Philosophie der Dichtung: Weltstellung und Gegenständlichkeit des poetischen Gedankens [Reprint 2015 ed.] 9783110843538, 9783110051506


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German Pages 220 [224] Year 1965

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Table of contents :
Vorwort
I. Das Problem
1. Einführendes
2. Das poetische Gebilde als Gegenstand der positiven Wissenschaft und der Philosophie
3. Zur Kompetenzfrage
4. Zum systematischen Ort der Untersuchung. Fundamentaltheorie der Dichtung und Ästhetik
II. Die Vorbereitung der Analyse
1. Die systematischen Grundvoraussetzungen jeder Prinzipientheorie
2. Minimalbedingungen für den Ansatz der Analyse
3. Sprache, Theorie und Dichtung
4. Bedeutung und Urteil
III. Das Gedicht und die Grundlegung der theoretischen Leistung
1. Verstoß und Abschluß
2. Gerichtetheit und Positivität
3. Abgeschlossenheit und Progressivität
4. Das Problem der Grundlegung des Abschlusses
5. Theoretische Idee, Bestimmbarkeit und die Grundlegung des poetischen Gefüges
6. Poesie und Historie. Das Gedicht als Verknüpfungsgefüge
7. Das Gedicht kein theoretisches Grenzgebilde
8. Die Funktion des Werkes in Dichtung, Künsten und Wissenschaft
9. Die Geschichtlichkeit der Dichtung und der Wissenschaft. Der Anteil der konkreten Subjektivität an der Fundierung der Poesie
10. Geschichte und Dichtung. Menschlichkeit der Kunst
11. Die materiale Begründungsbedürftigkeit
IV. Das Gedicht und die Grundlegung der axiotisdien Leistung
1. Die axiotische Leistung
2. Denken, Wollen, Dichten
3. Einzelbezüge
V. Das Problem der Geltungsgrundlegung
1. Das Problem der Gegenständlichkeit der Dichtung und die Struktur der Prinzipientheorie
2. Der monadische Ursprung der Dichtung
3. Die systematische Valenz der Bedeutungsfunktion im Grundlegungsgefüge
4. Gedicht und Bedeutung
5. Die Geltungsgrundlegung überhaupt
VI. Das Gedicht und die Gliederung der Objektivationen
1. Poetische und theoretische Gegenständlichkeit
2. Poetische und axiotische Gegenständlichkeit
3. Das Gedicht im Felde des Gegenständlichen
4. Prinzipientheorie, Reflexion, Einstellung auf Ungegenständliches, Grundlegungsgefüge und Folge der Analyse
5. Bestimmung und Bestimmtes
6. Die Gliederung des Gegenstandsfeldes
7. Die Regionen des Transponiblen
8. Abbildung und Bild. Die Begründung der Transposition
9. Die Gestalt. Das Gliederungsprinzip der transponiblen Gefüge
10. Die Grenze der Transponibilität
11. Die Funktion der Gestalt als Vermittlung der Erscheinung
12. Die Abwandlung des Schichtungsgedankens
VII. Gedicht und Gestalt. Zum Problem der systematischen Bestimmtheit
VIII. Das Gedicht unter dem Aspekt der Theorie sekundärer Geltung
1. Das Gedicht als Gegenstand
2. Die Gehaltsvalenz des Gedichts
3. Die Begründung der Transponibilität in der Geltungsdifferenz
4. Richtungsbestimmtheit und Reversibilität
5. Die Bestimmtheit der Stufen
6. Transposition und Produktion
7. Erweiterung des Darstellungsbegriffs
8. Zur Funktion der Sprache im Hinblick auf die Gliederung der Künste
9. Das Gedicht als Bestimmung
IX. Der systematische Anschluß der Grundlegungstheorie der Dichtung
1. Entwurf und Gestalt l
2. Konkrete Subjektivität, Gestalt und Gedanke
3. Zur Fundamentalproblematik der Axiologie
4. Die Abgeschlossenheit von Entwurf und Gedicht
5. Verantwortung und fundierter Vollzug. Die Ungebrochenheit des Bildes
6. Zur Systemgliederung
7. Die dritte Grundlegungshinsicht
Namenverzeichnis
Sachverzeichnis
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Philosophie der Dichtung: Weltstellung und Gegenständlichkeit des poetischen Gedankens [Reprint 2015 ed.]
 9783110843538, 9783110051506

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G.Wolandt • Philosophie der Dichtung

Gerd Wolandt

Philosophie der Dichtung Weltstellung und Gegenständlichkeit des poetischen Gedankens

Walter de Gruyter&Co • Berlin 30 Vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung

• J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung

Georg Reimer • Karl J. Trübner • Veit & Comp.

1965

Arduv-Nr. 36 37 651

© 1965 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J . Gösdien'sche Verlagshandlung



J . Guttentag,

Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl J. Trübner • Veit & Comp., Berlin 30, Genthiner Str. 13, Printed in Germany. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Thormann & Goetsch, Berlin 44.

Vorwort Dürfen wir uns dabei beruhigen, daß jedes Zeitalter etwas anderes für das Dichterische hält? Liegt nicht auch hier dem Sichwandelnden das Eine zugrunde? Ist es überhaupt möglich, von Dichterischem in wissenschaftlicher Weise zu reden, wenn nicht dieses Eine bereits dem Reich der poetischen Erscheinungen zugrunde gelegt wurde? Wie ist dieses Eine zu finden, das allem dichtungswissenschaftlichen Denken die Richtung vorschreibt? Wie ist das Dichterische als ein Wesensbestand bestimmt und von anderen Wesensbeständen unterschieden? Wie verhalten sich Dichtung und Kunst, Dichtung und Sprache, Dichten und Denken zueinander? Ist Dichtung nur eine Kunst unter anderen Künsten oder steht sie in Bezügen, an denen keine der übrigen Künste teilhat? Entfaltet sich das Selbst im Dichterischen ebenso wie in seinen anderen Kulturmöglichkeiten? Entfaltet es sich hier in ganz anderer Weise als dort? Ist das Schaffen (und das Erleben) von Dichterischem etwas Entbehrliches oder ist es von Bedeutung für den Bestand des Selbst? Hat es aber eine Bedeutung, welche Momente des Selbstseins sind von dieser Bedeutung betroffen? Teilt das Dichterische die Vergänglichkeit alles Irdischen oder ist es ein Bleibendes? Und welchen Bestand haben die Gegenstände, die im Gedidit erscheinen? Was bedeutet es, daß sie erscheinen? Das sind nur einige der Fragen, denen sich die Theorie des Dichterischen stellen muß. Es sind Fragen, die der nicht auf sich beruhen lassen kann, der sich Rechenschaft darüber geben will, wovon er spricht, wenn er ein Gedicht ein Gedicht nennt. Das Recht, die einzelne dichterische Aussage in eine Sphäre einzuordnen, in der die Allheit dichterischer Gebilde ihren Platz hat, kann nur ein Begriff geben, der für eine Allheit gilt: ein Grundbegriff. Auf der Suche nach diesem Grundbegriff kann man möglichst dicht bei den Phänomenen bleiben, um den berühmten Boden der Tatsachen nidit unter den Füßen zu verlieren. Man kann den Blick auf die poetischen Phänomene konzentrieren und die wiederkehrenden Züge in diesen Phänomenen freilegen. Aber sind diese Züge auch das Wesentliche und Gründende? Ist die Bestimmtheit des Gründenden bei einer Beschränkung des Blicks auf ein Phänomengebiet überhaupt erfaßbar? Ist Bestimmtheit nicht stets auch Untersdiiedenheit und Andersheit? Und hier, in der Dimension des Gründenden und Wesenhaften, wo nicht mehr Tatsache an Tatsache grenzt, wo nicht das eine Phänomen in anderen Phänomenen seine Nachbarn und seine Ursachen hat, was bleibt hier anderes, als die Grundsachverhalte in ihren eigentümlichen Beziehungen zu studieren und notfalls auf die ersten Ursprünge dieser Beziehungen zurückzugehen?

VI

Vorwort

Jede der eingangs aufgeworfenen Fragen mutet es mir zu, daß ich über das Dichterische hinausfrage. Wenn ich also das Grundlegende einer besonderen Sphäre von Tatsadien und Phänomenen erfassen will, muß ich über diese Sphäre hinausschauen können. Hier stößt alle wissenschaftsimmanente Grundlagenforschung an ihre Grenze. Ein Grund ist Grund seines Gegründeten, aber er ist es nur als Grund unter Gründen: als Moment der Grundlegung. Freilich behält die Grundlagenforschung ihren eigenen Sinn: Sie bahnt den Weg vom Einzelnen, um das die positive Forschung sich bemüht, zum Gründenden. Das ist nicht nur ein schwieriges und mit der fortschreitenden Differenzierung der Forschung und ihrer Fragestellungen immer schwieriger werdendes Geschäft, es ist überdies ein schlechterdings unentbehrlicher Faktor in der Sinnsicherung und Selbstkritik der positiven Theorie. Doch eine fundamentaltheoretische Begründung kann die Grundlagenforschung nicht geben und will sie nicht geben. Es mindert ihre Bedeutung nicht, daß sie Vorletztes und nicht Letztes zu klären sucht, sowenig die positive Theorie dadurch an Wert verlieren kann, daß sie sich auf das Erste, nämlich auf das konkrete Objekt, richtet. Die Grundlagenforschung weist ihrerseits noch zurück auf eine Voraussetzungsklärung durch eine Wesenslehre, für die keine Gebietsschranken mehr gelten, weil sie die Schranken selbst noch zum Gegenstand ihres Fragens macht. Betrachtet man die gegenwärtige Lage der Dichtungstheorie im ganzen, so erblickt man, bildlich gesprochen, eine Pyramide ohne Spitze: An der Basis eine eindrucksvolle und fruchtbare Entfaltung der positiven Forschung, die mehr und mehr sich durchgerungen hat zu einer glücklichen Synthese von kunst- und werktheoretischer Aufgabenstellung einerseits und literatur- und wortwissenschaftlicher Strenge und Genauigkeit andererseits und immer stärker die geschichtliche Tiefen- und die weltliterarische Breitenbedingtheit des Einzelwerks und seiner Strukturen und Gehalte berücksichtigt; auf halber Höhe, aus der Erfahrungswissenschaft herauswachsend und diese ordnend und gliedernd, eine ergebnisreiche und überlieferungsbewußte Grundlagenforschung, die sich einer Reihe glänzender Leistungen rühmen darf und deren letzter Stand durch Forscher wie Hamburger, Staiger und Wellek (um nur wenige wichtige Namen zu nennen) bestimmt wird. Die Spitze der Pyramide zeigt einen minder günstigen Anblick. Die philosophische Theorie der Dichtung, die Fundamentallehre, blieb gemessen an den Fortschritten der positiven und der positiv-grundlagenklärenden Dichtungstheorie zurück. Die Gründe für dieses Zurückbleiben sind auf der Seite der Fundamentallehre selbst zu suchen. Dichtungsphilosophie als Spezialgebiet der Ästhetik, wie sie uns, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bis in die letzten Jahrzehnte hinein immer wieder begegnet, ist in der Epoche der Konstitutionstheorie, der differenzierten Ontologie und der kritischen und phänomenologischen Monadologie ein Anachronismus. Die Systembedeu-

Vorwort

VII

tung einer philosophischen Theorie der Dichtung mußte dem veränderten und entschieden fortgeschrittenen Stande der Subjekts- und der Seinslehre entsprechend neu bestimmt werden. An Versuchen, das Kind mit dem Bade auszuschütten und mit einer unzulänglichen Systematik (die der alten Ästhetik ihren Sinn gegeben hatte) die Systematik überhaupt und alle Errungenschaften des alten Systemdenkens zu verabschieden, fehlte es freilich nicht. Glücklicherweise blieb der Antirationalismus, der die dunklen Gründe den hellen (und bestimmbaren) vorzog, Episode. Die Einsicht, daß ein Verzicht auf Systematik zum Verzicht auf eine sachgerechte Erörterung von Wesensfragen führen muß, hat sich fast überall wieder durchgesetzt. Unbestreitbar bleibt freilich, daß die Systematik der Kulturphilosophie den Fragen der Geschichtlichkeit und der Faktizität nicht gewachsen war. Die Konsequenz durfte aber nicht die sein, daß man von nun an die Prinzipienproblematik im Nebel einer unbestimmten Geschichtlichkeit verschwimmen ließ; die Konsequenz hätte vielmehr diese sein müssen, die Fehler und Lücken und grundlosen Vereinfachungen der alten Systematik aufzudecken und die Grundsystematik weiterzuentwickeln, um den neuentdeckten Grundmomenten einen angemessenen Ort in der Grundlegung zudenken zu können. Von der prinzipientheoretischen Ausarbeitung des Lehrstücks von der Geschichtlichkeit, der Faktizität und der konkreten Subjektivität — wenn allerdings aucli nicht nur von diesem Lehrstück — hing schließlich auch das Schicksal der philosophischen Theorie des Poetischen ab. Eine auch nur im Programm ausgearbeitete Philosophie der Dichtung, die der fundamentalphilosophischen Forschungslage entsprochen hätte, fand ich nirgendwo vor. (Die letzte einschlägige Arbeit von Rang ist diejenige Ingardens.) Deshalb blieb mir nichts anderes übrig, als den Weg zur Grundlegung des Poetischen im Gefüge der Grundlegung und in der Ordnungsfolge des Grundlegungssystems von neuem zu bahnen. Die herkömmlichen Ästhetiken, so lehrreich sie in vielen Einzelpunkten zweifellos sind, konnten nicht helfen, wenn es galt, die fundamentale Sonderstellung des poetischen Gedankens zu bestimmen. Abzuwägen, weldien Denkern idi bei diesem systemtheoretisdien Versuch am meisten verpflichtet bin, fällt mir schwer. Unter ihnen sind einige, die eine Weile als so überwunden und überholt galten, daß man glaubte, man dürfe sich das Studium ihrer Werke schenken. Es sind die Vertreter der idealistischen Kulturphilosophie, denen wir die systematische Ausgestaltung der Geltungstheorie und der Wertlehre verdanken (Cohen, Natorp, Rickert, Cohn, Lask, Bauch und Cassirer). Eine besondere Bedeutung gewann für mich die Fortbildung des klassischen Kritizismus in der Monadologie Hönigswalds. Freilich gab es Forscher — vor allem sind hier Litt, Zodier, Ebbinghaus und Cramer zu nennen, die sich dem voreiligen Urteil des Zeitgeistes (der die Idee zuerst an das Leben und zuletzt an die Gewalt

Vili

Vorwort

verriet) nicht beugten. — Doch die Phase des Antikritizismus hatte auch ihr Gutes. Sie hat eine Distanz entstehen lassen, über die hinweg die Vorzüge und die Schwächen der Kulturphilosophie deutlicher sichtbar werden, und sie hat, durch Husserl und Dilthey vorbereitet und eingeleitet, so große Dinge wie die Hartmannsdie Kategorialanalyse, die Heideggersche Fundamentalontologie und die Sartresche Subjektslehre möglich werden lassen. Die Faktizitäts-, Konstitutions- und Seinslehren haben über die Bewußtseins- und Gegenstandslehren, die der alten Geltungstheorie entsprachen, hinausgeführt, aber sie haben die Geltungstheorie selbst nicht entbehrlich machen können. Der Kritizismus in der alten Gestalt ist heute gewiß nicht mehr möglich, ein vorkritizistisches Philosophieren ist es aber im Grunde ebensowenig. Und gerade die Philosophie der Dichtung braucht nach Lage der Dinge beides: Ideenlehre und Seinslehre. Idi schließe diese Vorbemerkungen mit einem Worte des Dankes an meinen Lehrer Hans Wagner und an die Freunde und Gefährten des Würzburger Kreises: Dank für Belehrung, Anregung und Ermutigung. Dem Verlag habe ich für sein großzügiges Entgegenkommen zu danken. Bonn, im Januar 1965

G.W.

Inhaltsverzeichnis Vorwort

v

I. Das Problem 1. Einführendes 2. Das poetische Gebilde als Gegenstand der positiven Wissenschaft und der Philosophie 3. Zur Kompetenzfrage 4. Zum systematischen Ort der Untersuchung. Fundamentaltheorie der Dichtung und Ästhetik

1 6 14 19

II. Die Vorbereitung der Analyse 1. 2. 3. 4.

Die systematischen Grundvoraussetzungen jeder Prinzipientheorie Minimalbedingungen für den Ansatz der Analyse Sprache, Theorie und Dichtung Bedeutung und Urteil

21 23 27 33

III. Das Gedicht und die Grundlegung der theoretischen Leistung 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Verstoß und Abschluß Gerichtetheit und Positivität Abgeschlossenheit und Progressivität Das Problem der Grundlegung des Abschlusses Theoretische Idee, Bestimmbarkeit und die Grundlegung des poetischen Gefüges Poesie und Historie. Das Gedicht als Verknüpfungsgefüge Das Gedicht kein theoretisches Grenzgebilde Die Funktion des Werkes in Dichtung, Künsten und Wissenschaft Die Geschichtlichkeit der Dichtung und der Wissenschaft. Der Anteil der konkreten Subjektivität an der Fundierung der Poesie 10. Geschichte und Dichtung. Menschlichkeit der Kunst 11. Die materiale Begründungsbedürftigkeit

37 42 44 48 50 56 59 63 69 75 78

IV. Das Gedicht und die Grundlegung der axiotischen Leistung 1. Die axiotische Leistung 2. Denken, Wollen, Dichten 3. Einzelbezüge

83 84 90

V. Das Problem der Geltungsgrundlegung 1. Das Problem der Gegenständlichkeit der Dichtung und die Struktur der Prinzipientheorie 2. Der monadische Ursprung der Dichtung

92 94

X

Inhaltsverzeichnis

3. Die systematische Valenz der Bedeutungsfunktion im Grundlegungsgefüge . . 97 4. Gedicht und Bedeutung 102 5. Die Geltungsgrundlegung überhaupt 105

VI. Das Gedicht und die Gliederung der Objektivationen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.

Poetische und theoretische Gegenständlichkeit Poetische und axiotische Gegenständlichkeit Das Gedicht im Felde des Gegenständlichen Prinzipientheorie, Reflexion, Einstellung auf Ungegenständlidies, legungsgefüge und Folge der Analyse Bestimmung und Bestimmtes Die Gliederung des Gegenstandsfeldes Die Regionen des Transponiblen Abbildung und Bild. Die Begründung der Transposition Die Gestalt. Das Gliederungsprinzip der transponiblen Gefüge Die Grenze der Transponibilität Die Funktion der Gestalt als Vermittlung der Erscheinung Die Abwandlung des Schichtungsgedankens

111 114 115 Grund-

VII. Gedicht und Gestalt. Zum Problem der systematischen Bestimmtheit

117 119 121 125 128 133 136 139 140

145

VIII. Das Gedicht unter dem Aspekt der Theorie sekundärer Geltung 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Das Gedicht als Gegenstand Die Gehaltsvalenz des Gedichts Die Begründung der Transponibilität in der Geltungsdifferenz Richtungsbestimmtheit und Reversibilität Die Bestimmtheit der Stufen Transposition und Produktion Erweiterung des Darstellungsbegriffs Zur Funktion der Sprache im Hinblick auf die Gliederung der Künste Das Gedicht als Bestimmung

150 152 153 154 158 164 166 171 172

IX. Der systematische Anschluß der Grundlegungstheorie der Dichtung 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Entwurf und Gestalt Konkrete Subjektivität, Gestalt und Gedanke Zur Fundamentalproblematik der Axiologie Die Abgeschlossenheit von Entwurf und Gedicht Verantwortung und fundierter Vollzug. Die Ungebrochenheit des Bildes . . . . Zur Systemgliederung Die dritte Grundlegungshinsicht

178 178 180 187 187 190 199

Namenverzeichnis

205

Sachverzeichnis

206

I. Das Problem 1.

Einführendes

Das Gedidit ist stets mehr als ein unbeteiligt hinzunehmendes Objekt. Gewiß soll alle Theorie ihr Objekt so erfassen, wie es an sich, d. h. unabhängig auch von ebendiesem Erfassen selbst, bestimmt ist. Und gewiß nimmt der Forscher in allen Wissenschaftsbereichen eine ernste Anstrengung auf sich, wenn er diese von aller Theorie (von der reinen und von der angewandten, von der auf Prinzipien und von der auf Tatsachen gerichteten Theorie) mit Notwendigkeit zu fordernde objektive Einstellung zu gewinnen sucht. Angesichts der Dichtung (in ihrem Wesen und in ihren Einzelerscheinungen) sieht sich der Forscher jedoch einer ganz besonders verwickelten Sachlage gegenüber, einer Sachlage, die, in gerade dieser Verwickeltheit, nur hier auftritt und nur hier auftreten kann. Die Schwierigkeiten, die dieser Sachlage entsprechen, muß er sehen, wenn er seinem Objekt gerecht werden will. Wo er den Ernst dieser Schwierigkeiten geringachtet, läuft er Gefahr, die Dichtung gerade in denjenigen Momenten, die ihr ursprüngliches Wesen ausmachen, zu verkennen und die Aufgabe, die er sich gestellt hat, zu verfehlen. In bestimmter Rücksicht ist die Wissenschaft der Dichtung den anderen Kunstwissenschaften verwandt: Die Wissenschaften, die sich mit der Kunst, mit den Künsten und mit den Kunstwerken beschäftigen, haben stets einen Gegenstand vor sich, der die Forschung im Hinblick auf die von ihr zu fordernde Objektivität vor besondere Probleme stellt, denn dieser Gegenstand bleibt für ein Denken, das in bloßer, in einfacher Objektivität verharrt, schlechterdings unerreichbar. Und was für alle Theorie der Kunst gilt (für die positiven und die spekulativen Kunstwissenschaften mit allen ihren besonderen Disziplinen), das gilt für die Theorie der Dichtung in höchstem Grade. In der Theorie der Dichtung — das macht ihren eigenartigen Rang und zugleich ihre innere Gefährdung aus — ist die Verwirklichung echter Objektivität besonders erschwert. Das hat seinen Grund darin, daß das poetische Kunstwerk seinen Ort und seine Bestimmtheit nicht — oder doch nicht primär — in einer Sphäre des Äußeren hat, sondern in einer Welt, der auch die theoretische Komplexion angehört. Diese gemeinsame Ortsbestimmtheit bewirkt, daß in vielen Geisteserzeugnissen das Theoretische und das Poetische nur schwer zu scheiden sind. Dem entspricht es, daß diese beiden Grundbestimmtheiten miteinander in Konflikt kommen können und daß die eine gegen die andere ihre Reinheit behaupten muß. Die Theorie muß gegen den poetischen Gedanken ihre eigene Leistungsart, die Poesie aber gegen den theoretischen Gedanken ihre Selbstgenügsamkeit verteidigen. Dieses

2

Das Problem

Grenzverhältnis — nicht das einzige, das für die Theorie einerseits und für die Dichtung andererseits in Betracht kommt — beruht auf nichts anderem als auf einer gemeinsamen Grundbestimmtheit von Theorie und Dichtung. Theorie und Dichtung verhalten sich nicht nur zueinander wie Denken und Gedachtes (wie Subjekt und Objekt 1 ), Theorie und Dichtung gehören beide auch gleicherweise auf die Seite der Subjektivität, sie gehören beide dem Denken, dem Gedanken und dem Ich an, beide sind Formen der sichselbstgestaltenden Innerlichkeit und beide stehen zu einem jeglichen größenbestimmten Äußeren im Verhältnis der Andersheit. Das poetische Gebilde gehört aus diesem Grunde zu den merkwürdigsten Beständen, denen sich das theoretische Denken gegenübersieht. Einerseits hat es seinen Platz in der Sphäre des Gedankens. Deshalb ist es auch dem erkennenden Denken näher und vertrauter als andere Objekte, näher vor allem als die Objekte der äußeren Welt. Andererseits ist es wiederum aber auch fremder und entfernter als andere Gegenstände. Das poetische Gebilde scheint sich dem Horizont theoretischer Rationalität immer wieder mit eigenwilliger Gewalt zu entziehen. Es besitzt eine merkwürdige Kraft. Der poetische Gedanke fügt sich nicht widerstandslos dem theoretisch ordnenden Denken. Vielmehr sucht er dieses Denken auf seine Wege, auf die Wege des Poetischen, zu zwingen. Der poetische Gedanke behauptet also nicht nur seine eigene Selbständigkeit gegenüber der Erkenntnis, er sucht vielmehr darüberhinaus selbst in die Ordnung der theoretischen Rationalität einzubrechen und seine eigene Ordnung an deren Stelle zu setzen. Er versucht gerade dies: Das Bewußtsein ausschließlich den Prinzipien des Poetischen zu unterwerfen. Gerade wegen dieser Tendenz aber liegt die Wirkung des Gedichts dem Bewußtsein gegenüber keineswegs nur darin, daß es erhebt und befreit; es stört vielmehr auch, es entrückt, zerstreut und lenkt das Subjekt von seinen primären (von seinen theoretischen und seinen praktischen) Aufgaben ab. Um dieser primären Aufgaben willen muß sich das Ich wieder dem Zauber der Dichtung entziehen. Dort aber, wo es unter dem Eindruck dieses Zaubers gestanden hat, findet es sich auf eigenartige Weise verwandelt. Das Ich ist dort nicht mehr das, was es zuvor gewesen ist. — Das ist das Große und das zugleich Unheimliche an aller echten Dichtung, daß sie das Subjekt (das schaffende und das nachschaffende Subjekt) in der Tiefe seines Wesens verändert. Zwar ist die Dichtung ein eigener und ein selbständiger Bestand, dennoch gehört sie ganz dem Ich, der Subjektivität, an. Keine gleichgültige oder fremde Natur entfacht das Feuer, dessen Brand das Bewußtsein oftmals zu verzehren droht. Das „inhuman Zwanghafte"2, das der 1 2

In diesem Verhältnis tritt der Abstand der beiden Grundsphären zutage. Th. Mann, Versuch über Schiller. Frankfurt a. M. 1955, S. 21 (Ges. Werke, Berlin 1955, Bd. X , S. 729).

Einführendes

3

Dichtung innewohnt, ist immerhin menschlichen Ursprungs. Es ist das Ich selbst, das den Ordnungen, in denen es sich und seine Welt begreift und formt, ein Anderes entgegenstellt, wie es ebenso das Ich selbst ist, das sich der Macht dieses Anderen bis zur Verantwortungslosigkeit und bis zur Selbstvergessenheit hingibt. Natürlich versucht die Subjektivität dieser selbstbereiteten Gefahr Herr zu werden. Sie versucht die poetischen Gebilde in einem abgegrenzten Bezirk der Phantasie und des Traums, der Muße und des Spiels einzuschließen. Es ist ein Versuch, der Dichtung Exterritorialität (sozusagen Narrenfreiheit) und damit den Charakter der Harmlosigkeit zuzudenken 3 . — Dieser Versuch ist begreiflich. Aber es kann dem Subjekt schließlich nicht verborgen bleiben, daß die Dichtung etwas so Harmloses und Unschuldiges nicht ist, daß sie vielmehr immer wieder alle seine Kräfte in ihren Bann zieht. Die Subjektivität macht die Erfahrung, daß das Feuer des Poetischen über alle befestigten Grenzen hinaustreten kann und daß ihr auch nur dort die Dichtung in ihrer eigentümlichen und ursprünglichen Bestimmtheit begegnet, wo sie dem Subjekt mehr ist als ein Bildungsgut unter anderen Bildungsgütern, mehr auch als ein Kulturbesitz, der Anspruch darauf hat, bewahrt, respektiert und gewürdigt zu werden. — Dichtung hat offenbar die Bestimmung, das Subjekt selbst im Grunde seines eigenen Bestandes zu ergreifen und zu verwandeln. H a t nun diese verwandeln de Kraft, die dem Dichtwerk innewohnt, im Hinblick auf die anderen Leistungsweisen des Subjekts gewiß auch ihre negativen Möglichkeiten, so erschöpft sie sich doch nicht darin, die nichtpoetischen Leistungen zu gefährden und zu stören; vielmehr kommt ihr durchaus auch eine positive Funktion mit Rücksicht auf den Bestand der lebendigen Subjektivität im ganzen zu. Angesichts dieser Möglichkeit wird dem Subjekt bewußt, daß es gar nicht sein könnte, was es ist und was es sein soll, wenn es sich der Dichtung verschlösse. Ihm wird klar, daß jedes Verschließen gegenüber der Dichtung für die Subjektivität zugleich eine Verarmung, Herabsetzung und selbstverschuldete Einschränkung ihrer Geistigkeit und Menschlichkeit bedeutete. So wie das Subjekt sich den Ideen, die seine Weltorientierung, seine Selbstbestimmung und seine Weltbewältigung leiten, nicht entziehen kann, ohne Klarheit, Würde und Wirksamkeit einzubüßen, so könnte es seiner selbst nicht in einer Weise gegenwärtig werden, die einerseits ganz der Endlichkeit seiner Weltbestimmtheit entspricht und andererseits alles Endliche überdauert und überwindet, wenn es sein eigenes Bild nicht (mit der Totalität der Vermögen, die dem Subjekt in seiner Geistigkeit und in seiner Naturalität zufallen) aus sich herausstellen und in dieser Herausgestelltheit auf sich zurückwirken lassen könnte. Wenn das Subjekt in der Dichtung jene 1

Vgl. M. Heidegger, Hölderlin und das Wesen der Dichtung. 1. Abschnitt (in: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1951, S. 32 f.).

Das Problem

4

Ordnungen überschreitet, in denen es sein Erkennen, seine Selbstbestimmung und sein Handeln gestaltet, so ist dies mehr als ein bloßes Spiel, es ist mehr als Ordnungswidrigkeit und es ist auch mehr als Traum. Es ist mehr, obwohl die poetische Abkehr von der primären Welt und die poetische Hingabe an eigene Welten vordergründig als alles dieses: als Spiel, als Ordnungswidrigkeit und als Traum, erscheinen mögen. Im Grunde ist das Uberschreiten der vorgängigen Ordnungen, der Ordnungen also des Erkennens, des Wollens und des Handelns, das sich in der poetischen Einstellung und in der poetischen Leistung ereignet, die entscheidende Voraussetzung dafür, daß das Subjekt jenes Fürsichsein erlangt, das mehr und anderes bedeutet als Selbstvergegenständlichung sonst: Die Dichtung versichert das Subjekt einer zeitüberwindenden und zeitüberdauernden Bedeutung, und zwar gerade durchaus das Subjekt in seiner geschichtlichen Geistigkeit und in seiner konkreten Naturalität. Das konkrete Subjekt begegnet sich in der Dichtung selbst, aber es begegnet sich weder (wie im Bereich der positiven Wissenschaft) als einem Weltgegenstand, noch auch begegnet es sich selbst (wie in jenem Wissen, das in jeden Entwurf eingehen muß) als Idee. Es wird seiner selbst vielmehr ansichtig in einer idealen Gegenständlichkeit (und gegenständlichen Idealität), die von bloßer Weltgegenständlichkeit und von bloßer Idealität gleich weit entfernt ist4. Daß das Subjekt hier in der Zeit der Zeit zugleich entrinnt, bedeutet ein anderes als im Hinblick auf seine vorgängigen, seine primären Leistungen. In diesen fügt es alle ideale Bestimmtheit zugleich in die Zeit. In der Dichtung aber setzt das Subjekt sich selbst, sein eigenes Sein und seinen eigenen Bestand, obzwar ganz von Endlichem durchdrungen, als einen gestalteten Gedanken aus sich heraus in eine Sphäre der Idealität, die zwar in sich ruht, aber doch auch wieder auf das Subjekt in seinem Innersten einzuwirken vermag. Dafür, daß das Subjekt in seiner sich wandelnden und sich vollziehenden Geschichtlichkeit und Naturalität die Bestimmtheit wandelloser und in sich ruhender Idealität erhält (eine Bestimmtheit, die, da sie als eine Form der Bestimmtheit seiner selbst und für es selbst, die Bestimmtheit eines Fürsichseienden ist) bedarf es des Abstandes von jener Welt, auf die es sich in seinem Erkennen bezieht und der es in seinem Handeln angehört. Im dichterischen Werk ergreift sich die Subjektivität selbst, aber sie ergreift sich anders als in der theoretischen Selbsterkenntnis und anders als im praktischen Selbstentwurf. Sie ergreift sich in einer eigenen Weise der Selbstvergewisserung. Die Entrücktheit des dichterischen Gebildes schließt seine Macht über die Subjektivität nicht aus. Das hat seinen Grund darin, daß die Zeitlosigkeit des Gedichts nicht reine Zeitlosigkeit (nicht subjektunbezogenes ideales 4

Vgl. R. Ingarden, Das literarische Kunstwerk. Halle a. S. 1931, 2. Aufl. Tübingen 1960, Vorwort und 1. Kapitel.

Einführendes

5

Ansichsein), sondern die Idealität eines konkreten, näherhin: eines individuellen Objekts ist, und zwar eines Objekts, das nicht nur, wie andere Objekte, ein Zielpunkt für mögliche Gedanken, sondern das selbst Gedanke ist. Dieses Objekt aber, das zugleich Gedanke (poetischer Gedanke) ist, hat seine Bestimmung gerade darin, daß es die Subjektivität ergreift. Ein Gedicht, das kalt läßt, ist für das Subjekt, das kalt bleibt, eben kein Gedicht. Das dichterische Objekt besitzt seine Bestimmtheit nur für die Subjektivität und durch die Subjektivität, und zwar für und durch die Subjektivität in ihrer konkreten, geschichtlich und natürlich bestimmten Verfassung. Da das dichterische Objekt aber selbst Gedanke ist, hat es dem konkreten Subjekt gegenüber auch jene Kraft, die nur dem Gedanken innewohnt. Gedanken sind der Subjektivität gegenüber mächtiger als andere Weltdinge. Dort, wo das konkrete Subjekt theoretische Gedanken rezipiert, rückt es sein Denken in die Dimension einer alle Subjekte verbindenden Objektivität. Der poetische Gedanke hingegen hat seinen Ursprung in der konkreten Subjektivität selbst, und seine verwandelnde Kraft richtet sich an die Subjektivität in ihrer Konkretheit. Das heißt nicht, daß nicht auch der theoretische Gedanke das konkrete Subjekt bestimmte, aber er bestimmt es im Hinblick auf ein überkonkretes Moment, während der poetische Gedanke die geschichtliche Konkretheit der Subjektivität selbst sichtbar werden läßt. Der poetische Gedanke bewirkt, nicht daß das konkrete Subjekt seiner selbst bewußter (das wäre Sache reflektierender Theorie) und nicht daß es für sich selbst verantwortlicher (das wäre Sache wertbestimmten Denkens), sondern daß es seiner selbst — was das bedeutet, wird auszuführen sein — ansichtiger werde. Die tiefgehende Wirksamkeit, die die Dichtung dort besitzt, wo sie die Subjektivität wirklich ergreift, ist einerseits in der spezifischen Entrücktheit des poetischen Gedankens und andererseits darin beschlossen, daß im Grunde sie selbst es ja ist, die sich in dieser Entrücktheit begegnet. Idealität und konkrete Bestimmtheit sind die beiden Grundmomente, die dem poetischen Gedanken seine eigenartige Kraft geben. Jene birgt die zeitüberwindende Funktion, die ein Anschauen des Subjekts durch das Subjekt ermöglicht, ein spezifisches Sein der Subjektivität für sich selbst. Diese impliziert die bestimmende Kraft des poetischen Gedankens einem Zeitlichen und Endlichen gegenüber, wie es das konkrete Subjekt ist. Um dieses zweite zu erfüllen, muß die konkrete Bestimmtheit der Subjektivität freilich schon die Form der Idealität gefunden haben, denn in ihrer Realität ist auch Subjektivität ein Vergängliches und in ihrer geschichtlichen Bestimmtheit ein unausschöpflicher Gegenstand der Theorie, niemals aber ein vollendet Gegenwärtiges. Der poetische Gedanke führt die konkrete Subjektivität von den Wegen, die ihre gewohnten und vertrauten sind, aus der Welt ihrer primären Leistungen fort in eine Welt, in der sie sich dem Gewohnten und Vertrauten entfremdet und entrückt sieht, deren Gebilde aber gerade

6

Das Problem

vermittels dieser Entrückung und Entfremdung die Subjektivität in ihrer geschichtlichen Konkretheit manifestieren und bestätigen. Obwohl der poetische Gedanke der konkreten Subjektivität unmittelbar weder Belehrung noch Leitung zu bieten hat, stellt er sie gleichwohl in ihrem Vermögen her, die (primäre) Welt denkend zu durchdringen und handelnd zu gestalten und die eigene Würde zu wahren. Der poetische Gedanke erscheint, gemessen an den primären Möglichkeiten der Subjektivität, als ein Uberflüssiges. Er ist es indessen nicht, wenn man das Grundgefüge der Subjektivität in Betracht zieht. Denn eine der Bedingungen des Bestandes der Subjektivität ist, daß sie ihrer selbst, in ihrer zugeteilten und in ihrer selbsterrungenen und selbstentworfenen Konkretheit, frei gegenwärtig, von ihr ergriffen und durchdrungen sei.

2. Das poetische Gebilde ais Gegenstand der positiven Wissenschaft und der Philosophie Während die positiven Wissenschaften nicht für eine Theorie ihrer eigenen Grundlegung einzustehen haben, muß die philosophische Theorie stets auch die Frage nach ihrem eigenen Recht stellen. Die positive Theorie nimmt den Horizont, in dem ihre Objekte erscheinen, als etwas Vorgegebenes hin, die philosophische Theorie muß sich hingegen den Horizont, in dem ihre besonderen Objekte bestimmbar werden, selbst geben. Die positive Theorie stützt sich mit Recht auf Voraussetzungen, deren Prüfung sie der prinzipientheoretischen Spekulation überlassen darf, die Philosophie erforscht ohne alle Einschränkung nicht nur die Voraussetzungen, auf die die positive Wissenschaft aller Bereiche sich stützt, sie erforscht auch die eigenen Voraussetzungen. Während die positive Theorie Objekte erforscht, erforscht die Philosophie die Horizonte, in denen diese Objekte erscheinen. Diese Horizonte gehören eben zu den empirisch nicht mehr erfaßbaren Voraussetzungen der positiven Forschung. Man kann es auch noch anders ausdrücken: Wenn die positive Theorie die Gegenstände erforscht, so erforscht die Philosophie die Gegenständlichkeiten (eben die Voraussetzungen, unter denen Gegenstände bestimmt sind und in ihrer Bestimmtheit dem Denken erscheinen). Doch auch das Erkennen von Horizonten, Voraussetzungen und Gegenständlichkeiten ist seinerseits an Voraussetzungen geknüpft, auch diese Voraussetzungen sind nur als Bestimmtes in einer eigenen Ordnung des Bestimmten erfaßbar. Diese Voraussetzungen sind also Voraussetzungen höheren Grades: Die Voraussetzungen von Voraussetzungen, der Horizont der Horizonte, die Gegenständlichkeit der Gegenständlichkeiten. Sie zu erforschen kann die Philosophie keiner anderen Theorie überlassen, denn die Philosophie ist Theorie des Ganzen und sie ist Theorie des Letzten.

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Daß die Philosophie die Frage nach der Gegenständlichkeit aller Gegenständlichkeiten an keine andere Theorie mehr abtreten kann, hat seinen Grund darin, daß die Frage nach der Bestimmtheit einer Gegenständlichkeit notwendig auf die Frage nach dem System der Gegenständlichkeiten führt. Gegenständlichkeiten, Voraussetzungen, Prinzipien sind nur innerhalb einer Gesamtordnung, innerhalb einer schlechthin umfassenden Prinzipiensystematik erfaßbar. Nur in einem solchen Gefüge haben Prinzipien, Gegenständlidikeiten und Voraussetzungen ihre Bestimmtheit. Anders ausgedrückt: Wenn die Philosophie mit Bezug auf eine bestimmte Einzelwissenschaft die Frage nadi der Bestimmtheit und der Struktur desjenigen Horizontes stellt, dem die Objekte dieser Wissenschaft angehören, so fragt sie nadi der Grundlegung der Objekte, von denen diese Wissenschaft handelt. Sucht sie aber diese besondere Grundlegung zu erfassen, so muß sie sie als ein Moment der Grundlegung im ganzen denken. Die Frage nach einer besonderen Grundlegung kann also nie von der Frage nach der Grundlegung im ganzen abgetrennt werden. Denn Bestimmtheit besitzt eine besondere Grundlegung immer nur im Systemzusammenhang der Grundlegung im ganzen5. Deshalb ist die Philosophie in jeder ihrer Problemstellungen Theorie des Letzten. Und eben deshalb ist sie auch letzte Wissenschaft: Ihre Einstellung kann von keiner anderen Wissenschaft mehr geprüft werden. Keine andere Wissenschaft ist ihr vorgeordnet. Was folgt aus diesen Feststellungen für eine philosophische Theorie der Dichtung? — Wenn es möglich ist, die Philosophie der Dichtung als ein echtes Glied der philosophischen Systematik zu erweisen, dann muß sie sidi auf ein eigenes Grundlegungsfeld, einen eigenen Horizont, eine eigene Gegenständlichkeit beziehen, auf eine poetische Gegenständlichkeit also, die mit Recht eine Gegenständlichkeit genannt werden könnte. Diese Gegenständlichkeit ist freilidi durchaus nicht das erste Problem, das der Wissenschaft im Hinblick auf die Dichtung begegnet. Ehe die Gegenständlichkeit der Dichtung zum Problem wird, werden jene Werke und Gebilde zum Problem, in denen sich die Dichtung der Zeitalter und der Völker realisiert. Diese konkreten Werke und Gebilde sind Objekte der einschlägigen Einzelwissenschaften, vor allem der Literarhistorie. Nur eine das Einzelne erforschende Wissenschaft kann ein poetisches Gebilde im Hinblick auf seinen Ursprung, auf die Stadien seiner Verwirklichung, seinen Aufbau, seine historische Abhängigkeit und seine historische Wirksamkeit, kurz: in all dem, was es in seinem konkreten Dasein und Sosein ist, erfassen". Das ist in diesem Bereich nidit anders als auf irgend einem s

Vgl. F. Münch, Wesen, Aufgabe, Sprache der deutschen Philosophie. Erfurt 1924. S. 19. • Vgl. hierzu das Entsprechende bei: A. Fischer, Ästhetik und Kunstwissenschaft. In: Mündiener Philosophische Abhandlungen (Lipps-Festschrift). Leipzig 1911. S. 100 ff., bes. S. 103 f.

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Das Problem

anderen Felde des Konkreten. Die philosophische Theorie der Dichtung aber sucht das Feld selbst, den Horizont, die Grundlegung der Dichtung zü erfassen. Sie erforscht das Wesen und den Grund der Dichtung und die Prinzipien, in die sich dieser Grund entfaltet 7 . Eine Klärung ist an dieser Stelle wohl noch wünschenswert: Die Philosophie einerseits und die positiven Wissenschaften andererseits richten sich auf Verschiedenes, jene richtet sich auf Prinzipien, diese richten sich auf Konkretes. Die Objekte, auf die sich beide Arten der Theorie beziehen, sind gleichwohl dieselben. Die Objekte, auf die sich die Philosophie bezieht, sind keine anderen als die der positiven Wissenschaften, nur daß die Philosophie sich nicht mit diesen Objekten in ihrer konkreten Verfassung beschäftigt, sondern mit der Grundlegung eben dieser Objekte. Hierin unterscheidet sich die philosophische Fragestellung von der einzelwissenschaftlichen, hierin gründet aber auch das bestimmte Beziehungsverhältnis zwischen beiden. Beiden, philosophischer und positiver Forschung, geht es um dieselbe Sache. Dieselbe Sache ist es deshalb auch, der die Bemühung des philosophischen Theoretikers der Dichtung und die des Literarhistorikers gilt, dieselbe Sache freilich unter verschiedenem Aspekt: die Dichtung in ihren konkreten Erscheinungen und die Dichtung in ihrer Grundlegung, die Dichtung als Sphäre und Hinsicht der Grundlegung selbst. Freilich ist es eine Sache, die nicht nur die Theorie beschäftigt. Vor aller Theorie geht sie den Schaffenden und den Nachschaffenden an8. Auch diese nichttheoretische Zuwendung muß berücksichtigt werden, wenn die Eigenbestimmtheit der positiven und der philosophischen Betrachtung gewürdigt werden soll. Das Verhältnis von nichttheoretischer Aufnähme und theoretischem Erfassen lassen wir jedoch vorerst beiseite, denn es birgt ein Problem, das positive und philosophische Theorie gleicherweise betrifft. Hinsichtlich des Verhältnisses der beiden Formen der Theorie wird uns deutlich, daß beide als Theorien in bestimmten Grundmomenten übereinstimmen müssen. Erst wenn diese Momente erfaßt sind, läßt sich der notwendige Abstand zwischen beiden begreifen. — Die Theorie erfaßt ein Bestimmtes in seinem Verhältnis zu anderem Bestimmten. Der Inbegriff der Verhältnisse des Bestimmten zu anderem Bestimmten macht die Bestimmtheit dieses Bestimmten aus. Theorie ist das Denken eines Bestimm7

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Die Philosophie der Dichtung ist als Theorie einer ursprünglichen Grundlegungssphäre mit anderen philosophischen Sonderdisziplinen wie Natur-, Sprach- und Gesdiichtsphilosophie zu vergleichen. Es geht uns •darum, deutlich zu machen, daß es, trotz aller notwendigen Verschiedenheit der Einstellung, dieselbe Sache ist, die einerseits den Literarhistoriker (und den Kenner) beschäftigt und der andererseits die philosophische Analyse gerecht zu werden sucht, und daß fernerhin, so wenig sich der betrachtende Genuß beziehungslos neben positiv-literartheoretischer Klärung findet (und diese nicht beziehungslos neben jenem), ebensowenig auch die Philosophie 'der Dichtung in Bezug auf jene beiden anderen isoliert sein kann, da es wiederum eine und dieselbe Dichtung ist, die philosophisch analysiert, betrachtend aufgenommen und historisdi gedeutet wird.

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ten in seiner Bestimmtheit. Theorie ist, bildlich gesprochen, Lagebestimmung. Die im Verhältnis zueinander bestimmten Bestände haben ihre Bestimmtheit in einem gemeinsamen Bezugssystem, das seinerseits einen „ R a u m " ' im allgemeinsten Sinne, d. h. eine Dimension (oder ein Gefüge von Dimensionen) voraussetzt, die die Anordnung eines Bezugssystems möglich macht. Jedes theoretische Erfassen ist das Erfassen eines Bestimmten in seinem Verhältnis zu anderem Bestimmten unter der Voraussetzung einer Dimension, die die Ordnung dieses Bestimmten ermöglicht. In dieser grundsätzlichen Weise ist jede Theorie der Dichtung, die positive und die philosophische, Ortsbestimmung. Jede Theorie der Dichtung muß die Poesie als ein Bestimmtes in seinem Verhältnis zu anderem Bestimmten und in einer Dimension, die ebendieses Ordnungsverhältnis möglich macht, erfassen. Hinsichtlich der Literarhistorie bedeutet das: Die poetischen Einzelgebilde sind niemals bloß „in sich" bestimmt, vielmehr sind sie immer auch in ihrem Verhältnis zu anderen Einzelgebilden (und durch dieses Verhältnis) bestimmt. Das poetische Einzelgebilde wird in einem Zusammenhang mit seinesgleichen zum Objekt der positiven Forschung. D a das poetische Einzelwerk in seiner Konkretheit zugleich geschichtlich bestimmt ist, ist alle positive (stil-, struktur- und motivtheoretische) Bestimmung historisch orientiert. Damit rückt die positive Erforschung der Dichtung in einen weiteren und umfassenderen Horizont: Das poetische Gebilde steht in einem bestimmten Verhältnis zu anderen geschichtlichen Beständen. Die Bestimmtheitsbezüge gehen über die Grenzen der Sphäre der poetischen Produktion hinweg. So wenig die Wirksamkeit des poetischen Gebildes auf Gebilde poetischen Ursprungs beschränkt bleibt, so sehr ist es selbst mitbestimmt durch Werke und Vorgänge in der Geschichte, die selbst einer nichtpoetischen Sphäre angehören. Daß in dieser durchgängigen geschichtlichen Bezogenheit die eigentliche Bestimmtheit des poetischen Gebildes nicht aufgehoben wird, daß sie eine von aller anderen geschichtlichen Bestimmtheit zu unterscheidende Instanz darstellt, bleibt freilich festzuhalten 10 . Der „Raum" (oder: die Dimension), in dem sich eine positive Bestimmung des poetischen Gebildes vollziehen muß, ist also an erster Stelle die Geschichte der Dichtung selbst, an zweiter aber ist er, entsprechend der verständigungsgemäßen Bezogenheit aller geschichtlichen Bestände, die Geschichte im ganzen, die Ge• Der R a u m im eigentlichen Sinne ist nur «in Sonderfall dessen, was als Voraussetzung eine solche Anordnung einer Mannigfaltigkeit von bestimmten Beständen zu ermöglichen vermag. Außer ihm gibt es andere Dimensionen und Welten, in denen die Anordnung von Stellen möglich ist. Freilich pflegt die Veranschaulichung einer Stellenbeziehung stets räumlich zu sein, doch die Sache, die in der Verans&aulichung gemeint ist, wird davon nicht betroffen: Der Begriff der Bestimmtheit ist in der Veranschaulichung bereits vorausgesetzt. S o ist auch die Bestimmtheit des Raumes selbst (im System der Prinzipien) nidit räumlich. 1 9 D a s Verhältnis zwischen poetischen und nichtpoetisdien Objekten birgt selbst nodi einmal ein prinzipientheoretisdies und grundsystematisches Problem.

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Das Problem

schichte in der Totalität ihrer konkreten Vorgänge und Gebilde. Derjenige Raum aber, in dem Dichtung als Objekt einer philosophischen Theorie ihren Ort findet, ist ein Raum, in dem Geschichte der Dichtung und Geschichte im ganzen nicht mehr mögliche „Räume" sind, sondern in dem beide selbst erst einen Ort gewinnen müssen. Die positive Wissenschaft der Dichtung bestimmt das poetische Objekt immer nur in einem partikulären Horizont (eben in der Gesdiichte der Dichtung oder in der Geschichte im ganzen). Partikulär aber darf ein soldier Horizont heißen, weil er nur einer unter allen möglichen Horizonten ist, in denen positiv bestimmbare Gegenstände ihren Ort haben mögen. Es bleibt also gewiß das Problem übrig, das poetische Gebilde und die Dichtung nicht nur im Verhältnis zu Beständen ihresgleichen (seien es poetische oder überhaupt geschichtliche Bestände), sondern auch im Verhältnis zu allen nur möglichen und denkbaren Beständen zu denken. Es ist die Frage nach der Möglichkeit einer abschließenden Ortsbestimmung, der Möglichkeit eines allseitigen Erfassens. Die theoretische Aufgabe kann sich nicht darin erschöpfen, den Ort des poetischen Gebildes in der Dichtungsgeschichte und in der Gesamtgeschichte anzugeben, die Theorie kann nicht haltmachen vor der Frage nach dem Ort, d. h. nach der Bestimmtheit, des poetischen Gebildes in einem (wie immer zu denkenden) All möglicher Gegenstände, sie fragt nach der Stellung des poetischen Gebildes im letztumfassenden Weltall. Bestimmungen aber in der Hinsicht dieses Alls zu treffen — in einer Hinsicht, in der Dichtungsgeschichte und Gesamtgeschichte nur Te/fliorizonte darstellen können — behält sich die Philosophie im allgemeinen vor. Tut sie es mit Recht? Wenn wir die Stellenbestimmtheit des poetischen Gebildes im Verhältnis zu jedem anderen möglichen Bestimmten zu ermitteln suchen, gehen wir über die Horizonte, in denen die Literarhistorie ihre Objekte erfaßt, hinaus. Aber ist dieses Hinausgehen nicht selbst noch positiver Art, bezieht es sich nicht auf das Verhältnis poetischer Gebilde zu anderen Gegenständen? H a t die geforderte Weltall-Lokalisation dann aber einen spezifisch philosophischen Rang? Fernerhin: Sind die Beziehungen zu anderen Objekten — wenn auch meist nicht explizit, so doch implizit — in den Urteilen der Literarhistorie nicht miterfaßt? Auch die Literarhistorie muß sich doch wohl (beispielsweise) auf Naturales beziehen, wenn sie ihre Objekte zeitlich und räumlich lokalisieren will. Der Bezug auf ursprünglich nichtpoetische und nichtgeschichtliche Objekte ist unbestreitbar. Mag nun also eine Wissenschaft, die ausdrücklich und allseitig solche Beziehungen zu erfassen sucht (Sonderdisziplinen wie die Literarhistorie tun es weder ausdrücklich noch allseitig), eine Theorie von weiterem Gesichtskreis sein, sie bleibt doch wohl, so könnte man meinen, eine Gegenitaratfcwissenschaft, eine positive Universalwissenschaft. Vielleicht wäre Weltall-Wissenschaft eine Disziplin dieser Art, wenn Weltall und All der

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Gegenstände zusammenfielen. Doch das A l l ist mehr als das A l l der Gegenstände. Es muß das Denken des Alls der Gegenstände miteinschließen, also die Subjektivität. Die Subjektivität ist in ihrem Vermögen, das All der Gegenstände denken zu können (und jeden Gegenstand als ein Bestimmtes in diesem All), das Andere der gegenständlichen Welt. Allein, die Subjektivität beschränkt sich nicht darauf, das A l l der Gegenstände denken zu können (das A l l des Gedachten), sie vermag auch sich selbst als Anderes des Alls der Gegenstände zu denken und damit jenes All, das Subjektivität und Objektivität umschließt, das schlechterdings letzte All des Denkens und des Gedachten. Ist aber nicht auch die Subjektivität (das Denken) selbst darüber hinaus, daß sie für sich selbst als Anderes des Gedachten bestimmt ist, ein Gegenstand im engeren Sinne, ein Bestimmtes innerhalb der gegenständlichen Welt? — Gewiß, auch die Subjektivität muß, w o immer sie Ereignis wird, wo immer sie sich selbst realiter vollzieht, eine Stelle in der Welt der Gegenstände finden. Ob sich die Subjektivität aber in ihrer Andersheit (in ihrer Extramundanität) oder in ihrer Nichtandersheit (in ihrer Mundanität) erfaßt, stets setzt sie das Ganze der Weltgegenstände voraus. Zum ersten setzt sie es als Korrelat (als Bezugsglied der eigenen Andersheit) und zum zweiten setzt sie es als Horizont der eigenen gegenständlichen Bestimmtheit (Konkretheit) voraus. Beide Momente, Mundanität und Extramundanität, Nichtandersheit und Andersheit, Konkretheit und Korrelatfunktion (Prinzipienfunktion), muß die Subjektivität klar scheiden, wenn sie ihre eigene Bestimmtheit erfassen will. Die Ordnung, die damit in Ansatz gebracht ist, die Ordnung, die eine Bestimmung der Subjektivität im Hinblick auf ihre Intentionalität und auf ihre Faktizität möglich macht, liegt über alle positiv erfaßbare Gegenstandsbestimmtheit hinaus (sie ist auch dem Inbegriff möglicher Gegenstände noch vorgeordnet). Diese Ordnung ist aber zugleich auch die letzte denkbare Bestimmungshinsicht. Auch die Subjektivität ist kein Anderes dieser Ordnung, denn sie ist ein Moment dieses Ordnungsgefüges selbst. — Gerade dieses letzte Ordnungsgefüge müssen wir in Ansatz bringen, wenn wir die Bestimmtheit des poetischen Gebildes in seinem Verhältnis zu einem jeden anderen möglichen Bestimmten ermitteln wollen. Diese theoretische Aufgabe überschreitet den Horizont jeder positiven Wissenschaft (sie überschreitet aber den Horizont auch der umfassendsten Gegenstandstheorie). Nur eine Weltall-Theorie, die beides zugleidi ist, Theorie der Subjektivität und Theorie der Gegenständlichkeit, vermag ihr gerecht zu werden 11 . 11

Diese Betraditungsart bezieht sich also nicht nur auf das Denken, sondern audi auf den Gegenstand. D e r subjektivistische Kritizismus hat hingegen die Grundlegungstheorie auf eine Analyse des Denkens einzuschränken gesucht. D i e ursprüngliche Korrelatfunktion des Gegenstandes blieb dabei undurdischaut.

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D a s Problem

Sowenig eine abschließende Ortsbestimmung des Poetischen Sadbe einer positiven Theorie zu sein vermag, sowenig ist eine Begrenzung der fundamentalen Frage nach der Bestimmtheit des Poetischen auf die Sphäre eben dieses Poetischen selbst möglich, denn die Ortsbestimmung soll ja gerade der Bestimmtheit des poetischen Gebildes in seinem Verhältnis zu jeder anderen denkbaren Bestimmtheitsart gelten. Es ist unmöglich, die philosophische Analyse eines Moments oder Aspekts der Grundlegung auf ebendieses Moment oder auf ebendiesen Aspekt einzuschränken12. Der eigentümliche Sinn dieser philosophischen Aufgabe ist vielleicht noch nicht ganz deutlich geworden. Die einschlägige positive Theorie erfaßt, wie wir ausführten, das poetische Gebilde in einer spezifischen Gegenstandssphäre, in dem Bereich etwa, den wir Geschichte der Dichtung nennen. Dieses Erfassen setzt die Bestimmtheit des Poetischen im All des Bestimmten voraus. Es setzt aber auch voraus, daß das poetische Gebilde ein Bestimmtes von einer besonderen Bestimmtheitsart ist. Diese Bestimmtheitsart aber ist selbst nicht Gegenstand des positiven Erfassens, sowenig wie die Bestimmtheit schlechthin Gegenstand des positiven Erfassens ist. Voraussetzen und Erfassen sind nicht dasselbe. Das Erfassen der Voraussetzungen bildet eine eigene theoretische Aufgabe 15 . Eine fundamentale Bestimmung des poetischen Gebildes muß notwendig auch die Lokalisation im Hinblick auf dasjenige All berücksichtigen, das die Wechselbeziehung von Subjektivität und Gegenständlichkeit, von Gegenstandsbestimmtheit und Vorgegenständlichkeit, von Mundanität und Extramundanität in sich schließt. Erst wenn das poetische Gebilde mit Rücksicht auf alle ursprünglichen Momente dieses Alls bestimmt ist, ist die prinzipientheoretische Aufgabe, die in einer Philosophie der Dichtung vorliegt, vollendet. So wie die Subjektivität als Intentionalität und als Faktizität ihren Ort auf dieser und auf jener Seite des umschließenden Ganzen (der ursprünglichen Grundkorrelation) findet, so wird die Frage zu prüfen sein, ob nicht auch das poetische Gebilde seine Bestimmtheit in beiden Sphären, in der des Mundanen und in der des Extramundanen, habe. Mit der letztbegründeten Weltall-Stellung, die, wie wir ausführten, nicht gleichbedeutend ist mit einer Stelle im All der Gegenstände, wird 18

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Die Einschränkung auf einen material begrenzten Bereich von Grundlegungsfaktoren (der Natur, der Geschichte, der Kunst u. dgl.) finden wir allerdings oftmals in derjenigen Grundlagenforschung, die unmittelbar an die Arbeit der positiven Wissenschaften anknüpft. Diese Forschung bildet eine Art von Mittelstück zwischen positiver Theorie und Fundamentallehre. Ihre Verdienste dürfen nicht übersehen werden, ebensowenig aber auch, daß sie lediglich eine vorläufige und vorbereitende Funktion besitzen kann. Ihre Resultate bedürfen notwendig der Sicherung durch eine systematisch umfassende Grundlegungstheorie. Das schließt nicht aus, daß auch der Einzelforscher zu Grundfragen Stellung nehmen kann. Wenn er es jedoch tut, betritt er philosophischen Boden und unterwirft sich philosophischen Maßstäben.

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nun nicht etwa eine neue Bestimmtheit von Gegenständen irgend „höherer" Art bezeichnet. Sie ist vielmehr eine Bestimmtheit, an der jeder (reale, ideale, produzierte, angestrebte, imaginierte usf.) Gegenstand teilhat — also auch das poetische Gebilde. Diese Bestimmtheit muß ebendeshalb auch in einem jeden Urteil über einen Gegenstand urprädikativ mitgedacht werden. Der letzte Weltall-Aspekt führt deshalb auch keine Verdoppelung der Gegenstandswelt mit sich, wenn er auch zweifellos die philosophische Theorie über die Welt der Gegenstände hinaustreibt. Die Weltall-Bestimmungen sind zwar durchaus Bestimmungen der Gegenstände selbst, aber Bestimmungen, die mit den Mitteln der positiven Theorie nicht erfaßt werden können, weil sie in allen Aussagen der Erfahrungswissenschaften bereits vorausgesetzt sind. Daß sie von der positiven Theorie nicht erfaßt werden können, bedeutet aber keineswegs, daß sie überhaupt nicht erfaßt werden können. Sie sind sehr wohl in ihrer von aller empirischen Bestimmtheit unterschiedenen Bestimmtheit erfaßbar". So ist es die Aufgabe einer Philosophie der Dichtung, die Stellung des poetischen Gebildes und der poetischen Gegenständlichkeit im Gefüge der Weltallgliederung zu bestimmen. Sie behandelt demgemäß die Fragen nach dem Verhältnis der Dichtung zu Subjektivität und Objektivität, zu Denken und Sein, zu Erkennen und Wollen, zu Intentionalität undFaktizität, zu Produziertem und Unabhängigem15. Die Philosophie der Dichtung wird so dazu geführt, Implikate aufzudecken, die in den Urteilen der positiven Forschung, in den Urteilen der Literarhistorie, immer schon enthalten sind. Nirgendwo darf die philosophische Theorie der Dichtung freilich in das Gebiet der Literarhistorie übergreifen, sie darf nirgendwo über konkrete Dichtung, über Tatsachen urteilen, aber der Horizont, in dem sich die literarhistorische Einzelforschung vollzieht, kann nur von einer philosophischen Theorie in zulänglicher Weise bestimmt werden. In der poetischen Gegenständlichkeit findet die Subjektivität ihren bestimmten Ausdruck. Zugleich kommt dem poetischen Gebilde jedoch eine gegenstandserschließende Funktion zu. Welche Funktion Valenzen wie Form, 14

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Eine besondere wissenschaftssystematische Sachlage liegt dort vor, w o konkrete Bestände selbst als Weltall-Momente, wo, anders ausgedrückt, Tatsachen als Prinzipien bestimmt sind. Dort sind sie in doppelter Weise Problem: im Horizont der Erfahrungstheorie als (wenn audi ausgezeichnete) Tatsachen unter Tatsachen, im Horizont der philosophischen Spekulation als Tatsachen, durch die die Grundlegung selbst artikuliert ist. — Die entsprechende Theorie hat R. Hönigswald entwickelt, vgl. hiereu mein Budi: Gegenständlichkeit und Gliederung. Untersuchungen zur Prinzipientheorie Richard Hönigswalds mit besonderer Rücksicht auf das Problem der Monadologie. Köln 1964, II. Kapitel (S. 27 ff.). Bei einer Philosophie der Natur ist die Gesamtsituation vergleichsweise einfacher. Die Gegenständlichkeit der Natur ist gegenüber dem Denken reines Ansichsein und reine Andersheit. Das poetische Gebilde hingegen, das zeigt schon die flüchtigste Besinnung, ist offenkundig mehr als ein bloßer Gegenstand. In ihm offenbart sich allenthalben so etwas wie Weltkenntnis. In ihm ist stets eine Beziehung auf Gegenstände eingeschlossen.

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Das Problem

Klang und Gestalt im poetischen Gebilde auch immer haben mögen, stets enthält es auch ein gedankliches Moment. Mag das Gedicht stets Ausdruck der Subjektivität sein, zugleich ist es die Eröffnung einer Objektivität. Das Gedicht mißt sich in dieser Rücksicht als einzelnes und auf sich gestelltes Gebilde mit einem universalen Leistungsgefüge. Wenn aber die Besonderheit seiner Stellung im umfassenden Weltall, das Subjektivität und Objektivität gleicherweise umschließt, begriffen und die Eigentümlichkeit seiner Grundstruktur erfaßt werden soll, dann ist die philosophische Theorie der Dichtung als Ergänzung der positiven Forschung nidit zu entbehren, denn überall muß die positive Literaturwissenschaft Begriffe voraussetzen, die ihre letzte Bestimmtheit im Gefüge der Fundamentalprinzipien haben.

3. Z»r Kompetenzfrage Der Rechtsanspruch einer Philosophie der Dichtung ist indessen durchaus noch nicht so gesichert, wie es zunächst den Anschein haben mag. Um ihn zu klären, gehen wir von der schlichten Grundproblematik aus, mit der jede philosophische Theorie der Dichtung beginnen muß. Und hier beginnen wir mit der Kompetenzfrage: Wer ist denn imstande, uns zu sagen, was Dichtung in ihrem Wesen ist? Zunächst wird man doch meinen: derjenige, der mit ihr umgeht, der liest und genießt, der mitgerissen und in seinem Leben und Erleben ergriffen wird. Der Ergriffene behauptet, daß das eine Merkmal, welches dieses Gedicht hier so eindrucksvoll auszeichne, allem zukommen müsse, das als Dichtung bestehen will. Dabei ist jedoch nur die Stärke des individuellen Eindrucks mit dem Geltungsanspruch eines Grundlegungsmoments verwechselt worden. In Wirklichkeit wird nichts ausgesagt als der Eindruck selbst, keineswegs aber ein Grundmoment der Dichtung, also gerade nicht das, was der Dichtung, wenn sie Diditung ist, mit Notwendigkeit zukommen muß. Der atheoretische Eindruck, der alles andere neben sich in der Begeisterung und im Uberschwang verdrängt, ist von dem Anspruch einer gültigen grundlegungstheoretischen Aussage völlig verschieden. Aber oftmals ist es gerade der erste stärkste Eindruck, der sich dem Bewußtsein, das zur prinzipienwissenschaftlichen Betrachtung übergeht, nun auch mit dem Schein eines legitimen Anspruchs aufdrängt. Theoretische Gültigkeit erfordert stets ein Hinausgehen über das bloß Vorliegende. Selbst wenn der Erlebende derjenige wäre, der mit der Dichtung in ihrem vollendeten Wesen umginge, so ist er deshalb noch längst nicht derjenige, der auch ein Wissen von diesem Wesen hat. (Was Vollendung in dieser Sphäre bedeuten kann, davon wird noch zu sprechen sein.) Allerdings wird das Wesen der Dichtung nur dem wirklich zum Problem, den sie einmal ergriffen hat, und dies, daß die Dichtung ergreift,

Zur Kompetenzfrage

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gehört ja wohl aucii zu ihrem Wesen. Wie aber Wesenserkenntnis, wie Einsicht in die Grundstruktur und in den Grundlegungsort der Dichtung möglich sei, das ist erst noch zu klären. Gewöhnlich führt die erste Besinnung zunächst auf vereinzelte äußerliche Züge, die sich dem Bewußtsein als stärkste Eindrücke aufgedrängt haben. In dieser Ungeschiedenheit von Erleben und Reflexion teilt sich die Stärke des Eindrucks der Aussage als Unbedingtheitsansprudh mit. Oftmals ist der, den die Dichtung ergreift, versucht, mit ebendieser Ergriffenheit an die Klärung der Grundlegungsfrage zu gehen. Die Ergriffenheit muß nicht angezweifelt werden, sie hat ihre Quelle in einem lebendigen Empfinden. Von prinzipientheoretischer Reflexion ist sie jedoch weit entfernt. Wenn nun schon der Erlebende" als solcher außerstande ist, der Wesensfrage geredit zu werden, — der Dichter müßte es doch wissen: Könnte er denn etwas schaffen, wenn er nicht wüßte, was er schafft? Indes, wenn er schafft, schafft er jeweils dieses sein konkretes Werk hier. Gesetzt auch, er kenne sein Werk in seiner Konkretheit genau (was — etwa im Hinblick auf die geistes- und formgeschichtliche Bestimmtheit aller Teile seines Werkes — durchaus nicht der Fall sein muß), so weiß er doch noch lange nichts über diejenigen Momente, die seinem Werk in der weiten Welt des Bestimmten die Grundverfassung eines poetischen Gebildes geben. Sein Schaffen wäre vielleicht nicht denkbar, wenn er nicht das, was er schafft, für Dichtung hielte, und er sagt wohl auch noch darüberhinaus, warum er dieses sein Werk für ein Gebilde der Dichtung hält, aber nichts verhindert, daß der Dichter mit seinem Urteil in dem Horizont seines eigenen Schaffens bleibt, in der engen oder weiten Welt seiner eigenen, subjektiven poetischen Vorstellungen und Gefühle. Denn letztlich geht es ihm ja durdiaus nicht um „die" Dichtung, sondern es geht ihm in aller Leidenschaft des Schaffens um seine Dichtung, der er aus eigener und unabtretbarer Verantwortung den Maßstab setzt, seine Dichtung, die er entwirft und plant, um das konkrete Werk, das er sich gerade vorgenommen hat, für dessen Verwirklichung er alle Kräfte des Geistes und der Seele einsetzt. Was ihn in seinem Schaffen weiterbringt, darum ringt sein kritisches Bewußtsein. Er holt sich Klärung an den Werken anderer Dichter, um das Eigene zu fördern. Und gerade das, was ihm jetzt hilft, was er in dieser Phase seiner Arbeit brauchen kann, erkennt er als beispielhafte Dichtung an. Er sucht Auskünfte, die ihm in den Wechselfällen des Produktionsprozesses helfen, ob es nun Auskünfte über Wesen und Grundstruktur der Dichtung sind oder aber Auskünfte, die nur dieses besondere Werk betreffen. Dies gilt gleicherweise für Einsichten, die den Diditer in Einzelheiten eines Entwurfs wie im Ganzen seines Werkes bestimmen, auch für jene, die einer Epoche oder einer „Strömung" der Poesie ihre bestimmte und einende 18

Zum Verhältnis von Kunstschaffen und Kunster leben: G. Kunst oder Kunstformalismus? Schlehdorf/Obb. 1952, S. 16 f.

Scbischkoff,

Erschöpfte

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D a s Problem

Gerichtetheit geben. Muster, Kanon und Programm haben hier ebenso ihren Ort wie die intimsten Anregungen, die den Künstler in seiner Arbeit fördern. Kenntnis und Anerkennung einer vorbildlichen und darum tragenden Tradition (der Kunstmittel, der Themen und der Produktionsgesinnung) gehören gleicherweise hierher wie der Protest, der Bruch mit dem Überkommenen, das Bewußtsein der Notwendigkeit einer Neuorientierung — das Gegenstück zur bewußten Bindung an Überliefertes — die Besinnung auf „ N a t u r " und „Ursprünglichkeit" 11 . — Freilich eignet sich der Dichter alle Kenntnis schließlich nur um „der" Dichtung willen an, weil er Gebilde, die an dem Wesen der Dichtung teilhaben, in die Welt bringen will. Was er aber tatsächlich verwirklicht, das ist nicht das Wesen der Dichtung — das ist schlechterdings nicht zu verwirklichen, weil es aller poetischen Verwirklichung zugrundeliegt —, sondern stets sein konkretes Gedicht, mag es in strenger Bindung an eine Tradition entstanden sein, mag die Ungeduld nach Neuem, das Bewußtsein „So etwas ist nodb nicht gemacht worden" an seinem Anfang gestanden haben. Alle Einsicht dieser Art hat ihre Grenze an der geschichtlich-konkreten Produktion. Es ist von höchstem Wert, der Dichtungstheorie, so weit sie im Zusammenhang mit der Produktion entsteht und wirksam wird, gerecht zu werden. Aber in ihrer geschichtlich-konkreten Bezogenheit ist eben auch der Abstand dieser Dichtungstheorie von aller systematisdigeriditeten philosophischen Grundlegungstheorie begründet. Die Dichtungstheorie der Dichter ist für die Philosophie der Dichtung ebenso Problem wie die Dichtung selbst. Auch die Reflexionen des Dichters richten sich auf den Bestand der Poesie, aber sie sind nicht theoretisch, sondern praktisch und technisch gerichtet18. Dem Dichter geht es an erster Stelle um Einsiditen, die sein konkretes Schaffen zu fördern imstande sind. 17

D a s gilt nicht nur für die bekannten Strömungen. Wir meinen vielmehr jene Spannung, die alle Kunst beherrscht: die zwischen tradierbarer Technik einerseits und individuellem Einfall andererseits. Beide Faktoren gehören zur Kunst, nur kann bald der eine, bald der andere in Kunst und Kunstbewußtsein den Vorrang bekommen. Diese Spannung tritt beispielsweise in dem Gegensatz zwischen kunst- und schulgerechter Vollkommenheit auf der einen Seite und ursprünglichem Ausdruck und Einfall auf der anderen zutage. Die Extreme dieser Spannung sind Manierismus und Primitivismus. Uns kommt es an dieser Stelle nur darauf an, die Grundrichtungen der Kunstentfaltung sichtbar werden zu lassen, die im Wechselverhältnis von objektivem und subjektivem Geist und i m Anteil beider Instanzen an ihrer Ermöglichung begründet sind, und daraus den literar- und kunstgeschichtlich bekannten Umstand verständlich zu machen, d a ß nicht allein Einsichten aus der Tradition, sondern auch solche, die den Bruch mit Traditionen beinhalten, bestimmend für die Kunstübung werden können, und zwar wiederum sowohl im Hinblick auf die Kunstmittel, auf die Themen und Aufgaben wie auf die Produktionsgesinnung.

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So schreibt Schiller am 27. Juni 1798 an Humboldt: „Meine ganze Tätigkeit hat sich gerade jetzt der Ausübung zugewendet, idi erfahre täglich, wie wenig der Poet durch

Zur Kompetenzfrage

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Die Reflexion des Dichters bezieht sich auf die Bedürfnisse des werdenden Werkes. Sie unterscheidet sich von einer theoretischen und universal-gerichteten Betrachtung des Historikers. Dieser sucht das Werk in seiner geschichtlichen Lage zu begreifen. Das Vorausgegangene und das Nachfolgende müssen mit Notwendigkeit in seinen Blick treten. Den Dichter hingegen kümmert nur das, was für sein Werk fruchtbar werden kann. Durch diese Entschiedenheit, die keineswegs in das Licht des Bewußtseins gehoben sein muß, scheint die Reflexion des Dichters in die Nähe der philosophischen Analyse zu rücken. Allein, eine noch so weitgehende Vernachlässigung der Historie ist längst noch keine Prinzipienerkenntnis. Auch die Einstellung des Dichters ist positiv und auf Geschichtliches gerichtet, allerdings ist sie nicht theoretisch wie das auf eine universale Ordnung eingestellte Denken der Geschichtswissenschaft, sondern sie ist praktischen Zwecken und schöpferischen Zielen untergeordnet. Überlegungen über Poetisches können die produktive Arbeit des Dichters bestimmen, aber sie müssen nicht Thema seines Dichtens werden. Sie müssen es nicht, und das „Bilde, Künstler, rede nicht!" beherrscht in schlichtester inhaltlicher Bedeutung weithin auch die poetische Produktion19. — Stets aber bestimmen die Überlegungen über Dichten und Dichtung an ihrem Teile den „eingeborenen Charakter" des Gedichts, „die Kategorie, zu der es hinstrebt, die Meinung, die es im Stillen von sich selber hat" 20 . Allerdings können dort, wo Reflexionen über Poetisches im Gedicht selbst ihren Ausdruck finden, „Diditertum und Dichterberuf zur dichterischen Frage werden" 11 . Problematisch ist freilich, ob dort, wo „das Wesen der Dichtung eigens gedichtet"22 wird, eine theoretische Bestimmung des Wesens und Prinzips der Dichtung vorliegt, mit anderen Worten, ob jenes — gedichtete — Wesen mit dem Gegenstande der Prinzipienwissenschaft identisch ist. Der Dichtung selbst müßte dann die prinzipientheoretische Funktion der Philosophie zufallen können. Die Frage

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allgemeine reine Begriffe bei der Ausübung gefördert wird, und wäre in dieser Stimmung zuweilen unphilosophisch genug, Alles, was ich selbst und andere von der Elementarästhetik wissen, für einen einzigen empirischen Vorteil, für einen Kunstgriff des Handwerks hinzugeben" (Jonas, Bd. V, S. 394). In prinzipieller Bedeutung duldet der Satz freilich keine Einschränkung. Die Gegenständlidikeit des Gedichts (der Horizont derjenigen Gegenstände, die im Gedicht erscheinen können) ist zwar im Positiven (insofern es sich um Gegenstände handelt) uneingeschränkt und schließt auch den eigenen Bestand, das Poetische und seine Gebilde, nicht aus, aber dennoch muß das Dichten überall mehr sein als „Rede". Auch die „Rede" (die Reflexion) darf nur in gestalthaft bewältigter (und das heißt: in „gebildeter") Weise in das dichterische Kunstwerk eingehen, wenn es als Kunstgebilde bestehen soll. Tb. Mann, Neue Studien. Stockholm 1948, S. 178 (Ges. Werke. Berlin 1955, Bd. X I I , S. 457). M. Heidegger, Holzwege. 2. Aufl. Frankfurt a . M . 1950, S. 251. Ebd.: „Darum müssen .Dichter in dürftiger Zeit' das Wesen der Dichtung eigens dichten".

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Das Problem

nach dem Wesen der Dichtung kann nicht unter den Einschränkungen eines positiven Aspekts gelöst werden. Ob der Aspekt der Poesie überall positiv ist, wissen wir freilich noch nicht. Man möchte vielleicht noch fragen, wie man klären soll, was Dichtung sei, wenn diese Klärung wiederum im Dichterischen bleibt. Dem könnte man entgegnen, daß sich das Denken selbst auch nur wiederum im Denken kläre. Es käme nur darauf an, daß Dichtung „echte" Klärung heraufzuführen in der Lage sei, hier also: daß sie sich selbst so erfasse, wie sie in ihrem Wesen bestimmt ist. Diese Frage jedoch, welches die Erfassensweise der Dichtung ist, kann nicht geklärt sein, solange wir noch fragen, was Dichtung eigentümlich sei. Mag die Selbstauslegung der Poesie auch legitimierbar sein, für uns ist es an dieser Stelle unzulässig, von ihr Gebrauch zu machen. Erst später werden wir zum Recht poetischen Selbstverständnisses Stellung nehmen können. Es geht uns um die Ansatzmöglichkeit einer Theorie vom Wesen der Dichtung. Den ersten Schritt versuchten wir zu tun, indem wir uns an den Erlebenden und an den Schaffenden wandten. Für diese wird aber zunächst nicht Diditung überhaupt zum Gegenstand, sondern nur Dichtung in ihrer Vereinzelung. Die Möglichkeit endlich einer legitimierbaren poetischen Selbstauslegung, die Dichtung überhaupt zum Gegenstand hat, konnten wir zwar noch nicht ausschließen, aber ebensowenig konnten wir sie begründeterweise annehmen. Wenn wir für Diditung noch nicht angeben können, wie sie deutet, wenn sie deutet, so können wir dies für das Denken vorläufig voraussetzen. Eine Rechtfertigung der Theorie geht im System eindeutig voraus. Wir unterrichten uns zunächst darüber, welche Aussagen die Theorie in ihrer schlichtesten Gestalt über Dichtung überhaupt macht. Das Alltagsdenken weiß, daß es poetische und nichtpoetische Schriftwerke gibt, und unterscheidet nicht nur neutral, was jedem offenkundig ist, sondern es nimmt wertend Stellung, es glaubt zu wissen, wie Dichtung sein soll, und trifft so seine Auswahl. Um Dichtung, wie sie sein soll, von der, wie sie nicht sein soll, zu unterscheiden, hat man manche Gegensatzpaare aufgestellt; es sollen hier nur ein paar der schlichtesten erwähnt werden: Versifizierung und Behandlung in Prosa, gehobene und nüchterne Sprache, Uberschwang und Kälte, Naivität und Reflektiertheit, echte Poesie und Kolportage oder endlich Diditung und „Literatur". Diese Aufstellungen haben vielleicht einmal ein lebendiges Erleben auf ihrer Seite gehabt, aber es zeigt sich, welch geringen theoretischen Wert der tiefste Eindruck hat: Äußerliches wird in leerer Allgemeinheit herausgestellt23. Doch nicht bloß das lebendige Gefühl setzt sich in theo25

„Hauptsächlich aber wächst die Mißlichkeit der Aufgabe, wenn man von der individuellen Besdiaffenheit einzelner Produkte ausgeht, und nun aus dieser Bekanntschaft heraus etwas Allgemeines, das für die verschiedensten Gattungen und Arten Gültigkeit behalten soll, aussagen will". Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik. Hrsg. v. H. G. Hotho, 3. Teil, 2. Aufl. Berlin 1843, S. 236 (Werke, 10. Bd., 3. Abt.).

Fundamentaltheorie der Dichtung und Ästhetik

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retischen Anspruch um, auch die Bequemlichkeit findet ihre Stütze in der Entschiedenheit: Man hat Weniges ergriffen und setzt es nun als Dogma ein. — Um zwischen poetischen und nichtpoetischen Schriftwerken begründet zu unterscheiden, müßte das Alltagsdenken zuvor wissen, was Dichtung ist. Das aber gerade bleibt gefragt. Die wertenden Unterscheidungen des Alltagsdenkens begründen niemals gültige Bestimmungen, und gewöhnlich pflegt denn auch mit dem Wechsel der Zeiten ein Wechsel des Geschmacks ruhig hingenommen zu werden. Wenn keine weitere Sicherung besteht, kann das eine lebendige Gefühl etwas heraufbringen, was ein anderes mit dem gleichen Recht wieder stürzen kann. Auch Versuche von Seiten der positiven Literaturwissenschaft, das Wesen der Dichtung zu klären, begegnen einer grundsätzlichen Schwierigkeit. Der Literarhistoriker teilt zwar den Vorzug, mit dem Phänomen besonders vertraut zu sein, mit dem Schaffenden. Überdies hat er diesem die Sachlichkeit und die Universalität der theoretischen Einstellung voraus. Aber auch er hat es mit dem Gedicht als einzelnem zu tun. Er kann zwar allgemeine Strukturen des Gedichts in den Blick bringen und als solche herausheben, aber der Ausweis eines solchen Allgemeinen als eines Prinzipiellen bedürfte des Hinausgangs über sein angestammtes Arbeitsfeld — in die Philosophie. Auch eine breite Ausgangsbasis garantiert noch nicht gesicherte prinzipienwissenschaftliche Einsichten. Immer wieder können die dort ermittelten Bestimmungen nicht nur durch vorgeblich, sondern durch im Ernste widerstreitende Erfahrung ins Unrecht gesetzt werden. Die Fundamentalprinzipien der Dichtung können nur einer systematischen Analyse in ihrer aller Erfahrung vorausliegenden Letztheit bestimmbar werden.

4. Zum systematischen Ort der Untersuchung. Fundamentaltheorie der Dichtung und Ästhetik Unsere Bemühungen wenden sich dem Geltungsproblem der Dichtung im Felde der fundamentalphilosophischen Forschung zu. Dieses Problem ist nur eines — freilich das erste — im Bereich der Philosophie der Dichtung. Die möglichen Probleme einer Philosophie der Dichtung erstrecken sich noch über unseren Fragebereich hinaus. Eben deshalb ist es erforderlich, den Ort der Fundamentalproblematik, die wir abzuhandeln gedenken, im Hinblick auf die Lokalisation der ferneren Fragen der Philosophie der Dichtung anzugeben. Die spezifische Bestimmtheit des Gedichts wird in unserer Abhandlung als in einem autonomen Geltungsbereich grundgelegt gedacht, entsprechend wird die philosophische Theorie der Dichtung in ihrem Bezug auf die beiden anderen (systematisch vorgängigen) fundamentalen Geltungstheorien — Gnoseologie und Axiologie — abgehandelt. Philosophie

20

Das Problem

der Dichtung ist zuvor noch etwas anderes als ein Teilgebiet der ästhetischen Forschung. Und die vorgängige Fragemöglichkeit dieser Fundamentaltheorie vor jener der Ästhetik gründet in der Selbstgenügsamkeit der Dichtung allen anderen Leistungsweisen gegenüber. Aus diesem Grunde ist auch die fundamentale Grundlegungstheorie der Dichtung als die Theorie einer Hinsicht möglicher Gegenstandszuwendung in sich abgeschlossen, was freilich nicht ausschließt, die Grundlegung der Dichtung auch unter dem Aspekt der grundlegenden Gliederung der Künste, also unter dem Aspekt einer Theorie möglicher Gegenstandsgrundlegung, abzuhandeln. Eine solche regionaltheoretische Forschung wird um so sicherer verfahren können, je gründlicher die Klärung im Felde der fundamentalen Leistungsgrundlegungen durchgeführt worden ist. — Die Frage, ob nur der Grundlegung der Dichtung und nicht auch den Grundlegungen der anderen Künste eine solche Stellung im Bedingungsfelde zukommt, wird man bejahen müssen, wenn es um den Ort im Felde von Leistungsgrundlegungen im engeren Sinne geht, denn im Reiche künstlerischer Produktion ist nur das Dichten ein Denken im vollen Sinne, d. h. in eigentlicher Vorgängigkeit. Das Feld der Grundlegungen — auch das der Geltungsgrundlegungen — ist allerdings weiter als das der Grundlegungen vorgängiger Bestimmungsgrößen, es überschneidet sich (in der Grundlegung der Gestalt) mit dem der voridealen Grundlegung und umfaßt schließlich nodi die Grundlegung des bloß Bestimmten (der Natur). Die fundamentale Valenz der Dichtung als Leistung liegt in ihrer uneingeschränkten Weltvorgängigkeit. Gleichwohl eignet dem Gedicht „sekundäre" Geltungsdifferenz. Die komplizierte Problematik, die aus dem besonderen Aufbau des Gedichts resultiert, gibt zugleich die Vorzeichnung für den Anschluß der regionaltheoretischen Forschung (der Ästhetik). In unserer Untersuchung werden zwar Voraussetzungen einer Wissenschaftstheorie der Literarhistorie, keineswegs aber deren Probleme selbst thematisch. Diese wären der Gegenstand einer universalsystematisch orientierten Wissenschaftstheorie. N u r eine philosophische Theorie der Literaturgeschichte könnte den Bezug auf die Wissenschaft, die von der konkreten Dichtung handelt, vollends herstellen. Die Fundmamentaltheorie muß grundsätzlich Wege einschlagen, die von denen der gegenständlichen Forschung abliegen. Fundamentale Prinzipienwissenschaft ist nur im philosophischen System möglich. Dessen ungeachtet muß sich die philosophische Theorie freilich stets über den bestimmten Abstand ihres Verfahrens von der Methode der positiven Forschung Rechenschaft geben können.

II. Die Vorbereitung der Analyse 1. Die systematischen Grundvoraussetzungen

jeder

Prinzipientheorie

Wollen wir nicht einer historischen Relativierung verfallen und so auf eine gültige Antwort gänzlich verzichten, dann müssen wir uns nach einem Leitfaden für die Beantwortung unserer Frage umsehen. Unsere Frage ist eine streng theoretische. Es ist nicht gefragt, ob uns dieses oder jenes Gedicht gefällt. Wir dürfen nicht einen atheoretischen Eindruck hernach einfach in unsere Theorie übernehmen. Dieser Eindruck mag jeden Anspruch haben, einen theoretischen hat er nicht. Wollen wir erkennen, was Dichtung schlechthin konstituiert, so müssen wir sie aus Gründen begreifen. Gründe aber sind uns nicht einfach gegeben, so wie uns unsere poetischen Erlebnisse gegeben sind. Gegeben ist uns nichts anderes als das Begründete. Von ihm aus eben soll auf die Gründe zurückgefragt werden. Um aber einer historischen Relativierung bei diesem Rückgang zu entgehen, muß jeweils eine vollständige Disjunktion der Gründe erstrebt werden 1 ; denn nur diese kann unabhängig von aller konkreten Spezifikation die Begründung aller möglichen Konkreta garantieren. Nur also wenn wir den Gründen ihren Ort im System anweisen können, haben wir Aussicht, über das historisch Bedingte hinauszukommen. „Denn nur indem das Fundament auf seinen eigenen Unterboden zurückgeführt wird, kann der Verdacht der Willkür und der Zufälligkeit von den als Voraussetzungen erkannten Prinzipien und Grundlagen abgewehrt werden. Es gibt nur Eine Rechtfertigung für alle Prinzipien als Prinzipien: sie besteht in dem Nachweis ihres Zusammenhangs in und auf dem Grund und Boden, aus welchem alle Arten und Richtungen der Kultur erwachsen. . . . Einen solchen Sinn hat nun auch die Begründung der Ästhetik. Nicht nur sogenannte Prinzipien hat sie zu ergründen, in welchen die ästhetischen Begriffe sich zusammenfassen lassen; sondern als solche Voraussetzungen und Grundlagen hat sie dieselben nachzuweisen, welche den anderen Voraussetzungen und Grundlagen der Kultur-Erzeugungen entsprechen und mit diesen dem allgemeinen Boden, aus welchem alle Kultur in je ihren besonderen Prinzipien erwächst, angehören und denselben ausmachen. Im System der Kritik kommen beide Bedeutungen des Grundes zu ihrem Austrag, weil erst der Zusammenhang der Prinzipien jeder einzelnen Prinzipien-Art ihren Wert sichert"*. 1

H. Richert, System der Philosophie. I. Teil: Allgemeine Grundlegung der Philosophie. Tübingen 1921. S. 68, 378 u. ö. * H. Cohen, Kants Begründung der Ästhetik. Berlin 1889, S. 2 f., vgl. S. 97, 101. Eng an die Ästhetik Hermann Cohens schließt sich W. Sturmfels an: Grundprobleme der

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Die Vorbereitung der Analyse

Mit allem Bedacht sei darauf hingewiesen, daß, um der Zufälligkeit, d. h. der theoretischen Unverbindlichkeit einer Hypostase von Stimmungsinhalten zu entgehen, nichts anderes als die Notwendigkeit einer anderen Dimension zu denken ist, die jener des Gegenständlichen vorausliegt. Mehr nicht. Größen, die dieser zweiten Dimension angehören, kennzeichnen wir als „Prinzipien". Um aber solche von allem Konkreten unabhängige Prinzipien aufsuchen zu können, bedarf es einer Kenntnis der eigentümlichen Bestimmtheit dieser Größen. Diese Bestimmtheit finden wir, übereinstimmend mit einer philosophischen Überlieferung aller „Standpunkte", in der Systembestimmtheit der Gründe. In der neueren Philosophie wird diese Einsicht charakteristischerweise ebenso von Philosophen, denen es wie Cohen (der um seiner ausdrücklichen Bezugnahme auf unseren Fragepunkt willen zitiert wurde) und Rickert um die Erforschung der Grundlagen der Kulturerzeugungen geht, wie von der neueren Ontologie (in erster Reihe N. Hartmann) vertreten®. Das ist nicht verwunderlich. Denn in diesem Punkte muß alle Prinzipienanalyse — sowohl die Kategorialanalyse als auch die Ideentheorie — übereinstimmen, unabhängig davon, wie weit die eine jeweils den Bereich der anderen zu respektieren weiß. Damit erweist sich schon hier, daß eine Philosophie der Dichtung, die sich nicht durch das System der Philosophie bestimmt weiß, d. h. die nicht ihre Bezüge zu allen philosophischen Disziplinen nachzuweisen in der Lage ist, ihr Ziel verfehlen muß. Die Bestimmung der Prinzipien ihres Bereichs entbehrt bei unbekümmerter Mißachtung einer umfassenden philosophischen Prinzipienanalyse jeglicher Sicherung. Mit der Freilegung der Prinzipiendimension sind jedoch — auch das bedarf, um spekulative Unbesonnenheiten abzuwehren, der ausdrücklichen Versicherung — noch keine Feststellungen über die Abschließbarkeit der Prinzipienanalyse getroffen. Das Prinzip ist zwar in seiner übergeschichtlichen und überempirischen Bestimmtheit — die sich als systematische erweist — zu sichern, gleichwohl bleibt das Prinzip auf Konkreta bezogen4. — Dieser Umstand verlangt, daß die systematische Sicherung der analytischen Befunde, bei Ästhetik. München, Basel 1963. Ich habe mich mit der Sturmfelssdien Ästhetik in einem Aufsatz „Ober Recht und Grenzen einer subjektstheoretischen Ästhetik" auseinandergesetzt, der im Jahrbuch für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft (Bd. 9, 1964) erscheint. 3

4

Dennoch liegt besonderer Grund vor, die eigenständige Bestimmtheit echter Prinzipien herauszuheben. Man denke an die Klage über das Arbeiten mit „Bastardprinzipien" (/. Ebbinghaus, Über die gegenwärtige Lage der Geisteswissenschaften in Deutschland. S. 79 ff., Festschrift für F. Medicus. Erlenbach-Züridi 1946; wiederabgedruckt in: Zu Deutschlands Schicksalswende. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1947). Ausführlich: N. Hartmann, Der Aufbau der realen Welt. Berlin 1940, Kap. 6 c (S. 79 ff.) u. ö. — Vgl. Vf., Vom Problem des Konkreten in der Fundamentalphilosophie, Kant-Studien, Bd. 49 (1957), S. 423 ff.

Minimalbedingungen für den Ansatz der Analyse

23

Hartmann als dialektische Methode bezeichnet, nicht als schlechterdings abschließbar gedacht werden kann 5 . Wenn wir also an die Durchführung unserer Analyse gehen, so zeigt sich, daß die „Gegebenheit" des Begründeten selbst noch problematisch ist. Hartmann beispielsweise weist ausdrücklich darauf hin, daß das Konkretum nicht einfach dem „Gegebenen" gleichzusetzen ist, daß ferner schon die Erfassung des Konkretums in der Beschreibung kein einfaches Hinnehmen ist, sondern mannigfacher methodischer Sicherung bedarf: „Reine Beschreibung . . . ist weit entfernt etwas Leichtes und Einfaches zu sein. Sie muß sich in der Mannigfaltigkeit des Erkannten zurechtfinden, muß vergleichen, Allgemeines und Wesenhaftes herausheben und so erst die Verwertbarkeit des Materials für das Unternehmen des Rüdsschlusses herstellen"®. Zwar muß sich gemäß dem Begriff des Prinzips schlechterdings alles am Konkretum als Prinzipiiertes erweisen lassen, aber die Voraussetzung dieser Beziehung erspart uns nicht den Rückgang. „Wäre der Gegenstand als solcher gegeben, so müßten ja die Prinzipien mit gegeben sein, und es bedürfte keines Rückschlusses mehr. Denn Gegenständlichkeit ist Bestimmtheit, Bestimmung aber ist Leistung der Prinzipien" 7 . Gerade das ist aber nicht der Fall. Prinzipiiertes ist uns nicht als Prinzipiiertes gegeben. Prinzipien können keiner primär gerichteten Beschreibung zugänglich werden, also gerade nicht „gegeben" werden. Alles, was die Forschung an solcher Stelle tun kann, ist, sich möglichst günstige Bedingungen für die Analyse zu verschaffen, d. h. das gegenständliche Material für die Analyse so auszuwählen, daß sie einerseits der Gefahr entgeht, durch zufällige Einschränkung nur Allgemeines von relativer Relevanz und nicht Prinzipielles zu erfassen, sich andererseits aber ein solches Material zu sichern, das nach Zugänglichkeit und Konstanz die analytische Bearbeitung begünstigt.

2. Minimalbedingungen

für den Ansatz der Analyse

Eine solche Vorauswahl muß von relativem Wert sein. Die spätere Reflexion kann erst zeigen, ob sie in ihren Gesichtspunkten schon zureichend war. Dennoch ist sie unerläßlich, wenn der Ansatz sich nicht völliger Beliebigkeit ausliefern will. Das zeigt folgende Überlegung: Unser Konkretum ist die „konkrete Poesie", damit ist aber noch keineswegs eine eindeutige Bestimmung geschaffen. Mit dieser Bezeichnung kann, wie wir 5

N . Hartmann sagt von der Dialektik: „Ihr legitimes Arbeitsfeld reidit nur so weit, als Rüdsbindung an ein gegebenes Concretum besteht." Aufbau, Kap. 64 c (S. 597 f.). ® Aufbau, Kap. 63 e (S. 589 ff.), zu vgl. mit: Systematische Methode, Logos, Bd. 3 (1912), wiederabgedruckt in: Kleinere Sdiriften, Bd. III, Berlin 1958. 7 Systematische Methode. S. 131; vgl. auch: Aufbau, Kap. 43.

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Die Vorbereitung der Analyse

sehen werden, Mehreres gemeint sein. Nidit alles, was im landläufigen Verstände mit dieser Bezeichnung gemeint ist, ist Konkretum jener Prinzipien, die wir suchen, also derjenigen, die Dichtung als Dichtung konstituieren. Um also im vorhinein schon die Analyse in ihrem Erfolg zu sichern, sind wir gehalten, die Minimalbedingungen festzulegen, denen das gehorchen muß, wovon unsere Analyse soll ausgehen können. Wir suchen also zunächst jene Beschaffenheit festzusetzen, die — um die Rikkertsche Wendung zu gebrauchen — die „Fundstätte" 8 unserer Prinzipien haben muß, um unsere Analyse überhaupt mit Aussicht auf Erfolg in Gang bringen zu können. Selbstverständlich bedenken wir dabei, daß der Begriff, den wir uns im Stadium des Ansatzes den Bedingungen der Zugänglichkeit gemäß vom Konkretum bilden müssen, nicht wohl schon den entfalteten Begriff des Konkretums darstellt, der nur dem entfalteten Begriff des Prinzips korrespondieren könnte. Die Minimalbedingungen: 1. Das Material soll allgemein zugänglich sein. Von einem Material, das nicht für jedes Bewußtsein im Prinzip zugänglich ist, können kaum sichere, bewährbare Aussagen gemacht werden. 2. Aus dem gleichen Grunde soll das Material unmittelbar zugänglich sein und nicht erst durch Vermittlung eines anderen erschlossen werden. 3. müssen wir das Material in maximaler Breite in Betracht ziehen, ohne Rücksicht darauf, ob es im Alltagsbewußtsein für poetisch, für zweifelhaft poetisch oder gar für unpoetisch gehalten wird, um im voraus schon der vollständigen systematischen Bestimmung vorzuarbeiten. 4. wäre es wünschenswert, wenn das Material in größtmöglicher Beständigkeit vorlegbar wäre. Suchen wir in der Welt, die uns umgibt, Gebilde, die für unseren Zweck brauchbar sind, so werden wir uns zuerst an Bücher, Manuskripte, weiter an die Klanggebilde gesprochener Rede halten. Es handelt sich hier durchweg um Gebilde der physischen Welt, die uns anschaulich gegeben sind, die wir sehen oder hören, die näherhin von Wissenschaften, die Physisches zum Gegenstand haben, in ihrer Struktur erklärt werden mögen. Die Prinzipien dieser physischen Gebilde sind Prinzipien der realen Welt, Prinzipien also, die sie mit anderen physischen Gebilden gemeinsam haben, keineswegs sind sie aber spezifische Prinzipien geistiger Leistungen. Die Mannigfaltigkeit solcher Gebilde ist unübersehbar, aber sie schränkt sich bald dadurch ein, daß man die sprachliche Mitteilung von den physischen Trägern ablöst. Sofern die Möglichkeit einer identischen Tradition von Mitteilungen zugestanden wird, bleiben ebendiese sprachlichen Mitteilungen gleichgültig gegen Beschaffenheit und Anzahl der physischen Träger. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, auf die eigenartige Mittelstellung 8

Die Erkenntnis der intelligibeln Welt und das Problem der Metaphysik. Absdmitt VII, Logos, Bd. 18 (1929), abgedruckt in: Unmittelbarkeit und Sinndeutung. Tübingen 1939.

Minimalbedingungen für den Ansatz der Analyse

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der spradilidien Mitteilung einzugehen, denn die Elemente, aus denen sie sich aufbaut, können hier noch nicht aufgedeckt werden; aber es ist auch ohne das einsichtig, daß diese sprachliche Mitteilung in ihrer Konkretheit nicht unser eigentlicher Ausgangspunkt für die Analyse sein kann. Auch die Mannigfaltigkeit der sprachlichen Mitteilungen ist noch weiter zurückführbar. Die sprachliche Mitteilung erweist sich in verschiedener Hinsicht als übersetzbar. Übersetzbarkeit kennen wir vor allem als Ubertragbarkeit von einer Volkssprache in die andere, weniger merklich etwa als Umbildungsmöglichkeit des Sprachgebrauchs im Gang der Geschichte einer einzelnen Sprache und im Wandel des Sprachgebraudis von Individuum zu Individuum. Mag die Übersetzbarkeit faktisch auch, wo immer sie mag, an die Grenzen des „Unübersetzbaren" stoßen, sie zwingt uns doch zu der Annahme von Größen, die den faktischen Gebilden der Sprache (den Sätzen und Wörtern) vorausliegen. Unabhängig von den Umständen faktischer Sprachgestaltung muß also, der Differenzierung der Verständigung gemäß, eine Mannigfaltigkeit von Gebilden® vorausgesetzt werden, die den gemeinsamen „Sinn" der in verschiedenen faktischen Sprachzusammenhängen gebrauchten Worte ausmadit. Diese vorgängige Mannigfaltigkeit muß, sofern Übersetzbarkeit — zumindest als sinnvolle Aufgabe — als nirgendwo eingeschränkt gedacht werden kann, weil sie den Verständigungsbezug aller Sprachindividuen bestimmt, als überzeitlich angesetzt werden10. Die unvergängliche Sinnmannigfaltigkeit, die im Wechsel der Sprachen und der Sprechenden als Bezugsbereich erhalten bleibt, pflegen wir mit dem Terminus „Gehalte" zu bezeichnen. — Da die Gehalte allem Einzelsprachlichen als Bedingung vorausliegen, tun wir gut daran, unsere Analyse nicht auf die Prinzipien zu richten, die das einzelspradiliche Gebilde ermöglichen, sondern auf die des Gehalts, der sich in solchen Gebilden ausdrückt. Wenn wir nun den Gehalt an den vier Forderungen prüfen, die wir für unser Ausgangsmaterial aufgestellt haben, ergibt sich, daß er alle diese Bedingungen erfüllt. 1. Der Gehalt ist prinzipiell, sofern er in physischen 9

10

Der Rückgang auf Vorsprachliches, wie er in diesem Abschnitt vollzogen wird, hat keineswegs die Absicht, der Sprache in ihrer vollen Funktionalität auch nur in den Grundzügen gerecht zu werden. (Zur gegenwärtigen Problemsituation: E. Zwirner, System der Sprachen und System der Wissenschaften. Indogermanische Forschungen, 68. Bd., 1963, S. 133 ff.) — Nur die Yorgängigkeit dieses mundus intelligibilis soll erschlossen werden, wie es die Folge unserer Erwägungen erheischt. D a ß der volle Bedingungscharakter des „Vorausliegenden" noch nicht geklärt wird, sei ausdrücklich bemerkt. Erst in einer weitergeführten 1 Analyse kann sich das Vorausliegende als Bedingung für das konkrete Sprachliche erweisen. Für den problemgeschiditlidien Anschluß bleibt es jedodi wichtig, die Ergänzbarkeit dieses Lehrstücks, das wir als Gehaltstheorie bezeichnen wollen, durch eine entfaltetere Philosophie der Sprache, die dem sogenannten „bloß Sprachlichen" ernstlich gerecht werden kann, festzustellen. Zum Begriff der Überzeitlichkeit des Gehaltes vgl. u. a. N. Hartmann, des geistigen Seins. Berlin 1933, Kap. 51, 52, 54 u. ö.

Das Problem

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Die Vorbereitung der Analyse

Gebilden seinen Ausdruck findet, allgemein (intersubjektiv) zugänglich11. Faktisch ist eine weite Zugänglichkeit durch die zum Teil recht große Beständigkeit der gewählten physischen Gebilde ermöglicht. 2. Der Gehalt drückt sich in einem physischen Gebilde aus, das unmittelbar vorfindbar ist (anders als fremdpsychische Inhalte, deren Gehalt seinerseits erst in der Vermittlung durch physische Gebilde zugänglich wird12). 3. ist er in wünschenswerter Breite für ein weit größeres Gebiet relevant, als es gemeinhin der Poesie zugeschrieben wird. 4. liegt der Gehalt allem faktischen Ausdruck voraus und ist, außerhalb der realen Prozessualität, von schlechthinniger Beständigkeit. Diese Unabhängigkeit vom realen Wandel ist recht zu verstehen: Gewiß kommt der Gehalt nidit anders in die Welt als getragen von einem zeitlichen Gebilde, und anders als in irgendeiner körperlichen Manifestation wird er uns nicht zugänglich; dennoch ist er dasjenige, was als Identisches und vom Wandel Unabhängiges dem Wandelbaren, dem sprachlichen Ausdruck, seinen Sinn gibt. Man könnte noch fragen, ob der Gehalt, der gegen die sprachliche Manifestation seine Unabhängigkeit wahrt, nicht ein Bewußtseinsinhalt sein könne, eine Vorstellung, die doch auch vor aller sprachlichen Formulierung liege. Besonders für die Poesie liegt so etwas nahe, etwa die schöpferische Phantasie" für das Medium des spezifisch poetischen Konkretums zu halten. Dieser Vorschlag erschließt dort, wo er wirklich, wie in manchen merkwürdigen Versuchen14, die Analyse beim individuellen Bewußtsein anzusetzen sucht, nichts Neues. Sofern unter Bewußtsein hier das individuelle Bewußtsein verstanden werden soll, tritt es mit seinen Akten, wenn es poetisch konzipiert oder rezipiert, in dieser Hinsicht ebenso als „Träger" in Funktion, wie das körperliche Gebilde als Symbol es tut. Auch die realen psychischen Inhalte in ihrer Individualität erhalten erst von dem unabhängigen identischen Gehalt ihren Sinn, sonst wäre Verständigung unmöglich. Auch wenn die Konzeption in der Phantasie für ursprünglicher gehalten werden sollte als die Manifestation im körperlichen Symbol, so hätte das in dieser Hinsicht doch nur Bedeutung für das faktische Zustandekommen, nicht für den Gehalt selbst15. Gewiß, jedes poetische Werk, das in einem körperlichen Material manifestiert ist, ist 11

11 15

14

15

H. Ricken, Die Erkenntnis der intelligibeln Welt. S. 39 u. ö. (Unmittelbarkeit und Sinndeutung. S. 142). A. a. O., S. 42 f. (S. 146 f.). Zum Problem des Phantasie-Begriffs vgl. H. Cohen, Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins. Berlin 1869, S. 7 (Abdruck aus der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft). Ein Beispiel: H. Wirtz, Die Aktivität im ästhetischen Verhalten. Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Bd. 8, S. 403 ff., 513 ff. »The poem exists . . . the personal emotions are gone and cannot be reconstructed, nor need to be." R. Wellek u. A. Warrert, Theory of Literature. N e w York 1956 (Harvest Book), S. 68 (deutsdie Ausgabe, übers, v. E. u. M. Lohner, Bad Homburg v. d. H. 1959, S. 87).

Sprache, Theorie und Dichtung

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einmal durch die Konzeption eines individuellen Bewußtseins in die Welt gekommen. Ebenso kehrt es aus der Welt in das Bewußtsein zurück; denn nur sofern ein individuelles Bewußtsein da ist, das das Werk rezipiert, bleibt das Werk wirklich für den Menschen. Diese Hin- und Rückübertragung ist aber allein möglich, wenn ihr ein identischer Gehalt zugrundeliegt. Nun mag man annehmen, daß im schöpferischen, individuellen Bewußtsein als der faktischen Quelle des Werkes allein der echte Gehalt zu finden sei, an dem gemessen der in eine Manifestation eingegangene Gehalt stets eine Minderung darstellt. Ebenso mag die Rezeption nicht bis zum vollen Gehalt vordringen; dennoch hat jeder faktische Mangel sein Maß nur an dem Gehalt selbst. Ist der Gehalt unabhängig von subjektivem oder objektivem Träger identisch, so bleibt es zunächst gleichgültig, welches Material, d. h. welcher Träger als Ausgang der Analyse gewählt wird. Allein die Gangbarkeit des Zugangs entscheidet dann noch über den Weg der Untersuchung. Eben hier zeigt sich der Nachteil eines Ausgangs von der „Vorstellung": Wenn es sinnvoll wäre, nach einem Gehalt zu suchen, der eventuell nicht voll in das manifeste Werk eingegangen ist, müßten wir unsere Untersuchung auf Werke ausdehnen, die im Kopf ihres Schöpfers blieben, weil sie nie zur Manifestation kamen. Es ist nicht näher auszuführen, daß damit ein schwer Durchführbares gefordert wäre. Obendrein entginge uns nicht viel: Bei der Inkonstanz des individualpsychischen „Materials" ist hier gewiß weniger Zusammenhängendes zu vermuten als in körperlicher Manifestation, denn diese ist geradezu erst das Mittel, um das Gleitende zu ordnen und endgültig zu fixieren18. Aus Gründen der Zugänglichkeit und der Konstanz des Materials hält sich unsere Analyse an diejenigen Gehalte, die in körperlichen Symbolen manifestiert sind, und zwar näherhin an den Gehalt sprachlicher Gebilde, also an den Sinn von Sätzen.

3. Sprache, Theorie und Dichtung Beim ersten Versuch, sprachliche Gefüge zu gliedern, finden wir Sätze, deren Gehalt theoretisch relevant ist (wahr oder falsch sein kann) und 10

Den vom individualpsychischen Material getragenen, den aktgetragenen Gehalt zum Ausgang für unsere Analyse zu nehmen, erweist sich als unvorteilhaft, und zwar (in der Reihenfolge unserer oben aufgeführten Anforderungen an das Ausgangsmaterial) weil 1. der Akt, als einem individuellen Bewußtsein angehörig, nur ebendiesem unmittelbar zugänglich ist, 2. jedem anderen (allgemein) aber nur vermittelt durch körperliche Gebilde zugänglich ist, in denen sich das individuelle Erleben (die individualpsychische Aktträgerschaft) erst ausdrücken müßte. 3. Wir könnten eventuell die Breite der verfügbaren Phänomene erweitern, wenn wir alle Gehalte, die das schöpferische Subjekt ergreift, aufnehmen könnten, also audi alles „Unfertige". Damit wäre, wie wir sahen, wenig gewonnen, da 4. die geringere Konstanz des Materials audi die Befestigung der Gehalte benachteiligt.

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Die Vorbereitung der Analyse

andere, deren Gehalt der ersten Befragung keinen Anhaltspunkt für theoretische Relevanz bietet („Gelassen stieg die Nacht ans Land . . . " ) . Im ersten Fall ist der Anspruch vorhanden, Aussagen über etwas zu machen, das es auch unabhängig von dem Aussagenden irgendwo „gibt". Wir bezeichnen die so eingeteilten Gehalte einerseits als theoretisch different (vor allem in Sätzen, die man für wissenschaftlich hält) und andererseits als theoretisch indifferent, sofern jener Anspruch nicht vorhanden ist. Damit ist eine erste Verschiedenheit formuliert. Zunächst wenden wir uns den Ubereinstimmungen zu, um von diesen aus die Unterschiede bestimmter kennzeichnen zu können. In beiden Fällen handelt es sich, das war Voraussetzung für unseren Ansatz, um „Gehalte". Konkret zugänglich sind sie in ihrer sprachlichen Gestalt17. Die Ubereinstimmung besteht darin, daß sowohl in Sätzen mit theoretisch diff erentem als auch in solchen mit theoretisch indifferentem Sinn gleiche Worte gebraucht sein können. In Bezug auf unser Beispiel: Das Wort „Nacht" kann uns ebensogut als Symbol für den Teil eines theoretischen Urteils begegnen. Andererseits vermag aber nicht das ganze Sinngebilde, das unser Satz meint, theoretisch bedeutsam zu werden. Mögen nun bisweilen auch ganze Sätze eine doppelte theoretische und nichttheoretische Auslegung nahelegen, so sind wir meistens dennoch in der Lage, zwei Momente an den uns vorliegenden Sätzen als gegeneinander unabhängige zu charakterisieren: Einmal die Elemente, aus denen der ganze Satz sidi aufbaut, zum anderen den Satz als ein Gefüge. Soviel wir bis jetzt sehen, ist es immer ein mehrgliedriges Gefüge von Elementen, das theoretisch different oder indifferent ist, während das einzelne Element als Gleiches in diese oder jene Beziehung eintreten kann. Es scheint deshalb bisher, als würde auch dem Element alle theoretische Differenz erst aus der Beziehung auf das mehrgliedrige Gefüge18 des theoretisch differenten Gehalts, also aus dem Urteil zufließen. Im anderen Falle aber ginge das Element eine theoretisch indifferente Bindung ein1®. Wir haben eine Gleichheit der Elemente festgestellt, die es uns möglich macht, sie in verschiedenen Gehaltsverbänden wiederzufinden. Was bedeutet sie? — Das Element des sprachlichen Gebildes ist das Wort. Das mehrgliedrige Gebilde ist der Satz, er allein war bisher als Träger der verschiedenen Gehalte angesetzt worden. Von Ausnahmen abgesehen — wie 17 18 18

Vgl. E. Zwirnet, Zum Begriff der Geschichte. Leipzig 1926. S. 41. Vgl. H. Rickert, Unmittelbarkeit und Sinndeutung. Tübingen 1939. S. 155. Wir müßten also zwei völlig heterogene Formungen statuieren und wüßten vorerst nicht, welche theoretische Klärung wir uns noch von der Analyse jener atheoretischen Form versprechen dürften. Auf der einen Seite könnten wir zwar hoffen, zu einem aufgegliederten Kosmos theoretischer Formen zu gelangen, aber das „Schöne" bliebe uns bloß das außerhalb Liegende, bloß ein Rätsel. Die Gefüge, in die die Elemente eintreten, zeigen sich uns noch als völlig verschiedene. Unsere Untersuchung kann also nur von dem Umstand ihren Ausgang nehmen, daß die Elemente selbst, wenigstens in ihrer sprachlichen Gestalt, übereinstimmen können.

Sprache, Theorie und Dichtung

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in Ausrufen 2 0 — finden wir einzelne W o r t e als T r ä g e r nur von Gehaltselementen. A u d i das sprachliche eingliedrige Gebilde entspricht, sofern es in selbständiger Manifestation auftritt, einem „logisch", d. h. als Intention, mehrgliedrigem Gefüge. „Die , W o r t e ' . . erlangen unter U m s t ä n d e n die Funktion von , S ä t z e n ' . Die sprachlichen Elemente sind gewiß, sofern sie die Funktionen v o n Subjekt und P r ä d i k a t übernehmen, v o m Gefüge bestimmt, aber etwas a m Element bleibt weiterhin in gewissen Grenzen vertauschbar — sowohl zwischen verschiedenartigen Komplexionen als auch innerhalb der möglichen Funktionen (etwa im Urteil als Subjekt und P r ä d i k a t ) gleichartiger Gefüge. W a s ist es nun, das sich vertauschen läßt? D i e Valenz des Wortes vor seiner Eingliederung in einen theoretisch differenten oder indifferenten Zusammenhang bedarf nodi weiterer K l ä rung0. Aus gesprochenen W o r t e n , die nur körperliche Gebilde sind, w i r d noch keine Sprache. E r s t der Symbolwert macht den N a t u r l a u t zum W o r t . Dieser Symbolcharakter bedeutet eine Zuordnung. Welcher A r t ist diese 20

Im vielzitierten Ruf „Feuer!" — H. Richert, Die Logik des Prädikats und das Problem der Ontologie. Heidelberg 1930, S. 51 ff.; A. Stadler, Logik. 1912, S. 58 f.; J. Cohn, Voraussetzungen und Ziele des Erkennens. Leipzig 1908, S. 57; HagemannDyroff, Logik und Noetik. 11. u. 12. Aufl. 1924, S. 168; A. Riehl, Beiträge zur Logik. 3. Aufl. Leipzig 1923, S. 24. — Ein verwandtes Problem tritt auf bei den sogenannten Impersonalien, vgl. Sigwart, Die Impersonalien. Freiburg 1888; ders. Logik. Bd. I, 5. Aufl. 1924, § 1 1 ; B. Bauch, Wahrheit, Wert und Wirklichkeit. Leipzig 1923, S. 142 Anm.; Literatur zum Problem des „eingliedrigen" Urteils bei Hagemann-Dyroff ebd.

21

R. Hönigswald, Philosophie und Sprache. Basel 1937, S. 14. — Ausdruck und Intention sind beide konstitutiv für das sprachliche Gebilde. Weder Ausdrucksvalenz noch intentionale Leistung können also im sprachlichen Gebilde einen „Null-Wert" erreichen. Allerdings hat W. Cramer recht, wenn er die strenge Scheidung von Ausdrude und Meinung fordert, unrecht hingegen, wenn, er von der Interjektion, die — wie jedes andere sprachliche Gebilde — gewiß nicht das meint, was sie ausdrückt (eben weil sie es meint und nicht ausdrückt), sagt, daß sie „nichts meint" und „nur Ausdruck" sei (Die Monade. Stuttgart 1954, S. 148). Sie gehörte dann, wenn sie nicht Meinung wäre, gar nicht der Sprache an und könnte grundsätzlich auch nicht verstanden werden. Wir führen Cramer an, gerade weil er im übrigen den Begriff der Sprache in durchdachtester Gestalt entwickelt. Doch an einer solchen Stelle wird das ursprüngliche Korrelationsverhältnis von Ausdruck und Meinung angetastet. Man beachte die charakteristische Unschärfe: „Keine sprachliche Äußerung entbehrt vielleicht ganz des Ausdrucks" (ebd., Hervorhebung von uns).

" Uns steht hier allerdings noch keine philosophische Sprachtheorie zu Gebote. Es ist allein möglich, deskriptiv Hinweise auf die Selbständigkeit des Wortes gegenüber den theoretisch differenten umd indifferenten Komplexionen zu geben. Eine Sprachphilosophie setzt die primäre Geltungstheorie schon voraus. Hier tritt also der in unserer Disziplin gar nicht seltene Fall ein, daß wir, um idie Untersuchung in diesem frühen Stadium in Gang zu bringen, vorläufige Bestimmungen treffen müssen, die erst an einer viel späteren Stelle im System ihre Begründung finden können.

30

Die Vorbereitung der Analyse

Zuordnung? Das Alltagsbewußtsein ist es, also das in eingeschränkten Lebensinteressen befangene Ich, das sich zuerst sprachliche Verständigungsmöglichkeiten schafft. Es schafft sich Symbole, um das, was ihm unmittelbar nur im Fluß der Erlebnisse und Eindrücke verfügbar wird, identisch festzuhalten, um dieses ein für allemal zu benennen. Das tut es etwa in der Weise, daß es (bei lautmalenden Bezeichnungen) einen partiellen Sinneneindruck als Symbol für das komplexe Ganze verwendet, und zwar gerade den, der im gleichen Medium wie das gesprochene Wort beheimatet ist. Diese anfängliche Symbolerzeugung ist in verschiedener Weise eingeschränkt. Einmal ist der Bereich des unmittelbar Zugänglichen recht eng, außerdem richtet sich die Symbolerzeugung zunächst nur auf das, was für die Lebensbelange des Menschen von Bedeutung ist. Weiterhin werden, wo für neue Eindrücke nicht sogleich andere Symbole verfügbar sind, willkürlich Symbole „übertragen" — am Leitfaden oft recht äußerlicher Gemeinsamkeiten der gemeinten Gegenstände. Endlich wird im Laufe der Zeit neben den genannten Übertragungen der Umfang des Gemeinten verändert, ohne daß überall ein Wissen um diese Veränderungen bestände oder daß diese Wandlungen irgendeinen theoretischen Vorteil brächten. Uberhaupt hat die theoretische Begriffsbildung erst in einem späten Stadium einen schwachen Einfluß auf die Sprache. Gerade dies ist für uns wesentlich. Erst im Ringen um eine feste, überall deutliche und unmißverständliche „Terminologie" sucht das theoretisch geregelte Denken Einfluß auf die lebendige — und eben darum im Sinne der Theorie unzuverlässige — Sprache zu nehmen. Das theoretische Bemühen vertraut nicht darauf, daß das Wort zur rechten Zeit sich einstellt. Gleichwohl ist damit nur ein schwacher Einfluß der Theorie gegeben. Die Sprache dient eben nicht nur der theoretischen Vernunft. Wo das Denken auf die Sprache vertraut, vertraut es auf ein Medium, das nicht nur theoretischen Regeln gehorcht. So ist das „Absinken der Begriffe"23 verständlich — in Wahrheit eine Veränderung der sprachlichen Bedeutungen, die sich von dem einmal festgesetzten Gebrauch in bestimmten theoretischen Komplexionen entfernen. Nicht die Bestimmtheit des einmal gesetzten Begriffs kann einem Wechsel unterworfen sein, wohl aber die Bedeutungsfunktion des sprachlichen Gebildes, in dem sich dieser Begriff jeweils darstellt. Wir sind hier nicht in der Lage, den ursprünglichen Verfahrensweisen, deren sich das Alltagsbewußtsein im Sprachgebrauch bedient, im einzelnen nachzugehen. Das ist für das, was wir belegen wollen, auch nicht erforderlich. Wichtig ist, daß die Symbolerzeugung, die die Sprache zunächst leistet, noch nicht von theoretischen Ordnungsprinzipien durchaus geleitet zu sein braucht. Während wir für die theoretische Begriffsbildung immer ein echtes Beziehungstiften zwischen dem Einen und dem Anderen ver23

N. Hartmann,

Das Problem des geistigen Seins. Berlin 1933, 55. Kapitel (S. 426 ff.).

Sprache, Theorie und Dichtung

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anschlagen müssen, mag es außerhalb der Theorie auch ein bloßes Hindeuten geben, das — auf seinen Bedeutungswert hin betrachtet — durchaus verwechselbar ist. Gibt es deshalb nun gar keine Bestimmtheit des sprachlichen Gebildes, unabhängig von seiner theoretischen Geordnetheit? — Gewiß muß ihm ursprünglich schon Bestimmtheit eignen, denn nicht die faktischen Mängel machen die Sprache zur Sprache, sondern allein das, was den nackten Natur laut zur Sprache macht: ihr Bedeutungswert, wie gering dieser auch immer einzuschätzen sein mag. Wenn dieser Minimalwert eventuell auch nur als erste Bedingung für Mitteilbarkeit und Verständlichkeit das identische Festhalten eines im Erlebnisstrom auftauchenden und vergehenden Eindrucks ist, so ist damit für jeden sprachlichen Ausdruck, der diesen Namen verdient, ein Minimum an Bedeutungsdifferenz gesichert, obendrein das Gleiche, das die Gehaltselemente in den verschiedenen Gehaltskomplexionen verbindet, als ein solches der Bedeutung (und Verweisung) festgestellt. Das hat für den Fortgang unserer Untersuchung weittragende Bedeutung. „Gelassen stieg die Nacht ans Land" ist nicht bloß der klingende Ausdruck einer namenlosen, in sich befangenen seelischen „Stimmung", sondern eine — an welchem Leitfaden auch immer zustandegekommene Komplexion von Bedeutungen. In diesem anspruchslosesten Maße muß Dichten nunmehr schon als ein Denken verstanden werden, und das heißt als mehr denn als reiner Ausdruck (darin ist es von der Musik unterschieden). Ja, wir dürfen annehmen, daß eine Dignität des Denkens es ist, die zwar nicht einen auszeichnenden Wert, wohl aber die spezifische Artung des poetischen Gehalts gegenüber anderen Beständen des Schönen ausmacht. Jedes sprachliche Gebilde muß jenes Minimum an Bestimmtheit an sich haben, welches begründet, daß es „Bedeutung hat". Diese minimale (sprachliche) Bestimmtheit ist allerdings nicht etwa „Vorstufe" der theoretischen, nicht also eine Bestimmtheit, die in der erkenntnismäßigen Bestimmtheit ihre Korrektur und ihre strengere Ausgestaltung fände, sie ist vielmehr Voraussetzung der erkenntnismäßigen Bestimmtheit, wie sie Voraussetzung jeder geltungsmäßigen Artikulation der Bestimmtheit ist. Das macht die spezifische Formalität der Sprache gegenüber dem gegenständlich artikulierten Denken aus, aber zugleich auch, ihrer eigentümlichen Prinzipienvalenz entsprechend, ihre bestimmte Konkretheit, die sich — wie das Bewußtsein oder die Geschichte — gegenüber der Vielheit der Geltungshinsichten als Einheit behauptet. Damit ist der andere Grundgedanke nicht aufgehoben, daß auch die Geltungshinsichten als Einheiten konstituiert sind, nur eben als solche erfüllter Transzendenz, während die Sprache, in einem wohlverstandenen Sinne, durch ihre Bedeutungsvalenz als Ermöglichung und nur als Ermöglichung von Transzendenz, und zwar jeder Transzendenz, fungiert. So verbietet sich eine nebenordnende Betrachtung der Sprache, die diese in eine Reihe mit den Geltungsfunktionen setzt. Sprache ist zumindest nicht im gleichen Sinne „sym-

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Die Vorbereitung der Analyse

bolische Form" wie etwa Erkenntnis24. Entsprechend ist die Grundstruktur der Sprache nicht auf dem Wege der Aufhebung eines Geltungsbestandes allein zu ermitteln. Sie ist vielmehr Voraussetzung für jede Artikulation der Gegenständlichkeit und der entsprechenden Leistungsinbegriffe. Daran knüpft sich zugleich die Einsidit in die Verständigungsfunktion der Sprache. Sprache ist nicht nur Verständigung der Individuen untereinander. Als Bedingung der Möglichkeit des Verständnisses von Ausdruck ist sie zugleich Verständigung über etwas, und sei es die Verständigung über einander. Verständigung ist mehr als bloße Produktion, sie ist Denken. Denken jedoch ist nicht allein Denken überhaupt und Bedeutungsfunktion, sondern ist Denken über bestimmte Gegenstände. Ein solches Denken wird nur als geltungsbestimmtes, und das heißt als geltungsartikuliertes möglich. Der Ausgang des Denkens ist stets der gleiche. Immer ist ein unmittelbar Verfügbares zu formen, ob die weitere Formung zu theoretisch gerechtfertigten Gehalten (wahren Urteilen) führt oder nicht. Wo nichts gedacht ist, kann nichts ausgedrückt werden. Da aber immer der Anfang der Formung bei einem Ungeformten anhebt, muß dieses Ungeformte, da ihm noch keine Bestimmungen zukommen, Eines sein. Es gibt nur ein All des Inhaltlichen; auch dem künstlerischen Einfall, der Intuition, der Phantasie kann nichts prinzipiell Anderes begegnen als dem theoretischen Denken. Materialiter kann der poetischen und der künstlerischen Einsicht sich nichts eröffnen, was nicht auch wenigstens möglicher Gegenstand der Theorie ist. Produktion des Genies, so wenig diese geleugnet werden soll, muß also etwas anderes als eine totaliter isolierte und auf sidi gestellte Erzeugung sein. Dem künstlerischen Einfall kann nidit mehr begegnen als dem wissenschaftlichen Denken (wenn sich auch faktisch und historisch gelegentlich eine Überlegenheit der ästhetischen Einsidit ergeben sollte), der Möglichkeit nach muß das ästhetische Denken stets hinter dem der Wissenschaft zurückbleiben. Was den Gegenstand künstlerischer Schau angeht, so ist Nicolai Hartmann zuzustimmen: „Hier ist kein Plus an Determination" (gegenüber der Realität, die das ursprüngliche und erste Korrelat des theoretischen Denkens ist), „hier steht nur alles offen"." Der künstlerischen Einsicht selbst ist das Minus an Determination, das ihrem Gegenstand eignet, keineswegs bestimmbar. Es hat sein Maß nur im Hinblick auf den ursprünglich volldeterminierten Gegenstand und kann darum nur theoretisch erschlossen werden, wenn auch nicht in einer Theorie des Realen, sondern in einer Theorie des Irrealen, die notwendig zugleich eine Theorie des (ursprünglichen) Denkens des Irrealen sein muß, denn M

25

Vgl. Vf., Cassirers Symbolbegriff und die Grundlegungsproblematik der Geisteswissenschaften. Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 18 (1964), S. 614 ff. Möglichkeit und Wirklichkeit. Berlin 1938. K a p . 35 d (S. 275 f.).

Bedeutung und Urteil

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Irreales kommt, anders als Reales, nur durch Denken (und „Einfall") in die Welt, wenn jenes auch diesem gegenüber in dem oben angegebenen Sinne keinen inhaltlichen (d. h. aus dem Bezug auf Unmittelbares entstammenden) Überschuß für sich beanspruchen kann. Beide, das theoretische wie das poetische Denken finden sich ursprünglich in gleicher Einstellung auf ein unmittelbar Gegebenes gerichtet, nämlich in erster und gerader Intention. Zwar bewältigen beide das Unmittelbare in grundverschiedener Weise, und darum wird für beide auch das einzelne Gegebene als Korrelat primärer Einstellung in ganz verschiedener Weise thematisch. (Man denke an die Funktion des Einzelfalles für die Gesetzeserkenntnis und an die ganz andere Bedeutung, die das einzelne Ereignis als Gegenstand der historischen Forschung einerseits und als Anlaß und Material für die poetische Produktion andererseits hat.) Entscheidend ist, daß sich nur das theoretische Denken auf das All des Gegebenen richten kann und daß nur dieses theoretische Denken sich der Totalität (oder der im Hinblick auf ein Totum bestimmten Partialität) des Gedachten gegründeterweise bewußt zu werden vermag. Nur die Wissenschaft verfügt über Kriterien, mit deren Hilfe sie sich des Maßes der Vollständigkeit des im Denken Bestimmten versichert. Eine solche Besinnung ist nur auf dem Boden der Wissenschaft möglidi, weil diese Orientierung selbst ihrem Wesen nach theoretisch ist.

4. Bedeutung und Urteil Die Bedeutung ist kein absolutes Element. Sie ist Element nur im Hinblick auf ein geltungsdifferentes Gefüge. Die Bedeutung kann als Intention nicht schlechterdings elementar sein. Sie ist als Intention Verknüpfung, und zwar repräsentiert sie das Gefüge des Urteils im Modus des geltungsvorgängigen, aber zur Geltung ausgestaltbaren „ist". Sie hat eine doppelte Funktion: sie ist mögliche Bestimmung (Prädikat) oder mögliches Gesetztes (Subjekt). In beiderlei Hinsicht steht sie in Beziehung zu einem möglichen Verknüpfungskorrelat. Sie ist entweder mögliche Bestimmung von Etwas oder bestimmbar durch Etwas. Dieses Etwas ist notwendig als funktionale Leerstelle mitgedacht, auch wenn es in der Bedeutungshinsicht selbst nicht aktualisiert werden kann. Die korrelationale Struktur in der Bedeutungshinsicht ist Verknüpfungsmöglichkeit. Diese Verknüpfungsmöglichkeit ist auf Grund ihrer Vorgängigkeit schlechterdings uneingeschränkt. Die Minimalbestimmtheit der Bedeutungsstruktur ist im Aufbau eines jeden denkbaren Urteils impliziert. Demgemäß sind also Urteil überhaupt und Bedeutung dasselbe. Im geltungsbestimmten Urteil findet die Bedeutung ihre Ausgestaltung zur transzendenten Intention. Diese Ausgestaltung hat die Form, daß die mögliche Verknüpfung,

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D i e Vorbereitung der Analyse

die sich im Bedeutungsgefüge darstellt, in eine aktualisierte Verknüpfung umgewandelt wird 84 . Mit diesem Gedanken ist der andere verträglich, daß die Bedeutung als Element in das Gefüge des geltungsbestimmten Urteils eintritt. Da ein Gefüge notwendig eine we^rgliedrige Relation ist, tritt entsprechend immer eine Mehrheit von Bedeutungen — Elementen — in das geltungsbestimmte Urteilsgefüge ein. Die Bedeutung ist als Element kein Irrelationales, sie ist kein bloßes Substrat, dennoch muß sie im geltungsbestimmten Urteil eine echte (und letzte) Elementarfunktion erfüllen können. Auch Bedeutung ist Verknüpfung, weil Bedeutung Intention und nicht bloß Vermeintes ist. Sie kann also weder letztes Substrat sein, noch, wie der pure Gegenstand, auf letzte Substrate zurückgeführt werden. Die Ansicht, es handle sich im Urteil um die Verknüpfung vorgegebener, beziehungsweise fremder Termini, ist also aufzugeben. Die Bedeutung kann als echtes Element für das geltungsbestimmte Urteil fungieren, weil sie zwar relational, in ihrer Relationalität jedoch nicht im Hinblick auf die Funktionsstelle des Inhalts determiniert ist. Die Bedeutung ist mögliche Bestimmung und mögliches Bestimmtes. Diese Unentschiedenheit der Stellenbestimmtheit macht ihre Elementarfunktion für das geltungsbestimmte Urteilsgefüge möglich. Die geltungsbestimmte Ausgestaltung der Bedeutung vollzieht sidi notwendig als spezifische Geltungsgliederung. Die Notwendigkeit der Vielheitlichkeit der Geltungsgliederung kann allerdings erst in einer späteren Phase der Untersuchung einsichtig werden. Die Vielheitlichkeit resultiert daraus, daß verschiedene Momente des im Denken, in Bedeutung und Urteil, sich entfaltenden Gefüges der Gegenständlichkeit die Richtungen der Verknüpfungshinsichten zu bestimmen vermögen27. Diese Momente sind etwa Inhaltsbestimmtheit — Oberschaubarkeit — und universale Bestimmungsvalenz. Aber die Voraussetzungen zum Verständnis der Notwendigkeit der Funktion dieser Momente als Gliederungsrücksichten sind erst noch Schritt für Schritt zu erarbeiten. Hier genügt es, die Möglichkeit einer vielheitlichen Geltungsgliederung einzusehen. Diese Möglichkeit hat darin ihren Grund, daß in der Bedeutung selbst die Artikulationsrichtungen noch nicht bestimmt sind. Die Bedeutung ist also Voraussetzung für das geltungsbestimmte Urteil (das theoretische, axiotische, poetische usf.). Das geltungsbestimmte " Vgl. A. Liebert, Das Problem der Geltung. Berlin 1914, Teil B, I (S. 96 ff.) und B. Bauch, Wahrheit, Wert u n d Wirklichkeit. Leipzig 1923, S. 41 ff. Vgl. auch H, Johannsen, Der Logos der Erziehung. Jena 1925, bes. das 1. Kapitel (S. 5 ff.). " D e n Versuch, die Geltungsgliederung aus den Momenten der der Gegenständlichkeit korrespondierenden Subjektivität hervorgehen zu lassen, hat Hönigswald gemacht. Seinen prägnantesten Ausdruck findet dieser Gedanke in: Über die Grundlagen der Pädagogik. 2. umgearbeitete Aufl. München 1927; Grundfragen der Erkenntnistheorie. Tübingen 1931 und Philosophie und Sprache. Basel 1937. Vgl. hierzu V f . , Gegenständlichkeit und Gliederung. Köln 1964, X . Kapitel (S .145 ff.).

Bedeutung und Urteil

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Urteil ist die Erfüllung der in der Bedeutung angelegten Voraussetzung. Im geltungsbestimmten Urteil erhält der Inhalt der Bedeutung eindeutige funktionale Stellenbestimmtheit. Demgemäß ist nur das geltungsbestimmte Urteil imstande, die mögliche Intentionalität zur vollen Intentionalität, d. h. zur Objektivität auszugestalten. Erst dort, wo ein materiales Gedachtes oder Vermeintes eine eindeutige Funktion im Urteil erhält, wird es als Gesetztes oder als Bestimmung, und das heißt: als Moment eines Gegenstandes gedacht. Das gilt von jedem Denken, welchem Geltungsbereich es audi angehören mag. Nur dort also, wo die Materie des Denkens Stellenbestimmtheit im Urteil besitzt, liegt eine Beziehung auf einen Gegenstand vor. Dabei ist es gleichgültig, welcher Sphäre der Gegenstand angehören mag, ob er ein ansidhseiender oder ein „intentionaler", ein realer oder ein irrealer etc. ist. Nur das geltungsdifferente Denken ist also in der Lage, sich auf ein Materiales als auf seinen Gegenstand zu beziehen. Die Abhebung der Bedeutungshinsicht ist von entscheidendem Gewicht für unsere Untersuchung. Nur sie macht ein Überschreiten des theoretischen Geltungsmodus möglich, denn Bedeutung ist ja nicht nur geltungsmäßige Unartikuliertheit, nicht nur Unbestimmtheit, sondern zugleich auch Artikulierbarkeit im Hinblick auf Geltungsdifferenzen. Sie ist Voraussetzung geltungsbestimmter Urteile. Ferner impliziert sie nicht nur Ausgestaltbarkeit in der Richtung eines Geltungsbereichs (etwa des theoretischen), sondern im Hinblick auf jeden nur möglichen und denkbaren Verknüpfungsmodus, der eine Beziehung auf Gegenstände eröffnet. Die Bedeutungsfunktion ist insbesondere nicht auf die erkenntnismäßige Ausgestaltung beschränkt. Sie läßt in ihrer Vorgängigkeit jede gegenständliche Erfüllung zu. Die Vorgängigkeit der Bedeutung schließt eine Vielheitlichkeit der Bedeutungen nicht aus. Die Bedeutung ist material bestimmt, das macht die Pluralität der Bedeutungen notwendig. Zwar wird die Bedeutung (als Element) im geltungsbestimmten Urteil artikuliert und notwendig auch materialiter bestimmt. Dennoch ist es möglich, daß beiden, geltungsbestimmtem Urteil und Bedeutung, konkrete Bestimmtheit zukommt. Im Hinblick auf Denken und Sinngebilde fallen Konkretheit und geltungsbestimmte Materialität nicht zusammen. Die Geltungsbestimmtheit repräsentiert nur eine Hinsicht möglicher Konkretheit des Denkens und seiner Sinnbestände. Eine andere Hinsicht möglicher Konkretheit ist die Bedeutungsbestimmtheit. Bedeutung ist Voraussetzung und Prinzip (und also „formal") nur im Hinblick auf die geltungsbestimmte Erfüllung (Materialisation und Konkretion) des Denkens. In der Hinsicht ihrer eigenen inneren Bestimmtheit ist sie durchaus konkret und material. (Sie ist dies möglicherweise, der systematischen Wechselbezüglichkeit der sinnermöglichenden Grundfunktionen gemäß, auf Grund einer sie bedingenden und prinzipiierenden Funktion der Geltungsbestimmtheit.)

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Die Vorbereitung der Analyse

Jeder prinzipiengegründeten Hinsicht der Gegenständlichkeit, sei sie eine Hinsicht, in der pure und sinnfremde Gegenstände ihren Ort haben, sei sie eine Hinsicht, die Sinnbestimmtes ermöglicht, muß ein spezifischer Bestand des Konkreten korrespondieren. Das folgt aus der fundamentalen Korrelativität von Prinzip und Konkretum. — Und jeder konkrete Bestand muß sich auch positiv erforschen lassen. Das gilt auch für jenen Bestand, der den Inbegriff sprachlicher Gebilde umfaßt, in seiner konkreten (systematischen und geschichtlichen) Differenzierung. Er wird in der positiven Theorie sowohl in naturaler und organischer Hinsicht, als Bedeutungsmannigfaltigkeit, als System von Bedeutungsverknüpfungen, wie auch endlich als Niederschlag geltungshaft bestimmter Leistungen erforscht. Letzteres vollzieht sich — eben so weit es um die Leistungen in ihrer Konkretheit geht, in den Geisteswissenschaften28. Der inneren Bestimmtheit der Bedeutung entspricht also auch ein positiv erforschbarer Bestand. Die Bedeutung kann als objektivierte und ausgedrückte, auch unter Absehen von ihrer Funktion in einem geltungsbestimmten Sinngefüge, positiv gedacht werden. So „setzt die Sprachwissenschaft Worte und Bedeutungen geradezu methodisch außer Funktion1*." Die materiale Gliederung der Bedeutung hat ihren Grund in deren Ursprung. In der wechselseitigen Beziehung von monadischem Erleben und gegenstandsgerichtetem Denken, in der lebendigen Auseinandersetzung von Subjektivität und Objektivität erfährt die Bedeutung ihre materiale Differenzierung.

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Sofern z. B. erkenntnismäßig bestimmte Aussagen thematisdi werden, in den Fädiern der Wissenschaftsgeschichte. M W. Cramer, Die Monade. Stuttgart 1954. S. 149.

III. Das Gedicht und die Grundlegung der theoretischen Leistung 1. Verstoß und

Abschluß

Die erste Abhebung der theoretisch differenten und der theoretisch indifferenten Komplexion voneinander wurde durch die beiden gemeinsame Sprachgestalt möglich. Der Beziehungsgrund für beide ist die Bedeutung, die dem sprachlichen Gebilde seine erste Bestimmtheit verleiht. Die Bedeutung wird in der theoretischen Komplexion im Hinblick auf eine spezifische Differenz ergänzt. Mit Rücksicht auf jenen gemeinsamen Beziehungsgrund, den die Bedeutung darstellt, muß sich jetzt auch das Verhältnis der theoretisch indifferenten Komplexion zur theoretischen und zu deren Bedingungen ermitteln lassen. Wir suchen diese erste Aufgabe in Angriff zu nehmen, indem wir die theoretisch indifferente Komplexion unter theoretische Bedingungen stellen. Das zu erwartende Ergebnis, daß die Komplexionen, die schon für die Deskription von den theoretischen Sätzen abweichen, sich auch in analytischer Betrachtung ebenso als den Bedingungen der Theorie ungenügend erweisen werden, macht unseren Versuch nicht überflüssig. Denn eben dies, worin die indifferente Komplexion abweicht, und was als möglicher Grund dieser Indifferenz in Betracht gezogen werden kann, ist nur der Analyse erschließbar, nicht aber schon der bloßen Beschreibung. Zur vorläufigen Charakterisierung der Indifferenz genüge das Folgende: Wir finden unter den poetischen Komplexionen solche, bei denen es uns an der Möglichkeit fehlt, sie in ihrem eigentlichen Sinne einem erfahrbaren Tatbestand zuzuordnen, weil in ihnen gar nicht der Versuch gemacht wird, ihren Gegenstand eindeutig im All erfahrbarer Gegenstände zu lokalisieren. Wir finden weiterhin solche, deren Gegenstand zwar nach Art eines Erfahrungsgegenstandes aufgebaut zu sein scheint, denen aber gleichwohl der wirkliche Tatbestand nicht entspricht. Endlich gibt es solche Komplexionen, die obendrein noch theoretisch schlechterdings Unverträgliches miteinander verbinden1. Damit ist zunächst nichts als ein Versagen vor den theoretischen Anforderungen festgestellt. Es scheint, daß diesen Gehalten nichts entspricht, was außerhalb ihrer selbst ein Ansichsein hätte. Diese Gehalte scheinen Komplexionen zu sein, die das individuelle Bewußtsein willkürlich ergreift und aneinanderreiht. Ein solches Aneinanderreihen, so scheint es, ist viel1

H. Cohen, Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins. Berlin 1869. S. 23 ff. (Abdruck aus der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft).

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Das Gedicht und die theoretische Leistung

leicht Regeln unterworfen, aber solchen, die den Gehalten als Geltungsbeständen äußerlich sind, etwa denjenigen der Assoziabilität2. Freilich ist die „assoziative" Verknüpfung Voraussetzung für jede geltungshafte Gliederung. Auch assoziative Verknüpftheit ist minimale Geregeltheit, nur ist diese Geregeltheit noch nicht die gegenständlicher Bestimmtheit. Assoziativ verknüpft können „Sinn" und „Unsinn" sein, wobei „Unsinn" bedeutet, daß die Forderungen einer (spezifischen) geltungshaften Gliederung nicht erfüllt sind. Solange die Leistungsgesichtspunkte in der Assoziation ungeordnet und ungeschieden im Spiel sind, ist den Regeln der einen oder der anderen Aufgabe nicht genügt. Demgemäß ist bei mangelnder Entschiedenheit der Aufgabenrichtung auch keine „Erfüllung" (wie vorläufiger Art auch immer) vorauszusehen. Damit also wäre auch das Ende solchen Aneinanderreihens durch ein Äußerliches bestimmt, etwa dadurch daß das Individuum einschläft oder stirbt; sonst würde aber nichts entgegenstehen, daß das Verknüpfen fortgesetzt würde. Wir treffen zweifellos auch auf Komplexionen dieser Art, aber wenn wir das Gefüge bestimmter theoretisch indifferenter Komplexionen betrachten, finden wir etwas, das solchem beliebigen Weitergehen durchaus widerstreitet: einen Abschluß. Was hier vorliegt, ist nicht leicht zu durchschauen. Wenn es möglidi ist zu erweisen, daß der Abschluß der theoretisdi indifferenten Gehaltskomplexion als Gehalt, d. h. in ihrer geltungshaften Bestimmtheit, zukommt, wäre damit der Beliebigkeit eine Grenze gesetzt. Hier wäre zu suchen, was die theoretisdi indifferente Gehaltskomplexion in ihrer Eigenart zu begründen imstande ist. Wenn wir aber die Möglidikeitsbedingungen für einen solchen Abschluß aufsuchen wollen, dürfen wir uns also nicht einfach auf das Faktum berufen, daß theoretisch indifferente Komplexionen durchaus nicht immer in müßigem Hindämmern zustande kommen, daß um sie gelegentlich „gerungen" wird. Das kann uns noch nichts sagen (wenn es uns auch anhalten sollte, die Sache nicht leicht zu nehmen); denn könnte die Natur nicht manche Individuen so schlecht bedacht haben, daß ihnen sogar das Träumen zur Arbeit wird? Der Abschluß wird uns nur dann als echter Abschluß gelten dürfen, wenn wir ihn aus Gründen zu begreifen in der Lage sind. Um die Voraussetzungen der Möglichkeit eines Abschlusses theoretisch indifferenter Gehaltskomplexionen zu ermitteln, tun wir gut daran, zunächst die Verhältnisse auf der Seite des Theoretischen zu betrachten. Gibt es dort „Abschluß"? Offenbar nicht, das theoretische Subjekt begreift die Erkenntnis als seine unendliche Aufgabe. Der Gehalt ist hier notwendig ergänzungsbedürftig. Der „Abschluß" der theoretischen Komplexionen 2

Ein amüsantes Beispiel für ungehemmte Assoziationen gibt Robert Neumann in seiner Döblin-Parodie (Unter falscher Flagge. l . A u f l . Berlin, Wien, Leipzig 1932, S. 163 ff.).

Verstoß und Abschluß

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liegt im Unendlichen. Dieser Abschluß wäre die Erkenntnis des Alls der Gegenstände in seiner Totalität. Wo das Denken das All der Gegenstände in seiner durchgehenden Bestimmtheit begriffe, wäre es an sein Ende gekommen8. Unabhängig hiervon bleibt die Frage, ob nicht auch der Begriff dieser Abgeschlossenheit sich als ergänzungsbedürftig erweisen muß. Eine Aufgabe für das positive Denken birgt dieser Abschluß nicht. Gerade insofern die Abgeschlossenheit nur der Philosophie Problem werden kann, ist sie eben nicht materialiter zu „erreichen", sondern nur prinzipientheoretisch zu bestimmen. Die Spekulation kann nirgends die Arbeit der Empirie ersetzen, auch hier nicht. So ist es möglich, daß der Begriff des (theoretischen) Abschlusses selbst unabgeschlossen ist, und zwar in doppelter Hinsicht: einmal ist er immer im Hinblick auf mögliche Inhalte (auf das Konkrete, das in diesem begriffenen oder zu begreifenden Prinzip seinen Grund hat) als offen zu denken, andererseits hat diese prinzipientheoretische Bestimmung nur im Hinblick auf andere, in der philosophischen Forschung freizulegende, „formale" und prinzipientheoretische Bestimmungen ihre Bestimmtheit. Eine abgeschlossene theoretische Gehaltskomplexion bleibt jedenfalls bloß aufgegeben. — Sollten wir nun eine abgeschlossene theoretisch indifferente Gehaltskomplexion für gegeben halten dürfen? Was ergäbe der Vergleich? Die abgeschlossene theoretische Gehaltskomplexion wäre der vollendete Begriff von dem durchgängig bestimmten All des Ansichseienden4. Bezöge sich die abgeschlossene Gehaltskomplexion auch auf ein ansichseiendes All? Eine vertraute Auffassung, die den Dichter als den Schöpfer einer zweiten Welt denkt, fände hier ihren Platz. Cohen beschreibt einmal das Verhalten eines Kindes, „dem wir eine Geschichte erzählen: hier ist die Mutter, der Vater dem unmittelbaren Bewußtsein des Kindes als Erzähler gegenwärtig; am Munde des Erzählers hängt das mitempfindende Kind und kennt so die Quelle, den verantwortlichen Urheber der Geschichte. Nur so und deshalb kann das Kind den Erzähler bitten, unter Tränen bitten, das Schicksal der Prinzessin zu ändern, wenn es ihm in der für sein Bewußtsein von der Vorsehung, der Weisheit und der Güte des Erzählers abhängigen Form wehe tut" 5 . — Eine solche Auffassung orientiert sich also an Begriffen, die dem religiösen Denken entlehnt sind. Aber da wir zur Bildung des Begriffs der Schöpfung eines primären Weltalls an dieser Stelle der Systementwicklung nicht befugt sind, wie sollte daraus dann noch etwas für die Schöpfung unserer sekundären Welten abzuleiten • Diese Abgeschlossenheit wird jedoch im Erkenntnisprogreß nirgendwo Ereignis, sie ist insofern nidit gegenständlich und kein Gegenstand für positives Denken. Sie ist vielmehr Möglichkeitsbedingung für die Gegenständlichkeit der Erkenntnis. 4 Und, wenn man die Prinzipientheorie mitberücksichtigt, fernerhin von dessen Gründen und den Gründen eines jeglichen Denkens. 6 Die dichterische Phantasie, S. 3.

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Das Gedicht und die theoretische Leistung

sein6? Vielmehr ist es ja doch umgekehrt, nämlich so, daß uns das Wissen um den sekundären Schöpfer, um den freischaffenden Menschen, eher verfügbar ist und uns geradezu als Vorbild dient für eine wie immer zu rechtfertigende Vorstellung vom Schöpfer des Himmels und der Erde 7 . Von prinzipientheoretischem Wert ist in diesen Vorstellungen allein die Unterscheidung von primärer und sekundärer Welt. Uber den Ursprung der poetischen Welt ist noch nichts ausgemacht, wenn wir sie als „Schöpfung" zu verstehen suchen, denn diese Schöpfung wird sich doch wohl fundamental von jener anderen unterscheiden müssen, in der das primäre All seinen metaphysischen Ursprung haben soll. Allein prinzipientheoretische Erwägungen können uns dem Ziele, das gegenständliche Korrelat der abgeschlossenen (poetischen) Gehaltskomplexion in seinem Wesen zu begreifen, näherbringen. Wir fragen also nach den Prinzipien, die dort das All der Gegenstände (das Korrelat des theoretischen Denkens) und hier den poetischen Gegenstand (das Korrelat des poetischen Denkens) als abgeschlossene Bestände aufbauen. Diese Gegenüberstellung führt uns dazu, die Bedingungen aufzusuchen, die zugrunde liegen müssen, um den Abschluß von Gehaltskomplexionen zu ermöglichen, sowohl den von theoretischen als auch den von theoretisch indifferenten Komplexionen. Der Abschluß, den wir dem primären Weltall hinzuzudenken genötigt sind, besteht in der durchgängigen Bestimmtheit aller seiner Teile8. Alle theoretische Forschung richtet sich auf Teile dieses Weltalls (wobei als „Teile" hier etwa auch Prinzipien bezeichnet werden); sie tut dies, indem sie eine durchgängige Bestimmtheit des Weltalls voraussetzt, die erst die Bedingung für durchgängige Bestimmbarkeit bildet. Alle theoretische Begriffsbildung bleibt ergänzungsbedürftig. In der Theorie verhalten sich Gegenstand und Gehalt wie Abgeschlossenes und Ergänzungsbedürftiges. Die Unabgeschlossenheit des theoretischen Gehaltes ist Ergänzungsbedürftigkeit, wobei diese Ergänzungsbedürftigkeit kein mythisches Ungenügen vor der „wahren" Wirklichkeit ist, sondern verbunden zu denken ist mit einer streng geregelten Ergänzungsmög/z'c&&ezf auf Grund theoretischer Prinzipien 9 . • Über die theoretisdie Unfruchtbarkeit der „Vorstellung der Schöpfung" („der Ausdruck wissenschaftlicher Ratlosigkeit") vgl. Cohen, Die dichterische Phantasie, S. 5. 7 Vgl. N. Hartmann, Teleologisches Denken. Berlin 1951, S. 36 (Kap. 4 a). 8 Die Durchgängigkeit dieser Bestimmtheit ist entscheidend, nicht die Art der Bestimmtheit. Unsere Erwägungen sind unbetroffen von Problemen wie dem des „Determinismus". Es geht nicht um einen partikulären Modus der Bestimmtheit, wie den der Natur oder auch den der realen Welt. Im Weltall haben auch mögliche sekundäre Sphären ihre spezifische Bestimmtheit und sind demgemäß für die Theorie bestimmbar. • Daß es sich dabei um eine unendlich weiterführbare, im letzten aber nicht abschließbare Aufgabe handelt, macht die Sache nicht mystisch, denn wir können uns Klarheit über die Gründe dieser Unabsdiließbarkeit verschaffen. Der theoretische Ab-

Verstoß und Abschluß

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Wollten wir das gleiche Strukturschema auf den Bereich der Dichtung übertragen, so böte sich folgende Schwierigkeit: Für das Theoretische ist das Verhältnis zwischen Gehalt und Welt (zwischen Setzung und Abschluß) die Beziehung der Idee. Dort also bleibt alle Setzung unabgeschlossen, hier aber wäre gerade ein Abgeschlossenes als gesetzt zu denken. Wenn wir diesem Abgeschlossenen nun die Bestimmungen des theoretischen Abschlusses hinzudenken, so schließen wir von ihm zugleich Ergänzungsbedürftigkeit und Ergänzungsmöglichkeit aus. Wie aber sollen einer gesetzten Gehaltskomplexion solche Bestimmungen zukommen können? Von neuem orientieren wir uns an den Verhältnissen auf der Seite der theoretischen Gehaltskomplexion. Die theoretische Ergänzungsbedürftigkeit ließ sich zugleich als Ergänzungsmöglichkeit erklären. Der echte theoretische Begriff ist nie abschließend bestimmt, und zwar nicht etwa deshalb nicht, weil er das, was er jeweils begreift, nicht zureichend faßte; das, was er am Gegenstand begreift, begreift er zureichend oder gar nicht. Aber er läßt über das hinaus, das er begreift, Unbegriffenes übrig. Dennoch setzt er dieses Unbegriffene zu dem schon Begriffenen in Beziehung, aber nicht indem er über das Unbegriffene zuvor etwas ausmachte, sondern indem er diesem schon seinen angemessenen Ort, den der Bestimmbarkeit anweist. Dieses Hinausweisen über das Bestimmte auf das zu Bestimmende vollzieht sich als geregeltes nur durch die theoretischen Prinzipien. Andererseits kann gerade der Verstoß gegen diese Regeln die Begriffsbildung zum Stehen bringen. Es sind unbegründete Setzungen möglich, die weitere Fragen abschneiden. Sie fungieren als illegitime Vorentscheidungen, indem Ungeklärtes unter dem Schein der Geklärtheit der Gerechtsame planvoll voranschreitender Forschung entzogen wird. Auch hier entstünde so etwas wie ein Abschluß. Solche Abschlüsse können den Vorzug haben, weitere Arbeit und Kritik entbehrlich erscheinen zu lassen. Weil sie sich ferner einer anschaulichen Darstellung eher fügen als Einsichten einer problembewußten (d. h. einer ihrer Ergänzungsbedürftigkeit bewußten) Forschung, rücken sie, da obendrein hier oft die Lösung nur im gelungenen Bilde liegt, mit einem gewissen Recht in die Nähe der Poesie, wenn sie auch wohl wegen ihrer Gebundenheit an Fragen, die die primäre Welt betreffen, nicht die Stelle der Dichtung einnehmen können. Letztlich sind es Zwitterwesen, hervorgerufen durch die Verbindung von theoretischer Neugierde und dem Wunsche, diese entweder schnell und leicht oder doch mindestens mit den erquicklicheren Mitteln, die die Poesie bereit hält, zu befriedigen. Sie bekunden die faktische Möglichkeit, die Grenzen der ursprünglich in sich gegründeten Leistungsbereiche zu verletzen, aber ein echter Wert mangelt ihnen in jedem Bereiche des Geistes. Schluß, die durchgängige Bestimmung des Weltalls, ist uns keine Fiktion, d. h. wir versuchen nicht, eine unendliche Größe in die Endlichkeit eines konkreten Gebildes hineinzuzwingen. Durchgängige Bestimmtheit spiegelt sich in jeder gültigen Bestimmung. Es kennzeichnet diese, daß sie weitere Bestimmung zuläßt und fordert.

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Das Gedicht und die theoretische Leistung

Wenn wir nun schon den Abschluß als eine, wenn audi nicht aufgegebene, theoretische Möglichkeit kennenlernten, so ist es für uns leichter, den abgeschlossenen Gehalt in seiner Eigenart zu betrachten. Unbegründete Setzungen haben also im theoretischen Bereich eine abschließende Funktion. Doch deshalb führt noch nicht jede unbegründete Setzung in der Theorie eine zweite Welt herauf, wie wir sie in der Poesie kennen. — Welchen Bedingungen muß nun eine (in theoretischer Hinsicht) unbegründete Setzung genügen, um in wahrhaft abschließender Weise alle Ergänzungsbedürftigkeit und Ergänzungsmöglichkeit von sich auszuschließen? Wenn wir auf den Wegen theoretischer BegrifFsbildung die Funktion einer unbegründeten Konstruktion untersuchen, stellen wir fest, daß eine solche Unbegründetheit schon sehr überschwenglicher Art sein muß, um die Möglichkeit der Weiterforschung beträchtlich einzuschränken. Dennoch ist jeder Vorentscheid dieser Art ein Haltepunkt, an dem im Laufe des Weiterforschens das Denken einmal scheitert. Das aber bedeutet, daß die Wahrheit über die Welt, wie sie an sich selbst ist, von dieser Stelle an verschlossen bleibt. Und das hieße: Entfernung von der wirklichen Welt. Um aber diese Entfernung, dieses Zurückbleiben gegenüber der Wirklichkeit in einer einzigen zusammenhängenden Gehaltskomplexion Ereignis werden zu lassen, dazu bedarf es mehr als eines bloß partiellen Verstoßes. Auch an ihm wird, wenn man diesem Verstoß Inkorrigibilität hinzudenken will, einmal die jeweilige Forschung scheitern, aber eben noch nicht in der vorliegenden Komplexion, dort sind noch Möglichkeiten für den Fortgang der Bestimmung offen. Nur wenn der Verstoß fundamental ist, sodaß er alle Elemente der Komplexion auf einen Einheitsbezug festlegt, der durchgängig ist und jede weitere Bestimmung ausschließt, dürfen wir im Ernst von einer Welt sprechen, die in feststehender Ferne verharrt. — Ein „Verstoß" von dieser fundamentalen Bedeutung kann freilich nicht innerhalb des Feldes der Wissenschaft seine Stelle haben, denn alle abschließenden Verstöße im Bereiche der Theorie müssen mit Rücksicht auf Wesen und Leistungsanspruch der Wissenschaft als aufhebbar gedacht werden. Allerdings ist damit der „Fundamentalverstoß" inkorrigibler Struktur nicht in jeder Hinsicht gegen theoretische Bestimmtheit isoliert. Dem Felde theoretischer Setzungen kann er freilich nicht mehr angehören. Die positive Bezogenheit auf jenes bleibt indessen noch Problem.

2. Gerichtetheit und Positivität Das Denken richtet sich immer, sei es als theoretisches, als poetisches oder als praktisch orientiertes Denken, auf ein Anderes, das es nicht selbst ist. Jedes Denken ist Bedenken von Etwas, und der Inhalt des Denkens ist das Resultat der Beziehung des Denkens auf einen Gegenstand. Allerdings

Geriditetheit und Positivität

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gibt es eine Mehrzahl von möglichen Verknüpfungsweisen, in denen das Denken seine Inhalte anordnen kann. Das Denken ist in der Hinsicht frei, daß es seinen spezifischen Bewegungsraum und entsprechend eine der Verknüpfungsweisen wählen kann. Darin ist es indessen nicht frei, daß es sich überhaupt auf einen Gegenstand bezieht, der ein Anderes ist als das Denken selbst. Und auch dort, wo sich das Denken als Reflexion auf sich selbst richtet, ist diese Beziehung nicht aufgehoben. In der Reflexion richtet sich das Denken auf sich selbst als auf einen Bestand, von dem die ursprüngliche Bezogenheit auf Gegenstände nicht wegzudenken ist10. Reflektierte und potenzierte Stufen der Gerichtetheit müssen als vermittelte immer an die positive, unmittelbare Intentionalität angeschlossen werden. Auch das Denken, das sich in der Reflexion vollzieht, bleibt in einer zwar vermittelten, doch unaufhebbaren Beziehung auf Gegenstände, die selbst von sich aus nicht Denken, sondern Denkfremdes sind. Diese Bezogenheit ist für alle Arten des Denkens konstitutiv. Das ursprüngliche Korrelat des Denkens ist gewiß nicht in jeder der Hinsichten seiner Entfaltung die Natur. Gegenstände der Natur in ihrer unabhängigen und ansichseienden Bestimmtheit begegnen nur einem solchen Denken, das seinen Inhalten die Ordnung der Theorie und näherhin die der Naturwissenschaft gibt11. Indessen ist theoretische, und gar naturwissenschaftliche Gegenständlichkeit nicht die einzige Art der Gegebenheit von Gegenständen. Neben der theoretischen Einstellung gibt es noch andere Weisen unmittelbarer, nichtreflektierter, positiver Gegenständlichkeit. Auch in dieser Hinsicht stehen die Weisen des Denkens nicht beziehungslos nebeneinander. Sie sind in der Verfassung ihrer Geriditetheit von Anbeginn an geeint. Die Gerichtetheit des Denkens ist ursprünglich schon qualifiziert als unmittelbare Intentionalität, das heißt als Positivität. Der korrespondierende Horizont des positiven, gegenständlich gerichteten Denkens ist die „Welt", in der die Gegenstände dem Denken jeweils begegnen. Wenn das Denken prinzipiell in einer Vielheit von Einstellungsweisen sich entfaltet, muß es auch eine Vielheit korrespondierender Welten geben. Diese Welten kommen, wie das Denken selbst, für die fundamentalanalytische Untersuchung nur in ihrer Korrelatfunktion in Betracht. Wichtig ist ferner, daß diese Korrelatfunktion, der Einheit der Subjektivität entsprechend, ursprünglich zugleich eine geeinte sein muß. Demgemäß können die ursprünglichen Weisen des Denkens wie auch die Arten der Horizonte (resp. Welten), die diesen Weisen korrespondieren, nur im Zusammenhang der Einheit der Gegenständlichkeit bestimmt werden. 10

Vgl. H. Wagner,

11

Vgl. E. May, Kleiner Grundriß der Naturphilosophie. Meisenheim am Glan 1949, bes. das Kapitel „Das Wesen der Naturforschung und der Naturerkenntnis" (S.26ff.).

Philosophie und Reflexion. München, Basel 1959, S. 36.

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Das Gedicht und die theoretische Leistung

3. Abgeschlossenheit und

Progressivität

Poetische und theoretische Komplexion stimmen darin überein, daß sie beide gleicherweise in der Gestalt sprachlicher Manifestation sich der Betrachtung darbieten. Beide finden ihren Ausdruck in Gebilden der Sprache: in Sätzen und Satzgefügen. Dennoch sind beide in ihrem Aufbau durchaus verschieden. Diese Verschiedenheit ist ursprünglich nicht eine solche der Manifestation, oder genauer gesagt, nicht nur eine solche der Manifestation. Sie betrifft den Leistungssinn der Komplexionen. Es ist also ursprünglich eine Verschiedenheit der Objektion, bzw. Intention, und nicht der Objektivation. Erst in zweiter Linie kommt in Betracht, ob und in welcher Weise diese Verschiedenheit des Verweisungssinnes ihren Ausdruck auch in der sprachlichen Objektivation findet, und schließlich, welchen Anteil die Manifestationsbestimmtheit selbst eventuell an der Gliederung der Leistungsmöglichkeiten haben mag. Der Aufbau der poetischen Komplexion zeigt eine Abgeschlossenheit12, die nicht angetastet werden darf, wenn der Charakter des Gedichtes nicht verändert werden soll. Diese Abgeschlossenheit läßt ohne Modifikation der poetischen Eigenart keine weitere Bestimmung zu. Der strukturbedingte Ausschluß fernerer Bestimmung, und also aller weiteren Feststellungen über den Gegenstand, hat zugleich die radikale Aufhebung jedes möglichen theoretischen Leistungssinnes zur Folge. Der Gegenstand der theoretischen Komplexion ist ein prinzipiell Bestimmbares. Dort hingegen, wo eine Leistung ein Anderes in abschließender Weise bestimmt, kann sie selbst unmöglich theoretisch bestimmt sein. Sie hat ihren Gegenstand zugleich aus dem einigen Zusammenhang aneinander angrenzender und nach außen (in der Mannigfaltigkeit der Gegenstände) wie nach innen unendlich bestimmbarer Objekte herausgelöst. Die Abgeschlossenheit ihrer strukturellen Gliederung — und durch Prädikationen gegliedert ist gewiß auch eine solche Leistung — verhindert zugleich eine Lokalisierbarkeit ihres Gegenstandes in jenem einigen Weltall, in dem die Objekte der Theorie in ihrer allseitigen Wechselbezogenheit und Wechselbestimmtheit ihre Stelle finden. Allerdings muß die Abgeschlossenheit als unaufhebbar gedacht werden, wenn ein solcher radikaler Abstand zwischen den Gegenständen der poetischen und der theoretischen Leistung möglich sein soll. Die Unaufhebbarkeit des Abschlusses ist eine wesentliche Bedingung für die Verweisungsstruktur des Poems. Im geschlossenen Aufbau eines endlichen Urteilsgefüges behauptet sich der in einer Verweisungseinheit zusammengefaßte Gehalt eines Gedichtes gegenüber jeder anderen in der Geltungsdifferenz abweichenden oder übereinstimmenden Gehaltskomplexion. Die Umgestaltung der geschlossenen Struktur würde zugleich eine Aufhebung auch des Verweisungssinnes der poetischen Leistung bedeuten, 12

Vgl. hierzu H. Meyer, Zarte Empirie. Studien zur Literaturgeschichte. Stuttgart 1963, S. 6.

Abgeschlossenheit und Progressivität

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denn dieser gründet in der jedesmaligen Geschlossenheit des Gehaltsgefüges. Freilich gibt es auch in der sich realisierenden Wissenschaft Abschlüsse. Auch an den konkreten wissenschaftlichen Leistungen lassen sich abgeschlossene Strukturen phänomenologisch nachweisen. Und wie die abgeschlossene Struktur der poetischen Komplexion eine sprachliche Gestalt findet, so werden auch die theoretischen Abschlüsse in der Sprache manifest. Es gibt in der Wissenschaft die zusammenfassende Darstellung von jeweiligen Resultaten einer Aufgabenbewältigung, eine Darstellung, in der die Antwort auf bestimmt gestellte Fragen formuliert wird. Doch die abschließende Funktion der Antwort ist nicht sowohl nur von sprachlicher Bedeutung, insofern ein Ergebnis wissenschaftlicher Arbeit mitteilbare und den Mitdenkenden, Mitforschenden und Lernenden zugängliche Gestalt erhält, sie markiert vielmehr auch sachlich, und d. h. in idealer intentionaler Hinsicht, die Bewältigung eines Zu-Bestimmenden durch eine Bestimmung, die Erfüllung also einer zuvor gestellten theoretischen Aufgabe. Die zunächst methodisch angestrebte und dann methodisch ermittelte Antwort bezeichnet den Richtpunkt, der eine Urteilsmannigfaltigkeit unter bestimmter und einheitlicher Forschungsabsicht in der Ordnung eines Urteilszusammenhanges gestaltet. Doch ein solcher Urteilszusammenhang ist dem abgeschlossenen poetischen Urteilsgefüge leistungsmäßig nicht gleichwertig. Er trägt den Grund seiner intentionalen Bestimmtheit nicht in sich selbst. Vielmehr ist angesichts des Ganzen der Theorie jede Aufgabe Teila.uiga.be und jedes Resultat Tei/resultat. Die Bewältigung von bestimmten Forschungsaufgaben bezeichnet immer Abschnitte im vieldimensionalen Progreß der Erkenntnis18. Es gibt in der Theorie keinen Abschluß, dessen Bestimmtheit nicht fernere Bestimmbarkeit einschlösse. Von einem endgültigen Abschluß kann in der Wissenschaft nirgendwo die Rede sein. Auch dort, wo in der positiven Forschung die Quellen erschöpft, die Grenzen technisch-möglicher Genauigkeit erreicht sind, bleibt selbst in jenen Hinsichten, in denen die faktischen Möglichkeiten ein Ziel setzen, dennoch die Richtung einer — nur in diesen Fällen realiter undurchführbaren — möglichen Fortsetzung angebbar. Die theoretische Stelle verlorener Quellen und unzugänglicher Maßwerte ist sehr wohl bestimmbar. Theoretisch ist auch hier der Abschluß immer nur zufällig. Ferner ist, abgesehen von allen Zufällen der Gegebenheit, die Möglichkeit korrigierender Kritik, der jeder theoretische Befund auch faktisch ausgeliefert bleibt, unaufhebbar. Was für die positive Forschung gilt, das gilt unter modifizierten Bedingungen auch für die philosophische Forschung. Zwar ist der Fortschritt des philosophischen Denkens, zumindest im Bereich der Fundamentaltheorie, nicht durch Erfahrung bestimmt, dennoch eignet ihm Progressivi15

„Wenn von der Wissenschaft kein Fortsdiritt erwartet wird, was in aller Welt erwartet man denn sonst von ihr?" P. F. Linke, Niedergangserscheinungen in der Philosophie der Gegenwart. München, Basel 1961. S. 24.

46

Das Gedicht und die theoretische Leistung

tat. Die Philosophie sucht ein unendliches System möglicher Wechselbeziehungen begrifflich zu bestimmen, deren Eigenart es ist, sowohl abschließender Weise in sich bestimmt zu sein als auch in ferneren Korrelationen als Relate zu fungieren. Zwar ist Philosophie die Theorie von letzten Korrelationen, die in ihrer Wechselbedingtheit und Letztheit die Valenz von „abgeschlossenen" Ganzen haben. Doch sind diese Korrelationen, das ist ihre Eigenart, nicht nur in sich bestimmt, sondern sie sind zugleich mögliche Relate in anderen letzten Wechselgefügen. Gleichwohl gibt es keinen Vorrang von bestimmten Letztheiten vor anderen. Jede legitime philosophische Hinsicht definiert „das Ganze". Es gibt zwar einen Vorrang der Ableitungsfolge, aber keinen der Geltungsvalenz. Was sich an letzten Instanzen als fundierend für andere Grundkorrelationen erweist, das läßt sich in den Hinsichten jener anderen Korrelationen auch wiederum als fundiert erweisen. Das System der Grundkorrelationen ist in seiner universalen Letztbedingtheit unendlich. Da es nirgendwo endliche Größen als endliche in sich aufzunehmen vermag, kann es auch als Ganzes keine Endlichkeit an sich haben. Weil aber das System letzter Prinzipien ein unendliches ist, ist es auch durch keinen Begriff des endlichen Denkens abschließenderweise zu bestimmen. Das Denken des endlichen Subjekts muß sich auch dort, wo es spekuliert, den Weg zu den reinen Prinzipien in der Endlichkeit und aus der Endlichkeit erst bahnen. Es ist nicht etwa nur eine formale Bestimmung, die die Progressivität, und zwar die unendliche Progressivität auch des philosophischen Denkens fordert. Wir müssen an dieser Stelle die Unterscheidung von Bestimmbarkeit überhaupt und gerichteter Bestimmbarkeit einführen. Jedes Denken, praktisches, theoretisches wie poetisches, muß gleicherweise dem Prinzip der Bestimmbarkeit überhaupt genügen. Gemeint ist damit die Verknüpfbarkeit möglicher Denkgefüge (Urteile) in Verknüpfungen, die auf dieser Stufe der Betrachtung zunächst nur in ihrer inhaltsbegründenden Funktion, d. h. in ihrer Vollziehbarkeit durch Subjekte, berücksichtigt werden. Diese erste Determinierbarkeit von Verknüpfungen schließt noch keine bestimmte Richtungsbestimmtheit ein. Eine solche Richtungsbestimmtheit ist erst dort gegeben, wo die Geltungsdifferenzen in einer Vielheit auftreten. So kann die spezifische Richtungsbestimmtheit der Verknüpfungsfolge unendliche und universale Bestimmbarkeit oder endliche Bestimmbarkeit (im Horizont der Bestimmtheit eines geschlossenen Verknüpfungsgefüges) bedeuten. Nur die erstere ist echte Progressivität. Nur jene Bestimmbarkeit schließt in ihrer Richtungsbestimmtheit zugleich unendlichen Fortgang ein, während im endlichen Verknüpfungssystem das Ganze der hier möglichen Bestimmungen im Durchlaufen des Gesamtgefüges erreichbar sein muß. Während nun in der positiven Theorie sich jede Bestimmung zwar im Ganzen vollziehen muß (im idealen Ganzen möglicher theoretischer Be-

Abgeschlossenheit und Progressivität

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Stimmungen), sie aber nie d a s G a n z e mitbestimmt und ihre eigene B e -

stimmtheit auch nie als Moment eines Verknüpfungsganzen empfängt, ist dodi die fundamentalphilosophische Setzung eben durch eine solche Teilhabe an der Bestimmung eines Ganzen, allerdings eines unendlichen Ganzen, charakterisiert. Gleichwohl kann diese totalsystematische Bestimmung (anders als jene in einem endlichen Verknüpfungssystem) niemals schlechterdings gegeben sein. Das Denken der Theorie ist ursprünglich nicht ein solches der philosophischen Reflexion. Das theoretische Denken findet sich zunächst in positiver Gegenständlichkeit, in einer Gegenständlichkeit, die ebenso dem Denken und dem Denkenden und seinem Gedanken wie dem Gedachten einen Ort gibt. In primärer positiver Einstellung ist das denkende Idi ebenso möglicher Gegenstand (wenn auch ein spezifisch bestimmter Gegenstand) wie dasjenige, was für das konkrete Ich ursprünglich nur Gegenstand ist. Die prinzipientheoretische Reflexion muß sich von all diesen konkreten Gegenständen, und also auch von dem konkreten Ich, «¿wenden und den Prinzipien der Gegenstände und ihrer Gegenständlichkeit zuwenden. So wie die prinzipientheoretische Reflexion immer von einem konkreten Philosophierenden vollzogen werden muß und wie sie die Prinzipien nie bloß in sich, sondern immer auch als Gründe eines Prinzipiierten erfassen muß, so kann sie ihre eigene Bestimmtheit immer nur im Hinblick auf das konkrete Denken, in seiner ursprünglichen Gestalt und Bestimmtheit als Theorie, haben, im Hinblick also auf das positivwissenschaftliche Denken. Das Denken der Erfahrung aber ist durch den Progreß der Einzelwissenschaften idealiter und geschichtlich bestimmt. Das Denken der Philosophie vollzieht sich stets in Rücksicht auf dieses Denken, und das heißt zugleich als Rechtfertigung der positiven Wissenschaft wie als Selbstrechtfertigung ihrer eigenen methodischen Aufgabe, diese aber bedeutet Ausschließung, und zwar eine jedesmal neu zu vollziehende Selbstausschließung, aus den Bereichen der Erfahrung. — Die Probleme der Philosophie sind mitbestimmt durch die Erfahrung, insofern sie das Problem der Erfahrung, ihrer Begründung und Rechtfertigung selbst einschließen. Dieses Problem ist auf jeder Stufe der Erfahrung, mit jedem Fortgang ihrer Entfaltung gestellt. Zugleich sind die Probleme der Philosophie mitbestimmt durch den Ausgang auch des spekulativen Denkens von der konkreten Subjektivität und ihrer Geschichtlichkeit. (Das Denken von Gründen ist auch nicht etwa dem Denken von idealen Beständen vergleichbar; nur bei rein idealen Gegenständen ist ein endgültiges Absehen von allen realen Gegebenheiten, mit und an denen jene auftreten können, möglich.) Das Denken des Unendlichen ist ursprünglich nicht selbst ein Unendliches. Nur in der immer wieder zu erneuernden Anstrengung kann ein Erfassen des Unendlichen, das die Fundamentalprinzipien sind, Ereignis werden. Und in dieser Aufgegebenheit, nicht in einem Sichentwickeln der Fundamentalprinzipien selbst, ist die spezifische Progressivität des philosophischen Denkens begründet.

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Das Gedieht und die theoretische Leistung

4. Das Problem der Grundlegung des Abschlusses Die theoretischen Regeln in ihrer Gesamtheit lassen keinen Abschluß zu. Gehalt-fremde Instanzen andererseits begründen für die Gehaltskomplexion gar nichts, also auch keinen Abschluß. Wenn wir nun vorerst den Abschluß negativ fassen als die Folge eines Verstoßes gegen theoretische Regeln, so sind immer noch nicht die positiven Bedingungen aufgewiesen, die einen solchen Abschluß ermöglichen. Führt denn jeder Verstoß gegen theoretische Regeln zu einem Ende? Auch der Verstoß, der alle Elemente der Komplexion auf einen Einheitsbezug festlegt, der so beschaffen ist, daß er eine fernere Bestimmbarkeit ausschließt, ist nicht so radikaler Art, daß er alle Bestimmtheit aufhebt. Ein solcher radikaler Verstoß führte vielmehr zu gar keiner Gehaltskomplexion, ob ergänzbar oder abgeschlossen. Ein Gehalt ohne Bestimmtheit verlöre alle intentionale Funktion. Eine minimale Regelung ist unerläßlich, sonst wären weder Komplexionen von Gehaltselementen überhaupt, noch abgeschlossene Komplexionen möglich. — Wenn wir die Prinzipien, die einen theoretischen Gehalt konstituieren, vorläufig aufgliedern, werden wir etwa auf Prinzipien mit verschieden ausgedehntem Geltungsbereich stoßen. Um überhaupt eine Verbindbarkeit von Gehalten für möglich halten zu können, werden wir wenigstens eine gemeinsame Betroffenheit durch die fundamentalsten dieser Prinzipien annehmen müssen. Bei allem Verstoße müssen immer noch Konstituentien für die Beziehbarkeit übrig bleiben. Bevor wir die Ermöglichung eines Abgeschlossenen einsichtig machen können, müssen wir zunächst die Ermöglichung des Unabgeschlossenen, das wir in der echten theoretischen Gehaltskomplexion als einer ergänzbaren kennenlernten, erwägen. Wir verstanden die Möglichkeit der Ergänzbarkeit aus der Anlage auf ein All durchgängiger Bestimmung hin. — Da jede theoretische Gehaltskomplexion nur imstande ist, eine endliche Anzahl, besser: ein endliches Bezugssystem von Bestimmungen in sidi zu umsdbließen, muß es für weitere Bestimmungen stets offen bleiben. Diese Offenheit bloß negativ als Unbestimmtheit auszugeben, wäre falsch, denn sie ist — wegen ihres Angelegtseins auf die Idee durchgängiger Bestimmung hin — ihrerseits eine geregelte, bestimmte. Um eine solche Regelung für jede Komplexion möglich zu machen, müßte man ein System der möglichen durchgängigen Beziehungsverläufe zugrundelegen, das dann die Richtungen möglicher weiterer Bestimmbarkeit anwiese. Diese Beziehungsverläufe weisen einen strengen Anschluß, eine strenge Abfolge der Setzungen an. Wo nun — bildlich gesprochen — ein Glied in der Reihe vorgeschriebener Setzungen „übersprungen" ist, hat das nächste Glied so lange nur hypothetische Dignität, als nicht der Anschluß in echter Durchgängigkeit erzielt wurde. (Wobei der Ausgang beliebig gewählt sein kann.)

D a s Problem der G r u n d l e g u n g des Abschlusses

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Die abgeschlossene Komplexion zeichnet sich gerade dadurch aus, daß sie übergreift, überspringt, ohne der strengen Abfolge der Teilbestimmungen zu genügen. Dadurch, daß sie gleichzeitig das in dieser Weise Angeschlossene nicht mit hypothetischem Index versieht, sondern es verendgültigt, macht sie eine theoretisch geregelte Ergänzung der fehlenden Teilbestimmungen unmöglich; denn durch diese Auffüllung könnte ja auch erst der zuvor vollzogene Anschluß theoretisch ins Recht gesetzt werden. Diese im Beziehungsverlauf sich nicht affin anschließende, sondern „entfernte" Bestimmung erhält ihrerseits aber den Modus der Endgültigkeit dadurch, daß sie ohne Rücksichtnahme auf das „Fehlende" auf weitere Bestimmungen bezogen wird, die ihrerseits in der Richtung der vorgeschriebenen Beziehungsverläufe durch ihr größeres Entferntsein in theoretischer Hinsicht von noch größerer Fragwürdigkeit sind. Daß ein solcher Fortgang unbekümmert um das Fehlen der früheren Glieder stattfindet, kann die Vermutung nahelegen, daß die Bestimmungen gar nicht die Bedingungen echter Bestimmbarkeit gewahrt wissen wollen. Endgültigkeit aber kommt nicht dem einzelnen Bestimmungselement als solchem zu, dieses ist selbst immer neutral gegen Fortgang oder Abschluß, sondern allein einem Beziehungskomplex. So ist vorläufig der Modus der Endgültigkeit graduierbar nach dem „ H a l t " , den das einzelne Element durch weitere theoretisch entfernte Bestimmungen findet. Es war gezeigt worden, daß Endgültigkeit durch Verstoß gegen die Regeln der Affinität theoretischer Beziehungsverläufe zustandekommt. Daraus ergab sich, daß diese Endgültigkeit nur dann eine echte ist, wenn sie sich gegen den hypothetischen Modus behauptet, der sonst, in der Theorie, entfernteren Bestimmungen zukommt. Andererseits kann die Absetzung gegen die hypothetische Modalisierung, wie sie bei den theoretischen Überbrückungen stattfindet, das hier Vorliegende noch nicht zureichend charakterisieren. Die im hypothetischen Modus gestiftete Beziehung wird allein verständlich durch den Anschluß an Gesichertes, durch den Anschluß an eine lückenlos aufgefüllte theoretische Gehaltskomplexion, der gerade in ihrer Aufgefülltheit ein Verweisungscharakter zukommt; denn diese Aufgefülltheit ist die Bedingung für die Richtungsbestimmtheit weiterer Ergänzung. Will man die gesicherte Teilbestimmtheit als Endgültiges begreifen, und endgültig ist sie hinsichtlich ihrer affinen Gesichertheit sehr wohl, so muß man darauf hinweisen, daß hier Endgültigkeit und Ergänzungsbedürftigkeit, bzw. Ergänzungsmöglichkeit, einander fordern. Dabei ist das Endgültige zwar affin bestimmt, aber als Partikulares. Seine Ergänzungsmöglichkeit verweist auf die Totalität des Systems möglicher Beziehungsverläufe. Beim Fortgang zur Totalität erzwingt die Forderung affiner Bestimmtheit der Teile die hypothetische Modalisierung alles dessen, was noch nicht in affine Bezogenheit gebracht wurde. Wird diese Forderung außer Kraft gesetzt, so fällt die Möglichkeit hypothetischer Modalisierung überhaupt weg. Wenn

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Das Gedidit und die theoretische Leistung

bei der echten theoretischen Gehaltskomplexion affine Auffüllung im Partikularen und Fortgang zur Totalität in progressiver Sicherung einander forderten, so muß doch für die Erfüllung der theoretischen Aufgabe ein Prius der Auffüllung angenommen werden. Könnte nun nicht eine Beziehungs-Art, die sich um diese Auffüllung nicht kümmert, das, was für die theoretische Aufgabenerfüllung Letztes ist, zum Ersten machen und auf diese Weise das Verhältnis einfach umkehren? Das ist unmöglich. Das Letzte ist nicht anders erreichbar als in der Auffüllung der geregelten Beziehungsverläufe. Dennoch ist noch eine andere Weise denkbar, in der diese Totalität für Gehaltskomplexionen bestimmend werden könnte. Man müßte an der Idee des durchgängig bestimmten Weltalls das Moment der (noch nicht theoretisch differenzierten) Totalität von dem Moment durchgängiger „theoretischer" Bestimmtheit isolieren. Daß dieses Moment allein nicht zureicht zum theoretischen Aufbau des einen Weltalls, steht nach allem Voraufgehenden fest. Dieser Aufbau ist nicht anders denkbar als durch affine Auffüllung der Beziehungsverläufe. Soll nun auch bei mangelhaft aufgefüllten Beziehungsverläufen das Moment jener vorgängigen Totalität für die bezogenen Gehaltselemente etwas bedeuten, so muß es in seiner einenden Funktion einen bestimmten Inhalt haben, und zwar, da es nicht für das durchgängig bestimmte Weltall zur Geltung kommt, sondern für etwas Anderes, einen als abweichend von jenem ersten zu bestimmenden Inhalt. Der Inhalt der ersten Totalität ließ sich nur in der Entfaltung des Systems der Beziehungsverläufe finden, hier aber hätte eine von diesem System abweichende Komplexion ein heterogener, ein von außen hinzutretender Grund zu einen. Die abgeschlossene Komplexion ist ja keine Ansammlung von Unverbundenem. Wenn nicht angenommen werden soll, daß diese Komplexion an irgendeiner Stelle auseinanderbricht, bleibt die Frage nach Bestimmungsgründen unabweisbar. Darüber hinaus kann eine Minimalbestimmtheit, die für ergänzbare und abgeschlossene Komplexionen gleicherweise anzunehmen wäre, noch nicht zureichen, um eben die Abgeschlossenheit einer Komplexion zu gründen. Die Bestimmung des einenden Grundes ist unerläßlich.

5. Theoretische Idee, Bestimmbarkeit und die Grundlegung des poetischen Gefüges Bevor wir also die Bedingungen der Möglichkeit einer abgeschlossenen Gehaltskomplexion in den Blick bringen können, müssen wir die Bedingungen der Möglichkeit der unabgeschlossenen und unabschließbaren theoretischen Gehaltskomplexion erwägen, und zwar um der Vorgängigkeit im System willen, die dieser mit Rücksicht auf ihre Korrelativität zu

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Theoretische Idee und Bestimmbarkeit

einem primären Weltall zukommt. Unabgeschlossenheit bedeutet hier Ergänzungsbedürftigkeit und Ergänzbarkeit eines jeden vollzogenen Urteils (Gehaltes) durch andere Urteile. Die Forderung der Ergänzung, Ausgestaltung und Verknüpfung der Urteile findet an keiner Stelle ihre Grenze. Sie gilt einmal in dem Sinne, daß selbst dort die Aufgabe fortbesteht, wo das geforderte Urteil aus irgendwelchen Gründen nicht vollzogen werden kann, zum anderen in dem Sinne, daß es keine radikale Beziehungsfremdheit zwischen Urteilen oder den aus theoretischen Urteilen resultierenden theoretischen Begriffen geben kann, daß mithin das Verhältnis eines jeden Urteils zu einem jeden anderen muß angegeben werden können, und zwar wiederum in einem Urteil, dessen Beziehung auf jene in der Funktion eben besteht, deren wechselseitige Beziehung zu bestimmen. Was wir hier ausführen, gilt für das theoretische Urteil. Zwar eignet auch jedem anderen denkbaren Urteil, so wie einem jeden nicht urteilsartigen, gehaltsfremden Bestand, Beziehungsbestimmtheit im Hinblick auf das theoretische Urteil, doch nur für dieses letztere schließt Beziehungsbestimmtheit zugleich Verknüpfbarkeit ein, näherhin, da die Beziehungsbestimmtheit eines jeden theoretischen Urteils im Hinblick auf jedes andere theoretisdie Urteil auch Verknüpfbarkeit impliziert, eine in seiner Sphäre uneingeschränkte, universale Verknüpfbarkeit. (Damit ist allerdings nicht gesagt, daß die Beziehungsbestimmtheit theoretischer Urteile untereinander nur eine solche der Verknüpfbarkeit ist.) N u r theoretische Urteile haben ihre Bestimmtheit im Hinblick auf ein einiges, nirgendwo begrenztes System. Dieses Bezugssystem, oder präziser: dieses System möglicher Verknüpfung (möglicher Synthesis) liegt jeder theoretischen Setzung und Bestimmung zugrunde; Bestimmtheit als theoretisches Gebilde hat nur das, was an systematischer Bestimmtheit teilhat. Systembestimmtheit fungiert als Prinzip und als Idee für jede theoretische Bestimmung, die im Vollzug des Urteils getätigt wird. Sie fungiert als jenes spezifische Prinzip, das die Idee ist, als Geltungsprinzip also, insofern sie als Möglichkeitsbedingung zugleich ein Aufgegebenes ist und bleibt, indem in der Erfüllung der Bedingungen der Idee diese sich in unaufhebbarem Abstand erhält gegenüber jeder Verknüpfung, in der sich die Erfüllung ereignet. Die theoretische Idee ist „ . . . die Idee der Totalität des Wißbaren (der ganzen Wahrheit). Als solche liegt sie über jede Einzelwahrheit (jeden einzelnen Begriff, jede einzelne Theorie) hinaus" 14 . Systembestimmtheit ist ein charakteristisches Strukturelement der theoretischen Idee. Sie ist als universale Verknüpfbarkeit und als geforderte universale Verknüpfung die fundamentale Struktur des theoretischen Gefüges15. Dies trifft keineswegs nur für die systematischen Wis14 a

R. Hönigswald, Vom Problem der Idee. Logos, Bd. 15 (1926), S. 280. R. Kynast, Grundriß der Logik und Erkenntnistheorie. Berlin 1932,

Vgl.

S. 15 f.

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Das Gedicht und die theoretische Leistung

senschaften im engeren Sinne zu (exakte Naturwissenschaften, Mathematik, Philosophie), sondern für jede Wissenschaft, also auch für Biologie, Kunstgeschichte etc., denn ungeachtet der Vielzahligkeit und Vielheitlichkeit der Gegenstände von Wissenschaften der letzteren Art (welche jeweils in spezifischer Selbständigkeit ihren Bestand haben) und der aus den Umständen ihrer Erfassung entspringenden besonderen wissenschaftstheoretischen Umstände, müssen doch die Resultate, die von diesen Disziplinen erzielt werden, die Urteile, in denen ihre methodischen Bemühungen sich entfalten, der Idee universaler Verknüpfbarkeit unterworfen gedacht werden. Auch mit Rücksicht auf die historische Genese des konkreten theoretischen Denkens erfährt dessen ursprüngliche Systembestimmtheit keine Auflösung. Zwar kommt jedes theoretische Urteil nur durch das Denken realer Subjekte in die Welt. Es muß an irgendeiner Stelle der realen Welt, zu bestimmter Zeit verwirklicht, d. h. vollzogen werden. Es ist durch die konkreten Umstände seines Zustandekommens bestimmt. Das schließt ein, daß es sowohl durch einen Ansatz eines forschenden Individuums als auch durch das jeweilige Entfaltungsstadium der Erkenntnis in einer Disziplin determiniert ist. In dieser Bestimmtheit sind das theoretische Urteil und der theoretische Urteilszusammenhang nur als endliche Verknüpfungsgefüge möglich. Doch diese Gefüge wären keine theoretischen Komplexionen, wenn ihre endliche Bestimmtheit nicht auch Bestimmbarkeit einschlösse, wenn diese durch Ansatz, Forschungslage und durch die Kapazität des realen forschenden Geistes determinierten Gefüge nicht offen wären für fernere und fernere Bestimmung. Die Bestimmtheit, die diese Urteilsgefüge als Leistungen konkreter historischer Geister an sich haben, ist allerdings eine vorläufige, doch deshalb ist sie nicht notwendig eine „schlechte" oder eine solche aus „schlechter Subjektivität". Vorläufige Bestimmtheit ist die Struktur eines jeden theoretischen Einzelurteils, sie ist durch die theoretische Idee grundgelegte Bestimmtheit, und das bedeutet, wie wir sahen, zugleich universalsystematische Bestimmbarkeit. Freilich gibt es auf dem Wege der Forschung Deviationen, die nicht in der theoretischen Idee grundgelegt sein können und die dadurch möglich werden, daß der Forscher außerwissenschaftlichen Motiven nachgibt. Doch das ist dann nicht auf die Rechnung der Konkretheit und Historizität des Leistenden zu setzen. Dieser kann sehr wohl und in voller Strenge in den Dienst der reinen Theorie treten, einerseits indem er jedes außertheoretische Motiv mit der Kraft seines Denkens ausgliedert und zum anderen indem er die historische Unabgeschlossenheit und also die im Einzelnen bestimmte Ergänzungs- und Bestimmungsbedürftigkeit seiner Erkenntnis denkend bewältigt. Damit die Bestimmbarkeit des theoretischen Urteils Bestimmtheit und nicht Unbestimmtheit ist, muß die theoretische Idee die geforderte Verknüpfung von Bestimmtem und Zu-Bestimmendem selbst als bestimmte

Theoretische Idee und Bestimmbarkeit

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Beziehung begründen. Es ist so: um zu gewährleisten, daß das endliche, durch Vollzug in die Welt gekommene Urteilsgefüge seine Stelle im universalen System möglicher Urteile einnehmen kann, muß es nicht nur überhaupt und formaliter als bestimmbar konstituiert sein, es muß auch seinen Ort haben im Hinblick auf andere gleich ihm bestimmte Urteilsgefüge, mögen diese gegeben oder aufgegeben sein. „Das Einzelurteil geht in der Unendlichkeit des Systems nicht zu Grunde, es geht vielmehr nur auf seinen letzten Grund, wenn es in diese Unendlichkeit des Systems, in die Unendlichkeit der Idee eingeht." 14 Diese Bewahrung des Einzelurteils ist nicht zureichend begründet in einer bloß formalen Verknüpfbarkeit, sie erfüllt und ereignet sich erst im gegliederten System der theoretischen Prinzipien. Erst unter Zugrundelegung einer systematischen Vielfalt theoretischer Prinzipien ist methodischer Fortgang des Denkens in bestimmter, d. h. gerichteter Weise möglich. Die Hinsichten möglicher Bestimmung müssen, wie die Einzelbestimmungen selbst, durchgängig geordnet sein. Diese Ordnung, die wir als universale Ordnung möglicher gerichteter Verknüpfung eine solche von Beziehungsverläufen nennen können, ist gefordert. Sie muß, in ihrer ganzen Vielfalt, in jeder theoretischen Setzung vorausgesetzt werden. Was in dieser Ordnung zusammengefügt ist und also geordnet, das ist aneinander gültigerweise angeschlossen, es ist im Verhältnis zueinander logisch dicht. Wo die Anschließbarkeit, gemäß den zugrunde liegenden Prinzipien und Hinsichten, mißachtet ist, dort kann nur scheinbare Bestimmtheit des einen Urteils durch das andere vorliegen. Dort ist der notwendige Abstand zwischen beiden nicht durch die rechte Verknüpfung bewältigt. Ein jedes Einzelurteil hat nur in dem Maße teil an theoretischer Bestimmtheit, in dem es den Rücksichten bereits gesetzter und vorausgesetzter Urteile genügt. Insbesondere dort, wo das anzuschließende Urteilsgefüge problematischen Charakter besitzt, wo es die Funktion der Annahme, des Einfalls, der Hypothese oder der Denkmöglichkeit hat, wird die entscheidende Bedeutung der Forderung logischer Dichte einsichtig. Verifikation, Bewährung und volle Begründung einer Theorie sind allenthalben gefordert, sonst bleibt auch das Einzelurteil ungesichert und systematisch unbestimmt. (Und die besondere Valenz einer problematischen Setzung muß einsiditig sein, weil sonst der gegründete Fortgang im Verknüpfungssystem gefährdet wird.) Als Grundprinzipien des Aufbaus theoretischer Gehaltskomplexionen sind Universalität des Verknüpfungszusammenhangs (universale Systembestimmtheit) und Kontinuität der Einzelurteile im Universalgefüge (logisdie Dichte) festgestellt. Im Wechselverhältnis von universaler Systembestimmtheit und Dichte der Einzelurteile erblicken wir die H. Wagner, Uber den Begriff des Idealismus und die Stufen der theoretischen Apriorität. Philosophia Naturalis, Bd. 2 (1952), S. 197.

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Das Gedidit und die theoretische Leistung

Korrelativität von Bestimmtheit und Bestimmbarkeit im Aufbau theoretischer Urteilsgefüge. In dieser Korrelativität zeigt sich erstens das Universalsystem, das als jener Horizont fungiert, in dem allein Einzelwahrheiten ein Ort zukommen und Bestimmtheit zufließen kann, zweitens der Aufbau des Systems selbst aus einer kontinuierlichen Folge von Einzelbestimmungen und drittens die geforderte Erfüllung des Systems durch Einzelurteile. In der ersten Hinsicht fungiert die theoretische Idee als konstitutiv, in der zweiten als erfüllt und in der dritten als regulativ. Bestimmbarkeit der Einzelwahrheit bedeutet also nichts weniger als einen Mangel, vielmehr ist Offenheit der Einzelbestimmung für fernere Bestimmung die genuine Struktur des theoretischen Urteils. Die Bestimmtheit des theoretischen Urteils ist Bestimmbarkeit. Damit haben wir uns einen Begriff von der Fundamentalstruktur des theoretischen Gefüges verschafft. Wenden wir uns nun dem Vergleich von theoretischer und abgeschlossener Komplexion zu! Abgeschlossenheit soll zugleich in bestimmter Hinsicht Ergänzungsunbedürftigkeit wie Ergänzungsunmöglichkeit einschließen. Damit ist das Prinzip der Bestimmbarkeit, das für das theoretische Urteil universale Verknüpfbarkeit bedeutet, aufgehoben. — Universale Verknüpfbarkeit impliziert für die theoretische Komplexion ein Doppeltes: einerseits muß jede gültige theoretische Urteilssetzung zu jeder anderen, gedachten oder zu denkenden, in eine positive, selbst urteilsartige Beziehung zu bringen sein. Jede gültige theoretische Setzung muß sich mit jeder anderen gleichartigen in das universale System möglicher gültiger theoretischer Setzungen einfügen lassen. Ihr wechselseitiger Abstand und zugleich ihre wechselbezogene Valenz müssen bestimmt und bestimmbar sein. Zum anderen muß eine jede theoretisch differente und gemeinte Setzung, sei sie gültig oder nicht, im Hinblick auf Gültigkeit in Frage gestellt werden können. Man muß bei jedem theoretisch gemeinten Urteil fragen können, ob es entweder begründet und in das universale System gültiger Urteile einfügbar sei oder ob es unbegründet (oder nicht zureichend begründet) und ebendeshalb entweder aufzuheben (zu negieren) und aus dem Universalgefüge theoretischer Wahrheiten auszuschließen oder mit Rücksicht auf diese zu modifizieren sei. Auch die zweite Rücksicht ist eine solche der Verknüpfbarkeit, denn Gültigkeit kann einem Einzelurteil nur aus anderen Urteilen zufließen, nur in anderen Urteilen hat es seinen Grund, wie auch möglicherweise andere Urteile und Einsichten seine Aufhebung notwendig machen können, wenn es sich als unbegründet erweisen sollte. Wird nun aber Bestimmbarkeit selbst — sei es Ergänzbarkeit durch positive Urteilszusammenhänge, sei es Korrigibilität, d. h. Aufhebbarkeit und Modifizierbarkeit um anderer Urteile willen — in der Abgeschlossenheit als aufgehoben gedacht, so wird damit zugleich der universale Zusammenhang möglicher Verknüpfung zwischen den Urteilen aufgehoben. Dem Einzelurteil oder dem ursprünglich einzelnen Urteilszu-

Theoretische Idee und Bestimmbarkeit

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sammenhang wird gegenüber anderen Urteilsgefügen eine Selbständigkeit hinzugedacht, die eine Ergänzung, Begründung, Ausgestaltung und Korrektur durch andere Urteilsgefüge ausschließt. Diese Selbständigkeit" ist also das erste Moment, das aus der Aufhebung der Bestimmbarkeit (im universalen Verknüpfungsgefüge) resultiert. Das einzelne Urteilsgefüge muß in der poetischen Komplexion seine Bestimmtheit ohne Rücksicht auf andere Urteilsgefüge in sich tragen. Bestimmbarkeit bedeutet für das theoretische Urteil eine Determinierbarkeit, die am einzelnen Urteil anhebt und sich bewährt. J. Cohn nennt in dieser systematischen Rücksicht das „einzelne Wahre" „transgredient" 18 . Das Einzelurteil hat seine bestimmte Stelle im System möglicher Einzelurteile. Die Bestimmbarkeit der Einzelwahrheit, ihre Begründbarkeit, Ausgestaltbarkeit und Aufhebbarkeit, ist keine bloß formale und allgemeine, sie ist bedingt und bestimmt durch andere Einzelwahrheiten, die ebenso wie das jeweils zu bestimmende Einzelurteil ihre Stellenbestimmtheit haben. Bestimmbarkeit ist also stets materialiter gerichtete Bestimmbarkeit. Auch diese Gerichtetheit in der Ordnung möglicher Urteile, mit anderen Worten: die Stellenbestimmtheit in einem Progreß des universal geordneten Denkens muß für die abgeschlossene Komplexion als aufgehoben gedacht werden. Wenn also in der abgeschlossenen Komplexion schon ein Zusammenhang unter einer Mehrheit von Urteilen angenommen werden muß, dann ist dieser Zusammenhang gewiß nicht ein solcher universal gerichteter Bestimmbarkeit. Der Modus der Verknüpfung in einem solchen abgeschlossenen Urteilsgefüge muß also ein anderer sein als jener, der sich in der progressiven Bestimmung der Theorie vollzieht. Wo, weiterhin, eine Orientierung der Einzelbestimmung im Hinblick auf ein universales Verknüpfungssystem fehlt, dort muß auch jener Abstand, der als der Abstand zwischen der aufgegebenen und Erfüllung fordernden Idee, d. h. dem idealen Inbegriff möglicher Bestimmungen und den die Forderungen erfüllenden Komplexionen, verloren gehen. Da in der Grundlegung der theoretischen Leistung die im unaufhebbaren Abstand der Forderung bestimmte Idee selbst es ist, die zugleich die Ordnung der Einzelurteile gewährleistet und konstituiert, die Ordnung also — wie die Idee selbst — als gegebene19 eine aufgegebene sein muß, kann im abgeschlossenen Urteilsgefüge entweder gar keine Ordnung bestehen — dann aber wäre es eben kein Gefüge von Urteilen — oder aber die Ordnung gerade nicht aufgegeben, sondern stets nur in und mit dem einzelnen Urteilsverbande gegeben sein. Da die Idee der Ordnung hier keine Erfüllung mehr fordert, sondern immer schon als erfüllte (und, das 17 18 19

Vgl. J. Cohn, Allgemeine Ästhetik. Leipzig 1901, I. Teil, II. Kap. Ästhetik, S. 27. /. Cohn, Ästhetik, S. 26:„... die Wissenschaft als Ganzes ist ihm (dem Forscher) eine Realität, ja die Realität..."

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Das Gedidit und die theoretische Leistung

ist entscheidend, nur als erfüllte) in Betracht kommt, kann man vermuten, daß die Idee der geordneten Verknüpfung hier ganz in ein einzelnes Urteilsgefüge eingeht (in welcher Weise, das bleibt freilich noch Problem) oder, wie man es auch ausgedrückt hat, „Sein" (die Idee als Ordnung begründende Instanz) und „Sollen" (die Idee als aufgegebene und Erfüllung heischende Ordnungsforderung) hier zusammenfallen (oder doch wenigstens als zusammenfallend gedacht werden20) müssen. So fließen hier dem Einzelurteil, bzw. dem einzelnen („gegebenen") Urteilsgefüge, eine andere Funktion und eine andere Valenz zu als im Felde der Theorie. Die einzelnen Urteilsgefüge werden nicht nur gegeneinander isoliert, sondern sie werden auch in ihrer Ordnungsstruktur, da sie nicht mehr im Universalsystem lokalisiert werden können, auf sich gestellt. Und noch ein weiterer Umstand tritt hiermit zutage: Auch die Verknüpfbarkeit einzelner Urteile, die sonst der Bedingung logischer Dichte, einer Kontinuität im Fortgang von Einzelbestimmung zu Einzelbestimmung, genügen mußte, wird nun eine andere Struktur annehmen müssen, da das Prinzip dieser Kontinuität der Einzelurteile unaufhebbar an das universaler Verknüpfbarkeit gebunden ist.

6. Poesie und Historie. Das Gedicht als

Verknüpfungsgefüge

Wenn wir die Struktur betrachten, die dem poetischen Gedankengefüge einerseits und dem theoretischen Gedankengefüge andererseits eignet, dann fallen uns charakteristische Unterschiede auf. Die Verschiedenheit mag dort am größten sein, wo Dichter und Wissenschaftler grundverschiedene Sprachen zu sprechen scheinen, also etwa in der Physik und in der Lyrik, sie muß sich aber auch dort zeigen, wo beide von demselben — oder doch fast demselben — Gegenstande handeln: in der wissenschaftlichen Geschichtsdarstellung auf der einen Seite und in der Geschichtsdichtung (dem historischen Roman, Epos, Drama) auf der anderen. Während Physik und Lyrik (physikalische und lyrische Aussage) durch Welten voneinander geschieden zu sein scheinen — hier Stimmung und Ausdruck und Klang, dort Nüchternheit und Sachlichkeit und exakte Symbolsprache — begegnet uns jetzt ein anderer Schein: der Schein der Nähe, der Verwandtschaft, womöglich gar der Ubereinstimmung21. Die 20

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Vgl. P. Natorp, Philosophie, ihr Problem und ihre Probleme. 4. Aufl. Göttingen 1929, S. 101 f. Ähnlich in: Allgemeine Pädagogik in Leitsätzen zu akademischen Vorlesungen. 3. Aufl. Marburg 1927, § 13 (S. 19 ff.); wiederabgedruckt in: Pädagogik und Philosophie. Drei pädagogische Abhandlungen. Hrsg. (mit erläuternden Anmerkungen, Register, Zeittafel, Bibliographie und einem lesenswerten Nachwort) von W. Fischer. Paderborn 1964. Eine ähnlidie Nähe zwischen Naturdichtung und Naturtheorie können wir kaum konstatieren. Wo Natürliches (Gipfel und Wipfel, Fluß und Tal) in relativer Geschiditslosigkeit im Gedidit erscheint, dort ist es, wie weit es auch immer vom fak-

Poesie und Historie

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poetische Haltung hat sich versachlicht, die Welt des Dargestellten rückt in eine bestimmte Distanz vom Darsteller, und der Dichter scheint einen Platz gewonnen zu haben, der weit entfernt ist vom Schauplatz des dargestellten Geschehens. Einem ganz und gar Fremden wendet er sich freilich dennoch nicht zu. Er ist Akteur in derselben geschichtlichen Welt, der auch seine von ihm zum Leben erweckten Gestalten angehören. Auch die seit längerem oder kürzerem vergangene Ereigniskonstellation, die er beschwört, gehört in seine eigene Welt. Doch gerade dieses trifft offenbar auch auf die geschichtswissenschaftliche Darstellung zu. Auch den Historiker trennt eine (größere oder kleinere) zeitliche und möglicherweise auch räumliche Distanz von seinem Gegenstand, und auch er hat, anders als der Naturwissenschaftler, als Subjekt einen Platz in der Sphäre, der sein Gegenstand offenbar angehört. Und noch ein weiteres scheint ihn mit dem Geschichtsdichter zu verbinden: Auch seine Aussage über Geschichtliches, seine Darstellung, wird an Formkriterien gemessen, die man zuweilen „künstlerisch" nennt. Nicht selten begegnen uns auch Geschichtstheorie und Geschichtsdichtung in Personalunion. Doch gerade die scheinbare (totale oder partiale) Identität des Gegenstandes, die scheinbare Verwandtschaft auch der Gegenstandsbewältigung und Gegenstandsdarstellung muß die Differenz ans Licht bringen. Und diese Differenz ist in der Tat leicht zu zeigen. Die dichterische Intention ist durch keine Instanz gehalten, zu sagen „wie es wirklich gewesen ist" — um die ehrwürdige Formel zu gebrauchen. Das Geschichtliche mag ihr immer Anlaß, Ausgang und Stoff sein, sie bleibt darin frei, daß sie auswählen, ändern, harmonisieren und veruneinigen darf. Sie ist auch dem Geschichtlichen gegenüber nicht bloß welterschließend, sondern zu einem guten Teile weltbildend. Sie prägt und vertieft, erweitert und verkürzt, wie es ihr gefällt, und zwar aus Motiven, die der Forschung schlechterdings fremd sind und zu ihrem Heile fremd bleiben sollten. Sie macht Geschichte, indem sie sie schreibt, und auch dies in einem anderen Sinne, als er uns sonst begegnen mag. Wenn theoretische Geschichtsdeutung hier oder dort den Gang des Geschehens beeinflussen mag, so ist dies doch stets ein mittelbarer Einfluß. Hier prägt der Gedanke das Geschehen — sein gedachtes Geschehen — unmittelbar. Das Resultat des poetischen Protisch Bestimmten entfernt und entrückt sein mag, durch Erlebnisbezug und Erlebnisgeprägtheit ein Einzelnes. Was so aber für ein Naturdichten Gegenstand sein mag, ist noch lange nicht Objekt der (reinen) Naturwissenschaft. D a s Einzelne als Einzelnes ist weder der Zielpunkt der gesetzestheoretisdien noch der klassifizierenden Wissenschaft. Für diese kommt das Einzelne nur als Bezugsgröße einer durchgängigen Bestimmtheit in Betracht, und handle es sich auch um das letzte und womöglich einzige Exemplar einer Klasse. Der naturpoetische Gegenstand hingegen fordert in seiner selbstgenugsamen Singularität gewürdigt zu werden, und das ist eine Grundforderung seines Bestandes, die nicht auf die Epoche moderner „Erlebnisdichtung" eingeschränkt werden kann, wenn sie auch in der Moderne eine besondere Aktualität gewinnen mag.

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D a s Gedicht und die theoretische Leistung

zesses, die poetische Darstellung, entzieht sich schließlich auch aller Kritik, die widerstreitende Tatsachenkenntnis ins Feld führen könnte. Des Dichters Wallenstein, des Dichters Egmont bleiben vor geschichtswissenschaftlicher Kritik sicher, sicher in der eigenen Sphäre, in der andere Formen der Kritik herrschen. Was hier aber auch immer und aus welchen Gründen auch immer dem Verdikt der Kritik verfallen mag, es geht u m anderes als um erfahrungsgegründete Objektivität. Was der Dichter über seine Gegenstände gesagt hat, kann keine wissenschaftliche Aussage mehr in Frage stellen oder zurechtrücken. Anders die wissenschaftliche Darstellung: Auch der höchste künstlerische Wert rückt sie nicht ins Unantastbare. Auch die großen Geschichtsschreiber repräsentieren nur einen bestimmten Forschungsstand, und jeder Forschungsstand hat das Schicksal, überwunden zu werden. Jede geschichtswissenschaftliche Aussage muß notwendigerweise einen Rest an Ungeklärtem und Ungedeutetem, an Deutungs- und Klärungsbedürftigem lassen. Keinem Forscher gelingt es, über seinen Gegenstand „alles zu sagen". „Alles" sagt nur der Dichter, denn was er nicht sagt, kann nie mehr gesagt werden. Was Goethe über „seinen" Egmont nicht gesagt hat, wird niemand mehr sagen. Was er nicht sagen wollte, wird niemand mehr sagen dürfen. U n d so zeigt es sidi gerade hier: weder Intention noch Intendiertes stimmen in Geschichtsdichtung und Geschichtsforschung überein. Gemeinsame Züge mögen beide haben: Der Egmont des Historikers und der Egmont des Dichters sind nicht ganz und gar verschieden, aber wenn sie übereinstimmen, dann doch nur in jenem Maße, das dem Dichter gefallen hat. D i e Frage ist allerdings, wie das poetische Gedankengefüge, wenn es vor keinen theoretischen Instanzen sich verantworten muß und also auch nicht in theoretischen Prinzipien gegründet ist, den Grund für seine eigenartige und eigenmächtige Bestimmtheit finden mag. Denn Bestimmtheit muß doch wohl auch diesem G e f ü g e eignen. Wenn schon nidit die Bedingungen theoretischer Verknüpfbarkeit erfüllt werden, dann muß doch wohl eine andere Grundlegungsfunktion an deren Stelle treten, sonst wäre eine zur Gegenstandseröffnung befähigende Funktion des poetischen Gedankengefüges nicht möglich. D i e poetische Komplexion muß über eigene Beziehungs- und Verknüpfungshinsichten verfügen, wenn diese freilich auch weder Aufgabenbestimmtheit noch universale Beziehbarkeit einschließen können. Es wäre vielleicht denkbar, daß die Herauslösung bestimmter Beziehungsverläufe und die Vernachlässigung anderer für den Zusammenhang einer poetischen Komplexion grundlegend sind, daß also das poetische Gefüge einen wenn auch willkürlich hergestellten Ausschnitt aus einem wirklichen oder doch mindestens möglichen theoretischen Verknüpfungsgefüge darböte. Indes, so kann es nicht sein. D i e Vorstellung, als könnten bestimmte Beziehungsverhältnisse in derselben Funktion, in der sie Bestandteile des theoretischen Urteilssystems sind, isoliert werden, um die andere Funktion des poetischen Gefüges zu über-

Das Gedidit kein theoretisches Grenzgebilde

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nehmen, kann nicht zutreffen. Freilich sind Isolation und Herauslösung bestimmter Inhalte und Inhaltskomplexe im theoretischen System jederzeit möglich, doch eben nur im Hinblick auf andere und letztlich auf alle anderen Inhaltsgefüge und Verknüpfungen. Das jeweils Isolierte und Herausgelöste bleibt universalsystematisch lokalisiert und lokalisierbar. Ebensowenig ist an eine Isolation und Herauslösung bestimmter Bestimmungshinsichten und -prinzipien der Theorie zu denken, denen die Konstitution des Poetischen zugedacht werden könnte. Es müssen andere oder doch wesentlich abgewandelte Grundlagen sein, die das poetische Gefüge in seiner spezifischen gegenstandseröffnenden Valenz fundieren. Damit jedoch drängen die prinzipienanalytischen Probleme, die aus der spezifischen Urteilsstruktur der Poesie erwachsen, notwendig auf die Frage nach der Systembestimmtheit, d. h. nach der Weltstellung, der Dichtung zurück. Erst aus der Einsicht in die fundamentalsystematische Stellung der Grundlegung der Dichtung kann uns die Struktur der Urteilsgefüge, in denen die Diditung sich manifestiert, begreiflich werden.

7. Das Gedicht kein theoretisches Grenzgebilde Ein Verstoß gegen die Regeln theoretischer Komplexion führt notwendig zum Abschluß innerhalb der Folgeverläufe des Urteilszusammenhangs. Mit anderen Worten, die verstoßende Komplexion schließt — in dieser oder in einer ferneren Setzung — die Ergänzungsmöglichkeit aus. Um aber den Abschluß sowohl des theoretischen als auch des poetischen Gehaltes nicht zu nivellieren durch die Kennzeichnung als Widersinn, bedarf es einer weiteren Besinnung auf den theoretischen Verstoß, d. h. auf das falsche Urteil, bzw. den falschen Urteilszusammenhang. Zum ersten gilt es hier eine Verschlingung mit axiologischen Gesiditspunkten abzuwehren. Uns wurde bereits die Verwandtschaft poetischer Gebilde und willkürlicher Gedankenentwürfe deutlich. Man begeht eine Problemverschiebung, wenn man als Beispiel für den Verstoß frappierend paradoxe Urteile benutzt, die die Möglichkeit ausnutzen, daß man fabulieren oder lügen kann. Solche Urteile sind nur im Hinblick auf das „Bessergewußte" bestimmt, sie erhalten ihre „verstoßenden" Bestimmungen nur aus der Modifikation des besseren Wissens. Es ist ratsam, das ursprünglich „besser" Gewußte als Ausgang der Betrachtung zu wählen, will man sich hier nicht unablässig durch ethische oder ästhetische Gesichtspunkte verwirren lassen. Das „Motiv" des jeweiligen Urteilens, d. h. dessen axiotische oder ästhetische Intention, hat nichts mit seiner theoretischen Bestimmtheit zu tun. Diese Ausgliederung axiologischer Gesichtspunkte aus der gnoseologischen Problematik finden wir bei Nicolai Hartmann ausgeführt: „Wahrheit ist objektive Übereinstimmung des Gedankens (bzw. der Uberzeugung) mit dem seienden Sachverhalt. Diese

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Das Gedicht und die theoretische Leistung

Ubereinstimmung ist von nichts weniger abhängig als vom freien Willen des Menschen. Darum gibt es keinen sittlichen Wert der Wahrheit. Wahrhaftigkeit dagegen ist Übereinstimmung der Rede mit dem Gedanken (der Uberzeugung). Diese Übereinstimmung herzustellen steht in der Macht des Menschen, für sie trägt er die Verantwortung. Wahrhaftigkeit ist sittlicher Wert 22 ." In der Fußnote zu dieser Stelle: „Der Wahrhaftige kann sehr wohl Unwahres sagen, nämlich bona fide, indem er selbst im Irrtum ist. Und der Lügner kann sehr wohl die Wahrheit sagen, nämlich wider Willen, indem er Wahres, für unwahr hält. Denn der Sinn der Lüge ist nicht, für wahr auszugeben, was unwahr ist, sondern was man für unwahr hält. So kommt es, daß unwahre Rede doch wahrhaftig sein kann und wahre Rede doch Lüge sein kann." Das falsche Urteil darf nicht verwechselt werden mit einem unwahrhaftigen oder einem fingierenden Urteil. Seine Falschheit kommt ihm nur zu auf Grund seiner theoretischen Differenz. D a s bedeutet: Audi das falsche Urteil steht in unaufhebbarem Bezug zur theoretischen Idee. Daraus haben wir hier die Folgerungen zu ziehen. — Das falsche Urteil ist gewiß immer auch ein „faktisches"; denn nur ein faktisches Subjekt hat die Möglichkeit, gegen die Regeln gültiger Setzung zu verstoßen oder sie zu erfüllen. Dabei macht aber nicht die subjektive Motivierung (als axiotische Leistung) die Falschheit aus, die Modifikation ist als bestimmte nicht anders denn theoretisch bestimmt. Theoretisch bestimmt sein aber heißt, auf Erkenntnis bezogen sein. — Der Verstoß, über dessen theoretische Differenz sich nichts ausmachen ließe, verstieße gar nicht. Gemäß dem Begriff der theoretischen Komplexion bedeutet dies, daß auch das falsche Urteil seine Stelle im System des Denkens, das sich im Progreß entfaltet, haben muß. Das Reich wahrer Urteile ist kein nachvollziehbarer, vorgegebener fester Bestand. „Der Terminus ,Idee' drückt aus, daß das unendliche Ganze der Wahrheit unabgesdilossen, d. h. ,ganz' nur im Prozeß seiner Gestaltung sei 23 ." Erkenntnis wird im Progreß erarbeitet. Die theoretische Differenz eines jeden Urteils, auch des sogenannten falschen, ist unaufhebbar; Ergänzungsmöglichkeit hat keinen Nullwert. Falschheit ist nichts anderes als eine Ergänzungsbedürftigkeit. Natürlich kann diese Ergänzungsbedürftigkeit systematisch abgestuft werden. Gewonnen wäre damit jedoch nichts Neues, denn die Bedingungen des Irrtums sind die des Wahren. Auch fundamentale Formalverstöße müssen als ergänzbar, und das würde hier heißen: als korrigibel gedacht werden. Die Frage des Wissens um die Uberwindbarkeit des Irrtums darf hier außer Betracht bleiben. Damit auch die Unterscheidung des wissenschaftlichen Ergebnisses als eines „dialektisch Variablen" und des Irrtums, dem „die Tendenz innewohnt, für ,konstant' zu gelten, d. h. sich der dia12

23

Ethik. Berlin 1926, Kapitel 50 a (S. 418 ff.). R. Hönigswald, Vom Problem der Idee. S. 283. Logos, Bd. 15 (1926).

Das Gedicht kein theoretisches Grenzgebilde

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lektischen Bewegung zu entziehen". (Diese Tendenz kann keine „theoretische" sein.) Unter „den besonderen Gesichtspunkten, von denen aus ihn der Forscher betrachtet" (gemeint sind die der theoretischen Bestimmtheit), liegt der Irrtum nicht „neben dem Forschungsweg", sondern fungiert „als Glied einer Reihe, in der sich die Erkenntnis entfaltet" 24 . „Wahrheit" und „Falschheit" gegeneinander zu verselbständigen trägt die Gefahr einer naiven Substantialisierung in sich. — Wir brauchen in diesem Zusammenhang das Problem der Falschheit nicht weiterzuführen. Die Frage der Abstufung von größeren und geringeren Verstößen, die Frage endlich nach dem Fundamentalverstoß, die Probleme der Skepsis und des Relativismus müssen sich anhand der logischen und der gnoseologischen Prinzipienanalyse beantworten lassen. Ebenso ist die Frage nach der Möglichkeit falscher Fragen eine Frage nach dem Urteilscharakter der Frage. Für uns ist wichtig, daß jeder Verstoß in der Theorie an Regeln sein Maß findet. Zum Problem der „Motivierung": Die Selbstgenügsamkeit der Begründungsweisen fordert die Möglichkeit der Motivierung eines jeglichen Urteils, wie immer es auch um dessen theoretische Dignität bestellt sein mag, also auch die des wahren. — Einem weiteren Bedenken gilt es noch zu begegnen. Alles Denken muß gemäß dem unaufhebbaren Abstand zwischen zu Bestimmendem und Bestimmtem als ergänzungsbedürftig und -möglidi gedacht werden. Davon macht das sogenannte Alltagsdenken, das meint, irgendwo aufhören zu können, keine Ausnahme. Wenn es im Ernst „irgendwo" aufhören könnte, hätte es keinen Sinn, es auch nur im schlichtesten Verstände als Denken zu bezeichnen. Sein Aufhören, das in Rede steht, kann kein Aufhören der Theorie sein. Auch hier können die Gesichtspunkte, die die Rede von einem Abschluß rechtfertigen würden, keine der reinen Theorie sein. Es gibt kein Denken, das über starre Begriffe verfügt. Audh in der jeweiligen Umwelt des „Alltags" werden die Dinge als solche erfahren, die ihre „Abhängigkeiten" haben, „denen man nachgehen kann"". Immer kann ich dazu kommen, „die wahre N a t u r " zu gewinnen, „die sich in den gegebenen Umweltdingen als Erscheinungen bekundet"®*. Der theoretische Verstoß korrespondiert immer einer Korrigibilität. Im Theoretischen also mag es zwar fundamentale Verstöße geben, niemals jedoch solche, die einen endgültigen Abschluß der Komplexion zur Folge hätten, denn ein endgültiger Abschluß würde zugleich gegen den Sinn der theoretischen Bestimmung verstoßen, der in dem Abstand von zu BeR. Hönigswald, Die Grundlagen der Denkpsychologie. 2. Aufl. Leipzig, Berlin 1925, S. 291. M E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Buch II: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution. Haag 1954 (Husserliana, Bd. IV), S. 195. " A. a. O., S. 219.

24

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Das Gedicht und die theoretische Leistung

stimmendem und Bestimmtem grundgelegt ist27. Die Korrektur des Verstoßes (d. h. der jeweils verstoßenden Komplexion) vollzieht sich im Messen an anderen Komplexionen. „Die Bestimmtheit des U r t e i l s . . . bedeutet allemal und notwendig die Bestimmtheit mehrerer, ja unbegrenzt vieler Urteile. Denn jedes Urteil schließt, weil es bestimmt, d. h. vollzogen ist, den möglichen Bezug auf andere Urteile in sich, sei es, daß es aus anderen ,folgt', sei es, daß andere aus ihm folgen, sei es schließlich, daß es sich mit anderen zur Einheit eines Urteilsgefüges, man nennt es Schluß, verbindet. Ein Urteil wird stets nur im Hinblick auf andere Urteile, vermittels anderer Urteile, mit denen es notwendig, d. h. nach Maßgabe seines eigenen Geltungsanspruchs verknüpft ist, vollzogen. Denn der Anspruch des Urteils zu gelten, d. h. seine Gegenständlichkeit, ist zugleich seine Notwendigkeit. Es ist zugleich der Sinn seiner Verknüpfung mit anderen Urteilen, und dies sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht; sofern es nämlich andere Urteile fordert, beziehungsweise durch sie gefordert erscheint, und sofern es andere Urteile ausschließt. Ein schlechthin isoliertes Urteil wäre überhaupt keines28." Nicht nur der „Anschluß" einer neuen Wahrheit, sondern auch der Bezug auf jeweils „bestehende" Wahrheiten (prinzipiell auf „alte" oder „neue" Wahrheit) ermöglicht Korrektur 2 ". Audi im Bereich des poetischen Schaffens gibt es so etwas wie Korrektur. Ein Gedicht wird gefeilt, präzisiert, kompositionell verändert, Partien werden aufgenommen oder fortgelassen. Es werden Fortsetzungen angefügt, es wird ein Rahmen geschaffen, weiterhin ist an die Möglichkeit zu denken, „denselben Stoff" in verschiedenen Gattungen zu verwenden. Das Gedicht hat einen Ganzheitscharakter, der sehr wohl auch Veränderungen von Elementen (also Korrektur) zuläßt, ohne daß dadurch das Gedicht als dieses Gedidit aufgehoben würde. Wesentlich ist für uns an dieser Stelle aber nur, daß die Korrektur nicht der Rücksicht auf andere gleichartige (also poetische) Komplexionen gehordit. Gewiß gibt es eine Rücksicht auf die Tradition, gewiß lernt der Dichter aus anderen Schöpfungen für seine eigene. Aber dieser Zusammenhang der Tradition ist doch kein Progreß fortlaufender Entfaltung wie der der Erkenntnis. Vielmehr gibt es auch die Absage an überlieferte Bestände, sowohl inhaltlich als auch stilistisch. Es gibt kein System der Dichtung, das sich aus den einzelnen Dichtungen aufbaut und in dem jede einzelne Dichtung an anderen ihre Bestimmtheit fände. Das stimmt mit der Auffassung über27

R. Hönigswald, Vom Problem der Idee, S. 285 f.; entsprechend: Uber die Grundlagen der Pädagogik. 2. Aufl. München 1927, S. 102 (1. Aufl. Mündien 1918, S. 39 f.).

28

R. Hönigswald, Pädagogik, 2. Aufl., S. 38, vgl. S. 92, Grundfragen der Erkenntnistheorie. Tübingen 1931, S. 58 und Vom Problem der Idee. S. 278. Vgl. audi R. Hönigswald, Zur Theorie des Konzentrationsunterridits. Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 163 (1917), insbes. Abschnitt I. 7.—10.

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Die Funktion des Werkes

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ein, die den ästhetischen W e r t als Individualwert kennzeichnet' 0 . Dieser Terminus soll ausdrücken, d a ß das einzelne W e r k sein M a ß in sich selbst trägt. 8. Die Funktion

des Werkes

in Dichtung,

Künsten

und

Wissenschaft

Die fundamentalen Unterschiede, die zwischen dem Gedicht einerseits und der theoretischen K o m p l e x i o n andererseits bestehen, bestimmen beider Aufbau in allen Zügen auch der konkreten Leistungen. J a , die fundamentale Unterschiedenheit ist zugleich eine solche der grundverschiedenen konkreten Erscheinung v o n Wissenschaft auf der einen Seite und Dichtung a u f der anderen. Die Aufhebung der systematischen V e r knüpfbarkeit und Ergänzungsmöglichkeit, die dem Gedicht einen von jeder theoretisdien Setzung unterschiedenen Bestand gibt, rückt es zugleich als Denkgefüge in eine prinzipielle Vereinzelung und Selbständigkeit, wie sie auf Seiten der Theorie nicht angetroffen werden kann. D i e W e r k e der Poesie sind in grundsätzlicher Vielheit konstituiert. Z w a r haben auch sie ihren G r u n d in identischen Prinzipien, aber in der Konkretheit bleiben sie als Verknüpfungsgefüge unaüfhebbar voneinander geschieden. Die Weise, in der Leistungen des Geistes Konkretheit und R e a l i t ä t gewinnen, ist die Geschichte. U n d gerade in der historischen Konkreszenz erweist sich die tiefe Unterschiedenheit des poetischen und des theoretischen Denkens 3 1 . D i e Geschichte der wissenschaftlichen Leistungen ist 30 81

N. Hartmann, Einführung in die Philosophie (Vorlesung), 2. Aufl. 1952, S. 187. „Die Wissenschaft schreitet mit jeder, an sich noch so unbedeutenden Entdeckung, Berichtigung, Begriffsbildung fort. Wer die physikalische Wissenschaft der Gegenwart beherrscht, ist fortgeschrittener als Galilei oder Newton. In den geschichtlichen Wissenschaften könnte etwas Ähnliches zweifelhafter sein, doch wird mindestens in der Beurteilung der großen universalgeschichtlichen Zusammenhänge und im Umfange der Tatsachenkenntnis ein moderner Historiker selbst einem Thukydides überlegen sein. Ganz anders in der Kunst: über Homer hinaus gibt es an sich keinen Fortschritt. Es gibt Anderes, Neues in der Kunst, Formen und Inhalte, deren Möglichkeit auf der Stufe der homerischen Epik nicht einmal geahnt werden konnte; aber wie das Kunstwerk in seiner Einzelheit etwas für sich Wertvolles ist, so bleibt es auch unüberwindbar in seinem Einzelwerte bestehen." — Seitdem Jonas Cohn diese Sätze niederschrieb (Allgemeine Ästhetik. Leipzig 1901, S. 27 f.), ist die Frage nach der besonderen Geschichtlichkeit der Kunst immer wieder von neuem gestellt und mit den verschiedenartigsten gedanklichen Mitteln in der philosophischen Systematik bearbeitet worden. Immer wieder wird, wie in der Cohnschen Ästhetik, der Weg beschritten, die Eigenart der Kunst mit Rücksicht auf ihre Unterschiedenheit von der Wissenschaft zu deuten. Dabei tritt, wenn man, wie es schon bei Cohn geschieht, eine Reihe von sachlichen Einzelmomenten in ihrer Verhältnisbestimmtheit betrachtet, der Abstand immer klarer in den Blick. Die Momente, an denen sich die Unterschiedenheit vor allem zeigt, sind Wert- bzw. Geltungsbestimmtheit, geschichtliche Folge, Einzelleistung und Gesamtzusammenhang der Produktionen des einen unid des anderen Kulturbereichs. In der Sphäre ider Kunst begegnet jede Einzelproduktion als ein in sich geschlossenes Gefüge, die jeweilige Erkenntnis verweist indes immer auf die »Wissenschaft als Ganzes" (a. a. O. S. 26).

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Das Gedicht und die theoretische Leistung

zugleich die Geschichte des Aufbaus des einen und über alle Disziplinen hinweg ungeteilten Gebäudes der Wissenschaft. Die in der Wissenschaft Arbeitenden schaffen in ihren Spezialdisziplinen an diesem einen Werk. Sie mehren gemeinsam den unteilbaren Erkenntnisbesitz der Menschheit. Die Einsichten und die Zusammenhänge der Einsichten messen sich aneinander, weisen einander ihren Ort an und gliedern sich in steter Rücksicht aufeinander. Die Wissenschaft konkretisiert sich, so weit die Forschungswege auch divergieren mögen, so weit der Einzelne in einer Richtung auch einen Vorsprung gewinnen mag, als ein einiges Ganzes. Die Wissenschaft wird als System realisiert, und zwar als ein Universalsystem, das alle Einzelleistungen in sich muß aufnehmen können. Demgegenüber behauptet in der Dichtung jede einzelne Leistung für sich ihren Rang. Es ist unmöglich, das eine Gedicht als Fortsetzung oder Ergänzung des anderen zu werten, es sei denn, es schlösse sich mit jenem zu einem größeren, aber wiederum allen anderen gegenüber einzelnen Gedicht zusammen. So ist das Sein der Dichtung in der Geschichte auch ein völlig anderes als das der Theorie. Beide, Gedicht wie theoretische Leistung, gewinnen zwar als Gebilde, die der lebende Geist aus sich herausstellt, die Zeitenthobenheit von Objektivationen, doch das Verhältnis der poetischen Objektivation zum lebendigen Geiste ist gleichwohl von dem, das die Manifestationen der Wissenschaft zum realen Geiste haben, grundverschieden. Hat die poetische Leistung einmal Gestalt gewonnen, so ist die Geschichte des Gedichts als real Geleistetes und Gestaltetes auch schon zu Ende. Die Vollendung — gelegentlich auch ein Stadium der Unvollendetheit — ist sein Abschluß. Mit diesem Abschluß hört es freilich nicht auf, ein Gebilde in der Geschichte zu sein. Nur ist das geschichtliche Sein, das es nun fortan hat, nicht mehr ein reales Sein des Werkes selbst; das Werk hat, recht verstanden, sein Eigenleben und seinen „Eigenwillen" verloren, wenn der Poet es „aus sich herausgestellt" hat. Es steht in einer zeitenthobenen Unantastbarkeit da, die auch hier in gewissem Sinne das Gebot einschließt, keinen Buchstaben hinzuzusetzen noch einen wegzunehmen. Das geschichtliche Sein des poetischen Gebildes ist nach seiner Vollendung die Geschichtlichkeit nicht des Werkes, sondern die seiner Wirkung auf Aufnehmende, Verstehende, Interpreten und auch auf solche, die in ihrer eigenen Gestaltung sich von diesem Gedicht „anregen", „beeinflussen", kurz, bestimmen lassen. In dieser Hinsicht gibt es freilich charakteristische Unterschiede zwischen den Künsten: nur dort treten Werk und reales Fortbestehen des Werkes in dieser Weise auseinander, wo das Werk selbst eine bestimmte Idealität, eine mögliche Unabhängigkeit seines Bestandes von der einzelnen realen Verwirklichung besitzt. Zwar wird jedes Kunstwerk für die Dauer manifestiert, doch damit ist es noch nicht zugleich auch allenthalben an diese eine Manifestation geknüpft. Insbesondere das gedankliche Kunstwerk, das Poem

Die Funktion des Werkes

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also, kann wieder und wieder niedergelegt (abgeschrieben, gedruckt) und nachgesprochen werden. Auch dem musikalischen Werke eignet eine ähnliche Reproduzibilität, wenn es hier auch entscheidender auf die Reproduktion selbst ankommt: Die Imagination ist mit der Versinnlichung engstens verbunden, die sinnliche Gestalt trägt die Struktur des Werkes ausschließlich und nicht bloß, wie im Gedicht, mitbestimmenderweise32. Gleichwohl gibt es die Möglichkeit, das Werk immer von neuem wirklich werden zu lassen. Die Kunst des reproduktiven Musikers hat diese immer zu erneuernde Verwirklichung zu ihrem Inhalt. Diese reproduktive Realisation ist möglich, weil das musikalische Gefüge als Kunstwerk selbst noch nicht voll realisiert ist. Der Modus seiner Bestimmtheit hat eine Lücke, die Spielraum für die mögliche und immer wieder zu vollziehende Reproduktion bietet33. Das Musikwerk ist gewiß nicht bloß ein ideales Gebilde — kein Kunstwerk ist ein rein idealer Bestand — es hat als ästhetisches Gebilde bereits bestimmte reale Valenzen. Das Kunstwerk ist immer schon mehr als ein bloß relationales Gefüge, und im entsprechenden Bereich auch mehr als ein bloß intentionales Gefüge. Das Kunstwerk ist mehr als ein idealer Gegenstand und auch mehr als ein Gefüge bloß der reinen Gegenständlichkeit. Es ist immer zugleich auch ein nicht-idealer Gegenstand, und zwar, denn im Felde der Gegenstände kann außer dem Idealen nur das Reale gedacht werden (und diesem Felde korrespondierend nur die reine Gegenständlichkeit des — theoretischen — Denkens), ein solcher mit realen Gegenstandsvalenzen. Freilich besitzt das Kunstwerk dabei in seiner ästhetischen Valenz keine volle Realität, wenigstens gilt dies vom reproduziblen Kunstwerk. So hat das musikalische Gefüge zwar bestimmte temporale Struktur (Länge, Tempo, Zeitgliederung) und auch dynamische Struktur (Rhythmus, Akzentuierung, Tonhöhe und Tonqualität), nicht aber zugleich auch, von den immer wiederholbaren allgemeinen Umständen des Zusammenspiels und der Aufnahme abgesehen, bindende räumliche Bestimmtheit. Genau genommen ist die zeitliche Bestimmtheit allerdings auch keine vollständige. Wie könnte sie es sein? Denn dann wäre das Musikwerk in der jeweiligen Realkollokation allein schon durchgängig bestimmt, und auch seine zeitliche Bestimmtheit wäre auf ein nie wiederkehrendes Stadium des Realprozesses endgültig festgelegt. Mit bestimmten Abwandlungen, denn hier haben die gegenständlichen Strukturen eine andere Funktion, gilt das Gesagte auch vom ®2 M. Brelage hat das Wesen des musikalischen Kunstwerks von verwandten Voraussetzungen aus in einem noch unveröffentlichten Aufsatz „Musik und Sprache" analysiert, der insbesondere wichtige Hinweise auf die spezifische Ausdrucks- und Gehaltsfunktion der Musik enthält. (Über den Autor: Zeitschrift f ü r philosophische Forschung, Bd. 18, 1964, S. 170 f.) " Vgl. N. Hartmann, Ästhetik. Berlin 1953, S. 210 ff.

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D a s Gedicht und die theoretische Leistung

Gedicht. Auch in der Dichtung gibt es noch, anders als beim reinen Denken in der Hinsicht seines Leistungssinnes, temporale und dynamische Strukturen, doch jetzt, wenn wir sie mit der Musik vergleichen, nicht von alleinfundierender Bedeutung. Diese Strukturen gehen in ein Fundierungsgefüge ein, in dem sie zwar nicht entbehrt werden können, in dem ihnen aber doch eine bestimmte Variabilität eignet. (Dieses Plus an Variabilität ist konsequent auch ein Mehr an Verwirklichungsspielraum.) Wenn reine Zeitenthobenheit außer rein relationalen Gefügen nur das Denken, und zwar das universale Denken, erreichen kann, das zugleich auch ein Denken der Zeit zu sein vermag, das also auch die Zeit selbst in ihrer Stellenbestimmtheit sich zum Gegenstand macht, so hebt sich auch das Gedicht als Gedanke aus der Zeit. Es ist zwar nur in zeitlicher Gestaltung möglich und auch als Kunstwerk nur in zeitlicher Gestaltung wirklich, aber immer geht auch hier in die zeitliche Gestaltung etwas ein, das über die Zeit hinausweist. Auch in den bildenden Künsten findet sich Entsprechendes. Und hier vorzüglich in den Darstellungen, wo die temporale Bestimmtheit des Werkes auf die bloße, keine weiteren zeitlichen Funktionen berücksichtigende Dauer herabgesetzt erscheint. Das Werk wird zumeist so gestaltet, daß ihm die Zeit möglichst wenig anhaben kann. Es ist wie für die Ewigkeit gemacht, und die Zeit und zeitliche Vorgänge haben, außer in jener formalsten Hinsicht, daß überhaupt eine Erhöhung und Bestimmung des Beschauers erreicht werden soll, keinen positiven Anteil an der künstlerischen Bedeutung des Werkes. (Jene bestimmende Wirkung auf den Menschen, der dem Werk begegnet, ist, und sei sie unter den speziellsten Bedingungen, etwa aus der Gläubigkeit und Zuversicht einer bestimmten Epoche angestrebt, für alle Zeiten in die Welt gesetzt.) Das Werk will hier gerade nicht mit zeitlichen Mitteln, sondern mit solchen der räumlichen Gestaltung und visuellen Anschaulichkeit, wie jedes Kunstwerk in seinem Medium, einer — selbst natürlich zeitbestimmten — Gläubigkeit Ewigkeit verleihen. Weil aber auch in den darstellenden bildenden Künsten, in Malerei und Skulptur, das Werk in seinem Sein als Kunstwerk nicht in abschließender Weise realisiert ist, weil das Werk aus einer jeweiligen naturalen Kollokation entfernt und in ein anderes Material, so gut oder so schlecht das gelingen mag, übertragen werden kann, und zwar übertragen, während Wesentliches, das seine Kunstbedeutung ausmacht, erhalten bleibt, ist es als Werk in bestimmtem Sinne zeitenthoben und von seiner Tradition unterschieden. Wenn hier von ästhetischer Valenz gesprochen wird, so ist bei uns nicht die Meinung vorausgesetzt, als könnte die ästhetische und künstlerische Bedeutung von einer „tieferen" irgendwie geschieden werden. Es gibt keine unverbindliche Kunstauffassung, wie es auch keine unverbindliche Kunst gibt. Kunst, die der Mühe wert ist, ist verbindliche Kunst und Ausdruck der ernstesten menschlichen Anliegen. Der ästhetische

Die Funktion des Werkes

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Rang eines Werkes ist weit davon entfernt, irgendeine seiner Eigenschaften zu bezeichnen. In ihm bekundet sich immer auch der Ernst und die Tiefe des Kunstwollens, dem das Werk seinen Ursprung verdankt. Es kann keine „außerkünstlerischen" und „höheren" Maßstäbe für die Kunst geben, wenigstens keine, die ihr gerecht werden könnten, weil die Kunst, das künstlerische Ringen, Gestalten, Bilden und Denken, die höchsten Anliegen des Menschen bereits in ihrer Weise in sich schließen. Die Kunst und die künstlerische Arbeit behaupten sich gegenüber der Wissenschaft, sie behaupten sich auch allen anderen Kulturbetätigungen gegenüber, nicht weil sie ein Leben neben oder über den anderen Leistungen führten, sondern gerade weil sie der notwendige Ausdruck des menschlichen Daseins selbst sind34. Das Kunstwerk wegen seiner, jeweils spezifisch determinierten, Reproduzibilität, wegen seiner relativen Zeitenthobenheit und wegen seines Ewigkeitsanspruchs für ein ideales Gebilde zu halten, würde in die Irre führen. Das Kunstwerk hat immer auch eine reale Struktur, und gerade der Umstand, daß der Mensch sein Inneres in reale Strukturen prägt und ausformt, gibt dem künstlerischen Schaffen seinen Ernst. Der Ewigkeitsanspruch wird ja auch gerade für ein Gebilde realen Ursprungs erhoben, für etwas, das aus den Händen des in der Zeit schaffenden Menschen hervorgegangen ist. Diesem Schaffen entspringt zugleich in der Zeit die Zeitenthobenheit des Werkes, und zwar (darin unterscheidet sich das Kunstwerk von anderen menschlichen Leistungen) eine Zeitenthobenheit, in der die zeitliche Mühe des Schöpfers erhalten bleibt. Doch alle Trennbarkeit von zeitenthobenem Werk und zeitbestimmter Reproduktion und Manifestation muß dort fortfallen, wo die Kunst selbst Gestaltung der realen Welt, der realen Natur ist und in der Umformung der Natur zur Stätte menschlichen Lebens ihre Aufgabe findet. Wir meinen die Baukunst aller Arten, die Künste, in denen der Mensch sowohl seine Wohn-, Bildungs- und Kultstätten, aber auch seine Artefakte, seine Fortbewegungsmittel und seine Verbrauchsgüter schafft35. Hier ist die Dauer nicht nur ein ideales, sondern auch ein reales Moment des Werkes selbst. Die Geschichte eines solchen kunstgeschaffenen Menschenwerkes ist zugleich wesentlich die Geschichte seines realen Bestandes. Die Geschichte des Bauwerks ist erst in zweiter Linie die Geschichte seiner Wirksamkeit auf Nacherlebende und Nachgestaltende, zunächst ist sie die Geschichte des Daseins des Gebäudes in der Landschaft, in der Stadt und in dem Gebrauche, für den es bestimmt ist. Ein Bauwerk wird abge44

34

Vgl. meinen Aufsatz: Der Schein in der Kunst und die Eigentlichkeit des Kunstwerks. Jahrbuch für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. J g . 8 (1963). Eine philosophische Theorie der Baukunst, die sowohl der ganzen Phänomenbreite wie auch dem weiten und hochdifferenzierten Gefüge der Grundstrukturen der nichtdarstellenden bildenden Kunst gerecht zu werden sucht, hat G. Schaper erarbeitet: Vom Wesen des Bauens und der Baukunst. Phil. Diss. Würzburg 1961.

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Das Gedicht und die theoretische Leistung

nutzt, es wird restauriert, wieder aufgerichtet — seine Geschichte ist die Geschichte der Wechselfälle seines realen Daseins3®. Beim Gedicht als einem Kunstwerk sind der Träger und das Werk selbst geschieden. So ist auch beider Schicksal nicht notwendig das gleiche. Wenn eine Handschrift verdirbt, vergeht nicht unbedingt auch das Gedicht". Es ist entweder in anderer Manifestation zugänglich, oder es bleibt verschlossen. Der Bestand des Gedichtes ist nicht von der Dauer der einzelnen Manifestation abhängig. Die Manifestation hat nur Trägerfunktion und deshalb auch, als Handschrift, Druck etc., möglicherweise selbständige künstlerische Bedeutung gegenüber dem Poem, das in ihr fixiert ist. Die Zeitenthobenheit des Werkes und sein selbständiger Bestand einer späteren Tradition und Wirkung gegenüber sind auch für das unvollendete Werk festgestellt. Der Grund für das Ende der Gestaltung liegt hier nicht darin, daß die ganze Anlage des Poems aktualisiert wurde und daß so gleichsam nichts mehr zu tun bliebe, sondern darin, daß der schaffende Impuls, der immer der Impuls einer in unwiederholbarer Weise sich äußernden Seele ist, aus welchen Gründen auch immer, vor der vollen Gestaltung erloschen ist. — Hier zeigt es sich übrigens, daß Abgeschlossenheit, wenigstens gegenüber Inhalten und Denkgebilden fremden Ursprungs, auch schon den Teilen des Poems eignet und nicht nur allein dem Gedicht als einem Ganzen. Eine andere Geschichtlichkeit hat das theoretische „Werk", dem wir diesen Titel denn auch nicht so leicht, oder doch in anderem Sinne beizulegen gewohnt sind als der Schöpfung des Dichters. Zwar kann auch die theoretische Leistung in ihrer jeweiligen objektivierten Gestalt ein Gegenstand späterer Zuwendung werden, zwar bewähren auch hier philologische Treue und bewahrendes Nachvollziehen ihre Bedeutung für das Verständnis. Doch diese Aufnahme ist gerade nicht die wesentliche und letzte. Neben der „bloß historischen" Einstellung behauptet die tätige Teilnahme an der wissenschaftlichen Forschung, die in dem Vergangenen nur Vorarbeit, welchen Ranges auch immer, erblicken kann, ihren Stand, ja, auch das bloß bewahrende („historische") Verständnis kann der Leitung durch die primäre Problemkenntnis nicht entraten. Zeitenthobenheit und Abgeschlossenheit fallen für die wissenschaftliche Leistung nicht schlechterdings zusammen. An dem einzelnen Werke wirken die nachfolgenden Generationen mit, und diese Mitarbeit kann sogar die greifbare Gestalt der Umarbeitung annehmen. Allerdings sind die Grenzen zwischen historischer Betrachtung und aktiver Fortsetzung unaufhebbar, sie dürfen auch nicht verwischt werden, wenn der Erkenntnisstand, an den angeknüpft wird, zugänglich und überprüfbar bleiben 36

Vgl. G. Scbaper, a. a. O., S. 19. " Vgl. R. Wellek u. A. Warren, Theory of Literature. S. 129 f. (deutsche Ausgabe, S. 158 f.).

Gesdiiditlidikeit und Subjektivität

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soll. Ferner gibt es gewiß tiefgehende Strukturunterschiede zwischen den Disziplinen mit Rücksicht auf die Ergänzbarkeit und Ausgestaltbarkeit der einzelnen Leistung. Eine historische Darstellung ist in anderer Weise an die jeweilige Manifestation geknüpft als die Mitteilung einer naturwissenschaftlichen Theorie, diese wiederum in anderer als die Darlegung von Philosophemen. Doch grundsätzlich gibt es in allen Hinsichten der Wissenschaft neben, oder vielmehr: vor der bewahrenden Tradition einzelner Manifestationen die lebendige Forschung, die aus dem schon Geleisteten ein Neues macht. Und dort, wo die lebendige Forschung abstirbt, hört auch das Verständnis für die früher errungene Problemsicht auf. Die Geschichte eines wissenschaftlichen Werkes ist nicht nur die Geschichte seines das Werk unangetastet lassenden Fortwirkens, sondern es ist die Geschichte zugleich mittätiger Umgestaltung dieses Werkes selbst in jenem großen und umfassenden Werke, das die Wissenschaft in ihrer unendlichen und aufwärtsstrebenden Entfaltung darstellt.

9. Die Geschichtlichkeit der Dichtung und der Wissenschaft. Der Anteil der konkreten Subjektivität an der Fundierung der Poesie Die progressive Verknüpfbarkeit der theoretischen Leistungen erweist sich zugleich als eine geschichtliche. Durch den methodischen Zusammenhang gemeinsamer Aufgaben sind die Werke des wissenschaftlichen Geistes nicht nur idealiter (als Urteile und Intentionen), sondern audi realiter verbunden. Die Zusammenarbeit der Forschenden, die sich simultan und sukzessiv vollzieht, schlägt sich zwar in ihrer Ganzheit nirgends in einem einzelnen Bewußtsein nieder, und doch ist sie als ideales und real sich entfaltendes System von Einsichten faßbar, als ein Gefüge, das im Zusammenhang des objektiven Geistes fortbesteht und sein Leben hat unabhängig davon, wie viele Einzelne an ihm teilhaben mögen. Allerdings sind diese Einzelnen durdi die konkrete Gemeinsamkeit ihrer Aufgaben miteinander verbunden. Aus dieser Geschlossenheit erwädist die schulbildende Kraft der Wissenschaften und überhaupt die enge Wediselbezogenheit von Lehrer und Schüler, die in diesem Geistesbereich vorherrscht. Arbeit reiht sicii an Arbeit. Die eine Generation stellt der anderen schon die Themen, denn in jeder Theorie wird auch bereits das mitbestimmt, was in ihr noch nicht erkannt werden konnte. Im Wissen um die ungelösten Fragen ist in der einzelnen wissenschaftlichen Leistung, die an eine bestimmte Gegenwart gebunden bleibt, schon die Zukunft vorweggenommen, und indem das Problembewußtsein fortschreitet, ist jede Epoche der Wissenschaft schon mit der nächsten verbunden. Die Verschärfung der Problemstellung, das Ausweiten des Blickes, die Präzisierung der Fragen haben einen ebensogroßen Anteil

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Das Gedicht und die theoretische Leistung

an der Entfaltung der Erkenntnis wie die Ermittlung der Antworten selbst. Wenn also die wissenschaftlichen Einzelleistungen sich in dichter Verknüpftheit realisieren, so sind doch auch die Einzelleistungen des poetischen Geistes nicht ohne alle geschichtliche Verbundenheit. Zwar ist jedes Gedicht in seiner gegenstandserschließenden, in seiner weltkonstituierenden Valenz von jedem anderen geschieden. Als Verknüpfungsgefüge behauptet es gegen jedes andere sein Sonderdasein. Und doch geht die Isolation nicht so weit, daß der Ort des Gedichtes in der Zeit zufällig wäre, so daß an jeder Stelle der Geschichte eine beliebige Art von Gedichten möglich sein könnte. Jedes Gedicht hat seinen bestimmten Platz in der Geschichte. Das gilt einmal mit Rücksicht auf die Wechselbezogenheit allen geschichtlichen Seins, auf die Korrelativität von theoretischem, praktischem und poetischem Denken, zum anderen gilt es aber auch von der Entwicklung, in der der Geist poetischer Hervorbringung selbst sich entfaltet und wandelt. Gerade die Mittel, durch die der Dichter seine je eigene Produktion als Weltgestaltung verwirklicht, sind in der Geschichte der Dichtung geformt und geprägt. Das gilt von den Elementen der dichterischen Aussage sowohl wie von allen Weisen ihrer Fügung. Es betrifft einerseits die Bewältigung der Sprache, in der die Dichtung eines Zeitalters gestaltet wird, wie andererseits die Beherrschung der Aufbauweisen, in denen ein Gedicht seine gattungsbestimmte Gefügtheit findet, es betrifft also sowohl die dichterische Sprachkultur wie den gattungstechnischen Ausbau der poetischen Gebilde. In diesen beiden Hinsichten, im elementaren Aufbau wie in der abgeschlossenen und abschließenden Gefügtheit, ist das Gedicht, ungeaditet seiner Einzelstellung als intentionales Gefüge, durchgängig, d. h. in allen seinen Zügen, im historischen Zusammenhang mit anderen Gebilden seinesgleichen verbunden. Nichts ist an seiner zeitenthobenen (spezifischen) Idealität, das nicht die Prägung der Geschichte an sich trüge. Geschichtlichkeit und Verweisungsidealität schließen audi hier einander dergestalt ein, daß mit der Wirklichkeit der gesetzten geschichtlichen Leistung zugleich die intentionale Bestimmtheit der Leistung entspringt. Auch in der theoretischen Leistung freilich schließen Verweisungsidealität und Historizität einander nicht aus, doch sind dort mit Rücksicht auf die konkrete Bestimmtheit nur sowohl Vollziehbarkeit wie mögliche Historizität als Prinzipien wirksam. Sie gehen allerdings ins Bedingungsgefüge der theoretischen Komplexion mit ein, doch Vollzugsvalenz wissenschaftlicher Urteile einerseits und alle konkrete Historizität andererseits erfahren aus jenem Bedingungszusammenhang erst ihre Leistungsbestimmtheit. Zwar ist das Denken in allen seinen Geltungsfeldern zugleich als ein ideales bestimmt und zugleich ein Teil der Geschichte. Doch an keiner Stelle, zumindest nicht im Bereich der Theorie, gibt es eine so strenge Verschränktheit von idealen und historischen Valenzen wie im Bereich

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der Dichtung. Das Gegenstandsfeld, das sich der Wissenschaft, auf welcher Stufe ihres Fortgangs auch immer, eröffnet, ist ein für allemal bestimmt (und ebenso ist dessen subjektives Korrelat bestimmt), das Gegenstandsfeld der Dichtung aber erschließt sich in jedem einzelnen Gedicht und damit an jeder Stelle der Dichtungsgeschichte von neuem. Jede einzelne der poetischen Welten will in einer besonderen Leistung erobert sein. Ebendiese Historizität der poetischen Intentionen bringt auch eine Geschichtlichkeit all der Momente mit sidi, durch die die poetischen Gedanken im einzelnen Gedicht konkrete Wirklichkeit gewinnen. Audi die Aneignung und Umformung der Mittel poetischer Produktion erstreben größtmögliche Vollkommenheit. Und doch unterscheidet sich der Weg dieses Strebens grundlegend'von dem, den die wissenschaftliche Arbeit zurücklegt. Auch hier erweist es sidi, daß die Mühe der dichterischen Kultur nicht, wie die der wissenschaftlichen, im Unendlichen kulminiert, sondern daß ihre Kulmination bereits in der Endlichkeit der Geschichte Ereignis wird. Alle Vervollkommnung hat ihr Ziel in einem Werk, in einer beispielhaften wie beispiellosen Hervorbringung. Z w a r gibt es einen notwendigen Wandel der Momente des Gedichts, sowohl der Sprache wie der Gattungsgefüge. Aber ein Ziel und eine Gerichtetheit hat dieser Wandel immer nur und jedesmal im einzelnen Werk. Allerdings gibt es auch, wenn wir von dieser jedesmaligen Bezogenheit des dichtungsgeschichtlichen Prozesses absehen, eine Gerichtetheit über die Werke hinweg, eine Gerichtetheit, die über die bloße Wandlung hinaus Aufstieg und Vervollkommnung einschließen mag. Aber dieser Prozeß kann ebenso, und das liegt gerade dann vor, wenn eine entschiedene Höhe poetischer Gestaltung erreicht wurde, Abstieg und Verfall bedeuten. — Gewiß, auch die Wissenschaft ist von Verfall bedroht, doch mit dieser Wendung ist ein Äußerliches gemeint, die einzelnen Träger können versagen, das Bewußtsein einer Epoche hinter dem bereits erreichten Stand zurückbleiben. Doch dieser Stand ist nie totaliter aufgegeben, er ist von neuem wiederherzustellen und zu erarbeiten. Der „Stand" der Poesie, wenn man ihre jeweilige Höhe so bezeichnen will, ist nicht „wiederherzustellen". (Eine absolute, d. h. zugleich eine und ideale Höhe gibt es in ihrem Reiche nicht.) Er ist mit der Epoche, die ihn besaß, dahin. Dem niedergegangenen Geiste bleibt in der Dichtung (wie in den anderen Künsten) nichts als seine eigene Dürftigkeit und — die Verehrung des Vergangenen. So wie die Anstrengung des poetischen Schaffens aufs äußerste getrieben werden, so wie an einigen Stellen der Geschichte die Begnadung des dichterischen Genius sich des größten Reichtums erfreuen kann, so ist auch Abstieg in einem Bereiche unvermeidlich, in dem die Leistung ganz in der Größe menschlicher Geistigkeit allein fundiert ist. Hier zeigt sich eine Grenze möglicher Vervollkommnung. So etwa dort, wo die Beherrschung der Mittel gleichsam entseelt und zum eigent-

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Das Gedicht und die theoretische Leistung

liehen Zweck der Poesie wird. Es ist allerdings nicht ein Zuviel an Technik, an Durchdachtheit und Raffinement, das den Umschlag bestimmt, sondern ein anderes: daß Sprache, poetische Technik und Denken nicht mehr in den Dienst ursprünglicher und lebendiger poetischer Leidenschaft treten, daß die Herstellung nur noch Kunstfertigkeit, nicht aber mehr Ausdruck ist38, oder doch wenigstens, daß Kunstfertigkeit und Ausdruck in jenem Mißverständnis zueinander stehen, das dort sichtbar wird, wo ein mattes und schwächliches Gemüt nur noch auf kunstfertige Weise den Psalter schlägt. Festzustellen, wo in concreto dergleichen vorliegt, ist nicht Sache einer Kunstphilosophie. Man registriert in der positiven Theorie — zumeist dann, wenn ein ausreichender zeitlicher Abstand gewonnen ist — solche Erscheinungen als Manierismus oder als Epigonentum. Beiläufig bemerkt sei noch, daß gerade auch in dieser Hinsicht, die ja eine solche der ästhetischen Bewertung ist — einer Bewertung, die möglicherweise der Barbarei und der Einfalt (wenn auch nicht gerade der Dummheit) den Vorzug gibt vor Durchdachtheit und Kultiviertheit — die Gefahr besonders groß ist, das poetische Selbstzeugnis allein schon als Beleg zu werten. Was sich kräftig gibt, kann schwächlich, was von Blut, Adel und Gewalt strotzt, kann durchaus matt und zahm sein, und andererseits kann gerade das, was sich selbst bezweifelt und sich obendrein der oberflächlichen Betrachtung als manieriert darbietet, die entschiedensten Energien, Energien des Ausdrucks und des Gedankens, in sich bergen. — Übrigens bestimmt der Manierismus in der Kunst nicht notwendig ein Ende, es kommt immer darauf an, ob der Stil den Künstler oder ob der Künstler Stil hat. Nicht daß der Künstler dem Stil seiner Zeit entfliehen könnte. Gegenüber der historischen Möglichkeit gibt es für ihn kein Ausweichen. Nur daß er den Stil, und auch den Manierismus, aus Eigenem bewältigen, formen und — überwinden kann. Der Manierismus hört dann unter Umständen auf, Manierismus, und der Künstler selbst Epigone zu sein. Dadurch daß der Künstler mit den künstlerischen Problemen seines Zeitalters fertig wird, verschafft er sich seinen Rang. Der Künstler und der Dichter sind also in einem entscheidenden Sinne auf sich, d. h. auf ihre eigene Gestaltungskraft gestellt. Doch gibt es nicht auch in der Wissenschaft etwas dem Manierismus und dem Epigonentum Vergleichbares? Die Wissenschaft ist in ihrer Arbeit stärker als die Kunst überhaupt, stärker vor allem als die Dichtung an relativ feste kulturelle, organisatorische und gesellschaftliche Einrichtungen gebunden. Sie bedarf einer tragenden Grundlage, um ihren Fortbestand über alle inneren Wechselfälle der Forschung und über den 38

Storm schreibt in seiner Rezension der Lieder Julius Rodenbergs (1854), daß „jede Handhabung der Form, welche zu dem Stoffe selber in kein Verhältnis tritt und ihm daher auch nicht zum Ausdruck verhelfen kann, wenn auch nicht von vornherein und durchweg der Routine angehört, so doch geradewegs dahinführt". Sämtliche Werke, Bd. 9, Braunschweig, Berlin 1913, S. 41.

Geschichtlichkeit und Subjektivität

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Wandel der äußeren Abhängigkeit hinweg zu behaupten. So ist es, ihrem freien Leistungscharakter entsprechend, durchaus natürlich, daß in ihrem historischen Prozeß der reale und der ideale Bestand nicht durchgängig und nicht an allen Stellen zusammenfallen müssen. Nicht immer können alle „Stellen" angemessen besetzt werden, die ihr Betrieb vorsieht, wie zuweilen auch dem idealen Verdienste nicht sein realer Rang wird. Das mag in allen Bereichen freier geistiger Tätigkeit so sein, denn nirgendwo ist der Geist starr und an das schon Bestehende ohne Einschränkung zu fesseln, so wenig der Geist an jeder Stelle, und zwar aus Gründen, die in seinem eigenen Leistungssinn liegen, in den Dienst des Bestehenden zu treten vermag. Neben der erhaltenden gibt es überall auch die neuschaffende Arbeit. Dennoch beherrscht die Wissenschaft, was den einzelnen Arbeiter im Hinblick auf das Niveau der Leistung betrifft, ein anderes Gesetz als die Dichtung. Der Poet minderen Ranges hat wenigstens teil an der Poesie, er ist Poet, wenn auch ein schwacher, denn das poetische Werk hat seinen bedeutenden oder unbedeutenden Rang aus dem Einsatz und Ausdruck des Schöpfers30. In der Wissenschaft hingegen tritt, nicht nur vorgeblich, die Person hinter der Sache zurück. Wenn etwa ein Falschspieler im Betrieb der Wissenschaft mitmacht, so ist das unter anderem vielleicht auch dessen persönlicher Defekt, das aber ist der Wissenschaft gleichgültig, wichtig für die theoretische Bewertung ist allein, daß ein solcher Eindringling, aus welchen Gründen auch immer, den „Stand der Forschung" nicht erreicht hat. Für die Wissenschaft ist es 38

Innerhalb der Wissenschaft zählen nur diejenigen Leistungen, die den Progreß der Forschung vorantreiben, alles andere hat nur eine Bedeutung für die Wissensübermittlung. In der Poesie ist es anders. Audi die mindere Leistung gehört dazu. D a ß sie möglicherweise „nichts Neues" enthält, ist nur unter Vorbehalt zu verstehen. So unselbständig sie dem Überlieferten gegenüber auch immer sein mag, „Neues" muß sie eben doch enthalten, da sie sich auf ein Gegenständliches richtet, das noch nie intendiert worden sein kann. Der letzte Schundroman, so viel er auch einer Schablone verdanken mag, erschafft eine neue Welt, so gleichgültig und belanglos diese Welt auch sein mag. Anders steht es um den wissenschaftlichen Dilettantismus. Wo und soweit er die Bedingungen der theoretischen Intentionalität nicht erfüllt, erreicht er entweder gar nicht den Gegenstand, von dem die Wissenschaft spricht, oder er erreicht nur das, was man ohnehin schon weiß und was deshalb keine echte Aufgabe f ü r die Forschung enthält. Die geringwertige poetische Einzelleistung hingegen ist auf alle Fälle, zu wessen Erbauung immer, produktiv und sie findet deshalb auch in der Geschichte der Poesie einen Platz. Auch das große Werk bliebe unverstanden, wenn es nicht an seiner Stelle im breiten Fluß des Großen und Kleinen seine Würdigung erführe. Die historischen Voraussetzungen für idas Große pflegen auch im Kleinen zu liegen. So wartet denn auf den Dichtungshistoriker eini weiteres Feld als auf den Wissenschaftshistoriker: „Within the history of imaginative literature, limitation to the great books makes incomprehensible the continuity of literary tradition, the development of literary genres, and indeed the very nature of the literary proc e s s . . . " R. Wellek u. A. 'Warren, Theory of Literature. New York 1956 (Harvest Book), S. 10 (deutsche Ausgabe, übers, v. E. u. M. Lohner, Bad Homburg v. d. H. 1959, S. 21).

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Das Gedidit und die theoretische Leistung

zunächst überhaupt keine Frage des Genies, der Begabung oder der Leidenschaft, wen sie zur Gemeinschaft der Forschenden zuläßt, nur die Teilnahme und die Teilhabe an deren Aufgaben entscheidet. So wie sie einen jeden Forscher in seinen Arbeitsbereich verweist, so weist sie den Unberufenen, und das heißt: den Unkundigen aus ihrem Reiche aus40. Das bedeutet allerdings nicht, daß es in ihrem Imperium starre Besitzverhältnisse gibt. Teilhabe an den Aufgaben bedeutet nicht bloß Verfügungsgewalt über Kenntnisse; von gleicher Bedeutung ist, scheinbar paradox geredet, das Verfügungsvermögen über Nidit-Kenntnisse. Begründeterweise und von jedem Stand der Einsicht aus Fragen stellen zu können, jede Erkenntnis zum Ausgang weiterer Forschung machen zu können, das ist der Inhalt wissenschaftlicher Tätigkeit. Neugierde und Nachdenklichkeit sind die eigentlichen Tugenden des Wissenschaftlers, die eine treibt ihn weiter und die andere hält ihn an, sich die Frage nach Recht und Wert seiner Problemstellung, nach Bestimmtheit und Lösbarkeit seiner Fragen stets zu vergegenwärtigen. Das alles, und damit lenken wir auf die Lage des Poeten zurück, hat nur mittelbar mit der Einzelpersönlichkeit des Wissenschaftlers etwas zu tun, was er jeweils tut, könnte jeder andere an seiner Stelle tun. Entsprechend kann der Forscher dann schon die Gewißheit haben, vom rechten Wege der Theorie abgewichen zu sein, wenn seine Arbeit (um irgendeiner „persönlichen" Bestimmtheit und Gestimmtheit willen) nicht von einem jeden anderen, sofern er nur der Sache gewachsen ist, übernommen und fortgesetzt werden könnte. Den Fragmenten der poetischen Literatur hingegen ist noch nie eine angemessene Komplementierung widerfahren. Die Vielheit der poetischen Erzeugnisse hat ihre Entsprechung in der Selbständigkeit und Aufsidigestelltheit der Urheber. Zwar ist die Einstellung des Poeten, wie die des Wissenschaftlers eine kontemplative 41 , doch sind beide nicht in der gleichen Weise sachlich bestimmt. In der poetischen Leistung kommt die Persönlichkeit des Dichters mit ins Spiel, seine Individualität ist mitbestimmend für die spezifisch poetische Kontemplativität. Insofern hat es ein gutes Recht, wenn die Analyse dem „Gefühl" einen Anteil an der künstlerischen Leistung zubilligt, denn reine Sachlichkeit, ein echtes Absehen von der Person des Leistenden ereignet sich nur in der Wissenschaft und ist nur in der Wissenschaft gefordert. Gerade in der Ermöglichung der künstlerischen Leistung ist die Subjektivität in ihrer Differenziertheit wirksam. Denn die reine Subjektivität vermag den poetischen Gehaltsgefügen keinen Bestand zu verleihen, sie vermag nur in einer Weise Gehaltsgefüge zu fundieren: im universalen Systemzusammenhang der Wissenschaft. Abgeschlossenheit und isolierte 40 41

Vgl. N. Hartmann, Das Problem des geistigen Seins. Berlin 1933, Kap. 43 (S. 337 ff.). Vgl. H.Rickert, System der Philosophie. Erster Teil: Allgemeine Grundlegung der Philosophie. Tübingen 1921, S. 365 ff. — Vgl. F. Kreis, Die Autonomie des Ästhetischen in der neueren Philosophie. Tübingen 1922, 6. Kapitel (S. 91 ff.).

Geschichte und Dichtung. Menschlichkeit der Kunst

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Insichbestimmtheit des Denkens kann nur dort möglich sein, wo das Subjekt eine eigene Welt, die nicht ursprünglich und nicht unmittelbar die Welt auch aller anderen Subjekte ist, entwirft. In der unmittelbaren und ursprünglichen — primären — Welt haben die konkreten Subjekte in ihrer Leiblichkeit und Geschichtlichkeit ihren Ort. Die poetische Welt aber können sie nicht mit ihren Leibern, sondern nur, durch das Denken des Dichters vermittelt, mit ihrer Einbildungskraft betreten.

10. Geschichte und Dichtung. Menschlichkeit der Kunst Was ist, materialiter betrachtet, die eigene Welt des Dichters, die in seinem Werke Existenz gewinnt? Sie ist, wenn man die besondere faktische, historische Lage des Dichters in Betracht zieht, keineswegs jene Welt und Umgebung, in die er hineingeboren ist und in der er lebt. Diese Welt als reale und ansichseiende wäre nur mit theoretischen Mitteln zu beschreiben und zu bestimmen. Ebensowenig handelt es sich um die Lebensumwelt seines praktischen Handelns. Auch die Lebensumwelt des Dichters muß sich jener realen Welt, die die Erfahrungswissenschaften erforschen, einordnen; und zwar als Thema der Geschichtswissenschaft, sofern es sich um Vergangenes handelt; als das Thema künftiger Geschichtswissenschaft, sofern sie eine Welt ist, an der Menschen noch täglich mitschaffen. Auch der Dichter kann die Bewandtnisse seines Lebens sich nur dann so vergegenwärtigen, wie sie tatsächlich sind oder waren, wenn er ihnen in grundsätzlich theoretischer Einstellung begegnet. Und doch geht etwas aus eigener, aus verwandter oder aus fremder Lebensumwelt in das Werk des Dichters mit ein. Mag es sich im Gedicht auch nicht um theoretisches Denken und um theoretische Bestimmung handeln, weil die Grundbedingungen der Theorie in der poetischen Leistung unerfüllt bleiben, und weil es sich in der Poesie nicht um systembestimmtes und (universal) begründungsbedürftiges und (universal) begründungsfähiges Denken handelt, so scheinen — wenn wir die bewußt unbestimmte Wendung noch einmal aufnehmen wollen — doch gerade Lebensbewandtnisse in der Thematik des Gedichts einen bestimmten Vorrang zu haben, wenn sie nicht gar überhaupt die Gegenständlichkeit des Poems materialiter bestimmen. Handelt es sich doch immer um Menschliches, in einem weiten Verstände freilich, das im Gedicht sidi ausspricht: Im Drama sind es Menschen, die miteinander ringen. Im Epos und im Roman sind es Menschen und menschenähnliche Wesen, denen der Kreis einer epischen Welt zum Schauplatz ihrer Geschicke wird. Gerade auch dort, wo scheinbar nur die Natur, Naturdinge und Naturwesen, sprachlose Gestalten also, selbständig und nicht als MenschenUmwelt im Gedicht erscheinen, korrespondieren diese einer fühlenden Seele, einem ungenannten und unsichtbaren Gegenüber, das sie auch in

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der Erhabenheit noch humanisiert und sie in das Vertraute und Gebildete der Menschenwelt einbezieht. Die Natur aber als bloße Natur, als ansichseiender, gegen alle konkrete Subjektivität unabhängiger Bestand, ist ebensowenig ein möglicher Gegenstand der Poesie wie das Reich des idealen Seins. Die Natur in ihrer unabhängigen Bestimmtheit ist allein für die Wissenschaft ein möglicher Gegenstand. Gewiß unterscheidet sich die Poesie von der Wissenschaft in genere als ein Anderes und als ein anders Gegründetes und anders Aufgebautes. In ihrer Formalstruktur ist sie aller Wissenschaft gegenüber gleicherweise ein Heterogenes. In ihrer materialen Bestimmtheit jedoch, d. h. in ihrer konkreten Gegenständlichkeit, ist ihr Verhältnis zu den verschiedenen Richtungen des wissenschaftlichen Denkens nicht gleichwertig. Wenn wir die Wissenschaften, die „Menschliches" zu ihrem Gegenstande haben, in dieser Rücksicht betrachten, so sind es, wie es scheint, vor allem die idiographischen Disziplinen, die historischen also, deren Gegenständlichkeit der poetischen verwandt ist. Unter ihnen ferner audi wohl nicht die Disziplinen, die die Geschichte unter einem ausgegliederten Aspekt erforschen, sondern jene Geschichtswissenschaft, die das historische Leben in seiner Totalität sich zum Gegenstande macht, jene, der das A l l des historisch Wirklichen und Wirksamen nicht bloß Hintergrund für eine spezifische Art von Kulturleistungen ist, sondern wesentlich Thema, die die Welt der menschlichen Geschichte uns darstellend und wissenschaftlich enträtselnd vor Augen zu rücken sucht. Die speziell gerichteten historischen Wissenschaften, die Wissenschaftsgeschichte, die Kunst-, Wirtschafts-, Rechtsgeschichte usw. kommen nur vermittelnd in Betracht, und zwar nur so weit, als sie, das freilich notwendigerweise, von der Allgemeinen Geschichte in deren Dienst genommen werden, in einen Dienst, dessen diese zwar bedarf, der aber die Zwecke der letzteren nicht zu erschöpfen vermag. Ebensowenig kommen die anderen Wissenschaften, die „Menschliches" entweder wesentlich generalisierend erforschen, wie Psychologie (als Wissenschaft und nicht als Menschenkenntnis und Menschenkunde) und Soziologie, oder prinzipientheoretische Disziplinen (die philosophischen Geltungswissenschaften und die Ontologie des Geistes), die die Gründe menschlichen Seins und Leistens zum Thema haben, für diesen Vergleich in Betracht. Die Poesie rückt um ihrer materialen Gegenständlichkeit willen in die Nähe der Allgemeinen Geschichte, weil sie uns Menschenwelten in Konkretheit und Fülle vor den Blick stellt, so wie die Allgemeine Geschichte um ihrer wesentlichen Manifestation als „Darstellung" willen, wie oft bemerkt wurde, in die Nähe der Dichtung rückt. Beiden eignet es, vollständige, die Allheit gegenständlicher Hinsichten und die ganze Stufenfolge des konkreten Seins einschließende Welten vor uns hinzustellen. Diese Welten können gerade deshalb konkrete Vollständigkeit gewinnen, weil sie im Hinblick auf eine konkrete menschliche Leistung oder ein mensch-

Geschidite und Dichtung. Mensdilidikeit der Kunst

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liches Ereignis zentriert sind, und so die ganze Folge der Schichten umfassen. „Welt" in diesem spezifischen Sinne haben nur diese beiden Leistungen des Denkens zum Gegenstande, nur in ihnen beiden, in Dichtung und Historie, ereignet sidi eine Darstellung der Menschenwelt in diesem bestimmten Verstände. Diese Gemeinsamkeit ist keinesfalls eingeschränkt auf historische Dichtung im engeren Sinne. Es ist nicht entscheidend, ob die Welt des Gedichts einen bestimmten Bezug auf die Welt der realen Geschidite hat, ob sie also an reale historische Personen und Ereignisse anknüpft oder auch nur für Handlungen und Vorgänge einen historisch bestimmten Hintergrund, eine historisch bestimmte Umgebung wählt. Natürlich spielen diese Bezüge die allergrößte Rolle, weder Märchen noch Zukunftsvisionen vermögen ihnen völlig zu entgehen. Was immer das Gedicht an menschlich bestimmten Weltdingen in sich aufnimmt, an Artefakten, gesellschaftlichen Verhältnissen, Bräuchen oder besonderen landschaftlichen und kulturellen Umgebungen, — alles ist zugleich auch historisch bestimmt. Der Dichter mag sich so weit, wie er nur immer will, in unwirkliche Welten und Träume, in Reiche mit Fabelwesen und Wundergebilden entfernen und die Wirklichkeit hinter sidi lassen, der Erdenrest geschichtlich geprägter Gegenstände ist unaufhebbar. Doch auch dort, wo der Dichter einen idealeren Bereich betritt, dessen Gegenstände nicht als historisch bestimmt erscheinen, wo Uberhistorisches: Gemeinmenschliches und Gemeinnatürliches zum Gegenstande seiner Produktion wird, wo Wald, Fluß und Berg oder das Innere seines Gemüts: Sehnsucht, Liebe, Trauer, Freude das sind, worüber er dichtet, auch dort entgeht er der Geschichte nicht. Dort entgeht er ihr vielleicht am allerwenigsten. Denn wenn er sonst die Welten, die er beschreibt und gestaltet, noch in einem Abstand zu sich und seiner eigenen historischen Lage zu bringen vermag, wirkt er hier ganz unmittelbar als das Kind seiner Epoche, denn weder Außen- noch Innenwelt werden jetzt zum Gegenstande objektivierender Betrachtung, sondern diese Welten werden ganz allein in seiner Gestaltung gegenständlich, einer Gestaltung, die durch die Menschlichkeit des Dichters bedingt und geprägt ist42. Diese Menschlichkeit aber ist selbst gebildet und geformt durch die Geschichte, die Epoche, die Kulturwelt, der der Dichter jeweils angehört. Das Denken des Dichters ist also zwar kein wissenschaftliches, insbesondere kein naturwissenschaftliches, kein generalisierendes und kein analysierendes Verhalten zur Welt, aber es ist eine gleichsam historische und der historischen Wissenschaft in bestimmter Hinsicht vergleichbare Einstellung zu seiner besonderen Welt. 42

Vgl. W. Sturmfels, Grundprobleme .der Ästhetik. München, Basel 1963. S. 84 f.

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11. Die materielle Begründungsbedürftigkeit Beiläufig ließe sidi schon hier ein Blick auf den spezifisch humanen Charakter, auf die besondere menschliche Fundiertheit auch der anderen Künste werfen. Sowenig die nur formal bestimmte Fundamentalanalyse hinreicht, auch nur eine einzige Wissenschaft in ihrer Struktur und in ihrer systematischen Bestimmtheit zu begreifen, sowenig läßt sich eine der Künste formaliter, etwa aus ihrer Darstellungs- und Gestaltungsweise allein verstehen. Diese Rücksicht auf Materiales bedeutet jedoch keineswegs, daß auch pure Erfahrungsbefunde einen Ort in der Prinzipientheorie der Wissenschaften und der Künste beanspruchen dürften, wenn sich auch freilich oftmals in Empiremen — mit prinzipientheoretisdiem Anspruch — das Erfordernis materialer Ergänzung der Formalbetrachtung ausdrücken mag. Sowenig also die Wissenschaftstheorie in Allgemeiner Erkenntnislogik (die deren Voraussetzung ist), also in einer Theorie des Erkennens überhaupt und des Erkenntnisgegenstandes überhaupt, zu erschöpfen ist, sowenig erschließt sich der prinzipielle Inhalt der Kunst und der Künste schon der ersten fundamentalen Struktur- und Leistungsbetrachtung. So wie es nicht irgendein Gegenstand ist, auf den die Wissenschaft, und zwar zunächst die positive Theorie, sich richtet, ihr Gegenstand vielmehr ein vielfältiges Gefüge darstellt, so ist es im systematischen Sinne auch durchaus unzureichend, den Leistungssinn der Künste durch rein formale Valenzen erschöpfend bestimmen zu wollen. Das Gefüge des Gegenstandes der Theorie schließt Aufstufungen und Fundierungsbezüge verschiedenen Ursprungs ein. An dieser regionalen Gliederung haben auch die Grundlegungen des theoretischen wie des außertheoretischen Denkens teil. Diese Gliederung ist die notwendige Möglichkeitsbedingung der Theorie in jeder ihrer konkreten Gestalten. Wenn man dieses Bedingungsgefüge in seiner Vielgliedrigkeit außer acht läßt, wird man zwar echte Strukturen und echte Leistungsvalenzen des theoretischen Urteils aufweisen können, aber man wird die Wissenschaft nicht in ihrer zureichenden Prinzipiiertheit begreifen. Die Hinsichten, in denen sich die notwendige Regionalisation der Wissenschaften vollzieht, haben Prinzipienvalenz. Gleichwohl eignet ihnen materiale Bestimmtheit. Jede fundamentale Regionalisation schließt, der wechselseitigen Exklusivität der Regionen gemäß, Materialität, d. i. endliche Bestimmtheit, ein. (In der prinzipiellen Materialität ereignet sich die systematische Affinität von positiver Theorie und Prinzipienwissenschaft. In ihr vollendet sidi erst der Gedanke der Prinzipiendeduktion.) Auch der Inhalt der Künste ist, sofern die Kunst nur in einer Vielheit der Künste ihr Wesen hat, in materialer Hinsicht nicht unbestimmt. Er tritt also nidit als ein Inhalt überhaupt in eine ein für allemal fixierte Form ein. Die Materialität der Künste hat freilich einen ganz anderen

Die materiale Begründungsbedürftigkeit

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Ursprung und demgemäß ein ganz anderes Gliederungsprinzip als die inhaltlidie Bestimmtheit der Wissenschaften. Während Geistigkeit und Menschlichkeit im Hinblick auf die Systematik der Wissenschaften nur partiale und regionale Bedeutung haben können, gehen sie hier bereits in jede mögliche Gegenstandsbewältigung ein. Was also sub specie der Theorie nur ein Materiales und Regionales sein konnte, fungiert hier als Bestimmungsgrund jeder möglichen Region und also als ein Formales. Dieses Vorausliegende artikuliert sich freilich in einer Folge von mannigfach differierenden Gestalten. Und in diesen Gestalten ist jedesmal das Zugrundeliegende, die bestimmende Menschlichkeit selbst, wirksam. Es handelt sich also auch nicht etwa nun um ein „ästhetisches" Verhalten zu einer Welt, die in ihrer Gliederung bereits durch die Wissenschaft vorgegeben wäre. Demgemäß kann die systematische Gliederung der ästhetischen Leistungen selbst auch nicht im regionalen Gefüge (in der „Schichtung"), das der theoretischen Leistung korrespondiert, ihren Grund finden. Die Architektur ist nicht bloß Gestaltung einer beliebigen anorganischen Natur, sondern sie ist Gestaltung menschlicher Umwelt, eine Verwandlung der fremden Natur in einen Bezirk menschlichen Lebens. Die Werke des Bauens nehmen deshalb Charaktere des Menschlichen in sidi auf, die noch über ihre bloße, durch den Menschen bestimmte, Zweckbestimmung hinausgehen. — Die Skulptur ist nicht beliebige Bildnerei, sondern zuallererst Gestaltung des Menschen in seiner selbständigen Leiblichkeit und dann erst dessen, was ihm auch sonst nodi bedeutsam ist48. (Eine historische Frage freilich bleibt es, in welchen besonderen Gestalten der Mensch seine geistbestimmte Leiblichkeit zum Ausdruck bringt.) Entsprechend ist das Gemälde nicht Wiedergabe eines willkürlich gewählten Weltausschnitts, sondern zunächst die Erfüllung der Möglichkeit, die Vielheit der auf ihre Leiber beschränkten menschlichen Gestalten so zu verbinden, wie es ihrer geistigen Zusammengehörigkeit entspricht. Und dies wiederum, indem die physische Welt nun als Stätte und Zugehöriges in der Darstellung bewältigt wird und indem sie die bestimmte Beziehung der in der Vielheit selbständigen menschlichen Gestalten ermöglicht. (Eine darüber hinausgehende künstlerische Erfüllung des Vereinigungsstrebens findet sich, freilich unter Einbuße jener Darstellungswerte, in denen sich menschliche Leiblichkeit ursprünglich bekundet, in der Dichtung. Erst hier, in der Verständigung, findet der konkrete und einzelne Mensch wahrhaft zum Menschen, der eine Geist zum anderen Geiste.) — Wenn schließlich die Musik, darin der Architektur gleichend, das Menschliche nicht zu ihrem Gegenstande haben kann, und sie, anders als die Architektur, auch die Natur nicht für den Menschen zu verwandeln vermag, so ist sie doch wesentlich menschlicher Ausdruck (und nicht 45

Vgl. R. u. G. Koebner, Vom Schönen und seiner Wahrheit. Berlin 1957. S. 101 ff.

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bloß eine Kombination von naturalbestimmten Tönen), wenn man so will, die freieste, strengste und menschlichste der Künste, weil an ihr, die reiner Ausdruck und reine Gestaltung ist, kein Rest außermenschlicher Gegenständlichkeit mehr ist. In ihr gewinnt menschliche Kunst ihren reinsten Bestand in sich selbst. Diese Feststellungen stimmen mit klassizistischen (oder borniert humanistischen) Kunsttheorien nur darin überein — und das tun sie allerdings —, daß ihnen der materiale Begründungsaspekt wesentlich ist, so wesentlich, wie er nach unserer Meinung auch einer entfalteten Ontologie, einer umfassenden Geltungstheorie und einer speziellen Wissenschaftstheorie sein muß. Keineswegs teilt aber unsere Theorie mit klassizistischen Auffassungen den normativen Charakter. Es geht uns nur um die prinzipiellen Möglichkeiten, in denen Kunst sich entfaltet, Möglichkeiten, die nur in der Weise materialiter bestimmt sind, als Natur, Geist, Organismus, Leib, Gemeinschaft, Verständigung selbst sowohl materialiter bestimmt als auch Prinzipien sind. Für diese freilich glauben wir in der Grundlegungstheorie ebenso einen Ort beanspruchen zu dürfen wie für jene Minimalstrukturen, in denen Denken und Sein ihre ersten formalen und gleichfalls fundamentalen Voraussetzungen haben. All diese Bestände gehen für uns also in positiver Gegenständlichkeit nicht auf. Entsprechend erwägen wir die Dichtung und die Künste nur in ihrer prinzipiellen Verfassung und tun das auch dort, wo es um die materiale Bestimmtheit, den „Inhalt" (Gegenstand, Zweck, Ausdruckswert) der Künste geht. Festzustellen in welcher Weise Menschliches in die Künste eingeht, das ist Sache der positiven Kunstwissenschaften, — und die Kunst geht viele Wege. Man muß den klassizistischen und kanonisierenden Kunsttheorien kritisch begegnen, doch man sollte sie in ihrem Werte nicht leichtfertig verkennen. Freilich sind sie nicht Anwälte der Kunst überhaupt, sondern nur der Kunst einer oder mehrerer Epochen, sie werden nicht jeder, sondern nur einer künstlerischen Gestaltungsgesinnung gerecht. Doch ihre Motive liegen einerseits in der Kunst selbst, deren Durchdringung und Verehrung in einer bestimmten historischen Gestalt (und eine gleichmäßig allgemeine Kenntnis und Hochschätzung kann es ja auch wohl nicht geben), die jeweilige Einseitigkeit zur Folge hat, und andererseits in Mängeln der fundamentalen Kunsttheorie, die die materialen Valenzen im Prinzipienfelde oftmals übersieht. Die klassizistische Kunsttheorie, d. h. eine solche, die eine bestimmte Gestaltungsgesinnung zum klassischen Maßstab aller Kunst erhebt, hat das Verdienst, nicht nur die positive Forschung zu größtmöglicher Vertiefung zu drängen, sondern auch der strengen Systematik Fragen aufzugeben, die diese sonst leicht vernachlässigen könnte. Große Kunst drängt immer wieder zur Kanonisierung, aber ebensowenig beugt sich auch große Kunst einer Kanonisierung. Der Mensch

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bleibt nicht derselbe, er lernt Neues zu sehen, zu denken und zu gestalten und lernt in neuen Weisen zu gestalten und sich auszudrücken. Was einmal die Bezwingung eines künstlerischen Problems war, das gibt nicht immer auch später einer großen Kraft die Möglichkeit, sich zu bewähren, dessen Bewältigung kann später lahme Nachtreterei sein. Was einmal wirkliches Entdecken und Erringen war, kann, von Nachfolgenden geübt, langweiligste Manier werden. Was einmal wesentlicher konkreter Inhalt war, wird zur bloßen Konvention, zum gedanken- und leidenschaftslos Wiederholten. Die Wissenschaft muß das hinnehmen. Sie kann den Wechsel der Inhalte und Darstellungsweisen nicht ändern, sie muß ihn — in der positiven Theorie — zu begreifen suchen. Unter keinen Umständen steht es ihr aber an — der Philosophie der Kunst und der Dichtung so wenig wie der Kunstgeschichte und der Literaturgeschichte — mit inhaltlich bestimmten Vorschriften (die irgendwoher ihre Legitimation haben mögen, aus der Wissenschaft können sie nicht stammen) dem lebendigen Kunstschaffen und Dichten in ihre Verrichtung hineinzureden. Wenn der Künstler an eine Sache oder an eine Aufgabe seine Kraft gewandt hat (oder wendet), dann muß sich die Wissenschaft der Kunst damit abfinden. Die Kunst ist in vielerlei Hinsicht eine Einverleibung der Welt ins Menschliche. In ihr findet sich die Unabhängigkeit der Natur aufgehoben und die Entfernung und Distraktheit geschichtlicher Gegebenheiten überwunden. Auch die Wissenschaft bedeutet gewiß eine erste Stufe der Humanisierung, insofern das Ansichseiende hier ein Sein für das Denken und somit auch für den Menschen gewinnt, doch ist sie eine Humanisierung der entsagendsten und selbstverleugnendsten Art. Das Subjekt kommt hier als fundierendes Korrelat nicht in seiner konkreten Menschlichkeit in Betracht. Diese Menschlichkeit aber, und zwar die volle konkrete leibliche und geistige, natürliche und geschichtliche Menschlichkeit ist es, durch die die künstlerische Welt- und Gegenstandsbildung allenthalben bestimmt bleibt. Die Kunst leiht auch dem Fremden sorglos Sprache, Gewänder und Denkungsart der Zeit. Sie rückt sogar die erhabensten und entferntesten Gegenstände in die Nähe des Zeitgenossen, nicht ohne diesen allerdings zu erheben und in der Zeit und aus der Zeit aufwärts zu Ewigem zu geleiten. So verleibt beispielsweise die Kunst der Renaissance die Welten der christlichen Offenbarung und der klassischen Mythologie ihrer Zeit ein, und erhebt dadurch diese Epoche selbst in ihren Werken zu überzeitlicher Größe. — Die Wissenschaft muß sich jedoch allenthalben des Abstandes von konkretem Denken und in sich bestimmter Gegenstandswelt bewußt bleiben. Sie kann diesen Abstand kritisch begreifen, aber niemals produktiv überwinden. Das theoretische Denken muß in seiner Gegenständlichkeit unabhängig von allen konkreten Menschlichkeiten bestimmt bleiben. Dennoch ist das Denken und sein Ausdrude, die Sprache, auch dort, wo es in seinem Leistungssinn von den

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Umständen seines realen Ursprungs absehen muß, Leistung des konkreten Geistes. Und das Denken der Wissenschaft muß seine Bestimmtheit unabhängig von diesem Ursprung behaupten. Das Denken und die Sprache aber auch in ihrer konkreten Ursprünglichkeit, geschichtlichen Geistigkeit und Menschlichkeit gegenstandserschließende Bestimmtheit erlangen zu lassen, ist die besondere Möglichkeit der Dichtung.

IV. Das Gedicht und die Grundlegung der axiotischen Leistung 1. Die axiotische

Leistung

Die Leistung der theoretischen Aufgabe ist nicht die einzige Möglichkeit, die sich das Subjekt setzt. Schon um diese seine theoretische Aufgabe zu erfüllen, muß es zugleich mehr sein als bloß theoretisches Subjekt. Seine Aufgabe besteht darin, daß es die Welt so hinnimmt, wie sie an sich selbst ist. Diese Hinnahme ist kein reales Determiniertwerden. Doch in dieser Hinnahme schafft das Subjekt zugleich etwas, das nicht ist, sondern sein soll: Es verwirklicht die Wissenschaft. So wie das Subjekt bloß um hinzunehmen, was ist, über das, was ist, hinausgeht, so stellt sich sein Wille nodi andere Aufgaben und will, daß die Welt anders sei, als sie ist. Die Welt ist für das Subjekt nicht nur theoretischer Gegenstand, sondern zugleich auch eine Welt von Gütern und Übeln, zu denen das wollende Subjekt Stellung nimmt und sein Handeln demgemäß einrichtet. Können uns diese Überlegungen zur Klärung des einenden Grundes der abgeschlossenen Komplexion weiterhelfen? Wir haben doch gesehen, daß die abgeschlossene Komplexion in unaufhebbarer Ferne von der Welt, wie sie an sich selbst ist, verharrt, entfernt damit zugleich von einer Welt, in der zu Gütern Stellung genommen, in der ein Handeln ausgerichtet wird. Daß wir in die leergewordene Stelle des zusammenhaltenden Grundes Werte (axiotische Prinzipien) einfügten, ist undenkbar; Werte regeln ein Handeln und Wollen, das seine Stelle in der einen Welt hat. Die Schwierigkeit, abgeschlossene Gehaltskomplexionen auf (atheoretisdie) Werte zu beziehen, sehen wir; versuchen wir also weiterzukommen, indem wir fragen, wie überhaupt Gehaltskomplexionen auf Werte beziehbar sind. 1. Wo das Wollen die Dinge der Welt zu Gütern umschaffen, wo es Übel beseitigen will — immer wo es überhaupt sidi zu Dingen dieser Welt verhält, muß es, wenn es nicht fehlgehen will, sich zu den Dingen, wie sie an sich selbst sind, verhalten. Diese aber geben sich in ihrem Ansidiselbstsein nur der Theorie, die sie sein läßt, was sie sind. Wie immer die Beziehungen des Wollens auf die Welt zu denken sind, als Zwecksetzung, Wahl der Mittel etc., das Wollen muß die Theorie in seinen Dienst nehmen. Nur die Wahl der besonderen Aufgabe ist wertgeleitet, die Aufgabe selbst ist, soll die Zweckbestimmung echte Bestimmung sein, theoretisch und nicht anders geregelt. Ein durchaus nadb theoretischen Regeln zu bestimmendes Neues, ein Realmögliches soll ersonnen werden. Der Theorie ist es freilich äußerlich, derart auf eine Aufgabe festgelegt zu werden. Aber eben weil die Willensbestimmung außen

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bleibt, ist die echte Erfüllung der jeweiligen Aufgabe möglich. Wir finden hier also nichts anderes als eine echte theoretische Gehaltskomplexion. 2. Eine weitere Beziehung könnte man dort vermuten, wo der Wille mit in die Erfüllung der theoretischen Aufgabe eingreift, etwa dort, wo in die Weltbestimmung Erwartungen miteingehen, wo die Welt — vor allem im Zweifelsfall — bestimmt wird, wie sie sein sollte, diese Bestimmung aber f ü r eine echte theoretische Bestimmung gehalten wird. Wir sehen schon, daß hier keine echte Beziehbarkeit, sondern nichts weiter als eine individuelle Täuschung vorliegt, eine ungerechtfertigte Vorentscheidung. Eine solche Kompetenzanmaßung des Atheoretischen in der Theorie, die als weltanschauliche Bedingtheit oder wie immer auftreten mag, richtet sich selbst, denn sie nimmt der theoretischen Aufgabe den Charakter einer echten idealen Möglichkeit. 3. Man könnte meinen, der Einfluß des Willens auf theoretische Setzungen sei dort nicht auszuschalten, wo der Gegenstand selbst Träger von atheoretischem Gehalt ist. Doch die Beschaffenheit des Gegenstandes hat nichts mit der Einstellung des Subjekts zu tun. Wenn es auch richtig ist, daß Werthaftes nur einem Subjekt zugänglich wird, das wertet, so besagt das ebenso viel und so wenig wie der Umstand, daß Wahrnehmbares nur einem wahrnehmenden Subjekt zugänglich wird. In beiden Fällen wird das, was atheoretisch zugänglich ist, Material f ü r eine Bestimmung, die notwendig theoretisch ist. Die theoretischen Regeln gelten für die Bestimmung des theoretischen Gegenstandes ohne Einschränkung. 2. Denken, Wollen, Dichten Echten Ausdruck kann das Wollen nur dort finden, wo es etwas schafft, das die Welt, wie sie an sich selbst ist, zu überbieten vermag. Das Wollen kann nicht zu seinem Ausdruck kommen, indem es ihn sich erschleicht. Wo es in die Erfüllung der theoretischen Aufgabe eindringt, entwirft es keine echte Möglichkeit, sondern es verhindert eine, nämlich die theoretische. Weiterhin: Aufgaben, die sich das Wollen in der Welt sucht, haben alle Bestimmtheit nur als theoretische, d. h. so weit nur, als sie sich in den Kontext der theoretischen Bestimmungen einfügen. N u r dort findet das ureigne unendliche Anliegen des Wollens, sich nicht mit dem, was ist und was kommt, zu begnügen, seinen Ausdruck, wo es seine eigene Welt schafft. Eine eigene Welt aber fanden wir in der geschlossenen Komplexion. Es gibt keine andere Weise f ü r den Willen, seine unendliche Ungenügsamkeit auszudrücken als die, daß er „umspringt" mit den Dingen, daß er die Welt sein läßt, wie es ihm gefällt: Daß er die Prävalenz der theoretischen Regeln für die Gegenstandsbestimmung durchbricht 1 und aus eigener Machtvollkommenheit „produziert". 1

Damit hätte auch die zu Anfang auftretende Frage nach dem Recht der poetischen Selbstauslegung ihre Antwort. Sofern in der poetischen Gehaltskomplexion immer

Denken, Wollen, Dichten

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Alles Wollen ist Darüberhinaus-Wollen; doch bei dem Wollen in der Welt werden diesem Wollen Dinge in dieser Welt gegenständlich nur, wenn das Wollen in den Verläufen theoretischer Bestimmbarkeit bleibt. Hier jedoch ist das Darüberhinaus-Wollen radikaler gefaßt. Zugunsten des reineren Ausdrucks wird in bestimmtem Sinn auf Ansatzstellen in der „wirklichen" Welt von vornherein Verzicht geleistet. Der Wille verzichtet auf einen Ort in der Welt, um ganz in seinen Ausdruck eingehen zu können. Sofern dieser Ausdruck sich in einem Gehalt findet, ist er schon ein bestimmter. Wie soll nun aber eine Bestimmung, die ihrer eigentümlichen Geregeltheit nach zur Bestimmung der Welt, wie sie an sich selbst ist, selbst bestimmt ist, jetzt die Bestimmung einer anderen Welt leisten können? Sicher ist eines: Diese andere Welt ist nur, sofern sie eine bestimmte ist. Dieserart haben Wollen und Denken eine neue eigentümliche Verbindung einzugehen, von der so viel bekannt ist, daß das Wollen das Denken am echten Welt-Denken verhindert, zugleich aber auch zum Denken einer anderen Welt antreibt. Wie das Denken nicht als echtes Welt-Denken diese Verbindung mit dem Willen eingeht, so ist auch die Funktion des Willens hier eigentümlich gebrochen. Zwar schließt sich der Wille nicht selbst gänzlich aus wie im Wollen der theoretischen Aufgabe. Dennoch modifiziert er sich: Denn er will nicht etwas, das sein soll — das kann immer nur ein Wirkliches sein oder ein im Kontext des Wirklichen zu Denkendes, vielmehr will er etwas, das gar keinen Platz fände im Kontext des Wirklichen, sondern dem — gerade um dem Willen reinen Ausdruck geben zu können — ein eigenes Reich vorbehalten bleibt. Damit modifiziert sich auch der Gegenstand des Willens zu einem, der nicht nach der gewöhnlichen Weise des Willens, etwas zu wollen, sein soll, sondernder aus einer neuen Weise des Wollens sein Sein empfängt. Dennoch bleibt die ursprüngliche Angewiesenheit auch des poetischen Schaffens auf ein unmittelbar Verfügbares, an dem jede subjektive Tätigkeit erst in Funktion treten kann, bestehen. Gewollt wird nun nicht, nach der gewöhnlichen (primären) Weise des Wollens, eine Änderung dessen, was zuerst als unmittelbar Verfügbares begegnet, sondern die Behandlung dieses Unmittelbaren erfolgt darin in der Weise der theoretischen Gegenstandsbildung, daß keine Änderung des Begegnenden selbst erstrebt wird. Der Wille bringt es nur bis zur Bildung einer Gehaltskomplexion, gleicherweise wie die Theorie, nur daß bei der Bildung dieser Gehaltskomplexion nicht die Regeln des echten Sein-Lassens allein gelten, sondern auch die Bedingungen für das Wollen eines Sein-Sollenden hier ihr Recht anmelden. Diese Welt ist eine „bloß der Wille mit ins Spiel kommt, bleibt echte Auslegung, d. h. eine solche, die ihren Gegenstand bestimmt, wie er an sich selbst ist, stets ausgeschlossen; also auch dort, wo als Gegenstand nicht ein Anderes, sondern das Dichten selbst gewählt wird.

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gewollte", von Gnaden des wollenden Subjekts, doch zugleich auch eine gedachte. Wie das Denken nun sich in der Weise bewähren mag, daß es auch ein Anderes denkt als das, was ihm allererst gegenständlich ist, bleibt zu fragen. Die beiden Bedingungen, die so die geschlossene Gehaltskomplexion ermöglichen, geben uns in ihrer Doppelheit das Folgende zu bedenken auf: Wenn wir uns auf die Auffassungen des Alltagsbewußtseins besinnen, dann wird hier deutlich, warum die Höhe der Dichtung nicht nach einseitigen, abstrahierten Anfertigungsvorschriften oder nach einem positiven Kanon zu bestimmen ist, sondern als Höhe des Wollens, Ausdruck des Wollens höchster menschlicher Möglichkeiten, dargestellt in höchstmöglicher Bestimmtheit (Prägnanz), gefaßt werden müßte. (Daraus wird gut verständlich, daß Höhe angetroffen wird bei Werken, die sonst so wenig „Gemeinsames" haben, während „ähnliche" Werke in ihrem Wert bedeutend differieren.) Wenn diese Welt als eine darüberhinausgewollte nicht von rein theoretischer Geregeltheit sein kann, so nimmt diese Prägnanz auch eigene Mittel für sich in Anspruch. So verfährt die Dichtung in der Symbolverschlüsselung durchaus anders als die Wissenschaft, ohne jedoch damit ihre Bestimmtheit aufzugeben. Sie mutet der Zusammenhangsbestimmtheit des Wortes anderes und mehr zu, sie erfährt die Schwere, ein Zusammenhängendes darzustellen, ganz anders als die Wissenschaft. Die Wissenschaft darf mit Gleichmut beim Einzelnen verweilen, die Fragestellungen und Bestimmungen auseinandertreiben, denn immer kann sie von jeder Stelle aus geruhsam den Weg zum All, zu der einen Welt zurückfinden*. Die theoretische Idee selbst ist die Klammer, die alles zusammenhält, sie ist das Prinzip des Alls der Bestimmungen. Wo aber ein Wollen, das als Wollen gerade nicht Bestimmtheit verleihend ist, Oberstes ist und seinen Ausdruck, d. h. seine Bestimmung, sucht, da darf keinen Augenblick die lebendige Verknüpfung aufgegeben werden. Der Verlust ans Einzelne wäre der Verlust des Ganzen; so erfordert es ein eigenes Raffinement, um von einem Element zum nächsten das Band zu schlingen, ein für allemal, und schon das übernächste zu erblicken und alle anderen zumal — und so das Ganze zu schauen. Keine Bewährbarkeit, keine theoretische Dialektik gründet sicher den Weg. Der Weg muß Augenblickswerk sein, gemessen am unendlichen Gang der Wissenschaft, Augenblickswerk und doch sicher. Das Wollen, um dessentwillen solche Welt, solche Gegenständlichkeit erschaffen wird, ist selbst keine Gewähr der Bestimmtheit, keine Regel der Bestimmung. Darum eben muß der Ausdruck im Sturm geschaffen werden. (Sturm bezieht sich, wie sich von selbst versteht, nicht bloß auf lyrische Poesie. Der Sturm, 2

Uber die „notwendige Inaktualität" der Philosophie: R.Zocher, Zum Problem der philosophischen Grundlehre. S. 100 ff. Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 1 (1946).

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der klammernde Willensimpuls, kann auch länger seine Kraft bewähren, als das den durchschnittlichen Vorstellungen entspricht.) Daß die Kunst Schein des "Wahren sei, hat sein Recht, nur eben nicht „Schein" des theoretischen Gegenstandes in unserem Sinne. (Was sollte das sein, ein Halbwahres?) Poesie wenigstens erweist sich als Schein und Ausdruck des ganzen Kosmos der Werte, der hier seinen äußersten Ausdruck, hier seine überfliegendste Planung findet, wo sich die Wirklichkeit am radikalsten zu fügen hat, wo der Überschwang selbst Ausdrude findet, gegenständlich wird — sich nicht bloß in zersplitternder Not in der Welt zurechtzudenken hat. Hier fließt aus dem Wollen alles zumal; das Einsums-Andre von Einsicht und Streben in der Enge des Realen ist einmalig überboten. Freilich zahlt das Wollen damit, daß dies Überbieten ein ewig Fernes bleibt. Doch der Einsatz und die Findigkeit der Verschlingung, um dieses große Zumal auch des ungenügsamsten Willens zu erzielen, findet ein Feld, das sich dem des redlichen Einsatzes im primären Weltbezug, des Fortgangs Schritt um Schritt, wohl vergleichen darf. Gewiß hat die Dichtung als Werk in der Zeit und als Manifestation im realen Material auch diese Seite, sich Schritt für Schritt durchsetzen zu müssen; doch das bleibt dem triumphierenden Zumal des Werkes als einer Gehaltskomplexion äußerlich, denn dieses gibt jener langen Mühe ihren Sinn. Zwar: Die Ausführung, Manifestation der Bewältigung einer theoretischen Aufgabe hat gleicherweise die Eigenart, den Ausdruck eines Wollens in einem Zumal darzustellen. Im Zusammenhalt einer Fragestellung sucht sie ein Zusammenhängendes als Antwort „abzuschließen". Doch zeigt sich hier, daß diese Beschränkung und Einung zugleich auf ihre Offenheit zu anderem hin vertrauen muß: Die Symbole werden im Rahmen einer Darstellung zumeist als anderswo festgelegte verwandt. Der Wissenschaftler gehört zu den „gewöhnlich Redenden und Schreibenden", die „die Worte verbrauchen müssen", während der Dichter allein das Wort so gebraucht, daß es „wahrhaft ein Wort wird und bleibt" 3 . Bei der Darstellung theoretischer Einsichten wird immer das einige Gefüge der Wissenschaft vorausgesetzt. So darf sich jede Fragestellung als Teilaufgabe des totalgeregelten Beziehungsgefüges verstehen, dem jedes Zumal ein Äußerliches und ein bloßes Vehikel bleibt, ein Teil, der sich dessen, was jeweils für das Ganze erarbeitet ist, bedienen kann und muß. Der Charakter eines Zumal geht zwar auch in die theoretische Darstellung ein, etwa als Stil, als Gliederung und Übersichtlichkeit. Aber eben diese Geschlossenheit des Gebildes ist nicht wesentlich, die einzelne Darstellung bleibt nie auf sich gestellt. ' M. Heidegger, Holzwege. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1950, S. 36. Der anspruchsvolle Heidegger-Satz „Die Sprache selbst ist Dichtung im wesentlichen Sinne" (S. 61) wird auch von uns in der ferneren Untersuchung prinzipientheoretisch zu bestätigen gesucht: Nur die Dichtung vermag die Sprache in ihrer Bestimmtheit und in ihrer verantwortungsgegründeten Gestaltetheit zu bewahren.

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Das Gedidit und die axiotisdie Leistung

Wenn nun der poetischen Darstellung als einem eigenständigeren und •wesentlicheren Zumal diese regelnde und sichernde Einfügung in ein umfassendes Beziehungssystem nicht gewährt ist, ist dann die Regelung und Bestimmung der Bedeutungsbezüge in jedem Falle von neuem zu leisten? Wir besinnen uns darauf, daß diese Selbständigkeit gerade ein Beziehungsloses, Abgetrenntes, Unmittelbares — also in strengem Sinne Unbestimmtes — heraufführen würde. Alle Bestimmtheit ist eine beziehbare. Die Selbständigkeit der poetischen Darstellung kann keine absolute sein. Selbständigkeit verleihend ist allein das Moment des einenden Willens. Soll der Wille nicht bei sich selbst bleiben, sondern sich äußern, so muß er sich in einem — wie immer „entwirklichten" — Material darstellen. (Material ist hier natürlich nicht der reale Träger einer Objektivation — der ist nicht zu entwirklichen — sondern das, was dem Denken vorfindbar ist.) Dieses Material aber ist — in aller Unbestimmtheit zunächst — das gemeinsame Minimum theoretischen Fragens und poetischen Wollens. Dort, wo der Welt Material entnommen wird für die Darstellung des Willens, bleiben maßgeblich die Regeln aller echten Bestimmung in Kraft (derjenigen, die das Gegenständliche sein läßt, wie es an sich selbst ist). Damit kommt den Elementen der poetischen Darstellung ein Moment zu, das Beziehbarkeit auf das umfassende Beziehungssystem der Theorie ermöglicht. In dieser Hinsicht bleibt die poetische Darstellung unselbständig, angewiesen, eingefügt wie jede faktische theoretische Darstellung. Ihre Elemente bleiben bezogen auf den Kontext des theoretischen Beziehungssystems. Sofern aber alle Darstellungselemente hier den Sinn haben, einen Willensentwurf auszudrücken, teilt sich ihnen ein Moment der Beziehbarkeit auf ein Ganzes mit, das nicht das eine Ganze der Theorie ist. Wir sahen zuvor: Wille ist seinem Wesen nach Ungenügen an dem, was für das Denken vorfindbar ist. Er zielt über das, was ist, hinaus zu dem, was sein soll. Weiterhin vermag er in aller primären Einstellung nicht sich selbst auszudrücken, sondern bleibt in seinen Entwürfen jeweils einem solchen untergeordnet, das das Denken für real möglich halten darf. Nur wenn er sich von diesem theoretisch Geregelten entfernt, vermag er seinen Anspruch auf Prävalenz auszudrücken. Dodi da er nicht imstande ist, theoretische Bestimmtheit zu gründen, ist diese Darstellung, wenn sie zugleich noch wesentlich seine Darstellung sein soll, als abgeschlossen geeinte, als selbständige nicht durch das System theoretischer Beziehungsverläufe gesichert. Der Wille kann sich um eines Abschlusses willen nicht auf den unendlichen Progreß der Bestimmungen, der einen Niederschlag in unabschließbar vielen Darstellungen findet, verlassen. Das wäre nur möglich, wenn er das als seine Darstellung anerkennen würde, was er gerade überbieten will: die Bestimmung des Gegenständlichen, wie es an sich selbst ist. Er benutzt dieses Gegenständliche zwar, um ihm Material zu entnehmen, aber zugleich verleugnet er die Welt als die, die

Denken, Wollen, Dichten

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sie ist, indem er ihr eine eigene entgegensetzt. Diese neue Gegenständlichkeit aber, da keine eigenen Prinzipien sie zu sichern vermögen, m u ß nun — anders als alle „offene", übergreifendbezogene und -beziehbare theoretische Darstellung — sich abschließen, sich durchweg in sich stützen, um sich gegen allen Fortgang z u bewahren. Damit ist diese poetische D a r stellung wesentlicher als die theoretische ein Z u m a l der Komplexion und mitten in die Zeit gestellt. Die Einheitsstiftung ist ein anderes W e r k als bei der theoretischen Komplexion, hier muß sich in radikaler und unkorrigierbarer Weise Eins aufs Andere stützen und zugleich als Darstellung eines theorie-fremden Willensimpulses sich beschränken, um sich zu bilden, solange dieser lebendige Wille lebt. Damit erhält jedes Element neben dem Index seiner Herkunft aus dem unmittelbar Vorfindbaren den einmaligen und im Ernst jedesmal neuen Index der Beziehung auf solche Einheit. A l l e Bestimmung ist bestimmt im Felde möglicher Setzungen. A u d i die Beziehung auf die je besondere Einheit kann keinen anderen O r t haben. Doch werden die Möglichkeiten der V e r k n ü p f u n g hier genutzt, ohne der Intention der Theorie zu genügen. Es bleibt gleichgültig, ob der resultierenden Komplexion irgendwo ein Gegenstand, wie er an sich selbst ist, entspricht. Solche Beziehungsverläufe, die der Theorie wesentlich zur Bestimmung ihres Gegenstandes sind, bleiben der Poesie gleichgültig. Umgekehrt bedient sich die Poesie solcher Bestimmungen, die der Theorie äußerlich sind; etwa wenn sie sich selektiv einzelne Züge v o n Erscheinungen dienstbar macht, um charakteristisch das Ganze darzustellen. Es soll hier nicht näher auf die eigentümlich poetischen V e r k n ü p fungsweisen eingegangen werden, doch so viel ist deutlich: Wenn es diesen Bestimmungsverfahren auch gleichgültig ist, ob sie einen an sidi selbst seienden Gegenstand bestimmen, wenn sie also in dieser Hinsicht v o n den theoretischen Regeln unbetroffen sind, so bedienen sie sich dennoch gleicher Beziehungsverläufe wie die Theorie; das bedeutet aber nichts anderes, als daß auch sie sich in ihrer Weise Forderungen nach Prägnanz und strenger Bestimmtheit unterordnen. Auch die Beziehung v o n „ Ä u ß e r lichem", theoretisch nicht Wesentlichem ist gleichwohl geregelt; wenn auch — das bloß im Sinne der Theorie — unvollständig. (Denn vollständiges theoretisches Geregeltsein würde eben auf Wesentliches gehen.) D a r über darf nicht hinwegtäuschen, daß die Verschlüsselung des Gehalts in Worte (der Sprachgebrauch) in der poetischen Darstellung großenteils anders ist als in der theoretischen. Ein W o r t hat keinen „punktuellen" Sinn, sein Sinn bleibt abhängig v o n dem Zusammenhang, durch den er festgelegt wird. Der Sinnzusammenhang aber muß, wie dargelegt wurde, f ü r die geschlossene Komplexion ein anderer sein als für die theoretische Komplexionsbildung. Die Deutung w i r d dadurch z w a r anders und möglicherweise schwerer, aber „Verständnis" — auch f ü r die Poesie — gibt es nur am Leitfaden v o n Sinnzusammenhängen.

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Das Gedidit und die axiotische Leistung

3. Einzelbezüge Im Wollen überbietet das Ich die Bestimmungen des Denkens. Dieses Uberbieten unterscheidet sich von der Prognose dadurch, daß es sich nicht in der gleichen Weise dem System der Theorie einfügen läßt wie Urteile über Vergangenes und Gegenwärtiges. Dadurch, daß das Subjekt im freien Wollen sich nicht zufrieden gibt mit dem, was war und was mit Notwendigkeit kommt, entwirft es ein Zukünftiges, das erst durch den Einsatz des Subjektes selbst in die Welt kommen kann. Dieses Zukünftige kommt für die Axiotik nur als übertheoretisch Bedeutsames in Betracht. Nicht das, was schlechterdings sein wird, wird im axiotischen Entwurf gedadit, sondern die Bedeutung, die dieses Zukünftige einem Gegenwärtigen verleiht. Das Zukünftige muß also für ein Gegenwärtiges präsent sein können. In dieser Präsenz des Zukünftigen wird das gegenwärtige Denken zum Wollen. Axiotisdi irrelevant ist hingegen der Befund darüber, ob das Zukünftige tatsächlich eintreffen wird. Selbst eine Aufgabe, die ich nicht erfüllt haben werde, kann gleichwohl meine Aufgabe sein. Entscheidend ist, ob ich diese Aufgabe als meine Pflicht begreife und aus dieser Einsicht pflichtgemäß handle. Die reine Theorie vermag nur zu bestimmen, was unabhängig von meinem Einsatz sein wird (etwa den künftigen Lauf der Gestirne). Das aber, was erst durch mich ins Dasein treten wird, was nicht schon unabhängig von. mir, auch im Hinblick auf ein zukünftiges Stadium bestimmt ist, fällt nicht in den Bestimmungsbereich der Theorie. Oft wird der Dichtung die Aufgabe gestellt, „neue Wege" zu weisen. Kann solche Wegweisung Dichtung sein? (Mit Rücksicht auf diese Forderung scheidet man „weltfremde" und „engagierte" Dichtung. Ob letztere als Dichtung jenen Ansprüchen genügen kann, muß gefragt werden.) Zwei Motive sind es, die es nahelegen, dem Dichter das Amt des Wegweisers zu übertragen: Zum ersten: Der Zwang der Situation nimmt dem konkreten Menschen wie der konkreten Gemeinschaft die Möglichkeit, das Handeln unter Ausnutzung aller wissenschaftlichen Hilfsmittel auszurichten. Der Überblick über alles zu einer Zeit an wissenschaftlichen Einsichten für eine Aufgabe Verfügbare bleibt dem Einzelnen, der die Entscheidung treffen muß, versagt. Daß dieser Überblick fehlt, liegt allerdings nicht allein an der Begrenztheit der individuellen Einsicht, vielmehr ist es der Wissenschaft selbst äußerlich, sich für praktische Anwendungen zur Verfügung zu halten. Diese Situationsbedrängnis, in die der geschichtliche Mensch wegen seiner eigenen Grenzen und des untechnischen Charakters seiner Weltorientierung (der Wissenschaften) gerät, scheint eine Stelle für den „Seher" vakant zu machen. Und tatsächlich findet ein Seher oftmals eine Gefolgschaft, die sich der Schwierigkeiten einer genaueren Beurteilung der Situation überhoben glaubt. Gewichtiger noch ist das zweite Motiv: Es wird nicht nur nach einem Wissenden gesucht, der Ordnung in die Weltdinge

Einzelbezüge

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einer Situation bringt, vor allem sucht die Menschheit auch Belehrung darüber, welcher Aufgabe sie vor anderen jeweils den Vorrang geben soll. Audi hier soll und will nicht selten der Dichter raten, weil er, wie man meint, mit Einsichten begabt ist, die dem gemeinen Verstände unzugänglich sind. Ob der Dichter im Prinzip eine dergestalt überlegene Rolle in der Welt- und Wertorientierung zu spielen berufen ist, kann allerdings nur aus der Kenntnis der Grundlegung von theoretischer und axiotischer Leistung einerseits und poetischer Leistung andererseits beurteilt werden.

V. Das Problem der Geltungsgrundlegung 1. Das Problem der Gegenständlichkeit der Dichtung und die Struktur der Prinzipientheorie Die Frage nach dem Wesen ist zugleich die Frage nach den Gründen, die es möglich machen, daß Dichtung als Dichtung einen Bestand neben Anderem hat, d. h. daß Dichtung als Dichtung ist, und daß Dichtung als Dichtung zu begegnen vermag. Mit anderen Worten, die Frage nach dem Wesen der Dichtung ist die Frage sowohl nach den Bedingungen der Möglichkeit der Unabhängigkeit wie nach denen der Gegebenheit von Dichtung überhaupt, kurz, die Frage nach der Gegenständlichkeit von Dichtung. Das Wesen ist uns also nicht als ein Allgemeines, sondern als Bestimmtheit Problem, Bestimmtheit in jenem fundamentalen Sinne verstanden, daß sie die Möglichkeit eines Bestimmten begründet. Was uns auch sonst in anderen Phasen unseres Nachdenkens über Dichtung zum Problem geworden sein mag, wir dürfen, wenn wir wissen wollen, was Erfahrung der Dichtung ist, nidit Kenntnisse, die uns aus Erfahrungen mit Gedichten zugeflossen sind, in unseren Ansatz aufnehmen. Wir dürfen, wenn wir wissen wollen, was das Sein der Dichtung ist, nicht Beschaffenheiten. von Gedichten, die es da und dort gibt, in unsere Rechnung einsetzen, denn Einsichten in den Bestand und in die Gegebenheit einzelner Poeme setzen bereits voraus, was uns Problem ist. Allerdings muß jede philosophische Theorie erst jenen Boden gewinnen, auf dem sie ihre Erkenntnisse anzuordnen vermag. Philosophische Begriifsbildung ist nie ein Erstes. Der Ausgang des Denkens ist allenthalben positiv und knüpft an Gegebenes in realer, geschichtlicher und naturaler Individualität an. Audi Philosophie kann keinen anderen Ausgang und Ansatz haben. Doch deshalb erfüllt sich philosophische Einsicht keineswegs schon im Rückgang selbst. Sicher ist Phänomenbeschreibung das Erste in der Methodenfolge, sicher ist Rückgang das Zweite und „Dialektik" das Dritte 1 , aber das Wechselgefüge dieser drei ist längst noch nicht das Letzte, wenigstens nicht, wenn man Dialektik als eine theoretische Hinsicht versteht, die einer Gegeninstanz bedarf. Die Prinzipienbestimmung, ob man sie nun Analyse, Ableitung oder Dialektik nennen mag, hat ihre methodische Vollgestalt erst erreicht, wenn auch das Gegebene, Begründete und Konkrete selbst als Prinzip bestimmt ist. Wenn also das Begründete selbst die Begründungsfunktion des Grundes begründet2. 1

1

Vgl. N. Hartmann, Systematische Methode. Logos, Bd. 3 (1912), wiederabgedruckt in: Kleinere Schriften, Bd. III, Berlin 1958 (S. 22 ff.). Vgl. Vf., Zum Problem des Konkreten in der Fundamentalphilosophie, Kant-Studien, Bd. 49 (1957), S. 423 ff.

Gegenständlichkeit und Prinzipientheorie

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Wir sehen vom konkreten Gedicht ab, um die Möglichkeit seiner Konkretheit zu begreifen. Selbst dort, wo wir im Ansatz von der positiven Einstellung aus die prinzipienwissenschaftliche zu erreichen suchen, ist der Rückgang nicht durch besondere positive Befunde bestimmt. Das Positive erscheint hier, wenn auch nur im VorbegrifF, bereits in prinzipieller Verfassung, denn wir wüßten nicht, wie es von einem unaufhebbar Bestimmungsbedürftigen und dementsprechend mit Unbestimmtheit Ausgestatteten zu einem Bestimmten, und zwar zu einem schlechterdings Bestimmten, fortgehen sollte. Das Positive, Gegebene, Begründete kommt in der Prinzipientheorie schließlich wie jedes andere Thematisierte nur als principium, und das heißt: als Positivität, Gegebenheit und Begründetheit, in Betracht. Wenn wir die Frage nach der ursprünglichen Verfassung einer Erfahrungsgegenständlichkeit stellen, können Einsichten, die der Grundlegung in jener Gegenständlichkeit ihre Bestimmtheit verdanken, nicht wohl als Grundlage und Ansatz für eine Theorie jener Gegenständlichkeit angenommen werden. Das bedeutet jedoch nicht, daß Erfahrung und Analyse im Ansatz gegeneinander beziehungslos wären. Wenn wir mit aller Schärfe behaupten, daß positive Erkenntnisse in ihrer Positivität nichts für die Wesenstheorie, d. h. für die Prinzipienanalyse, leisten, so meint das doch nicht, daß die positive Wissenschaft nicht Anlässe böte für prinzipienwissenschaftliches Fragen. Eben diese: Struktur und Leistungssinn von Erfahrungserkenntnissen, Aufbau und Erschlossenheit von Erfahrungsgegenständen sind Probleme und Themen der Prinzipienanalyse. Nicht thematisch sind hingegen die jeweilige Ausgestaltung der Erfahrung im Progreß der Forschung und entsprechend das jeweilige Verfehlen oder Treffen des Gegenstandes in den Wechselfällen der positiven Bemühungen. Man mag die Unterscheidung von Prinzip und Konkretum, von Möglichkeitsbedingung und ermöglichtem Bedingten für so geklärt halten, daß Ausführungen dieser Art als überflüssig erscheinen. Allein wir wollen die ganze Schwierigkeit deutlich machen, die darin liegt, die Welt der Gegenstände zu verlassen und das Feld der Gründe freizulegen. Gerade die Einstellungsänderung ist das Ungeheuere, das hier aufgegeben ist. Es ist eine Theorie gefordert, die nicht von Gegenständen handelt®. Daraus ergibt sich eine charakteristische Art der Fallibilität aller Prinzipienerkenntnis: Die Gründe als Gegenstände mißzuverstehen ist eine unaufhebbare Versuchung für alle Spekulation, die gewiß nicht ein für allemal mit einer These auszurotten ist. Das Problem des Grundes schließt das Problem seiner Begründung ein, — und seine Begründung kann selbst wiederum nichts anderes als Grund sein. Jeder Versuch, die Funktion der Grundlegung in einem Verhältnis erstarren zu lassen, das ebensogut • Vgl. H. Wagner, Ober den Grund der Sprache, Jahrbuch für Psychologie und Psychotherapie, 1. Jg. (1953), Abschnitt I I I (S. 338 ff.).

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Das Problem der Geltungsgrundlegung

gegenständliche Gefüge charakterisieren könnte, wie in dem von Allgemeinem und Besonderem, in dem von Form und Inhalt, von Einheit und Mannigfaltigkeit oder dem von Ganzem und Teil, muß scheitern. Jede dieser Erstarrungen bedroht die Prinzipienwissenschaft damit, den Grundlegungsgedanken zugunsten eines Zweiweltentheorems, d. h. zugunsten eines Theorems zweier Gegenstandswelten, aufzugeben. — Einerseits kann der Welt „begründender" Gegenstände nicht wohl ein besonderer Modus der Erfahrung entsprechen, wenn Erfahrung, d. h. Theorie im positiven Verstände, einen bestimmten Sinn behalten soll. Andererseits wäre mit ihrer Annahme auch gar nichts erreicht, denn nun wäre ja das Problem nur zurückgeschoben, die Grundlegung nicht nur für eine, sondern für zwei gegenständliche Welten zu suchen. Der Gedanke der Andersheit der Grundlegung kann gar nicht radikal genug gefaßt werden, und Radikalität bedeutet hier: den Gedanken des Grundes von jedem gegenständlichen Rest zu befreien. Auf welchem Wege sich dieser Radikalismus theoretisch entfaltet, kann nur die ausgeführte Ableitung der Grundlegung selbst zeigen. Hier sei nur soviel bemerkt, daß Dualismen oder gar Pluralismen, wie sie beispielsweise die HartmannscheOntologie weitgehend charakterisieren, zwar von ider Mannigfaltigkeit der Probleme zeugen mögen, die eine prinzipientheoretische Bearbeitung fordern, daß ihre Uberwindung aber unerläßliche Aufgabe bleibt. Nichts bestimmt den Abstand zwischen gegenständlicher Erkenntnis und Grundlegungstheorie so sehr wie die Art ihrer Struktur. Während Erfahrung stets den Index der Unabgeschlossenheit an sich hat und jede ihrer Bestimmungen ergänzungsbedürftig ist, sei es im Hinblick auf Gegebenheit, sei es im Hinblick darauf, immer neuen Ordnungen unterworfen werden zu können, bestimmt Prinzipienerkenntnis selbst die Begriffe von Ordnung und Gegebenheit und gibt insofern — wenn sie irgend Bestimmtheit an sich hat — abschließende Bestimmtheit. Das hebt indessen ihren progressiven Charakter nicht auf. Jede ihrer Bestimmungen setzt ein abschließendes Ganze, jede ihrer Bestimmungen ist fundamentalkorrelativ. Ihre Ergebnisse haben universal-systematische Valenz, und zwar in einem Verstände der Universalität, welcher jede Partikularität überwindet und der — das ist wesentlich — jede positive Universalität (etwa die des Gesetzes) zur Endlichkeit herabsetzt. Die Gliederung im Prinzipienfeld hat immer die Valenz von Weltall-Alternativen. Nur den Prinzipien eignet Unendlichkeit im vollen Sinne. Das hat die Konsequenz, daß jede Größe, die aus der Korrelation herausgelöst gesetzt wird, zugleich Endlichkeit und Positivität gewinnt. 2. Der monadische Ursprung der Dichtung Dichtung ist von theoretischer Rede wesentlich durch eine symbolerzeugende Kraft unterschieden. Das dichterische Wort ist ursprünglich

Der monadisdie Ursprung der Dichtung

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Ausdruck der einzelnen konkreten Subjektivität, und ihm haften alle Momente an, die die Sphäre seines Ursprungs aufbauen. Diese aber ist die historisch, national, landschaftlich und durch ein besonderes Temperament bestimmte individuelle Geistigkeit. Jeder Dichter redet gewissermaßen in seiner eigenen Sprache. Er verfügt über einen Sprachbestand, der in der jeweiligen Ausgedehntheit, Gewichtsverteilung und Geprägtheit nur ihm zu Gebote steht. Vor allem die Meister des dichterischen Wortes sind in ihrer Diktion unverwechselbar4. Der Dichter schafft sich sein Handwerkszeug, seine Sprache zu einem guten Teile erst selbst. Er macht sie brauchbar als Ausdrucksmittel seiner innersten Gedanken und Gefühle. Aber so wie er, im tiefsten Sinne, der geschichtliche Mensch ist, der die vorgegebenen Ordnungen geschichtsüberwindenden und geschichtsüberlegenen Denkens am wenigsten hinnimmt, so ist seine Produktion das denkerische Wagnis, in ursprünglicher geschichtlicher Gebundenheit geistige Ordnungen frei hervorzubringen. Das bedeutet nichts weniger als eine Verleugnung von Bindungen. Es umfaßt vielmehr die Aufgabe, auch Überkommenes der ringenden und leidenden Gegenwart des Geistes ganz zuzueignen. Es gibt sicherlich kein schwereres Verhältnis zur Tradition als dasjenige, das die Kunst in ihren Werken selbst stiftet. Die Wissenschaft schließt überall die Intention ein, die Einschränkungen der Geschichtlichkeit zu objektivieren und in dieser Gegenständlichkeit zu überwinden. Die Kunst aber prägt die Geschichtlichkeit, eine Geschichtlichkeit, die inhaltslos und arm wäre, wenn sie nicht durch Uberlieferung bestimmt wäre, in ihren Produktionen selbst aus. Geschichtlichkeit bedeutet zugleich Bindung an die konkreten Gefüge des realen lebendigen Geistes, des subjektiven und des objektiven. Sie bedingt nicht nur eine Bestimmtheit im zeitlichen Prozeß der Geschichte des Geistes, sondern auch eine quer zur Zeit sich vollziehende Differenzierung im Hinblick auf die Volksgeister, die Gesinnungen von Gruppen etc., wie auch im Hinblick auf die Einzelgeister6. Und hier ist es wichtig, daß die „regionale" Differenzierung (eine räumliche ist sie bekanntlich nur vermittelterweise) durchaus zu unterscheidende und komplex gegliederte Funktionen hat hinsichtlich der Verschiedenheit der Leistungen des Geistes. Diese Rücksicht prägt sich auch im Kosmos der Wissenschaften , aus. Die monadische Gebundenheit etwa der Philologie ist von anderer Art als die der Physik. Doch das sei nur angedeutet. Im Bereiche der Künste wird die vielheitliche Differenzierung desgleichen in unterschiedlicher und zugleich gliedernder Weise wirksam. Jedes Kunstgebilde hat zwar seinen Ursprung durch den geschichtlich, 4

5

„There is an undubitable physiognomical similarity between the writings of one author." R. Wellek u. A. Warren, Theory of Literature. S. 67 (deutsche Ausgabe, S. 86). Vgl. N. Hartmann, Das Problem des geistigen Seins. Berlin 1933, vor allem die Kapitel 6, 17, 26 umd 29 (S. 68 ff., 160 ff., 221 ff., 241 ff.).

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Das Problem der Geltungsgrundlegung

national, personal etc. bestimmten Schöpfer, aber die Art des Bestandes, den das Werk gegenüber seinem historischen Ursprung erlangt, ist in den Gattungen der Kunst grundverschieden. Dort wo sich der künstlerische Gedanke unmittelbar in einem naturalen Material „verwirklicht" 6 , ist er auch für einen möglichen Nachvollzug in eben dieser Unmittelbarkeit gegeben. (Das hindert nicht, daß die unmittelbare Gegebenheit unter besonderen Umständen einer Erschließung bedarf.) Entscheidend ist, daß, ungeachtet des monadischen Ursprungs, in bildenden Künsten und Musik das Werk, obwohl es „produziert" ist, einen möglichen Bestand gegenüber dem Denken und der Sprache und in spezifischer Unabhängigkeit von beiden erlangt. Das bedingt zugleich die andere Art der Weitläufigkeit dieser Werke gegenüber denen der Dichtung. Die Frage möglicher nationaler Gebundenheit wie auch die möglicher Internationalität läßt sich hier, frei von völkischen, chauvinistischen oder kosmopolitischen, universalistischen Stimmungen, für die Künste grundsätzlicher klären, und ohne Zweifel ist es die Dichtung, für die die Bindung an die individuelle Geistigkeit am engsten ist, denn ihr verdankt sie nicht nur ihren Ursprung (als Ausdruck), sondern zugleich auch ihre (gedankliche) Gegenständlichkeit. So ist es auch einerseits verständlich, daß sie ihrer individual-geistigen Verwirklichungssphäre verhaftet und verbunden bleibt, und andererseits, daß menschheitliche Erweiterung für sie nie eine selbstverständliche Gegebenheit, sondern vielmehr eine Aufgegebenheit bedeutet, eine Aufgegebenheit freilich, der sie, der Einheit des Geistes gemäß, die in aller Vielheitlichkeit walten muß, nie zu entgehen vermag. Gleichwohl gibt es für den Dichter keine Möglichkeit, seiner ursprünglichen Produktionssphäre, seiner geschichtlich-individuell bestimmten Sprache, zu entgehen. Und eigentümlicherweise findet er, wenn er die Sprache seines Volkes, seiner Epoche und die seines eigenen Herzens redet, eher das Ohr der Menschheit als jener, der in einem blassen und auswechselbaren Jargon in „internationaler" Geläufigkeit zu sprechen weiß. So kommt es, daß sich in der dichterischen Rede nicht nur die persönlichen Eigenarten des Ausdrucks, sondern auch die des Zeitalters und die der Nation am schärfsten ausprägen. Gogol hat an einer Stelle in den 8

Vgl. R. Hönigswald, Über die Grundlagen der Pädagogik. 2. Aufl. München 1927, S. 46: „Das Kunstwerk... ist nicht nur Korrelat des künstlerischen Gedankens; es ist vielmehr dieser künstlerische Gedanke selbst. Zwar bleibt es ja zunächst wahr: Der künstlerische Gedanke ist nicht, gleich dem Werk, das ihn greifbar macht, aus Holz oder Marmor. Allein er .verwirklicht' sich auf eine grundsätzlich andere Weise in dem Marmor als der Sinn im Wort. Auch als ,Gedanke' schon ist das Kunstwerk Gestalt, d. h. dieselbe Gliederungseinheit wie in der .Wirklichkeit'. Sein Raumwert schon erscheint, und zwar gerade als Raumwert, gedacht, und damit zugleich auch alles diesem Raumwert angemessen. Es ist von vornherein schon ,fiirf das Holz und ,/«>' den Marmor gedacht. Es ist eben, wie wir bezeichnenderweise zu sagen pflegen, ,entworfen'."

Die Bedeutungsfunktion im Grundlegungsgefüge

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„Toten Seelen"7 eine Charakteristik der europäischen Nationalsprachen gegeben, zum humoristischen Lobe der eigenen, in der der Dichter dem konkreten Ursprung der Sprache die höchste Bedeutung beimißt. Wir wollen sie um ihrer Eindringlichkeit willen ganz hierhersetzen: „ . . . So ein ins Schwarze gezieltes Wort steht, einmal ausgesprochen, gleichsam in Fels und Erz gemeißelt da. Und wieviel solche gutgezielte Worte entspringen dort aus Rußlands Tiefen, wo unser Blut nicht untermischt ist mit deutschem, finnischem, mit weiß der liebe Gott was sonst für Blut, wo rein und bodenständig noch der frische und helle Russengeist am Werke ist, der seine Worte nicht aus allen Winkeln mühsam zusammenklaubt, nicht lange mit Geduld auf ihnen brütet, wie eine Henne auf den Eiern, sondern sie keck mit einem Faustschlag p r ä g t . . . Ohne Maß ist die Zahl der Kirchen und Klöster mit Kuppeln, Türmen und Kreuzen, die über das heilige Gottesland Rußland verstreut sind; ohne Maß ist die Zahl der Stämme, Geschlechter und Völker, die auf dem Antlitz der alten Erde in buntem Gewimmel leben und weben. Jedes Volk beherbergt in seinem Innern Kräfte die Fülle, Schöpferkräfte des Herzens, jedem gab Gott sein scharf geschnittenes Gesicht und andre köstliche Gaben, jedes Volk hat sich selber sein Wort geschaffen, mit dem es die Dinge der Erde zeichnet, wie es sie sieht, mit dem es am klarsten aber sein eigenes Wesen zeichnet. Herzenskundig und lebensklug klingt das Wort aus dem Munde des Briten; leicht hintändelnd schimmert ein Weilchen und löst sich in Luft auf des Franzmanns vergängliches Wort; ringend mit dem Gedanken, bastelt sein dunkles und dennoch trocken gescheites Wort sich der Deutsche; aber kein Wort in der Welt ist so treffend und frisch, so stark aus dem Herzen entsprungen, keins ist so blutwarm, so zitternd von Leben wie das ins Schwarze gezielte russische Wort."

3. Die systematische Valenz der Bedeutungsfunktion im Grundlegungsgefüge

Die glückliche Wendung, die geschickte Prägung, das treffende Bild sind wesentliche Mittel der Dichtung. All diese müssen um so bestimmter sein, als sie, im Gedicht, den gemeinten Gegenstand ja erst erstehen lassen sollen. Im dichterischen Worte wird der Sachverhalt, der in so unvergleichlicher Weise getroffen wird, daß nichts mehr zu sagen und nichts mehr zu fragen bleibt, selbst erst erzeugt. Die Prägnanz und fraglose Bestimmtheit der dichterischen Wendung ist mit der Fiktivität der poetischen Gegenständlichkeit durchaus verknüpft. Durch die enge Bindung an die konkrete geistige Ursprungssphäre unterscheidet sich die poetische Rede zutiefst von der theoretischen, in 7

Zitiert nach N. Gogol, K. Holm) S. 173 f.

Gesammelte Werke. Bd. IV, Berlin 1952 (Übersetzung von

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Das Problem der Geltungsgrundlegung

welcher Urteile, die ihre Gegenstände unabhängig von allen individualsubjektiven Rücksichten bestimmen sollen, ihre verständigungsgemäße Gestalt finden. Die Treffsicherheit des dichterischen Werkes, die volle und abschließende Aneignung, die in ihm ein Gegenstand durch den menschlichen Ausdruck findet, korrespondiert der Entfernung dieser Rede vom Denken ansichseiender Gegenstände. Die poetischen Worte dienen nicht der Bestimmung der Welt und der Weltdinge, wie sie an sich selbst, unabhängig von aller konkreten denkenden Subjektivität ihren Bestand haben. Allein dieser Mangel gegenüber dem primären Weltdenken und seiner Mitteilung ist zugleich ein bedeutender Vorzug: Die poetische Rede ist unangewandt, durch das Weltdenken der Theorie nicht beengt und festgelegt, oder, prinzipientheoretisch ausgedrückt, das dichterische Wort verhält sich zum theoretischen wie die Bedeutung (und das Bedeutungsgefüge) zum gegenständlich artikulierten Urteil. Auch die Bedeutung ist als solche noch nicht gegenständlich entschieden, sie ist es, formaliter betrachtet (unter dem Aspekt eben der reinen Bedeutungstheorie), im Hinblick auf keinen der möglichen Gegenstandsbereiche. Aber in der Beziehung von Bedeutung und geltungsmäßiger Determination, in der Beziehung von „bloßem" Inhalt und intentionsbestimmtem Gehalt, ist nicht allein diese formale Beziehung und Determinationsstufung eingeschlossen. Wie die Bedeutung nicht bloß als „Bedeutung überhaupt", sondern auch als konkrete Bedeutung betrachtet werden muß, so muß also an die Stelle der Bedeutung überhaupt immer eine konkret bestimmte Bedeutung eingesetzt werden. Bestimmt ist die Bedeutung, auch die konkrete, einmal im Hinblick auf die geltungsmäßig-intentionale Ausgestaltung im leistungsartikulierten Urteil und zum anderen eben selbst als konkrete, und das heißt als inhaltlich bestimmte. Material bestimmt kann ein Sinngebilde wiederum nur sein als geltungsmäßig Bestimmtes. Wenn indessen der Abstand zwischen Bedeutung (Bedeutungsgefüge) und spezifisch geltungsbestimmtem Urteil nicht aufgehoben werden soll, müssen die Geltungsbestimmtheiten selbst zueinander in die Beziehung von Bedeutung und geltungsmäßigem Urteil, in die Beziehung mithin von Sinnelement und Sinngefüge eintreten können. Konkretheit impliziert im Hinblick auf die Bedeutung materiale Letztbestimmtheit. Sie ist zu unterscheiden von bloß realer Individualität. Die Idealität auch einer möglichen Mannigfaltigkeit von Bedeutungen bleibt in dieser Materialität notwendig erhalten, eben in Gestalt der Bedeutungsvalenz. Konkretheit der Bedeutung schließt also Geltungsbestimmtheit in sich, mit anderen Worten, Materialität kann die Bedeutung nur als gegenständlich bestimmte Intention erlangen. Dem widerstreitet die prinzipielle Elementarfunktion der Bedeutung keineswegs. Element ist die Bedeutung immer nur im Hinblick auf ein von ihr unterschiedenes Urteilsgefüge, das, wie wir jetzt feststellen können, einem anderen Geltungsmodus gehorcht als ursprünglich sie selbst in ihrer Elemen-

Die Bedeutungsfunktion im Grundlegungsgefüge

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tarfunktion. Die Bedeutung selbst ist so wenig ein Unteilbares, so wenig sie irgendeinen schlichtgegenständlichen Rang haben kann. Auch die Bedeutung ist eine Intention, auch sie selbst ist Urteil, nur daß diesem Intentionsgefüge noch die hinreichende Determination fehlt, die ihm durch die Nutzung in dem anderen Urteilsgefüge (das einen anderen geltungsmäßigen Leistungscharakter besitzt) zufließt. Von der sprachlichen Aktualisierung der relationalen Struktur der Bedeutung dürfen wir füglich absehen. Nur unter dem Aspekt der Analyse tritt sie für sich in Erscheinung, sonst ist sie Implikat des geltungshaft determinierten Gefüges. Das „ist" der Bedeutungsrelation ist noch nicht gegenständlich artikuliert. Die Bedeutungsfunktion schließt nur Inhaltsbestimmtheit in sich. Aber Inhaltsbestimmtheit selbst ist schon eine intentionale Funktion. Bedeutung, bzw. Sinnelement, meint nicht irgendeine Art von Ding oder Gegenstand, sondern die mögliche Beziehung auf einen Gegenstand, und zwar hinsichtlich jedes seiner Grundmomente. Über den Geltungsmodus dieser gegenständlidien Intention ist noch nicht entsdiieden, ob er theoretisch, axiotisch oder auch poetisch ist, auch darüber nicht, welche Funktion der Bedeutung jeweils im gegenständlich bestimmten Urteil zufallen wird, ob sie als Subjekt oder als Prädikat fungieren soll. Die Bedeutung läßt demgemäß beide Funktions-Interpretationen zu: „etwas ist A" und „A ist etwas". Wobei A den Bedeutungsinhalt repräsentiert, der entweder gesetzt ist als bestimmbar oder der als Bestimmung eines Bestimmbaren fungiert. Aber eben dies, daß A mögliches Prädikat oder mögliches Subjekt ist, das folgt (formaliter) unaufhebbar aus dem Begriff der Bedeutung. Die Bedeutung ist deshalb schon intentional, weil sie nur als mögliche Setzung oder als mögliche Bestimmung begriffen werden kann. Sie ist außerhalb dieser vorgängigen (und zwar materialiter stets einem bestimmten Geltungsbereich vorgängigen) Intentionalität schlechterdings nichts, aber auch gar nichts. Ihr Bestand fällt mit dieser Funktion zusammen. Zwar wird die Bedeutung in — sprachlichen — Gebilden faßbar, doch deshalb ist sie nur für die oberflächlichste Betrachtungsweise ein Gegenständliches, in Wahrheit ist sie eine intentionale Funktion, die Funktion der Inhaltsbestimmtheit, so wie die des artikulierten Urteils die (theoretische, axiotische, poetische) Gegenständlichkeit ist. Beide Arten von Funktionen, Bedeutungs- und Urteilsfunktion, treten im konkretbestimmten Intentionsgefüge nicht getrennt voneinander auf. Ferner: für den Bedeutungscharakter sind nicht etwa die „Ausgedehntheit" und der Grad der Zusammengesetztheit entscheidend. In inhaltlicher Hinsicht ist sie nicht elementar. (Wohl ist sie es in geltungsfunktionaler Hinsicht.) In der Bedeutung kann ein schlichter dinglicher Gegenstand, es kann aber auch ein sehr komplexer Vorgang inhaltlich bestimmt sein. Entscheidend ist insbesondere auch nicht die Bindung der Bedeutung an ein einzelnes Wort. Ganze Sätze und Satzzusammenhänge können Repräsentanten

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Das Problem der Geltungsgrundlegung

einer zusammenhängenden Bedeutung sein, die freilich sich auf vergleichsweise elementareren aufbaut. Entscheidend sind keineswegs elementare Unauflöslichkeit und Nichtrückführbarkeit. Diese kann es vermutlich gar nicht geben, wenigstens nicht in der Bedeutungsvalenz. Entscheidend sind vielmehr die Anwendbarkeit und interregionale Obertragbarkeit, die der Bedeutung eignen. Übertragbar sind eben auch höchst komplexe Bedeutungsgefiige. Mit der Formalität und möglichen geltungsmäßigen Nutzbarkeit ist die Bedeutungsfunktion noch nicht zureichend bestimmt. Die Vorgängigkeit der Bedeutungsfunktion hat systemstiftende Valenz. Nur durch die Funktion der Inhaltlichkeit ist die Einheit des in den spezifischen Geltungshinsichten divergierenden Denkens zu gewährleisten. Dadurch daß in der Bedeutungshinsicht die jeweilige intentionale Bestimmtheit mit Rüdssicht auf ihre spezifische Gegenständlichkeit gleichsam zurückgenommen werden kann, ist für das Bewußtsein der Weg von dem Denken in der einen Geltungshinsicht zu dem in der anderen Geltungshinsicht ermöglicht. Das Verhältnis von Bedeutungsfunktion und Geltungsfunktionen ist formal zunächst (im Hinblick auf die Determinierbarkeit) durch die Gleichrangigkeit der Funktionen der Gegenständlichkeit gegenüber der Bedeutungsfunktion bestimmt. Daraus könnte man sdiließen, daß die Bedeutungsfunktion bloß etwas „vor" oder „neben" den Gegenständlichkeitsfunktionen sei. Das ist jedoch nicht der Fall. Die Vorgängigkeit der Bedeutungsfunktion meint vielmehr dieses, daß sie die Beziehbarkeit der Geltungsbestimmtheiten vermittelt. In der Bedeutungsfunktion ist die Affinität der Geltungsbestimmtheiten grundgelegt. Bedeutungsbestimmtheit und geltungshafle Andersheit implizieren einander. Was im Hinblick auf eine Geltungsbestimmtheit bloß Bedeutung ist, ist zugleich Bestimmtheit in einem anderen Geltungsmodus. Damit ist die methodische Anschließbarkeit geltungsmäßiger Andersheit in ihrer systematischen Möglichkeit bestimmt, und zwar indem sie, über den anfänglichen Pluralismus hinaus, auf ein universales, und das heißt: auf ein vorgängig begründendes Prinzip zurückgeführt werden konnte. In der Bedeutungsfunktion interferieren zwei Funktionen: einmal die der Inhaltlichkeit und Vollzugsbestimmtheit und dann die der (geltungsmäßig zu spezifizierenden) Gegenständlichkeit. Beide Funktionen sind intentionaler Art, d. h. sie repräsentieren ursprünglich nicht den Bestand von Gegenständen, sondern den Bestand einer Beziehung auf Gegenstände. (Erst in dieser Bezüglichkeit grundgelegt kommen Bedeutungen dann auch als Gegenstände in Betracht.) Die erste Funktion besagt, daß die Bedeutung durch einen individuellen Erlebnismittelpunkt bewältigbar sein muß. Das Bewußtsein muß sich auf die Bedeutung als auf seinen Inhalt richten können. Es muß den Inhalt vollziehen können. Die zweite Funktion meint, daß die Bedeutung zum gegenstandserschließenden Sinn

Die Bedeutungsfunktion im Grundlegungsgefüge

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ausgestaltbar sein muß. (In welcher Weise die Ausgestaltung auch immer erfolgen mag.) Gegenstandsersdiließende Valenz besitzt allein das geltungsmäßig determinierte, das in einer spezifischen Geltungsgrundlegung fundierte Urteil. Die Bedeutung muß also auf Grund ihres Bezuges auf die Funktion der Gegenständlichkeit zum spezifisch geltungsdifferenten Urteil ausgestaltet werden können. Ferner: Diese beiden Funktionen haben dank ihrer Vorgängigkeit und Ermöglichungsvalenz einem jeden besonderen Bedeutungsbestande gegenüber Prinzipiencharakter. In beiderlei Hinsicht müssen die konkreten Korrelate der Bedeutungsfunktion bestimmt werden können. Das Korrelat der Funktion der Gegenständlichkeit ist das geltungsmäßig entschiedene und in der Hinsicht seines spezifischen gegenstandserschließenden Sinnes materialiter bestimmte Urteil (resp. dermaterialiter bestimmte Urteilszusammenhang). Das Korrelat der Funktion der Inhaltlidikeit und Vollzugsbestimmtheit ist der durch ein konkretes individuelles Bewußtsein vollzogene, als Inhalt bewußte und in der individuellen Bewußtheit realisierte Sinn. Beide Funktionen müssen in einer möglichen Einheit zusammentreifen können. Die prinzipielle Notwendigkeit ihrer Einheit gilt es einzusehen. In wechselbezüglicher Bestimmtheit muß ferner, wenn die Bedeutungsfunktion ein grundkorrelatives Ganzes repräsentiert, die eine Funktion die Bedingung der Möglichkeit für die Einheit der anderen implizieren. Die Vollzugs- und Inhaltsbestimmtheit erschließt im (primären) Denken den Weg von den in einer Geltungshinsicht (etwa der theoretischen) bestimmten Setzungen zu den in einer anderen Geltungshinsicht (etwa der poetischen) bestimmten Setzungen. Dieser Weg ist „methodisch", d. h. in der Kontinuität der Einheit des Denkens möglich, weil das Vollzugs- und Inhaltsbestimmte dem geltungsmäßig Determinierten vorgängig, d. h. weil der Inhalt als Inhalt jene geltungsmäßige Fundiertheit, die das Urteil charakterisiert, von dem man „ausgehen" mag, nicht besitzt. Dem Inhalt als Inhalt, dem bloßen Vollzugsgegenstand also, kommt keine bestimmte gegenstandserschließende Funktion mit Notwendigkeit zu. In der Inhaltsbestimmtheit kann also eine bestimmte Geltungsbestimmtheit zurückgenommen werden, und das, weil jedes geltungsbestimmte Urteil muß Inhalt sein können. In dieser Reduktion auf Inhaltlichkeit eröffnet sich die Möglichkeit für das Denken, von einer Geltungshinsicht in die andere übertreten zu können, ohne daß die Einheit und der Zusammenhang des Denkens angetastet würden. Entsprechend ist auch die mögliche Einheit der Inhaltlichkeit durch die Funktionen der Gegenständlichkeit bedingt. Denn erst als Anderes des in der Gegenständlichkeit Bestimmten findet die Inhaltlichkeit ihre eigene Unabhängigkeit. Die Bedeutungsfunktion fordert mit Notwendigkeit materiale Bestimmtheit. Ihre spezifische Formalität wird dadurch nicht angetastet. Sie hat korrelationalen Charakter, sie bestimmt zugleich die

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Das Problem der Geltungsgrundlegung

Wechselbeziehung verschiedener Geltungsbestimmtheiten. Durdi die Vermittlung der Bedeutungsfunktion, und nur durch ihre Vermittlung, wird die Aufnahme von spezifisch geltungsmäßig bestimmten Sinngefügen in anders bestimmte Gefüge möglich. Das gilt in uneingeschränkter Wediselseitigkeit. Außer dieser wechselbezüglichen Determinierbarkeit gibt es noch eine andere Dimension, in der die Bedeutungsfunktion gedacht werden muß. Es ist die der Fundierungsfunktion der Subjektivität (und damit zugleich die der möglichen Ableitungsfolge). In der Bedeutungsfunktion ist ein gegenständlicher Sinn (Urteil) als Inhalt für mögliche Vollziehbarkeit bestimmt. Der Vollzug ist Leistung der konkreten, realen Subjektivität. Im Vollzug gestaltet die Subjektivität ihre eigene Realität als mögliche Idealität. Sie stellt sich ein Vollzogenes oder zu Vollziehendes als Anderes, als Vermeintes, als Inhalt gegenüber. In der Vollzugsfunktion gewinnt die reale Subjektivität den ersten Abstand von sich, d. h. von ihren eigenen Erzeugnissen. Sie zeichnet in sich etwas zugleich als Vermeintes wie als Vermeinendes aus. (Die Beziehung ist auf dieser Stufe noch reversibel.) Damit gibt sie, obgleich noch ganz auf sich in ihrem Fürsichsein beschränkt, einem ursprünglich Realen die erste ideale Valenz. Die Setzung dieses Abstandes ist zwar zugleich die Voraussetzung für die Setzung des Abstandes zur objektiven Welt (und für die Erschließung dieser Welt in ihrer Abstandsbestimmtheit, d. h. Unabhängigkeit), aber sie schließt noch keine Transzendenz ein. Die Inhaltlichkeit müßte erst zur Gegenständlichkeit ausgestaltet werden. Allerdings impliziert sie, wie wir wissen, die Möglichkeit der Ausgestaltung und die Möglichkeit der Transzendenz. Inhaltlichkeit und Bedeutungsfunktion repräsentieren die erste Stufe denkbarer Idealität. Sie sind die ersten Prinzipien, die die ideale Bestimmtheit eines Realen, und zwar des konkreten Bewußtseins, ermöglichen. Inhalt und Bedeutung besitzen intentionale Bestimmtheit vor aller Anwendung auf die Bestimmung transzendenter Gegenstände und unabhängig von aller Anwendung. Gerade auf Grund dieser Bestimmtheit können sie in den divergierenden Leistungsgefügen genutzt und in geltungsmäßig verschiedene Leistungsgefüge aufgenommen und von einem ins andere übertragen werden.

4. Gedicht und Bedeutung Unangewandte Bestimmungsfunktion ist auch die Valenz des poetischen Sinngefüges. Auch die dichterische Bestimmung findet ihre Anwendung nicht auf transzendente Gegenstände. Die dichterische Welt ist Korrelat der setzenden und produzierenden konkreten Subjektivität. Sie hat ihren Ursprung in der Produktion des konkreten Subjekts. Die

Gedicht und Bedeutung

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poetischen Urteile bestimmen demgemäß keine transzendente Welt ansichseiender Gegenstände, sondern eine — immanente Welt. Das bedeutet allerdings nicht, daß die poetische Welt bloß „intentionales Sein" hätte. Die poetische Welt, die ja immer in einer Vielzahl von Welten gedacht werden muß, hat ihren Ursprung zwar in der einzelnen, konkreten Subjektivität, weil sie in ihrem Gedacht-Werden, in ihrer Bestimmung also, zugleich produziert wird. (In der theoretischen Leistung sind nur die Begriffe über die Welt „produziert" — präziser: gesetzt — nicht aber die Welt selbst.) Gleichwohl bleibt die poetische Welt nicht — als bloß Vorgestelltes oder dergleichen — auf das Bewußtsein ihres Erzeugers beschränkt. Sie gewinnt ihrem konkreten Ursprung gegenüber einen unabhängigen Bestand. Sie geht, als gegenständlich Bestimmtes, nicht in bloßer Inhaltlichkeit auf, obwohl diese dichterische Gegenständlichkeit ihren Ursprung in der Inhaltlichkeit selbst hat. Wenn man das Verhältnis der Bedeutungsbestimmtheit zu den verschiedenen Gegenständlichkeiten erwägt, ergibt sich, daß die poetische Gegenständlichkeit die der Bedeutungsbestimmtheit (und Inhaltlichkeit) nächste ist; denn sie findet ihre Ausgestaltung in der Inhaltlichkeit selbst. Die spezifische „Anwendung" des poetischen Urteilsgefüges ist eine Beziehung auf einen ursprünglich immanenten (produzierten) Gegenstand. Der Bestand des dichterischen Gegenstandes ist ganz in der Inhaltlichkeit des konkreten Vollzugszusammenhangs gestiftet. Das Gefüge der dichterischen Gegenständlichkeit hat seinen Ursprung im einenden Produktionswillen des Schaffenden. Das bedeutet freilich nicht — und kann es gemäß der Wechselbedingtheit der Gegenständlichkeiten in der Bedeutungsfunktion auch nicht bedeuten — , daß auch die Elemente des dichterischen Gefüges ihren Ursprung in der Produktion des einzelnen Dichters haben müßten. Übrigens betrifft die bedeutungsvermittelte Wechselbedingtheit der Gegenständlichkeiten die Gefüge, in denen die Leistungshinsichten wirksam werden. Jedes theoretische und primäre Urteilsgefüge ordnet sich dem universalen und einigen Gefügezusammenhang des primären Denkens ein. Das poetische Gefüge aber ist nur in einer Vielheitlidikeit von in sich abgeschlossenen Komplexionen möglich. Dementsprechend ist auch die Wechselbeziehung zwischen poetischen Gefügen durch die Bedeutungsfunktion bestimmt. Wenn die poetische Gegenständlichkeit in der Inhaltlichkeit selbst ihre ursprüngliche Gestaltung findet, so bedeutet jede andere, nichtpoetische Artikulation der Gegenständlichkeit eine Uberwindung der ursprünglich in der Einheit eines Vollzugszusammenhangs bestimmten Inhaltlidikeit. Und zwar muß zunächst die Eingliederung von Bedeutungsgefügen in den Zusammenhang des theoretischen Denkens zur Einordnung der ursprünglich vollzugsfundierten Einheiten der Bedeutungsgefüge in die höhere Einheit des universalen und einigen Urteilszusammenhangs führen. In dieser Einordnung werden die ursprüngliche Fundiertheit und die jewei-

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Das Problem der Geltungsgrundlegung

lige Einheit des Bedeutungsgefüges aufgehoben. Beide Valenzen erhalten eine Stelle als mögliche Gegenstände. Die Funktion der Einheit wird jeder gegenständlichen, realisierenden und pluralisierenden Bedeutung entkleidet. Insbesondere wird jede produzierende Valenz des eingeordneten Gefüges als aufgehoben gedacht. Das Korrelat der neuen (theoretischen) Fügung ist eben nicht Produziertes, sondern Erfaßtes. Erfassen aber schließt die Anerkennung eines in jeder Hinsicht von der konkreten Subjektivität unabhängigen Bestandes ein. Die Bedeutung als solche hat keine Produktionsfunktion, sowenig sie eine Erfassens- oder eine Entwurfsfunktion hat (oder möglicherweise eine glaubensmäßige Hinnahmefunktion). Nur die im Gehaltsgefüge verknüpften, also die geltungsmäßig genutzten Bedeutungen können diese gegenstandseröffnenden Funktionen besitzen. Allerdings begegnen uns in der Regel keine isolierten und nirgendwo schlechterdings ungenutzte (sozusagen unberührte) Bedeutungen. Jedes konkrete Sinnelement hat schon einmal in einem Sinngefüge einen Platz gehabt und war dementsprechend auch schon einmal an dem Vermeinen eines Gegenstandes beteiligt. Die Bedeutungsfunktion für sich betrachtet hat gerade dies zu ihrem Inhalt: die Nutzbarkeit durch Geltungsfunktionen und die Übertragbarkeit der Elemente von dem einen geltungsdifferenten Gefüge auf ein anderes, ihre Benutzbarkeit mithin für den Aufbau artgleicher und artverschiedener Sinngefüge. Wenn man von dem Wandel der Bedeutungsfunktion des Wortes hier einmal absieht, darf man etwa den dem Wort „Berg" entsprechenden Bedeutungsbestand in einen theoretischen, in einen axiotischen oder in einen poetischen Sinnzusammenhang eingefügt denken, je nachdem ob es sich um eine erfaßte, eine entworfene oder um eine produzierte Gegenständlichkeit handelt, die intendiert wird. Die Bedeutungsbestimmtheit ist ursprünglich Inhaltsbestimmtheit. In ihr können wir die erste Gliederung erblicken, in der der Vollzug sich selbst bestimmt. Sie ist als Minimalstufe von Verweisungssinn und „Abstand" zugleich die erste Idealisierung eines Realen, nämlich die des Vollzugs. Die Höchststufe hingegen gewinnt die Idealisierung in der theoretischen Leistung. In dieser ist das Reale, wie überhaupt das Gegenständliche, als Fundierungsgrund intentionaler Bestimmtheit ausgeschieden. Das Reale fungiert hier lediglich als ein Transzendentes8, als das Unabhängige und zu Erfassende. Gleicherweise fungiert als ein Jenseitiges, was, wie das inhaltlich und bedeutungsmäßig Bestimmte, als Konkretes und Materiales den Grund zu seiner Möglichkeit selbst in einem Konkreten hat. Dieser Abstand von Bedeutungsbestimmtheit (Inhaltlichkeit) und Gegenständlichkeit bleibt auch im Hinblidk auf die axiotische Gegenständlichkeit durchaus erhalten, denn in dieser bleibt, wie die Geltungssystematik erweist, die Transzendenz der theoretischen Gegenständlich8

Und also als Konstituiertes und nicht als Konstituierendes.

Die Geltungsgrundlegung überhaupt

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keit unaufgehoben und unangetastet. Die Möglichkeit des Zusammenfallens schließlich von Inhaltlichkeit und Gegenständlichkeit im poetischen Denken macht die symbolerzeugende Kraft der Dichtung verständlich. Denn nur in der Dichtung bleibt die Bedeutungsfunktion in ihrer ganzen, konkret fundierten, an den realen, historischen und individuellen Ursprungsort geknüpften Vollzugsbestimmtheit, auch in gegenständlicher und gegenstandserschließender Funktion wirksam 9 . Hierin tritt die Bedeutungen und Inhalte schaffende und gestaltende Funktion der Dichtung zutage. Denn die bloße Vollzugsbestimmtheit und Inhaltlichkeit bliebe flüchtig wie die reale Fundierung, an die sie gebunden bleibt. In der primären (theoretischen oder axiotischen) Gegenständlichkeit aber wäre sie in anderer Hinsicht gleichfalls ephemer, denn dort wird sie in der höheren und umfassenderen Bestimmtheit des Verweisungssystems aufgehoben. Nur in einer Gegenständlichkeit, in der die personale und nationale, die epochale und individuelle Vollzugsbestimmtheit unangetastet wirksam sein kann und unangetastet wirksam sein muß, weil sie die selbstgenugsame und vielheitliche Bestimmtheit dieser Gegenständlichkeit selbst fundiert, kann die konkrete Geistigkeit volle Idealität erlangen. Hier wird die Manifestation der Bedeutungen zugleich in voller gegenständlicher und in voller monadischer Bestimmtheit gestaltet. D a aber auch die Weltmöglichkeit der anderen, primär bestimmten, gegenständlichen Leistungen an Tradition, an Sprache und an Verständigung, kurz an Vollzug, an Manifestation und Gestaltung durdi den konkreten Geist gebunden ist, bleiben auch diese dem bedeutungsbewahrenden Werke verpflichtet, denn der Dichter — wir zitieren die Heideggersche Wendung noch einmal — „gebraucht . . . das W o r t . . . so, daß das Wort erst wahrhaft ein Wort wird und bleibt" 10 .

5. Die Geltungsgrundlegung

überhaupt

Das Gedicht hat die Bestimmtheit eines Gehaltes. Das Grundproblem einer Philosophie der Dichtung liegt darin, die spezifische Beschaffenheit dieser Gehaltsbestimmtheit zu ermitteln. Diese spezifische Bestimmtheit muß zugleich die Stelle des Gedichts im Reich geistiger Leistungen offenbaren. Die Bestimmtheit geistiger Leistungen findet ihren Grund in Geltungsprinzipien. Die Inbegriffe dieser Prinzipien in ihrer Gliederung mit Rüdssicht auf die verschiedenen Leistungssphären bezeichnen wir als Grundlegungen. Die Ermittlung der Grundlegung einer geistigen Leistung geht den Weg der Hypothesis. Es ist das Verfahren, Prinzipien dadurch 9

10

Aber dennoch liegt, das darf nicht übersehen werden, die Erzeugungsfunktion nicht schon in der Bedeutungsbestimmtheit selbst. Sonst wäre eine Übertragung von Bedeutungen in nichterzeugende Komplexionen ausgeschlossen. Holzwege. S. 36.

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Das Problem der Geltungsgrundlegung

als Möglichkeitsbedingungen eines Konkreten zu erproben, daß man sie versuchsweise zugrundelegt. Auf diesem Wege, und nur auf diesem Wege, können sdiließlidi diejenigen Prinzipien in den Gesichtskreis der Analyse treten, die das zu begründen imstande sind, dessen Begründung zu Beginn der analytischen Untersuchung Problem war. Das Begründungsbedürftige muß immer ein Konkretes sein; sei es ein individuelles oder ein allgemeines Konkretes, sei es endlich audi ein nur vorläufig bestimmter Typus von Konkretem. Denn nur Konkretes kann einer Prinzipienanalyse an ihrem Ausgang gegeben sein. Der Rückgang vom Konkreten auf die Prinzipien ist nicht beliebig. Einerseits muß er durch Strukturen orientiert sein, die am Konkretum aufgewiesen werden können. Andererseits schreibt der systematische Zusammenhang der Prinzipien selbst eine bestimmte Folge im analytischen Verfahren vor. Mit irgendeiner Art von „Schau" ist es nicht getan. Es ist kein bloßes Durchmustern von Ideen, das uns schließlich in die Lage versetzt, die rechte für unsere Absichten herauszusuchen. Ideen (Grundlegungen) und Prinzipien sind keine Gegenstände. Sie sind nicht nur bestimmt, sie haben nicht nur Bestimmtheit, sondern sie gewähren überhaupt allererst Bestimmtheit. Sie implizieren Bestimmtheit11. Was also die Prinzipienanalyse bestimmen 11

Das Problem der Grundlegung leitet auf die Frage nach, der Differenz zwischen solchem, das Gegenstand ist und das mithin unter der Bedingung der Gegenständlichkeit steht, und der Gegenständlichkeit selbst. Zunächst läßt sidi freilich nur sagen, was Gegenständlichkeit nicht ist: kein Gegenständliches. Gegenständlichkeit ist als dieses Ungegenständliche: irreal, unwirklich, unendlich, ja — auch diese Konsequenz darf nicht gescheut werden — unbestimmt. Sie ist ein Nichts — im gegenständlichen Sinne, dennoch ist sie nicht die Nacht, in der alle Kühe schwarz sind, denn sie ist nicht nur das Nichts, sondern auch das Andere des Gegenständlichen. Doch das ist noch mißverständlich und könnte den entscheidenden Inhalt der Gegenständlichkeit verdunkeln. Noch könnte man an ein Nebeneinander denken, etwa an zwei Reiche von Gegenständen, also in „Zwem>e/£e»theorie" befangen sein. Die Frage nach der Ubereinstimmung und der Nichtübereinstimmung zweier in dieser Weise einander gegenübergestellter Bereiche wäre naheliegend, entsprechend würden sich Probleme von grundsätzlich partikulärer Valenz ergeben, wie das der „Abwandlung". — Entscheidend ist, daß eine solche Gegenüberstellung, wie sie an gewissen Stellen der Weltgliederung zulässig und unter bestimmten Aspekten methodisch gefordert sein mag, immer ihren Grund in-einem Dritten haben muß, das selbst nicht den beiden einander gegenübergestellten Gegenstandswelten angehören kann, wenn es Möglichkeitsbedingung für ihr Auseinandertreten sein soll. Das Problem des Grundes, das Problem der Gegenständlichkeit, bestünde also fort; es macht keinen Unterschied, ob die Grundlegung für Gegenstände und Gegenstandsbereiche oder für die Beziehungen zwischen Gegenstandsbereichen gesucht wird. Die radikale Fassung des Gedankens der Andersheit treibt jedoch über jede nebenordnende Konstruktion, die den Inbegriff der Gründe „metaphysisch" mißversteht und hypostasiert, hinaus. (Die spekulativen Schwierigkeiten sind an dieser Problemstelle so beträchtlich, daß allerdings noch nicht alle frei sind, und dem Stande der Forschung gemäß auch kaum gänzlich frei sein können, denen die Ketten des gegenständlichen Denkens zum Problem geworden sind.) Andersheit, angewandt auf Grundlegungsverhältnisse, bedeutet also anderes und mehr als Unterschiedenheit

Die Geltungsgrundlegung überhaupt

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kann, sind nicht irgendwelche — etwa philosophie-historisch überlieferte — Gegebenheiten v o n Grundlegungen, sondern es sind zunächst einmal H i n sicht und P r o b l e m der Bestimmtheit selbst. Diese hat ihre erste und schlediterdings uneingeschränkte Gestalt in der theoretischen Grundlegung. D a ein Gehalt immer schon die Teilhabe an der Idee der B e stimmtheit impliziert, m u ß sich die erste prinzipientheoretische E r p r o bung a u f das Verhältnis v o n begründungsbedürftigem Gehalt und theoretischer Grundlegung richten. Die nächste Hinsicht ist jene, in der die Subjektivität ihre Leistungen und damit sich selbst entwirft und in diesem E n t w u r f zunächst sich der Teilhabe an d e r Idee der Bestimmtheit v e r sichert. D e r Ideentheorie ist eine F o l g e vorgeschrieben, die v o n der Selbstvon Gegenständen und Gegenstandswelten. Sie sdiließt jede Endlichkeit und gegenständliche Bestimmtheit von sich aus und ist die allen endlichen Valenzen vorausliegende Bestimmtheit von Weltall-Alternativen. Sie bezeichnet Stellenbestimmtheit im Gefüge von Grundkorrelationen. Jede gegenständliche Beschränkung, Ausgrenzung, Isolation von Instanzen verbietet sich sogleich. Und das bedeutet für unsere Frage: Wenn Gegenständlichkeit selbst in der Beziehung .der Andersheit gedacht werden soll, dann kann an der Stelle ihres Begründeten, also des Gegenstandes, so befremdlich das zunächst auch anmuten mag, kein Gegenständliches gedacht werden. Gegenständlich, mundan, ontisdi aber ist noch alles gedacht, das nicht grundkorrelativ gedadit ist. Begründet, grundgelegt durch den letzten Grund, d. h. durch die Gegenständlichkeit, ist 'der Gegenstand nur gedacht, wenn er selbst als Prinzip und als Idee gedacht ist. Ein angenommenes Totum der Gegenstände aber kann dieser Forderung nicht gerecht werden, denn eine solche Totalität ist zunächst einmal abgelöst von der Grundkorrelation der Gegenständlichkeit gedadit. Die Idee aber bleibt im Gegenständlichen, auch wenn es als totaliter bewältigt und durchschritten gedacht wird, unerreichbar, und zwar weil die Funktionalität der Idee selbst einer solchen Erfüllung widerstreitet. Damit ist zugleich klargestellt, daß gegenständliche Bestimmung sich keineswegs auf Einzelnes, auf „Dinge" also, beschränkt, daß unendliche Valenzen, wie etwa die strenge Allgemeinheit des Gesetzes, durchaus auch im gegenständlichen Denken setzbar sind; doch es klebt an diesen unendlichen Valenzen immer noch der Erdenrest des Gegenständlichen und Endlichen. Ihnen eignet nicht die reine grundkorrelative Bestimmtheit des Ungegenständlichen, nicht die Funktion der Gegenständlichkeit. Gegenständlichkeit ist freilich der Grund für das endliche Gegenständliche, für jedes Gegenständliche, doch wenn wir den Gegenstand als begründet, als konstituiert, seine Gegebenheit und Positivität als ermöglicht begreifen wollen, müssen wir beides, Gegebenheit und Positivität, „verwandeln". Das heißt nicht, wie man argwöhnen könnte, daß wir nun unserem System zuliebe ableiten würden, was sich nicht ableiten läßt, es bedeutet insbesondere nicht Ersatz und Verdrängung von Erfahrung, sondern es bedeutet, daß wir — und das ist doch der Sinn der Gegenständlichkeit des Gegenständlichen! — die Unableitbarkeit des Gegenstandes ableiten. Das können wir aber nicht, indem wir auf den Wegen der Erfahrung, zu welchem und bis zu welchem Ende auch immer, fortschreiten, sondern indem wir für Gegenstand und Erfahrung die Stellen auffinden — nicht in einem Reiche oder in einer Welt der „Gründe", sondern im wechselseitigen Beziehungsgefüge der Grundlegung selbst. Mit dieser Artikulation des Grundlegungsgedankens, in der der eine Gegenstand in zweierlei Bezügen berücksichtigt wird, glauben wir allem Welten-Pluralismus zu entgehen. Für die Lösung des Grundlegungsproblems gilt — wie allenthalben in der Theorie — daß man die rechte Hinsicht finde.

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Das Problem der Geltungsgrundlegung

begründung der Erkenntnistheorie ihren Ausgang nimmt. Diese Folge verweist jede andere Grundlegungstheorie auf eine fernere („zweite", „dritte" etc.) Stelle. Diese Reihenbestimmtheit ist selbst komplex gegliedert. Es ist keineswegs so, daß eine Disziplin sich einfach an die nächste anschlösse wie Glieder einer mathematischen Reihe. Diese Mehrschichtigkeit stellt sich in unserem Falle wie folgt dar: Die Entfaltungsweisen der theoretischen und der axiotischen Leistung verweisen streng aufeinander, ihre Dimensionen stellen sich als korrelativ dar. Entwurf und theoretische Bestimmung sind im geltungstheoretischen Sinne Korrelate, die eine Leistung in ihrer Objektivität vollauf bestimmen. Gerade aus der wechselseitigen und vollständigen Zuordnung der theoretischen und der axiotischen Leistung aber resultiert für unsere Untersuchung eine prinzipientheoretische Schwierigkeit. Da das Gedicht nicht als eine Leistung zu erweisen war, die durch eine der beiden bisher betrachteten Grundlegungen prinzipiiert ist, muß ihm eine andere Grundlegung eröffnet werden. Doch durch das System, zu dem sich die beiden ersten Leistungsweisen ergänzen, scheint das Grundlegungsfeld zunächst ausgemessen. An dieser Stelle kann nur eine Radikalisierung der Fragestellung weiterführen, denn weder innerhalb je einer der aufgewiesenen Grundlegungshinsichten noch im Felde ihrer gegenseitigen Ergänzung allein können sich Aspekte eröffnen, die aus unserer Schwierigkeit hinausweisen. Unsere Frage muß zugleich die Aufhebung der inzwischen bestimmten Horizonte anbahnen. Wir müssen prüfen, ob das System, das die beiden bisher für die Begründung des Gedichts erprobten Prinzipiensphären umschließt, zugleich das System aller Grundlegungen ist. Haben wir, dieses Bedenken zwingt sich uns hier auf, den Begriff der Grundlegung bereits als das Prinzip aller denkbaren Leistungen bestimmt? Zwei Momente gilt es im Begriff der Grundlegung zu scheiden: Einmal die Einheit der konkreten Leistung und damit zugleich die Möglichkeit des gemeinsamen Prinzipiierens der Ideen — jener Umstand, der die Forderung nach einem System der Ideen rechtfertigt — und zum anderen die Selbständigkeit der Ideen gegeneinander, die sich in den spezifischen Geltungstheorien erschließt. Wir kennzeichnen diese Selbständigkeit auch als die „Ursprünglichkeit" der Geltungsbereiche, als ihre Autonomie. Die selbstgenugsame Bestimmtheit der axiotischen und der theoretischen Leistung bedeutet kein tatsächliches Auseinanderfallen. Sie bezeichnet für die Reflexion die Möglichkeit, die komplexe Leistung jeweils in einer ursprünglichen Hinsicht abgehoben von anderen Hinsichten zu analysieren, also die Möglichkeit, beim theoretischen Urteil von den Bedingungen des Entwurfs, beim axiotischen Urteil von den Regeln der Bestimmbarkeit abzusehen. Die spezifische Analyse muß sich an allem, das Leistungstharakter hat, bewähren können. Die Dimensionen, in denen sich die spezifischen Reflexionen vollziehen, liegen aller Anwendung voraus. Damit sind sie in ihrem Bezug auf konkrete Leistungen zugleich als unendlich

Die Geltungsgrundlegung überhaupt

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gekennzeichnet. Sie können nirgends an einem konkreten Material eine Schranke finden. Der Möglichkeit der Sonderung der Geltungsbereiche muß die Möglichkeit ihrer Vereinigung entsprechen, welche gleichwohl ihre spezifischen Geltungsansprüche nicht aufhebt. Diese Vereinigung kennzeichnen wir als wechselseitiges Umspannen. Dieses Umspannen ist nur in einer Weise möglich, die so bestimmt ist, daß sie den eigenen Geltungsmodus nicht überschreitet12. Mit anderen Worten: Das Umspannen ist nichts anderes als das spezifische Funktionieren einer Geltungsgrundlegung, nur rücksichtlich ihres Zusammenhangs mit allen anderen Geltungshinsichten betrachtet. Theoretisches Umspannen ist niemals etwas anderes als Bestimmen und axiotisches Umspannen nichts anderes als Entwerfen. Das Umspannen ist keineswegs ein bloß von Fall zu Fall auftretender Sachverhalt des Übergriffs, sondern es ist für jede Leistung konstitutiv. Ohne daß dadurch ihre ursprüngliche Dignität beeinträchtigt würde, ist die theoretische Leistung nicht anders denkbar als umspannt von der ihrerseits autonomen Entfaltung des Entwurfs. Ebenso vermag das axiotische Urteil nur von einem solchen zu prädizieren, das als prinzipiell bestimmbar, und das heißt: als theoretisch bewältigbar gekennzeichnet werden muß. Als Momente der Grundlegung überhaupt werden uns also einerseits die Ursprünglichkeit jeder Leistungshinsicht und andererseits ihre Einheit im System der Grundlegungen faßbar. Jene findet ihre Bestätigung in der Unendlichkeit der spezifischen Reflexion und in ihrer Universalität allen konkreten Erfüllungen gegenüber, diese wird durch den Begriff des Umspannens denkbar. Was wurde mit diesen Erwägungen für die Bewältigung unserer Schwierigkeit gewonnen? Fällt also das System, zu dem sich theoretische und axiotische Leistung ergänzen, mit jenem anderen der Grundlegungen überhaupt zusammen? Über die Momente dieses allumfassenden Systems haben wir uns inzwischen Aufklärung verschafft. Die Grundbestimmungen des ersten seien kurz noch einmal aufgeführt. Das theoretische Urteil wird einerseits durch ein axiotisch sich rechtfertigendes Ich vollzogen. Andererseits ist der Gegenstand des axiotischen Urteils — der Notwendigkeit der Orientierung des Ich in der Welt gemäß — ein Bestimmbares. Einerseits hat der (axiotische) Entwurf seine Stelle in der Welt des theoretischen Denkens, andererseits findet ein jeglicher Gedanke der Theorie nur im Entwurf durch ein konkretes Subjekt seine Verwirklichung und wird so in den Bereich jener Verantwortung einbezogen, die der freihandelnde Geist für seinen eigenen Bestand übernehmen muß. Die Dimension, in der theoretische und axiotische Leistung einander fordern, ist die der primären Gegenständlichkeit. Die primäre Leistung ist in ihrer Gegenständ13

B. Bauch, Wahrheit, Wert und Wirklichkeit. Leipzig 1923, Vierter Teil, 1,3, besonders S. 484 f.

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Das Problem der Geltungsgrundlegung

lidikeit durdi die Termini der beiden ersten Leistungsbereidie vollständig bestimmt. Allein diese Bestimmung ist in den Grundbestimmungen von „Geltungssphären überhaupt" noch nicht eingeschlossen, sie stellt bereits eine Spezifikation des Grundlegungsgedankens dar. Im Prinzip sind weitere Spezifikationen denkbar, denen gegenüber das erste System (die Korrelation von Wahrheit und Wert) als eine geschlossene Sphäre fungieren würde. Das erste System umfaßt also die theoretische Leistung wie den axiotischen Entwurf, der jene zwar überbietet, aber zugleich in ihr seinen Ansatz sucht. Ist diese Welt auch „weggegeben", so besteht doch noch keine Notwendigkeit, das erste System für die einzig mögliche Erfüllung von Grundlegungsbedingungen zu halten. Allerdings muß jedes weitere System den Bedingungen der Grundlegung überhaupt gehordien, die wir in der möglichen systematisdien Einheit und in der Ursprünglichkeit der Leistungshinsichten ermittelten. Damit sind zugleich für jede folgende Geltungsspezifikation13 alle vorausliegenden ins Recht gesetzt.

" Das Problem der Geltungsgliederung (als Funktion einer Abwandlung der Grundkorrelation) begegnet uns bei P. Natorp und in der „vorontolog Ischen" Epodie N. Hartmanns (Näheres in meinem Aufsatz „Hartmanns Weg zur Ontologie", KantStudien, Bd. 54, 1963, S. 304 ff.). In diesem Zusammenhang verdient ein SeminarReferat Hartmanns, das Natorp bei der Ausarbeitung seiner für die Revision der eigenen Systemkonzeption wichtigen Abhandlung „Individualität und Gemeinsdiaft" verwertet hat, besonderes Interesse. Vgl. den Hinweis Natorps in: Philosophie und Pädogogik. Untersuchungen auf ihrem Grenzgebiet. 1. Aufl. Marburg 1909, S. 157 Anm., 2. Aufl. Marburg 1923, S. 109. — Das Manuskript Hartmanns, das den Titel „Über das Problem der Individualität" trägt, ist erhalten und soll in Kürze publiziert werden.

VI. Das Gedicht und die Gliederung der Objektivationen 1. Poetische und theoretische Gegenständlichkeit Die poetische Komplexion unterscheidet sich im Hinblick auf ihre Struktur und damit zugleich auch im Hinblick auf ihre Leistung als Verweisungsgröße vom theoretischen Urteilsgefüge. Wenn wir zunächst den Aufbau der poetischen Gefüge in Betracht ziehen, so zeigt sich im Fortgang der Verknüpfung poetischer Urteile eine abschließende Formation, die der Struktur des theoretischen Urteils notwendig fremd bleiben muß. Die Funktion der Bestimmbarkeit ist für die Theorie an keiner Stelle, nicht einmal dort, wo Setzung Gültigkeit impliziert, aufhebbar. Grundsätzlich anders verhält es sich, wenn wir den Urteilszusammenhang eines einzelnen Gedichts als ein Ganzes betrachten. Es kann angesichts des konkreten Gedichtes problematisch bleiben, ob wir es „verstehen", d. h. ob wir wissen, was mit ihm gemeint ist. Ferner können wir Zweifel haben, ob es überhaupt durchgehend verständlich ist. Kein Zweifel aber besteht daran, daß wir in ihm einen „Sinn" suchen, daß wir, sofern wir es für ein Gedicht und nicht einfach für „Unsinn" halten, voraussetzen, daß es etwas meint, unabhängig davon, ob wir dies Gemeinte schon gefunden haben oder ob wir es zu finden in der Lage sind. Wir setzen demgemäß stets auch voraus — und dieser Umstand ist hier entscheidend —, daß im Gedicht „alles gesagt" ist. Das Gedicht hat gegenüber unseren Ansichten, unserer Weltkenntnis (gegenüber unserem theoretischen Wissen etwa über die im Gedicht behandelten Gegenstände — wie: Wallenstein, Egmont etc.) eine eigene Valenz. Es hat in einem recht verstandenen Sinn Offenbarungscharakter. Wir dürfen kein Wort dazutun und keines davon wegnehmen, wenn wir ihm nicht Gewalt antun und vielmehr seinen Sinn erschließen wollen. Wir müssen stets zwischen dichterischer Aussage und Interpretation, zwischen Text und Erläuterung unterscheiden. Wenn wir ein Gedicht, etwa weil wir es „besser" zu wissen meinen, verändern: vereinfachen, verkürzen oder ergänzen, bringen wir uns um seinen ursprünglichen Sinn1. Das Entscheidende ist, daß es hier kein „besseres Wissen" geben kann. Bei der Interpretation eines theoretischen Textes verhält es sich grundsätzlich anders. Audi hier müssen wir zunächst die ursprüngliche Meinung des Autors erschließen. Diese Meinung ist aber für uns alles andere als Offenbarung. Sie ist notwendigerweise Gegenstand unserer 1

Das Problematische des Verkürzens und Verlängems zeigt H. Lotze in: Anfänge spiritistischer Conjecturalkritik. Eine Geistergeschichte. Abgedruckt in: Kleine Schriften. Hrsg. y. D. Peipers, 3. Bd. 1. Abt. Leipzig 1891, S. 438 ff. (aus der Deutschen Revue, Jg. 4, 1879).

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Die Gliederung der Objektivationen

Kritik: wir nehmen sie begründeterweise an oder wir weisen sie begründeterweise ab, korrigieren, ergänzen sie usf. Gewiß ist auch das Gedicht keine fraglose Offenbarung. (Hier erfährt der Begriff der Offenbarung seine charakteristische Einschränkung.) Wir dürfen allerdings fragen, warum der Dichter etwas so und nicht anders gemacht habe. Niemals indessen dürfen wir sagen, daß er es anders hätte machen müssen — wir können allenfalls feststellen, daß der Autor seicht oder schwülstig verfahren sei. Und wir sind dann gehalten anzuerkennen, daß sich der Poet für das Seichte, Schwülstige oder für das Sentimentale entschieden hat; auf Grund dessen allein können wir ihn aber gerade nicht beschuldigen, die Wahrheit und in ihr die Bestimmtheit jenes Unabhängigen, das in seinem Gedicht gemeint ist, verfehlt zu haben. Das poetische Urteilsgefüge ist eine selbstgenugsame Welt. Es muß die Idee seiner Bestimmtheit offenbar zu seinem Bestände in sich tragen. Das theoretische Urteil aber und jeder theoretische Urteilszusammenhang haben ihre Wahrheit nur in anderen Urteilen. Die Idee theoretischer Bestimmtheit erfüllt sich in der Idee aller theoretischen Urteile, deren Allheit niemals gegeben, sondern immer nur aufgegeben sein kann, so wahr sie aller Gegebenheit und Positivität ihren Ort erst anweist. Im poetischen Urteilsgefüge indessen ist die Bestimmtheit zugleich gegeben. In der poetischen Komplexion ist die Erfüllung der Idee zugleich die Überwindung des Abstandes, der die Idee der Gegenständlichkeit und das konkrete Sinngefüge scheidet. In der theoretischen Leistung schließt Erfüllung Abstand ein, in der poetischen hebt die Erfüllung den Abstand gerade auf. Damit ist die poetische Komplexion definierterweise geschieden von „Verstoß", Irrtum und Falschheit, wie sie überhaupt vom Beziehungsgefüge der theoretischen Wahrheit geschieden ist. Aus diesem Strukturuntersdnied resultiert der Leistungsunterschied: der Gegenstand der Poesie kann dementsprechend keine Stelle in der einigen Welt der Theorie finden, oder präziser: er istsubspecie der Theorie in seiner Vereinzelung und Selbstgenügsamkeit nur Gegenstand und nicht auch Welt, und wenn er gleichwohl — im Sinne der poetischen Intention — auch Welt ist, d. i. ein Horizont, in dem gliedernde Bestimmung sich vollzieht, dann in einer „Entfernung ohne Rückkehr" 2 verharrend gegenüber der primären Welt, die der ursprüngliche Erfahrungshorizont der Theorie ist. Die Wissenschaft ist außerstande, die poetischen Welten in ihren ursprünglichen Erfahrungshorizont einzuordnen. Sie vermag freilich deren „Entfernung" prinzipiell und auch in concreto zu ermitteln. (Das eine versucht die Philosophie der Dichtung, das andere die Literarhistorie zu tun.) Diese Entfernung ist allerdings nicht mit innerweltlichen Maßen und Relationen zu bestimmen, weil sie jedesmal über die primäre 8

N. Hartmann, 35. Kapitel.

Möglichkeit und Wirklichkeit. Berlin 1938, S. 274, vgl. dort das ganze

Poetische und theoretische Gegenständlichkeit

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Welt, die der ursprünglichen Erfahrung korrespondiert, hinausweist. Die Entfernung der poetischen Welten von der primären Welt der Erfahrung bildet die Grundfrage sowohl für alle prinzipientheoretisch-systematische wie auch für alle positive Erörterung des Problems und der Probleme der Dichtung. Die poetische Komplexion hat keinen Teil an den Konstituentien des Leistungssinnes der theoretischen Komplexion. Sie kann um ihrer Indifferenz gegen die Regeln theoretischer Bestimmung willen nicht als eine Größe gedacht werden, die durch die erste Geltungsgrundlegung (die theoretische Idee) prinzipiiert ist. Daraus ergibt sich, daß der Gegenstand des Gedichts nicht ein solcher der primären Welt sein kann. Die primäre Welt (Sphäre) als Inbegriff der Gegenstände möglicher Erfahrung ist das Korrelat des theoretischen Denkens und nur des theoretischen Denkens. Damit ist indessen die Reichweite der Wissenschaft nicht ausgemessen. Das theoretische Denken ist universales Denken. Seiner Gegenständlichkeit kann sich prinzipiell nichts entziehen. Und so wie es sich selbst in mehreren Hinsichten zum Gegenstande zu machen vermag, so kann es auch jedes andere, nichttheoretische Denken zu seinem Gegenstande machen und gleichfalls kann es sich auch auf die Gegenstände eines nichttheoretischen, eines in anderer Geltungshinsicht grundgelegten Denkens richten. Nur, und das ist entscheidend, muß dann die Wissenschaft die Gegenstände eines solchen nichttheoretischen Denkens als in diesem anderen Denken ursprünglich schon vermeinte sich zum Gegenstande machen. Indem das theoretische Denken solcherart die Gegenstände eines nichttheoretischen Denkens in ihrer ursprünglichen Vermeintheit sich zum Gegenstande macht, nimmt es doch nicht den Standpunkt des jeweiligen nichttheoretischen Denkens selbst ein. Dies zu beachten ist wichtig. Wo also der Gegenstand des poetischen Denkens, insbesondere aber der Gegenstand eines besonderen konkreten dichterischen Gedankens wissenschaftlich in den Blick gebracht wird, konkurriert die Theorie keinesfalls mit dem poetischen, schaffenden oder nachschaffenden, Weltverständnis selbst. Die Wissenschaft würde in einer solchen Weise des Verständnisses ihr eigenes Wesen verfehlen. Theorie ist als Denken in universaler Gegenständlichkeit konstituiert. Das besagt hier, daß in einem solchen Felde die Wissenschaft nicht allein einem anderen (als ihrem primären) Gegenstande gegenübersteht, sondern daß sie diesen Gegenstand auch als einen anderen denkt, und das heißt: im Abstände von den Gegenständen der primären Welt, die ursprünglich in ihrer Gegenständlichkeit nur ihr zugeordnet sind. Die Wissenschaft setzt sich also, um diese sekundären Gegenstände in der rechten Weise zu bestimmen (und das ist für sie diejenige, die den Prinzipien der Theorie genügt), keineswegs an die Stelle des nichttheoretischen Denkens. Sie „versetzt" sich, in diesem Falle, nicht einfach „in die Lage" des Schaffenden oder des Nachschaffenden. Und

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Die Gliederung der Objektivationen

sowenig die Wissenschaft bei der Bewältigung sekundärer Gegenständlichkeit das nichttheoretische Denken zu verdrängen oder zu ersetzen vermag — dazu ist der wissenschaftliche Geist seiner Eigenart nach durchaus untüchtig 3 —, sowenig kann sie dieses entbehren. Die Vermittlung durch das nichttheoretische Denken stiftet ja gerade erst den Abstand von primärer und sekundärer Gegenständlichkeit, von primären und sekundären Gegenständen. Die Eigenart des universalen Denkens aber ist es, über jede spezifische und für es partielle Gegenständlichkeit hinauszutreiben und damit das Eine unterschieden vom Anderen und: das Eine in Bezug auf das Andere zu denken. Der Abstand von Gegenständlichkeiten, wie ihn das theoretische Denken in den Blick bringt, kann nur in einem ursprünglichen Denken (oder Verweisen oder Gestalten) grundgelegt sein, da das theoretische Denken selbst aber schon eine ursprüngliche Gegenständlichkeit eröffnet, nur in einer anderen Weise oder in anderen Weisen des Vermeinens.

2. Poetische und axiotische

Gegenständlichkeit

Oben wurde die Grundstruktur des Abstandes und des positiven Bezuges von theoretischer und poetischer Gegenständlichkeit charakterisiert. Mit der Abhebung von der theoretischen Grundlegung rückt die des Poems in die Nähe und an die Seite der axiotischen Grundlegung. Es sind zwei Momente, die uns die Grundlegung der poetischen Komplexion nach Weise der axiotischen nahelegen. Einmal wird auch im Wollen etwas gesetzt, das es nicht gibt, das es möglicherweise nie geben wird. Zum anderen ist offenbar auch die axiotische Komplexion in der Weise abgeschlossen, daß die Entwürfe, in denen sich das Wollen für die eine oder die andere Zukunft entscheiden muß, unvereinbar nebeneinander stehen. Die axiotische Komplexion unterscheidet sich charakteristisch von der theoretischen Komplexion. Das, was im axiotischen Entwurf vorwegnehmend gedacht wird, ist nicht einfach das, was der Naturprozeß heraufführt. Das, was im axiotischen Entwurf gedacht wird, tritt nicht mit Notwendigkeit nach Bedingungen der N a t u r ein, es ist vielmehr unter der Bedingung gesetzt, daß es durch menschlichen Einsatz verwirklicht werde. Ferner werden in der axiotischen Komplexion unter dem Zwang, sich 8

Theoretische Bildung und theoretische Beschäftigung mit Gegenständen der Kunst garantieren allein noch keineswegs auch schon ästhetisches Verständnis und ästhetische Bildung. Alles Hören-, Sehen-, Empfinden-Können sind in theoretischer Urteilsfähigkeit noch nicht eo ipso eingeschlossen. Und sie sind unerläßliche Voraussetzungen zumindest der positiven Kunstwissenschaft. Der Kunstwissenschaftler, der zu sehen oder zu hören weiß, kann auch der Theorie unter Umständen größere Dienste leisten als derjenige, dessen Fähigkeit vorwiegend in begrifflich-ordnender Bewältigung ausgebildet ist. Die Kunstwissenschaften brauchen als X«»itwissenschaften und Kunstwissenschaften natürlich beides.

Das Gedidit im Felde des Gegenständlichen

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entscheiden zu müssen, die verfügbaren Einsichten über das Umzuwandelnde in jeweiliger Abgeschlossenheit ohne Rücksicht auf die weitere Ausgestaltung durch die Theorie in den Entwurf eingesetzt. Gegenüber diesen charakteristischen Unterschieden von axiotischer und theoretischer Komplexion ist die notwendige und enge Bezogenheit beider festzuhalten: Die axiotische Komplexion bestimmt ein Seinsollendes als ein solches, das aus einem Seienden „zu machen" ist. Damit ist einmal gefordert, daß das Umzuwandelnde als das gedacht werde, das es an sich selbst ist, zum anderen, daß der Entwurf sich für ein solches entscheide, das durch Umwandlung aus dem Seienden hergestellt werden kann. Damit tritt ein Doppeltes in den Blick: 1. Die unendliche Bestimmbarkeit des (umzuwandelnden) Gegenstandes bleibt unaufgehoben, auch wenn in der jeweiligen axiotischen Komplexion der Progreß der theoretischen Bestimmung abgebrochen wird. 2. Der spezifische Gegenstand der axiotischen Komplexion muß sich als anschließbar an Weltgegenstände, wie sie an sich selbst sind, denken lassen. Der axiotische Entwurf fungiert als spezifische Modalisierung der theoretischen Bestimmung. Die Abhebung der poetischen Komplexion ist also aus dem gleichgeordneten Bestimmungscharakter des axiotischen Entwurfs verständlich. Wir müssen die Gründe namhaft machen, die uns zur Behauptung der theoretischen Indifferenz der poetischen Komplexion veranlassen, um die Andersheit der poetischen Komplexion audi zur axiotischen Komplexion zu konstatieren.

3. Das Gedicht im Felde des Gegenständlichen Daß wir die Abhebung der poetischen Komplexion gegen die axiotisdie Komplexion mit den gleichen methodischen Mitteln durchführen wie die gegen die theoretische Komplexion, könnte vielleicht befremden. Allein wir sehen, daß es dieselbe Grundbestimmung ist, die der poetischen Komplexion mangelt und die für theoretische und axiotische Komplexion konstitutiv ist. Diese Grundbestimmung ist die der primären Gegenständlichkeit jener Komplexionen. (Die primäre Gegenständlichkeit muß der jeweiligen Komplexion aus ihrer Stellenbestimmtheit im All der Bestimmung, d. h. im System der Theorie, zufließen.) Die primäre Gegenständlichkeit aber erweist sich als schlechterdings konstitutiv zugleich für den Zusammenschluß der theoretischen und der axiotischen Komplexion zu einer Leistungseinheit, die jede andere Setzungsgröße eben um der Bedingung der primären Gegenständlichkeit willen aus ihrem Bereich weist. Aus dem Umstand, daß sich (theoretische) Bestimmung und (axiotische) Entscheidung durch die Vermittlung des Begriffs der primären Gegenständlichkeit zu einem Ganzen zusammenschließen, das kein Drittes mehr in dieser Dimension der Grundlegung zuläßt, ergibt sich die Konsequenz, daß die unter Zugrundelegung dieses vermittelnden Prinzips getätigte Abgren-

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Die Gliederung der Objektivationen

zung gegen den einen Geltungsbereich auch die ausschließende Abgrenzung gegen den anderen fordert. Also: Was sich nicht als Bestimmung ausweisen läßt, das kann sich auch nicht als Entscheidung ausweisen lassen und umgekehrt. Dem widerspricht audi keineswegs ein Umstand, der uns neben anderen die Erprobung der axiotischen Grundlegung nahegelegt hatte: D i e strukturelle Abgeschlossenheit der axiotischen Komplexion. Der faktische Abschluß, der in der axiotischen Komplexion den Progreß der Bestimmung abschneidet, widerstreitet im Gegensatz zum Abschluß der poetischen Komplexion keineswegs dem Prinzip der Bestimmbarkeit. Die funktionale Ergänzung von theoretischer und axiotischer Ge/i«rags- (Leistungs-) Hinsicht blieb durch diese Strukturentsprechung unaufgehoben. Das aber» was der einen dieser beiden Hinsichten aus Geltungsgründen fremd ist, das ist auch von der Einheit ausgeschlossen, die aus beiden resultiert. Diese Einheit von Bestimmung und Entscheidung, in der die theoretische Leistung wirklich und die axiotische Leistung allein möglich werden kann, ist durch das Prinzip der primären Gegenständlichkeit bestimmt. Nur ihr Horizont vermag die Hinsichten des wertfreien Urteils und der gerechtfertigten Handlung, die Idee des Weltbegriffs und die Idee des Menschen zu umschließen. Wir kennzeichnen diesen Leistungsbereich, der nicht der einzige mögliche ist, zugleich als den primären. Die poetische Komplexion weder als theoretische noch als axiotische zu denken, bedeutet neben der Feststellung der Fiktivität und der bestimmten Unverantwortlichkeit ihres Sinnes, daß sie überhaupt (auch als „Sinn") als ein Anderes als die primären Komplexionen gedacht werden muß. Der Verweisungssinn der poetischen Komplexion betrifft weder einen primär intendierbaren Weltgegenstand noch (im Entwurf) die primär fundiert sich realisierende Subjektivität. Die poetische Komplexion ist ein Anderes der primär bezogenen und gerichteten Leistungsgrößen. Durch den Begriff der primären Gegenständlichkeit ist die Unterschiedenheit von Theorie und Axiotik keineswegs eingeebnet. Die Bestimmung, das ist festzuhalten, ist innerhalb des primären Leistungsbereichs das Vorgängige. Erst in der universalen Weltkonstitution vermag jene spezifisch modifizierte Bestimmung, die der Entwurf der Subjektivität ist, lokalisiert zu werden, oder anders ausgedrückt: Bestimmtheit als Bestimmung zu erlangen. Zwar, der Weltbegriff vermag weder als Idee noch in seiner kategorialen Auffaltung die Bestimmungen, die um der Konstitution der Subjektivität willen getätigt werden, spezifisch zu determinieren, gleichwohl verleiht er ihnen, ist diese spezifische Determination vollzogen, Bestimmtheit als Bestimmung. Die Horizonte wertgeleiteter (axiotischer) Betätigung zeichnen sich in den universalen Welthorizont ein. Für die geltungstheoretische Deduktion ist bedeutsam, daß die axiotischen Hinsichten nur aus der durch den Ansatz bestimmten Differenzierung des reinen („theoretischen") Ich

Prinzipientheorie, Reflexion und Folge der Analyse

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zur offenen Vielheit zu entspringen vermögen. Die Vielheit der Instanzen als eingeschränkter Horizonte des umfassenden Welthorizonts aber weist zugleich über die Weltidee hinaus. Das Ich muß sich zwar stets in der Welt entwerfen, das hindert es aber nicht, sich als ein Anderes und Höheres als das, was es nach Naturgesetzen sein wird, zu entwerfen 4 . Ja, was es sein wird, das kann prinzipiell gar nicht in den Entwurf mit eingehen. Dort wo die ansatzbedingte Vielheit sich als Gemeinschaft konstituiert, unterwirft sie sich bereits ihrer sowohl überweltlichen als auch übertheoretischen Idee. (Dem korrespondiert die Konstitution des Einzel-Ich als Persönlichkeit.) Der Vorgängigkeit der Bestimmung gemäß bezeichnen wir alles, das ein Anderes der primären Komplexion ist, um der schlechterdings uneingeschränkten Anwendbarkeit der Bestimmung willen als Bestimmtes. Die primäre Komplexion liegt hinsichtlich ihres Leistungssinnes allem Bestimmten voraus. Sie ist in ihrer Möglichkeit als ungegenständlich bestimmt (eben im System der Bestimmungen). Die poetische Komplexion ist also, als ein Anderes der primären Komplexion, zugleich als Bestimmtes, als Gegenstand, bestimmt. Diese Andersheit drückt einen bestimmten Bezug der auseinandertretenden Größen aus. Die poetische Komplexion ist weder hinsichtlich der theoretischen noch hinsichtlich der axiotischen Komplexion als ein Unbezogenes zu denken. In seiner Gegenständlichkeit ist das Gedicht als Thema (auch positiver) theoretischer Bemühung ausgewiesen. Ebenso steht es in seiner Andersheit in definiertem Bezug zum axiotischen Entwurf. Es ist nicht Entwurf, sondern Entworfenes. Unseren Absichten mag die minimale Kennzeichnung des Bezuges, der in der Konstatierung der Andersheit zum Entwurf liegt, genügen, diese nämlich, daß nur solches, das sich zugleich — in welcher spezifischen Modifikation auch immer — als Bestimmtes auslegen läßt, überhaupt als Gegenstand von Entwürfen in Betracht kommt.

4. Prinzipientheorie, Reflexion, Einstellung auf Ungegenständliches. Grundlegungsgefüge und Folge der Analyse Die Andersheit des Gedichtes impliziert ursprünglich konkrete, positive Gegenständlichkeit. Das Andere ist also nicht jener Gegenstand, der der Reflexion erscheint. Auch die prinzipienanalytische Reflexion ist Theorie und also hinsichtlich ihrer Geltungsdifferenz primäres Denken. Das Denken wechselt seine universalsystematisch orientierte (und also primäre) und seine universalsystematisch gerichtete (und also theoretische) Einstellung nicht, wenn es sich Prinzipien zuwendet. Diese Einstellung ist 4

Zur Theorie des Entwurfs vgl. R. Hoffmann, Zur Analytik des Gemeinschaftsbegriffs. Phil. Diss. Würzburg 1961, insbesondere die §§ 26—38 (S. 48 ff.).

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Die Gliederung der Objektivationen

allerdings nicht die ursprüngliche der unmittelbaren und positiven Theorie. Das Denken geht in der prinzipienwissenschaftlichen Reflexion gemäß der systematischen Kohärenz aller Prinzipien stets auch auf seine eigenen Bedingungen zurück. Es bleibt, wie die mißverständliche subjektivistische Wendung lautet, bei sich selbst. Das, wobei das Denken hier bleibt, oder wohin es vielmehr erst in dieser fundamentaltheoretischen intentiosecunda et obliqua gelangen muß, ist niemals das Denken in seiner konkreten Bestimmtheit, wenigstens nicht in seiner jeweiligen konkreten Bestimmtheit. Nur so viel ist sicher, daß das, zu dem es gelangt, ein anderes ist als die Gegenstände des positiven Denkens. Es ist überhaupt kein Gegenständliches, sondern ein Ungegenständliches. Der umfassende Inbegriff dieses Ungegenständlichen ist der Inbegriff der Prinzipien. Die prinzipienanalytische Reflexion bedeutet also zunächst nicht dieses, daß das Denken, womöglich als einzelnes, sich auf sich selbst richtet — das kann es auch in durchaus positiver, wiewohl potenzierter Einstellung tun —, sondern daß es sich von den Gegenständen abwendet. Das gilt gleicherweise für die Prinzipienanalyse, die sich in der Gnoseologie, Axiologie und Ästhetik vollzieht, wie für diejenige, die Sache der Kosmologie und Ontologie ist. All diese Prinzipienwissenschaften sind keinesfalls in gegenständlicher Einstellung möglich und auch nicht in einer „Verlängerung" der gegenständlichen Einstellung, sondern vielmehr nur in einer Umkehr und — in einer Abkehr vom Gegenständlichen. Denn die Prinzipien prinzipiieren stets in ihrem Totalgefüge. Nur die Analyse kann hier Scheidungen vornehmen, doch nicht ohne die Rücksicht auf die Totalität in jeder ihrer Setzungen (explizit oder implizit) mitzudenken. Im Prinzipienfelde fällt nichts „auf die Gegenstandsseite", auch das nicht, was das gegenständliche Korrelat einer Intention grundlegt. Die Prinzipientheorie, die sich (wie im Marburger Neukantianismus) nur als Subjektstheorie verstehen zu müssen meinte, war auf einem Irrweg. Eine Theorie, die die Prinzipien „des Gegenstandes" in gegenständlicher Einstellung ermitteln zu können glaubt, ist es nicht minder. Die Prinzipien stehen, und zwar als systematisch geschlossenes Gefüge, in unaufhebbarem Gegensatz zum Konkreten. Ihre Symploke5 fordert ferner, daß die fundamentalen Prinzipien des einen Konkreten, etwa die des Denkens, zugleich alle übrigen Prinzipien implizieren müssen. Prinzipientheoretisch bedeutet das, daß die Ontologie zum Beispiel nicht etwa eine beliebige Fortsetzung darstellt, zu der ich von der Erkenntnistheorie aus fortschreite, wenn ich kann oder mag, sondern daß die Lehre von den Seinsprinzipien eine notwendig zu fordernde Ergänzung ist, ohne die auch die Befunde der Gnoseologie nicht in systematisch gegründeter Weise bestimmt werden können. 5

Zur Bedeutung der Prinzipien-Symploke: G. Martin, Aufbau der Ontologie. Blätter für Deutsche Philosophie. Bd. 15 (1941/42); wiederabgedruckt in: Gesammelte Abhandlungen, Bd. I. Köln 1961, S. 167 ff.

Bestimmung und Bestimmtes

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In einer Hinsicht besitzt die Abhebung von Subjektstheorie und Ontotogie allerdings ein echtes systematisches Motiv, das freilich in Subjektivismus und Ontologismus zu spekulativen Einseitigkeiten führt: Die Prinzipienanalyse ist unabhängig von dem Zugleich der Prinzipien auf eine methodische Folge verwiesen. (Diese Folge ist orientiert durch den ursprünglich bestimmten Ansatz unseres positiven theoretischen Denkens.) Was im Reiche der Prinzipien und im Gegensatz zur Außereinanderbestimmtheit des Konkreten an sich zugleich bestimmt ist, das ist es von Anbeginn an nicht auch für uns. Die Analyse nimmt ihren Ausgang bei der Erkenntnis der Gegenstände, näherhin bei der Gegenstandserkenntnis in ihrer elementarsten Gestalt. (Diese ist zugleich diejenige, die sich in ihrem idealen Aufbau als schlechterdings einiges Gefüge erweist.) Die Möglichkeitsbedingungen dieses Denkens sind das erste Thema aus zum Gegenstande dieses Denkens, das heißt also zu den Bedingungen der Prinzipienanalyse. Diese schreitet erst von dieser ersten Einstellung seiner Möglichkeit, fort, um schließlich auch das Denken in seiner gegenständlichen Bestimmtheit (also wiederum: die Prinzipien, die diese ermöglichen) zu bedenken und dann die gegenständlichen Korrelate eines solchen gegenständlich differenzierten Denkens. Der Wegabschnitte der Analyse sind mehrere. Wenn sie schließlich ihren Weg durchlaufen hat, und erst dann, hat sie zugleich den Vollbegriff des Denkens und den Vollbegriff des Gegenstandes erschlossen. Denn beide, Denken und Sein, sind bei weitem mehr als bloß Denken und bloß Nichtgedachtes. Sie bedingen in ihrem Grundlegungsgefüge einander wechselseitig in der vielfältigsten Weise. Diese Vielfalt repräsentiert zugleich vollkommene Ordnung, denn sie ist der Gedanke der Ordnung selbst. In der Erschließung dieser Ordnung findet alle Prinzipienanalyse ihre unendliche Aufgabe.

5. Bestimmung und Bestimmtes Das Problem des spezifischen „Abschlusses" poetischer Gehaltskomplexionen, d. h. die Frage ihrer Abschließbarkeit mit Rücksicht auf den Leistungssinn, mit Rücksicht also auf die gegenständliche Funktion dieser Urteilsart, ist jetzt unter neuem Aspekt spruchreif. Wir erinnern uns: Der Abschluß, in dem die Verknüpfungsfolge poetischer Komplexionen im jeweiligen Poem ein Ende findet, war zunächst ein Phänomen, in dem uns der Abstand der poetischen Komplexion von der theoretischen faßbar wurde. Unabschließbarkeit als universale Beziehbarkeit ist die Grundstruktur jedes theoretischen Urteils. Damit aber, daß sich dieses — poetische — Denken, obschon es gleichwohl nach Struktur und Leistungsbestimmtheit ein Denken ist, nicht dem Prinzip universaler Bestimmbarkeit fügt, bleibt es in unaufhebbarem Abstand von allem theoretischen Denken. Abstand ist zunächst nur eine negative Bestimmung, die sogleich

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Die Gliederung der Objektivationen

freilich ihre positive Ergänzung fordert: jedes Andere der Theorie ist — sub specie der Theorie und nur unter ihrem Aspekt — Gegenstand. Es ist im Hinblick auf die theoretische Bestimmung Bestimmtes. Das bedeutet also dieses, daß das poetische Urteil auch als Gegenstand anerkannt werden will, oder schärfer bezeichnet: daß sein Bestand daran geknüpft ist, daß es als Gegenstand anerkannt wird. Mit dieser näheren Bestimmung verweisen wir darauf, daß es ein anderes ist, als möglicher Gegenstand gewertet werden zu können, ein anderes, in dieser Wertung zugleich in ursprünglicher Bestimmtheit erschlossen zu werden. Auch theoretische Urteile sind mögliche Gegenstände. (Es geht hier durchweg um Gegenständlichkeit für primäre, positive Theorie, also etwa solche im Hinblick auf Wissenschaftsgeschichte.) Der grundlegende Unterschied ist nur der, daß sich hier Urteil (die wissenschaftsgeschichtlichen Urteile) und Beurteiltes (die wissenschaftsgeschichtlich erforschten Urteile) einem Geltungsfelde, dem universalen Gefüge möglicher Theorie einordnen lassen müssen. Die Möglichkeit der Einordnung ist Bedingung der Möglichkeit zugleich des Bestandes auch der beurteilten Urteile. Sie werden in ihrer Vergegenständlichung nicht als ein Anderes der Theorie, sondern eben als theoretische Gebilde erfaßt. Es handelt sich in diesem Fall, obwohl in positiver Einstellung, um theoretisches Denken über theoretisches Denken, d. h. um potenziertes theoretisches Denken — eine Beziehung, die dem universalen theoretischen Relationsgefüge selbst immanent bleibt. Das geschichtlich thematisierte theoretische Denken bleibt also gleichwohl durch seine theoretische Systembestimmtheit in seinem „Bestände" grundgelegt, sein „Sein" ist (und das schließt seine Geschichtlichkeit nicht aus, sondern ein) durch theoretische Geltungsbetroffenheit ermöglicht. Anders das poetische Urteil, sein Sein und Bestand sind von anderer Art. Es ist ein Anderes. Mag sein Bestand auch immer Geltungsbetroffenheit sein, diese ist nicht theoretische Geltungsdifferenz. Daß das Gedicht wesentlich Gegenstand ist, macht in bestimmter Hinsicht und freilich unter charakteristischen Einschränkungen seine Betrachtung nach Art eines „Gebildes", als eine Art „Ding", möglich. So habe ich etwa ein poetisches „Bild" vor mir oder eine begrenzte Welt — gleichsam ein fremdes Land, das ich betrete und wieder verlasse. Schließlich ist das Gedicht ein geschliffenes Gebilde von bestimmter Formung, dessen besondere Gestalt mir betrachtbar wird. Ehe wir jedoch die theoretische Valenz der Andersheit der poetischen Komplexion und somit die ihrer Gegenständlichkeit weiter analysieren, eine Nebenbemerkung: Es könnte scheinen, als hätten auch Theoreme, Philosopheme etwa, einen ähnlichen Bestand, als seien sie für sich bestehende Welten, in die ich (wie weit auch immer) einzudringen vermöchte. Doch, von ästhetischen Verhaltensweisen gerade abgesehen, bedeutet Eindringen hier etwas ganz anderes als im Falle des Gedichts: es bedeutet Aneignen, Einsehen oder Verwerfen. Immer prüfe ich meine

Die Gliederung des Gegenstandsfeldes

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Urteile an denen der anzueignenden Theorie und die der anderen Theorie wiederum an den Urteilen der meinigen. Das gilt übrigens auch und gerade dort, wo ich das andere Theorem in seiner Geschichtlichkeit zu begreifen suche; auch den geschichtlichen Bestand eines Theorems habe ich immer nur in dem Maße verstanden, in dem ich es — verstanden habe. (Alles andere ist nicht Verständnis, sondern allenfalls Vorbereitung für ein solches.) Ich verstehe mit anderen Worten eine Theorie immer nur dann, wenn ich sie im gleichen Medium begreife, in dem auch meine, des Beurteilers, theoretische Einsichten ihre Stelle haben. Und in dieser gemeinsamen Ordnung, außerhalb deren kein theoretisches Denken bestimmt ist, muß zugleich der Abstand zwischen diesem und jenem Denken bestimmbar sein. Damit kehren wir zurück zum Problem des poetischen Urteils. Hier ist der Abstand ein solcher, der diese gemeinsame Ordnung aller Theorie grundsätzlich transzendiert. Die Gehaltstheorie, die uns den Ansatz der Analyse ermöglichen mußte, erfährt nun eine bedeutsame Ausgestaltung. Wir sahen, daß gewisse Gehalte — gerade solche, wie sie uns in der Poesie vorliegen — nicht die Geltungsdifferenz der ursprünglichen Bestimmung teilen. Damit wird es notwendig, durch den Bereich der „Gehalte" einen Schnitt zu legen. (Wir hatten das bloße Phänomen einer Anspruchslosigkeit in theoretischer Hinsicht durdi den Begriff echter Indifferenz ersetzt. Daß die betreffenden Komplexionen den Regeln der Theorie nicht unterworfen werden können, wurde uns faßbar in ihrer spezifischen Strukturiertheit. Ferner wurde uns deutlich, daß diese Indifferenz jener anderen, axiotische Regelungen abweisenden, korrespondierte.) Damit ist die anfängliche Nebenordnung der Gehaltssphären, ihr Pluralismus, an dieser Stelle auf eine grundkorrelative Gliederungshinsicht zurückgeführt worden, auf die von Bestimmung und Bestimmtem. Der primäre Gehalt teilt den Charakter, mögliche Bestimmung eines jeglichen Bestimmten zu sein, mit keiner anderen Größe. Eine Theorie, die theoretische und ästhetische (bzw. poetische) Gehalte ihrem Leistungssinne nach als gleichwertig behandelt, findet hier ihre Grenze und ihre notwendige Ergänzung.

6. Die Gliederung des Gegenstandsfeldes Nun ist ein entscheidender weiterer Schritt zu tun: Das Bestimmte ist das Andere der Bestimmung (das Seiende das Andere des Denkens). Die Andersheit dieses Anderen wird zwar vom Denken gedacht, aber sie hat nicht im Denken ihren Grund. Bisher wurde die Unterschiedenheit des Dichtens vom Denken ermittelt, damit wird das Gedicht einem ganz bestimmten Felde eingeordnet. Wie man schon bemerkt haben wird, ist dies die Stelle, an der die Geltungstheorie durch eine ontologische Betrachtung abgelöst wird. Wir gehen davon aus, daß die erste inhaltliche

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Die Gliederung der Objektivationen

Gliederung dieses Feldes, das formal als Gegenstand überhaupt gekennzeichnet werden mag, die der Natur ist. Das schlechterdings Andere des Denkens ist in seiner in ersten positiven Bestimmungen gesetzten Bestimmtheit der Naturgegenstand. Es gibt keine Einteilungen, die dieser Aufgliederung des Gegenstandsfeldes (der Welt im weitesten Sinne) vorausliegen. Diese Aufgliederung ist der Aufbau der Gegenstandswelt, ausgehend von bloßen Formalbestimmungen und fortschreitend zu immer reicherer Inhaltserfüllung. Alle anderen Einteilungen, sollen sie ontologische Relevanz haben, müssen sich in sie einfügen lassen. Für den „Aufbau der realen Welt" ist das geläufig. Doch audi Gehalte werden erst dann aus dem Felde rein geltungstheoretischer Betrachtung herausgelöst und in das der ontologischen Betrachtung aufgenommen, wenn sie unter einem Aspekt gedacht werden, der sie in einem anderen Bezug zum Bestimmten denkt als in jenem, der in der Verweisung vorliegt, und zwar nicht oder doch nicht allein in der Relation des Leistungssinnes, sondern in einer anderen, in der dem Gehalt, über alle Geltungsvalenz hinaus, Valenz als Seiendes zufließt. Das Gedicht ist also als ein Anderes der Bestimmung und demgemäß als Gegenstand bestimmt. Die nächste Aufgabe liegt darin, es in seiner spezifischen Gegenständlichkeit freizulegen. Der Ausgang ist nunmehr festgelegt. Die erste Ordnung, die inhaltliche Bestimmungen des Gegenstandes als Gegenstand ermöglicht, ist die Natur als der Kontext gegenständlicher Erfahrung. Die Natur als das ursprünglich Leistungsfremde ist das Gefüge jener Dimensionen, die jeglicher konkreten Größe einen Ort gewähren muß. Der Gegenstand in seiner Andersheit findet hier seine erste materiale Bestimmtheit, die Bestimmungen selbst finden hier ihre erste gegenständlidie Valenz. Der Naturgegenstand gilt uns demgemäß als Letztbestimmtes. Soll die poetische Komplexion also als Bestimmtes gedacht werden, so ist ihre gegenständlidie Bestimmtheit in Bezug auf den Naturgegenstand anzugeben. Dieser Bezug kann, wie wir später sehen werden, zumindest in doppelter Weise gedacht werden. Wir knüpfen an das an, was wir zur Vorbereitung der Analyse ausführten. Wir hatten dort von der Beliebigkeit des physischen Trägers für den Gehalt gehandelt, von einer Beliebigkeit, die offenbar auch für die poetische Komplexion zutraf. Diese Beliebigkeit wurde uns in der Reproduzibilität des sprachlichen Satzes mit Rücksicht auf eine unbegrenzte Vielheit von physischen Gebilden einsichtig, seien dies nun die Träger der Sprachlaute oder die der Schriftzeichen. Potenziert konnten wir diese Beliebigkeit noch in der Möglichkeit der Übersetzung erfassen, der das Gedicht sich unleugbar, wenn auch unter besonderen seiner Eigenart angepaßten Bedingungen, als zugänglich erweist: Auch das sprachliche Gebilde noch, das jeweils die poetische Komplexion ausdrücken muß, schien demgemäß ein Äußerliches zu sein. Wir nahmen aus diesem Phänomen das Recht, von all diesen Umständen — vor allem den bloß naturalen —

Die Gliederung des Gegenstandsfeldes

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des Getragenseins absehend, das Gedicht als „Gehalt" für das Konkretum halten zu dürfen, von dem unsere erste Analyse ausgehen konnte. Es gilt das Verhältnis von Gedicht und Naturgegenstand zu erhellen. Daß die Gegenständlichkeit des Gedichts nicht mit der des Naturgegenstandes zusammenfällt, bedarf keines Wortes mehr. Wichtiger ist der andere Umstand, daß das Gedicht in der Natur offenbar nicht jene Lokalisation erfährt, die zugleich über individuelle Bestimmtheit entscheidet. Durch die Lokalisation wird das Gedicht, soweit wir bis jetzt sehen, keineswegs individualisiert. Das bedeutet: Der Bezug des Gedichtes auf den Naturgegenstand ist nicht derselbe, den wir im Aufbau eines realen Gebildes, das an mehreren Schichten teilhat, vorfinden. Eben deshalb eignet, im Hartmannschen Sinne, dem Gedicht kein reales Ansichsein. Die Phänomene der Reproduktion und der Ubersetzung legen es uns nahe, der Sphäre des Gedichtes den Charakter einer überbauenden oder gar überformenden Schicht abzusprechen. Das Gedicht ist als Gedicht nicht in der Weise größenbestimmt, wie Organismen es sind und jene höheren Gebilde, die Organismen „überbauen". In der Ordnung der Gegenstände muß die poetische Komplexion zunächst als ein Irreales erscheinen, denn die Unabhängigkeit des Gedichts von der untersten Schicht des Realen (vom Anorganischen) ist eine andere als diejenige, die den höherschichtigen Realgebilden zukommt. Das wird einerseits faßbar an der Weise, in der das Einzelne sich auf das Anorganische bezieht, zum anderen aber darin, welche Rolle das Anorganische bei der Wiederholung eben dieses Einzelnen spielt. Zum ersten: Das Anorganische ist nur in bestimmten Bereichen, deren Grenzen durch den Organismus selbst vorgezeichnet sind, organisierbar. Damit ist der Organismus zugleich von Bedingungen des Anorganischen abhängig. Die Grenzen seiner größeren oder geringeren Variabilität sind durch Minimal- und Maximalwerte gezogen. Es variieren nun aber keineswegs allein die Werte der tragenden Schicht. Die Bestimmtheit des Organismus ist selbst in den verschiedenen Exemplaren derselben Art wie in den aufeinanderfolgenden Lebensstadien desselben Exemplars variabel. Anders der „Gehalt": Wir können wohl eine Variation der Maßwerte denken, die den Trägern zukommen, allein es scheint vollkommen abwegig, darin zugleich eine Variation der Gehalte selbst zu vermuten. Einem Organismus wachsen mit anderen Werten des „Trägers" auch andere organische Funktionswerte zu. Der Gehalt aber scheint — wir beobachten bewußt Vorsicht, wenn wir das sagen — allen Maßbestimmungen der Natur entzogen. Kann denn auch — mit solchen Beispielen scheint der ganze methodische Sinn dieser Gegenüberstellung erledigt werden zu können — die Tatsache, daß ein Satz laut oder leise gesprochen, in großen oder kleinen Lettern gesetzt, mit roter oder blauer Tinte geschrieben wird, irgendwie seinen Sinn betreffen? Ist es diesem Sinn nicht

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Die Gliederung der Objektivationen

ohne Einschränkung äußerlich, ob er diesen Träger im Feld der physischen Größen findet oder einen anderen? Gewiß, es folgt auch nichts für die eigentümlichen Valenzen des Trägers aus der Bestimmtheit des Gehaltes, und der Gehalt hat an der Veränderlichkeit des Realen keinen Teil wie die höherschichtigen Gebilde. Der Gehalt also ist kein Überformendes wie der Organismus. Die Weise, wie sich seine Unabhängigkeit gegen das Anorganische von der bloßen Schichtenautonomie des Organismus abhebt, entscheidet auch über sein Verhältnis dem Organismus selbst gegenüber. Der Gehalt als eine solche Größe, die nicht naturaliter determinierend (regulierend) ist, kann auch im Organismus nichts anderes als einen puren Träger finden. Er findet ihn dort, wo Sprachlaute und Gesten durch den Organismus hervorgebracht werden. Die spezifische Unabhängigkeit des Gehalts tritt ferner auch in der Rolle zutage, welche das Anorganische bei der Wiederholung des Einzelnen, das einerseits der individuelle Organismus und andererseits der bestimmte Gehalt ist, spielt. Das Leben der Art erhält sich nur in einem unablässigen periodischen Reproduzieren von Individuen, denn der einzelne Organismus ist in seiner Lebensdauer begrenzt, die Kraft der Organisation erschöpft sich. Das einzelne organische Gebilde endet früher oder später und sinkt in das Reich der unbelebten Natur zurück. Nur eine lückenlose Reproduktion vermag die Art zu erhalten. Der objektivierte Gehalt muß nicht auf eine solche Weise seine Stelle in der Natur behaupten. Diese bleibt dadurch gesichert, daß er überhaupt irgendwo manifestiert ist. Die besondere Weise und die Verbreitung der Manifestation ist ihm äußerlich, denn nicht durch die Wiederkehr von Ähnlichem, das in einem vorgegebenen Spielraum als Variierendes determiniert ist, sondern durch die Wiederkehr Desselben ist das Verhältnis zwischen Gehalt und dem ihn manifestierenden Naturgegenstand bestimmt. Nach der Hartmannschen Disposition wäre nun auch noch das Verhältnis der poetischen Komplexion als eines Gehaltes zu den höheren Gebilden der realen Welt anzugeben, die ihre eigene Schicht-Valenz in einem Überbauungsverhältnis zu Natur und Organismus finden. Es ist für die Weiterführung unserer Argumentation an dieser Stelle nicht erforderlich, die Verhältnisse der Überformung und der Überbauung radikaler zu klären, als Nicolai Hartmann dies tun konnte und wollte; denn wir finden in jener Größe, die wir Gehalt nannten, die Schichtenautonomie, die im Uberbauungsverhältnis schon im Modus einer höheren Unabhängigkeit bestimmt ist als im Uberformungsverhältnis, fundamental überboten. (Dem sucht Hartmann in seiner Theorie des objektivierten Geistes Genüge zu tun 6 .) Das bedeutet, daß hier ebenso dieDependenz, • Eine gründliche Analyse und eingehende Würdigung des Hartmannschen Objektivationsbegriffs (unter Berücksichtigung des Hönigswaldschen Gestaltbegriffs) hat H .

Die Regionen des Transponiblen

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die auch einem jeden der höherschichtigen realen Gebilde ihren Ort in der Natur gibt, durchbrochen ist. Der Gehalt ist, wenn wir ihn in seinem Verhältnis zur Folge der unteren Schichten betrachten, weder überformend noch auch überbauend, er ist in seiner „Fixierung" durch physisches Material zugleich ablösbar von realen Gebilden überhaupt.

7. Die Regionen des

Transponiblen

Der Gehalt ist ein von allen realen Gebilden zu unterscheidendes Irreales. Er erschöpft sich nicht in seinem realen Vollzug und in seiner realen Manifestation. Seine Unterschiedenheit von allem Realen, seine Nicht-Realität, bedarf zu ihrer Möglichkeit eines positiven Grundes. Die Eigenständigkeit des Gehaltes gegenüber den realen Gebilden muß in eigenen Prinzipien gegründet sein. Diese Unabhängigkeit kann freilich keine Beziehungslosigkeit im Hinblick auf Reales bedeuten, denn der Gehalt ist notwendig als ein Vollziehbares und Manifestierbares und also als ein Realisierbares zu denken. Gleichwohl ist die Bezogenheit des Gehaltes nicht von der Art der Dependenz, die den höheren Äe