street vertretend. Diese Raten sind jeweils für Jungen am höchsten: Für CoS finden sich 37,7 % Akzeptanz bei Jungen gegenüber 20,6 % bei Mädchen. Expressive Gewalt befürworten 19,4 % der Jungen und 7,8 % der Mädchen. Akzeptanz aneignungsmotivierter Gewalt findet sich bei © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Peter Wetzels
10,8 % der Jungen und 2,3 % der Mädchen. 31,4 % aller Jugendlichen sind in mindestens einer der drei untersuchten Skalen als Gewalt akzeptierend einzustufen (Jungen 39,5 %; Mädchen 21,5 %). Das Potenzial der Gewaltakzeptanz umfasst somit in Bremen etwa ein Drittel der Jugendlichen. Wie theoretisch erwartet, finden sich ferner signifikante Zusammenhänge Gewalt befürwortender Einstellungen mit Skalen zur Messung von Ellenbogenmentalitäten (siehe Tab. 6). Tabelle 6: Korrelationen (Pearson r) der Subskalen des hierarchischen Selbstinteresses und der Einstellungen zu Gewalt (9. Jahrgangsstufe) expressive Gewalt
instrumentelle Gewalt
Code of the Street
Machiavellismus
.53
.48
.48
Sozialdarwinismus
.51
.45
.47
Verbreitung von Demokratiedistanz und Autoritarismus Mit elf Fragen wurden Einstellungen zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Toleranz erhoben (siehe Tab. 7). Vier Items thematisieren im Grundgesetz verankerte Grundrechte: Demonstrations- und Meinungsfreiheit (Item 9), Minderheitenschutz (Item 10), Streikrecht (Item 6) als Element der Koalitionsfreiheit und Pressefreiheit (Item 3). Weitere zwei Fragen erfassen global demokratiedistante bzw. Demokratie abwertende Haltungen (Item 2 im Sinne von »Demokratie führt zu Kriminalität« und Item 11 in umgepolter Form »Demokratie ist beste Regierungsform«). Ferner wurden, in der Tradition der Autoritarismusforschung, die Einstellung zur Todesstrafe (Item 4) sowie zu autoritärer politischer Führung (Item 1) und eine Betonung strenger Disziplin, von »Zucht und Ordnung« (Item 5) erhoben. Weiter erfasst Item 7 eine pauschalisierende Aufwertung der eigenen Nation/Ethnie im Sinne einer ethnozentrischen Einstellung, die in der Gefahr steht, mit der Abwertung anderer einherzugehen. Schließlich wird in Item 8 eine besondere Betonung der Ehre der eigenen Nation hervorgehoben. Dieses Item benennt Haltungen, die in der Gefahr stehen, interpersonelle Konflikte, die an Nation und Ethnie anknüpfen, zu schüren. Auf der Ebene der Einzelitems zeigt sich für die zum Konstrukt © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Autoritarismus zugehörigen Items (Nr. 1, 2, 4, 5), dass zwischen 7,6 % (Item 2) und 12,2 % (Item 4) der Jugendlichen solchen Aussagen eindeutig zustimmen. Tabelle 7: Skala »Demokratiedistanz/Autoritarismus« stimme gar nicht zu
stimme eher nicht zu
stimme eher zu
stimme völlig zu
MW
1. In der heutigen Zeit brauchen wir einen starken politischen Führer, der mit harter Hand regiert.
37,5 %
32,8 %
19,7 %
10,1 %
2.02
2. An den vielen Kriminellen in diesem Land sieht man, wohin Demokratie führt.
30,1 %
34,8 %
27,5 %
7,6 %
2.13
3. Der Staat sollte Zeitungen und Fernsehen kontrollieren, um Moral und Ordnung sicherzustellen.
43,8 %
32,1 %
17,8 %
6,3 %
1.87
4. Der Staat sollte berechtigt sein, schwere Verbrechen mit dem Tod zu bestrafen.
51,1 %
21,8 %
14,9 %
12,2 %
1.88
5. Die Jugend braucht heute am nötigsten strenge Disziplin.
25,6 %
35,6 %
28,1 %
10,7 %
2.24
6. Streiks und Demonstrationen gefährden die öffentliche Ordnung und sollten verboten werden.
44,2 %
38,5 %
13,1 %
4,3 %
1.77
7. Mir ist es total wichtig, die Ehre meines Vaterlandes hochzuhalten.
20,8 %
31,1 %
27,6 %
20,5 %
2.48
8. Mein Volk ist anderen Völkern grundsätzlich überlegen.
41,6 %
34,8 %
16,1 %
7,4 %
1.89
9. Jeder Bürger soll das Recht haben, für seine Überzeugung auf die Straße zu gehen.
7,5 %
14,0 %
40,8 %
37,7 %
3.09
10. Auch Minderheiten sollten das Recht haben, ihre Meinung frei zu äußern.
5,7 %
9,5 %
38,4 %
46,3 %
3.25
11. Trotz aller Probleme, ist die Demokratie die bestmögliche Regierungsund Verfassungsform.
12,1 %
26,4 %
34,7 %
26,8 %
2.76
Nach Dichotomisierung an der numerischen Skalenmitte zeigt sich bei 27,1 % Zustimmung zu der Ansicht, der Staat solle schwere Verbrechen mit dem Tod bestrafen. 29,8 % wünschen sich einen politischen Führer, der mit harter Hand regiert, was als Wunsch nach © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Klarheit und Orientierungssicherheit in einer für junge Menschen zunehmend unübersichtlich werdenden Welt aufgefasst werden kann. 35,1 % bringen hohe Kriminalität mit Demokratie in Verbindung im Sinne einer Formulierung, die Demokratie abwertet. 38,9 % schließen sich der Aussage an, dass die heutige Jugend am nötigsten strenge Disziplin brauche. Eine genauere Betrachtung der Items, die das Verhältnis zu Demokratie beleuchten, zeigt, dass zwischen einem Fünftel und etwas mehr als einem Drittel demokratiekritische, -distante Haltungen zum Ausdruck bringen. So stimmen 38,5 % der Aussage nicht zu, dass trotz aller Probleme die Demokratie die beste Regierungs- und Verfassungsform ist. 12,2 % lehnen die Aussage ab, dass Minderheiten das Recht haben sollten, ihre Meinung zu äußern. 21,5 % äußern sich negativ zu Demonstrationsrecht und Versammlungsfreiheit, 24,1 % sprechen sich für eine staatliche Kontrolle der Medien aus, um Moral und Ordnung herzustellen, und 17,4 % stimmen dem zu, dass Streiks verboten werden sollten. 23,5 % der Jugendlichen äußern in diesem Kontext zudem klar ethnozentrische, andere Herkunftsgruppen und Länder pauschal abwertende Meinungen, indem sie ihr Volk als anderen gegenüber grundsätzlich überlegen ansehen. Eine Kontrastierung der Befunde für Bremen und Bremerhaven mit den Ergebnissen von Erhebungen in anderen Städten lässt eine etwas relativierende Einschätzung zu. Zu diesem Zweck wurden Daten der Studie von Brettfeld und Wetzels (2007) separat für die Städte Hamburg, Köln und Augsburg und eingeschränkt auf die Jugendlichen aus den 9. Jahrgangsstufen reanalysiert. Weiter wurden die Daten einer aktuell in Hamburg laufenden Studie (vgl. Kammigan et al., 2010) auf 9. Jahrgangsstufen beschränkt für diesen Vergleich ausgewertet. Es zeigt sich für die Stadt Bremen eine geringere Verbreitung autoritaristischer und ethnozentrischer Haltungen im Vergleich zu Hamburg (2008) sowie Bremerhaven (2008). Auffallend ist weiter, dass alle Erhebungen aus dem Jahr 2008 eine geringere Verbreitung demokratiedistanter Haltungen erkennen lassen, als das noch 2005 in Hamburg, Augsburg und Köln festgestellt werden konnte.
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Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit und Demokratiedistanz junger Menschen
Tabelle 8: »Demokratiedistanz/Autoritarismus« bei Jugendlichen: Vergleich verschiedener regionaler Studien Bremen 2008/ 09
BHV 2008/ 09
HH 2008/ 09
HH 2005
Köln 2005
Augsburg 2005
1. In der heutigen Zeit brauchen wir einen starken politischen Führer, der mit harter Hand regiert.
27,1 %
38,0 %
32,2 %
49,2 %
51,7 %
48.8 %
2. An den vielen Kriminellen in diesem Land sieht man, wohin Demokratie führt.
33,7 %
39,4 %
23,0 %
43,6 %
48,9 %
23.1 %
3. Der Staat sollte Zeitungen und Fernsehen kontrollieren, um Moral und Ordnung sicherzustellen.
22,3 %
31,3 %
25,5 %
41,1 %
36,8 %
21.1 %
4. Der Staat sollte berechtigt sein, schwere Verbrechen mit dem Tod zu bestrafen.
27,0 %
29,5 %
24,9 %
34,7 %
32,5 %
32.7 %
5. Die Jugend braucht heute am nötigsten strenge Disziplin.
37,9 %
45,0 %
45,9 %
31,7 %
56,9 %
35.9 %
6. Streiks und Demonstrationen gefährden die öffentliche Ordnung und sollten verboten werden.
16,7 %
19,0 %
14,3 %
18,9 %
26,5 %
11.4 %
7. Mir ist es total wichtig, die Ehre meines Vaterlandes hochzuhalten.
47,9 %
51,5 %
58,9 %
-
-
-
8. Mein Volk ist anderen Völkern grundsätzlich überlegen.
21,9 %
28,2 %
27,3 %
-
-
-
9. Jeder Bürger soll das Recht haben, für seine Überzeugung auf die Straße zu gehen.
19,9 %
23,0 %
20,9 %
15,4 %
13,0 %
12.1 %
10. Auch Minderheiten sollten das Recht haben, ihre Meinung frei zu äußern.
13,3 %
18,5 %
9,3 %
3,7 %
8,5 %
7.5 %
11. Trotz aller Probleme, ist die Demokratie die bestmögliche Regierungs- und Verfassungsform.
35,2 %
43,1 %
33,8 %
-
-
-
Anmerkung: Die Items 9–11 wurden umgepolt, so dass die Prozentzahlen Zustimmung zu autoritaristischen Haltungen wiedergeben (i.e. Prozentraten der Verneinung).
Dies ist konform mit Befunden von Heitmeyer, der im Rahmen des GMF-Survey im Längsschnitt seit 2002 einen Rückgang für Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus nachweisen kann (vgl. Heitmeyer, 2009, S. 39 ff.). Auch Reuband (2010) zeigte im Hin© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Peter Wetzels
blick auf die Einstellungen zur Todesstrafe eine langfristig abnehmende Tendenz, die sich hier bei Jugendlichen ebenfalls als leichter Rückgang nachzeichnen lässt. Für die weiteren Analysen wurde eine Skala Demokratiedistanz/ Autoritarismus gebildet. Diese weist eine zufriedenstellende interne Konsistenz auf (α = .75). Sie kann theoretisch Werte zwischen 1 und 4 einnehmen. Der Mittelwert liegt bei MW = 2.02 (SD = .50). Dichotomisiert man diese Skala an ihrem absoluten Mittelpunkt (Skalenwert 2.5), so finden sich 17 % der Gesamtstichprobe mit Werten von 2.5 und größer, die als demokratiedistant/autoritaristisch eingestuft werden können. Zwischen Jungen und Mädchen findet sich diesbezüglich kein signifikanter Mittelwertunterschied. Es ist jedoch ein klarer Effekt des Bildungsniveaus der Jugendlichen zu erkennen: An Förderschulen und Sekundarschulen finden sich signifikant erhöhte Raten autoritaristischer Haltungen. Diese Rate ist an den Sekundarstufen etwa um den Faktor 5 höher als an den Gymnasien. Dieser Befund findet sich recht stabil in nahezu allen Studien, die sich mit Autoritarismus befassen (vgl. Wetzels, Fabian u. Danner, 2001; Brettfeld u. Wetzels, 2007; Rabold et al., 2009; Baier et al., 2010). Weiter finden sich deutliche Unterschiede zwischen einheimischen deutschen Jugendlichen zum ersten, jungen Migranten aus der Türkei und Russland zum zweiten und anderen Migranten zum dritten. Die höchsten Ausprägungen von Demokratiedistanz/Autoritarismus weisen Jugendliche russischer Herkunft auf; an zweiter Stelle finden sich diejenigen türkischer Herkunft. Im Mittelbereich liegen die jungen Migranten anderer Ursprungsländer; am geringsten ist die Quote mit hohen Werten bei einheimischen Jugendlichen. Die Rate ist bei den russischen Jugendlichen etwa dreimal so hoch wie bei den deutschen Jugendlichen. Soweit es um die Förderung von Demokratie und Toleranz geht, so kann hier schon gefolgert werden, sind vor allem auch die beiden größten Migrantengruppen eine wichtige Zielgruppe, was bei der Gestaltung z. B. von Unterrichtsmaterialien beachtet werden sollte.
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Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit und Demokratiedistanz junger Menschen
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Tabelle 9: »Demokratiedistanz/Autoritarismus«: Bivariate Zusammenhänge mit soziodemografischen Merkmalen MW
Geschlecht
Test
Rate mit Skalenwerten > = 2.5
χ2 = 1.41; df = 1; p = n.s.
t =.13; df = 1205; p = n.s.
männlich
2.02
18,2 %
weiblich
2.01
15,7 %
total
2.02
Schulform
17,0 % χ2 = 93.99; df = 3; p < .001
F[3,1216] = 94.78; p < .001
FS
2.34a
35,1 %
Sek
2.28a
29,7 %
GS
2.01b
16,0 %
GYM
1.77c
ethnische Herkunft
Test
5,5 % χ2 = 54.19; df = 5; p < .001
F[5,1210] = 19.67; p < .001
einheimisch deutsch
1.91c
10,8 %
türkisch
2.24a
28,6 %
russisch
2.26a
30,8 %
Osteuropa
2.14b
19,8 %
sonst. Europa
2.03b
29,9 %
nicht Europa
2.02b
19,3 %
Bemerkenswert ist ferner in regionaler Hinsicht, dass sich die Stadtbzw. Ortsteile Bremens in der durchschnittlichen Ausprägung von Demokratiedistanz/Autoritarismus der dort lebenden Jugendlichen statistisch signifikant (F[19,930] = 9.53; p = 2.5) und die zugleich in mindestens einer der drei Gewalteinstellungsskalen einen Wert über dem absoluten Skalenmittelpunkt haben (Skalenwerte für expressive oder instrumentelle Gewaltbefürwortung oder CoS > = 2.5). N = 207 Jugendliche weisen einen derartigen hohen Wert für Demokratiedistanz/ Autoritarismus auf. Von denen wiederum liegen bei N = 102 die Werte für mindestens eine der drei Skalen zur Erfassung von Gewalt befürwortenden Einstellungen ebenfalls über dem absoluten Skalenmittelpunkt, d. h., hier sind klar Gewalt bejahende Einstellungen zu erkennen. Diese Gruppe macht 8,4 % der gesamten Stichprobe aus. In Bremen liegt dieser Anteil mit 7,5 % signifikant niedriger als in Bremerhaven, wo die Rate 11,4 % beträgt (χ2 = 3.87; df = 1; p = 2.5 über dem absoluten Skalenmittelpunkt liegt und damit im Durchschnitt eine zustimmende Haltung zu solchen fremdenfeindlichen, ausländerablehnenden Haltungen indiziert. Eine genauere Betrachtung der Verteilung nach soziodemografischen Variablen zeigt, dass derart eindeutige Ausländerablehnung bei männlichen Jugendlichen signifikant höher und stärker verbreitet ist. Tabelle 14: Zustimmung zu fremdenfeindlichen Aussagen (Skalenwert > = 2.5) nach soziodemografischen Merkmalen MW
Geschlecht
Test
%> = 2.5
χ2 = 6.56; df = 1; p < .01
t = 2.69; df = 709; p < .01
männlich
1.91
Weiblich
1.78
Schulform
19.8 % 12.7 % χ2 = 10.09; df = 3; p < .05
F[3,713] = 10.95; p < .001
FS
2.19a
29.4 %
Sek
2.05a
22.8 %
GS
1.78b
16.2 %
GYM
1.77b
Arbeitslosigkeit/ Sozialhilfebezug
Test
12.8 % χ2 = 3.79; df = 1; p = .051
t = -1.43; df = 70.5; p = n.s.
Nein
1.84
15.8 %
Ja
1.97
24.7 %
Während 19,8 % der Jungen fremdenfeindlichen Aussagen zustimmen, sind es bei den Mädchen 12,7 %.Weiter zeigt sich ein Effekt der Bildung: Je niedriger das Bildungsniveau, desto höher die Verbreitung ausländerablehnender Haltungen. Während in der Sekundarschule 22,8 % klare Zustimmung zu ausländerablehnenden Statements erklären sind es unter den Gymnasiasten nur 12,8 %. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Peter Wetzels
Multivariate Analysen in Form hierarchischer Regressionen zeigen, dass auch im Hinblick auf Fremdenfeindlichkeit Effekte der Indikatoren einer Ellenbogenmentalität ganz erheblich zur Varianzaufklärung beitragen (siehe Tab. 15). Die abhängige Variable wurde für diese Analyse zum Ausgleich der Verteilungsschiefe logarithmiert. Tabelle 15: Hierarchische Regression der Fremdenfeindlichkeit auf Gewalteinstellungen, soziodemografische Merkmale und Indikatoren einer »Ellenbogenmentalität« (HSI) Modell 1
Geschlecht (0 = weiblich)
Modell 2
Modell 3
β
p
β
p
β
p
.103
**
.022
n.s.
–.038
n.s.
Schulform (0 = Gymnasium) FS
.084
*
.082
*
.067
*
SEK
.188
***
.137
***
.104
**
GS
–.012
n.s.
–.019
n.s.
–.027
n.s.
Gewaltbefürwortung instrumentelle Gewalt
.043
n.s.
–.072
n.s.
Code of Streets
.237
***
.084
n.s.
Machiavellismus
.163
***
Sozialdarwinismus
.317
***
Ellenbogenmentalität
F
9.94 ***
24.12 ***
56.43 ***
R2
5,3 %
11,4 %
23,9 %
In Modell 1 finden sich die bekannten Effekte von Geschlecht und Bildungsniveau. Diese erklären indessen nur 5,3 % der Varianz der Fremdenfeindlichkeit. In Modell 2 werden die Effekte von Gewalteinstellungen einbezogen (wegen Multikollinearität auch hier nur zwei der drei Indikatoren). Es zeigt sich, dass Gewalt als Ausdruck von Dominanzstreben (CoS) einen erheblichen Anteil der Fremdenfeindlichkeit zu erklären vermag. Werden Gewalteinstellungen einbezogen, kommt zudem der Geschlechtsvariable kein Effekt mehr zu. Das heißt, die Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Jugendlichen im Hinblick auf Fremdenfeindlichkeit erweisen sich als über Gewalteinstellungen vermittelt. In Modell 3 konkretisieren sich diese Zusammenhänge weiter. Hier kommt neben dem Bildungsniveau ansonsten nur noch der Ellenbogenmentalität im Sinne der © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit und Demokratiedistanz junger Menschen
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hier einbezogenen Subdimensionen des Hierarchischen Selbstinteresses ein signifikanter Effekt zu. Auch die Effekte der Gewalteinstellungen entfallen nun; sie sind insoweit vollständig durch Ellenbogenmentalitäten aufgeklärt. Dieses 3. Modell klärt mit 23,9 % einen ganz erheblichen Anteil der Varianz der Fremdenfeindlichkeit auf. Insoweit erfahren unsere theoretischen Überlegungen auch in dieser Hinsicht, unter Beachtung der Einschränkungen einer querschnittlichen Erhebung, hier empirische Abstützung. In einem weiteren Schritt wurde untersucht, wie groß die Quote der Jugendlichen ist, bei denen neben einer Bejahung fremdenfeindlicher Einstellungen zugleich auch Einstellungen im Sinne einer Gewaltbefürwortung vorliegen. Insgesamt n = 118 der einheimischen Jugendlichen zeigten klare fremdenfeindlichen Einstellungen (Skala > = 2.5). Davon lagen bei knapp der Hälfte (N = 51; 7,1 % der Stichprobe der deutschen Jugendlichen) zugleich auch Gewalt befürwortende Einstellungen in mindestens einer der drei allgemeinen Gewaltskalen vor (expressiv, instrumentell oder CoS) vor (siehe Tab. 16). Tabelle 16: Fremdenfeindlich und zugleich Gewalt befürwortend eingestellte Jugendliche nach soziodemografischen Merkmalen Risikogruppe
Test
χ2 = 9.25; df = 1; p < .01
Geschlecht männlich
9,9 %
weiblich
3,8 % χ2 = 7.94; df = 3; p < .05
Schulform FS
17,6 %
Sek
10,7 %
GS
6,0 %
GYM
5,5 % χ2 = 3.22; df = 1; p < .10
Arbeitslosigkeit/Sozialhilfebezug nein
6,6 %
ja
12,7 %
Total in %
7,1 %
Unter den Jungen ist die Quote derer, die einer Risikogruppe im hier definierten Sinne angehören, mit 9,9 % deutlich erhöht. Sie liegt bei mehr als dem Doppelten der weiblichen Jugendlichen. Ferner ist © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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diese Quote an Sekundarschulen mit 10,7 % deutlich höher als an Gymnasien, wo sie bei 5,5 % liegt. Personen aus Familien, die unter ungünstigen sozioökonomischen Rahmenbedingungen leben, haben in der Tendenz gleichfalls eine erhöhte Rate an Risikojugendlichen in diesem Sinne aufzuweisen.
Fremdenfeindlichkeit, Autoritarismus und Gewaltakzeptanz: Überlappungen und Einschätzung regionaler Risikopotenziale Fremdenfeindliche Einstellungen und Demokratiedistanz/Autoritarismus erweisen sich als in hohem Maße korreliert. In Abbildung 3 wurde die Skala Fremdenfeindlichkeit verteilungsunabhängig nach den absoluten Skalenwerten in drei Gruppen untergliedert. Gruppe 1 sind Jugendliche mit Werten von 1.0 bis 2.0 (»keine/ niedrige Fremdenfeindlichkeit«) (N = 480, 67,2 %); Gruppe 2 sind Jugendliche mit Werten > 2.0 bis unter 3.0 (»leichte bis mittlere Fremdenfeindlichkeit«) (N = 201, 28,1 %). Gruppe 3 sind Jugendliche mit Werten von 3.0 und höher (»hohe Fremdenfeindlichkeit«) (N = 34, 4,7 %). Die letzteren Jugendlichen sind eine Extremgruppe, die weniger als ein Zwanzigstel der Stichprobe ausmacht. Die Mittelwerte für Demokratiedistanz/Autoritarismus unterscheiden sich zwischen diesen Kategorien der Fremdenfeindlichkeit signifikant (F[2,702] = 123.67; p < .001).
Abbildung 3: Mittelwerte und 95 % Konfidenzintervalle für Demokratiedistanz/Autoritarismus nach Ausmaß der Fremdenfeindlichkeit © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Dieser Befund legt nahe, dass Fremdenfeindlichkeit sowie Autoritarismus unterschiedliche Subdimensionen eines allgemeineren Syndroms der Intoleranz und Minderheitenausgrenzung sind, wie es auch Heitmeyer (2012b) mit dem Begriff der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit umrissen hat. Zur differenzierten Einschätzung der im Land Bremen zu erwartenden Potenziale der verschiedenen Formen der Intoleranz, unter Einbeziehung des Umstandes, dass sich die Teilgruppen überlappen und auch die Gewaltbereitschaft sich zwischen diesen unterscheidet, wurde eine mengentheoretische Darstellung gewählt (siehe Abb. 4). Untersucht wird dabei die Überlappung der Teilgruppen jener, die über den jeweiligen absoluten Skalenmittelpunkten liegende Fremdenfeindlichkeit, Demokratiedistanz/Autoritarismus sowie Gewaltakzeptanz (in mindestens einer der drei Skalen der Gewalteinstellung) erkennen lassen. Die Analyse ist hier eingeschränkt auf die einheimischen deutschen Jugendlichen (weil nur für diese auch Daten zu Fremdenfeindlichkeit vorliegen). Im Ergebnis sind bei knapp zwei Dritteln (63,1 %), also der deutlich überwiegenden Mehrheit, weder Fremdenfeindlichkeit noch Autoritarismus oder Gewaltakzeptanz zu erkennen. Eine kleine, wiewohl nicht unbedeutende Gruppe von 2,5 % ist sowohl fremdenfeindlich als auch demokratiedistant und zugleich gewaltbereit. Zwei weitere Gruppen sind hier im Sinne möglicher Anfälligkeit für Extreme ebenfalls wichtig: 4,1 % sind, ohne demokratiedistant zu sein, sowohl fremdenfeindlich als auch gewaltbereit und weitere 1,3 % sind demoktriedistant/autoritaristisch und Gewalt akzeptierend, ohne in erhöhtem Maße fremdenfeindlich zu sein. In der Summe sind danach Kombinationen von Gewaltakzeptanz und Intoleranz im Sinne dessen, was als eine Vorform extremistischer Haltungen problematisiert werden könnte und Gegenstand vermehrter Anstrengungen von Prävention sein sollte, in Bremen bei etwa 7,9 % der hier untersuchten Jugendlichen anzutreffen. Unabhängig von einer etwaigen Gewaltbereitschaft umfasst das Potenzial für Intoleranz im Sinne von Autoritarismus und/oder Fremdenfeindlichkeit etwa ein Fünftel (20 %) der einheimisch-deutschen Jugendlichen in Bremen. Betrachtet man die Zahlen ausgehend von einem Fokus auf © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Peter Wetzels
Abbildung 4: Mengentheoretische Darstellung der Überlappung von Fremdenfeindlichkeit, Demokratiedistanz/Autoritarismus und Gewaltakzeptanz
Gewalteinstellungen, so zeigt sich, dass etwa bei einem Drittel der 24,5 % Gewalt akzeptierenden Jugendlichen zugleich auch problematische Einstellungskonfigurationen im Sinne von Intoleranz, Demokratiedistanz und/oder fremdenfeindlichen Haltungen vorliegen. Insoweit ist auch im Kontext von allgemeiner Gewaltprävention eine Thematisierung dieser Aspekte von ausgrenzenden, ablehnenden Haltungen sinnvollerweise aufzugreifen.
Fazit und Schlussfolgerungen In der Studie konnte gezeigt werden, dass unter Jugendlichen in Bremen ein substanzieller Anteil lebt, bei denen Formen zwischen© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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menschlicher Intoleranz und Ideologien der Ungleichwertigkeit bestehen, die als demokratiedistante, autoritaristische Haltungen sowie fremdenfeindliche Einstellungen bezeichnet werden können. Diese umfassen etwa ein Fünftel der in Bremen lebenden einheimischen Jugendlichen. Bei einem nicht unwesentlichen Teil von ihnen sind solche Einstellungen zudem mit der Bereitschaft zu bzw. der Akzeptanz von Gewalt kombiniert. Bezogen auf einheimische Jugendliche betrifft dies etwa 8 %. Vergleiche mit den Ergebnissen aus anderen Städten und Regionen zeigen zwar, dass in Bremen in dieser Hinsicht keine abnorm erhöhten Belastungen bestehen. Wenn überhaupt Differenzen existieren, dann ist eher von etwas niedrigeren Quoten, speziell für die Stadt Bremen auszugehen. Das sollte aber kein Anlass sein, sich beruhigt zurückzulehnen. Die hier identifizierten Potenziale sind umfangreich genug, um als eine Herausforderung für die Arbeit mit jungen Menschen in Bremen angesehen zu werden, sei dies nun im schulischen Kontext, im Rahmen der Gemeinwesenarbeit auf Stadtteilebene oder auch in der außerschulischen Jugendarbeit. In Zeiten, in denen Bildung und Ausbildung in den Sog eines ökonomistischen Denkens zu geraten drohen, in denen insoweit für die Arbeit mit Außenseitern und Normabweichlern nicht ohne weiteres Ressourcen bereitgestellt werden, verweisen die hier vorgelegten Ergebnisse zudem auf eine fatale Verknüpfung: Ganz im Sinne aus der institutionellen Anomietheorie abgeleiteter Annahmen zeigte sich, dass die Übernahme von Konkurrenzideologien, die Etablierung von Haltungen, die eine Durchsetzung des Stärkeren favorisieren, mit höchst unerwünschten Ergebnissen im Hinblick auf die Entwicklung sozial relevanter Einstellungen und Verhaltensbereitschaften junger Menschen verbunden sind. So ließ sich feststellen, dass die Entwicklung von Einstellungen, die als Ellenbogenmentalitäten bezeichnet werden können, auf individueller Ebene mit einer deutlichen Erhöhung des Risikos von Gewaltakzeptanz, Fremdenfeindlichkeit und Demokratiedistanz verbunden ist. Insoweit besteht aller Anlass, sich mit Nachdruck um den Erhalt sowie den Ausbau von Optionen sozialen Lernens in der Schule und der Förderung von Zusammenhalt und Begegnung auf Ebene der Stadtteile und Ortsteile zu bemühen. Es wird, auch im Sinne des © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Erhalts künftigen sozialen Friedens und sozialer Integration, der Sicherung von Freiheitsrechten und Lebensqualität, hoch bedeutsam sein, darauf zu achten, dass Aspekte der Konkurrenz am Arbeitsmarkt, der ökonomischen Verwertbarkeit von Lernen und Ausbildung, nicht mit zu großer Dominanz Eingang in den Bildungs- und Ausbildungssektor halten. Die diversen Leistungsvergleiche, mit denen insbesondere Lehrkräfte und Schüler im Land Bremen in der Vergangenheit, oftmals unter Ausblendung von Fragen nach sozialem Lernen, zum Teil regelrecht »gebeutelt« wurden, stehen durchaus in der Gefahr, zu solchen Entwicklungen beizutragen, sofern sie allein verteilungsabhängig in Rankings übersetzt werden. Sich für Möglichkeiten von Verständigung und sozialem Lernen einzusetzen, wird auch in den kommenden Jahren eine wichtige Aufgabe sein. Insofern ist das Feld, in dem Hans Schindler sich mit seinem Einsatz für die Sicherung und Verbesserung von Entwicklungsoptionen für Kinder und Familien, für die Möglichkeiten demokratischer Erziehung wie auch der Erziehung zu Demokratie bis heute über lange Jahre engagiert hat, nach wie vor als Herausforderung präsent, um nicht zu sagen heute vielleicht sogar drängender als noch vor Jahrzehnten. Diese Themen sind im Hinblick auf schulische Pädagogik wie auch Jugendarbeit durchaus in der Gefahr, im Rahmen eines marktfixierten, auf Ökonomie und Verwertung orientierten Denkens an den Rand zu geraten bzw. allenfalls nur dann und zumeist auch nur sporadisch, aber mediengerecht aufgegriffen zu werden, wenn es zu spektakulären Einzelfällen der Realisierung latenter Risiken, u. a. von Gewaltpotenzialen kommt, wie sie hier skizziert wurden.
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© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
Wachstum nach Trauma? »Eine schwarze Perle in der bunten Perlenkette« Integration von traumatischen Erfahrungen in die eigene Lebensgeschichte Revital Ludewig / Rebecca Wullschleger
Rund 60 % aller Männer und 51 % aller Frauen werden im Verlauf ihres Lebens mit einer traumatischen Situation konfrontiert bzw. mit einem »Ereignis, bei dem ein oder mehrere Menschen in ihrer körperlichen und/oder seelischen Integrität massiv gefährdet werden« (DSM-IV, Sass et al., 1998). Kessler et al. (1995) berichten dies in ihrer repräsentativen nationalen US-Studie. Die Zahlen decken sich in etwa mit denen aus Australien (Rosenman, 2002). Auch bei Jugendlichen kommen traumatische Erfahrungen nicht selten vor. Deutsche Jugendliche im Alter von 14 bis 24 Jahren gaben Traumata in 18 % (männlich) bzw. in 15 % (weiblich) der Fälle an (Perkonnigg et al., 2000). Es sind Naturkatastrophen, Unfälle, aber auch »man made disaster« wie Vergewaltigungen oder Krieg, die tiefe Wunden und folgenschwere Verunsicherung nach sich ziehen. Nun könnte angenommen werden, dass ein Erlebnis mit manchmal lebensgefährlichem Charakter zwangsläufig längerfristige psychische Folgen nach sich zieht. Tatsächlich reagieren laut Kessler et al. (1995) 20 % der weiblichen und 8 % der männlichen Opfer von traumatischen Erlebnissen mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTB) und leiden demnach an ernsthaften psychischen Problemen. Dieser Beitrag widmet sich den restlichen 80 bis 92 %, also der überragenden Mehrheit der Personen, die, abgesehen von den Reaktionen während und direkt nach der traumatischen Erfahrung, keine Posttraumatische Belastungsstörung entwickeln. Das verdanken sie ihren, mehr oder weniger erfolgreichen, Bewältigungsstrategien und nicht zuletzt dem Phänomen des Posttraumatischen Wachstums. Die theoretischen Aspekte des Posttraumatischen Wachstums und die Lebensgeschichten von Menschen mit traumatischen Erfahrungen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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stehen hier im Mittelpunkt. Dazu wird immer wieder auf Geschichten und Erlebnisse von Holocaust-Überlebenden zurückgegriffen, deren Erfahrungen sich aber auf Traumata aller Art übertragen lassen, wie etwa das Beispiel des Bergsteigers Aron Ralston weiter unten zeigt.
Fallbeispiel Veronika Chanoch: Eine schwarze Perle Als Arzttochter und Angehörige der Mittelschicht wuchs Veronika Chanoch1 in Prag auf. Sie bezeichnet sich aus heutiger Sicht als »verwöhntes und teilweise neurotisches Einzelkind«, das von ihren Eltern abgöttisch geliebt wurde. Als sie 14 Jahre alt war, wurde ihre Familie nach Theresienstadt deportiert, wo sie erstmals ohne ihre Eltern auskommen musste. Sie erlebte die Trennung von Vater und Mutter, die immer sehr streng auf ihre Leistungen in der Schule geachtet hatten, als Befreiung. Bei der Arbeit im Gemüsegarten des Ghettos lernte sie viele Freundinnen kennen, mit denen sie auch noch nach der Befreiung Kontakt hielt. Zudem erlebte sie im Ghetto ihren ersten Kuss und viele andere kleine Abenteuer, die sie in ihrer jungen Persönlichkeit stärkten. Sie traf ihre Eltern zwar täglich, doch führte sie ein selbständiges Leben. Als ihre Eltern 1944 »nach Osten« deportiert werden sollten, bestand sie darauf, dass man sie auch auf die Liste für diesen Transport setzte. Das war ihr wichtig, weil sie sich während des Aufenthalts in Theresienstadt nicht immer als »unterstützende Tochter« erlebt hatte. Kurz bevor der Zug abfuhr, erhielt Veronika Chanoch tatsächlich die Erlaubnis, noch zuzusteigen, da einige Leute auf der Liste nicht erschienen waren. Einem der letzten Wagen zugeteilt, war sie während der Fahrt von ihren Eltern getrennt. Die Reise »nach Osten« endete in Auschwitz, wo ihre Eltern noch am Tag der Ankunft ermordet wurden. Sie hat sie nie wiedergesehen. Für Veronika Chanoch begann damals der Alptraum ihrer Zeit in Auschwitz, Bergen-Belsen und einem weiteren Arbeitslager in Ostdeutschland. Nach ihrer Befreiung kehrte sie in das ebenfalls befreite Theresienstadt zurück. Im Gespräch über ihre Lebensgeschichte schildert Veronika Chanoch nicht nur ihre Vergangenheit während des Holocaust. Ebenso 1
Die Namen der betroffenen Holocaust-Überlebenden wurden anonymisiert.
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ausführlich berichtet sie von der Liebe zu ihrem Mann, der Gründung ihrer gemeinsamen Familie, ihrer berufliche Tätigkeit als Sozialarbeiterin, der Schule, die sie gegründet hat, und von ihrer besten Freundin. Ihre Lebensgeschichte fasst sie so zusammen: »Das Leben ist wie eine Perlenkette mit Perlen in verschiedenen Farben. Die Shoah (der Holocaust) ist wie eine große schwarze Perle in dieser Kette, die mein Leben veränderte. Aber es gibt noch mehrere Dutzend Perlen in der gleichen Kette. Und ich habe so viele schöne und interessante Sachen in meinem Leben erlebt. Mein Leben war so voll und reich«2 (Veronika Chanoch).3 Obwohl sie ein schweres Trauma erlebt hat, ist Veronika Chanoch heute frei von körperlichen oder seelischen Beschwerden. Wie ist es möglich, dass Traumatisierte, wie z. B. Überlebende des Holocaust, körperlich und seelisch gesund bleiben, während andere nach einem ähnlichen Ereignis eine chronische Posttraumatische Störung entwickeln und in ein tiefes Loch stürzen?
Geschichte der Psychotraumatologie: drei Phasen »Was mich nicht umbringt, macht mich stärker!« – Nietzsche stand mit dieser Einsicht (»Götzen-Dämmerung«, 1889, S. 8) nicht allein. Viele waren sich vor, neben und nach ihm bewusst, dass traumatische Ereignisse sowohl negative als auch positive Einflüsse in Form von Ich-Stärkung haben können. Dokumentiert wurde dies in der griechischen Antike und anderen Kulturen im Mittelmeerraum (Tedeschi u. Calhoun, 1995). Auch bestehende Urvölker pflegen Rituale, die Milderung in solchen Situationen verschaffen sollen (Wilson, 1989), und doch ist die Psychotraumatologie als eigenständiges Feld ein eher junges Fach der Psychologie. Die Entwicklung der Psychotraumatologie kann sehr gut anhand der Behandlung und Beobachtung von Holocaust-Überlebenden 2 3
Ausführlichere Informationen zum Fall von Veronika Chanoch in LudewigKedmi (2001). Die Informationen stammen aus Interviews, Therapiesitzungen und Schulprojekten von Revital Ludewig.
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beschrieben werden. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung aus zahlreichen Konzentrationslagern erhielten viele Überlebende intensive medizinische Betreuung, weil sowohl ihre körperliche Verfassung als auch ihr Ernährungsstatus größtenteils sehr schlecht waren und weil viele zudem an Krankheiten wie Typhus und Tuberkulose litten. Diese Reaktionen entsprachen nach der unmenschlichen Behandlung im KZ den Erwartungen der Ärzte. In dieser ersten Phase der Psychotraumatologie wurden die psychischen Folgeschäden jedoch entweder gänzlich ignoriert oder gering geschätzt. Ließen sie sich nicht leugnen, was natürlich häufig der Fall war, dann wurden sie als erbliche Veranlagung oder, ganz nach dem psychoanalytischen Konzept, als Folgen einer schwierigen Kindheit eingeordnet (Fischer u. Riedesser, 2009). In der zweiten Phase wurde die Psychopathologie in den Vordergrund gestellt, die psychischen Folgen nach Traumata wurden untersucht und die Psychotraumatologie als Forschungs- und Tätigkeitsfeld konnte sich etablieren. Maßgeblich war hier William Niederland (1980), der aufgrund seiner Beobachtungen davon ausging, dass dem Trauma, als »Knick im Lebenslauf«, dauerhafte Symptome entspringen. In dieser Phase etablierte sich die Diagnose »Posttraumatische Belastungsstörung«, nicht zuletzt durch ihre Aufnahme ins Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) der American Psychiatric Association im Jahre 1981. Posttraumatische Belastungsstörung (PTB) Eine PTB liegt dann vor, wenn traumatisierte Personen 4 bis 6 Wochen nach dem Trauma weiterhin heftige Symptome zeigen. Unter anderem sind folgende Reaktionen bei PTB festzustellen: (1) Das traumatische Ereignis wird immer wieder noch mal erlebt; dies in Form von »sich aufdrängenden Erinnerungen an das Ereignis«, »wiederholten, stark belastenden Träumen« und »plötzlichem Handeln oder Fühlen, als ob das traumatische Ereignis wiedergekehrt« ist; (2) »anhaltende Vermeidung von Stimuli, die mit dem Trauma in Verbindung stehen«; (3) »anhaltende Symptome eines erhöhten Erregungsniveaus« (waren vor dem Trauma nicht vorhanden) wie »Ein- oder Durchschlaf-
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störungen; Reizbarkeit oder Wutausbrüche, Konzentrationsschwierigkeiten«, übertriebene Schreckreaktionen (DSM-IV, Diagnostische Kriterien und Differentialdiagnosen). In den ersten Wochen sind Reaktionen wie ein erhöhter Erregungszustand, Alpträume und Flashbacks normal und gelten nicht als pathogen. Im Gegenteil wäre eine »Nicht-Reaktion« als abnormal/ pathogen einzustufen. Hält der Zustand jedoch länger als ein Jahr an, spricht man von einer chronifizierten PTB (Perren-Klingler, 1995).
Obwohl der starre Blick auf die psychischen Schädigungen und negativen Einflüsse von Traumata einen Nachteil dieser zweiten Phase darstellt, war das bloße Erkennen eines Zusammenhangs zwischen Trauma und Symptom entscheidend für den Übergang in die heutige dritte Phase. In den letzten Jahren zeigt sich das Feld glücklicherweise offener gegenüber der Erforschung von Bewältigungsstrategien. In dieser Phase werden die Bewältigungsstrategien von Menschen mit traumatischen Erfahrungen untersucht und es wird darauf eingegangen, was einer Person helfen kann, mit dem Trauma umzugehen.
Einführung in die Bewältigungsstrategien Als Bewältigungsstrategien werden psychische Muster bezeichnet, die dazu dienen, psychische Belastungen – welcher Art auch immer – zu reduzieren. Dabei lassen sie sich in Bewältigungsstrategien auf der Handlungsebene und Bewältigungsstrategien auf der emotional-kognitiven Ebene unterteilen (Folkman u. Lazarus, 1985). Strategien auf der Handlungsebene zeigen sich als aktive Planungen oder effektive Anpassung des Verhaltens an die neue Situation nach dem traumatischen Erlebnis, während auf der emotionalen Ebene die Gefühle reguliert werden sollen. Das kann entweder aktiv oder passiv (als Vermeidung) geschehen. Nicht jede Strategie ist bei jeder Person gleich erfolgreich und selbst das Vorhandensein von vielen verschiedenen Strategien kann eine PTB nicht mit Sicherheit verhindern oder kurieren. Vielmehr zeigt sich, dass die beiden Komponenten nebeneinander existieren können. Barel et al. (2010) konnten in ihrer Studie zeigen, dass speziell Holocaust-Überlebende neben den © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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schweren psychischen Folgen einer PTB auch über außergewöhnlich viele Bewältigungsstrategien verfügen. Diese Bewältigungsstrategien sind genauso heterogen wie zahlreich und unterscheiden sich in ihrem Charakter und ihrer Effektivität von Fall zu Fall (Ludewig, 2009). Um möglichst viel von den Strategien profitieren zu können, ist es äußerst wichtig, dass die Person sich mit ihren Schwächen und Stärken im Allgemeinen bewusst auseinandersetzt, sich auf ihre eigenen Stärken zu verlassen lernt und die eigenen Schwächen akzeptiert. Das ist ein Inhalt jeder Therapie. Dazu kommt die bewusste Auseinandersetzung mit den traumatischen Erfahrungen. Bei Holocaust-Überlebenden ist besonders auffällig, dass negative Gefühle wie Angst und Trauer gleichzeitig mit positiven, wie etwa dem Stolz, überlebt zu haben, auftreten. Diese Ambivalenz auszuhalten – Stärke und Schwäche zugleich – stellt für die Betroffenen eine große Herausforderung dar.
Posttraumatisches Wachstum Neben den Bewältigungsstrategien wird auch immer häufiger vom Phänomen des Posttraumatischen Wachstums gesprochen. Das Interesse an den positiven Folgen von Traumata im Allgemeinen wächst bestimmt auch durch Geschichten wie die von Aron Ralston, einem Bergsteiger aus den USA. Er verunglückte auf einer Klettertour, die er allein unternommen hatte: Ein Felsbrocken klemmte seine rechte Hand ein. Nachdem er fünf Tage lang vergebens versucht hatte, sich aus dieser Lage zu befreien, amputierte er selbst seinen Unterarm und rettete so sein Leben. Sein Überleben, das an ein Wunder grenzt, machte ihn innerpsychisch nicht schwächer. Im Gegenteil ist er stolz, dass er fähig war, sich selbst zu retten. Sein Selbstwert stieg seit dem Vorfall und er spricht über sich und seine Geschichte gern in der Öffentlichkeit.4 Der fehlende Arm hindert ihn zudem keineswegs, seiner Leidenschaft, dem Bergsteigen, nachzugehen. Vielmehr scheint diese »Behinderung« den Sportler zu neuen Höchstleistungen anzuspornen (Ralston, 2005). 4
Vgl. die verfilmte Biografie von Aron Ralston: »127 hours« (2010), Regie: Danny Boyle.
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Aaron Antonovsky, ein israelisch-amerikanischer Medizinsoziologe, war einer der Ersten, der sich systematisch mit den Bewältigungsstrategien von Traumaopfern beschäftigte. Bei einer Untersuchung (zur Menopause bei Frauen in Israel) fand er zu seinem Erstaunen heraus, dass 29 % der Frauen mit KZ-Vergangenheit in hervorragender körperlicher und psychischer Verfassung waren. Der Wert der Vergleichsgruppe lag mit 51 % zwar beträchtlich höher, aber dennoch verwunderte Antonovsky (1997) die große Anzahl an nicht beeinträchtigten Holocaust-Überlebenden. Sein Interesse galt von diesem Zeitpunkt an den Faktoren, die einem Menschen helfen, nach einem Trauma die Gesundheit wiederherzustellen und zu erhalten. Sein Ansatz, die Salutogenese, steht in einem starken Gegensatz zur gängigen Pathogenese, die die Ursache und Entstehung von Krankheit ins Zentrum der Wahrnehmung rückt. Nach der Salutogenese kann weder Krankheit noch Gesundheit als »Normalzustand« im Leben eines Menschen angesehen werden. Viel eher befindet sich das Individuum zu jedem Zeitpunkt an einer gewissen Stelle eines Gesundheits-Krankheits-Kontinuums. Die Position, die das Individuum innerhalb dieses Kontinuums innehat, macht Antonovsky von drei Hauptfaktoren abhängig. Personen, die besonders gut im Umgang mit Stress oder Traumata sind, verdanken dies demnach der Tatsache, dass sie das Geschehene verstehen, mit ihm umgehen können und einen Sinn dahinter erkennen: – Verstehbarkeit: Die Reize/Stimuli, die auf den Betroffenen einwirken oder eingewirkt haben, können strukturiert werden und machen zukünftige Einwirkungen vorhersehbar und erklärbar. – Handhabbarkeit: die Anzahl und Wirksamkeit der Ressourcen, die dem Betroffenen zur Bewältigung des Traumas zur Verfügung stehen. – Bedeutsamkeit/Sinnhaftigkeit: Der Traumatisierte sieht im Durchstehen oder Überleben des Traumas einen Sinn (Antonovsky, 1997). Diese Begriffe lassen sich zum sogenannten »sence of coherence« (SOC) zusammenfassen. In der deutschen Übersetzung wird der SOC als Kohärenzgefühl bezeichnet. Antonovsky ermittelte den Stand auf dem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum durch seinen »Fra© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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gebogen der Lebensorientierung« mit 29 Fragen zu den drei oben genannten Komponenten (Antonovsky, 1997). Je höher die Werte in jedem der drei Bereiche sind, desto eher wird ein gesunder Verlauf nach einem Trauma vermutet. Eine Person, die traumatische Geschehnisse zu ordnen und zu erklären vermag, kann viel eher genesen als eine Person, die in ihrem Gefühlschaos steckenbleibt. Es ist die chaotische Gefühls- und Gedankenwelt, die zu Rückzug und Angst führt und mit der zukünftige Ereignisse weder vorhergesehen noch erklärt werden können. Für die Anfänge des Posttraumatischen Wachstums ist Viktor Frankl von zentraler Bedeutung. Noch vor Antonovsky erkannte er, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein Trauma einen pathogenen Verlauf nimmt, umso höher ist, je verborgener der betroffenen Person ihr Lebenssinn, der persönliche »Sinn von Leben und Sterben« bleibt (Frankl, 1977/2009, S. 119). Der österreichische Psychologe wurde 1942 in das Ghetto Theresienstadt deportiert und überlebte später die Konzentrationslager Auschwitz und Türkheim. Viktor Frankl erkannte während dieser Zeit die Sinnhaftigkeit als Grundvoraussetzung für das physische und psychische Überleben. Vor seiner Gefangenschaft hatte er begonnen ein Buch zu verfassen, das er um jeden Preis beenden und veröffentlichen wollte. Zudem war es ihm wichtig, dass sich die Nachwelt durch seine Niederschrift ein Bild der Gräueltaten machen konnte (Frankl, 1977). Konkreter wurden die Untersuchungen des Posttraumatischen Wachstums in den 1980er und 1990er Jahren. 1991 wurde eine Studie über die Naturkatastrophe veröffentlicht, die sich im Jahre 1974 in den USA ereignete. 148 Tornados wüteten während zwei Tagen in 13 US-Bundesstaaten und töteten ca. 300 Menschen (über 5000 wurden verletzt). 1991 beschrieb Hodgkinson in seiner Studie die Folgen bei Personen, die dieses Trauma in Ohio miterlebt hatten. Er konnte feststellen, dass 84 % der Befragten nach eigener Angabe besser reagierten, als sie dies erwartet hätten. 35 % waren sich nach dem Vorfall ihrer Stärken bewusster als zuvor und 27 % erkannten, wie sie sagten, den wahren Wert von zwischenmenschlichen Beziehungen, die sie nach dem Trauma intensiver lebten. Tedeschi und Calhoun arbeiteten ab dem Jahre 1996 mit dem Begriff »posttraumatic growth« (PTG). Eine positive Veränderung, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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die sich nach der Auseinandersetzung mit einer schweren, herausfordernden Krise einstellt, wird heute als Posttraumatisches Wachstum bezeichnet (Tedeschi u. Calhoun, 2004). Dabei können die vorausgegangenen Traumata sehr unterschiedlich sein: Sowohl bei Krebspatienten (Cordova et al., 2001) als auch nach sexuellem Missbrauch oder sexueller Belästigung (Draucker, 1992) konnte Wachstum festgestellt werden. »Das Individuum hat nicht nur überlebt, sondern auch Veränderungen erlebt, die es als wichtig wahrnimmt und die über den ursprünglichen Zustand (vor dem Trauma) hinausgehen. Posttraumatisches Wachstum ist also nicht bloß eine Rückkehr zur Startlinie, sondern vielmehr eine ›Verbesserung der Persönlichkeit‹, die von vielen Betroffenen als sehr tiefgreifend erlebt wird« (Tedeschi u. Calhoun, 2004, S. 4). Dieses Posttraumatische Wachstum, diese innere Entwicklung darf keinesfalls als eine Verleugnung des traumatischen Geschehens gesehen werden. Ein Mensch, der an einem Trauma zu wachsen vermag, »leugnet nicht die Wunde und die Zerstörung, sondern sieht die Destruktion als einen Aspekt des Werdens« (Wirtz, 2002). Außerdem schließt der Eintritt von Posttraumatischem Wachstum keinesfalls große Trauer oder seelischen Schmerz über einen bitteren Verlust aus. Die psychischen Folgen und das Wachstum können nebeneinander existieren und das Traumaopfer soll die beiden unterschiedlichen Reaktionstypen auch als solche erkennen. Beispielsweise kann es vorkommen, dass Eltern, die ein Kind verloren haben, sich ihrer Stärken im Umgang mit schwierigen Situationen bewusst werden und sie bei Bedarf auf diese Stärke bauen, dass sie aber ebenfalls um ihr Kind trauern (Tedeschi et al., 2007). Nun sollte aber nicht der Eindruck entstehen, dass auf jedes traumatische Erlebnis auch ein Wachstum folgt. »Wachstum ist nicht das direkte Ergebnis des Traumas, sondern die individuelle Auseinandersetzung der Person mit der neuen Realität« (Tedeschi u. Calhoun, 2004, S. 5). Dabei ist zu beachten, dass Posttraumatisches Wachstum nicht nur als kognitiver Prozess zu verstehen ist. Tritt Wachstum ein, können fünf Dimensionen unterschieden werden: – höhere Wertschätzung des Lebens und Änderung der Prioritäten, – engere/intimere Beziehungen zu anderen Menschen, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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– erhöhtes Bewusstsein der eigene Stärken, – Erkennen von neuen Lebenswegen und Möglichkeiten, – Veränderung der Lebensphilosophie/der spirituellen Überzeugungen (Tedeschi u. Calhoun, 1996). Die Veränderungen in der Selbstwahrnehmung konnte Hodgkinson (1991) bereits bei den Überlebenden der Tornado-Katastrophe in Ohio erkennen. Die Tatsache, dass sie diese Situation besser gemeistert haben, als sie es sich je hätten vorstellen können, führte zu einer differenzierteren Selbstwahrnehmung. Auch das Beispiel des Bergsteigers Aaron Ralston deutet auf ein neues, gefestigtes Selbstbild hin. Die Veränderung der Beziehungen kann ebenfalls anhand der Tornado-Überlebenden gezeigt werden. Als anschauliches Beispiel für die Veränderung der Lebensphilosophie eignet sich die Geschichte von Ran Chanoch. Er wurde in Auschwitz als sogenannter Funktionshäftling in der Kinderbaracke eingesetzt und war dadurch verantwortlich für 300 Kinder. Da der ehemalige Architekturstudent trotz seiner privilegierten Situation im Konzentrationslager »seine Kinder« nicht retten konnte, legte er einen Eid ab, dass er seinem Leben nach dem Krieg als Sozialarbeiter Sinn verleihen wolle (Ludewig-Kedmi, 2001).5
Integration der traumatischen Erfahrung in die eigene Lebensgeschichte Der Traumatisierte, dem eine Integration in die eigene Lebensgeschichte gelingt, unterscheidet sich in seiner Selbstwahrnehmung vom Betroffenen, der das Erlebnis als »unheilsamen Knick« in seiner Biografie wahrnimmt. Insbesondere im Fall von Holocaust-Überlebenden mag es zynisch erscheinen, die »guten Seiten« des schlimmen Traumas ansprechen zu wollen. Doch ist es nach schrecklichen Ereignissen wie Krieg und Massenmord tatsächlich sinnvoll, allein die negativen psychischen Folgen zu betonen und über mögliche positive Veränderungen der Persönlichkeit zu schweigen, weil es von der Gesell5
Ausführlicher zur Biografie von Ran und Veronika Chanoch in LudewigKedmi (2001).
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schaft vermeintlich so verlangt wird? Ben Furman plädiert in seinem Buch »Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben« (1999) generell gegen die Ansichten der Psychoanalyse, dass »schlechte Kindheit« immer »schlechte Zukunft« impliziert, und gegen den Kern der zweiten Phase der Psychotraumatologie, dass traumatische Erfahrungen unweigerlich Psychopathologien produzieren. Dieses lineare Denken führt bei Personen, die eine schwere Kindheit hatten und als Erwachsene ein zufriedenes Leben genießen, später dazu, dass sie es vermeiden, über ihre Kindheit zu sprechen: Sie befürchten, dass ihre Stärken übersehen und sie allein als Opfer wahrgenommen werden. Zum Teil haben Holocaust-Überlebende (und auch Opfer von anderen schweren Traumata) das Gefühl, dass sie, aufgrund der (falschen) Erwartungen in der Öffentlichkeit, lieber nicht sagen sollten: »Ich habe es geschafft … Mir geht es gut, sehr gut.« Die Meinung, dass sich das »nicht gehört«, mag verbreitet sein, und doch gibt es zahlreiche Menschen, die die traumatische Erfahrung erfolgreich in ihr Leben integriert haben und darauf zu Recht auch stolz sind. Gelingt dem Traumatisierten eine Neuorientierung im Leben nach dem Trauma, so kann er aus dem Erlebten lernen und gestärkt daraus hervorgehen (Wirtz, 2002). Benjamin Bergman ist einer von ihnen. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs war er ein Junge von 13 Jahren, dem anschließend wenig erspart blieb. Er erlebte die Deportation aus seiner polnischen Heimatstadt ins Ghetto von Lodz und die spätere Internierung in verschiedene Konzentrationslager genauso wie die Ermordung seiner Familie und die Zwangsarbeit. Als er sich auf dem Todesmarsch Erfrierungen am linken Fuß zuzog, wurde er zudem noch Opfer von Mengeles Schergen: Ärzte in Buchenwald führten mit seinen Zehen Experimente durch und amputierten sie zuletzt. All diese Erlebnisse machten Bergmann nicht zu einem gebrochenen Mann. »Ich habe die Nazis besiegt! Mit meinen 80 Jahren gehe ich noch Ski fahren!«, erzählte er anlässlich eines Interviews. Das kann er trotz seines verstümmelten Fußes und mit Hilfe einer von ihm selbst entworfenen Prothese. Er studierte nach der Befreiung Medizin, hat eine warme und liebevolle familiäre Umgebung und konnte durch seinen Beruf vielen anderen Menschen helfen. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Ein weiteres gutes Beispiel für eine erfolgreiche Integration des Traumas ist die am Anfang erwähnte Geschichte von Veronika Chanoch. Trotz der vielen erlebten Widrigkeiten blieb sie psychisch und physisch gesund. Sie brauchte nie eine Therapie, um ihre Erlebnisse zu verarbeiten und in ihre Lebensgeschichte zu integrieren. Dies lässt sich auch damit erklären, dass bei ihr beispielsweise durch ihre Loyalität zu den Eltern (die sie freiwillig nach Auschwitz begleitete) keine Überlebensschuld entstand. Heute lebt sie mit der Vergangenheit in der Gegenwart, in die sie das Trauma integriert hat. Nach dem psychoanalytischen Ansatz von Horowitz (1976) zeichnet sich eine erfolgreiche Bewältigung dadurch aus, dass willentliches Erinnern des Traumas ebenso möglich ist wie die Konzentration auf traumaunabhängige Gedanken und Tätigkeiten. Veronika Chanoch ist das gelungen: Sie kann die Türen in die Vergangenheit bewusst öffnen und über ihre Erlebnisse sprechen. Jedoch kann sie diese Tür jederzeit auch wieder schließen und sich anderen Gedanken zuwenden, ohne dabei einen bedeutenden Teil ihres Lebens verdrängen zu müssen. Für sie ist »das Traumatische nur eine Dimension des Lebens, eine bedrückende, die aber nicht den Blick auf das Ganze überschatten darf« (Petzold, 2001, S. 341). In ihren eigenen Worten: eine schwarze Perle in einer bunten Perlenkette.
Nicht jeder Überlebende braucht eine Therapie Die Frage, was die gesunden Überlebenden, die keine Therapie in Anspruch nehmen, gemeinsam haben bzw. was sie von jenen unterscheidet, die an einer Posttraumatischen Belastungsstörung leiden, lässt sich mit einem Blick auf ihre Bewältigungsstrategien und das Posttraumatische Wachstum beantworten. Jene Holocaust-Überlebenden, welche sich ihr Leben lang selbst zu helfen wussten und keine Therapie benötigten, verfügen über besonders ausgearbeitete, sinn- und wirkungsvolle Strategien.
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Fallbeispiel Michael Davidson: Leid, Liebe, Solidarität und Integration Michael Davidson, ein weiterer Überlebender des Holocaust, gehört wie Veronika Chanoch zu jenen, die nie in Therapie waren. Er wurde 1929 in einem kleinen Dorf in der Tschechoslowakei geboren und verbrachte seine Kindheit mit fünf Geschwistern und seinen Eltern in Bratislava, bis 1942 die Deportationen begannen. Auf Wunsch der Eltern flohen Michael und sein 15-jähriger Bruder nach Ungarn. Dort lebten sie in der Illegalität. Als auch in Ungarn die Zeit der Deportationen gekommen war, wollte er mit seiner Jugendfreundin, seiner ersten Liebe, nach Budapest fliehen. Das Mädchen wollte aber seine Familie nicht verlassen. So blieben Michael und Rahel zusammen und wurden beide deportiert. Michael ist heute glücklich verheiratet und hat Kinder und Enkel. Trotzdem erzählt er gleichzeitig wehmütig von der Ermordung seiner Freundin und ihrer Familie durch die Nazis. Die verpasste Chance zur Rettung seiner Freundin begleitet ihn bis heute. Er kann diese Gedanken auch mit seiner Familie thematisieren und trauert nach wie vor offen über den Verlust von Rahel. Das Geschehene, die Liebe zu Rahel und ihren Verlust hat er in seine Lebensgeschichte integriert. Michael Davidson erzählt heute, dass er, als er nach der Reise im Viehwaggon in Auschwitz ankam, überzeugt war, sofort erschossen zu werden. Aus dem Wagen beobachtete er, mit welcher Brutalität die SS-Leute die Deportierten behandelten, und er begriff, in welcher Situation er sich befand. Jung und gesund, wie Michael bei der Ankunft war, blieb ihm, im Gegensatz zu seinen Verwandten, die Gaskammer erspart. Er überlebte weitere Konzentrationslager und konnte sogar der Selektion durch Mengele persönlich entgehen. Er berichtet von der Hilfe und Unterstützung, die sich die Häftlinge gegenseitig boten, und von der Solidarität, die ihm in einem Fall sogar von einem SS-Mann zuteil wurde. Auf dem zermürbenden, unendlich scheinenden Todesmarsch wollten ihn seine Kollegen stützen, obwohl sie selbst kaum mehr Kraft hatten. Als direkt nach der Befreiung zahlreiche Menschen in den befreiten Lagern an starkem, blutigem Durchfall litten, weil die Amerikaner den überforderten Mägen »Bohnen und Speck« zumuteten, blieb © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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auch Michael davon nicht verschont. »Ich habe das KZ überlebt. Jetzt sterbe ich nicht an dem!«, sagte er sich und behielt damit Recht, während viele andere den Tod fanden. Michael wog nach der Befreiung nur noch 29 Kilogramm und litt an Tuberkulose, weshalb er sieben Jahre in Sanatorien, die beiden letzten davon in Davos, verbrachte. Als er nach dieser Zeit den Bescheid bekam, dass er die Schweiz zu verlassen habe und daher keine Lehre anfangen konnte, kämpfte er mit eisernem Willen für seine Rechte. Um seine Ausweisung abzuwenden, wollte er den damaligen Chef der Eidgenössischen Fremdenpolizei in Bern, Heinrich Rothmund,6 persönlich in dessen Büro sprechen. Als die Vorzimmerdame das als unmöglich bezeichnete, blieb er hartnäckig und erhielt zum Schluss einen Termin bei Rothmunds Stellvertreter. Dieser hatte die Unterlagen für Davidsons Aufenthaltsbewilligung tatsächlich schon vorbereitet und stimmte nach anfänglichen Zweifeln auch der gewünschten Lehre zu. Danach, so sagt Michael Davidson, habe er nie wieder Schwierigkeiten gehabt. Heute lebt der dreifache Vater und siebenfache Großvater mit seiner Frau in der Schweiz und spricht regelmäßig vor Schülern über seine Vergangenheit. Dieses »Zeugnis ablegen« durch Vorträge oder Niederschreiben der Geschichte erkannten auch viele andere Holocaust-Überlebende als wichtigen Teil ihres Lebenssinns. Sie möchten heutigen Jugendlichen ihre Lebensgeschichte weitergeben, damit der Nachwelt in Zukunft ähnliches Leid erspart bleibt. Dabei dient das »Zeugnis ablegen« nicht nur als Beitrag zur Aufklärung, sondern ist zudem eine wichtige Bewältigungsstrategie für ihr eigenes Leben. Durch das wiederholte Erzählen und Reflektieren des Geschehenen wird die Integration in die Lebensgeschichte weiter etabliert. Der Holocaust-Überlebende erkennt sein Leben als Einheit, das sowohl aus schönen Anteilen der Kindheit und des Lebens nach der Shoah als auch aus der schwierigen Zeit des Traumas besteht. Michael Davidson berichtet in seiner Lebensgeschichte sowohl von 6
Rothmund, der seine Position von 1919 bis 1955 innehatte, war als Vorstehender der Fremdenpolizei zuständig für die Ablehnung oder Annahme von Flüchtlingen. Zudem ist er heute bekannt als Mitverantwortlicher bei der Einführung des »Judenstempels«.
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Verlusten, Trauer und Ängsten als auch von stärkenden Aspekten wie Solidarität und Selbstwertsteigerung durch den erfolgreichen Umgang mit Extremsituationen und von Momenten, in denen er als KZ-Häftling trotz der aussichtslosen Situation eine »gewisse Kontrolle« behalten konnte. Letzteres – das Gefühl einer Kontrolle während der traumatischen Situation – betonte bereits Antonovsky als einen wichtigen Indikator für eine gute Bewältigung traumatischer Erfahrungen.
Traumatherapie und Posttraumatisches Wachstum Traumaopfer, deren Bewältigungsstrategien nicht oder nicht ausreichend Wirkung bei der Linderung des Leidens zeigen, wenden sich an Therapeuten. Doch auch Personen, die lange Zeit genügend Unterstützung in ihren Strategien gefunden haben oder bei denen sich gar Posttraumatisches Wachstum eingestellt hat, geraten zuweilen in Krisen, in denen sie die Hilfe eines Therapeuten in Anspruch nehmen. Ein wichtiger Fokus in der Traumatherapie ist die Stärkung von vorhandenen Bewältigungsstrategien wie auch die Anregung neuer Strategien. Ebenso soll Posttraumatisches Wachstum als positive Folge unterstützt werden. Schrittweise sollen die Betroffenen mit und an ihren Erfahrungen wachsen und langsam an eine Integration in die Lebensgeschichte herangeführt werden. Die Therapie ist somit ein Prozess der Ressourcenaktivierung und -optimierung. Zur Traumatherapie liegt umfangreiche Literatur vor. Hier soll lediglich darauf hingewiesen werden, dass eine Integration von verschiedenen therapeutischen Ansätzen besonders sinnvoll ist. So z. B. Überlegungen der humanistischen Psychologie, Aspekte aus der kognitiven Verhaltenstherapie oder Methoden der systemischen Einzeltherapie (vgl. dazu Schindler, 2002). Zentral für die »Verarbeitung von traumatischen Erfahrungen« bei jeder Gruppe von Traumatisierten ist »dabei eine Orientierung an den Ressourcen statt an den Defiziten« (Schindler, 1996, S. 11). Hilfreich zeigt sich auch insbesondere die »integrative Traumatherapie«, wie sie von Wilson (1989) beschrieben wird. Glücklicherweise ist der Mensch ein »Traumaüberwinder« (Pet© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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zold, 2001, S. 340), der grundsätzlich jedes noch so schlimme Ereignis zu bewältigen vermag. Je nach Art und Qualität der Bewältigungsstrategien, die ihm dazu zur Verfügung stehen, gelingt dies besser oder weniger gut. Die weitere Erforschung von Bewältigungsstrategien und Posttraumatischem Wachstum sollte vermehrt ins Zentrum der Psychotraumatologie gerückt werden, damit es noch mehr Traumatisierten gelingt, ihre schwarzen Perlen in eine bunte Kette zu integrieren.
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Wachstum nach Trauma?
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Wandel und Wandlungen Zur Veränderung der Alkoholabhängigkeit, ihren Herausforderungen, Chancen und Risiken Rudolf Klein
Existenzielle Ausgangslage In meinen bisherigen Arbeiten habe ich verschiedene Aspekte der Entwicklung hin zu einem abhängigen Trinken ebenso zu beleuchten versucht wie die Bedingungen, die zu einer Aufrechterhaltung des abhängigen Trinkens führen. Dabei folge ich sechs zentralen Thesen: – Das Trinken von Alkohol, die Berauschung, wird als eine zunächst plausible Antwort auf spezifische, den jeweiligen Menschen überfordernde Entwicklungsaufgabe verstanden. – Das Trinken verselbständigt sich in der Folge im Sinne einer Selbstorganisationsdynamik zu einem abhängigen Trinken, wenn für die Herausforderungen der anstehenden Entwicklungsaufgabe keine adäquaten Lösungen gefunden werden und die Entwicklung stagniert. – Diese Stagnation kann und muss vor dem Hintergrund einer spezifischen, einschränkend und traumatisierend erlebten Biografie verstanden werden, die eine eher defizitorientierte Sicht auf die eigenen Möglichkeiten fördert als eine Haltung des Vertrauens in die eigenen Kompetenzen. – Das abhängige Trinken stellt ein erhebliches, manchmal sogar lebensbedrohliches Risiko für die abhängig Trinkenden dar. – Die individuellen stagnierenden Prozesse führen zu unterschiedlich intensiven Verflechtungen in sozialen Kontexten wie der Familie oder dem Beruf und verändern dort die bisherigen Interaktionsmuster, indem das Thema »Trinken« zum organisierenden Prinzip wird. – Es können zwei unterschiedliche Muster beschrieben werden: ein Muster, das durch den weitgehenden Zerfall sozialer Bezie© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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hungssysteme gekennzeichnet ist. Hier hilft das Trinken, die hoffnungslos erscheinende Lebenssituation erträglicher zu gestalten. Und ein zweites Muster, bei dem noch scheinbar intakte soziale Beziehungssysteme existieren. Allerdings kündigen sich bereits Transformationsnotwendigkeiten an. Hier lässt sich eine Oszillation zwischen starkem und weniger starkem Konsum bis hin zu abstinenten Phasen beobachten, was eine zweifache Wirkung entfaltet: In Phasen abhängigen Konsums liefert dieser Hinweise auf notwendige Veränderungen und stellt den Lebenszusammenhang in Frage. In abstinenten Phasen oder bei moderatem Konsum wird die Auseinandersetzung mit dem Nicht-mehr-Passenden verschoben bzw. verhindert und damit wird die Hoffnung aufrechterhalten, alles könne so bleiben, wie es war. Vor diesem Hintergrund taucht die Frage auf, weswegen die so dringend notwendig erscheinende Verhaltensänderung nicht nur nicht vollzogen wird, sondern sie vermieden, ja geradezu boykottiert zu werden scheint. Diese auf den ersten Blick kaum verständliche Tendenz wird nachvollziehbarer, wenn man die Herausforderungen realisiert, die Menschen – und nicht nur abhängige Trinker – im Laufe ihres Lebens zu bewältigen haben. Herausforderungen, die sich durch das Leben selbst stellen und auf je unterschiedliche Art und Weise bewältigt werden müssen. Es handelt sich dabei um Herausforderungen existenzieller Art, die Chancen und Risiken und damit notwendig Affekte wie Angst, Trauer, Wut, Neugierde und Hoffnung in sich bergen. Eine affektive Mischung, die als überwältigend erlebt werden kann und gleichzeitig Reifungschancen für Menschen eröffnet. Es ist genau die Mischung, mit der man in Krisen- und Schwellenphasen rechnen muss, in Phasen also, in denen man noch hofft, alles könne so bleiben bzw. wieder so werden, wie es einmal war, und gleichzeitig zu ahnen beginnt, dass sich diese Hoffnung nicht mehr erfüllen wird. Eine Phase, in der das Alte nicht mehr existiert und das Neue noch nicht und in der ein Seinswandel, eine Änderung der Identität ansteht, ohne Orientierung zu haben, wie diese bewerkstelligt werden soll.
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Existenziell bedeutsame Krisen Wie aber entstehen nun diese existenziell bedeutsamen Krisen? Sind sie vermeidbar oder gehören sie zum Leben dazu? Ich nähere mich diesen Fragen Schritt für Schritt und beginne nicht etwa am Ende, nämlich dort, wo die Änderung des Trinkverhaltens erwartet wird und sie auf der Hand zu liegen scheint. Ich beginne stattdessen mit dem Anfang – dem Lebensanfang eines Menschen. Denn in der Tatsache des Geborenseins liegt die Voraussetzung, das eigene Leben gestalten zu können – in welcher Art auch immer. Als unbestreitbare Tatsache gilt, dass der Mensch in die Welt geboren, »geworfen« (Sartre, 1943/1962) ist, ohne vorher gefragt worden zu sein. Der Mensch ist mit der Geburt zum Leben verurteilt und muss in irgendeiner Art und Weise etwas mit dem Leben anfangen. Allerdings ist mit dem ungefragt erhaltenen Leben noch eine zweite, unausweichliche Tatsache verbunden: Dieses Leben wird früher oder später auf passive oder aktive Art enden. Anfang und Ende sind somit vorbestimmt und unvermeidlich. Beide Tatsachen, die Geburt und der Tod, müssen zunächst als bewertungsfreie Tatsachen gelten. Das Leben ist nicht per se bereits ein »Geschenk«, obwohl diese Bewertung im Bereich des Möglichen liegt. Es kann – als unerbetene Gabe – auch als Last empfunden werden. Auch der Tod ist nicht per se bereits ein Fluch. Er kann – als eigene Einflussmöglichkeit – auch als Trost verstanden werden. Die Wahllosigkeit der eigenen Geburt unterscheidet jedoch die Geburt vom Tod. Der Sterbliche kann bei seinem Tod, wenn auch nicht bei der Frage des »Überhaupt«, so doch in Bezug auf die Art und Weise und den Zeitpunkt Einfluss nehmen (Lütkehaus, 2009). Aber gerade durch diese prinzipielle Unentschiedenheit, durch die Bedeutungsoffenheit zwischen Geschenk und Last, zwischen Fluch und Trost eröffnet sich die notwendige Auseinandersetzung des ins Leben geworfenen Menschen mit der Frage, wer er eigentlich ist. Der »Selbstfindling«, wie Sloterdijk (1993) den Menschen nennt, findet sich und muss realisieren, dass er kein Ding ist und auch nicht als Reflex zu den Dingen um ihn herum erfahren werden kann. Er ist sich selbst ein Rätsel, ist sich »unheimlich« und hat die Not und Aufgabe, sich selber zu finden, vielleicht zu erfinden. Ich »bin, und © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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weiß es jetzt, kein Stein, keine Pflanze, kein Tier, keine Maschine, kein Geist, kein Gott. Mit dieser sechsfachen Verneinung umzirkle ich den unheimlichsten aller Räume. […] Ich bin von da an nur noch Schauplatz einer Frage« (Sloterdijk, 1993, S. 17). Ob und wie aber das Leben zwischen Geburt und Tod gelebt, bewertet, gefunden und erfunden wird, was in der Zeitspanne zwischen Anfang und Ende erlebt, gewünscht, erhofft, verpasst, erlitten, verschmerzt und ertragen werden muss, hängt nur bedingt vom eigenen Einfluss ab. Natürlich kann man es so beschreiben, als sei der Mensch selbst Autor seiner eigenen Lebensgeschichte, als könne man seines Glückes oder auch Unglückes Schmied sein (Engelmann, 2010; von Hirschhausen, 2009). Und sicher hat der einzelne Mensch immer die Möglichkeit, durch andere Perspektiveneinnahme dem bisherigen Leben noch eine andere, vielleicht bessere Bewertung zu geben (Furman, 1999). Dennoch haben bereits existierende Milieubedingungen einen nicht unerheblichen Anteil daran, welche Erfahrungen der jeweilige Mensch im Laufe seines Lebens macht. In welche Familie er hineingeboren wird, welche Bindungs- und Beziehungserfahrungen er dort erfährt, unter welchen sozioökonomischen und sozioökologischen Bedingungen er sich entwickelt und welche Deutungsvarianten dann noch für die Selbstautorenschaft der eigenen Biografie zur Verfügung stehen. Dieses Gewicht, welches das Leben Menschen aufbürdet, kann zwar gestaltet werden, muss aber irgendwie auch ertragen und getragen werden. Entsprechend suchen Menschen seit langem, dieses Gewicht auf ein erträgliches Maß zu reduzieren: Man teilt es und versucht, es gemeinsam zu tragen; man schränkt Bedürfnisse ein; man wälzt es auf andere ab und man versucht es, »nicht zuletzt mit Hilfe von Rauschmitteln, in der Betäubung« (Sloterdijk, S. 120) zu vergessen und zu überfliegen. Mit der biologisch von anderen entschiedenen Geburt sind also unausweichlich zwei Aufgaben unkalkulierbaren Ausmaßes verbunden: Zum einen haben Menschen die Aufgabe, eine psychische und soziale »Selbstgeburt« zu bewältigen, und müssen die damit in Verbindung stehende Verantwortung tragen lernen. Existieren bedeutet insofern, mit diesem »Nachteil« des Geborenseins umzugehen. Zum anderen bedeutet es aber auch, nach Möglichkeiten suchen zu © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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können, auf welche Weise die Tatsache des Geborenseins Wege zur Selbst- und Weltentdeckung eröffnet. Nun versuchen sich Menschen an diesen unvermeidlichen Aufgaben, wobei das »Projekt Identität« (Kraus, 1996) nicht selbstverständlich und für alle Fälle als gelingend angesehen werden kann. Die zu beantwortende Frage lautet: Mache ich mich als biologisches Geschöpf anderer zu meinem eigenen seelischen und sozialen Schöpfer? Will ich sein und mich dieser Aufgabe stellen oder lieber doch nicht sein, was mich aber nicht der Verantwortung enthebt, auch für diese Wahl geeignete Ausweich- und Lösungsmöglichkeiten zu finden? Die Konsequenzen des Geborenseins sind, egal auf welche Art die Seinsfrage beantwortet wird, nicht mehr zu negieren. Auch wird man über kurz oder lang realisieren, dass gelegentliche oder vorübergehende Berauschungen zwar subjektiv zu einer Reduzierung der Last führen können. Doch letztlich kann weder »Theorie noch Alkohol […] eine lückenlose Daseinsverhütung garantieren« (Sloterdijk, S. 18). Nun tun sich Menschen unterschiedlich schwer damit, mündig zu werden und die Verantwortung für sich zu übernehmen. Dies betrifft sowohl Optionen in der Beziehung zu sich selbst als auch Optionen in der Beziehung zu anderen. Erschwerend kommt hinzu, dass diese Herausforderungen und Reifungsschritte zwar irgendwann beginnen, aber niemals mehr aufhören, solange ein Mensch lebt. Das heißt, Selbstschöpfung und Mündigwerdung sind permanente und dynamische Vorgänge, die immer wieder an neue Aufgaben und neue Lebensphasen angepasst werden müssen. Menschen kommen somit um die Frage der eigenen Mündigwerdung nicht herum und müssen sich dieser Herausforderung stellen. »Wenn zutrifft«, schreibt Sloterdijk, »dass Menschen ›ungefragt‹ ins Leben gesetzt werden, so können sie entweder überhaupt nie mündig werden – weil eine nachträgliche Anhörung in der Zeugungsfrage ein Ding der Unmöglichkeit ist – oder [sie werden es, R. K.] in dem Augenblick, in dem das Individuum die bevormundende Bestimmung zum Leben durch seine Erzeuger nachträglich gutgeheißen und sich mit allen Folgen der sexuellen Selbstherrlichkeit seiner Eltern einverstanden erklärt hat. Das Datum der Mündigwerdung wäre folglich der Tag, an dem sich das Subjekt in voller Einsicht in © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Lebenskosten und -risiken, die Todesgewissheit inbegriffen, dazu entschließt, seinen Eltern rückwirkend Prokura zu erteilen für den Koitus, der zu diesem Leben führte« (Sloterdijk, S. 275 f.). Rose Ausländer (1992, S. 96) drückt dieses Annehmen des Lebens mit seinen Möglichkeiten und Unwägbarkeiten in einer ganz anderen, lyrischen Sprache in folgenden Zeilen aus: Mit euch allen Schweben mit dem Vogel mit der Sonne leuchten rollen mit der Erde Mit euch allen feiern das unverlässliche Leben. Gelingt aber die Annahme des Lebens nicht, erscheint die Herausforderung der psychischen und sozialen Selbstgeburt und Selbstschöpfung als zu groß, die Unverlässlichkeiten und Widerfährnisse des Lebens zu schwer, und werden die eigenen zur Verfügung stehenden Ressourcen als zu gering eingeschätzt, wird die Suche nach glaub- und lebbaren Optionen zur unerträglichen Last. Solche Krisen können zu jedem beliebigen Zeitpunkt im Leben eines Menschen auftreten. Allerdings spielt es eine bedeutende Rolle, ob sich Menschen in ihrem bisherigen Leben eher als kompetent bei der Bewältigung von Krisen erleben konnten oder eher nicht, ob sie in ein eher bindungssicheres Milieu geboren wurden oder eher nicht, ob sie belastende und die Entwicklung einschränkende familiäre Verhältnisse eher als eine Herausforderung und Reifung nutzen konnten oder eher nicht. Kann das Leben mit seinen Unwägbarkeiten nicht angenommen werden, gehen der Glaube an sich selbst, die Lust an der Beobachtung © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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der eigenen Möglichkeiten, die Neugierde auf das »Noch-Nicht« verloren und drohen einem »Nicht-Mehr« zu weichen. Es entwickelt sich das, was man gemeinhin eine Krise nennt. Eine Krise, die im wahrsten Sinne des Wortes als »existenziell« bezeichnet werden muss. Dies geschieht in einer historischen Epoche, die nicht nur durch ein »Verstummen der Götter« (Sloterdijk, 1993, S. 132) und damit durch ein nicht zu leugnendes Sinn- und Handlungsvakuum, sondern auch durch eine »Entritualisierung der Überwältigung« (S. 132) gekennzeichnet ist. Und beides muss in engem Zusammenhang miteinander gesehen werden. Das Verstummen der Götter führt zu dem Phänomen, dass Rausch und Kult auseinanderdriften und damit die Berauschung entsakralisiert und dem privat-profanen Gebrauch zugerechnet wird. Umgekehrt ist die nun nicht mehr rituell abzumildernde drohende Überwältigung durch Lebensherausforderungen die Grundlage, unkontrollierte Berauschung bis hin zu dem Risiko der Selbstzerstörung wahrscheinlicher werden zu lassen. Menschen kommen dann mit einer Seinsqualität in Berührung, die sie nicht nur in der Welt sein (und leiden) lässt, sondern ihnen auch die Option eröffnet, nicht mehr in der Welt sein (und leiden) zu müssen. Die Existenz und die Möglichkeit der Inexistenz tangieren sich an dieser Stelle. Der Alkohol stellt dann einen Zufluchtsort dar für das Erleben, unzureichend, krank, entfremdet und den Dingen nicht mehr gewachsen zu sein. Der Rausch ermöglicht es, ein Selbst in der Welt zu sein und sich zugleich von eben diesem Selbst in der Welt zu distanzieren. Ein Erfahrungsraum eröffnet sich, in dem all die Sorgen, Kämpfe, Aufgaben und sozialen Verbindlichkeiten ausgesetzt werden, die das Leben in der Welt bereithält, und erteilt der Tendenz, verantwortlich, leistungsfähig und wach sein zu müssen, eine Absage. Ein Raum, in dem noch nichts entschieden ist und in dem alles entschieden werden kann. Und dies gerade dadurch, dass neben der gesetzten und unausweichlichen Existenz sich der Sprung in die Inexistenz als Möglichkeit zeigt. Die Entwicklung hin zu einem abhängigen Trinken ist somit auch vor diesem existenziellen und historischen Hintergrund zu verstehen. Nicht zufällig ist die Rate suizidaler Handlungen und geglückter Suizide im Kreis abhängig trinkender Menschen höher als in © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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vergleichbaren anderen Bevölkerungsgruppen. Ob das abhängige Trinken nun die suizidale Tendenz erst entstehen lässt, eine bereits vorhandene Suizidalität zusätzlich fördert, das Trinken selbst als suizidale Handlung verstanden werden kann (in der Fachliteratur wird dies als protrahierter Selbstmord schon seit langem beschrieben; Feuerlein, 1979) oder das Trinken gar suizidale Handlungen verhindert, sind dabei offene, nicht zu beantwortende Fragen.
Fallbeispiele So kann man in der Arbeit immer wieder Fallverläufe finden wie den eines 26-jährigen Mannes, der als schizophren galt und überwiesen wurde, weil er seit fünf Jahren exzessiv Alkohol trank. Er war mehrfach in psychiatrischen Einrichtungen, weil er unter der Angst litt, man könne seine Gedanken hören. Die daraus resultierende Spannung war so groß, dass er bereits zwei Mal versuchte, sich mit Medikamenten das Leben zu nehmen. Auf die Frage, wie er sich erkläre, dass er noch am Leben sei, antwortete er: »Da bin ich im Moment zu weit von weg [suizidalen Handlungen, R. K.]. Vielleicht fehlen mir auch der Mut und die Entschlussfreude. Und wenn es ganz schlimm wird mit meinen Gedanken und meinem Alleinsein, betrinke ich mich mit Bier. Und dann geht es wieder.« Hat das abhängige Trinken in diesem Fall nun eher eine suizidbegünstigende oder eher suizidverhindernde Wirkung? Auf jeden Fall verweisen sowohl die suizidalen Handlungen als auch das abhängige Trinken auf die bisher untauglichen und aus Sicht des Klienten vergeblichen Versuche eines Mannes, sich in seinem Leben zurechtzufinden, es annehmen zu können, mündig zu werden. In einem anderen Fall wurde eine 48-jährige Klientin wegen exzessiven Trinkens von einem niedergelassenen Psychiater vermittelt. Sie hatte zahlreiche Entgiftungen hinter sich und musste bereits drei Mal im Vollrausch wegen lebensbedrohlicher Symptome intensivmedizinisch behandelt werden. Sie war verheiratet und lebte mit ihrem Mann und zwei Kindern zusammen. Zum Zeitpunkt des ersten Kontaktes lebte der Sohn an seinem Studienort. Die Tochter plante ihren Auszug. Im ersten Gespräch wirkte die Klientin aufgeschlossen, gepflegt © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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und redegewandt. Sie sei sich sicher, dass sie seit der letzten Entgiftung die Sache mit dem Trinken im Griff habe. Sie habe endlich kapiert, dass sie die Finger vom Alkohol lassen müsse, und habe es nun seit zwei Wochen geschafft. Es gebe keinen Grund, weswegen es nicht auch weiterhin funktionieren sollte, zumal sie sich so viel besser fühle. Ein zweiter Termin wurde dennoch auf Wunsch der Klientin vereinbart. In diesem zweiten Gespräch wirkte sie körperlich extrem angeschlagen. Etwa eine Woche nach dem ersten Gespräch habe sie trotz ihrer guten Vorsätze massiv und über mehrere Tage hinweg getrunken. Sie sei darauf hin ins Krankenhaus eingeliefert worden und musste auf der Intensivstation künstlich beatmet werden. Seit gestern sei sie wieder auf eigenen Wunsch und gegen ärztlichen Rat entlassen worden. Sie habe sich von einer Freundin nach der Entlassung nach Hause bringen lassen, da sie Angst vor möglichen Gewalthandlungen ihres Ehemanns hatte. Die Frage, ob es sich bei ihrem Trinken eher um ein »normales« abhängiges Trinken handele oder eher suizidale Tendenzen darin zu erkennen seien, wehrte sie anfangs rigoros ab. Allerdings schälte sich im Laufe des Gesprächs heraus, dass mit einem gelingenden Suizid auch positive Lösungen verbunden sein könnten: Ihr Ehemann ertrage die Situation seit Jahren, weil er glaube, sie nicht alleine lassen zu können. Im Fall eines Suizids wäre er vor dem finanziellen Ruin einer Scheidung geschützt. Und sie selber schütze sich mit einem gelungenen Suizid vor der Einsamkeit für den Fall, dass der Ehemann den Trennungsschritt trotz aller Ambivalenzen und trotz ihres Trinkens doch noch vollziehe. Sie berichtet in der Folge, die Tochter sei am Samstag ausgezogen, was sie sehr schmerze. Sie habe das niemandem mitteilen können. Die Familie drohe zu zerfallen, da nun auch das zweite Kind nicht mehr zu Hause sei. Gleichzeitig bestehe keine Vision, wie das Leben des Ehepaares weitergehen solle. Wenn sie sterben würde, könnte ihr Tod für »geordnete Verhältnisse« sorgen. In diesem Fall scheint die Option eines Sprungs in die Inexistenz ganz offensichtlich Vorteile im Erleben der trinkenden Klientin zu haben. Allerdings nimmt sie keine direkte suizidale Handlung vor, wie dies bei dem 26-jährigen Klienten der Fall war. Das Trinken © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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selbst folgt einer suizidalen Dynamik, die aber vordergründig als Alkoholabhängigkeit firmiert. Abhängige und suizidale Prozesse unterscheiden sich zwar, gleichzeitig vereint sie die Idee, so nicht mehr leben zu wollen bzw. zu können.
Konsequenzen Wie auch immer die individuellen Abläufe interpretiert werden – die Berauschung durch Alkohol entfaltet eine zweifache Konsequenz: Einerseits distanziert sie von den existenziellen Herausforderungen, lässt neue Ideen und Reflexionen zu und eröffnet so die Chance zu einem neuen Reifungsschritt im Sinne eines privatisierten Übergangsrituals. Andererseits kann sie die Entwicklung hin zu einem abhängigen Trinken fördern, wenn keine realisierbaren Alternativen für die vorhandene Problemsituation gefunden werden können. Ob die Begründungen dafür in einer als unabänderlich erlebten Leidensgeschichte, einer als unerträglich bewerteten körperlichen, psychischen oder sozialen Verfasstheit oder am Verlust des Glaubens an sich oder an die Welt liegen mögen, sei dahingestellt. Tatsache ist: Die Berauschung wird dann zum Überlebensmittel. Entwickelt sich aufgrund fehlender oder dissoziierter Alternativen für die nicht mehr passende Lebenssituation ein abhängiges Trinken, lässt sich eine Einschränkung von Wahlmöglichkeiten oder gar eine »Pathologie der Wahl, ein Nicht-mehr-wählen-Können« (Isebaert, 1999, S. 141) feststellen. Die Fähigkeit, neben den bisher realisierten Möglichkeiten immer auch andere Optionen und Fähigkeiten für möglich zu halten und gleichzeitig zu erkennen, dass Möglichkeiten gerade durch dieses Beobachten alternativer Optionen wiederum übersehen werden, geht verloren. Der Möglichkeitsraum verengt sich. Der abhängig trinkende Mensch hat dann aufgehört, seine Sicht auf sich und die Welt zu beobachten, und kann keine andere Perspektive mehr sich selbst und seinen sozialen Beziehungen gegenüber einnehmen. Um nicht missverstanden zu werden: Der abhängig trinkende Mensch hat nicht etwa prinzipiell seine Fähigkeit zum Beobachten verloren. Immerhin kommt er ja gerade aufgrund dieser noch © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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funktionierenden Beobachtung zur Entscheidung des Trinkens. Er hat vielmehr die Fähigkeit verloren, sich selbst bei ebendieser Beobachtung der Welt, die ihn zum abhängigen Trinken geführt hat, zu beobachten. Er kann keine, über seine selbst hergestellten Beobachtungsgrenzen hinausgehenden, zusätzlichen Möglichkeiten in sein Kalkül einbeziehen. Der Mensch hat so weder einen Zugang zum Kostbaren in sich noch zum Vertrauensspendenden in seinen sozialen Bezügen. Er verzichtet auf bzw. verliert die Fähigkeit zur Transzendenz. Der Stolz, die Freude und die Dankbarkeit für den gelingenden Prozess der Selbstschöpfung bleiben für ihn in seinem Erleben unerreichbar. Stattdessen beginnt er sich zu schämen, zu verachten, gar zu hassen. Er ist blind geworden und verliert dadurch den Glauben an ein »Jenseits im Diesseits«. Menschen mit einem abhängigen Trinkverhalten haben zu entscheiden, ob sie sich angesichts ihrer existenziellen Krise inklusive einer eingeschränkten Wahlfreiheit die Dynamisierung ihrer Situation zumuten möchten oder nicht. So eindeutig dies aus der Perspektive der Beobachter auch mit einem »Ja« beantwortet wird, so ambivalent und uneindeutig ist dies aus der Innenperspektive der trinkenden Menschen.
Beratung und Therapie Geht man davon aus, dass Menschen mit einem abhängigen Trinken sich seit geraumer Zeit in einer Situation befinden, in der die bis dato vorhandene Struktur ihres Lebens nicht mehr passt und eine neue, passendere Struktur noch nicht vorhanden ist, dann findet die erste beraterisch-therapeutische Begegnung in einer Phase statt, die als ein »Sein dazwischen« verstanden werden kann. In einer sogenannten Schwellenphase, die einen Kontext von Zeit, Raum und Beziehung repräsentiert, der als Angelpunkt der Transformation von einem Zustand in einen anderen angesehen werden kann. Die Schwellenphase trennt also einerseits vom alten, nicht mehr passenden Zustand und hat andererseits das Ziel, den Wandel zum und die Vorbereitung auf den neuen und passenderen Zustand zu gewährleisten (van Gennep, 1986). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Metaphorisch kann dieser Übergang als eine Brücke angesehen werden, die die alte Struktur mit der neuen Struktur verbindet. Dann stellt der Übergang, die Schwellenphase, nicht nur eine Verbindung auf einer Horizontalen, sondern auch auf einer Vertikalen dar. Damit wird auf existenzielle Fragestellungen verwiesen, die mit einem Übergang verbunden und in ihn eingewebt sind. Der Übergang »verbindet also nicht nur«, wie Heidegger in seiner Brücken-Metapher schreibt, »zwei Uferpunkte miteinander« (Safranski, 1994/2009, S. 471). Die Passage mutet vielmehr einen Blick in den Abgrund zu, konfrontiert uns mit dem »Gefühl für das Riskierte des Daseins. Es zeigt sich das Nichts, über das wir balancieren« (S. 470). Gleichzeitig ragt die Überbrückung »über den Abgrund hinaus ins Offene des Himmels« und »verbindet im Übergang der Sterblichen die Erde mit dem Himmel« (S. 471). Im Übergang liegt somit für diejenigen, die diese Passage zu meistern haben, zweierlei: die Not und die Möglichkeit, das Risiko und die Chance zu einem neuen Entwurf. Allerdings muss genau dies entschieden werden. Denn: Die Brücke wächst erst dann unter den Füßen, »wenn wir sie begehen« (S. 471). Insofern konfrontiert der Übergang den Passierenden mit der Freiheit und der Möglichkeit zum eigenen Entwurf, ohne aber für jeden Schritt bereits Sicherheit und damit Angstvermeidung garantieren zu können. Vielmehr lässt er den Menschen, wie Kierkegaard schreibt, die Angst als das Gewahrwerden der »Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit« (Kierkegaard, 2005, S. 488) spüren. Ein Zustand, der nur durch einen Sprung, durch Zurücklassen, Loslassen und die Entscheidung zum Risiko, nicht etwa durch vorsichtiges, an Sicherheit orientiertes Voranschreiten überwunden werden kann. »Der qualitative Sprung«, schreibt Kierkegaard, »steht außerhalb aller Zweideutigkeit« (S. 489). Entschließt sich der Mensch zu einem qualitativen Sprung, wird er mit mindestens zwei Auseinandersetzungen konfrontiert, was den Sprung zu einer existenziellen Herausforderung macht: mit der Hoffnung und der Freiheit. Diese auf den ersten Blick positiv besetzten Begriffe haben in diesem Zusammenhang einen »Haken«. Einerseits bezog sich die Hoffnung bislang darauf, alles könne bleiben, wie es ist, und alles © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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werde wieder gut. Diese Hoffnung gilt es aber, als ein die Probleme stabilisierendes Element zu verstehen und aufzugeben. Die Aufgabe besteht darin, sich von der problemstabilisierenden Hoffnung zu verabschieden, sich davon zu trennen, um auf die Suche nach einer Hoffnung zu gehen, die Neues und Anderes eher möglich zu machen verspricht. Und das wiederum bedeutet zunächst einen Verlust an Hoffnung, ein Mehr an Unsicherheit, damit eine neue und passendere Hoffnung ge- und erfunden werden kann. Drei-phasen-Struktur oben
»Sprung« A
B Schwellenphase
Struktur I
Struktur II
unten
Abbildung 1: Qualitativer Sprung
Andererseits besteht die Möglichkeit der Freiheit in diesem Zusammenhang nicht darin, dass man entweder »das Gute oder das Böse« (Kierkegaard, 2005, S. 497) unterscheiden und wählen könnte. Das wäre ein relativ leichtes Unterfangen. »Die Möglichkeit besteht im Können« (S. 497). Und diese Freiheit stellt die existenzielle Herausforderung dar, die dem Menschen im Prozess seiner Selbstschöpfung und Mündigwerdung begegnet. Die Möglichkeiten und Chancen, die Ängste und Hoffnungen, die Verbindungen von Erde und Himmel und nicht zuletzt die Erfordernis, sich einem »Sprung« zu nähern, bei dem zwar der Absprung (das Können), nicht aber die »Landung« (das Böse oder das Gute) vorausgesagt und eingeschätzt werden © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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kann. Dieser Prozess ist damit notwendigerweise mit zwei negativ bewerteten Affekten verbunden: Angst vor dem Unkalkulierbaren und Trauer in Bezug auf das, was getrennt, zurückgelassen, beendet werden muss. Insofern sind Angst und Trauer im Rahmen eines Veränderungs- oder Transformationsprozesses durchaus auch positive Hinweise dafür, dass Menschen sich dieser Aufgabe zu stellen beginnen. Mit dem qualitativen Sprung sind somit Herausforderungen verbunden, die an das »Heinz-von-Foerster-Theorem« (von Foerster u. Bröcker, 2002, S. 67) erinnern. Von Foerster schreibt dazu: »Es sind nur die prinzipiell unentscheidbaren Fragen, die wir entscheiden können«; und führt weiter aus: »[…] alle entscheidbaren Fragen sind ja schon vorentschieden, denn sie sind in einem Bereich gefragt worden, für den die Spielregeln bereits bestimmt sind. Also wenn ich die Frage stelle: ›Ist zwei mal zwei vier oder fünf?‹, kann das entschieden werden. Warum? Weil die Regeln der Mathematik bereits akzeptiert worden sind« (S. 67 f.). Der qualitative Sprung konfrontiert den Menschen mit einem möglichen und zukünftigen Lebensbereich, von dem er nicht wissen kann, ob die Regeln »dort« noch den Regeln »hier« entsprechen werden. Ein unkalkulierbares Risiko, das den jeweiligen Übergang zusätzlich kennzeichnet und das ein Spielen mit den Möglichkeiten, ein »Noch-nicht« so nachvollziehbar erscheinen lassen. Ein Schweben zwischen Existenz und Inexistenz, das durch Berauschung erträglich gemacht, aber nicht gelöst werden kann. Die Berauschung oder gar Abhängigkeit stellt insofern nicht bereits die Antwort auf die existenzielle Frage dar. Sie ist weder eine Festlegung noch der Endpunkt der Entwicklung. Vielmehr ist sie vorläufig, noch nicht entschieden – Schwellenhandeln eben. Sie ist als ein vorläufiger Versuch zu verstehen, auf all das noch nicht Beantwortbare vorerst und noch nicht endgültig zu reagieren. Diese Dynamik des »Noch-nicht« lässt sich mit dem Begriff des »Zauderns« (Vogl, 2007) bezeichnen. Zaudern in diesem Sinne kann als ein Vorgang verstanden werden, bei dem noch nicht entschieden ist und noch nicht entschieden wird. Vielmehr unterbricht das Zaudern »Handlungsketten und wirkt als Zäsur, es potenzialisiert die Aktion, führt in eine Zone der Unbestimmtheit zwischen Ja und © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Nein, exponiert eine unauflösbare problematische Struktur und eröffnet eine Zwischen-Zeit, in der sich die Kontingenz des Geschehens artikuliert« (Vogl, 2007, S. 57). Im abhängigen Trinken ist also eine Unterbrechung des Erwartbaren, ein Innehalten, eine Auseinandersetzung mit den Begrenzungen und Möglichkeiten des vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Lebens eingewebt. Diese zu entdecken, ohne bereits eine Veränderung in welcher Form auch immer zu erwarten, ist die Herausforderung therapeutischen Handelns. Sie eröffnet einen respektvollen, neugierigen und neutralen Blick (Cecchin et al., 1993) auf die verborgenen Potenzen abhängig trinkender Menschen, wobei Potenz oder Vermögen nicht allein die Fähigkeit bedeutet, »dies oder das zu tun oder zu sein, sondern eine Macht, sich nicht zu aktualisieren, nicht in die Aktualität überzugehen« (Vogl, 2007, S. 29). Ein Reflexionsraum wird so eröffnet, in dem Menschen sich den Widerfährnissen des bisherigen Lebens stellen und gleichzeitig abwägen können, ob und, wenn ja, auf welche Art der Mut zum Sprung riskiert werden kann. Das abhängig trinkende Menschen kennzeichnende Zaudern stellt also weniger eine die Veränderung verhindernde Dynamik da – vielmehr kann sie als ein äußerst positiver Nährboden für mögliche Wandlungen des bisherigen Seins und der bisherigen Identität verstanden werden. Das Zaudern operiert nämlich potenziell »an den Anschlüssen, an den Fugen, an den Synapsen und Scharnieren, […] an denen der Aggregatzustand dieser Welt, ihre Festigkeit und ihre Verlaufsform, auf dem Spiel steht« (Vogl, 2007, S. 29). Auf der anderen Seite eröffnet die Entscheidung zum qualitativen Sprung, der Mut zum Risiko und die Entschlossenheit sowohl »weg von« als auch »hin zu« einem noch nicht vollständig fassbaren Lebenszusammenhang, ein Mündigwerden, das sich der Last der Existenz stellt und sich als Reifungsschritt herausstellen kann. In der »Geschichte von der Sandwüste« (Shah, 1995) lässt sich sowohl das Zaudern als auch der Mut zum Sprung in metaphorischer Weise nachvollziehen: »Ein Strom floß von seinem Ursprung im fernen Gebirge durch sehr verschiedene Landschaften und erreichte schließlich die Sandwüste. Genauso wie er alle anderen Hindernisse überwunden hatte, versuchte der Strom nun
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auch, die Wüste zu durchqueren. Aber er merkte, daß – so schnell er auch in den Sand fließen mochte – seine Wasser verschwanden. Er war jedoch überzeugt davon, daß es seine Bestimmung sei, die Wüste zu durchqueren, auch wenn es keinen Weg gab. Da hörte er, wie eine verborgene Stimme, die aus der Wüste kam, ihm zuflüsterte: ›Der Wind durchquert die Wüste, und der Strom kann es auch.‹ Der Strom wandte ein, daß er sich doch gegen den Sand werfe, aber dabei nur aufgesogen würde; der Wind aber kann fliegen, und deshalb vermag er die Wüste zu überqueren. ›Wenn du dich auf die gewohnter Weise vorantreibst, wird es dir unmöglich sein, sie zu überqueren. Du wirst entweder verschwinden, oder du wirst ein Sumpf. Du mußt dem Wind erlauben, dich zu deinem Bestimmungsort hinüberzutragen.‹ Aber wie sollte das zugehen? ›Indem du dich von ihm aufnehmen läßt.‹ Diese Vorstellung war für den Fluß unannehmbar. Schließlich war er noch nie zuvor aufgesogen worden. Er wollte keinesfalls seine Eigenart verlieren. Denn wenn man sich einmal verliert, wie kann man da wissen, ob man sich je wiedergewinnt. ›Der Wind erfüllt seine Aufgabe‹, sagte der Sand. ›Er nimmt das Wasser auf, trägt es über die Wüste und läßt es dann wieder fallen. Als Regen fällt es hernieder, und das Wasser wird wieder ein Fluß.‹ ›Woher kann ich wissen, ob das wirklich wahr ist?‹ ›Es ist so, und wenn du es nicht glaubst, kannst du eben nur ein Sumpf werden. Und auch das würde viele, viele Jahre dauern, und es ist bestimmt nicht dasselbe wie ein Fluß.‹ ›Aber kann ich nicht derselbe Fluß bleiben, der ich jetzt bin?‹ ›In keinem Fall kannst du bleiben, was du bist‹, flüsterte die geheimnisvolle Stimme. ›Was wahrhaft wesentlich an dir ist, wird fortgetragen und bildet wieder einen Strom. Heute wirst du nach dem genannt, was du jetzt gerade bist, doch du weißt nicht, welcher Teil deines Selbst der Wesentliche ist.‹ Als der Strom dies alles hörte, stieg in seinem Inneren langsam ein Widerhall auf. Dunkel erinnerte er sich an einen Zustand, in dem der Wind ihn – oder einen Teil von ihm? War es so? – auf seinen Schwingen getragen hatte. Er erinnerte sich auch daran, daß dieses, und nicht das jedermann Sichtbare, das Eigentliche war, was zu tun wäre – oder tat er es schon? Und der Strom ließ seinen Dunst aufsteigen in die Arme des Windes, der ihn willkommen hieß, sachte und leicht aufwärts trug und ihn, sobald sie nach vielen, vielen Meilen den Gipfel des Gebirges erreicht hatten, wieder sanft herabfallen ließ. Und weil er voller Be-Denken gewesen war, konnte der Strom nun in seinem Gemüte die Erfahrungen in allen Einzelheiten viel deutlicher festhalten und erinnern und davon berichten. Er erkannte: ›Ja, jetzt bin ich wirklich ich selbst.‹
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Der Strom lernte. Aber die Sandwüste flüsterte: ›Wir wissen, weil wir sehen, wie es sich Tag für Tag ereignet: denn wir, die Sandwüste, sind immer dabei, das ganze Flußufer entlang bis hin zum Gebirge.‹ Und deshalb sagt man, daß der Weg, den der Strom des Lebens auf seiner Reise einschlagen muss, in den Sand geschrieben ist« (Shah, 1996, S. 15 ff.).
Von diesen basalen, teils therapeutischen, teils ritualtheoretischen teils philosophischen Ausführungen ausgehend, stellt sich nun die Frage, was von einer therapeutischen Begegnung zwischen Helfern und Klienten zu erwarten ist und was nicht. Zunächst ist eine einseitige Veränderung des abhängigen Trinkens durch Helfer aussichtslos. Ein gelingender Veränderungsprozess bedarf immer der Zustimmung der Person, die den Wandel vollziehen soll. Gleichzeitig ist weder klar, wie die Veränderung zuverlässig ausgelöst werden kann, noch kann präzise vorausgesagt werden, welche Folgen diese nach sich zieht. Aus diesem Umstand ergibt sich ein Dilemma für die helfende Begegnung, das Ludewig (2005) in seinem »Therapeutendilemma« folgendermaßen formuliert: »Handele wirksam, ohne im Voraus zu wissen, wie und was dein Handeln auslösen wird« (S. 76). Damit aber nicht genug. Von den philosophisch inspirierten Gedanken dieses Beitrags ausgehend kann die Begegnung zwischen Helfern und Süchtigen weiter zugespitzt werden, denn philosophische »Therapeutik ist eine Schule des Seins-und-Nicht-Seins« (Sloterdijk, 1993, S. 155). Helfer und Süchtige »stehen einander als Subjekte gegenüber, die voneinander wissen, dass sie füreinander letztlich nichts tun können. Der Droguierte weiß, dass er seinem Helfer zuliebe nicht suchtlos werden kann; der Helfer weiß, dass keine noch so maternisierende Zuwendung dem Süchtigen seinen Hunger nach Überwältigung nehmen wird. Die Grundsituation der Suchttherapie ist also nicht die schlichte Fürsorge-Verabredung zwischen Helfer und Klient, sondern das Duell zwischen zwei Bewusstseinen, die sich gegenseitig hilflos machen. Die Hilflosigkeit eines jeden gegenüber dem anderen ist identisch mit der Macht, dem anderen seine Ohnmacht aufzuzeigen. Irgendwann aber wird der Helfer dem Süchtigen doch deutlich machen, dass er ihn untergehen lassen kann, ebenso wie der scheinbar hilfesuchende Süchtige seinem Helfer in einem Augenblick der Wahrheit zu verstehen geben wird, dass er ihn kaum je zu einem Leben unter den Bedingungen durchschnittlicher © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Nüchternheit überreden kann. Mit diesem Befund wird eine tragische Grenze erreicht, die von keiner Therapeutik zu überschreiten ist« (S. 157). So pessimistisch sich dieses Zitat liest, so klar wird aber auch die Ebenbürtigkeit zwischen Helfern und ihren Klienten betont. Auf dieser und nur auf dieser Grundlage sollten und können Reflexionen über das eigene Trinkverhalten inklusive der Beziehung zu sich und anderen Menschen therapeutisch begünstigt werden. Hieraus ergeben sich dann auch Hinweise, wer wann welches Ziel definiert, welche offenen und verdeckte Vorteile und welche sichtbaren und verborgenen Risiken damit verbunden sein können. Und es ergibt sich, ob angesichts des Risikos und der Angst, aber auch angesichts der Chance und der Neugierde der Sprung gewagt wird oder nicht.
Literatur Ausländer, R. (1992). Gelassen atmet der Tag. Frankfurt a. M.: Fischer. Cecchin, G. Lane, G., Ray, W. (1993). Respektlosigkeit – eine Überlebensstrategie für Therapeuten. Heidelberg: Carl Auer. Engelmann, B. (2010). Reiseziel Glück. Heidelberg: Carl Auer. Feuerlein, W. (1979). Alkoholismus – Mißbrauch und Abhängigkeit. Stuttgart: Thieme. Foerster, H. von, Bröcker, M. (2002). Teil der Welt. Heidelberg: Carl Auer. Furman, B. (1999). Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben. Dortmund: Verlag modernes Lernen. Gennep, A. van (1986). Übergangsriten. Frankfurt a. M., New York: Campus. Hirschhausen, E. von (2009). Glück kommt selten allein. Reinbek: Rowohlt. Isebaert, L. (1999). Suchttherapie nach dem Brügger Modell. In H. Döring-Meijer (Hrsg.), Ressourcenorientierung – Lösungsorientierung (S. 140–150). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Kierkegaard, S. (2005). Der Begriff der Angst. München: dtv. Kraus, W. (1996). Das erzählte Selbst. Pfaffenweiler: Centaurus. Ludewig, K. (2005). Einführung in die theoretischen Grundlagen der systemischen Therapie. Heidelberg: Carl Auer. Lütkehaus, L. (2009). Von der schweren Geburt der Geburtsphilosophie. Familiendynamik 2 (34), 124–135. Sartre, J.-P. (1943/1962). Das Sein und das Nichts. Hamburg: Rowohlt. Shah, I. (1995). Das Geheimnis der Derwische. Freiburg u. a.: Herder. Sloterdijk, P. (1993). Weltfremdheit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Safranski, R. (1994/2009). Ein Meister aus Deutschland. Frankfurt a. M.: Fischer. Vogl, J. (2007). Über das Zaudern. Zürich, Berlin: Diaphanes.
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Die systemische Perspektive als Brücke zwischen marxistischer Psychologie und Individualpsychologie Thomas Kieselbach / Michael Stadler
Zum ersten Kongress »Kritische Psychologie« hatten sich 1977 in Marburg mehr als 1000 Teilnehmer eingeschrieben. Hans Schindler wurde uns Bremern als kritisch psychologischer Nachwuchswissenschaftler vorgestellt. Das Thema seiner Diplomarbeit »Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf die Familie« korrespondierte mit unserem Forschungsbereich und so bewarb er sich auf eine Stelle als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an die Uni Bremen, wo er für die nächsten zehn Jahre ein wichtiges Mitglied des Studiengangs Psychologie und schon bald zum stellvertretenden Fachbereichssprecher gewählt wurde, wie damals die Dekane bescheidenerweise genannt wurden. Diese Verknüpfung von Arbeit und Politik entsprach seinem Ziel, neben der inhaltlichen Gestaltung des Studiengangs auch etwas zur hochschulpolitischen Diskussion beizutragen. Für einen fortschrittlichen, linken und marxistischen Wissenschaftler war es außerdem geradezu ein Muss, sich mit Marx und Engels als Urvätern einer wahren Psychologie zu beschäftigen. Hans Schindler schloss sich damals einer Gruppe an, die sich »Hans und Albert« nannte, im Gedenken an »den kleinen Hans« des Sigmund Freud und »den kleinen Albert« des Behavioristen J. B. Watson. Doch in der Hauptsache blieb er zunächst bei seinem Thema, den psychischen Folgen von Arbeitslosigkeit. Er zentrierte sich auf den Aspekt »Familie und Arbeitslosigkeit«. Die Querschnitts-Fragebogenuntersuchung seiner Diplomarbeit, die die Wirkungen der Arbeitslosigkeit auf die Ehefrauen, die Kinder und ihre spezifische Situation darlegte, wurde in den Band »Arbeitslosigkeit, individuelle Verarbeitung, gesellschaftlicher Hintergrund« (hrsg. von Kieselbach und Offe) aufgenommen und analog zur gesellschaftlichen Entwick© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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lung theoretisch in Richtung auf die Kritische Psychologie erweitert. Dieser Sammelband war neben einer Monografie von Ali Wacker die erste Untersuchung der psychischen Folgen von Arbeitslosigkeit. Hans Schindler lernte schon während seines Studiums die »Kritische Psychologie« von Klaus Holzkamp kennen und beschäftigte sich eingehend mit dessen Theorieansatz. Die marxistische Theorie und die Systemtheorie stehen sich näher, als man gemeinhin annimmt. Insofern war für Hans Schindler der Schritt von der marxistisch orientierten Kritischen Psychologie zur Systemtheorie nicht allzu groß, da die Fortsetzung seiner Studien und Aktivitäten nahelag, insbesondere weil er sehr bald schon sein Herz für die Psychotherapie entdeckt hatte. In jener Zeit wurde aus berufspolitischen Gründen ein sehr weites Spektrum von Verhaltenstherapie angestrebt. Dazu gehörte eben auch die systemische Therapie, die in den 1970er Jahren große Fortschritte machte. Die systemische Theorie ist allerdings nicht mit Individualpsychologie gleichzusetzen, da sie generell das soziale, insbesondere das familiäre Umfeld miteinbezieht und dieses sogar im Zentrum des Interesses steht. So steht die bürgerliche Individualpsychologie auf einer Analyseebene mit der Kritischen Psychologie und diese wiederum auf einer Analyseebene mit der marxistischen Theorie. Die Kritische Psychologie kann insofern als Brücke zwischen Individualpsychologie und marxistischer Theorie angesehen werden. Für Hans lag es nahe, in dieser Perspektive eine Psychotherapieausbildung in systemischen Denken und Handeln zu beginnen, da die systemische Psychotherapie ihre Fundierung aus Systemtheorie entwickelte. Insbesondere wurde der Aspekt der Nichtlinearität (in der Gestalttheorie als Übersummativität bezeichnet) hervorgehoben. Als vollständiges System wurde weder die gesamte Gesellschaft noch die Dyade, sondern die Familie angesehen. Dies war, wie wir gesehen haben, schon immer das primäre Interesse von Hans Schindler. Ganz zentral war die Erkenntnis, dass Psychotherapien oftmals in Phasen segmentiert werden. Das in diesem Zusammenhang zu beobachtende Phänomen ist zum einen der Gleichgewichtscharakter einer familiären Konstellation und zum anderen das »katastrophenhaft« erfolgende Umkippen in ein neues Gleichgewicht (Tschacher, 1997). Die wesentlichen Begriffe einer derart umorganisierten Psychothe© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Thomas Kieselbach / Michael Stadler
rapie entstammen ursprünglich der Synergetik und der Selbstorganisationstheorie. Ein deutliches Beispiel derartiger Nichtgleichgewichtsfunktionen zeigt der typische Verlauf psychischer Krankheiten: Plötzliche Kippphänomene findet man insbesondere bei schizophrenen Krankheitsverläufen, die in periodischen Schwingungen verlaufen. Methodisch gesehen kann hier am besten die Fourier-Analyse bzw. die CrossCorrelation eingesetzt werden. Unter Anwendung dieser Methoden konnten Schiepek und Tschacher eine Reihe von typischen Therapieverläufen analysieren. Um nun wieder zur marxistischen Theorie bzw. Kritischen Psychologie zurückzukommen, kann ein Satz von Lenin zitiert werden: »Das Bewusstsein des Menschen widerspiegelt nicht nur die objektive Welt, sondern schafft sie auch« (Lenin, 1973, Bd. 38, S. 203). Oder, im Sinne von Roth (1994), wir sind alle naive Realisten, und das hat sich evolutionär und lebenspraktisch, phylogenetisch wie ontogenetisch bewährt. Und wenn die phänomenale Welt unserer Erfahrung nach eine Produktionsleistung oder – mit anderen Worten – eine Konstruktion unseres Gehirns ist, wo anders als in einem realen Gehirn soll diese Konstruktion denn stattgefunden haben? Die Wirklichkeit wird in der Realität durch das reale Gehirn hervorgebracht. Und zugleich gilt umgekehrt, dass dies nichts anderes ist als eine höchst plausible Annahme, die wir allerdings innerhalb der Wirklichkeit treffen und die nicht als eine Aussage über die tatsächliche Beschaffenheit der Realität missverstanden werden darf (Haken u. Schiepek, 2000, S. 318 f.; s. auch Roth, 1985). Die Unterscheidung zwischen transphänomenaler Realität und phänomenaler Wirklichkeit stellt selbst eine Konstruktion dar und existiert somit nur in der Unterscheidung zwischen organismischer Innenwelt und Außenwelt sowie zwischen Körper und Bewusstsein, die das Gehirn aufgrund interner Kriterien erzeugt (sog. Wirklichkeitskriterien) (Stadler u. Kruse, 1990). Die Erfahrung von »Realität« ist demnach ebenfalls eine Konstruktion unseres Gehirns (Haken u. Schiepek, 2000). Nach seiner Ausbildung als Psychotherapeut in systemischer Therapie wurde Hans Schindler Ausbilder im Bremer Institut für Systemische Therapie und Supervision und seit 1989 Lehrtherapeut, später Mitglied der systemischen Gesellschaft und seit 2011 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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stellvertretender Präsident der Bremer Psychotherapeutenkammer sowie Vorsitzender des Bremer Bündnisses gegen Depression. Hans Schindler hat als Wissenschaftler, Praktiker und Politiker sein System gefunden.
Literatur Haken, H., Schiepek, G. (2000). Synergetik in der Psychologie. Göttingen: Hogrefe. Hiebsch, H., Vorweg, M. (1969). Einführung in die marxistische Sozialpsychologie. Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften. Holzkamp, K. (1973). Sinnliche Erkenntnis. Frankfurt a. M.: Fischer. Kieselbach, T., Offe, H. (Hrsg.) (1979). Arbeitslosigkeit. Darmstadt: Steinkopff. Kieselbach, T., Wacker, A. (1985). Individuelle und gesellschaftliche Kosten der Massenarbeitslosigkeit. Weinheim: Beltz. Lenin, W. I. (1973). Konspekt zur »Wissenschaft der Logik«. In: Werke, Bd. 38. Berlin: Dietz-Verlag. Roth, G. (1985). Die Selbstreferentialität des Gehirns und die Prinzipien der Gestaltwahrnehmung. Gestalt Theory 7, 228–244. Roth, G. (1994). Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Schindler, H. (1979). Familie und Arbeitslosigkeit. In T. Kieselbach, H. Offe (Hrsg.), Arbeitslosigkeit (S. 258–286). Darmstadt: Steinkopff. Stadler, M., Kruse, P. (1990). Über Wirklichkeitskriterien. In V. Riegas, C. Vetter (Hrsg.), Zur Biologie der Kognition. ein Gespräch mit Humberto R. Maturana und Beiträge zur Diskussion seines Werkes (S. S. 133–158.) Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Tschacher, W. (1997). Prozeßgestalten. Göttingen: Hogrefe.
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Nachwort
Lieber Papa, durch die vielen Texte über Dein langjähriges Schaffen und Wirken haben wir uns intensiv mit unseren Erinnerungen an Dich als Psychologe beschäftigt. Jeder von uns hat Dich in anderen Phasen Deines Werdegangs erlebt und trotzdem ist die deutlichste Erinnerung von uns allen, dass Du immer ein sehr engagierter Vater warst, der morgens früh zur Arbeit ging und abends spät nach Hause kam. Rückblickend hast Du immer wieder die Chance wahrgenommen, Deine Arbeitserfahrungen in den familiären Alltag einfließen zu lassen. Oder auch nicht! Um Dir einen kleinen Einblick in unsere Erinnerungen zu ermöglichen, hat jeder von uns versucht, sich an sein eindrucksvollstes Erlebnis mit Dir als Arbeitstier zu erinnern. Uns ist bewusst, dass es nicht immer leicht ist, den Beruf und die Familie voneinander zu trennen, besonders wenn sich diese von Zeit zu Zeit überschneiden, doch wir sind uns einig, dass Du es hin und wieder geschafft hast. Wir danken Dir für die vielen wunderschönen gemeinsamen Jahre, die vielen Erfahrungen, die Du uns ermöglicht hast, und für die Lebensweisheiten, die Du mit uns geteilt hast. Deine Dich liebenden Kinder Alexander, Johannes, Florian, Benjamin und Rose wünschen Dir zu Deinem 60. Geburtstag alles Gute! ***
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Nachwort
Es gibt ein handfestes Risiko mit einem Psychologen als Vater: Im Unglücksfall hat man es zu Hause mehr mit einem Psychologen als mit einem Vater zu tun. Wir hatten Glück. Hans schien den Psychologen zu Hause ins Wachkoma versetzen zu können. Allerdings zeigte er als Vater manchmal Schachzüge, die seine Profession erahnen ließen. Wie jeder andere Pubertierende wurde ich Profi darin, die Wut meiner Eltern auf Kurz-vor-Supernova-Niveau zu bringen. Als ich meinen Vater mal wieder so weit hatte, dass sein Blutdruck gesundheitlich bedenklich wurde, setzte ich meine Brille ab und sagte: »Schlag doch zu!« Erwartungskonform steigerte diese finale Provokation die Wut noch einmal grandios und erzwang gleichzeitig ihre Beherrschung. Yessss! Was für ein genialer Zug! Wochen später war mein Job als Elternprovokateur mal wieder ähnlich erfolgreich: Mein Vater schäumte. Ich nahm die Brille ab und sagte: »Schlag d…« – die Backpfeife knallte bemerkenswert. Ich guckte verdattert. Er lachte und rief: »Ha!« Dann musste auch ich lachen. Ich glaube, das war meine einzige Backpfeife von ihm in meinem Leben.
*** Als ich 18 Jahre alt war, ereignete sich das folgende Gespräch während eines Arbeitseinsatzes in den Sommerferien. Es war einer dieser familiären Pauschalurlaube mit gebuchter Verpflichtung, zur Verbesserung der toskanischen Ex-Ruinen-Bausubstanz beizutragen. Sohn (müht sich damit ab, Wasser, Zement und Sand in Beton zu verwandeln): »Hans, wieso bist du so gut darin, anderen Menschen und deren Familien zu helfen, und bei uns gibt’s immer nur Chaos und Stress?« Vater (verzögert die Antwort für einen kurzen Moment): »Das eine ist mein Beruf und das andere meine Freizeit.« Diese simple und zugleich widersprüchliche Antwort erschien mir für den damaligen Moment absolut schlüssig – das gehört halt zu einem Profi dazu: Er kann die Arbeit nach Feierabend sein lassen, um sich mit den rein privaten Angelegenheiten befassen zu können. *** © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Nachwort
Hans versuchte stets, die Arbeit vom Privatleben zu trennen. Wir wussten zwar im Groben immer, was er machte, aber verständlicherweise blieb immer unklar, wer seine Klienten waren. Und das aus gutem Grund! Aber manchmal macht einem das Leben einfach einen Strich durch die Rechnung. Wie jedes Jahr stand ein Elternabend an, und einer meiner Lehrer hatte das dringende Bedürfnis, mit mir und meinen Eltern zu sprechen. Das Triumvirat der Familie hatte sich sorgfältig auf das anstehende Gespräch vorbereitet, jeder wusste, was kommt, und hatte sorgfältig seine Sätze geübt. Als wir das Klassenzimmer betraten, wurde mein Vater mit einem freundlichen »Guten Tag, Sie sind also Herr Schindler, der Vater von Florian« begrüßt. Gefolgt von einem kurzen, aber bestimmten Moment der Stille … Hier sind wohl Patient und Therapeut in einem ungewohnten Umfeld aufeinandergetroffen. Danach konzentrierte sich das Gespräch auf das Dreigestirn Mutter, Sohn und Lehrer. Hans hielt sich geschickt im Hintergrund und äußerte sich erst wieder, um sich zu verabschieden, als wir die Heimreise antraten. Ich habe zwar nie herausgefunden, in welcher Beziehung die beiden zueinander standen, aber in dieser Situation wurde mir zum ersten Mal bewusst, in welch schwierige Lage er durch seinen Beruf gerät, wenn sich die beiden Welten treffen. *** Der Wille und das Bestreben, sich zu engagieren, nahmen bisweilen bizarre Züge an. So hatte Hans den hohen Anspruch, sich ständig weiterzubilden. Also durfte ich auf einer gemeinsamen Nachtfahrt von Bremen nach Le Barroux am Mont Ventoux in den Genuss einer Fortbildung kommen. Während Mutter und Schwester bis spät in die Nacht Filme guckten, ruhten Hans und ich uns aus. Er fuhr, und ich unterstütze ihn dabei, schnell voranzukommen und nicht einzuschlafen. Die Strecke belief sich auf insgesamt etwa 1.400 Kilometer. Damit keine Langeweile aufkam, schlug Hans vor, statt des nervigen und monotonen Radios eine spannende und bildende Kassette einzulegen. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Nachwort
Am nächsten Morgen, nachdem wir wie geplant gemeinsam in der Ardèche geschwommen waren, konnte ich mich nach einem erholsamen, langen Schlaf nur noch an eine Textstelle erinnern. Diese war ein längerer Monolog über die Auswirkungen der »radikalen Marktwirtschaft« auf die Gesellschaft. Mein Vorsatz, Hans die komplette Fahrt über zu unterstützen, wurde durch diesen Monolog zunichte gemacht. Tatsächlich denke ich heute, wenn ich nicht einschlafen kann, an diese Kassette und ihre phänomenale Wirkung. Leider habe ich keine Kopie. *** Manchmal glaube ich fast, Du hast dieses Buch mehr geplant als ich, seitdem ich angefangen habe zu studieren. Eines der ersten Bücher, die Du mir zu meinem Studium geschenkt hast, war die Festschrift von Ernst August Dölle. Aber besonders die zeitliche Koinzidenz Deiner biografischen Aufarbeitung hat mich doch das ein oder andere Mal stutzig gemacht. Denn erstaunlicherweise fingst Du genau in der Zeit, als ich anfing dieses Projekt zu organisieren, damit an, Deine Publikationen zu katalogisieren. Ich glaube, den schlimmsten Moment, den wir bis jetzt zusammen erlebten, war mein Umzug nach Chemnitz. Du hattest versucht, mich mit allem auszustatten, was man mit Geld kaufen kann. Doch gegen mein Heimweh, meine Traurigkeit und meine Angst, allein in einer fremden Stadt zu sein, ohne zu wissen, wo ich schlafen soll, warst Du machtlos. In diesem Moment warst Du so wenig Psychologe und so sehr verzweifelter Vater, dass Du mich übers Mobiltelefon angeschrien hast, ich müsse da bleiben, und danach war ich nur noch trauriger. Zum Glück konnte ich mich trotzdem auf die Familie 500 Kilometer weit weg verlassen. Und alles wurde gut. Wie sehr es Dich gequält hat, zeigte sich Monate später, als wir uns bei einer Aussprache weinend in den Armen lagen. Du bist halt manchmal auch nur ein Papa. ***
© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Nachwort
Zum Schluss möchten wir noch ein großes Lob an unsere Mutter aussprechen: Ohne sie wäre dieses Buch nicht möglich gewesen – danke für Rat und Tat.
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Die Autorinnen und Autoren
Ilke Crone, Diplom-Psychologin, eigene Praxis mit den Schwerpunkten Supervision, Einzelberatung, Systemisches Elterncoaching. Lehrtherapeutin und lehrende Supervisorin (SG/DGSF) am Bremer Institut für Systemische Therapie und Supervision. Michael Grabbe, Diplom-Psychologe, Approbierter Psychologischer Psychotherapeut, Lehrtherapeut und lehrender Supervisor (IFW, A&E, SG), Systemischer Therapeut und Supervisor (Psychotherapeutenkammer), arbeitet in eigener Praxis für Systemische Therapie, Kinder- und Jugendlichentherapie, Systemisches Elterncoaching, Beratung, Coaching und Supervision in Melle/Osnabrück. Thomas Kieselbach, Dr., Professor für Arbeits- und Gesundheitspsychologie, Sprecher des Instituts für Arbeit, Arbeitslosigkeit und Gesundheit der Universität Bremen. Er verstarb nach Abschluss der Arbeiten zu seinem Beitrag am 16. 12. 2011. Rudolf Klein, Dr. phil., Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut in eigener Praxis. Lehrtherapeut (SGST, wisl, SG). Wolfgang Loth, Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Familientherapeut (IF Weinheim), Systemische Therapie und Beratung (SG). Leiter einer Erziehungs- und Familienberatungsstelle. Jürgen Kriz, Dr. phil., ist em. Professor für Psychotherapie und Klinische Psychologie an der Universität Osnabrück.
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Die Autorinnen und Autoren
Kurt Ludewig, Dr. phil., Diplom-Psychologe, Supervisor, ist Lehrtherapeut für systemische Therapie und Beratung (SG). Revital Ludewig, Dr. phil., Fachpsychologin für Rechtspsychologie, FSP, Paar- und Familientherapeutin, Mitarbeiterin von Tamach, psychosoziale Beratungsstelle für Holocaust-Überlebende und ihre Angehörigen in der Schweiz. Leiterin des Kompetenzzentrums für Rechtspsychologie an der Universität St. Gallen. Peter Luitjens, Diplom-Pädagoge, Systemischer Lehrtherapeut am Bremer Institut für Systemische Therapie und Supervision. Lehrtätigkeit vor allem im Bereich Traumapädagogik und Traumafachberatung, Supervision im Jugendhilfebereich und in psychiatrischen Kontexten. Systemischer Therapeut und Kinder-/Jugendlichentherapeut (SG) in eigener Praxis; Yogalehrer. Sylke Meyerhuber, Dr. phil., Diplom-Psychologin, Sozial-, Arbeitsund Organisationspsychologie, Systemische Beraterin. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am artec/Forschungszentrum Nachhaltigkeit der Universität Bremen und Lehrende am Institut für Soziologie der Universität Bremen. Haja (Johann Jakob) Molter, Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Lehrtherapeut, lehrender Supervisor und Coach (IF Weinheim, SG). Training und Organisationsberatung in molter nöcker networking, systemisches design und management. Elisabeth Nicolai, Dr., ist Professorin an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg, Psychologische Psychotherapeutin, Systemische Familientherapeutin und Supervisorin. 1. Vorsitzende und Lehrtherapeutin des Helm Stierlin Instituts Heidelberg (hsi). Cornelia Oestereich, Dr. med., Psychiaterin, Psychotherapeutin, Familientherapeutin. Ärztliche Leiterin einer psychiatrischen Klinik. Lehrtherapeutin und lehrende Supervisorin (SG) am NIS Hannover e. V.; 1. Vorsitzende der Systemischen Gesellschaft (SG).
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Die Autorinnen und Autoren
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Wiebke Otto, Diplom-Pädagogin, Mitgründerin des Bremer Instituts für Systemische Therapie und Supervision, Lehrtherapeutin und lehrende Supervisorin (SG), Mitglied des Vorstandes der Systemischen Gesellschaft. Eigene Praxis in Bremen, Schwerpunkt Paartherapie. Kurt Pelzer, Diplom-Psychologe, Paar- und Familientherapeut, Leiter des Psychologischen Beratungszentrum Düren, Supervisor und Lehrsupervisor (DGSv und SG). Im Vorstand und Weiterbildungsteam der Arbeitsgemeinschaft für psychoanalytisch-systemische Praxis und Forschung (APF Köln). Dozent bei der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (BKE) und der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Jugend- und Eheberatung (DAJEB). Wilhelm Rotthaus, Dr. med., Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Systemischer Familientherapeut, Lehrtherapeut und Supervisor (DGSF). Arist von Schlippe, Prof. Dr. phil., Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut. Inhaber des Lehrstuhls Führung und Dynamik von Familienunternehmen an der Wirtschaftsfakultät der Universität Witten/Herdecke. Lehrtherapeut und lehrender Supervisor am IF Weinheim – Institut für Systemische Ausbildung & Entwicklung. Jochen Schweitzer, Prof. Dr. rer. soc., Psychologischer Psychotherapeut, ist Professor für Medizinische Psychologie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Heidelberg und leitet dort die Sektion Medizinische Organisationspsychologie. Er ist Lehrtherapeut am Helm Stierlin Institut (hsi). Michael A. Stadler, Dr., em. Professor für Kognitionspsychologie der Universität Bremen, Sprecher des Instituts für Psychologie und Kognitionsforschung. Peter Wetzels, Dr. phil., Professor für Kriminologie an der Universität Hamburg, Fakultät für Rechtswissenschaft und Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (International Master of Criminol© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401842 — ISBN E-Book: 9783647401843
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Die Autorinnen und Autoren
ogy). Psychologischer Sachverständiger für Gerichte und Mitglied des Bremer Instituts für Gerichtspsychologie. Rebecca Wullschleger, freie Journalistin, St. Gallen/Leipzig.
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