Vom Fenster aus gesehen? Perspektiven weiblicher Differenz im Erzählwerk von Carmen Martín Gaite 9783964561862

Die Autorin untersucht die Perspektiven weiblicher Differenz bei Martín Gaite und ihre spezifische Perzeption von Raum u

192 55 15MB

German Pages 199 [200] Year 2019

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
1. Vorwort
2. Literatur von Frauen - Überlegungen zur Theoriediskussion
3. Zur Diskussion um »literatura femenina« in Spanien und in der Hispanistik
4. Literatur in Diktatur und Demokratie - Das Werk von Carmen Martin Gaite in seinem gesellschaftlichen Bezugsfeld
5. Zum literarischen Verfahren
6. Perspektiven weiblicher Differenz
7. Schlußwort: Carmen Martin Gaite im Spiegel der Literaturkritik
8. Werkverzeichnis
9. Bibliographie
10. Register
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Vom Fenster aus gesehen? Perspektiven weiblicher Differenz im Erzählwerk von Carmen Martín Gaite
 9783964561862

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Annette Paatz

Vom Fenster aus gesehen?

Editionen der Iberoamericana Ediciones de Iberoamericana Serie A: Literaturgeschichte und -kñükJHistoria y Crítica de la Literatura

Serie B: Sprachwissenschaft/Lingú'w/ica Serie C: Geschichte und Gesellschaft///iííona y Sociedad Serie D: BibHographien/fliWiogra/íaf Herausgegeben von¡Editado por: Walther L. Bernecker, Frauke Gewecke, Jürgen M. Meisel, Klaus Meyer-Minnemann A: Literaturgeschichte und -kxitikJHistoria y Crítica de la Literatura, 4

Annette Paatz

Vom Fenster aus gesehen? Perspektiven weiblicher Differenz im Erzählwerk von Carmen Martin Gaite

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main

1994

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Paatz, Annette: Vom Fenster aus gesehen? : Perspektiven weiblicher Differenz im Erzählwerk von Carmen Martin Gaite / Annette Paatz.Frankfurt am Main : Vervuert, 1994 (Editionen der Iberoamericana: Serie A, Literaturgeschichte und -kritik; 4) Zugl.: Göttingen, Univ., Diss., 1993 ISBN 3-89354-854-8 NE: Editionen der Iberoamericana / A

© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1994 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Michael Ackermann Printed in Germany: Prisma Druck, Frankfurt

Inhaltsverzeichnis 1.

Vorwort

2.

Literatur von Frauen - Überlegungen zur Theoriediskussion

2.1.

Feminismus und Literaturwissenschaft - Die Ausgangslage: Von der Unmöglichkeit weiblicher Identität

2.2.

Und sie schreiben doch! Einige Konsequenzen für den Umgang mit Texten von Frauen

3.

Zur Diskussion um »literatura femenina« in Spanien und in der Hispanistik

4.

Literatur in Diktatur und Demokratie - Das Werk von Carmen Martin Gaite in seinem gesellschaftlichen Bezugsfeld

5.

Zum literarischen Verfahren

5.1.

Die Perzeption von Raum und Zeit

5.1.1. 5.1.1.1. 5.1.1.2. 5.1.1.3. 5.1.2. 5.1.2.1. 5.1.2.2. 5.1.2.3. 5.1.3. 5.2. 5.2.1. 5.2.2. 5.2.3.

Zeit Der Konflikt zwischen objektiver und subjektiver Zeit Überwindung der obj ektiven Zeit: 1. »Habitar el tiempo« Überwindung der objektiven Zeit: 2. Erinnerung Raum Konkrete räumliche Dimensionen - objektiver Raum Räumliche Metaphorik zur Darstellung individueller Wahrnehmungsformen Ordnung - Unordnung; Orientierung - Desorientierung Zusammenfassung Erzählsituationen Über die Souveränität der Erzählfiguren in retrospektiven Ich-Texten Die Ich-Perspektive bei direktem subjektiven Erleben Unmittelbare Erzählformen als Gewähr für den direkten Zugang zu den Figuren

6 5.2.4. 5.2.5. 5.2.6. 5.3. 5.3.1. 5.3.2. 5.3.3. 5.3.4. 5.3.5. 5.4. 5.4.1. 5.4.2. 5.4.3. 5.4.4. 5.4.5.

Multiple Ich-Perspektiven in El cuarto de atrás und Nubosidad variable Eingreifen und Zurückweichen der Erzählinstanz in Er/Sie-Texten Zusammenfassung Erzählstrukturen Handlung und Zeit Strukturelle Eingrenzungen Exkurs: Romanstruktur und Realitätsbezug Kreisstrukturen und Prozeßhaftigkeit Zusammenfassung: »Mientras dure la vida, sigamos con el cuento« Intertextualität Intertextualität und Figurencharakterisierung 'Literarische Menschen': Intertextualität und Persönlichkeitsbildung Intertextualität und Textstruktur Intertextualität und Metaliteratur Zusammenfassung

98 105 114 119 120 130 132 135 137 140 141 147 153 160 163

6.

Perspektiven weiblicher Differenz

165

6.1.

Zur weiblichen Subjektsetzung

165

6.2.

Zu Sprache und Kommunikation

168

6.3.

Zur Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe

171

6.4.

Zur Vernunftkritik

173

6.5.

Zum Status der Kunst

175

7.

Schlußwort: Carmen Martin Gaite im Spiegel der Literaturkritik

178

8.

Werkverzeichnis

184

9.

Bibliographie

186

10.

Register

198

7

La interpretación de la conducta femenina se establecía con arreglo a cánones tan estrechos como para suponer que, cuando una mujer se asomaba a la ventana, no podía ser más que por mero reclamo erótico, por afán de exhibir la propia imagen para encandilar a un hombre. Se descartaba la posibilidad de que tal vez quisiera asomarse a la ventana para tomar aire, para ver lo de fuera, y no para ser vista desde fuera. En otras palabras, no se le ocurría a nadie pensar que tal vez no fuera su cuerpo, sino su alma la que tuviera sed de ventana. C.M.G.

8

1. Vorwort Carmen Martín Gaite (* 1925) erhielt 1988 mit dem »Premio Principe de Asturias de las Letras« die bedeutendste spanische Auszeichnung für ein literarisches Gesamtwerk. Vorausgegangen waren dieser Ehrung vierzig Jahre literarischen Engagements, das in Spanien zunächst einmal nur sehr geringe Beachtung fand, wozu die Geschlechtszugehörigkeit der Autorin sicherlich in entscheidendem Maße beigetragen hat.1 Seit Ende der siebziger Jahre ist das Interesse an der Autorin, die in Salamanca geboren und aufgewachsen ist und seit 1948 in Madrid lebt, ständig gestiegen. 1991 weist Joan Brown ihr Werk als das meistbehandelte aller spanischen Schriftstel\er innen aus.2 Die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Werk vollzog sich bisher weitgehend im Rahmen der nordamerikanischen Hispanistik; insgesamt überwiegen inhaltsorientierte Darstellungen, was sicher nicht zuletzt damit zusammenhängt, daß die Autorin selbst nicht nur im literarischen Schafifen, sondern auch in journalistischen Texten und soziologischen Untersuchungen die gesellschaftliche Realität ihres Landes in Geschichte und Gegenwart dokumentiert. Daher wurde bisher im Umgang mit ihrer Literatur häufig das 'Wie' des literarischen Ausdrucks gegenüber dem 'Was' der inhaltlichen Aussagen zurückgestellt. Das Anliegen der vorliegenden Untersuchung ist ein doppeltes: Zum einen soll sie eine einzeltextübergreifende Analyse der literarischen Verfahrensweisen Carmen Martin Gaites bieten. Behandelt werden alle bis 1992 vorliegenden Romane und Erzählungen der Autorin sowie der Essay El cuento de nunca acabar und ihr bisher einziges Theaterstück.3 Der textanalytische Teil der Arbeit umfaßt die Untersuchung der Perzeption von Raum und Zeit als vornehmlich mikrostrukturelle, noch stark inhaltliche Kommentare einbeziehende Detaildarstellung, die Analyse der für die narrative Praxis grundlegenden Erzählperspektiven, der makrostrukturellen Anlage der

1

Vgl. Hans-Jörg Neuschäfer, Macht und Ohnmacht der Zensur. Literatur, Theater und Film in Spanien 1976), Stuttgart 1991,61.

(¡933-

2

Vgl. Joan L. Brown, »Women writers of Spain: An historical perspective«, in: J.L.B. (Hg ), Women writers of contemporary Spain. Exiles in the homeland, Newark/London/Toronto 1991, 13-25, 19.

3

Mit diesem wird nicht theatersemiotisch, sondern - so erklärt sich die Reduktion auf das Erzählwerk im Titel der vorliegenden Untersuchung - wie mit den narrativen Texten Martin Gaites verfahren; die Einbeziehung des Essays ist angebracht, weil sich in ihm auf Inhalts- und Ausdrucksebene starke Parallelen zum eigentlichen Erzählwerk der Autorin aufzeigen lassen.

9 Werke sowie der intertextuellen Verfahren und damit eines gleichsam über die Texte hinausreichenden Moments der Bedeutungskonstitution. Zum anderen grenzt gerade die gleichzeitige Behandlung des gesamten Textkorpus unter den genannten Gesichtspunkten die Arbeit nicht nur von den schon bestehenden meist chronologisch aufgebauten - zum Werk Martin Gaites ab, sondern ermöglicht vor allem eine Überprüfung der Texte im Hinblick auf Schreibweisen weiblicher Differenz, welche sich aus den besonderen Bedingungen weiblicher Kulturleistung in einer männlich dominierten Gesellschaft ergeben.4 Der Erläuterung dieser Grundvoraussetzungen weiblichen Schreibens dienen die einleitenden Kapitel über die Theoriebildung zu einer feministischen Literaturwissenschaft und über die Diskussion um »literatura femenina« in Spanien und in der Hispanistik. Perspektiven weiblicher Differenz können im literarischen Verfahren als bewußte gesellschaftliche Stellungnahmen aus weiblicher Sicht in das Werk Eingang finden, gleichermaßen aber auch in Brüchen und Zwiespältigkeiten zutage treten, die sich aus der spezifischen Situation der Autorin als weibliches Mitglied einer Gesellschaft im allgemeinen und eines Literaturbetriebs im besonderen ergeben, für welche die Partizipation von Frauen zu Beginn der literarischen Tätigkeit Carmen Martin Gaites allenfalls ein Kuriosum war und auch in heutiger Zeit beileibe noch keine Selbstverständlichkeit bedeutet.

4

Eine chronologische Gesamtdarstellung des (bis 1981 erschienenen) literarischen Werks von Carmen Martin Gaite bietet Joan L. Brown, Secrets from the back room: The fiction of Carmen Martin Gaite, Valencia 1987.

10

••

2. Literatur von Frauen - Überlegungen zur Theoriediskussion

2.1. Feminismus und Literaturwissenschaft - Die Ausgangslage: Von der Unmöglichkeit weiblicher Identität There is no Mother of Feminist Criticism, no fundamental work against which one can measure other feminisms. Feminist criticism has been rather a powerful movement than a unified theory, a community of women with a shared set of concerns but with a complex and resourceful variety of methodological practices and theoretical affiliations. In addition to having a broad social and intellectual base, feminist criticism is unusually wide in scope. It is not limited or even partial to a single national literature, genre, or century; it is interdisciplinary in theory and practice; it can handle Harlequin Books as well as Paradise Lost.1 Als Showalter 1987 diese Bestandsaufnahme formuliert, kann sie bereits auf gut fünfzehn Jahre der Theoriebildung zur feministischen Literaturwissenschaft zurückblicken. Im Zuge der allgemeinen Frauenbewegung der siebziger Jahre wurde zunächst nach der Ideologiehaftigkeit von Frauenbildern in Texten von Männern und Frauen, dann sehr bald nach den Charakteristika weiblichen Schreibens gefragt. Es stellte sich heraus, daß die literarische Tätigkeit von Frauen mit der ihnen zugewiesenen Rolle in der neuzeitlichen Gesellschaft schwer vereinbar ist. Auch in bezug auf die Literatur von Frauen versteht sich Weiblichkeit als eine soziokulturelle Kategorie, die unter den patriarchalischen Herrschaftsverhältnissen vereinnahmt worden ist. Die Voraussetzungen für das weibliche Schreiben im besonderen sind daher auf die patriarchalischen Herrschaftsmechanismen im allgemeinen direkt zurückzufuhren. Das stellt die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit Texten von Frauen in einen sehr weiten Rahmen und erklärt Showalters Insistieren auf Interdisziplinarität, da nur so die Grundlagen weiblichen Schreibens aus den psychologischen und kulturanthropologischen 1

Elaine Showalter, »Women's time, women's space. Writing the history of feminist criticism«, in: Shari Benstock (Hg), Feminist issues in literary scholarship, Bloomington 1987, 30-44, 31.

11 Spezifika weiblicher Existenz hergeleitet werden können. Gemeinsamer Ausgangspunkt aller Theorien zu Weiblichkeit und weiblichem Schreiben ist die Tatsache der Marginalisierung der Frau im Verlauf der Entwicklung der modernen bürgerlichen Gesellschaft. Als Eigentum des Vaters bzw. Ehemanns wurde ihr in der Geschichte der Neuzeit der Subjektstatus systematisch verwehrt, und die Reduktion ihres Wirkens auf die häusliche Sphäre wies ihr in der gesellschaftlichen Praxis immer eine explizit untergeordnete Stellung zu: Der Grund dafür, daß Frauen aus dem Fortschritts- und Emanzipationsszenario sowohl des aufgeklärten Räsonnements als auch der bürgerlichen Wirklichkeit ausgeblendet blieben, [...] muß offenbar in der Struktur der neuen, modernen Gesellschaft selber liegen. Eines der wichtigsten Organisationsprinzipien bürgerlicher Gesellschaft war (bzw. ist) die strikte Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern und der daraus resultierende Ausschluß der Frauen von politischer Macht. Die gesellschaftliche Ungleichheit der Geschlechter hatte Methode, sie war ein bewußt eingesetztes Herrschaftsinstrument, das Männern die Kontrolle über ihre Familie und Nachkommenschaft sicherte und sie zugleich in die Lage versetzte, ihre anstrengenden und verantwortungsreichen Pflichten in Beruf, Öffentlichkeit und Politik psychisch und physisch stabil zu bewältigen.2 Die männliche Subjektsetzung vollzieht sich über die abgrenzende Relation zur Frau, in welche all das hineinprojiziert wird, was der Fortschrittsperspektive der Moderne im Sinne der Naturbeherrschung zwar offensichtlich zuwider läuft, der menschlichen Existenz aber dennoch inhärent bleibt. Erst über die »Unterwerfung und Überwindung von Natur, Mythos, Magie, Körper und Weiblichkeit«3 kann sich das vernünftige Subjekt konstituieren; für die Frauen ist in diesem Prozeß lediglich der Status eines nicht selbst agierenden Objektes vorgesehen. Sie repräsentieren in der bürgerlichen Gesellschaft die Natur, womit sich gleichzeitig die aufklärerische Zielsetzung von deren Überwindung als illusorisch herausstellt. Die in den Frauen verkörperte Natur wird daher vom identitätslogischen männlichen Subjekt einerseits gefürchtet, andererseits aber auch ersehnt, bietet sie doch Geborgenheit und damit psychische Stabilität als Ausgleich für die Entfremdung in Warengesellschaft und Arbeitswelt. Daraus entsteht das für die bürgerliche Gesellschaft so bezeichnende Paradox: »Die unmögliche Konstruktion Frau bzw. Weiblichkeit fungiert [...] als Austragungsort für den konfliktreichen Zivilisationsprozeß, für die Dialektik der Aufklärung; sie fungiert als Projektionsort für das ambivalente Verhältnis zur Natur, der Sehnsucht nach und der 2

Ute Freveit, »Zwischen Traum und Trauma. Aufklärung, Geschichte und Geschlechterverhältnis«, in: Jörn Rüsen (u.a., Hg.), Die Zukunft der Aufklärung, Frankfurt/Main 1988, 132-147, 138f.

3

Sigrid Weigel, Topographien der Geschlechter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur, Reinbek 1990, 118.

12 Furcht vor ihr.«4 Das moderne Subjekt definiert sich also in Abgrenzung zur Frau, die damit aus dem Herrschaftsdiskurs einerseits ausgeschlossen ist, andererseits aber für den Erhalt dieser Herrschaftsbeziehung das ausschlaggebende Element darstellt.5 Aus dieser Konstellation ergibt sich ein 'doppelter Ort' der Frauen in der modernen bürgerlichen Gesellschaft: »Als Teilhaberinnen ihrer Kultur dennoch ausgegrenzt oder abwesend zu sein, das macht den spezifischen Ort von Frauen in der abendländischen Kultur aus.«6 Das Bewußtsein über diesen 'doppelten Ort' verschärft sich mit dem zunehmenden Willen der Frauen zur Partizipation an der gesellschaftlichen Praxis, z.B. auch in Form von literarischer Kreativität. Schreiben wird zu einem Akt der Selbstfindung, wobei die schreibende Frau immer wieder auf die lähmende Gewißheit stößt, daß ihre Initiative aufgrund der historischen Negation ihres Subjektstatus von vornherein innerhalb der herrschenden Ideologie eigentlich eine Anmaßung bedeutet.7 Sie ergreift das Wort in einer für sie 'fremden' Sprache und ist daher ständig versucht, die Herrschaftsstruktur, die ihre Existenz eigentlich geringschätzt, durch ihr literarisches Engagement zu festigen. In bezug auf diese spezifische Relation der Frau zu Macht und Sprache beschreibt Showalter unter Rückgriff auf kulturanthropologische Ansätze die Situation der Frauen als die einer 'verstummten Gruppe', deren Erfahrungsbereich sich zwar mit demjenigen der Männer überschneidet, aber gleichsam in einer 'wilden Zone', zu der Männer keinen Zugang haben, über diesen hinausreicht.8 Mit der Sprache der dominanten (männlichen) Gruppe kann dieser Erfahrungsbereich demnach nicht gefaßt werden. Da die weibliche Gruppe nun aber zunächst einmal nur diese für ihren spezifischen Erfahrungsbereich unzulängliche Sprache zur Verfugung hat, manifestiert er sich hinter den Verschleierungen der dominanten Strukturen, und zwar vornehmlich in der Kunst, so daß auf diese Weise auch für weibliche literarische Kreativität eine Möglichkeit positiver weiblicher Setzung aufgezeigt wird. Aus diesen frauenspezifischen Erfahrungen ergeben sich Sichtweisen weiblicher Differenz; sie bedeuten eine subversive Bedrohung der patriarchalen bürgerlichen Gesellschaftsordnung, die sich mit dem 'Effekt Frau', wie Kristeva ihn umschreibt,

4

Ebd., 129f.

5

Vgl. zur grundsätzlichen Problematisierung der sich im Dienste einer Koalisierenden Vernunft vollziehenden Subjektkonstitution Max Horkheimer / Theodor W. Adorno, Die Dialektik der Aufklärung, Amsterdam 1955.

6 7

Weigel 1990, 262. Vgl. zur Verweigerung des Subjektstatus für die Frau in der abendländischen Geschichte Brigitte Nölleke, In alle Richtungen zugleich. Denkstrukturen von Frauen, München 1985, bes. 105-171. Nölleke weist auch daraufhin, daß die der Vernunft entgegenlaufenden empfindsamen Tendenzen, mit denen Weiblichkeit ja belegt ist, die literarische Kreativität von Frauen in bestimmten Fällen erlaubten: Die Dichterin fungiert dann als Projektion des subjektiven Teils männlichen Subjektseins in die Frau: »So kommt es, daß die Frauen im Laufe der Geschichte zu Spezialistinnen der Subjektivität wurden, obwohl sie selbst nicht die Subjekte dieser Geschichte waren« (128).

8

Elaine Showalter, »Feministische Literaturkritik in der Wildnis«, in: Karin Nölle-Fischer (Hg.), Mit verschärftem Blick. Feministische Literaturkritik, München 1987, 49-88 (Orig. »Feminist criticism in the wildernes«, 1981).

13 bisher zu ihren Gunsten zu arrangieren wußte.9 Lenk vergleicht die gesellschaftliche Ausgrenzung der Frau mit der Situation des Paria. »[I]hr Ausschluß aus der Gesellschaft, ihre Reduktion auf ein Lasttier, auf dem gleichwohl als auf ihrem Fundament die Gesellschaft aufruht, hat erst das klassische Ideal, die Harmonie des Homogenen, ermöglicht.«10 Die 'Paria'-Frau bildet ein der abendländischen Kultur inhärentes heterogenes Element, das deren Homogenität in Frage stellt, »weil die nur scheinbar versteinerte Frau, [...] also der Boden, auf dem die Männer so lange standen, anfängt sich zu bewegen«.11 Die Betrachtung der sozialhistorischen Marginalisierang von Frauen und der Negiening ihrer Subjektkonstitution macht deutlich, wie stark die traditionelle Gesellschaft von dem der Frau zugeschriebenen Status abhängig ist. Mit der Psychoanalyse hat diese historische Konstellation in unserem Jahrhundert nochmals eine theoretische Untermauerung erfahren, welche sozusagen die »Tiefendimension«12 für die weibliche Subjektlosigkeit darstellt. Vor allem in Frankreich vollzieht sich die Auseinandersetzung um weibliche Differenz vornehmlich auf dem Gebiet der psychoanalytischen Theorie und weniger unter Rückbezug auf die konkrete historisch-anthropologische Entwicklung. Dies erfordert eine Modifikation der traditionellen psychoanalytischen Theorie von Freud bis Lacan, die Weiblichkeit lediglich als einen Status des Mangels, der Negativität begreift. Die Psychoanalyse reproduziert die sozialhistorische Ideologisierung von Weiblichkeit, und zwar in einer Deutlichkeit, die - nimmt man die Vorstellungen Freuds und seiner Nachfolger wörtlich - eigentlich die Möglichkeit weiblicher Kulturleistung von vornherein kategorisch ausschließt. In der Sicht der Psychoanalyse steht die Entwicklung der Geschlechtsidentität in direktem Zusammenhang mit der Stellung von Mann und Frau in der Gesellschaft. Die 9

»Dieses besondere Verhältnis [zu Macht und Sprache, d.V.) besteht darin, weder Macht noch Sprache zu besitzen, sondern in einer Art stummer Unterstützung wie eine Arbeiterin hinter den Kulissen zu fungieren, eine Art Zwischenglied zu sein, das selbst nicht in Erscheinung tritt. [...] Wir belinden uns in einer Dialektik von Herr und Sklave, sie weist dem 'Effekt Frau' die Rolle des Sklaven zu.« Julia Kristeva, »Produktivität der Frau. Interview von Eliane Boucquey«, in: alternative 108/109, 1976, 166-172, 167.

10 Elisabeth Lenk, »Pariabewußtsein und Gesellschaftskritik bei einigen Frauen seit der Romantik«, in: E L., Kritische Phantasie. Gesammelte Essays, München 1986, 199-221, 221 (Erstveröffentlichung in Wespennest, 44, Wien 1981). Die Gesellschaft wird - so Lenk in Anlehnung an Bataille - vom Paria in Frage gestellt, da sie aufgrund der Notwendigkeit der Bewahrung ihrer Homogenität das 'Andere' zum Unwert erklärt. Parias fallen aus dem hierarchisch-homogenen Sozialkörper wegen ihrer Heterogenität grundsätzlich heraus, entwickeln aber gleichzeitig ein Gefühl der Überlegenheit, das sie in ihrer Distanzierung bestätigt. - Im übrigen ist bei Lenk wie bei Kristeva davor zu warnen, das Problem der Weiblichkeit als Randgruppenerscheinung zu behandeln und so eine Problematik als marginal zu bezeichnen, die immerhin die Hälfte der Menschheit betrifft. 11 Elisabeth Lenk, »Die sich selbst verdoppelnde Frau«, ebd., 149-160, 150 (Erstveröffentlichung in Ästhetik und Kommunikation, 25, 1976). 12 Nölleke, 173, dort und auf den folgenden Seiten Aufschlußreiches zu weiblichem Subjekt und Psychoanalyse, dem die folgenden Ausführungen verpflichtet sind.

14 gesellschaftliche oder symbolische Ordnung konstituiert sich nach Jacques Lacan aus der Abgrenzung des Menschen vom Tier, die sich zunächst aus der Notwendigkeit der Sublimierung der ursprünglichen Triebe ergibt. Aus dieser Triebsublimation resultiert in einem weiteren Schritt die Hervorbringung kultureller Werte. Die symbolische Ordnung setzt dort an, wo sich der Mensch (sprich: der Mann) mit Seinesgleichen identifiziert und auf diese Weise vom Feindprinzip absieht. Er benötigt hierfür die Existenz eines gemeinsamen Dritten, zu dem er sich in Beziehung setzt. Diese Funktion wird von der Sprache übernommen, die damit das Hauptcharakteristikum der symbolischen Ordnung ausmacht. Die Frau existiert in dieser symbolischen, auf binären hierarchischen Oppositionen basierenden Ordnung nur als nicht-markiertes Oppositionsglied, als ein Objekt, dem jegliche Identitätskonstitution verwehrt ist. Die radikale Nicht-Existenz der Frau im symbolischen Bereich liegt weiter - so die traditionelle psychoanalytische Herleitung - in ihrer zwangsweisen bzw. gestörten Umorientierung auf das männliche Geschlecht als Bezugsperson in der ödipalen Phase, d.h. im unvollständigen Verlauf des Spiegelstadiums begründet. Die Frau kann sich nicht vollständig von der Mutter als Bezugsperson lösen, lehnt sie aber - da sie sie als kastriert und damit minderwertig wahrnimmt - gleichzeitig ab: »Die Frau kann sich also im anderen nicht erkennen, es fehlt ihr die Spaltung, die Spiegelung und Austausch ermöglicht, womit feststeht, daß sie [...] kein Subjekt sein kann.«13 Die Umlenkung des Triebs in Kulturleistung ist bei der Frau - so wird weiter gefolgert - aufgrund ihres Ausschlusses aus der symbolischen Ordnung unrelevant: Die psychoanalytische These lautet, daß zur Hervorbringung kultureller Werte die Sublimierung der ursprünglichen sexuellen Wünsche erforderlich ist; dazu bedarf es jedoch der Mobilisierung narzißtischer Libido, die in der Auflösung des Ödipuskomplexes frei wird. Die hat das Mädchen aber nur in äußerst geringem Maße aufzuweisen - immer vorausgesetzt, sie entwickelt sich zur »normalen Weiblichkeit«. Ganz im Gegenteil scheint ihre Sexualunterdrückung nicht nur keine geistigen Kräfte freizusetzen, sondern mit einer notwendigen Denkhemmung einherzugehen [...].14 Somit ist es für die Psychoanalyse eine Tatsache, daß sich bei der Frau Rationalität und Sinnlichkeit, Triebbeherrschung und Körperlichkeit nicht, wie bei den Männern, gegenseitig ausschließen müssen. Hier setzen poststrukturalistisch orientierte Psychoanalytikerinnen wie Hélène Cixous oder Luce Irigaray an. Sie versuchen, die Negation des Weiblichen, welche die psychoanalytischen Theoriegebäude auszeichnet, zu relativieren und die 'unvollständige' Entwicklung der Geschlechtsidentität bei Frauen für ihren Aufweis weiblicher Differenz nutzbar zu machen. Nach Irigaray, deren Aus13 Ebd.. 210. 14 Ebd., 212.

15

fuhrungen eine weiterführende Kritik Jacques Lacans darstellen, bewegt sich die Frau gleichzeitig innerhalb und außerhalb der symbolischen Ordnung und kann hieraus subversives Potential lösen.15 Bei Cixous wird der weibliche Körper zum zentralen Ort der Artikulation von Weiblichkeit: Die Frau wird, indem sie sich schreibt, zu diesem Körper zurückkehren, den man ihr mehr als weggenommen hat, aus dem man den besorgniserregenden Fremden gemacht, den Kranken oder den Toten, und der so oft der schlechte Geselle ist, Ursache und Ort der Untersagungen. [...] Schreiben: Akt, Verwirklichung nicht nur des ent-zensierten Bezugs der Frau zu ihrer Sexualität, zu ihrem Frau-Sein. Schreiben verschafft ihr Zugang zu den eigenen Kräften, gibt ihr ihren Besitz zurück, ihre Lust, ihre Organe, ihren Körper. [...] Schreibe dich: dein Körper muß sich Gehör verschaffen. Dann werden die unversiegbaren Quellen des Unbewußten aufschießen. Dann wird sich das unerschöpfliche weibliche Imaginäre entfalten. Unser Naphta wird, golden oder schwarz, über die Welt Werte ausbreiten, nichtbezeichenbare, die die Regeln des alten Spiels ändern.16 Cixous, die in ihren Texten willentlich Metaphern dazu einsetzt, der Möglichkeit einer klaren Bedeutungsfestlegung entgegenzuwirken, leitet aus der Marginalisierung der Frau und der bei ihr erhaltenen Vermischung von Rationalität und Sinnlichkeit eine Tendenz der Subversivität weiblichen Schreibens ab. Ihre Metaphorik der Körperlichkeit birgt allerdings die Gefahr, die Trennung sozialkultureller und biologischer Aspekte aufzugeben, was angesichts der ideologischen Vereinnahmung der weiblichen Biologie vermieden werden sollte. Kristeva bietet demgegenüber ein schlüssigeres Modell der weiblichen Differenz auf psychoanalytischer Grundlage. Ihr primär nicht auf die Literatur von Frauen bezogenes, für die feministische Literaturwissenschaft aber wiederholt nutzbar gemachtes Werk La révolution du langage poétique (1974) ist zwar keine Theorie des Weiblichen, sondern »eher eine der Marginalität, des Dissidententums«17 doch formuliert sie sehr deutlich die Konsequenzen des für die Frau aus dem Spracherwerb resultierenden Identitätsverlustes. Auch Kristeva sieht Sprache als Indikator der sozialen Kräfteverhältnisse und weist darauf hin, daß sich die Frau mit dem Austritt aus der präödipalen Phase in einer für sie fremden Sphäre etablieren und damit ihre Identität preisgeben muß. Anpassung oder Verrücktsein sind die Alternativen, die ihr nach psychoanalytischem Erklärungsmuster bei der Auseinandersetzung mit der symbo15 Vgl. Luce Irigaiay, Das Geschlecht, das nicht eins ist, Berlin 1979 (Orig. Ce sexe qui n'en est pas un, 1977). 16 Hélène Cixous, »Schreiben, Femimtät, Veränderung«, in: alternative 108/109, 1976, 134-147, 147. 17 Toril Moi, Sexus - Text - Herrschaft. Feministische Literaturtheorie, Bremen 1989, 191 (Orig. Sexual/textual politics. Feminist literary theory, 1985).

16 lischen Ordnung bleiben. Mit dem Eintritt in das Symbolische wird das verdrängt, was Kristeva 'das Semiotische' nennt, eine archaische, an der chora (dem griechischen Begriff fur 'geschlossener Raum', 'Mutterleib') festgemachte Mutterbeziehung. Das unterschwellig existierende Semiotische kann in der Kunst wieder zum Vorschein kommen und äußert sich dann in rhythmischen Aspekten, in Melodie, Silbenmaß und extraverbalen Momenten. Die Arbeiten der französischen Theoretikerinnen zu einer »écriture féminine« analysieren immer wieder auch Texte von Männern. Kristevas Untersuchungen etwa beziehen sich auf die Werke von Dichtern der klassischen Avantgarde wie Lautréamont oder Mallarmé. Auch Cixous beschränkt ihre Ausfuhrungen nicht auf Texte von Frauen, »denn es gibt Männer, die ihre Feminität nicht verdrängen, und Frauen, die ihre Maskulinität mehr oder weniger stark unterstreichen«.18 Auf diese Weise kommt ein Androgynitätskonzept zum Ausdruck, das die Aufgabe jeglicher geschlechtsspezifischer Polarisierung verlangt. Die Grundlage dieser Revision des Geschlechterverhältnisses bildet die Aufhebung der die Denkstrukturen des abendländischen Thallogozentrismus' determinierenden binären Opposition Mann vs. Frau, welche den Mann als dominantes, die Frau als untergeordnetes Oppositionsglied erscheinen läßt. So verdeutlicht der Poststrukturalismus, daß »die Ideologie dieses Antagonismus, obgleich der Konflikt zwischen Mann und Frau historisch gesehen gar nicht realer hätte sein können, eine metaphysische Illusion beinhaltete«.19 Die Herleitung der Spezifik weiblichen Schreibens als Konsequenz aus den historischen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ist also weniger das Anliegen dieser Autorinnen als die Forderung einer globalen Umstrukturierung, die den Geschlechterunterschied dann hinfällig werden ließe. Allerdings unterliegen die Theorien v.a. Irigarays und Cixous' durch ihre biologistische Argumentation der Gefahr, in essentialistische Positionen zurückzufallen, die gerade den Gegenstand der Phallo- und Logozentrismus-Kritik der poststrukturalistischen Theorien bilden.20 Zudem ist vor der unkritischen Setzung von Weiblichkeit als Verfahren zu warnen, da auf diese Weise wiederum Mythifizierungen entstehen, denen der feministische Diskurs eigentlich entgegenwirken sollte. Gerade der Mythos vom 'Rätsel Weib' bildete die Ursache fur vielfaltige gedankliche Konstruktionen, welche die Frau in der Geschichte lediglich als Fremdbestimmte existieren 18

Cixous, 140. In diesem Sinne sieht Cixous einen Ausdruck weiblicher Ästhetik etwa in den Werken von Poe, Kleist. Joyce oder E.T.A. Hoffmann.

19

Terry Eagleton, Einführung in die Literaturtheorie, 1983).

20

»Ideologie und Rollenzuweisung subsumierten die Frau der 'ersten Natur'. [...] Die Biologie der Frau tritt anders in Erscheinung, oder besser: nur die Biologie der Frau tritt gesellschaftlich in Erscheinung. Die des Mannes verschwindet hinter einem Wust von Tätigkeit, Technologie und Ritual. Aber der blanke Rückzug auf Biologie kann nicht die Sache der Frauen sein.« Silvia Bovenschen, »Über die Frage: Gibt es eine weibliche Ästhetik?«, in: Ästhetik und Kommunikation, 25, 1976, 60-75, 66.

Stuttgart 1988, 136 (Orig. Literary theory. An

introduction,

17

ließen. Ein Aufgreifen dieses Topos, wie es bei den poststrukturalistischen Theorien immer wieder zu beobachten ist, erscheint damit zumindest fragwürdig.21 Jacques Derrida, der Cixous maßgeblich beeinflußt hat, macht sich fur seine Philosophie der Dekonstruktion ein nicht näher bestimmtes 'Weibliches' nutzbar, wodurch es wiederum als Füllbegriff für alles 'Andere' herhalten muß und genau die Metaphorisierungen der Weiblichkeit reproduziert, die den Ausschluß der Frau als historisches Subjekt hervorgerufen haben.22 Eine weitere Schwachstelle bildet die unreflektierte (und von Kristeva auch so nicht intendierte) Gleichsetzung von 'semiotisch' und 'weiblich' bzw. die tendenzielle Austauschbarkeit der Begriffe 'Unbewußtes', 'Ästhetik', 'Weiblichkeit' etc.,23 wobei sich diese Ungenauigkeiten häufig aus den Eigenarten der schwer verständlichen, metaphorischen und esoterischen Textkonstrukte ergeben. Gleichwohl darf bei aller Kritisierbarkeit der psychoanalytisch orientierten Theorien zur Weiblichkeit nicht vergessen werden, daß zuweilen an die einzelnen Entwürfe Forderungen herangetragen werden, denen sie gar nicht entsprechen wollen. Die poststrukturalistischen Theorien sind ahistorisch, und jeder Versuch, sie zu erweitern und damit auf die sozialhistorische Realität zu applizieren, wird ihnen nicht gerecht. In der konkreten gesellschaftlichen Praxis können sich einige Texte einer »écriture féminine« vielleicht annähern, doch besitzt sie letztlich einen eminent hypothetischen, mit den realen Verhältnissen nur bedingt relationierbaren Charakter. Showalter nennt diese Auffassung vom weiblichen Schreiben »gynesis« ohne »temporal dimension of women's experience« in Abgrenzung zu den »gynocritics«, die weibliches Schreiben in seinem historischen Beziehungsgefuge analysieren.24 Die unterschiedlichen Erkenntnisansprüche dieser Ansätze bedeuten jedoch nicht, daß sie sich gegenseitig ausschließen: In writing the history of feminist criticism, I want to avoid, however, such a hostile polarization of French and American feminist discourse, arid theory and crude empiricism, obscurantism or essentialism. In formulating or endorsing such hierarchical binary oppositions, we not only fall into the old dualistic traps, but genuinely misrepresent the much more complex and nuanced reality of feminist critical practice.25 Unterscheiden sich auch die Herangehensweisen und Zielsetzungen, so bleibt doch die 21

Vgl. z.B. Gisela Ecker, »Poststrukturalismus und feministische Wissenschaft. Eine heimliche oder unheimliche Allianz?«, in: Renate Berger (u.a., Hg ), Frauen - Weiblichkeit - Schrift, Berlin 1985, 8-20, 14.

22

Vgl. dazu die Kritik Sigrid Weigels: »'Das Weibliche als Metapher des Metonymischen' - Kritische Überlegungen zur Konstitution des Weiblichen als Verfahren oder Schreibweise«, in: Die Stimme der Medusa. Schreibweisen in der Gegenwartsliteratur von Frauen, Reinbek 21989, 196-213. Weigel bezieht sich auf Derridas Werk Eperons. Les styles de Nietische (1978).

23

Vgl. Sigrid Weigel, »Frau und "Weiblichkeit"«, in: Sigrid Weigel / Inge Stephan (Hg ), Feministische Literaturwissenschaft, Berlin 1984, 103-113, 108.

24

Showalter 1987, »Women's time ...«, 37.

25 Ebd., 36.

18

Grundkonstellation, sei sie nun kulturanthropologisch oder psychoanalytisch hergeleitet, die gleiche. Wenn also die »gynocritics« von grundsätzlich anderen Wahrnehmungs- und Erfahrungshorizonten bei Frauen ausgehen und diese in literarischen Texten auffinden wollen, so bedeutet dies nicht etwa, daß sie sich der ideologischen Instrumentalisierung des Geschlechterverhältnisses, über die ihnen die Psychoanalyse wichtige Erkenntnisse zugetragen hat, nicht bewußt sind. Sie begreifen dieses Geschlechterverhältnis lediglich als gesellschaftliche Realität und versuchen, diese problematisierend darzustellen, bis Androgynität auch aus soziokultureller Sicht mehr als eine Utopie sein kann. Frevert sieht hier eine gesellschaftliche Perspektive, die es erlauben würde, der Einseitigkeit der bürgerlichen Aufklärungsbewegung entgegenzuwirken: Die Zukunft der Aufklärung liegt also darin, die Aufklärung über sich hinauszutreiben. Denn eine aufgeklärte Gesellschaft, die auf die binäre Codierung von Geschlechterrollen und -räumen ohne jedes Wenn und Aber verzichtete, wäre in der Tat lebenspraktisch grundverschieden von der, in der wir leben und die wir kennen. Erst wenn die Bedingungen gesellschaftlicher Gleichheit auf allen Ebenen, im Beruf ebenso wie in der Familie, für alle Kreise der Bevölkerung erreicht sind, kann die biologische Differenz der Geschlechter produktiv ausgedeutet, aber eben nicht mehr ausgenutzt werden. Dagegen wäre es wohl nichts weniger als kontraproduktiv, Weiblichkeit, Mütterlichkeit, »weibliche Natur« unter den derzeitigen Bedingungen strukturell verfestigter gesellschaftlicher Ungleichheit zum politischen, feministischen Programm zu erheben.26

26

Frevert. 144.

19

2.2. Und sie schreiben doch! - Einige Konsequenzen für den Umgang mit Texten von Frauen Die vorliegende Untersuchung zum literarischen Werk von Carmen Martin Gaite ist sich der Problematik weiblicher Subjektkonstitution, wie sie vorangehend beschrieben wurde, bewußt und geht daher von der grundsätzlichen Andersartigkeit weiblicher Texte aus. Dies hat mit einer feministischen Programmatik der Texte selbst zunächst nichts zu tun; weibliche Differenz müßte unter den gegebenen Bedingungen nicht nur in Texten, die in einem feministischen Kontext verfaßt wurden, sondern auch in solchen Werken zu ermitteln sein, die vor Beginn der Frauenbewegung erschienen sind oder deren Autorinnen politisierte feministische Positionen gar ausdrücklich ablehnen. Da es bei literarischen Werken ja nicht nur auf die inhaltlichen Aspekte, sondern in besonderem Maße auf die formale Umsetzung, auf die Eigenständigkeit der message ankommt, deren Bedeutungsüberschuß aufzuschlüsseln die Literaturwissenschaft sich zum Ziel setzt, müssen die in den Schreibweisen von Frauen aufgefundenen Spezifika auf die besonderen Bedingungen der weiblichen Existenz zurückbezogen werden. Weibliche Kultur stellt sich dar als »eine kollektive Erfahrung innerhalb der Gesamtkultur, eine Erfahrung, die Schriftstellerinnen unabhängig von Zeit und Ort verbindet«.1 Für weibliche Autoren wird dabei besonders wichtig, wie sie sich gegenüber überlieferten Literaturkonzepten, Genremustern, Erzählmodi, rhetorischen Figuren, sprachlichen und literarischen Konstellationen sowie den damit jeweils verbundenen Bedeutungen von Weiblichkeit verhalten. Die Beurteilung einzelner Texte richtet sich so nicht nach darin vertretenen Positionen, sondern nach den durch die Schreibweise konstituierten Entwürfen von weiblichem Subjekt und historischem Sinn.2 Mit ihrer schriftstellerischen Produktion schreiben Frauen sich in einen spezifischen literarischen Kontext ein, der wiederum männlich geprägt ist. Die Frau bezieht durch ihr Schreiben Stellung zu einer literarischen Tradition, welche prinzipiell nicht ihre sein kann. Diesen Sachverhalt formulierte schon Virginia Woolf, als sie in bezug auf die Schriftstellerinnen des frühen 19. Jahrhunderts ausführte: [S]ie hatten keine Tradition hinter sich, oder eine so kurze und partielle, daß sie nur von geringer Hilfe war. Denn wir denken durch unsere Mütter zurück, 1

Showalter 1987, »Feministische Literaturkritik...«, 72.

2

Weigel 1989, 19.

20 wenn wir Frauen sind. Es ist zwecklos, auf die großen Männer als Hilfe zurückzugreifen, [...] [sie, d.V.] haben noch niemals einer Frau weitergeholfen, obwohl sie ihnen vielleicht ein paar Tricks abgeschaut und für ihre eigenen Zwecke eingesetzt haben mag. Das Gewicht, die Gangart, die Schrittweite von eines Mannes Geist sind dem ihren zu ungleich, um irgend etwas wirklich Wesentliches mit Erfolg zu stehlen. [...] Das erste, was sie vielleicht herausfinden würde, sobald sie ihre Feder aufs Papier setzte, war, daß es keinen gewöhnlichen Satz gab, der für sie brauchbar war. [...] In der Tat, da Freiheit und Reichtum des Ausdrucks zum Wesen der Kunst gehören, muß ein solcher Mangel an Tradition, eine solche Knappheit und Unangemessenheit der Werkzeuge sich auf das Schreiben der Frauen enorm ausgewirkt haben.3 Die Diskrepanz zwischen den existierenden Schreibweisen und der Suche nach einer Tradition, auf die Frauen bei ihrer literarischen Standortbestimmung zurückgreifen können, sieht auch Weigel: »Konventionelle Genres, von männlichen Autoren für ihre Bedürfnisse entwickelt, enthalten vielfach Erzählstrukturen und poetische Gesetzmäßigkeiten, die die Bearbeitung weiblicher Erfahrung erschweren, weil sie die Zeit-, Raum- und Bedeutungshierarchien der männlichen Ordnung nachahmen.«4 Hieraus ergibt sich für die Schreibweisen von Frauen ein Nebeneinander des Bewegens in literarischen Vorgaben und gleichzeitigen Überschreitens bzw. Abwendens, das sich in Stilbrüchen, paradoxer Verwendung konventioneller Genres u.ä. äußern kann. Damit ist es das Ziel der »gynocritics«, »den präzisen kulturellen Ort der literarischen Identitätsbildung von Frauen aufzuzeigen und jene Kräfte zu beschreiben, die sich mit dem kulturellen Feld einer einzelnen Schriftstellerin überschneiden«,5 wenn auch diesem optimistischen Vorschlag angesichts der jahrhundertealten Verwischung und Verzerrung des Konzeptes von Weiblichkeit ein etwas naiver Idealismus anhaftet.6 Gubar/Gilbert haben das Schlagwort der »anxiety of authorship« geprägt. Wo sich der männliche Autor von Traditionen überladen fühlt, steht die Schriftsteller/« vor einem literarischen Vakuum, befindet sich also aufgrund ihrer Subjektlosigkeit im historischen Prozeß, die übrigens auch Gilbert und Gubar in aller Schärfe formulieren, in der umgekehrten Position.7 3

Virginia Woolf, Ein Zimmer für sich allein, Frankfurt/Main 1981, 85f. (Orig. A room ofone'sown,

4

Sigrid Weigel, »Das Schreiben des Mangels als Produktion von Utopie«, in: Friederike Hassauer / Peter Roos, Die Frauen mit Flügeln, die Männer mit Blei? Notizen zu weiblicher Ästhetik, Alltag, und männlichem Befinden, Siegen 1986, 123-130, 125.

1929).

5

Showalter 1987, »Feministische Literaturkritik...«, 79.

6

»Der vielleicht schwerwiegendste Befund einer solchen Analyse besteht in einer Desillusionierung: in der Einsicht in die Tatsache, daß die Frauen kein Bild davon und keine Erinnerung daran haben, was eine Frau war oder sein könnte vor bzw. außerhalb einer männlich geprägten und überlieferten Geschichte; so sehr ist ihre eigene Geschichte mit der des männlichen Subjekts verbunden.« Weigel 1990, 262.

7

Sandra M. Gilbert / Susan Gubar, The madwoman in the attic, New Häven / London 1980. Vgl. auch Marlies Gerhardts Woolf-Rezeption: »Der Riß im Zentrum«, in: Stimmen und Rhythmen. Weibliche Ästhetik und Avant-

21 Daß sich weibliches Schreiben keineswegs in einem herrschaftsfreien Raum vollzieht, zeigt sich nicht nur an der Problematik der (literarischen) Subjektkonstitution und an der fehlenden Tradition einer Literatur von Frauen, sondern auch am Umgang mit ihren Werken in der literarischen Öffentlichkeit in aller Deutlichkeit. Somit fällt es ebenfalls in den Gegenstandsbereich der »gynocritics«, »die Position der Schriftstellerin im Hinblick auf die Varianten der literarischen Kultur [zu, d.V ] bestimmen, die da wären: die verschiedenen Arten der Produktion und des Vertriebs, das Verhältnis von Autorin und Publikum, das Verhältnis von hoher zu populärer Kunst und die Hierarchie literarischer Gattungen«.8 In diesem Zusammenhang wäre wiederum auf die 'wohlwollende' Tolerierung weiblicher Literatur als Gefühlsäußerung zu verweisen, ebenso auf die in der Literaturgeschichte immer wieder anzutreffende Wertung der von Frauen häufig bevorzugten Romangattung als minderwertige, weil in der formalen Gestaltung defizitäre Kunstform. Überdies sehen sich kulturschaffende Frauen auch heute noch mit strukturellen Faktoren konfrontiert, die ihre künstlerische Entfaltung behindern. So gibt es zum Beispiel im dramaturgischen Bereich, der einen vergleichsweise hohen institutionellen Organisationsaufwand benötigt, noch immer sehr wenig als Autorinnen partizipierende Frauen. Auch der von Rezensenten und Wissenschaftlern etablierte Literaturkanon ist eine normative Institution, die es von Seiten einer an der Rehabilitierung der Literatur von Frauen interessierten Literaturwissenschaft zu hinterfragen gilt. Was bisher als Abweichung oder Andersartigkeit vernachlässigt wurde, könnte gerade im Hinblick auf die Besonderheiten weiblichen Schreibens als Ausdruck weiblicher Differenz neue Bedeutung erlangen. Unter Rückgriff auf postmoderne Positionen wird heute vermehrt die Abkehr von einem 'einzig wahren' Literaturkanon gefordert, die Orientierung an einer immer auch ideologischen Motivationen unterworfenen Kunstnorm als unbrauchbar verworfen. Der Akzent verlagert sich auf die Beweglichkeit, die Diskurshaftigkeit der Kunst, die gegenseitige Beeinflussung und Überschneidung der verschiedensten Diskurse. Weigel fordert daher eine Vorstellung von »'Frauenliteratur' als diskursives Ereignis«,9 die allein der Vielschichtigkeit der heutigen Realität und des literarischen Ausdrucks gerecht werden kann und vor allem auch den Leser in den Akt der literarischen Kommunikation integriert. Eine solche Herangehensweise würde sich abwenden von einer Literaturgeschichtsschreibung als »disziplinierendes Verfahren«10 und die Einbeziehung von Abweichung und Differenz in weiblichen Schriften ermöglichen. Mit der Absage an die Möglichkeit der Existenz eines eindeutigen Signifikationsprozesses und einer identitätsgenerierenden Instanz erübrigen sich für den Poststruktugarde, Dannstadt/Neuwied 1986, 62-85. 8

Showalter 1987, »Feministische Literaturkritik...«, 79.

9

Weigel 1989, 19.

10 Weigel 1989, 12.

22 ralismus französischer Prägung zudem die oben geschilderten Hindemisse bei der weiblichen Identitätskonstitution, so daß für Autoren wie Barthes oder Foucault eine autorzentrierte Literaturwissenschaft ihre Berechtigung verliert. 11 Das weibliche Subjekt hat ja, wie wir gesehen haben, ein keineswegs unproblematisches Verhältnis zu seiner Autorschaft: »Der Autor als Instanz ist männlich. [...] Diese Instanz kann und darf nicht weiblich sein, da ja die geistige bzw. künstlerische Schöpfung als Ersatz und Überwindung der natürlichen und biologischen Schöpfung verstanden wird.« 12 Nun bedeutet das Festhalten an einer Suche nach der Spezifik weiblicher Subjektkonstitution jedoch nicht gleich einen Rückfall in ein auf »la femme et son oeuvre« konzentriertes, an biographischen Details orientiertes Vorgehen, wie es die Beschäftigung mit der Literatur von Frauen über lange Zeit bestimmte. Vielmehr ist zu fragen, ob nicht die Absage an Subjekt und Autorschaft zwar die Subjektkritik der Moderne fortfuhrt, auf die ideologiekritische Aufarbeitung der modernen Subjektphilosophie aber verzichtet, so daß die historischen Ausformungen des Geschlechterverhältnisses hier unberücksichtigt bleiben. Huyssen weist darauf hin, daß sich der Poststrukturalismus mit seiner radikalen Ablehnung der Kategorie 'Subjektivität' unter Umständen die Möglichkeit versagt, »die durchaus noch dahinvegetierende Ideologie des Subjekts (als männlich, weiß und bürgerlich) durch eine alternative Fassung der Subjekt-Problematik [...] zu unterlaufen«. 13 Auch in diesem Zusammenhang ist es m.E. daher angebracht, auf dem harten Boden der gesellschaftlichen Realität zu verbleiben, der von poststrukturalistischen Theoriegebäuden zuweilen elegant überflogen wird. Die Suche nach einer Antwort auf die Frage, wie sich weibliche Subjektkonstitution vollziehen könnte, wie sich Frauen im sozialen Beziehungsgefüge positionieren und wie sie diesen Prozessen literarisch Ausdruck verleihen, scheint mir nach der Beschäftigung mit den mehr als desillusionierenden Voraussetzungen weiblichen Schreibens ein immer noch lohnendes Unterfangen. Gerade in ihrer Andersartigkeit sind die Chancen der Literatur von Frauen zu sehen, aus dem Ausschluß vom gesellschaftlichen Herrschaftsdiskurs entstehen neue kreative Möglichkeiten. Bovenschen fordert in diesem Sinne das Abgehen von der »Vorstellung einer historisch immer existenten weiblichen Gegenkultur«, 14 bestätigt aber gleichwohl die Notwendigkeit der Suche nach weiblicher Differenz in der Literatur: 11 Vgl. die beiden einschlägigen Aufsätze von Roland Barthes und Michel Foucault, »La mort de l'auteur« (1968 noch in strakturalistischem Kontext erschienen) und »Qu'est-ce qu'un auteur?« (1969), in: R.B., Essais critiques, Bd.4: Le bruissement de la langue, Paris 1984, 61-67; Bulletin de la Société Française de Philosophie, Juli-September 1969, O.S. 12 Weigel 1990, 236. 13 Andreas Huyssen, »Postmoderne - eine amerikanische Internationale?«, in: A.H. / Klaus R. Scherpe (Hg ), Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek 1986, 13-44, 38. 14 Bovenschen, 65.

23 Wenn aber der sinnliche Zugang, das Verhältnis zu Stoff und Material, die Wahrnehmung, die Erfahrung und Verarbeitung taktiler, visueller und akustischer Reize, die Raumerfahrung und der Zeitrhythmus - und das ist etwas, was Ästhetik einem alten Modell zufolge als Theorie der sinnlichen Wahrnehmung ja auch einmal meinte - bei Frauen qualitativ andere Voraussetzungen haben, dann müßte das logischerweise auch in besonderen Formen der mimetischen Transformation sichtbar werden.15 So bezieht auch die Auseinandersetzung mit dem weiblichen Schreiben in dieser Arbeit die unterschiedlichen Voraussetzungen männlicher und weiblicher Kulturleistung grundsätzlich in ihre Betrachtung ein. Die gesellschaftliche Position der Frauen und auch ihr Schreiben sind determiniert durch die Ideologisierung von Weiblichkeit, die in den abendländischen Kulturen historisch genau umrissen werden kann und die weibliche Lebenswirklichkeit maßgeblich beeinflußt. Diese anthropologischen und soziokulturellen Kriterien rufen bei den Frauen ein Marginalitätsbewußtsein hervor, das jedoch keine neue Setzung von Weiblichkeit als Gegensatz zum Patriarchat generiert. Vielmehr manifestiert sich weibliche Kreativität neben und gleichzeitig mit der männlichen Tradition, so daß die Beschreibung einer 'weiblichen' literarischen Verfahrensweise immer eher als Annäherung denn als festschreibbarer Normenkatalog gesehen werden sollte. Es wird zu untersuchen sein, ob die literarische Standortbestimmung im Werk von Carmen Martin Gaite dazu beitragen kann, den verhärteten gesellschaftlichen Strukturen unserer Zeit eine Fortschrittsperspektive aus weiblicher Sicht aufzuzeigen.

15 Ebd., 73.

24

3. Zur Diskussion um »literatura femenina« in Spanien und in der Hispanistik Wenn künstlerische Leistung von Frauen als Phänomen nicht mehr zu übersehen war, bot dies dem männlich dominierten Literaturbetrieb meist weniger Anlaß zu einer differenzierten Auseinandersetzung als zur amüsiert-süffisanten Herabminderung ihrer Bedeutung. Eine solche Reaktion läßt sich auch in Spanien beobachten, wo seit 1944 mit der Verleihung des ersten »Premio Eugenio Nadal« an die damals erst 23jährige Carmen Laforet eine Publikationswelle von Frauen verfaßter Romane ihren Anfang nahm, die bis 1959 sechs der fünfzehn begehrten Nadal-Preise stellte. Eine bezeichnende Anekdote ist in diesem Zusammenhang der Vorschlag, den prestigeträchtigen Nadal in »Premio Dedal« umzubenennen, also lieber die Auszeichnung ab- als die Schriftstellerinnen aufzuwerten. Die etablierte Literaturkritik zeigte sich insgesamt unfähig, einem von einer Frau verfaßten literarischen Werk die gleichen Urteilskriterien zukommen zu lassen wie dem eines männlichen Kollegen. Man meinte zwar, in Texten von Frauen über die weibliche Psyche aufgeklärt zu werden oder Einblick in frauenspezifische Themen zu erhalten, deren Inferiorität aber zu keiner Zeit in Zweifel gezogen wurde - von der verbreiteten Tendenz, die Literatur von Frauen mit dem trivialen Genre gleichzusetzen, einmal ganz abgesehen. Der »literatura femenina« wurden, wie Margaret Jones in einer Vielzahl zeitgenössischer Rezensionen nachgewiesen hat, meist ausgesprochen unkonkrete und arbiträre Wertungskategorien entgegengebracht: Aunque no faltaron por completo análisis serios de estas obras como literatura, abundaban las referencias a supuestas características exclusivamente femeninas que, según los críticos, se podían vislumbrar en la obra. Puesto que no se aplicaban similares normas artísticas a la literatura masculina, el resultado fue una segregación artificial y la creación de una escuela crítica casi determinista según unas normas o reglas caprichosas y vagas, por falta de adecuada definición de lo femenino literario .1 Mit dieser Unklarheit über den Begriff des Weiblichen ging eine nicht weniger unklare Charakterisierung der Werke von Frauen mit so verbreiteten Allgemeinplätzen wie die 1

Margaret E.W. Jones, »Las novelistas españolas contemporáneas ante la critica«, in: Letras Femeninas, 1983, 22-34, 23.

9(1),

25 in weiblichen Schriften angeblich aufzufindende »sensibilidad« oder »delicadeza« einher.2 In einem zwar von der Frage nach einem »valor o carácter literario específicamente propio y distintivo« in Texten von Frauen ausgehenden Aufsatz von 1961 wird nur das Werk von Ana María Matute in dieser Hinsicht als gelungen bewertet; alle anderen aufgeführten Romane bezeichnet die Autor/« als mehr oder weniger 'weiblich', wobei dies meist ein negatives Werturteil, auf jeden Fall aber immer eine gewisse Minderwertigkeit bedeutet.3 Als literarischer Ausdruck eines »grupo minoritario aparte« wurden die Werke dieser Schriftstellerinnen »ante todo como producto de una mentalidad femenina en vez de consecuencia de su tiempo históricosocial, como parte de un movimiento literario o, sencillamente, como obra de arte« aufgefaßt.4 Die Reaktionen auf die in den fünfziger und sechziger Jahren erschienenen Romane von Frauen erschöpften sich vornehmlich in wohlmeinend-patemalistischen Kommentaren, die immer implizierten, daß die Literatur von Frauen zwar ein interessantes soziologisches Ereignis, mit der den Männern vorbehaltenen "hohen Literatur' und deren universalen Themen jedoch keineswegs vergleichbar sei. In diesem Klima sind auch noch die Äußerungen anläßlich eines 1972 von La Estafeta Literaria durchgeführten Kolloquiums zu sehen. Die Zeitschrift stellte die Frage »¿Existe una literatura específicamente femenina?«, über die zunächst weibliche und danach männliche Autoren getrennt diskutierten.5 Die Schriftstellerinnen fühlten sich durch die Frage ausnahmslos angegriffen, die sie als »una defensa que no hace falta« und vor allem als unzulässige Diskriminierung kritisierten: »[E]l tema me ofende. Y me ofende porque entraña una discriminación que no acepto y contra la que tengo que luchar. Y tengo que luchar contra ella como lucharía ante un problema social, porque esto no es más que un problema social.«6 Zu einem Zeitpunkt, als die Emanzipationsbewegung erst allmählich anfängt, geht das Kolloquium kurioserweise schon davon aus, daß die Frauen bereits zu allen gesellschaftlichen Sphären Zutritt hätten. Die separate Behandlung der Literatur von Frauen werde somit lediglich von »gente con mente muy retrógrada que quieren mantener sus privilegios« betrieben.7 »Considero que el arte no es sexuado«, »creo que 2

Vgl. Jones, 29 sowie Joan L. Brown, »Women writers in Spanish literaiy history: Past, present, future«, in: Revista Canadiense de Estudios Hispánicos, 14(3), 1990, 553-560, 555: »Women writers generally are credited with only two impressive achievements: creating believable female characters and demonstrating great sensitivity.«

3 4

Olga P. Fener, »Las novelistas españolas de hoy«, in: Cuadernos Americanos, 118, 1961, 211-223, 211. Jones, 23.

5

Jacinto López Gorge, »Coloquio: ¿Existe una literatura específicamente femenina?«, in: La Estafeta Literaria. 501, 1972, 14-17 u. 502, 1972, 18-21. An der weiblichen Gesprächsrunde beteiligten sich Carmen Bravo Villasante, Marta Portal, Elena Andrés, Concha de Marco, Angelina Gatell und Pureza Canelo. Die diskutierenden Männer waren Luis López Anglada, Antonio Gala, Florencio Martínez Ruiz, Rafael Montesinos, Manuel Pilares, Juan Perez Creus.

6 7

Ebd. 501, 15 (Pureza Canelo, Angelina Gatell). Ebd. (Elena Andrés).

26 hay, y nada más, una literatura buena y una literatura mala«8 - solche Aussagen prägen den Tenor der Diskussion, die insgesamt in einem überraschend heftigen Ton gefuhrt wurde, der den Rechtfertigungsdrang der spanischen Literatinnen zum Ausdruck bringt. Auch bei der männlichen Gesprächsrunde geistert die Unterscheidung zwischen 'hoher' und 'niedriger' Literatur durch die Redebeiträge, wobei die jeweilige Einstufung wieder nach dem Kriterium der Thematik erfolgte: »Pero en la alta poesía o la alta literatura, que no es la que cuenta estos pormenores domésticos y puramente fisiológicos, me parece muy difícil que se pueda diferenciar la que hacen las mujeres de la que hacen los hombres«.9 Beide Gesprächskreise erkennen gleichwohl an, daß sich die literarischen Werke der beiden Geschlechter aufgrund ihrer unterschiedlichen soziokulturellen Determinierungen sicherlich unterscheiden müssen und weisen damit den Weg für eine weniger polemische Auseinandersetzung mit der Literatur von Frauen, die zudem im Laufe der siebziger Jahre aus der außerliterarischen Frauenbewegung wichtige Impulse erhalten wird. Diese bringt zunächst einmal eine grundsätzliche Sensibilisierung im Hinblick auf die Situation der Frau in der Gesellschaft in die Diskussion ein, welche die Egalitätseuphorie des Kolloquiums von 1972 Lügen straft. Im Hinblick auf die Problematisierung des Zusammenhangs von Macht und Sprache werden die Erträge des Feminismus von Mari Sarda 1978 noch als äußerst unzureichend bewertet, wie eh und je sei die patriarchalische Herrschaft über Wort und Literatur ungebrochen. En el caso que concretamente nos ocupa, es decir, los libros, afirmaríamos sin riesgo de equivocación que el deseo inconfesable de unos y otros sería escribirlos todos, incluido un tratado sobre los sentimientos experimentados al ser madre. [. . .] El lenguaje, como las leyes o el trazado de las ciudades ha sido hecho por y a medida del hombre, que, no olvidemos detenta el poder. [. ..] Si hiciéramos un poco de historia veríamos que el castellano, catalán, gallego, etc...., son producto de la invasión de unos señores que inventaron el Imperio, de tan funestas consecuencias posteriores. De aquella ocupación, no sólo perduran los acueductos, sino las palabras y sobre todo la forma de estructurarlas, utilizarlas y hasta dispararlas.10 So wie Sarda bemühen sich nun auch feministisch orientierte Schriftstellerinnen wie Marta Pessarrodona oder Montserrat Roig um eine differenzierte Bestimmung des weiblichen literarischen Standorts im Patriarchat und hinterfragen dabei die Grund8

Ebd.. 16 (Marta Portal. Angelina Gatell).

9

Ebd. 502, 19 (Antonio Gala).

10 Mari Sarda. »Literatura feminista de los años 60/70. Silencio, gritos, indicios«, in: Camp de l'Arpa, 47, 1978, 2227, 24.

27 festen der modernen Gesellschaftsordnung. Was die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Literatur von Frauen angeht, sieht Marta Pessarrodona Ende der siebziger Jahre noch deutliche Defizite: »¿[CJuántos estudios existen sobre la labor experimental dentro de la novela de Carmen Martín Gaite? Me ahorro la ingrata labor de recordar los muchos estudios sobre la experimentación en la novelística dedicados a colegas de Carmen Martín Gaite.«11 Und unter der Rubrik »¿Por qué no ha habido mujeres genio?« problematisiert Roig in ihrer Essaysammlung ¿ Tiempo de mujer? die patriarchalischen Hindernisse fiir einen weiblichen Zugang zur Schrift. Sie setzt den historischen Ausschluß der Frau aus der Kreativität zu ihrer Reduktion auf die Maternität in Beziehung, die sie - so die patriarchalische Interpretation - unfähig mache, 'hohe Literatur' zu produzieren. Die schriftstellerische Aktivität der Frauen würde somit zu einem Angriff auf die im Patriarchat festgeschriebene männliche Superiorität: »Y es que el tema de la mujer da miedo. Y da miedo porque va más allá de los condicionantes económicos y sociales de la estructura actual, porque ataca al subconsciente y, atacando al subconsciente, ataca al poder del hombre.«12 Roig weist sehr deutlich auf die marginalisierte Stellung der Schriftstellerinnen hin, betont aber gleichzeitig die Notwendigkeit der Relativierung: Defender la cultura sólo en femenino es afirmar la exclusividad de la cultura determinándola a un solo grupo, por mucho que éste se desarrolle condicionado por la opresión en la cual vive. Si lo que escriben las mujeres nos llega determinado sólo por el sexo negaríamos otros determinantes, como los étnicos, ideológicos, religiosos o de clase.13 Spezifisch weibliches literarisches Schaffen ist für Roig nicht länger mit dem Stigma der Inferiorität behaftet, sondern bildet den Ausdruck eines neuen Selbstbewußtseins: »Un editor conocido me dijo una vez: ¿verdad que no te enfadas si te digo que se nota que escribes como una mujer? Me lo dijo con temor a que me enfadara y yo me lo tomé como un elogio.« Die Kategorisierung der Literatur nach »temas universales« und »pequeños sentimientos« verliert damit ihre Berechtigung, »[l]os temas no son clasificables«.14 Y la figura patriarcal se tambalea, y no representa el espíritu definido por Hegel, se busca la síntesis de lo hasta ahora clasificable, la síntesis del alma y el cuerpo, del sentimiento y la razón, de todo aquello que la tradición masculina ha pretendido mostrar como un distintivo de cada sexo. Algo importante se Marta Pessarrodona, »La discriminación de la mujer en la literatura«, ebd., 16-21, 21. 12 Montserrat Roig, »¿Por qué no ha habido mujeres genio?«, in: ¿Tiempo de Mujer? Artículos, entrevistas y reflexiones que constituyen datos, pistas y testimonios acerca de cómo es este tiempo para las mujeres, de cómo son tas mujeres de este tiempo, Barcelona 1980, 145-166, 148. 13 Ebd., 159. 14 Ebd., 164.

28 está desmantelando: el masoquismo femenino y la interiorización de la superioridad del hombre.15 Weibliche Differenz bildet ebenso die Arbeitshypothese für den Aufsatz von Marta Traba, der als erster von drei in Quimera erschienenen Beiträgen zur spanischen Diskussion des Themas »literatura femenina« im November 1981 erscheint. Auch Traba verspürt noch die Notwendigkeit zu betonen, daß es ihr keineswegs um Werturteile geht. In Anlehnung an die Kommunikationstheorie Roman Jakobsons stellt sie in Texten von Frauen eine »insistencia en el emisor« und vor allem die verstärkte Beachtung des Kommunikationsprozesses, eine »orientación hacia afuera« fest.16 Da Frauen also besonderen Wert auf die kommunikative Kapazität ihrer Texte legten, was sie oralen Traditionen annähere und dem Dialog eine besondere Bedeutung verleihe, entfernten sie sich von der literarischen Mode der »literatura autorreferencial«, die Traba zuvor als momentan kennzeichnend für den offiziellen Literaturbetrieb genannt hatte. Literatur von Frauen sei Literatur für Marginalisierte, nicht für eine intellektualisierte Elite. Der Beantwortung der Frage, ob die Frauen versuchen sollten, in die geweihten Sphären des Literaturbetriebs einzubrechen, stellt sie den Hinweis voran, daß gerade aus dem Bewußtsein einer Gegenkultur heraus Avantgarden entstanden sind. Wie Roig plädiert also auch Traba für eine Nutzbarmachung dieser besonderen Situation der Frauen, -deren Schreiben »desde otro lugar« neue gesellschaftliche Perspektiven eröffnen soll: Desde esa posición, las escritoras alcanzarían, bien sea un receptor más general, como el que consigue el cuento popular o la literatura oral, bien sea el mismo restringido receptor culto, pero manejando instrumentos de juicio adecuados. Una de las mayores pruebas de secular sometimiento es que esta literatura no se reconoce a sí misma; que busque encubrirse y pasar desapercibida, sin advertir que su sistema expresivo está fuertemente potenciado por una experiencia particular, de percepción, elaboración y proyección, de donde debería sacar partido.17 Carme Riera fuhrt die Diskussion im April 1982 weiter und beharrt auf der Nichtexistenz einer »conclusión válida«18 in bezug auf die Frage der Andersartigkeit der Literatur von Frauen. Auch sie beschreibt die Grundvoraussetzungen des weiblichen Literaturschaffens, die Frauen zunächst einmal veranlaßten, sich - häufig durch die Aufarbeitung ihrer Kindheit oder das Aufgreifen von Themen aus ihrem häuslichen Umfeld im literarischen Text - mit ihrer weiblichen Identität auseinanderzusetzen. Was 15

Ebd., 160

16

Marta Traba. »Hipótesis sobre una escritura diferente«, in: Quimera,

17

Traba. 11.

13, 1981, 9-11, 11.

18

Carme Riera. »Literatura femenina: Un lenguaje prestado?«, in: Quimera,

18, 1982, 9-12, 9.

29 nun die Sprachverwendung betrifft, leisteten Frauen detailliertere Beschreibungen von Empfindungen, besäßen einen breiteren Wortschatz z.B. bei Farbadjektiven und die Tendenz zur präzisen Beschreibung von Objekten und Sachverhalten aus ihrem häuslichen Erfahrungsbereich. Riera wendet ein, daß all diese 'Fähigkeiten', da sie ja im Zirkelschluß auf die Ausgrenzung von Weiblichkeit im historischen Prozeß zurückweisen, noch nichts über die grundsätzliche Andersartigkeit weiblichen Schreibens aussagten. Schließlich verweist sie in Anlehnung an Traba auf eine »sensación de complicidad«, welche auf die »conciencia o subconciencia de una historia común« und die »necesidad de afirmarse a través de una imagen no mediatizada por el hombre« zurückgehe.19 Aus dem Bewußtsein dieser soziokulturellen Marginalisierung heraus ergibt sich für Riera in der Literatur von Frauen die gesellschaftliche Alternative einer Verbindung von Intellektualität und Atavismus. In ihrer Reaktion auf die beiden vorgenannten Beiträge wendet sich Evelyne Garcia dem rezeptionsästhetischen Aspekt zu; sie fuhrt aus, daß Autorinnen bei ihrem Versuch der literarischen Selbstdefinition ein weibliches Publikum im Auge hätten, während sich ihren männlichen Kollegen die Frage der Geschlechtszugehörigkeit ihrer Leser gar nicht stelle. Garcia sieht hier eine unzulässige Einschränkung: »Todo cuanto sea distinción empobrecedora ha de ser rechazado, como preguntarnos sólo por la especificidad de la literatura femenina sin tocar la calidad y, más aún, la emancipación común.«20 Durch die Internalisierung eines femininen Erwartungshorizontes könne, so Garcia, ein restriktives und damit kontraproduktives Konzept des weiblichen Schreibens entstehen. Vielmehr müßten sich Männer und Frauen der Ideologiehaftigkeit der Sprache bewußt werden und die Macht dieser Sprache entsprechend untergraben. 1987 bietet der Sammelband Literatura y vida cotidiana21 eine erste Bestandsaufnahme von Theorie und Praxis der Auseinandersetzung mit der Literatur von Frauen in Spanien, wobei durch zwei methodologische Arbeiten ein theoretischer Rahmen skizziert wird. Dem Überblick über die Forschungslage der Theorie in den Vereinigten Staaten und Europa von Mar de Fontcuberta folgt ein Beitrag des Literaturwissenschaftlers Juan Ignacio Ferreras, welcher die Notwendigkeit der Abwendung von ideologisierten Weiblichkeitsvorstellungen betont;22 für ihn gehe es lediglich um die »mujer en sociedad« jenseits aller abstrakten philosophisch-ideologischen Implika-

19 Ebd., 11. 20 Evelyne García, »Lectura: N.Fem.Sing. ¿Lee y escribe la mujer en forma diferente al hombre?«, in: Quimera, 23, 1982, 54-57, 57. 21 M a Ángeles Duran / José Antonio Rey (Hg), Literatura y vida cotidiana. Actas de las cuartas jornadas de investigación interdisciplinaria, Seminario de Estudios de la Mujer, Universidad Autónoma de Madrid, Zaragoza 1987. 22 Mar de Fontcuberta, »La ginocrítica: Una perspectiva literaria 'otra'«, ebd., 53-65; Juan Ignacio Ferreras, »Mujer y literatura«, ebd., 39-52.

30 tionen. 23 Die Schlußfolgerungen seines Beitrags fallen allerdings hinter den Stand der Theoriebildung, wie er etwa in den Arbeiten von Roig oder Traba zum Ausdruck kam, weit zurück: [.. .] considero un peligro, es decir, una frustración más, el dividir la literatura, es decir, el introducir la discriminación sexual en la Literatura. Esta es la expresión de una sociedad, y sociedad lo somos todos, hombres y mujeres; diferenciar esta expresión (aparte de ser virtualmente imposible) a partir del sexo, acarrearía un empobrecimiento. 24 Diese* Sichtweise schließt die Tatsache aus, daß weibliche Differenz gerade nicht als »empobrecimiento«, sondern, ganz im Gegenteil, als Bereicherung für die gesellschaftspolitische Diskussion gesehen werden kann, und birgt somit die Gefahr, das emanzipatorische Potential des weiblichen literarischen Ausdrucks dem Erhalt des patriarchalischen Status Quo zu opfern. Zutreffender erscheint mir demgegenüber Antonia Cabanilles' Einschätzung der Auseinandersetzung mit der Literatur von Frauen in ihrer theoretischen Einfuhrung zu dem Band Crítica y ficción literaria: Mujeres españolas contemporáneas ais »crítica a la cultura occidental«, zumal sie gleichzeitig auf die Gefahr eines »cerrar lo femenino en la negación« ausdrücklich verweist. 25 Die achtziger Jahre zeichnen sich einerseits durch die eher oberflächliche, von »apresuradas declaraciones« genährte Beschäftigung mit dem Phänomen der gerade im gesellschaftlichen Kontext von Spaniens Übergang zur Demokratie wieder verstärkt aufgekommenen Literatur von Frauen im journalistischen Rahmen aus. 26 Andererseits läßt sich aber auch eine deutliche quantitative und qualitative Zunahme der akademischen Auseinandersetzung mit der Literatur von Frauen ausmachen. Im Bereich der literaturwissenschaftlichen Praxis erscheinen die problemorientierten Monographien von Carmen Martin Gaite, die in Desde la ventana (1987) in vier Essays über die schreibende Spanierin in Geschichte und Gegenwart reflektiert, und Biruté Ciplijauskaité, die in La novela femenina contemporánea (1970-1985). Hacia una tipología de la literatura en primera persona (1988) rund sechshundert europäische zeitgenössische Romane von Frauen untersucht, wobei die Größe des Korpus der Klarheit ihrer Ausfuhrungen nicht immer förderlich ist. Für die feministische Literaturtheorie in Spanien läßt die Übersetzung der Abhandlung von Toril Moi Teoría feminista literaria

23

Ferreras, 39.

24

Ebd., 50.

25

Antonia Cabanilles, »Cartografías del silencio. La teoría literaria feminista«, in: Aurora López / M a Ángeles Pastor (Hg), Crítica y ficción literaria: Mujeres españolas contemporáneas, Universidad de Granada, Seminario de Estudios de la Mujer, Granada 1989, 13-23, 21 bzw. 22.

26

Fernando Valls, »La literatura femenina en España: 1975-1989«, in: ínsula, 512/513, 1989, 13. Ymelda Navajas setzte mit der Herausgabe ihrer Anthologie Doce relatos de mujeres (Madrid 1982) einen Markstein für die im nachfranquistischen Spanien produzierte Literatur von Frauen.

31 im Jahre 1988 weitere Impulse erwarten.27 Die Auseinandersetzung mit der Literatur von Frauen innerhalb Spaniens ist jedoch - zumindest was die literaturwissenschaftliche Praxis betrifft - in quantitativer Hinsicht der nordamerikanischen Hispanistik weit unterlegen, wo seit Ende der siebziger Jahre literaturwissenschaftliche Anthologien und Monographien aus feministischer Perspektive erscheinen.28 Janet Pérez hat im Jahre 1988 die Monographie Contemporary women writers of Spain herausgebracht, die gut dreihundert Werke spanischer Autorinnen behandelt und auch die literarische Produktion in den Regionalsprachen integriert; 1991 folgte der Band Contemporary women writers of Spain. Exiles in the homeland von Joan Brown.29 Aufschluß über den Grad der Verbreitung der Auseinandersetzung mit der Literatur von Frauen in der nordamerikanischen Hispanistik geben weiterhin die Sondernummern der Zeitschriften Anales de la Literatura Española Contemporánea »Reading for difference: Feminist perspectives on women novelists of contemporary Spain«30 (dieser Band muß aus der Perspektive der feministischen Literaturtheorie in seiner Problemorientierung als besonders gelungen hervorgehoben werden), Revista Canadiense de Estudios Hispánicos31 sowie die auf Frauenliteratur spezialisierte hispanistische Zeitschrift Letras Femeninas. Doch sagt die rein quantitative Zunahme an Studien über von Frauen verfaßte Werke noch nichts über die Qualität der Herangehensweise aus, und die Gesamtheit der Forschung bietet denn auch ein ausgesprochen heterogenes Bild, wobei paraphrasierende, affirmative und überwiegend inhaltsorientierte Beiträge noch immer überwiegen. Über die Problemorientierung der Forschung im Hinblick auf weibliche Differenz kann die rein numerische Auswertung der - grundsätzlich begrüßenswerten - zunehmenden Berücksichtigung von Schriftstellerinnen in der Literaturwissenschaft keine Auskunft geben.32 Demgegenüber hat sich der von Hernán Vidal verantwortete Sammelband aus dem Jahr 1989, der die Tagung Cultural and historical grounding for Hispanic and LusoBrazilian feminist literary criticism dokumentiert, vorrangig der Theoriebildung verschrieben. Frauenliteraturforschung ist fur Vidal ein wichtiges gesellschaftspolitisches Feld, dem aber keine normative Theorie zugeschrieben werden könne. Die unreflek27 Die Titel von Martin Gaite und Moi erschienen in Madrid, Ciplijauskaités Monographie in Barcelona. 28 Vgl. z.B.: Lucia Fox-Lockeit, Women novelists in Spain and Spanish America, Metuchen/London 1979; Beth Miller (Hg.), Women in Hispanic literature. Icons and fallen idols, Berkeley / Los Angeles / London 1983 (dieser Band behandelt nicht ausschließlich Texte von Frauen); Janet Pérez (Hg.), Novelistas femeninas de la postguerra española, Madrid 1983; Carolyne L. Galerstein (Hg.), Women writers of Spain: an annotated bio-bibliographical guide. New York / Westport 1986; Robert C. Manteiga (u.a., Hg ), Feminine concerns in contemporary Spanish fiction by women, Potomac, Maryland 1988; Noel Valis / Carol Maier (Hg ), In the feminine mode. Essays on Hispanic women writers, Lewisburg/London/Toronto 1990. Vgl. außerdem im deutschen Sprachraum Christine Bierbach / Andrea Rössler (Hg.), Nicht Muse, nicht Heldin. Schriftstellerinnen in Spanien seit 1975, Berlin 1992. 29 Der Titel von Pérez erschien in Boston. 30 Bd. 12(1-2), 1987, hg. von Mirella Servodidio. 31 Bd. 14(3), 1990. 32

Vgl. die Statistiken in Pérez 1988 und Brown 1990, 1991.

32 tierte Applikation eines Theoriegebäudes auf ein bestimmtes Werk sei der Analyse der Werke von Frauen in ihrem gesellschaftlichen Bezugsfeld eher abträglich; in einer rein positivistischen Anwendung würden die Theorien aus ihrem ursprünglichen Kontext gerissen und verselbständigt, so daß das Bild einer »mujer arquetípica y ahistórica« entstehe:33 Dado este tratamiento, con frecuencia este tipo de material deja la impresión de querer convertir a esas intelectuales feministas francesas y anglosajonas en monumentos a quienes debe rendirse un homenaje, más bien que la de un trabajo en que el crítico mismo elabora una concepción propia del feminismo en la cultura y en la historia como fundamento de un plan de investigación a largo plazo, del cual se desprende conscientemente la selección de las obras que deben merecer atención especial.34 Naomi Lindstrom konstatiert in ihrer Aufarbeitung der feministischen Hispanistik und Lusitanistik, daß sich im Verlauf der bisherigen Entwicklung kein »unitary body of feminist literary theory and practice« herausgebildet habe,35 und Sara Castro-Clarén sieht den Feminismus in einem weiteren Beitrag als »a broad and complex cultural critique«,36 der jedoch keine eigenständige literaturwissenschaftliche Methodologie hervorbringen könne. Ausschlaggebend sei die Untersuchung der historischen und soziokulturellen Determinanten »of women's writing as one manifestation of the type of discourse characteristic of groups occupying a disadvantaged place in society«.37 Auf diese Weise ergibt sich die Kompatibilität eines feministischen Ansatzes mit verschiedenen literaturwissenschaftlichen Vorgehensweisen: Without devaluing the contribution of women to literature, one can recommend that feminist critics invest less time in the quest for a purely feminist body of theory and devote, instead, their efforts to mastering concepts and information that will enable them to maintain, refine, and clarify the connection between their literary commentaries and problems of society and culture.38 Und auch Elizabeth Ordófiez, die anhand ihrer eigenen Entwicklung als Literaturwissenschaftlerin Bilanz über den Stand der feministischen Hispanistik zieht, sieht den Vorteil der feministischen Theoriebildung gerade in ihrer »multiplicity or heterogeneity 33

Hernán Vidal, »Introducción«, in: Hernán Vidal (Hg.), Cultural and historical grounding for Hispanic and husoBrazilian feminist literary criticism, Institute for the Study of Ideologies and Literature, Minneapolis 1989, 7-17, 8.

34

Ebd.

35

Naomi Lindstrom: »Feminist criticism of Hispanic and Lusophone literatures: Bibliographic notes and considerations«, ebd., 19-51, 49.

36

Sara Castro-Clarén: »The novelness of a possible poetics for women«, ebd., 95-106, 103.

37

Lindstrom, 47.

38

Ebd., 50.

33 as postures essential for the destabilization of ideological or cultural hegemony«.39 Ordonez unterscheidet drei Phasen ihres »feminist intertext«,40 der sich im Anschluß an den Verlauf der US-amerikanischen feministischen Literaturwissenschaft zunächst auf die Aufdeckung der Ideologiehaftigkeit männlicher Frauenbilder, wie sie etwa von Kate Millett angeregt wurde, konzentriert habe.41 Als zweite Phase setzt sie die Untersuchung der Texte von Frauen hinsichtlich indirekter Äußerungen von Andersartigkeit an, wie sie etwa von Gilbert/Gubar angeregt wurde und die Suche nach »subversive meanings which may at once conform to and deviate from dominant or patriarchal literary discourse« impliziere.42 Zur Thematik des »reading for difference« hat Ordonez 1982 einen fur die feministische Hispanistik wegweisenden Aufsatz veröffentlicht, der die Schwierigkeiten der patriarchalischen Literaturgeschichtsschreibung mit der 'Einordnung' von Frauen verfaßter Werke untersucht: Yet, in many studies of the postwar novel, narrative by women has been but sparsely included, constituting as it does a body of texts often stubbornly resistant to categorization within critical schemata devised during the last two decades. [...] This idea of difference suggests why nonfeminist critics may have found working with texts by women so unmanageable, those works so unclassifiable, and why such critics may conclude their assessments by equating difference with deficiency.43 Einer feministisch ausgerichteten Lesart bietet sich so die Möglichkeit, die restriktive literaturwissenschaftliche Methode der Einordung in literarische Generationen zu umgehen; »it asks questions about why texts by women may be as they are; it does not prescribe nor proscribe what they ought to be«.44 Auch Ordonez gesteht der feministischen Literaturwissenschaft ein gewisses Maß an Eklektizismus zu, das die feministische Perspektive als eine unter vielen heraushebt. Mit einer als Fortfuhrung ihrer Überlegungen von 1982 gedachten Arbeit aus dem Jahr 1987 setzt fur Ordonez eine dritte Phase ihrer Auseinandersetzung mit der Literatur von Frauen ein. Nun integriert sie auch die französischen Ansätze; Parallelen zu deren Forderungen nach Auflösung von Hierarchien und nach einem weiblichen »Körperausdruck« sieht sie vornehmlich

39 Elizabeth Ordófiez, »The problematical permutations of feminist theory«, ebd., 79-94, SO. 40

Ebd., 79.

41

Vgl. Kate Millett, Sexual politics. New York 1970.

42 Ordóflez 1989, 85. 43 Elizabeth Ordóftez, »Reading contemporary Spanish narrative by women«, in: Anales de la Literatura Española Contemporánea, 7(2), 1982, 237-251, 237 bzw. 240. 44

Ebd., 240.

34 bei den jüngeren spanischen Autorinnen.45 Zum Abschluß ihres Überblicks von 1989 umschreibt Ordóñez eine literaturtheoretische Position, die der feministischen Praxis angemessen sei: I feel the need to reiterate how each moment of the critical enterprise represents a unique confluence of ideologies, and how each self who acts as critic is engaged in an ongoing, dynamic process with a complex cultural totality made-up of elements from the present and the past. Each individual confronts these elements in ways that are at once shared and unique, the latter being those that render the occupation of criticism its vitality and transformative potential. However, since each one of us intersects with texts and their cultural contexts at subtly different points, it is our responsibility, as critics, to assess the meaning of those points of convergence. In so doing, we will inevitably find that the terrain - the cultural, political, ideological ground - on which we stand as we formulate our assessment will demand its own clarification.46 Anfang der neunziger Jahre ist auch im spanischen und hispanistischen Kontext ein Rahmen fur die Auseinandersetzung mit der Literatur von Frauen abgesteckt, der einerseits Pluralität in bezug auf die literaturwissenschaftlichen Herangehensweisen zuläßt, ohne jedoch andererseits die spezifischen Grundvoraussetzungen weiblichen Schreibens zu vernachlässigen. La literatura de mujeres no es una literatura de protesta ni de revancha, es por encima de todo la expresión de creatividad de sus escritoras. No hay un programa de acción ni tiene una unidad política. Lo que sí hay es la realización de las mismas motivaciones en la creatividad, la investigación y la expresión personal que los hombres han tenido como su patrimonio desde que hay comunidades. No hemos dicho que insistimos que hay o habrá diferencias radicales entre el mundo creado por mujeres en su literatura y el mundo de la creación masculino. Lo que sí insistimos es que las variantes individuales de su condición femenina son una parte esencial de nuestra realidad y su exclusión ha sido una amputación social.47 Und trotzdem fühlen sich Schriftstellerinnen immer noch und immer wieder in die Defensive gedrängt. So behauptet etwa eine feministisch so engagierte Autorin und Journalistin wie Rosa Montero, Literatur sei in ihrer Funktion als Kunst geschlechts45

Vgl. Elizabeth Ordóñez, »Inscribing difference: "L'écriture feminine" and new narrative by women«, in: Anales de la Literatura Española Contemporánea, 12(1-2), 1987, 45-58.

46

Ordóñez 1989, 90. 1991 hat Ordóñez ihre Untersuchungen zur zeitgenössischen spanischen Literatur von Frauen in dem Band Voices of their own. Contemporary Spanish narrative by women (Lewisburg/London/Toronto) zusammengefaßt.

47

M a Elena Valdés, »Introducción«, in: Revista Canadiense de Estudios Hispánicos, 14(3), 1990, 393Í, 394.

35 neutral.48 Dabei entsteht eine kuriose Allianz mit (meist männlichen) Vertretern einer traditionellen Literaturwissenschaft, die die Frage nach der Andersartigkeit weiblichen Schreibens als unzulässige Diskriminierung grundsätzlich ablehnen, um so die über Jahrhunderte und bis heute anhaltende Ideologisierung der Weiblichkeit mit all ihren psychosozialen Konsequenzen übergehen zu können.49 Die ablehnende Haltung gegenüber der separaten Betrachtung der Literatur von Frauen wendet sich ins Affirmative, indem sie die Notwendigkeit einer Problematisierung der bestehenden Verhältnisse implizit negiert und das Fortschrittspotential weiblicher Differenz unter dem Deckmantel einer vermeintlich schon realisierten Gleichberechtigung vernachlässigt. Die Erkenntnisse der letzten Jahre über eine weibliche Differenz, die mit der traditionellen Wertminderung der Literatur von Frauen nichts mehr gemein hat, ermöglichen jedoch gerade die Suche nach Alternativmodellen, ohne Thematik, Stil oder die Ausarbeitung der Charaktere auf ahistorische Konstanten weiblichen Seins festzuschreiben. Das Aufdecken der aktuellen soziokulturellen Bedingtheit weiblichen Literaturschaffens im gesellschaftlichen Prozeß geht einen Schritt weiter, indem es die tradierten patriarchalischen Bewertungsgrundlagen in Frage stellt. Mit der Einbeziehung von weiblicher Differenz in die literaturwissenschaftliche Betrachtung stellen sich die in von Männern verfaßten Texten aufgefundenen Positionen und damit der offizielle Literaturkanon als relativier- und hinterfragbar dar. Dieser normative Literaturkanon besitzt freilich noch immer seinen Reiz für viele Autorinnen, die um den Preis ihrer Integration bereit sind, die Andersartigkeit weiblichen Schreibens zu negieren.

48 Vgl. Valls sowie ähnliche Aussagen von Schriftstellerinnen in: Javier Gofli, »Palabra de mujer«, in: Cambio 16, 883, 31.10.1988, 122f. 49

Vgl. z.B. Ferreras sowie Ignacio Soldevila Durante, »Sobre la escritura femenina y su reivindicación en el conjunto de la historia de la literatura contemporánea de España. (A propósito de un reciente libro de Janet Pérez)«, in: Revista Canadiense de Estudios Hispánicos, 14(3), 1990, 606-616.

36

4. Literatur in Diktatur und Demokratie Das Werk von Carmen Martin Gaite in seinem gesellschaftlichen Bezugsfeld Seit der Publikation ihrer ersten Erzählungen Ende der vierziger Jahre bildet die Reflexion über den Zustand der spanischen Gesellschaft eine Motivationsquelle für das literarische Schaffen von Carmen Martin Gaite, so daß viele ihrer Texte in einer ersten Lesart durchaus als Zeitzeugnisse der gesellschaftlichen Entwicklung Spaniens seit dem Spanischen Bürgerkrieg (1936-1939) gelesen werden können. Damit soll die Literatur Martin Gaites natürlich keineswegs auf ihren inhaltlich vermittelten sozialkritischen Gehalt reduziert werden. Indem aber der folgende historische Abriß durch Auszüge aus der literarischen Produktion der Autorin illustriert wird, ermöglicht sich die gleichzeitige Darstellung des historischen Hintergrunds und der dokumentarischen Dimension ihres Werkes, bevor sich die anschließenden Kapitel den im engen Sinn literarischen Verfahrensweisen zuwenden werden. In der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts hat Spanien mit dem Übergang vom agrarischen Ständestaat zur hochentwickelten Industriegesellschaft die wohl schnellste und radikalste gesellschaftliche Entwicklung seiner Geschichte erlebt. Aus dem Spanischen Bürgerkrieg waren die nationalen Truppen unter General Francisco Franco Bahamonde siegreich hervorgegangen. Das bis 1975 währende autokratische Regime des »Caudillo« warf Spanien weit hinter die politischen und gesellschaftlichen Errungenschaften der Zweiten Republik (1931-1936/39) zurück. Der Diktator bezog seine Legitimation aus dem Bürgerkrieg und dem traditionellen Katholizismus; er vereinte in seiner Person die Ämter des Staatsoberhauptes, des Regierungschefs, des Oberbefehlshabers des Heeres, des Führers des aus der Falange hervorgegangenen »Movimiento Nacional« sowie die gesetzgebende und die exekutive Gewalt. Franco es el primer gobernante que yo he sentido en mi vida como tal, porque desde el principio se notó que era unigénito, indiscutible y omnipresente, que había conseguido infiltrarse en todas las casas, escuelas, cines y cafés, allanar la sorpresa y la variedad, despertar un temor religioso y uniforme, amortiguar las conversaciones y las risas para que ninguna se oyera más alta que otra.

37

Hágase cargo de que yo tenía nueve años cuando empecé a verlo impreso en los periódicos y por las paredes, sonriendo con aquel gorrito militar de borla, y luego en las aulas del Instituto y en el NO-DO y en los sellos; y fueron pasando los años y siempre su efigie y sólo su efigie; los demás eran satélites, reinaba de modo absoluto, si estaba enfermo nadie lo sabía, parecía que la enfermedad y la muerte jamás podrían alcanzarlo.1 Die Berufung auf Einheit und Größe des spanischen Imperiums bildete die maßgebende historische Referenz der franquistischen Kulturideologie, die den Gang der spanischen Geschichte seit dem 18. Jahrhundert und vor allem die in der Zweiten Republik aufgegriffenen liberalen Traditionen als historischen Irrweg verwarf. »Desde la Reconquista para acá, todo habían sido glorias y triunfos del Imperio español hasta el siglo XVIII, que es cuando habían empezado a entrar en la Península los vientos antiheroicos y burgueses del progreso material, cuya culminación se situaba en el ateísmo de cuño extranjero implantado por la reciente República, de triste memoria. Enterrar el pasado reciente y exaltar el pasado remoto fue una de las más inquebrantables consignas de la España de Franco.«2 Die Auseinandersetzung mit dem von offizieller Seite als Kreuzzug idealisierten Bürgerkrieg reduzierte sich auf den Manichäismus einer strikten Einteilung der spanischen Gesellschaft in Sieger und Besiegte. - Oye - le quise consolar-. Dicen que la guerra se va acabar pronto. Que van a ganar los nacionales. Se encogió de hombros. - Por mí que gane el que sea. - ¿Te da igual que ganen los rojos o los nacionales? - ¡Si nadie gana! Nadie va a salir de donde está. - Pero los nacionales, ¿son los buenos, no? Tú sabrás eso... - Mira -dijo-, buenos ni malos no hay. Eso para las novelas, el que las lea. La guerra es lo único malo, más que una peste.3 Die kritisch-analytische Herangehensweise an dieses die spanische Realität prägende Schlüsselereignis blieb über Jahrzehnte hinweg dem Ausland vorbehalten. [L]a guerra es cosa de los libros, hija mía, la tienen toda fichada los extranjeros a base de becas que les da su país; ya verás qué poco vienen a pedirte a 1

Carmen Martín Gaite, El cuarto de atrás, Barcelona 1978. Alle Seitenangaben entsprechen der Ausgabe von Destino, Barcelona 1981 (Colección Destinolibro 135), hier 132f. Die im folgenden für El cuarto de atrás verwendete Abkürzung lautet 'Cuarto'.

2

Carmen Martin Gaite, Usos amorosos de la postguerra española, Barcelona 1987, 22f.

3

Carmen Martin Gaite, Ritmo lento, Barcelona 1963. Alle Seitenangaben entsprechen der Ausgabe von Destino, Barcelona 1974 (Colección Áncora y Delfín 462), hier 181f. Die im folgenden für Ritmo lento verwendete Abkürzung lautet 'RL'.

38 ti que les cantes la Chaparrita.4 Nach Ende des Zweiten Weltkriegs begann für Spanien eine Phase der politischen und wirtschaftlichen Isolation. Der Franco-Staat wurde in Potsdam international verurteilt und blieb aus den Vereinten Nationen ausgeschlossen; im Bereich der Wirtschaft erwies sich die Notwendigkeit der Autarkie als zwingende Konsequenz. Eine solche, stark durch staatlichen Interventionismus gekennzeichnete Wirtschaftsform entsprach der Ideologie der Falange im Sinne einer Produktion im Dienste des Vaterlandes, einer Priorität der Politik vor der Wirtschaft und einer Industrie, die vornehmlich dem nationalen Prestige dienen sollte. »Außerdem traf sich diese Politik mit einem übersteigerten Nationalismus als Rechtfertigungsideologie des neuen Regimes.«5 Spanien sollte unabhängig sein und sich auf diese Weise als religiöse und moralische Enklave der westlichen Welt erhalten. Entsprechend war der spanische Lebensalltag der vierziger Jahre durch die ideologische Vereinnahmung der »austeridad«, durch die Lebensmittelrationierung einerseits und einen florierenden Schwarzmarkt andererseits geprägt. [. . .] entonces es que no había opción ni manera de probar a jugar, yo no sé si sería cosa de la posguerra, del miedo al riesgo que nos inculcaban en nuestras casas a todas horas, de tantas prohibiciones, de aquel vivir precario y encogido, como en sordina [...] (R, 150) Pero ya, en cambio, después de la guerra, el estraperto [...] se había convertido en algo agobiante y sórdido, no se podía bromear con aquel contrabando, clandestinamente admitido, que encarecía y dificultaba la posibilidad de conseguir arroz, aceite, carbón y patatas, era un nombre que ensombrecía el rostro de los adultos cuando lo pronunciaban y que para mí va unido a otras expresiones igualmente repetidas y cenicientas: Fiscalía de Tasas, cartilla de racionamiento, Comisaria de Abastecimientos y Transportes, instituciones vinculadas con la necesidad de subsistir, con el castigo y la escasez, vivero de papeleos y problemas que a nadie podían divertir... (Cuarto, 131f.) Mi padre no se explicaba de dónde sacaba la gente el dinero para abrir tantos locales, decía que eran fruto de los negocios sucios, del estraperto. (Cuarto, 180) Celes, que a fuerza de ambición y asco a la pobreza había llegado a enriquecerse luego mucho con el estraperto, acudía frecuentemente a la soledad y calamidades de sus primeros meses en Madrid. "Yo no me moriré sin haber 4

Carmen Martín Gaite, Retahilas, Barcelona 1974. Alle Seitenangaben entsprechen der Ausgabe von Destino, Barcelona 1979 (Colección Destinolibro 62), hier 74. Die im folgenden für Retahilas verwendete Abkürzung lautet 'R'.

5

Walther L. Bemecker, Sozialgeschichte

Spaniens im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main 1990, 299.

39 pasado de ser un pobre destripaterrones como ellos" - había jurado llorando delante del amigo de sus padres que vino a notificarle su orfandad. Los relatos del Celes correspondientes a esta época de su infancia en el Madrid rojo y después en el recién liberado, eran interesantes y a veces sabía comunicarles cierto patetismo, que emocionaba. Pero con ellos se terminaba su repertorio y no decía otra cosa alguna que tuviese el más mínimo interés. Se trataba de una persona sin escrúpulos ni ideas, inflamada únicamente por el afán de medrar. (RL, 162) Franco hatte die Familie (neben Gemeinde und Einheitsgewerkschaft) zum Stützpfeiler des franquistischen Staates erklärt. Auch er selbst sah sich »menos como un general conquistador que como un benevolente patriarca familiar«6 und zeigte sich gerne mit Frau und Kind in der Öffentlichkeit. - En Salamanca estaba el Cuartel General, ¿no? - Sí, allí estaba, en el Palacio del Obispo. - Vería usted a Franco. - Claro; una vez, me acuerdo, después de no sé qué ceremonia en la catedral, a una distancia como de aquí a esa mesa, muy tieso, con sus leggis y su fajín de general, saludando con la mano y tratando de mostrarse arrogante, aunque siempre tuvo un poco de barriga, iba con la mujer y con la hija, llevaban poca escolta. (Cuarto, 63) Der Staat, so eine euphemistische Formulierung im »Fuero del Trabajo« von 1938, »libertará a la mujer casada del taller y de la fábrica«.7 Somit blieb der Aktionsradius verheirateter Frauen weitgehend auf die häusliche Sphäre beschränkt; die einzige Möglichkeit der Berufstätigkeit bot sich für sie im Bereich der Beschäftigung in fremden Haushalten. »Fue una involución temporal hacia épocas dominadas por los más puros principios patriarcales. Necesidades de tipo práctico, impuestas por las especiales circunstancias de un país que debía reconstruirse, unidas al conservadurismo ideológico de los vencedores, devolvieron a la mujer al hogar y a las labores domésticas.«8 Der »Servicio Social« der falangistischen »Sección Femenina« war die einschlägige Institution zur ideologischen Bildung der jungen Mädchen. Obligatorisch für alle unverheirateten Frauen zwischen 17 und 35 Jahren, sollte er ihnen nicht nur die Prinzipien der Nationalen Bewegung nahebringen, sondern bildete auch einen »inesquivable requisito para obtener trabajo«.9 6 7

Raymond Carr, España: de ta Restauración a la democracia, 1875-1980, Barcelona 1983, 223 (Orig. Modem Spain 1875-1980, 1980). Zit. nach: Rosa M* Capel, »Historia de los cambios políticos y sociales en España«, in: Concha Borreguero (u.a., Hg ), La mujer española: de la tradición a la modernidad (1960-1980), Madrid 1986, 17-27, 18.

8

Ebd.

9

Martin Gaite 1987, Usos amorosos de la postguerra..., 59.

40 Pero hubo que arceglar muchas cosas, la primera mi situación anómala con el Servicio Social, una chica no podía salir al extranjero sin tener cumplido el Servicio Social o, por lo menos, haber dejado suponer, a lo largo de los cursillos iniciados, que tenía madera de futura madre y esposa, digna descendente de Isabel la Católica. (Cuarto, 42) Aufgrund fehlender Handlungsfreiheit und der systematisch suggerierten Auffassung, daß der Status einer unverheirateten »solterona« minderwertig sei, erscheinen die Frauen als Leidtragende der gesellschaftlichen Verhältnisse im Franco-Staat. Me da pena de Mercedes aunque no la quiero mucho, cada vez más separada de todos y más orgullosa, intransigente como la tía. Hasta la misma cara se le va poniendo. Me ha dicho Julia que son treinta años los que cumple en febrero, yo creía que veintinueve.10 Hasta que un día Aurora, con ocasión de contarme cotilleos de Magdalena y su padre, comentó lo desquiciada que le parecía la vida de la prima. Me contó historias suyas algunas de las cuales yo ya conocía. - Pero la espina de ella es que va para solterona, la pobre. Como no lo remedies tú. -¿Yo? - Sí. Claro. Tú. ¿No has notado las ganas que te tiene y cómo trabaja el asunto? (RL, 261) Por aquel tiempo, ya tenía yo el criterio suficiente para entender que el "mal fin" [. ..] aludía a la negra amenaza de quedarse soltera, implícita en todos los quehaceres, enseñanzas y prédicas de la Sección Femenina. La retórica de la postguerra se aplicaba a desprestigiar los conatos de feminismo que tomaron auge en los años de la República y volvía a poner el acento en el heroísmo abnegado de madres y esposas, en la importancia de su silenciosa y oscura labor como pilares del hogar cristiano. (Cuarto, 93) Die in der Republik erzielten Fortschritte in der Gesetzgebung etwa in bezug auf das Scheidungsrecht wurden revidiert, und bis zur Reform des »Código Civil« 1975 bildete die »licencia marital«, das Einverständnis der Ehemänner, die Voraussetzung für jegliche öffentliche Betätigung von Frauen. Bis 1978 gab es ein Gesetz, das die Benutzung der Antibabypille und die Information über dieses Verhütungsmittel unter Strafe stellte. Eine Ehe garantierte zwar gesellschaftliches Ansehen, bedeutete jedoch auch die absolute Entmündigung der Frauen; sie hatten kein Recht, weder über ihren 10

Carmen Martín Gaite. Entre visillos. Barcelona 1958. Alle Seitenangaben entsprechen der Ausgabe von Destino, Barcelona 1975 (Colección Destinolibro 18). hier 226. Die im folgenden fiir Entre visillos verwendete Abkürzung lautet 'EV.

41 Körper noch über ihr Vermögen oder ihre Kinder selbst zu bestimmen. Ihren idealisierenden Jungmädchenträumen folgte häufig ein böses Erwachen im ehelichen Alltag. Las chicas sin novio andaban revueltas a cada principio de temporada, pendientes de los chicos conocidos que preparaban oposición de Notarías. [...] Se veían del brazo de un chico maduro, pero juvenil, respetable, pero deportista, yendo a los estrenos de teatros y a los conciertos del Palacio de la Música, con abrigo de astracán legítimo; sombrerito pequeño. Teniendo un círculo; seguras y rodeadas de consideración. Masaje en los pechos después de cada nuevo hijo. Dietas para adelgazar sin dejar de comer. Y el marido con Citroën. (EV, 195) Cuando ella era soltera, las señoras de Fuenterrabía le decían a mamá, los veranos: "Tu chica, qué estilo. No es que sea guapa, pero tiene un estilo". Nadaba, dormía siesta, comía de todo. No costaba trabajo, entonces, estar en forma. Ella este verano había seguido el consejo de otras amigas casadas y se había cuidado un poco más, había ido alguna vez a la peluquería, se había quitado los pelos de las piernas, pero eran cosas que llevaban tiempo y se hacían a desgana, sin ilusión, el niño mamando todavía cada tres horas. (EV, 236) Nahezu der gesamte Erziehungssektor befand sich in den Händen der Kirche, die sich dieses Privileg 1953 in einem Konkordat bestätigen ließ. Die Koedukation wurde verboten, so daß Jungen und Mädchen eine qualitativ unterschiedliche, rollenspezifische Ausbildung erhielten und in gegenseitiger Unkenntnis aufgezogen wurden. Para casarte conmigo, no necesitas saber latín ni geometría; conque sepas ser una mujer de tu casa, basta y sobra. (EV, 174) [M]uchas veces estaba a punto de decirle que [...] me hubiera encantado ser una niña porque no le veía a la cosa más que ventajas, por puro desafío, porque me irritaba aquella alarma desmedida, pero no me atrevía, y el hecho mismo de no atreverme me hizo intuir que en esa materia existía como un complot extemo contra la libertad de las personas. Y lo hay, qué duda cabe, ser hombre o mujer tal como te coaccionan a serlo esos esquemas es una entelequia que te impide ya para siempre la espontaneidad; [...] todos los líos salen de esas diferencias que nos meten de pequeños y que nos embarullan la capacidad de ser nosotros mismos como querríamos ser; (R, 165f.) Erst unter den veränderten strukturellen Bedingungen der fortgeschrittenen Industrialisierung wurde 1970 mit der »Ley General de Educación« eine »escuela unificada

42 abierta a todos por igual« ermöglicht.11 Bis zu dieser Zeit (und in bestimmten bürgerlichen Kreisen auch noch heute) wurden die konfessionellen, kirchlich getragenen und teuren Privatschulen vor allem bei der Ausbildung von Mädchen den staatlichen Lehrinstituten vorgezogen. Por lo visto, las chicas de familias conocidas lo corriente, cuando hacían el bachillerato era que lo hicieran en colegios de monjas, donde enseñaban más religión y buenas maneras, y no había tanta mezcla. - ¿Pero mezcla de qué? - le pregunté a don Salvador. - Mezcla de chicas humildes. La matrícula del Instituto es más barata que en un colegio y vienen muchas chicas de pueblos, ya lo habrá notado. No es de buen tono estudiar aquí. (EV, 213) In der unmittelbaren Nachkriegszeit herrschte ein Klima der politischen Apathie. Kirchliche und staatliche Zensurinstitutionen hielten das Land in einer Art Vakuum; eine offiziell geförderte Evasionskultur, die neben trivialen Druckerzeugnissen auch Radioserien und vor allem den Film umfaßte, sollte von den realen Mißständen ablenken. »En posesión de más butacas de cine per cápita que cualquier otro país europeo, la España de las décadas de 1940 y 1950 era una nación de adictos al séptimo arte. [...] Las películas americanas e italianas importadas, aunque mutiladas por la censura hasta convertirse en irreconocibles, fueron portadoras de valores incompatibles con los del régimen.«12 Die Beliebtheit des Kinos wurde vom Regime einerseits zu Propagandazwecken genutzt; doch offenbarte sich in den importierten Filmen gleichzeitig eine sexuelle Freizügigkeit, welche den repressiven Moralvorstellungen des Franquismus zuwiderlief; vor allem die Kirche brachte dem Kino daher ausgeprägtes Mißtrauen entgegen. - Verá, padre, que algunas veces cuando he ido al cine, me excito y tengo malos sueños.

[...] - El cine, siempre el cine, cuántas veces lo mismo. Ahí está el mal consejero, ese dulce veneno que os mata a todas. [...] - No vuelvas mucho al cine, hija. Hace siempre algún mal. - Voy esta tarde; pero es dos erre. "Marcelino pan y vino", una de un milagro. (EV, 82-84)13 11

Inés Alberdi, »La educación de la mujer en España«, in: Borreguero u.a., 71-80, 71.

12

CaiT, 221f.

13

Die »R«-Kategorisierung bezieht sich auf die zusätzlich zur staatlichen Zensurinstitution eingerichtete kirchliche Zensurbehörde (»3R-mayores, con reparos; 4R-gravemente peligrosa«; Luis Alonso Tejada, La represión sexual en la España de Franco, Barcelona 1977, 134f ). Die spanische Produktion Marcelino pan y vino (1954, Ladislao

43 Doch waren es nicht nur die ausländischen Filmproduktionen, die die ersten Ansätze gesellschaftlichen Fortschritts in das 'ewige Spanien' Eingang finden ließen. In den fünfziger Jahren begann sich das Land im Kontext des Kalten Krieges und aufgrund seiner desolaten wirtschaftlichen Lage dem Ausland wieder zu öfihen. Das erste sichtbare Zeichen waren die Stützpunktabkommen von 1953 mit den USA, die Spanien wirtschaftliche und militärische Hilfe gewährten. 1955 erfolgte der Eintritt in die Vereinten Nationen. Der 1957 mit der Beteiligung der in der katholischen Laienvereinigung »Opus Dei« organisierten Technokraten an der Regierung einsetzende Wirtschaftsaufschwung gab der »paz de Franco« eine neue Wende: Nach seiner durch die Kriegsfolgen ausgelösten apolitischen Haltung in den unmittelbaren Nachkriegsjahren sah das spanische Volk nun aufgrund der durch den wirtschaftlichen Fortschritt erzielten Möglichkeit sozialer Mobilität und materiellen Wohlstands von politischen Forderungen weitgehend ab. 14 Das neue, im Stabilisierungsplan von 1959 festgelegte Vorgehen in der Wirtschaftspolitik machte die weibliche Berufstätigkeit zu einer strukturellen Notwendigkeit. Mehr und mehr Frauen nahmen Anstellungen im Dienstleistungsbereich an. Por eso, aunque Andrea actualmente podía decir bien alto, y sin que fuera propiamente mentira, "trabajo en una cafetería, salgo a la calle, me pierdo entre la gente, nadie me pide cuentas, me compro trajes y zapatos, no me pudro en un pueblo, les gusto a los chicos, sé un poco de inglés", este resumen solamente se volvía significativo al añadirle secretamente la rúbrica del "soy aquella que soñé", como si la imagen de hoy no fuera verdad más que por estar referida al deseo con que empezó a ser acariciada quince años atrás, en la casual glorieta.15 Den Vertreterinnen der »nueva clase media«16 gelang es, sich von der restriktiven Frauenrolle, die der franquistische Staat für sie vorsah, bis zu einem gewissen Grad zu befreien. Parallel zu dieser Entwicklung ist in Spanien ein rapide fortschreitender Säkularisierungsprozeß zu beobachten, und gerade die berufstätigen Frauen der neuen Mittelschicht zählten zu den »estratos más afectados por el proceso descatolizador«.17 Doch trotz dieses mit der wirtschaftlichen Entwicklung einhergehenden gesellschaftlichen Wertewandels blieb für viele Frauen - selbst wenn sie über eine akademische Vajda) ist ein typisches Beispiel fui die zu dieser Zeit in Spanien verbreitete Evasionskultur. 14 Vgl. Carr, 216. 15 Carmen Martin Gaite, »Variaciones sobre un tema« (1967), in: C.M.G., Cuentos completos, Madrid 1978, 10-18, 17 (Erstveröffentlichung in der zweiten Ausgabe von El balneario, Madrid 1968). Die im folgenden für die Cuentos completos verwendete Abkürzung lautet 'CC'. Vgl. zur Editionsgeschichte der Erzählungen Brown 1987. 16 Vgl. zur »nueva clase media« Raymond Carr / Juan Pablo Fusi, España, de la dictadura a la democracia, Barcelona 1979, 106ff. 17 Capel, 26.

44 Ausbildung verfugten - auch weiterhin die ausschließliche Betätigung als Hausfrau und Mutter das eigentliche Lebensziel. Aurora había embellecido; quería tener hijos y - colmada su sed de dominio la idea de renunciar a todo por el hombre amado debía excitarla como un goce superior. (RL, 87) Porque Lucía, a pesar de proclamar con entusiasmo lo mucho que mi amistad la estaba haciendo cambiar, no dejaba de aludir al matrimonio como la inevitable meta de toda mujer. (RL, 152) Das höhere Bürgertum, eine der von Franco favorisierten Bevölkerungsgruppen, zeichnete sich in besonders prägnanter Weise durch das gleichzeitige Vorhandensein von traditioneller Wertorientierung und 'moderner', vom Beispiel der nun nach Spanien strebenden ausländischen Touristen beeinflußter Lebensformen aus. Lydia era muy moderna pero católica cien por cien. Lo que más admiraba en Gertru era su inocencia. (EV, 239) José María, el hermano, que acababa de volver del campamento le contó que Tofluca tenía en casa unos franceses y que andaba todo el día con ellos de acá para allá. Que estaba muy moderna. (EV, 42) - Jolines, pero también ganará pasta. El que quiere la col, quiere las hojitas de alrededor, ¿no? Ahora, eso sí, lo que está es muy moderno. Se da un flash a Mario Conde.18 Die spanische Wirtschaft weist in den sechziger und siebziger Jahren nach Japan die weltweit höchste Steigerungsrate auf. Diese mit der Stagnation der unmittelbaren Nachkriegszeit kontrastierende Dynamik bewirkt bei der Bevölkerung das Umschlagen der vormals propagierten Sparsamkeit in einen allgemeinen Konsumrausch. Yo no lo entiendo, la verdad, que un veraneo consista en estar todo el día yendo de compras a Gerona y Barcelona para volver cargados de quitasoles, mosaicos de colorines, limpiafondos para la piscina, muestras de tela y bidés, no te rías, no, traen cosas más absurdas que bidés muchas veces. Y lo peor es que vienen indefectiblemente de mala uva; sacan las cosas del coche, dicen que vienen rotos, lo dejan todo allí por el medio, ya aburridos de las compras, y acto seguido a ducharse y a largarse a casa de amigos o al club a cenar. Pero al día siguiente, que es lo que no se entiende, ya se les han ocurrido nuevos pretextos para quemar caucho. (R, 83)

18

Carmen Martín Gaite. Nubosidad variable. Barcelona 1992, 73. Die im folgenden flir Nubosidad variable verwendete Abkürzung lautet 'NV. - Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die sowohl in dem Text von 1958 als auch 1992 auftretende Verwendung des Verbums »estar«!

45 »Los nuevos lemas de los afios sesenta eran la racionalidad, la eficiencia, las máximas del mundo de la corporación comercial, impersonal y competitiva, más que las del mundo confortable de la relación familiar y del favor personal«;19 auch das zwischenmenschliche Miteinander wird von einer so weitreichenden Umwälzung, wie sie die Anpassung an die moderne Industriegesellschaft für Spanien darstellt, unweigerlich betroffen. Auf diese Weise entsteht ein psychologisches Konfliktpotential, das vor allem die spanischen Frauen der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts entscheidend prägt. Si es que es empeñarse en lo imposible, ¡separación a la europea!; esta tarde, perdida ahí atrás en la maleza, antes de que se me apareciera el caballo ése tan terrorífico, lo estaba pensando a propósito del miedo que tenía: ¿cómo va a ser europea una persona que tiene sus raíces en el Tangaraflo?, si no puede ser, comprendí que de esa contradicción han nacido todos los encontronazos que me he pegado con la vida, [...]. (R, 199) Tatsächlich bedeuteten die Veränderungen der sechziger Jahre auch das massive Einsetzen von Migrationsbewegungen, die den Kontrast zwischen den traditionellen, strukturschwachen ländlichen Gegenden und den modernen städtischen Zentren mehr und mehr verstärkten. In den industrialisierten Regionen entstand innerhalb kürzester Zeit ein Industrieproletariat, das häufig in den Urbanen Randgebieten unter menschenunwürdigen Umständen lebte. Y, sin transición, se puso a contarme la historia de su familia. Habían venido hacía tres días de un pueblo de Jaén donde no había trabajo más que cuando la recogida de la aceituna. No se podía resistir más tiempo: se morían de hambre. "En las ciudades grandes - mandaban a decir los que habían venido - hay sitio y trabajo para todos." Les animaban en las cartas. Da pena arrancar de la tierra donde se ha vivido siempre, pero cuando ya no se puede más, no se puede. Hablaba en un tono uniforme, mirando a la calle, como si no me lo contara a mí. Los ojos se le abatían a ratos y a ratos se abrían parados y sonámbulos, como aturdidos del movimiento del local. Su pueblo era Linares. Vinieron. Un primo de Fernando les había dicho en una carta que por vivienda, nada. Que se puede, en los barrios extremos, hacer una chabola en dos noches, cuando no anclan los guardias. (RL, 249) Nach Frankreich, Deutschland oder in die Schweiz ausgereiste Emigranten verringerten die Arbeitslosenquote und stärkten die spanische Wirtschaft mit ihrem im Ausland erarbeiteten Einkommen; außerdem wurde das Wirtschaftswachstum durch die etwa gleichzeitig einsetzenden Deviseneinnahmen aus dem Tourismus gefördert. Die 19 Carr/Fusi, 104.

46 städtebauliche Entwicklung verwandelte Madrid innerhalb kürzester Zeit von der Verwaltungskapitale in ein schnellebiges Industriezentrum. Estuve comentando con Julio [...] la distinta fisonomía que el barrio había venido tomando de pocos años a aquella parte. [...] Seguramente, recién casados nuestros padres, sería un barrio rico, casi aristocrático, pero actualmente muy poca era la gente de dinero que seguía viviendo a gusto apartada en aquellos chalets y que no se dejaba arrastrar hacia las avenidas llenas de ruido y de luz, donde se demolían sin parar los edificios de una planta con su cachito de jardín para dar paso a altivos rascacielos. Crecía la avalancha hacia las afueras. Hasta nuestro barrio también habían llegado las voces de alarma, y cada día era mayor la desbandada hacia el centro. Hablaban de que iban a hacer allí una autopista. Los cartelitos blancos de "Se vende", menudeaban en los chalets del barrio, que los ricos malvendían, en su furor de escapar como quien desecha un traje anticuado. (RL, 226f.)20 La madre de Jaime vivía en un barrio de chalets antiguos apiñados en una hondonada y rodeados por un cerco de grúas y excavadoras que amenazaban aquella terca y anacrónica supervivencia. Cada día se ganaban palmos al desmonte, se ponían los cimientos para nuevas edificaciones y se iban levantando con celeridad inmoderada altas fachadas insulsas que miraban al viejo reducto de los chalets con una estúpida superioridad de jirafas. 21 Nunca he entrado en ningún chalet viejo de la Ciudad Lineal, pero no por falta de ganas, he dado muchos paseos por allí mirándolos desde fuera, sobre todo hace años, cuando amenazaron con que iban a tirar los más bonitos, ahora ya deben quedar pocos en pie. (Cuarto, 168) Die sozialen Schattenseiten des spanischen Wirtschaftswunders traten von Jahr zu Jahr deutlicher hervor. Parallel zur 'Modernisierung' Spaniens entwickelte sich eine Oppositionsbewegung, die seit der zweiten Hälfte der funziger Jahre auf gesellschaftlichen Fortschritt hinarbeitete. Arbeiter und Studenten sowie die expandierenden Mittelschichten stellten zunächst materielle, später auch verstärkt politische Forderungen.22 20

In dem Artikel »La nueva sociedad española« bezieht sich José Luis Aranguren 1964 auf Martin Gaites literarische Verarbeitung dieses Phänomens: »Este "pequeño mundo", arruinado por la guerra, ha sido muy bien descrito en su descaecido estado residual de la postguerra, en la bella novela de Carmen Martin Gaite, Ritmo lento, que justamente ha venido a publicarse cuando los urbanizadores del "gran Madrid" emprenden sistemáticamente la tarea demoladora de estos vestigios últimos de lo que habría podido ser un Madrid a la vez eucopeo y a la medida proporcionada a la provincia española, ejemplar para ella.« J.L.A., in: Cuadernos para el Diálogo, März 1964, 48.

21

Carmen Martín Gaite, Fragmentos de interior, Barcelona 1976. Alle Seitenangaben entsprechen der Ausgabe von Destino, Barcelona 1980 (Colección Destinolibro 83), hier 38. Die im folgenden für Fragmentos de interior verwendete Abkürzung lautet 'Fragmentos'.

22

Vgl. zu den Oppositionsbewegungen Walther L. Bernecker, Spaniens Geschichte seit dem Bürgerkrieg, München

47 Se llamaba María Teresa, de apellido no me acuerdo, la compañera de clase que me llevó allí, una chica de gafas que hablaba de la emancipación femenina, se mordía las uñas y decía tacos, costumbre aún llamativa entre mujeres de la época. Era del grupo de mi hermano Santi, gente de la FUDE, aunque por el cuarto de los conspiradores no pisó nunca, que yo sepa. (NV, 231 ) 23 La gente que por aquellos años había empezado a vivir en comuna tenía a gala burlarse de las convenciones burguesas y exhibir cierto grado de desorden vendido como espontaneidad y desinhibición. Las menciones a Marx y a Simone de Beauvoir recibían un refuerzo de modernidad y eficacia cuando se mezclaban con un manejo experto de estadísticas de exilio, natalidad y desempleo, discos de Raimon o de Brassens y exaltación del amor libre. [...] [...] Pero de pronto me parece haber hallado el patrón escondido sobre el que se organizan [...] fiestas de "élite" como la del otro día en casa de Gregorio Termes, donde la consigna es no hacer caso de nadie, porque todos se consideran elegidos y cómplices. Seguro que Gregorio fue un progre de los sesenta, se bañó poco, vivió en comuna y atacó de forma furibunda el orden burgués. (NV, 243) Unter dem Einfluß des Zweiten Vatikanischen Konzils begannen Vertreter der unteren Ebenen der kirchlichen Hierarchie, von der Ideologie des Regimes Abstand zu nehmen und sich wieder auf die sozialen Aufgaben der Kirche zu besinnen. In Presseorganen wie Triunfo oder Cuadernos para el Diálogo - das Presserecht hatte 1966 eine (wenn auch insgesamt unzureichende) Liberalisierung erfahren - formierte sich eine christlichdemokratisch orientierte bürgerliche Opposition, die versuchte, auf legalem Wege die verkrusteten Strukturen der Diktatur aufzubrechen, dem »tiempo de silencio« eine Zeit des Dialogs folgen zu lassen. Pero sí es eso, Eulalia, justamente eso: que nadie se entiende con nadie porque no hablamos, porque no nos explicamos, ¿qué otra cosa va a ser? (R, 225) Insgesamt ist für die sechziger Jahre eine »enorme Zunahme des Krisen- und Widerstandspotentials quer durch alle sozialen Schichten und Gruppierungen« zu konstatieren.24 Mit ihren Terroraktionen versetzte die baskische Separatistenorganisation ETA die Öffentlichkeit in Angst und Schrecken. Die franquistische Politik zeichnete sich immer noch durch Immobilismus aus; vereinzelte Liberalisierungen wie die Reform des Presserechtes oder das Gesetz über die Religionsfreiheit von 1967 waren immer 1984,119ff. sowie 143ff. 23

Die FUDE (Federación Universitaria Democrática Española) wurde im Oktober 1962 gegründet und war eine in Madrid agierende parteiunabhängige studentische Oppositionsgruppe, die sich für die Demokratisierung der Universität und gegen die studentische Einheitsgewerkschaft SEU (Sindicato Estudiantil Universitario) engagierte. Vgl. Ediciones Ruedo Ibérico (Hg.), Horizonte español 1966, Bd. 2, Turin 1966,191f., 196.

24

Bemecker 1990, Sozialgeschichte..., 321.

48 nur Zugeständnisse, die nicht auf die Überwindung, sondern auf die Stabilisierung des Autoritarismus ausgerichtet waren. Die politische Situation stand zu den gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte in keinem Verhältnis: »En definitiva, el nuevo modelo económico llevaba en su matriz la necesidad del profundo e inevitable cambio político a largo plazo. Tal eventualidad, que estuvo clara para muchos ya en los aftos 60, empezó a hacerse evidente al comenzar la década de 1970, cuando la economía y la sociedad españolas, más complejas y diversificadas, entraron en contradicción profunda y creciente con el modelo político oligárquico, anacrónico y obsoleto, ya incapaz de todo punto para atender a las necesidades económicas y sociales.«25 Francos Hoffnung auf eine linientreue Nachfolge wurde mit der Ermordung seines Zöglings Carrero Blanco 1973 zunichte gemacht. Die letzten Jahre des Franquismus prägte der Konflikt zwischen dem konservativen franquistischen 'Bunker' auf der einen und den »aperturistas« auf der anderen Seite. 1975 kam es aufgrund von Todesurteilen im Anschluß an ein neues Terroristengesetz nochmals zu ausländischer Ächtung. Isabel cada día estaba más al tanto de las cuestiones políticas, tenía muchos amigos periodistas, abogados y hasta obreros y desde la primavera pasada desplegaba una inquietante actividad, estudiaba menos y sus opiniones se habían radicalizado en exceso. Precisamente a propósito de estas penas de muerte había surgido hacía pocos días en la mesa una discusión bastante agria que la presencia de Gloria no hizo más que enconar. Decía Isabel que los juicios eran ilegales, que no se habían admitido testigos de descargo, que era una provocación al cuerpo de abogados en pleno. "¿Y eso cómo lo sabes?", cortó él. "¡Porque no me limito a leer el ABC\" (Fragmentos, 140) Der Diktator endete also dort, wo er begann: in der internationalen Isolation. Nach Francos Tod war denn auch nicht mehr die Frage seiner Nachfolge, sondern vielmehr die Art und Weise des Übergangs zu einer parlamentarischen Monarchie zu klären. Der noch von Franco als sein Nachfolger eingesetzte Juan Carlos de Borbón versprach den Spaniern in seiner Thronrede im November 1975 das Mitspracherecht in allen Regierungsangelegenheiten. Die Etappe der »transición« zeichnet sich durch die Reform der spanischen politischen Verhältnisse auf legalem Wege, d.h. innerhalb der franquistischen Institutionen aus. Mit der Verabschiedung der Verfassung von 1978 ist Spanien ein moderner demokratischer Staat mit allen Grundrechten und Freiheiten, der Trennung von Staat und Kirche und einer durch Regionalautonomien geprägten Staatsstruktur geworden. Die Gesetzgebung garantiert nun weitgehende Chancengleichheit. Das kontrovers diskutierte Gesetz über die Ehescheidung von 1981 war »fundamental para la mujer, 25

Ramón Tamames, La república. La era de Franco. Madrid

10

1983, 614.

49 pues la puso en un plano de igualdad legal con su marido en cuanto a la administración y disposición de bienes gananciales, y en el del ejercicio de la patria potestad sobre los hijos«.26 Dennoch bleibt die Ausgestaltung der realen Lebensumstände veränderungsbedürftig, und die de facto bestehenden Möglichkeiten bedeuten in Spanien so wenig wie in jedem anderen Land, daß nicht auch vermeintlich 'emanzipierte' Frauen noch mit den psychosozialen Auswirkungen des traditionellen Frauenbildes zu kämpfen haben." Yo ahí era donde me exaltaba y me salía una retórica castelariana: las ganas de ser madre me parecían un argumento inaceptable, no se pensaba nunca en el hijo como futura persona independiente sino en la vinculación, en la realización personal, en si podía significar un remedio a conflictos conyugales y cosas así, pero el niño nada, un pretexto, lo cual es verdad y por desgracia luego lo he padecido yo en mi propia carne porque este invierno es cuando he pensado más veces en que seguramente un hijo habría solucionado nuestro matrimonio; (R, 214f.) ¡Qué condena llevamos las mujeres con esta retórica de la abnegación, cómo se nos agarra a las tripas, por mucho que nos pasemos la vida tratando de reírnos de ella! Yo, aunque me dé vergüenza, te tengo que confesar - porque esta carta va de confesión - que mis ensueños eróticos más secretos se abrasan en el deseo de disolverme en otro, de entregarme a alguien sin reservas para que disponga de mí a su capricho; deseo analizado luego despiadadamente en mis horas de vigilia y amordazado sin más contemplaciones. (NV, 61) Die politische Struktur Spaniens hat sich im Laufe der achtziger Jahre weitgehend stabilisiert; 1982 übernahm die gemäßigte sozialistische Partei unter Felipe González die Regierungsverantwortung. Insgesamt ist die Parteienlandschaft nun als konsolidiert zu betrachten, wenn auch die ausgesprochen strenge Disziplinierung der Fraktion das Parlament zeitweise in seinen »demokratischen Kontroll- und Initiativfimktionen« einschränkt.28 In den ersten Jahren der Demokratie hatte die politische Neuordnung Spaniens die eindeutige Priorität vor der Angleichung der Wirtschaft an den europäischen Standard. Prägte den Franquismus die Gleichzeitigkeit von wirtschaftlichem Fortschritt und politischer Stagnation, so sind die ersten nachfranquistischen Jahre durch die Koexistenz von politischer Reformfreudigkeit und Nachlässigkeit im Bereich der Wirtschaft gekennzeichnet, welche durch die Auswirkungen der Ölkrise in den 26 Maria Telo, »La evolución de los derechos de la mujer en España«, in: Borreguero u.a., 81-94, 92. 27

Vgl. zum gesellschaftlichen Fortschritt in bezug auf die Situation der Frau in Spanien Karl-Wilhelm Kreis, »Zur Entwicklung der Situation der Frau in Spanien nach dem Ende der Franco-Ära«, in: Walther L. Bernecker / Josef Oehrlein (Hg.), Spanien heute. Politik- Wirtschaft - Kultur, Frankfiut/Main 1991, 313-346.

28

Wolfgang Merkel, »Vom Ende der Diktaturen zum Binnenmarkt 1993. Griechenland, Portugal und Spanien auf dem Weg zurück nach Europa«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 51, 14.12.1990, 3-14, 8.

50 siebziger Jahren zusätzlich negativ beeinträchtigt wurde. Staatsinterventionismus, das Ausbleiben von für die internationale Wettbewerbsfähigkeit im Hinblick auf den Eintritt in die Europäische Gemeinschaft 1986 dringend erforderlichen Strukturmaßnahmen und eine »Schattenwirtschaft, die im heutigen Spanien gigantische Proportionen erreicht hat und all jene Auflagen umgeht, die das System der sozialen Marktwirtschaft ausmachen«,29 sind kennzeichnend fiir die spanische Ökonomie ebenso wie immense Inflations- und Arbeitslosenquoten, die zu einem allgemeinen »desencanto« und zum Rückgang des politischen Interesses bei der Bevölkerung entscheidend beigetragen haben.30 Immer mehr Jugendliche werden durch die Arbeitslosigkeit in Kriminalität und Drogenabhängigkeit getrieben. Die soziale Lage der spanischen Bevölkerung ist desolat und zeichnet sich durch eine kontinuierliche Kaufkraftminderung aus. Seit Mitte der achtziger Jahre gelang es der sozialistischen Regierung, die Inflation zu regulieren und die spanische Wirtschaft durch Maßnahmen der industriellen Umstrukturierung dem europäischen Standard näherzubringen, ohne jedoch eine Verringerung der Arbeitslosenrate erzielen zu können. Gegenüber diesen - Spanien von einem Wohlfahrtsstaat noch weit entfernenden Defiziten existiert eine ausgeprägte Yuppie-Szene, die in die Führungsgremien des öffentlichen Lebens hineinreicht und deren Lebensstil angesichts der sozialen Realität Spaniens zuweilen zu Recht Empörung auslöst. Y hablando de espejos rotos, tiene que salir a relucir otra vez Gregorio Termes, porque anoche estuvimos en su casa. Daba una cena informal, para celebrar lo de su exposición, que ha tenido, según parece, un éxito mayúsculo. En menos de una semana le han quitado de las manos todos los lienzos aquellos con churretes de huevo frito, y eso que se cotizan de millón y medio para arriba. O, bueno, quizá los haya vendido precisamente por eso. En los tiempos que corren lo barato no gusta nada, está desprestigiado por principio, ya se sabe. Pero anoche me dio la impresión de que además resulta incluso un poco ofensivo en ciertos ambientes hablar de personas, de instituciones o de actividades que no mueven mucho dinero, pero no así como quiera, dinero a paletadas, manejan cifras que es que ya no le entran en la cabeza a un cristiano, qué exageración. Y la unidad de referencia es el kilo. Gregorio Termes vive en un chalet enorme con piscina que se acaba de construir por Puerta de Hierro; y a través de los comentarios de algunos asistentes a la fiesta (que se daba también para inaugurar este Escorial Posmoderno), me enteré de que todos los objetos, muebles y enseres que componen la decoración y menaje son de dibujo exclusivo, "first class", incluida en el ajuar 29

Walther L. Bernecker. »Spanien und Portugal zwischen Regime-Übergang und stabilisierter Demokratie«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 51, 14.12.1990, 15-28, 23.

30

Vgl. Carr. 240 sowie Bernecker 1990, Sozialgeschichte...,

327.

51 una rubita muy pálida con gesto displicente y pantalones de seda tornasolada estilo moruno. [. ..] A sus hijos y a su santa esposa se ve que Gregorio los tiene aparcados en otra casa del barrio de Arguelles donde vivían antes de ser él tan moderno. [...] La mujer de Gregorio es hija de un financiero, le lleva cinco años y aluden a ella como "la pobre Fefa". Se separaron cuando volvió él de Nueva York, donde estuvo un aflo ampliando conocimientos más o menos por cuenta del suegro. Atando cabos, pienso que entonces es cuando lo debió conocer Eduardo, cuando se empezó a hablar de la entrada en el dichoso Mercado Común. (NV, 77f.) Gleich einem »anthropologist to her own culture«31 weist Carmen Martín Gaite auf die Auswirkungen hin, welche sich aus den gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte fiir die spanische Bevölkerung ergeben haben. Ihre Texte sind ein Plädoyer für den Erhalt von Zwischenmenschlichkeit in der modernen Industriegesellschaft, die sich nicht nur in Spanien durch die Phänomene der Entfremdung und Vereinzelung, des Konkurrenz- und Karrieredenkens, aber auch - und zwar bis heute - durch die Ideologisierung der Geschlechterrollen auszeichnet. Gerade in Spanien wurde während des Franquismus noch einmal ein ausgesprochen restriktives Frauenbild forciert propagiert, das bei den spanischen Frauen vor allem der älteren Generation noch stark internalisiert erscheint. Das Konzept der in der heutigen Zeit vehementer denn je verteidigten 'Europäisierung' Spaniens wird damit in seiner ganzen gesellschaftlichen Konfliktträchtigkeit thematisiert. Die literarische Auseinandersetzung mit diesen Sachverhalten zeigt auf, daß dem Werk Martin Gaites ein expliziter gesellschaftlicher Auftrag innewohnt. Im folgenden wird sich zeigen, ob und wie sich dieser Auftrag auch im ästhetischen Verfahren, in der spezifischen Schreibweise Carmen Martin Gaites manifestiert.

31 Joan L. Brown, »Carmen Martin Gaite: Reaffirming the pact between reader and writer«, in: Brown 1991, 72-92, 74.

52

5. Zum literarischen Verfahren

5.1. Die Perzeption von Raum und Zeit Über die Variablen von Raum und Zeit gelingt es dem Individuum, einen Standpunkt zu finden und sich von diesem Standpunkt aus zu seiner Umgebung in Beziehung zu setzen. Daher bietet eine Analyse der Raum- und Zeitdimensionen eines literarischen Werks wichtige Aufschlüsse über die Weltperzeption der gezeichneten Figuren. Denn so wie die Zeit-Raum-Bestimmung eine Situierung ermöglicht und ein-grenzt, begrenzt sie auch die persönliche Autonomie. In der literarischen Verarbeitung der Koordinaten von Raum und Zeit werden deshalb gerade diese über die rein physikalischen Funktionen hinausgehenden Momente zur Darstellung gebracht, die Raum- und Zeitperspektiven erscheinen dann jeweils in einer objektiven und einer subjektiven Variante. Die Einforderung solch subjektiver Wahrnehmungsformen bildet das zentrale Anliegen der ästhetischen Moderne; als Gegengewicht für die Erfahrung der Entfremdung in der technisierten und arbeitsgeteilten Welt versuchen ihre Vertreter, Modelle zu entwerfen, welche durch das Überwinden der objektiven Zeit authentisches Erleben und damit im Kunstwerk ein Komplement für die Depravationen der realen Lebenserfahrung bieten.1 Bei diesen Versuchen der literarischen Umsetzung subjektiven Zeitempfindens wird die Zeit im ästhetischen Verfahren von der ihr inhärenten Chronologie gelöst und in räumliche Kategorien verlagert. Die statischen Koordinaten von Raum und Zeit erlangen über die 'Verräumlichung der Zeit' eine Dynamisierung und werden zu veränderbaren, ihre gegenseitige Relation immer neu bestimmenden Elementen.2 Solche Interdependenzen zeichnen auch das Werk Martin Gaites aus; in dieser Untersuchung dient daher die Analyse der in ihm etablierten Raum- und Zeitdimensionen dazu, die hierdurch vermittelten Erfahrungen zu beschreiben.

1

Vgl. Jürgen Schramke, Zur Theorie des modernen Romans, München 1974, v.a. »Die Zeit«, 99-138.

2

Arnold Hauser spricht von diesem Phänomen der 'Verräumlichung der Zeit' in bezug auf die zeitgleich mit der literarischen Moderne aufkommende Kinematographie, so daß sich hier eine wichtige Parallele zwischen Romanund Filmschaffen ergibt. Vgl. A. H., Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, München 1953 (Sonderausgabe 1983), 1008ff.

53 5.1.1. Zeit 5.1.1.1. Der Konflikt zwischen objektiver und subjektiver Zeit Der Verlauf der objektiven Zeit wird bei Martin Gaite in seiner bedrückenden, beklemmenden Wirkung immer wieder thematisiert. Hinweise auf Uhr- und Tageszeiten sind die Statthalter einer mechanisch verrinnenden Zeit, die dem authentischen Erleben entgegensteht. Dieses ist zum Beispiel in »Ya ni me acuerdo«3 erst zu dem Zeitpunkt gewährleistet, als, nach zunächst in den Text integrierten Verweisen auf die Uhrzeit (CC, 74, 75), der Verlauf der Zeit für die Protagonisten zweitrangig wird: A Rafa no le llegué a ver, y desde las seis dejé de mirar la hora. [...] Eran casi las seis. Las oímos dar en el reloj de la catedral cuando entramos en aquella tabernita. Había notado ella el deseo que me asaltó de acompañarla, y me pidió que no fuéramos a buscar a Rafa todavía, que no volviéramos a mirar el reloj. (CC, 81, 86) In Entre visillos bildet die Turmuhr ein Symbol für die soziale Kontrolle und einschränkende Reglementierung in der Provinzstadt: Se veía, cerrando la calle, la torre de la Catedral y la gran esfera blanca del reloj como un ojo gigantesco. (EV, 24) Encima de sus cabezas chirrió la maquinaria del reloj, que era grande como una luna, anunciando que iban a ser las nueve y media en la ciudad. (EV, 74) Die konventionelle quantitative Zeitmessung wird als ein externer Kontrollmechanismus erfahren, so daß nur ein Lösen aus den Zwängen der objektiven Zeit eine subjektive, qualitative Lebenserfahrung ermöglichen kann. In zwischenmenschlichen Beziehungen erscheint die Uhr eines der Beteiligten oft als symbolischer Indikator für Disharmonie oder sogar für das Ende einer Liebesbeziehung (»Ya ni me acuerdo«, CC, 77; Fragmentos, 189; NV, 224). [M]e había dicho en seguida de vemos que a las seis se tenía que ir y el reloj ya lo había mirado con disimulo dos veces; yo me acordaba de que unas horas antes, mirándome al espejo después de un baño largo, me había dicho: "O poco soy y valgo o me estoy con Andrés hasta la madrugada, hasta que sea yo la que me aburra de él", esas jactancias solitarias son siempre un poco suicidas porque luego el terreno que vas perdiendo minuto a minuto te parece mucho más irrecuperable y ya no puedes dejar de pensar que el otro se va a ir, que 3

Carmen Martin Gaite, »Ya ni me acuerdo« (1962), in: CC, 73-88 (Erstveröffentlichung in der zweiten Ausgabe von El balneario, Madrid 1968).

54 está pendiente de la hora, o sea que el tiempo se convierte en una pesadilla, empieza a poder más que tú, [...]. (R, 193) Häufig vollzieht sich auch die strukturelle Abgrenzung der Texte über in ihrem Verlauf wegfallende und gegen Ende wieder auftretende Zeitangaben (R, Cuarto). In solchen Fällen wird der literarische Text selbst zu einem Fallbeispiel der geglückten Überwindung objektiver Zeit, »los cuentos bonitos siempre hacen perder la noción del tiempo« (Cuarto, 91). Bei jeder Art von außergewöhnlichen Erlebnissen vergißt Martin Gaite in keinem ihrer Texte die Bemerkung, daß die Zeitperzeption der Figuren eine andere wird. Die objektive Zeit ihrerseits umfaßt nicht nur den rein physikalischen Aspekt; sie wird vielmehr mit den gesellschaftlichen Verhältnissen rückgekoppelt, so daß physikalische und historische Zeit zur Deckung kommen und als ein aufoktroyierter Gewaltzusammenhang erscheinen, der das Individuum bedrängt.4 Erfährt die Zeit eine solche gesellschaftliche Vereinnahmung, so erleichtert dies keineswegs den Umgang mit ihr, sondern trägt vielmehr zur entfremdenden Verdrängung bei: Porque a lo largo de la vida no hace uno más que inventarse brújulas o fijarse en las que inventan otros. Eso es lo que cambia; los bandazos son siempre los mismos: del entusiasmo a la decepción pasando por esa zona media de la conformidad, guarida preferente para la mayoría, donde el tiempo se ensaña, sin embargo, y pega sus dentelladas más crueles; pero la gente que pone la vela al pairo de la conformidad no sabe esto, piensa que está hurtando su trayectoria a las fauces del tiempo, que es un viaje amortiguado y subrepticio. (R, 131) Die objektive, der individuellen Verwirklichung entgegenlaufende Zeit ist einerseits durch einen Eindruck der Stagnation, andererseits durch die Unausweichlichkeit ihres Verrinnens gekennzeichnet - ein Dilemma, das die Identitätskonflikte vieler Figuren Martin Gaites prägt. In oppressiven, häufig durch Langeweile geprägten Situationen wird die Zeit als statische Größe wahrgenommen; dem »matar la tarde« aus »El balneario«5 entspricht die Einschätzung David Fuentes seines »noviazgo« mit Lucia oder seines Militärdienstes als »tiempo estático«: 4

Vgl. Schramke, 116f.: »Um zu verstehen, wanim die äußere Zeit im modernen Roman einen mechanisch-toten Charakter angenommen hat, m u í vorab eine Unterscheidung eingeführt werden: die objektive Zeit existiert zum einen als naturwissenschaftlich bestimmbare, physikalische Zeit, zum andern jedoch als historische Zeit. Die Besonderheit der modernen Zeitauffassung besteht gerade darin, daß für sie die beiden Aspekte der objektiven Zeit unmittelbar in eins fallen. Und dies stimmt vollkommen mit der Grundstruktur der "Dualitätswelt" überein: Wie die entfremdete Außenwelt zu einer "zweiten Natur" erstarrt, in der keine Unterscheidung zwischen natürlichen und gesellschaftlichen Umweltbedingungen stattfindet, in der vielmehr alle gesellschaftlichen Verhältnisse als ein versteinerter Naturzustand sich darbieten, ebenso vertrocknet die der Außenwelt zugeordnete objektive Zeit zu einem mechanisch ablaufenden Phänomen, d.h. die historische Zeit (die temporale Dimension der Gesellschaft) wird auf die physikalische Zeit (die temporale Dimension der Natur) reduziert.«

5

Carmen Martin Gaite, »El balneario« (1954), in: CC, 187-246, hier 235 (Erstveröffentlichung in der ersten Ausgabe von El balneario. Madrid 1954).

55 ¿Quién puede explicar ni resumir nada del tiempo de un noviazgo? Ninguna cosa está antes de otra. No hay enseñanza ni proceso. Lucía es una inmanencia y su aparición en mis recuerdos no se corresponde con ninguna cronología. (RL, 39) Fue [el servicio militar, d.V.], por el contrario, un tiempo estático que contribuyó de un modo poderoso a hacerme aborrecer aun más la noción de prisa y a alejarla de momento de mi horizonte. Lo cual no fue obstáculo para que él mismo - como todo tiempo aparentemente estático - se diese demasiada prisa en pasar. (RL, 99) Auch die Stagnation der gesellschaftlichen Entwicklung im Franquismus, die in Entre visillos nur andeutungsweise durch die Kombination eines Franco-Porträts mit einer nachgehenden Schuluhr (EV, 97), in El cuarto de atrás dann in aller Deutlichkeit aufgegriffen wird, bildet als »temps institutionnel« den Gegenpol zu einem subjektiv geprägten »temps personnel«.6 Die Zeit des Franquismus erscheint der Protagonistin als ein »bloque homogéneo, como una cordillera marrón de las que venían dibujadas en los mapas de geografía física, [...] pensé que Franco había paralizado el tiempo« (Cuarto, 133). Die Macht des Diktators drückt sich in seiner Verfügungsgewalt über die Zeit aus: »[Franco, d.V.] había sido el motor tramposo y secreto de ese bloque de tiempo, [...] y el tiempo mismo, cuyo fluir amortiguaba, embalsaba y dirigía, con el fin de que apenas se les sintiera rebullir ni al tiempo ni a él« (Cuarto, 137). Für die Darstellung des Doppelaspekts von Stagnation und gleichzeitigem unmerklichen Verrinnen der objektiven historischen Zeit unter den gesellschaftlichen Verhältnissen des Franquismus wählt die Erzählerin in El cuarto de atrás den Vergleich mit dem »escondite inglés«, einem Spiel aus ihrer Kindheit: [Y] el tiempo pasaba de un extremo a otro, sin sentir, un año y otro año, a lo largo del banco aquel de piedra, como sobre una aguja de hacer media. Pasaba de una manera tramposa, de puntillas, el tiempo; a veces lo he comparado con el ritmo del escondite inglés [...]. (Cuarto, 108f.)7 Die Texte Martín Gaites legen dar, wie die Gesellschaftsordnung eine verbindliche, in ihrem zeitlichen Ablauf reglementierte Lebensweise vorgibt, welche in ihrer Fremdbestimmung häufig als unbefriedigend erfahren wird. Vor allem die aus der aktiven 6

Jean Aisina, »Temps, fiction et autobiographie: Reprise et reclassement dans El cuarto de atrás de Carmen Martin Gaite«, in: J.A. / Claude Chauchadis / Michéle Ramond (Hg ), L'autobiographie en Espagne. Actes du Heme cotloque international de La Baume-Les-Aix, 23-24-25 Mai 1981, Aix-en-Provence 1982, 324-333, 325.

7

»- Se pone un niflo de espaldas, con un brazo contra la pared, y esconde la cara. Los otros se colocan detrás, a cierta distancia, y van avanzando a pasitos o corriendo, según. El que tiene los ojos tapados dice: "Una, dos y tres, al escondite inglés", también deprisa o despacio, en eso está el engaño, cada vez de una manera, y después de decirlo, se vuelve de repente, por ver si sorprende a los otros en movimiento; al que pilla moviéndose, pierde. Pero casi siempre los ve quietos, se los encuentra un poco más cerca de su espalda, pero quietos, han avanzado sin que se dé cuenta« (Cuarto, 109).

56 gesellschaftlichen Praxis ausgegrenzten Frauen nehmen die zeitliche Reglementierung als ein externes Raster wahr, das ihr Leben in feste Bahnen weist und keinen Raum für die persönliche Einflußnahme vorsieht. In Nubosidad variable wird die objektive Zeit zu einer desorientierenden Wahnvorstellung, wenn sich Sofia Montalvo von einer Invasion von »gusanos verdes« bedroht sieht, in der sich die Stunden ihres gesellschaftskonformen weiblichen Lebensalltags materialisieren: Descubro que hay otra procesión de gusanos, igualmente nutrida, que baja por la derecha más aprisa. Estos son verdes y, al llegarme a los pies, dan la vuelta y confunden su caudal con el del bando gris. Bullen mezclados, se agrupan y conspiran, como genios del mal que son. [...] No me dejan olvidar que están ahí. Tampoco el prisionero puede olvidar los barrotes de la cárcel. Los gusanos verdes son las horas muertas, las horas podridas de mi vida entera, horas gastadas en sortear los escollos de la realidad para lograr aprobar materias que no me acuerdo de qué trataban, en las que ni siquiera me doy por examinada, a pesar de haber lidiado con ellas. [...] Aprobado en hija de familia. Aprobado en noviazgo. Aprobado en economía doméstica. Aprobado en trato conyuga] y en deberes para con la parentela política. Aprobado en partos. Aprobado en suavizar asperezas, en buscar un sitio para cada cosa y en poner a mal tiempo buena cara. Aprobado en maternidad activa, aunque esta asignatura, por ser la más difícil, está sometida a continua revisión. (NV, 115f.) Eine Variante der einschränkenden Funktionen objektiver Zeit aus weiblicher Perspektive ergibt sich aus der Tatsache, daß in mehreren Texten Martin Gaites der »temps institutionnel« mit dem Prozeß des biologischen Alterns in Verbindung gebracht wird. In bürgerlichen Ritualen wie etwa der Einführung der jungen Mädchen in die Gesellschaft (»puesta de largo«) manifestiert sich eine Inkongruenz zwischen der Institutionalisierung gesellschaftlicher Existenz und dem Grad der individuellen Reife. - A ésta la pondréis de largo. - No quiere. - ¿Que no quiere? Será que no quiere tu padre, más bien. - No. Soy yo, yo, la que no quiero - aclaró Natalia con voz de impaciencia. - Hija, Tali, no hables así. Tampoco te han dicho nada. ¡Jesús! - se enfadó Mercedes. - Bueno, es que es pequeña. Tendrá catorce años. - Qué va. Ya ha cumplido dieciséis. Ella que se descuide y verá. De trece años las ponen de largo ahora. Pero se ha emperrado en que no, y como diga que no... Fíjate, si ya le había traído papá la tela para el traje de noche y todo,

57 aquella que trajo de Bilbao, ¿no te la enseñé a ti? (EV, 23) Ebenso umfaßt diese gesellschaftlich konditionierte Zeiterfahrung das Bild der von einem »empeño [...] por seguir siendo joven contra viento y marea« (R, 215) geradezu besessenen Frau. In Retahilas verweist dieser Aspekt durch den Vergleich der sozial privilegierten Eulalia mit der Hausangestellten Juana zudem auf die Tatsache, daß diese Weiblichkeitsvorstellungen vornehmlich in einem bürgerlichen Umfeld Normcharakter besitzen: »Cuántas veces, en efecto, a lo largo de estos últimos años, mientras iba a la sauna y me daba masajes y cremas de belleza o cuando me probaba trajes nuevos, me figuraba a Juana haciendo cara al tiempo a palo seco« (R, 102). Entsprechend diesen Weiblichkeitsvorgaben wird auch die erst sechzehnjährige Gertru aus Entre visillos von der Mutter ihres Verlobten auf ihre zukünftige gesellschaftliche Rolle vorbereitet: »Gertru seguía todos sus consejos de belleza [de la suegra, d.V.] porque la oía decir que las mujeres, desde muy jóvenes tiene [s/c] que prepararse para no envejecer« (EV, 238).8 In diesen Zusammenhang gehört auch der von vielen Frauenfiguren Martin Gaites empfundene wachsende psychologische Druck, wenn sie an einer gewissen Altersgrenze angelangt und noch unverheiratet und damit vom gesellschaftlich verpönten Schicksal des »vestir santos« (RL, 152) bedroht sind. So manifestiert sich die durch die objektive Zeit erwirkte individuelle Bedrängnis in der Parzellierung, der Einteilung in normative Entwicklungsstufen. Zusätzlich zu einer solchen Vereinnahmung des Zeitfaktors für soziale Reglementierungen exemplifiziert die Mittvierzigerin Eulalia in Retahilas, wie schon allein der biologische Alterungsprozeß die Frau ungleich härter trifft als den Mann. Dies äußert sich vor allen Dingen in der Unmöglichkeit, die Mutterschaft unendlich hinauszuzögern; »lo peor es que vaya pasando el tiempo, ahí está lo grave, porque los inconvenientes de ser madre para una mujer que no se ha casado muy joven se van haciendo cada año mayores, eso ya se sabe« (R, 213f.). Auch in bezug auf den alltäglichen Ablauf erscheint objektive Zeit als ein die Lebensweise jedes einzelnen determinierendes Raster, welches den Tag in hermetisch abgetrennte Arbeits- und Freizeitphasen aufgliedert. Hieraus erklärt sich die Vorliebe vieler um Authentizität bemühter Figuren für einen persönlichen, individuellen Lebensrhythmus, den die schnellebige und gleichzeitig systematisierte moderne Gesellschaft nicht zu gewähren vermag. Daher ist auch ein »desarreglo de los horarios« (RL, 221), wie er den Protagonisten aus Ritmo lento kennzeichnet, durchaus als eine Reaktion auf die depravierende Funktion der objektiven Zeit zu sehen. In Retahilas äußert sich die Ablehnung gesellschaftlich vorgegebener Zeiteinteilungen in Germáns BeS

Zum gesellschaftlich vorgegebenen Frauenideal vgl. Carmen Martin Gaite, »La influencia de la publicidad en las mujeres«, in: La búsqueda de interlocutor y otras búsquedas, Madrid 1973 (Erstveröffentlichung in Triunfo). Alle Seitenangaben aus La búsqueda... entsprechen der Ausgabe von Destino, Barcelona 1982 (Colección Destinolibro 176), hier 113-130.

58 wunderung fiir den inneren Rhythmus der Balinesen (R, 91) wie auch - bezogen auf die zeitliche Einheit des Jahres - in der Kritik Eulalias an der institutionalisierten Flucht des alljährlichen Sommerurlaubs: »Es otro tajo más el veraneo de los que el sistema establecido da a diestro y siniestro para repartir el escaso caudal de nuestras vidas, para hacerlo inofensivo y aventarlo, hay que salir de veraneo, interrumpir, dar largas otra vez« (R, 71). Ritmo lento arbeitet durchgängig mit der Opposition »prisa - ritmo lento«, um der Inadaptation des Protagonisten an den zeitlichen Ablauf seiner Umgebung Ausdruck zu verleihen; »al crecer, no dejé de ser lento y reflexivo, sino que, por el contrario, este ritmo se puso más de manifiesto al contrastar con el ritmo apresurado de las demás personas de mi edad que empezaron a verme como excepción« (RL, 50). Daß sich in einem System objektiver Zeit keine Freiräume für Kommunikation, zum Abwägen und Diskutieren auffinden lassen, wird im Verlauf des Romans sowohl vom Ich-Erzähler David Fuente als auch von seinem Vater beklagt. So bedauert der Vater, daß niemals Zeit für ein intensives Gespräch vorhanden sei (»¿Y quién sabe por dónde empezar a hablar, mujer? Es cuestión de tiempo. Lo malo es que el tiempo de hablar se acabe tan pronto y que la gente sólo atienda a asuntos concretos.« RL, 16), und der Sohn leidet unter der Vormacht objektiver Zeit in schulischen Prüfungssituationen »[h]abía que empezar a hablar, a pesar de estar casi seguro de que nada de lo que uno dijese iba a alterar la expresión indiferente de aquellos ojos que esperaban contra reloj« (RL, 112). Daß solche Vorstellungen keineswegs der Anomalität von Vater und Sohn zuzuschreiben sind und daß gerade die 'Verrücktheit' des David Fuente jun. im Umkehrschluß gesellschaftliche Konventionen angreift, geht aus einem journalistischen Beitrag Martin Gaites aus dem Jahre 1960 deutlich hervor: Cuanto más se traten de buscar remedios a la prisa a base de estirar las horas del día para crearle compartimentos de escape, más arraigadamente se estará aceptando el imperio de esta misma prisa, más se separarán el tiempo de descansar y el de trabajar, el de pensar y el de vivir. Y debe tenderse - justamente a la inversa - a que estos tiempos se entremezclen lo más posible.9 Solche als einschränkend, entfremdend und unwahrhaftig empfundenen zeitlichen Strukturen stehen im Zusammenhang mit dem Phänomen der Verdinglichung in der warenproduzierenden Gesellschaft, in welcher Zeit als ein raumartiges, die Freiheit des

9

Carmen Martín Gaite, »Recetas contra la prisa«, in: Martin Gaite 1982, La búsqueda..., 99-106, 103 (Erstveröffentlichung in Medicamenta, Dezember 1960). Vgl. zur Glaubwürdigkeit der Gesellschaftskritik David Fuentes Brown 1987, 88: »In reality. David Fuente is not a crazy person. His so-called 'insanity' consists of a search for absolute rationality. Thoroughly lucid and unusually perceptive, he sees through the hypocrisy of those around him, seeking better and more pure ideals for himself. He is a nonconformist who is truly superior to those around him. The reason that David is considered abnormal is that he subscribes to a nobler set of values than those of the majority .«

59 Individuums beeinträchtigendes Medium gesellschaftlicher Repression konzipiert ist:10 »A lo largo de mi vida, he sentido de un modo perenne y casi físico la envoltura del tiempo dentro del cual me muevo inarmónicamente, como en un traje no adaptado a mi medida. Y a veces me he revuelto contra tanta incomodidad« (RL, 88). Eine solche Verräumlichung zeitlicher Kategorien, die sich auch in dem schon erwähnten Vergleich des Franquismus mit einem »bloque de tiempo« (Cuarto, 133) äußert, zeigt auf, wie soziale Entfremdung ihren Ausdruck in der gestörten Beziehung der Individuen zur Zeit als deijenigen Größe findet, welche ihr Leben in fundamentaler und unausweichlich bindender Weise determiniert. Daher bildet die Ausarbeitung von alternativen, ins Positive gewendeten Herangehensweisen an diese Grunddeterminante menschlicher Existenz ein wichtiges Moment für die ästhetische Vermittlung von Identitätskonstitution im literarischen Werk, dem sich die folgenden Ausfuhrungen zuwenden werden. 5.1.1.2. Überwindung der objektiven Zeit: 1. »Habitar el tiempo« Eine verräumlichte Zeitauffassung wird positiv erfahren, sobald sich fiir das Individuum die Möglichkeit ergibt, sich aktiv mit diesen Zeit-Räumen in Beziehung zu setzen. So kann durch die Umgehung chronologischer Einschränkung eine Dynamisierung und damit eine volitive, freie Relationierung des Individuums mit seiner Umwelt erzielt werden. Dabei besteht bei den Figuren Martin Gaites ein direkter Zusammenhang zwischen der Art und Weise der Zeitperzeption und den aus ihren spezifischen existentiellen Rahmenbedingungen abgeleiteten lebenspraktischen Erfahrungen. In einer für die Wichtigkeit der Verbindung von Zeiterfahrung und bewußtem Erleben bezeichnenden Weise muß beispielsweise David Fuente aus Ritmo lento nach einem Jahr der mit Hilfe von Ordnern, verschiedenfarbiger Stifte und ähnlicher Utensilien mit akribischer Genauigkeit betriebenen, aber mangels Entscheidungskraft erfolglosen Stellensuche feststellen, daß schon der Zustand der Suche an sich einen »empleo metódico del tiempo« für ihn bedeutete. Die Finalität seines Handelns tritt hinter dem eigentlichen Suchvorgang zurück: »[DJurante este tiempo, la consideración y el estudio minucioso de los anuncios, su clasificación rigurosa y la redacción de los cuadernos y de las cartas, habían representado ya, por sí mismos, un empleo metódico del tiempo« (RL, 91). David Fuente geht es um ein Leben in der Zeit und keine Flucht vor ihr - eine Thematik, die im Zusammenhang mit der Ablehnung von Hierarchie, Chronologie und Zweckgerichtetheit in der Auseinandersetzung mit der Literatur von Frauen aufgegriffen wurde.11 Das Ausleben des Augenblicks, das Vorherrschen eines 10

Vgl. Schramke, 117f.

11

»Der Mann lebt in einer zeitlich festgelegten, organisierten Perspektive, die bestimmt ist durch die Ziele, die er sich gesetzt hat. Die Frau verlebt die Zeit lieber unmittelbar, ohne aufbewahren zu wollen [...]. Sie zieht es vor, einen glücklichen Augenblick zu genießen als auf ihn zu verzichten, um sich dadurch für die Zukunft Vorteile zu

60 »'ahora' acampado entre dos polos de 'siempre'« (NV, 150) bildet die Voraussetzung für den Vorgang, den Martin Gaite mit dem Ausdruck des »habitar el tiempo« umschreibt. Hierzu gehört auch das Genießen einer Übergangssituation, der Vorfreude auf ein besonderes Ereignis, des »sacarle gusto a aquella espera« (Cuarto, 10), das in El cuarto de atrás als die eigentliche Essenz der Erinnerung herausgestellt wird und auch in Nubosidad variable wiederkehrt: Ahora vivo la espera apaciblemente, arrullada por el ruidito de la pluma estilográfica al correr sobre las hojas satinadas. Vivir la espera. Era la retórica imperante en nuestra juventud. Poner los cimientos de un deseo y alimentarlo para que dure. Parecía que la felicidad se iba a desvanecer entre los dedos en cuanto la tocáramos. [...] Eso es como estar ya con ella también ahora según lo escribo, un anticipo de felicidad que conjura la muerte del tiempo. (NV, 76) Por una parte, me muero de ganas de que pase el tiempo, pero por otra estoy a gusto así, arropada por esta desazón de lo no resuelto, de lo que se refracta en mil finales porque aún no ha tenido ninguno, a salvo y al mismo tiempo presa en la telaraña de los asuntos pendientes. (NV, 275) »[Llevándonos en él [en el tiempo, d.V ] y dejándonos habitar los paisajes a que nos asoma« (»Variaciones sobre un tema«, CC, 14) - nur so ermöglicht sich die Überwindung der zerstörerischen Wirkung der Zeit, die Erlangung persönlicher Authentizität und individueller Autonomie. Pues de la misma manera, ¿significaba algo tener treinta afios y llevar cinco en Madrid? ¿O eran simples guarismos? La necesidad de plagarlo todo de fechas había llegado a convertir el caudal navegable del tiempo en los propios canales que simplemente lo debían contener. Ahí estaba el engaño. Se saltaba de una Navidad a una Semana Santa, y de allí a un verano, y luego los letreros decían "cumpleaños", pero estas fechas, a cuyo haber se cargaba el olvido de todas las demás, eran las responsables del tiempo despreciado, escurrido por entre sus intersticios, del tiempo que nadie sentía como río a navegar. (»Variaciones sobre un tema«, CC, 17) Auf diese Zusammenhänge weist auch Isabel Butler hin, wenn sie im Werk Martin Gaites zwischen einem »tiempo-sujeto-agente« und einem »tiempo-objeto-paciente« unterscheidet.12 Retahilas ist ein Plädoyer für einen solchen solidarischen Pakt mit der sichern. [...) Die Zeit der Männer ist in der Tat nur ein weiteres System. Es ist das furchtbarste von allen, denn es nimmt uns die Gegenwart im Namen der Zukunft und verhindert das Erleben eines Augenblicks, indem es ihn durch die Vergangenheit und die Zukunft vernichtet.« Claudine Hertmann, Die Sprachdiebinnen, München 1977, 115f. (Orig. Les voleuses de langue, 1976). 12

Isabel Butler de Foley, »Hacia un estudio del tiempo en la obra narrativa de Carmen Martin Gaite«, in: insula,

61 Zeit, die gleichzeitig als etwas Belebtes, Veränderbares, vom Subjekt Dominiertes und nach seinen Maßstäben Produziertes dargestellt wird. In El cuarto de atrás verbindet sich das Votum für das Ausleben des Augenblicks (»sólo existe este momento«, Cuarto, 106) mit der Überzeugung, an Vergangenem dürfe nicht krampfhaft festgehalten und auf Zukünftiges nicht zu stark gehofft werden. Der Roman verarbeitet das carpe diem-Motiv durch ein Gedicht von Antonio Machado (Cuarto, 46): No guardes en tu cofre la galana veste dominical, el limpio traje, para llenar de lágrimas mañana la mustia seda y el marchito encaje, Das Zitat stammt aus dem Elogio CXLI (A Xavier Valcarce) und lautet weiter: sino viste, Valcarce, dulce amigo, gala de fiesta para andar contigo.13 Über die im Werk Martín Gaites wiederholt auftretenden Reminiszenzen an Antonio Machado ergibt sich die Rückverbindung des hier zutage tretenden Zeitkonzeptes zur Tradition der literarischen Moderne, war es doch - so Brown - gerade Machado, der die für die Zeiterfahrung der modernen Literatur so maßgebliche Unterscheidung Henri Bergsons zwischen dem objektiven »temps« und der subjektiv erfahrenen »durée« in Spanien eingeführt hat.14 Gleichzeitig ergeben sich die Zeitperzeptionen im Werk Martin Gaites jedoch auch aus konkreten - zudem überwiegend als weiblich spezifizierten - Lebenszusammenhängen, so daß die lebenspraktischen Erfahrungen der Figuren den Umgang mit der Zeit grundsätzlich determinieren. Angesichts der Unausweichlichkeit des zeitlichen Verrinnens geht es darum, sich mit ihm zu arrangieren und ihm Positives abzugewinnen; »nunca he sabido calcular el tiempo ni me interesa. Sólo aspiro a que me acoja, a entrar sin miedo en su recinto sagrado, en vez de estarlo acosando desde fuera, defendiéndome de él, tomándole las medidas« (NV, 149f.). Eine positive Relationierung mit der Zeit ermöglicht das Genießen des Augenblicks, das Lernen aus gemachten Erfahrungen und - »[n]o hay que tenerle tanto miedo a la huella del tiempo« (Cuarto, 74) - den erinnernden Rückblick auf ein erfülltes Leben.15 452/453, 1984, 18. 13 Antonio Machado, Poesía y Prosa, Bd. 2: Poesías completas, hg. von Oreste Macri, Madrid 1988, 589. 14 Vgl. Brown 1987, 56. Brown weist ebenfalls auf Ähnlichkeiten mit Machados Zeitperzeption in Martin Gaites Gedichtband A rachas hin. Ebd., 141. 15 In bezug auf das Zeitkonzept kommen die Erfahrungen der literarischen Figuren mit den in El evento de nunca acabar festgehaltenen realen lebenspraktischen Beobachtungen zur Deckung. Unter den Stichwörtern »El presente habitado« und »Habitar el tiempo« notiert Martin Gaite: »Somos unos obsesos del tiempo, y sin embargo vamos tirándole piedras, sin montarnos en él, soñando, en el fondo, con destruirlo. ¡Mira que afanarse por destruir la única morada que uno tiene!« Carmen Martin Gaite, El cuento de nunca acabar. Apuntes sobre la

62 Depende de nosotros que se haga [el rato, d.V.] más largo o más corto, todo consiste en aprender a emplearlo de acuerdo con el ritmo de nuestro cuerpo, como una especie de gimnasia, hija. No hay que angustiarse pensando en lo que va a durar. Esos cálculos no nos incumben a nosotros. [...] La cuestión es pasar el rato, con tal de que aproveche, claro, de que se le consiga tomar gusto a ese pasar inevitable. (NV, 129) Dieses Heimischwerden in einem als Raum konzipierten zeitlichen Gebilde ist bei Martin Gaite mit der Überwindung als negativ erfahrener Einsamkeit verknüpft. »Habitar el tiempo« wird zum Synonym von »habitar la soledad«, wobei die gesellschaftlichen Umstände in Spanien dies gerade den Frauen in besonderem Maße erschwert haben. Das Aufgreifen dieses Ausdrucks im Motto der Dissertationsschrift Usos amorosos del dieciocho en España (»Para Rafael, que me enseñó a habitar la soledad y a no ser una señora«) weist wiederum darauf hin, daß die literarische Verarbeitung der Zeitkonzeption bei Martin Gaite im pragmatischen Zusammenhang immer auf konkrete lebenspraktische - und in diesem Fall sogar eindeutig biographische - Erfahrungen verweist.16 Conque al fin y al cabo, Sofía, compañerita que fuiste de mi alma, por más vueltas que le demos, todo es soledad. Y dejar constancia de ello, quebrar las barreras que me impedían decirlo abiertamente, me permite avanzar con más holgura por un territorio que defino al elegirlo, a medida que lo palpo y lo exploro, lo cual supone explorarme a mí misma, que buena falta me hace. (NV, 130) Decidir romper amarras y ser libre vale de poco, yo cuántas veces habré dicho en mi vida "cada palo que aguante su vela" para dar por cancelada mi dependencia con respecto a alguien, pero sólo cuando notas que además de decirlo eres capaz de remendar la vela de tu propio barco sin que los dedos te tiemblen y sujetarla otra vez pausadamente al mástil solitario, ¡ah!, eso es lo que vale, entonces sí has roto de verdad aquella amarra de la que protestabas, cuando decir "soy libre" no es recurso forzoso ni revancha verbal, sino una consecuencia del susurro que te canta en la sangre: "Estoy sola, vuelvo a empezar, todo es mío, yo amaso el tiempo y me pertenece, es mi material de lanarración, el amor y la mentira, Madrid 1983. Alle Seitenangaben entsprechen der Ausgabe von Destino, Barcelona 1985 (Colección Destinolibro 239). Die im folgenden für El cuento de nunca acabar verwendete Abkürzung lautet 'Cuento'. 16

Carmen Martin Gaite, Usos amorosos del dieciocho en España, Madrid 1972. Alle Seitenangaben entsprechen der Ausgabe von Anagrama, Barcelona 1987, hier o. S. - Auch Chown führt die von ihr bei vielen spanischen Schriftstellerinnen beobachtete Auseinandersetzung mit der Einsamkeit auf die Spezifik des weiblichen Lebenszusammenhangs in Spanien zurück. Vgl. Linda E. Chown, »American critics and Spanish women novelists, 1942-1980«, in: Signs. Journal of Women in Culture and Society, 9,1983/84,91-107,98ff.

63 bor, mi tela para tejer, no lo siento tirano ni verdugo". Porque la libertad se identifica con la asunción del tiempo, es algo tan fácil y tan difícil como mirarle a la cara, es deponer las armas y reingresar en él; (R, 135) Diese Solidarisierung mit der Zeit geht bis zu ihrer Personifizierung, so daß das Verhältnis von Mensch und Zeit mit einer zwischenmenschlichen Beziehung verglichen und die Perzeption der Zeit zum Symbol der Lebenseinstellung als solcher wird. [E]l tiempo está esperando de nosotros que hagamos eso, que no lo miremos como enemigo, y sólo entonces nos entrega todo lo que guardaba en sus repliegues, [...] pues el tiempo lo mismo, a saber si ese marinero no sería una alegoría del tiempo, sólo embarcándonos con él nos quita las cadenas que nos atan los pies cada vez que intentamos huirle, [...]. (R, 135f.) In Retahilas und El cuarto de atrás erleben die Figuren die Kommunikationssituation, welche den formalen Aufbau der Texte bestimmt, als eine solche positive Erfahrung, als einen Freiraum des »tiempo rescatado de la muerte« (R, 216) oder einen »espacio abierto, plagado de posibilidades« (Cuarto, 106). Als die wichtigsten Augenblicke erweisen sich im Werk Martin Gaites die bewußt gelebten, die das in der modernen Gesellschaft als feindlich empfundene Verrinnen der Zeit auszugleichen imstande sind. Viele Texte der Autorin bilden in ihrer Anlage ästhetische Äquivalente solcher Ausnahmesituationen des »habitar el tiempo por medio de la palabra«,17 das die durch die Defizite in der Zeiterfahrung entstehenden Beschränkungen der Zeit auszugleichen vermag. Eine weitere Möglichkeit hierzu bildet die Erinnerung: Im Rückblick auf das Vergangene kann das Kriterium der Chronologie umgangen und dieser Rekurs zur ästhetischen Darstellung nutzbar gemacht werden. 5.1.1.3. Überwindung der objektiven Zeit: 2. Erinnerung Allein drei der Romane Martin Gaites {Ritmo lento, Retahilas, El cuarto de atrás) sind retrospektiv angelegte Memoirentexte, und in vielen anderen Texten wird der Erzählgegenwart immer wieder authentisch Erlebtes aus der Vergangenheit entgegengesetzt (»Un día de libertad«,18 »Lo que queda enterrado«,19»Variaciones sobre un tema«, »Ya ni me acuerdo«). Auch in Nubosidad variable erweist sich die Erinnerung als ein grundlegendes Kriterium der Identitätskonstitution, steht die erinnerte Handlung dem Geschehen der Erzählgegenwart gleichberechtigt gegenüber. 17 Mercedes Jiménez, Carmen Martin Gaite y la narración: teoria y práctica, New Brunswick / New Jersey 1989, 88. Vgl. dort zur Zeiterfahrung 86-89. 18 Carmen Martin Gaite, »Un dia de libertad« (1954). in: CC, 19-36 (Erstveröffentlichung in der ersten Ausgabe von El balneario, Madrid 1954). 19 Carmen Martin Gaite, »Lo que queda enterrado« (1958), in: CC, 53-72 (Erstveröffentlichung in Las ataduras, Barcelona 1960).

64 Der chronologischen Anordnung wird eine sinnverknüpfende, die Vergangenheit aufarbeitende Neuordnung vorgezogen. Eine solche subjektive Erinnerung orientiert sich an Daten nur als »hitos de la rutina« (Cuarto, 47) und erreicht eine neue Qualität, sobald sie sich von chronologischen Zwängen befreit und assoziativ vorgeht. Für die Darstellung dieses Sachverhalts greift die Erzählerin von El cuarto de atrás auf das Bild der weißen Steinchen zurück, die Perraults kleiner Däumeling als Wegmarkierung ausstreut; »a veces las piedrecitas blancas no sólo sirven para marcar el camino, sino para hacernos retroceder, se pueden combinar de un modo mágico« (Cuarto, 135). Gerade diese freie Anordnung von Zeitparzellen aus der Vergangenheit ist charakteristisch für eine subjektiv-qualitative Aufarbeitung: »Está visto que esta noche las piedrecitas blancas sólo sirven para equivocar más las cosas« (Cuarto, 160). In nahezu allen Texten von den frühen Erzählungen bis zu Nubosidad variable manifestiert sich eine solche Ablehnung der »servidumbre al reloj y a las fechas« (NV, 350, vgl. 256): »Y en el calendario ponía 20, septiembre, sábado, las fechas, siempre las fechas, acorralar la vida y los sueños perennemente entre fechas« (Fragmentos, 76). Nun kann die Romanform als Bewußtseinswiedergabe diesem zunächst inhaltlichen, auf die konkrete Lebenspraxis ausgelegten Anliegen der subjektiven Vergangenheitsaufarbeitung ausgezeichnet entsprechen. So gibt etwa der quasi-autobiographische IchRoman Ritmo lento vielerlei Auskunft über das Funktionieren der menschlichen Erinnerung, die nicht nur Gegenstand, sondern auch Mittel der literarischen Darstellung ist.20 Der Protagonist ordnet das Material seiner gelebten Erfahrungen neu und gelangt so zu einer achronologischen Aufarbeitung, die das Erinnerte qualitativ bewertet. Diese Art der Vergangenheitsbewältigung ergibt sich nicht nur aus der Struktur des Textes - achronologisch angeordnete Kapitel, überschrieben mit den Namen derjenigen Personen, die für die Entwicklung des Protagonisten von Bedeutung sind -, sondern sie wird auch vom Erzähler ausfuhrlich kommentiert: No valen de nada los criterios cronológicos para evocar el tiempo pasado. Muchas veces he pensado en la ineficacia de los diarios íntimos [...], en cuanto pretenden ser arcas donde guardar, día a día, para salvarlo del olvido, lo que sólo puede ser salvado echándolo, por el contrario, al olvido mismo, como a una olla donde las fechas cercanas han de cocer inexorablemente revueltas con las lejanas y sólo nos puede importar la calidad del caldo que den. (RL, 193f.) Eine solche Anullierung der linearen Zeit wird von Ciplijauskaité bei vielen auch jüngeren Autorinnen beobachtet; »la memoria como crónica va transformándose en

20

Zum quasi-autobiographischen Ich-Roman vgl. Franz K. Stanzel, Typische Formen des Romans, 10 1981, 31ff.

Göttingen

65

memoria analítica«.21 Bei Martín Gaite bildet die Bewußtseins- und Erinnerungsthematik seit ihrer frühen Ausarbeitung in Ritmo lento eine Konstante des literarischen Schaffens, die spezifische Formen des menschlichen Erlebens mit der formalen Ausgestaltung ihrer Texte in Einklang bringt. In Retahilas verweist Germán auf die Möglichkeit der Bewertung von Erfahrungen aus der zeitlichen Distanz heraus (»esto de los recuerdos que saltan así de pronto es un regalo, es como volverse a encontrar un objeto perdido que en el reencuentro parece que brilla más que cuando lo tenías y no te dabas cuenta«, R, 87), und in El cuento de nunca acabar heißt es: El tiempo próximo hiere más que el pasado. Aquel tiempo ha sido verdad también, pero ya está más pasado por la criba, parece que se entiende mejor. Porque para entender, hay que distanciarse. Es siempre el actual un tiempo agraz, turbado, inmaduro, por su misma cercanía, tiempo de casi imposible reflexión. Dificultad de habitarlo y reflexionar sobre él. Hay una conciencia amortiguada de lo que está sucediendo, como si al tiempo de suceder, te clavara un aguijón que destilara anestesia. (Cuento, 370) Diese zu den Feststellungen der fiktionalen Figur Germán analoge Beobachtung der Essay-Autorin Martín Gaite macht deutlich, wie sich lebenspraktische Erfahrungen auf die Schreibpraxis auswirken. Die Besonderheit von El cuento de nunca acabar liegt gerade in dieser Verknüpfung von Literaturschaffen und individueller Welterfahrung, die auch in den Romanen der Autorin konstant hervorscheint, wenn immer wieder erzähltechnische Verfahrensweisen zur Darstellung lebenspraktischer Gegebenheiten funktionalisiert werden.22 In »Variaciones sobre un tema« versucht die Protagonistin Andrea anläßlich ihres dreißigsten Geburtstags, die letzten fünf Jahre ihres Lebens zu rekapitulieren, doch bereitet ihr die qualitative Bewertung dieser Zeit Schwierigkeiten: [...] ya que los inviernos gastados en Madrid se le presentaban simplemente como cinco palotes pintados en el aire del local, sin más decirle nada, fuera de que eran cinco y, además, apenas aquella terca voluntad de recuento cedía a las presiones insoslayables del exterior, volvían a amalgamarse, incontrolables e indistintos, en el tronco confuso de todo lo vivido, lo cual era como desvivir21 Ciplijauskaité, 39. Vgl. auch Schramke, 125: »Die Erinnerung ist in besonderem Maße "erlebte Zeit", insofern sie das ganze vergangene Leben überschaut und aufbewahrt. Zudem überwindet sie mühelos den Mechanismus der objektiven Zeit: in der Erinnerung verliert die Zeit ihre Irreversibilität. Der vergangene Lebensstrom entzieht sich dem linearen Verfließen, denn die Jahre können beliebig zusammengezogen und umgestellt werden.« 22 So verweist etwa Stanzel in seiner theoretischen Abhandlung über die Erzählsituationen auf den klärenden Effekt der distanzierenden Aufarbeitung in autobiographisch angelegten Erzähltexten: »Je kürzer die Erzähldistanz, je näher das erzählende Ich dem erlebenden Ich steht, desto enger ist der Wissens- und Wahmehmungshorizont des erlebenden Ich und desto geringer ist die Wirkung der Erinnerung als Katalysator, der die Erlebnissubstanz zu klären imstande ist.« Franz K. Stanzel, Theorie des Erzählens, Göttingen '1985, 273. Analog hierzu verweist der Protagonist in Ritmo lento an einer Stelle auf seine Unfähigkeit, die erst kurz zurückliegenden Ereignisse analytisch anzugehen (RL, 269, s. u., 5.4., 161).

66 los y darlos por rezagados, por vueltos al claustro de lo no ocurrido todavía [...]. (»Variaciones sobre un tema«, CC, 12) Andrea ist nicht fähig, die fiinf Jahre ihres Aufenthalts in Madrid auf befriedigende Weise zu evozieren. Auch in diesem Text - der die Gedanken der Protagonistin in langen, reflexiven Passagen wiedergibt und mit der äußeren Situation der Hektik einer Cafeteria kontrastiert - wird deutlich, daß die Chronologie nur ein unzureichendes Ordnungskriterium darstellt; »no era una cronología de su vida a lo largo del periodo vivido en la ciudad lo que andaba buscando« (CC, 13). Andrea sucht nach einer »pista del tiempo menos falaz« (CC, 14) und konfrontiert ihren nun fünfzehn Jahre zurückliegenden ersten Madridbesuch mit dem Block der fünf Jahre ihres Aufenthalts in der Hauptstadt. Damals hatte sie zum ersten Mal die Gelegenheit, sich allein in Madrid zu bewegen, was für sie ein ihre Zukunft prägendes Erleben persönlicher Autonomie bedeutete. Durch die Applikation dieser »escapatoria« auf die Realität erlangt die Protagonistin von »Variaciones sobre un tema« eine qualitative Bewertung ihres bisherigen Lebens. Allí, a aquel cielo que fue propagando sus insensibles variaciones entre las ramas de los árboles hasta la total difuminación de toda luz y dibujo, y a las añoranzas de futuro que tal contemplación produjo en su mente de niña pueblerina, a aquellos últimos rojos de la tarde, alumbradores de anhelos y propósitos, era donde había que retroceder, a ese rescoldo - por fin estaba claro - a buscar el rostro escondido de los cinco años, transformados más tarde, al ser verdad, en esta cuadrícula de fechas y sucesos que cualquier mediocre y ordenado cronista, sin gran esfuerzo, habría podido fielmente reproducir. (CC, 17f.) Zudem verbindet sich in dieser Kurzgeschichte mit der Art der Zeitwahmehmung ein Aspekt, der im weiteren Verlauf des literarischen Werks von Martin Gaite sukzessiv an Bedeutung gewinnt: Die bei diesem Erlebnis der fünfzehnjährigen Andrea empfundene individuelle Autonomie spielt zunächst eine größere Rolle als real vorgefallene Ereignisse. Erst in ihrer Imagination füllt Andrea diesen Zeitraum mit immer neu variierten Geschehnissen - »variaciones sobre un tema« - an. Auch dieser Sachverhalt wird auf das Zeitempfinden zurückgeführt: »El tiempo, pues, venía a estar contenido mucho más en las historias deseadas - narradas a uno mismo o a otro - que en lo ocurrido en medio de fechas« (CC, 16). Wie in der freien Imagination, so erschließen sich auch im Bereich der Erinnerung unendliche Möglichkeiten, die einzelnen Erinnerungsfragmente werden aus einem simultanen Bewußtseinsinhalt heraus aktiviert und neu zusammengestellt. Dieser Sachverhalt wird immer wieder in die räumlichen Metaphern des »desván que tenemos detrás de la retina« (R , 20), des »desván del cerebro« (Cuarto, 91), des »desván de la

67 memoria« (NV, 39) gefaßt. Al comedor aquel también ellos lo llamaban "el cuarto de atrás", así que las dos hemos tenido nuestro cuarto de atrás, me lo imagino también como un desván del cerebro, una especie de recinto secreto lleno de trastos borrosos, separado de las antesalas más limpias y ordenadas de la mente por una cortina que sólo se descorre de vez en cuando; los recuerdos que pueden darnos alguna sorpresa viven agazapados en el cuarto de atrás, siempre salen de allí, y sólo cuando quieren, no sirve hostigarlos. (Cuarto, 91) Los recuerdos están repartidos por habitaciones que el pensamiento visita cuando se le antoja, a un ritmo imprevisible, ajeno a nuestras riendas. Pensar es ir saltando de una en otra, y a esta aventura, si os veis embarcados en ella, no le pidáis razones cronológicas. Cada habitación lleva cuatro o cinco dentro, como las cajitas chinas, con la diferencia de que de una vez para otra alguien a tus espaldas las revuelve y transfigura. Sólo sabes que la de fuera es esa cuyas paredes estás viendo y tocando cuando la cabeza se dispara y empieza a divagar. (NV, 195) Die Bewußtseinswiedergaben erhalten im literarischen Text zwar eine sukzessive Anordnung (»las historias son su sucesión misma«, R, 100); das entscheidende Kriterium für ihre Bedeutung ist aber eine innere Logik, die sich von externen Ordnungskriterien vollkommen lösen kann. In solchen Fällen bedienen sich die Texte lediglich der Linearität, die die Aneinanderreihung von Wörtern zwangsläufig erfordert, und evozieren die Erinnerungen der Figuren ansonsten in einem flächenartigen Gebilde. Somit erübrigt sich die chronologische Darstellung; auf der kompositorischen Ebene des Textes wird ein Eindruck verräumlichter Zeiterfahrung und damit ästhetischer Simultaneität erreicht. So bietet etwa in Retahilas die Zeitspanne einer einzigen Nacht Raum für erinnernde, Identität konstituierende Vergangenheitsaufarbeitung, genau wie auch in El cuarto de atrás, das - obwohl Protagonistin und Autorin hier zweifellos identisch sind - alles andere als eine konventionelle Autobiographie repräsentiert. Es handelt sich um »a book on memory but definitely not a memoir«,23 um den Versuch der völlig unvermittelten Darstellung des Erinnerungsprozesses, des direkten Hineinversetzens in die individuelle Erfahrung der Vergangenheit, wofür die Erzählerin erklärtermaßen ihre Seele verkaufen würde: »Daria lo que fuera por revivir aquella sensación, mi alma al diablo, sólo volviéndola a probar, siquiera unos minutos« (Cuarto, 10) . »[I]l s'agit de remonter á la source et non de reconstituer un déroulement«,24 und die Grundvoraus23 Debra A. Castillo, »Never-ending story: Carmen Martin Gaite's The back room«, in: PMLA, 102(5), 1987, 814824, 814. 24

Alsina, 325.

68 setzung fur diesen Vorgang bildet wiederum ein spezifischer Umgang mit der Zeit. In El cuarto de atrás werden daher das Genre der phantastischen Literatur bzw. direkte Anspielungen auf Todorovs Introduction ä la littérature fantastique genutzt, um auf die Konfrontation von realer und übernatürlicher Zeit hinzuweisen. Der entscheidende Aspekt ist die Vermischung von Raum- und Zeitebenen in der phantastischen Literatur, auf die über die gesamte Länge des Textes hinweg wiederholt hingewiesen wird. Ahí está el libro que me hizo perder pie: "Introducción a la literatura fantástica", de Todorov, vaya, a buenas horas, lo estuve buscando antes no sé cuanto rato, habla de los desdoblamientos de personalidad, de la ruptura de límites entre tiempo y espacio, de la ambigüedad y la incertidumbre; {Cuarto, 19) Me quedo a la expectativa, dándole vueltas entre los dedos a la nota que estaba sobre el libro; por el reverso leo copiada esta frase: "El tiempo y el espacio de la vida sobrenatural no son el tiempo y el espacio de la vida cotidiana". (Cuarto, 144, vgl. 160) Außerdem manifestiert sich die besondere Art des Zeitempfindens in El cuarto de atrás in der wiederholten Anspielung auf rauschartige Zustände, welche die Zeitwahrnehmung modifizieren können; »aquella muchedumbre ascendente caería a engrosar el invisible caudal interior como una droga intravenosa, capaz de alterar todas las visiones« (Cuarto, 9í). Den der Erzählerin von ihrem Gesprächspartner verabreichten Pillen kommt in diesem Zusammenhang besondere Bedeutung zu: Sie dienen dem »avivar«, aber auch dem »desordenar de la memoria« (Cuarto, 107f.), welches sie das »desenhebrar« dem »enhebrar los recuerdos« schlußendlich vorziehen läßt (Cuarto, 128). Es handelt sich um einen dynamischen Erinnerungsprozeß, den Castillo unter Rückgriff auf Derridas Unterscheidung zwischen einer »good, living, and creative memory« (»mneme«) und der »bad, death-dealing, and mechanical memory« (»hypomneme«) erklärt: »In Martín Gaite's novel, a parallel fundamental bifurcation of memory obtains, opposing the sterile repetition of the dead knowledge shut up in books to the adaptable, living discourse of a creative memory. On the one hand is memory, the power of a living, creative knowledge; on the other, the finished forms, the memoirs, the monumental histories of the just-ended Franco dictatorship, the created objects, mere representations, products of a sinister "memento", the poison pill of an artificially stimulated mind.«25 Dieses Plädoyer für eine nach qualitativen Prinzipien evozierte, dynamische Erinnerung, die Vergangenes mit Gegenwärtigem in Verbindung bringt, schließt also in El 25

Castillo. 817. Auf S. 818 kritisiert Castillo zu Recht, daß dieser Aspekt von der Literaturwissenschaft bisher nicht berücksichtigt wurde: »Recent studies of The back room that focus on the historical (or "autobiographical") aspect of the novel display a profound misunderstanding of the complexities of memory and recall in the never-ending tale. Martin Gaite consciously rejects the strangling binaries of light and dark, theoiy and fantasy, truth and error

69 cuarto de atrás auch die Geschichtsschreibung mit ein, »tampoco la historia es esa que se escribe poniendo en orden las fechas y se nos presenta como inadmovible« (Cuarto, 167, vgl. 104). Martín Gaite, die selbst als Historikerin zu beträchtlichem Ansehen gelangt ist, spricht sich aus für das Abgehen von unabänderlich festgeschriebenen 'Wahrheiten' und damit vom Logozentrismus der herkömmlichen Geschichtsschreibung. Doch wird in Nubosidad variable die Verstrickung des Individuums in seine Erinnerung durchaus auch problematisch gesehen: Los recuerdos cultivados a solas forman una madeja embarullada por dentro, enganchada entre pinchos, llegas a no diferenciar lo que te pasó de otros jirones descabalados procedentes de escenas callejeras o del cine; pero lo peor es que, de tanto moverte en esa maraña, el ayer te vampiriza, te enrarece el aire y te tapa la luz del día en que estás viviendo. Es difícil salirse del tumor del pasado dejando indemne el tejido del presente, tan delicado y frágil como un pétalo. (NV, 149) Hieraus ergibt sich die Forderung einer intersubjektiv verfahrenden Vergangenheitsaufarbeitung, denn erst so können simultane Versionen der gleichen Ereignisse aufeinander appliziert werden. Die Vergangenheit kann und soll auch hier keineswegs eine endgültige Festschreibung erfahren, was ja zuvor in El cuarto de atrás so deutlich kritisiert worden war; zusätzlich integriert Nubosidad variable jedoch die Infragestellung der individuellen Erinnerungsfähigkeit und damit auch einen Weg, die bisher trotz allen Insistierens auf die Wichtigkeit des Gesprächspartners doch eher solipsistisch verbleibende Bewußtseinserforschung durch eine intersubjektive Ebene zu ergänzen. Der Blick zurück birgt zudem die Gefahr, den Erfordernissen der Gegenwart nicht gerecht zu werden. »[SJiendo víctima de esa obstinación por pedirle asilo al pasado« (NV, 299), erweist sich Sofía Montalvo immer wieder als unfähig, sich mit der umgebenden Realität auseinanderzusetzen, welche erst im in der Schlußpassage des Buches stattfindenden intersubjektiven Austausch wieder greifbar wird. Die vorangehende Vergangenheitsaufarbeitung bringt zunächst einmal existentielle Desorientierung hervor. Es que quiero acordarme de las cosas, de cuándo pasaron, de cómo pasaron, de la relación que tiene lo de antes con lo de ahora, y la vida de los demás con la mía, porque todo tiene que ver, de eso estoy segura... Es como tratar de deshacer los nudos de un ovillo enredado con otros, con miles de ovillos... Y me vuelvo loca. (NV, 123) Nubosidad variable ist in seiner Gesamtheit als eine Auseinandersetzung mit eben die-

70 ser »memoria [...] tornadiza« (NV, 158) oder »antojadiza« (NV, 202) konzipiert; gegen Ende des Romans verdeutlicht ein Kommentar zu dem Gemälde »La persistencia de la memoria« (NV, 357), in dem Salvador Dali die Zeit mit dem für sein Schaffen charakteristischen 'weichen Uhren' zur Darstellung bringt, daß menschliche Erfahrung mit den Maßstäben objektiver Zeitmessung nicht erfaßt werden kann. Martin Gaite zeichnet in diesem Zusammenhang eine matrilineare Reihe der Weitergabe von Erinnerung, welche in ihrem Weiterleben immer neuen Modifikationen unterworfen ist: Me pregunto [es handelt sich um die verstorbene Mutter Sofias, d.V.] si será esa memoria tan anormal la que va a persistir, Sofía, ¿no se te ha ocurrido pensarlo?, ya no es la mía, ni la tuya siquiera, un invento del loco de Dalí, pero que algo querría decir con eso, tal vez que los relojes son un engaño, que no sirven para nada, sólo para medir el tiempo obligatorio y trivial de las gripes y las visitas y las comidas del domingo y la declaración de la renta, mi tiempo de dar órdenes, de esperar a que oscurezca para encender la luz, de planchar las sábanas que tú arrugabas y quejarme porque ha caído una mancha en la moqueta y de llamar al tapicero, pero que no tiene nada que ver con el tiempo de aquella tarde del verano en que murió la abuela Carmen; su transcurso, como el de esta noche, se rige sin duda por otras leyes; tal vez eso explica que se derritan los relojes. Si no se derritieran, si conservaran su énfasis inoxidable, no estaría sentada yo ahora aquí velando tu sueño y el de ese gatito gris, preguntándome lo que querría decir Dalí con eso de la persistencia de la memoria. ¿Te puedes imaginar, Sofía, ni remotamente, la clase de memoria que tendrán tus hijos cuando desaparezcas tú? Claro que no, no lo sabremos nunca, yo tampoco sé de lo que tú de acuerdas y de lo que no, ni cómo ordenas y te explicas esos recuerdos dentro de la cabeza, ni cuáles has tirado a la basura, no tengo ni idea. Pero mira, sólo te voy a decir una cosa: que no me imites a mí en ese tipo de inventarios, que lo que te haga sufrir lo descartes, hija. (NV, 357f.) Diese Reflexion ist innerhalb einer surrealistischen Szene angelegt, in der die verstorbene Mutter der Protagonistin Sofia gleichsam dem Totenschiff entsteigt (NV, 344). Sie verweist auf die Einzigartigkeit subjektiver Erinnerung, deren Gültigkeit - so suggeriert es die Anlage des Romans in erneuter Analogie von literarischem Werk und in El cuento de nunca acabar festgehaltener lebenspraktischer Erfahrung - immer aus dem Rückbezug zur Gegenwart hergeleitet werden muß: No olvidar nunca nuestra instalación frágil y amenazada en el tiempo. Somos un intento de sucesión de nosotros mismos. Hay gente que trata los recuerdos como flor de invernadero, no es capaz de echarlos al río revuelto de la memoria. [...] La gente desmemoriada - incapaz de memoria, privada de su beneficio

71 - está condenada a vivir chupando siempre los dulzarrones e insustanciales caramelos del recuerdo estático. Los recuerdos sólo sirven para bordarlos en el hoy, tienen sentido traídos "a cuento", al cuento de hoy. (Cuento, 375) Carmen Martín Gaite hat sich im Verlauf ihres literarischen Werdegangs eine sehr persönliche Zeitauffassung erarbeitet, die der Realität des Gelebten und der Geschichte die Akzeptanz persönlicher, imaginativer Ingredenzien hinzufügt, deren rationale Erklärung - »relacionando el paso de la historia con el ritmo de los sueños« (Cuarto, 104) - erst gar nicht versucht wird. Mit Nubosidad variable erfährt die in die Vergangenheit gewandte Bewußtseinserforschung eine Verlagerung auf den Bezug der Erinnerung zur Gegenwart, in der die Relationierung mit den Mitmenschen - und zwar wiederum nicht zuletzt über geteilte Erinnerungen - in den Vordergrund des Geschehens rückt. 5.1.2. Raum 5.1.2.1. Konkrete räumliche Dimensionen - objektiver Raum Zeit und Raum bedingen sich gegenseitig, wenn die Zeitperzeption mit räumlichen Dimensionen in Verbindimg gebracht wird; diese Interdependenz erforderte daher schon die Einbeziehung räumlicher Perspektiven in die Analyse der Zeitbetrachtung. Die beobachtete existentielle Entsprechung von Zeit- und Lebenserfahrung findet zudem eine Parallele in der Art und Weise, wie sich die Figuren Martin Gaites zu ihrer räumlichen Umgebung in Beziehung setzen und wie räumliche Dimensionen für die Darstellung ihrer Identitätskonstitution literarisch funktionalisiert werden. Konkrete räumliche Koordinaten wecken grundsätzlich einen Eindruck der Eingeschlossenheit, der zunächst in einer sozialkritischen Lesweise vor allem in den älteren Texten als ein Abbild der gesellschaftlichen Verhältnisse steht, so daß - genau wie bei der Erfahrung der objektiven Zeit - objektiver und gesellschaftlicher Raum in eins gesetzt werden. En la margen derecha se levantaban unos edificios blancos, apoyándose de espaldas contra otra ristra de montañas iguales a las de la orilla de enfrente. No se veían bien los edificios porque los tapaban unos árboles que había delante. Aquello debía ser el balneario. Bien ahogado entre montes; no había salida. (»El balneario«, CC, 194) Reconstruía la imagen del paisaje que había visto por fuera, y lo identificaba como la envoltura de estas paredes que me aprisionaban. Y, a su vez, todo el edificio también estaba ahogado y prisionero, medio emparedado entre dos

72 altas murallas de montaña, espesas, dominadoras como un entrecejo, que apenas le dejaban entre medias la rayita del río para respirar. (»El balneario«, CC, 217) Wie den Badeort kennzeichnet auch die Provinzstadt in Entre visillos eine hermetische Atmosphäre; in beiden Texten korrespondiert dieser räumliche Eindruck mit der Abgeschlossenheit der bürgerlichen Gesellschaft, welcher sowohl die Protagonistin aus »El balneario« als auch der überwiegende Teil der Figuren aus Entre visillos entstammen. In dem Roman von 1958 wird die »limitación de una capital de provincia« (EV, 60) sogar mit Bildern umschrieben, welche die gesamte Stadt mit einem Haus vergleichen: »La calle era fea y larga como un pasillo« (EV, 14); »[l]e parecía que se había colado en la ciudad por una puerta trasera« (EV, 40).26 Neuschäfer hat den Eindruck des huís clos als rekurrentes Mittel zur literarischen Darstellung der gesellschaftlichen Umstände in Spanien bis weit in die zweite Hälfte unseres Jahrhunderts hinein herausgestellt und in diesem Zusammenhang auch auf Entre visillos verwiesen. Das »Symbol des isolierten Hauses« biete einen literarischen Ausdruck für die gesamtgesellschaftliche Isolation Spaniens und ermögliche überdies durch die »Konzentrierung und Reduzierung eines umfangreichen Zusammenhangs auf einen kleinen Nenner«27 die gesellschaftskritische Thematisierung realer Sachverhalte, ohne daß die Zensurinstitutionen diese Kritik durch die Verringerung ihrer Tragweite als solche erkannt hätten. Darüber hinaus kann das Insistieren auf geschlossenen Orten vor allem in den frühen Texten Martin Gaites auf die behütete und von der Außenwelt abgewandte Lebensweise von Frauen und Mädchen in einer traditionell-konservativen Gesellschaft bezogen werden.28 Räumliche Deplazierungen deuten in einigen Texten einen Weg in die Freiheit an, so etwa die Zugfahrt aus der engen Provinzstadt heraus am Ende von Entre visillos oder die Spaziergänge, die den Lehrer Pablo Klein und seine Schülerinnen aus der beengenden Atmosphäre einer repressiven Erziehungsanstalt befreien (EV, 184f., 212). In Ritmo lento sind die Ausflüge Davids mit seinem Freund Miguel Terán gleichzeitig auf psychologischer Ebene eine »via de evasión« (RL, 66), genau wie die Exkursion der Protagonistin in »Lo que queda enterrado«, die sie zeitlich mit den Worten »salirme del tiempo« (CC, 64) umschreibt. Fernreisen erweisen sich demgegenüber meist als eine letztlich zum Scheitern verurteilte Flucht aus den eigenen 26

Vgl. Maria Vittoria Calvi, Dialogo e conversazione nella narrativa di Carmen Martin Gaite, Mailand 1990, 48.

27

Neuschäfer, 49; vgl. dort zu Entre visillos 58ff.

28

So verdeutlicht die Ausgestaltung des literarischen Raums in Entre visillos die gesellschaftliche Repression, der die jungen Mädchen durch Mechanismen sozialer Kontrolle unterworfen sind, wenn sie sich sogar noch in der Wohnung in quasi-öffentlichem Raum befinden und ihnen jegliches Zurückziehen in die eigene Intimität untersagt wird: »Space is so constricted as to be completely non-private. Anonymity is therefore impossible, and social norms are maintained with supreme effectiveness.« Joan L. Brown, Nonconformity in the fiction of Carmen Martin Gaite, Phil.Diss. University of Pennsylvania 1976, 208.

73 Lebensumständen. Dies zeigt sich in der Ablehnung ihres früher euphorisch betriebenen Reisekults durch Eulalia in Retahilas (R, 67ff.) genau wie in der mangelnden Reiselust des um Authentizität bestrebten David aus Ritmo lento (RL, 186, 279, 94) oder der Erzählerin aus El cuarto de atrás (Cuarto, 41). So bedeutet auch die von Mariana León im Verlauf von Nubosidad variable aus dem Versuch der Flucht aus einer existentiellen Krise heraus unternommene Reise schlußendlich eine Rückkehr zum Selbst, da sie in den während dieser Zeit verfaßten Briefen eine Verbindung zu ihrer Vergangenheit etabliert. Die Figuren Martin Gaites sind durch ihre räumliche Umgebung geprägt. Will sich Identitätskonstitution erfolgreich vollziehen, so muß dies immer auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft bedeuten, die beispielsweise Sofia aus Nubosidad variable in das »refu« ihrer elterlichen Wohnung (NV, Kap. XVII) und Eulalia aus Retahilas in den galicischen Herrensitz Louredo zurückfiihrt: »Y yo [...] sentía este lugar como referencia primaria o punto de origen, arcilla de la que he estado echando mano siempre para moldear cualquier sueño, y sabía cada vez mejor que este viaje, fundamento de todos los asuntos pendientes, era el único viaje que quedaba ya« (R, 71, vgl. 67). Die Wohnverhältnisse oder Aufenthaltsorte der Figuren lassen immer wichtige Rückschlüsse auf ihre psychische Verfassung zu. So situiert der Prolog von Ritmo lento das Wohnhaus des Protagonisten am äußeren Rand von Madrid; von der Außenwelt völlig abgeschirmt, bietet das Wohnviertel den Eindruck eines »fin del mundo« (RL, 10), und zusätzlich überwiegen über den ganzen Prolog hinweg Bilder der Ab- und Eingeschlossenheit (RL, 12, 14f., 25). 29 Auch werden die im Zusammenhang mit der Industrialisierung erfolgten demographischen Veränderungen in den realistischen Texten zu den Identitätskonflikten der Figuren in Beziehung gesetzt. In Ritmo lento, Fragmentos de interior und Retahilas symbolisieren die Häuser einen Anachronismus, wobei die von der Verstädterung bedrohten, ländlichen Madrider Vororte in den ersten beiden Fällen und die überkommene Ständeordnung im dritten Roman Gegenpole zur Europäisierungstendenz im Spanien der sechziger und siebziger Jahre bilden, etwa wenn der Wohnort einer Figur in Fragmentos de interior als »terca y anacrónica supervivencia« (Fragmentos, 38) umschrieben wird. Die räumlichen Verhältnisse geben Aufschluß über die - immer mit den gesellschaftlichen Veränderungen in Verbindung stehenden - psychischen Extremsituationen ihrer Bewohner: Sólo puedo concebir un final trágico. Por ejemplo, el de que la misma noche de mi regreso la casa se cayese de vieja y nos sepultase a los dos bajo ella, mientras tomábamos el café en el despacho. Sería la única manera de no espe29

Vgl. Michael D. Thomas, »"El callejón sin salida": Images of confinement and freedom in Ritmo lento«, in: Mirella Servodidio / Marcia L. Welles (Hg), From fiction to metafiction. Essays in honor of Carmen Martin Gaite, Lincoln/Nebraska 1983, 61-71.

74 rar a las últimas boqueadas, y este gran acontecimiento sustituiría a todas las mezquinas e insuficientes explicaciones, se tragaría mis remordimientos y los suyos. Nos iríamos a pique de una vez los tres juntos. (RL, 280) Retahilas verschmilzt die räumliche Wahrnehmung mit dem subjektiven Erfahrungshorizont der Protagonistin, wenn das Altern des Hauses direkt mit dem menschlichen Altern verglichen wird, »[s]on como las arrugas de la cara las grietas de una casa« (R, 45). Auch innerhalb der Gebäude setzen sich die Bilder der Abgeschlossenheit fort. In Ritmo lento verspürte der Protagonist eine starke Faszination fur das Arbeitszimmer, in das sich sein Vater gewöhnlich zurückzog (RL, 110), und Retahilas unterstreicht die hermetische Sphäre des Salons, wo das nächtliche Gespräch stattfindet, mit einem Verweis auf die Atmosphäre der Eingeschlossenheit in Bufiuels Film El ángel exterminador (R, 55). Mariana León nennt ihren Behandlungsraum »la boca del lobo«: Del pasillo se entra directamente a la parte del mirador, que llamo para mis adentros "la boca del lobo". O sea, que ese espacio, por bonito que te lo pinte, me angustia un poco, para qué te lo voy a negar, a veces casi como una película de miedo. (NV, 22) Hace rato que me vengo encontrando incómoda, notando que me estoy metiendo por donde no quería, precisamente en la boca del lobo. (NV, 27) Eine solche »Höhle des Löwen« birgt die Möglichkeit der Auseinandersetzung mit sich selbst, wirkt aber deshalb gleichzeitig auch bedrohlich. Genau hier ergibt sich die fur die Raumverarbeitung Martin Gaites typische Ambivalenz. Der Rückzug in einen abgeschlossenen Raum symbolisiert in einer psychologischen Dimension mehr als einmal die Identitätssuche der Figuren und wird von daher, auch wenn der 'Zutritt' zunächst einmal der Überwindung bedarf, keineswegs nur negativ erfahren. Überdies bietet ein solches »cuarto de atrás« Zuflucht vor einer als entfremdend oder gar feindlich empfundenen Außenwelt. Dieser Rückzug in kleinstmögliche räumliche Einheiten entspricht in erzähltheoretischer Hinsicht der zeitlichen und räumlichen Reduktion modemer Erzählformen, die der Bewußtseinsthematik größeren Raum geben. Aus räumlicher Abgeschlossenheit heraus entsteht die Möglichkeit der Subjektkonstitution in Imagination und Erinnerung. Durch diese subjektiven inneren Befreiungsversuche, die häufig an die konkreten räumlichen Verhältnisse gebunden bleiben, wird die klaustrophobische Erfahrung räumlicher Eingeschlossenheit in das umgewandelt, was Gaston Bachelard in seiner Poétique de l'espace als »topophilie«, eine positive Relationierung des Individuums zu seiner räumlichen Umgebung, bezeichnet hat. 30 Bachelard beschränkt sich in seiner Untersuchung auf diese »topophilie« und auch auf das 30

Vgl. Gaston Bachelard, La poétique de l'espace, Paris 1957.

75 Haus als räumliche Einheit, dessen Horizontalität er gegenüber der Vertikalität von Wohnungen als Ausdruck individuell-psychologischer Befindlichkeiten den Vorzug gibt.31 Analog hierzu sind moderne Großstadtwohnungen bei Martin Gaite meist kalt und geheimnislos: »Ahora las viviendas tienen poco misterio y todos los livings parecen el mismo living« (Cuarto, 90); »la casa le pareció desproporcionada, desprovista de calor y misterio« (Fragmentos, 60). Die Entsprechung der Raumverarbeitung Martín Gaites zu den Überlegungen Bachelards liegt in der subjektiven Aneignung des literarischen Raumes vieler ihrer Figuren begründet, zumal die Texte den menschlichen Körper häufig als Gebäude metaphorisieren und damit eine semantische Interdependenz von menschlicher Existenz und räumlicher Umgebung etablieren.32 5.1.2.2. Räumliche Metaphorik zur Darstellung individueller Wahrnehmungsformen Mariana Leóns »edificio interior« gerät so sehr ins Wanken, daß sie sich fragt, »si viene sólo de las tejas o de los cimientos mismos« (NV, 89). Nubosidad variable bedient sich auf diese Weise der konkreten räumlichen Einheit Haus' zur Darstellung eines psychologischen Befindens, und zwar seit dem mit dem Titel »Problemas de fontanería« überschriebenen ersten Kapitel des Romans; die hier berichteten Streitigkeiten Sofias mit ihrer Nachbarin wegen einer defekten Wasserleitung werden nämlich im Verlauf des Textes wiederholt auf die »tuberías del alma« (NV, 25) und die »cuestión de tuberías« (NV, 24, 318) der menschlichen Identität übertragen. Diese räumliche Metaphorisierung läßt sich im Gesamtwerk Martin Gaites bis zu den Augen als kleinste Einheit individueller Sinneswahmehmung zurückverfolgen; »todo se resumía en este poco espacio que entraba por los ojos«.33 Über die Augen, welche in traditionsreicher Metaphorik die Fenster der Seele sind und die direkte Verbindung von Außen- und Innenwelt bilden, relationiert sich das Individuum mit seiner Umgebung: »"Si caes al pozo, estás perdida - le dijo aquella voz interior. Porque una vez allí, no ves nada, lo sabes de siempre." Sí, lo sabía. Y también que no ver nada, era dejar de vivir. Había una fórmula que no le solía fallar: lograr que la cabeza tomara el control de la situación y le mandara al cuerpo enderezarse, no andar encogido. Y a los ojos enfocar bien la mirada.« 34 Ais »canal comunicativo inmediato«35 ermöglichen die Augen zwischenmenschliche Kontaktaufnahme: »Y de 31 Calvi zieht die phänomenologischen Ausführungen Bachelards für ihre Beschreibung des Werks von Martin Gaite heran. Vgl. dort zum Aspekt Horizontalität - Vertikalität S. 117, Anm. 5. 32 Diese Entsprechung wurde von der Autorin selbst wiederholt betont, z.B. anläßlich eines Wochenendseminars über ihr Werk an der Universität Göttingen, 27 /28.4.1990. 33

Carmen Martin Gaite, »Las ataduras« (1959), in: CC, 89-135, 110 (Erstveröffentlichung in Las ataduras, Barcelona 1960).

34

Carmen Martin Gaite, Caperucita en Manhattan, Madrid 1990, 119. Die im folgenden für Caperucita en Manhattan verwendete Abkürzung lautet 'Caperucita'.

35 Emma Martinell Gifte, »Un aspecto de la tecnica presentativa de C. Martin Gaite en Retahllas«, in: Archivum,

76 pronto, la vida se había remansado en el trecho que mediaba entre sus ojos y los míos, había empezado a fluir transparente y mansa, como las aguas de un río al que te puedes abandonar sin miedo« (NV, 272). Die Metaphorisierung der Augen bezieht sich sowohl auf das Hinausschauen in die Welt als auch auf das Hineinschauen in die Empfindungen des Einzelnen; die Augen bilden den Angelpunkt zwischen Innen- und Außenwelt. »Los ojos [...] son la ventana de la casa«, sagt David Fuente in Ritmo lento (RL, 207), und auch in »La oficina« findet sich schon diese Begrifflichkeit: ¡Qué cristal tan tenue y maravilloso el de los ojos! Sentir herido, amenazado, el cristal de sus ojos era como sentir el aviso de que algo fallaba, de que se podía derrumbar. Solamente por los ojos había salido y se había alzado alguna vez. Eran las ventanas y se habían posado allí todas las nubes y viajes, todas las luces que iluminaban su casa de tierra. 36 Im gleichen Jahr wie »La oficina« entstand eine weitere Kurzgeschichte mit dem bezeichnenden Titel »La trastienda de los ojos«. 37 So findet sich die Vorliebe der Autorin für die Verräumlichung der individuellen Wahrnehmung nicht nur bis heute bestätigt, sondern läßt sich auch bis in die allerersten Jahre ihrer literarischen Tätigkeit zurückverfolgen. Über die Augen, so hat der Protagonist von »La trastienda de los ojos« erfahren, bricht die Außenwelt in das Individuum ein; der direkte Blickkontakt ist es, der vermieden werden muß, will man sich der Vereinnahmung durch die Mitmenschen entziehen. La cuestión era lograr poner los ojos a salvo, encontrarles un agarradero. Francisco, por fin, lo sabía. [...] Por los ojos le asaltaban a uno y se le colaban casa adentro. No podía sufrir él estos saqueos súbitos y desconsiderados de los demás, este obligarle a mío salirse afuera, a desplegar, como colgaduras, quieras que no, palabras y risas. (CC, 247) Allí, detrás de sus ojos, en la trastienda de ellos, en el viejo almacén, a donde iba a parar todo lo recogido durante días y tardes, se habían guardado también rostros de varias muchachas. (CC, 251) Der Held der Kurzgeschichte versucht, sich vor den alltäglichen Banalitäten zu schützen, den Zwängen der Außenwelt zu entgehen, von denen sich viele Figuren Martin Gaites bedrängt fühlen. Die Fähigkeit des »aislarse« gilt als positive Eigenschaft und als notwendige Voraussetzung für die Erlangung persönlicher Autonomie: 31/32, 1981/82,463-481,476. 36

Carmen Martin Gaite, »La oficina« (1954), in: CC, 19-36, 31 (Erstveröffentlichung in der zweiten Ausgabe von El balneario. Madrid 1968).

37

Carmen Martin Gaite, »La trastienda de los ojos« (1954), in: CC. 247-253 (Erstveröffentlichung in der zweiten Ausgabe von El balneario, Madrid 1968).

77

Ya al final, cuando era la hora de irme, empezaba a notar en torno nuestro un aura que nos aislaba de los comparsas, que los alejaba de nosotras; y el local se había desembrujado, se iba despojando de su engañosa apariencia, [...]. (NV.31) Yo creo que tú no, que tú no estás así, por mucho que te acose lo doméstico, tú sabes crear sitio hasta en un cóctel, rodearte de esas murallas invisibles que te refugian, eso es lo que más te envidio, tu capacidad para aislarte, lo que más le envidiaba a Guillermo también. (NV, 182) Aus dieser Distanzierung heraus entwickelte »espacios interiores« bieten den Individuen Kompensation für die einschränkenden Gegebenheiten der Alltagswelt, ohne daß sie ihren Aktionsradius nach außen hin erweitern müssen. Die Verbindung 'Augen Fenster - imaginärer Freiraum' bildet so einen stringent ausgearbeiteten Bedeutungskomplex, der gleichzeitig den Rückzug in die Innerlichkeit, aber auch die Relationierung mit der Außenwelt umfaßt: »Solamente los ojos le abren a uno la puerta, le ventilan y le transforman la casa« (»La trastienda de los ojos«, CC, 252). Die erwähnten Kurzgeschichten und auch Ritmo lento greifen bereits sehr früh diese Thematik der »espacios interiores« auf, welcher Martin Gaite in späteren Jahren eine fundamentale Rolle für die Literatur von Frauen zuweisen wird. Zunächst bringt zwar noch die außergewöhnliche Sensibilität männlicher Figuren diese Art der Wahrnehmung hervor; später zieht die Autorin gerade das Phänomen der durch den Blick aus dem Fenster symbolisierten Begrenztheit der eigenen Welterfassung, der Interdependenz zwischen einer individuellen Innenwelt und einer für die Frauen aufgrund ihrer über Jahrhunderte hinweg nur auf die abgeschlossene häusliche Sphäre ausgerichteten Lebensweise nur sehr reduziert erfahrenen Außenwelt heran, um die Literatur von Frauen als »literatura de interiores« zu charakterisieren, »donde siempre juega un papel fundamental la ventana, puerto de embarque para las fantasías«.38 La ventana condiciona un tipo de mirada: mirar sin ser visto. Consiste en mirar lo de fuera desde un reducto interior, perspectiva determinada, en última instancia, por esa condición ventanera tan arraigada en la mujer española y que los hombres no suelen tener. Me atrevo a decir, apoyándome no sólo en mi propia experiencia, sino en el análisis de muchos textos femeninos, que la vocación de escritura como deseo de liberación y expresión de desahogo, ha germinado muchas veces a través del marco de una ventana.39 Wie auch bei den mit Hilfe der Augen-Fenster-Metapher ausgedrückten - zunächst nicht als geschlechtsspezifisch ausgewiesenen - individualpsychologischen Sachverhal38

Carmen Martin Gaite, »La mujer y la literatura«, Vortrag an der Universität Göttingen, 27.4.1990 (unveröff. Transkript).

39

Martin Gaite 1987, Desde..., 36f.

78 ten ist es gerade die ihr inhärente Dialektik zwischen Innen und Außen, welche die Fenstermetapher in bezug auf die weibliche Lebenserfahrung so interessant macht. Das Bild symbolisiert sowohl das Wissen um die Begrenztheit der eigenen Welterfahrung als auch die Kompensation dieser Einschränkungen in imaginativen Prozessen, so daß gerade aus der Introversion heraus kreatives Potential, Literatur entstehen kann. Der schon im Zusammenhang mit der Erinnerungsthematik angesprochene »desván« hinter den Augen steht somit fiir den schützenden Rückzug des Individuums. Er ermöglicht aber auch ein Aufbrechen in Imaginations- oder Erinnerungsprozesse: »Me parecía tener corrida una gruesa cortina por detrás de los ojos, y me extrañaba que, a pesar de todo, siguieran entrándome imágenes nuevas aceleradamente« (»El balneario«, CC, 193). Damit materialisieren sich einmal mehr psychologische Sachverhalte in konkreten räumlichen Verhältnissen. Überdies erklärt sich aus diesen Zusammenhängen die Tendenz vieler Figuren, häufig nicht den ganzen ihnen zur Verfugung stehenden Raum zu nutzen, wohl wissend, daß sie allzu bald an seine (physischen oder symbolischen) Grenzen kommen würden. Serena aus El castillo de las tres murallas zieht sich in ihr kleines Nähzimmer zurück, zu dem ihr despotischer Ehemann Lucandro keinen Zugang mehr hat40 - eine Maßnahme, die sich im übrigen in Nubosidad variable wiederholt, wenn Sofia das gemeinsame Schlafzimmer verläßt (NV, 196); beide Frauen erzwingen so aus der Begrenzung heraus einen Freiraum, denn im Gegensatz zu den durch die Ehemänner repräsentierten »materialistic values« stehen sie für eine an »spiritual values« orientierte Lebensweise.41 In El cuarto de atrás faßt die Erzählerin diesen sukzessiven Rückzug in die Innerlichkeit in das Bild der Kinderzeichnung; die Protagonistin zeichnet drei Wörter mit »c«, die diese Reduktion ausdrücken: Die »casa« wird zum »cuarto«, das »cuarto« zur »cama«, die »cama« könnte zur »conciencia« werden (Cuarto, 11), und die Voraussetzungen zur freien Imagination sind geschaffen. Aus erzieherischen Repressalien bzw. der Umfunktionierung des Kinderzimmers zur Vorratskammer während des Bürgerkriegs, also wiederum aus konkreten räumlichen Begrenzungen heraus, ergibt sich die Notwendigkeit der Evokation imaginärer Freiräume wie des mythischen Ortes Cunigán oder der Insel Bergai {Cuarto, 180ff., 184). Zudem werden im Bewußtsein Szenarien erfunden oder aus der Vergangenheit wachgerufen, so gerade das »cuarto de atrás« oder das erste Mädchenzimmer der Protagonistin, welche die Voraussetzung für die Entwicklung einer imaginierten Handlung bilden. Diese Evokation räumlicher Verhältnisse ermöglicht die unmittelbare Versetzung in 40

Carmen Martín Gaite, El castillo de las tres murallas, Barcelona 1981. Alle Seitenangaben entsprechen der Ausgabe Dos relatos fantásticos, Barcelona 1986 (Lumen: Palabra en el tiempo 170), 7-77, hier 39. Die im folgenden fiir El castillo de las tres murallas verwendete Abkürzung lautet 'Castillo'.

41

Brown 1987. 169. Vgl. Ruth El Saffar, »Carmen Martin Gaite and El castillo de las tres murallas«, in: Letras Femeninas, 8(2). 1982, 46-53.

79 eine zum Alltag komplementäre Sphäre. Seit ihren literarischen Anfängen zieht Martin Gaite in diesem Zusammenhang das Kino in seiner Funktion als 'Traumfabrik' heran; die Figuren distanzieren sich von sich selbst und von der als unzulänglich erfahrenen Alltagswelt. Lo mejor era los sábados por la tarde, y algún día entre semana, cuando iban al cine. Allí mismo, atravesando la calle había un cine; y otro pegando con la oficina, pared por medio. Parecía mentira lo cerca que estaba, lo fácil que era ir. A Mercedes le hubiera gustado tener que preparar un largo viaje y ponerse un vestido completamente distinto, despedirse de todos como si nunca fuera a volver. (»La oficina«, CC, 24) Der Einfluß des Kinos auf die Frauenfiguren Martin Gaites geht - zusätzlich zu seiner generellen Bedeutung im pragmatischen Kontext des franquistischen Spanien (s.o., 4.) - so weit, daß die Frauen die kinematographisch vorgegebenen Handlungsräume in ihren Lebensalltag integrieren und diesem so Möglichkeiten der persönlichen Entfaltung abzuringen versuchen. Indem sie sich mit einem Filmstar identifiziert, gelingt es Goyita in Entre visillos, die für ein junges Mädchen im Nachkriegsspanien völlig unangemessene Aktion einer telefonischen Kontaktaufnahme mit ihrem Schwärm Manolo Torre zu verwirklichen. Das Mädchen versteckt sich im abgedunkelten, muffigen Arbeitszimmer ihres Vaters, um in diesem geschlossenen Raum aus ihrer kinematographisch geprägten Einbildungskraft heraus einen neuen entstehen zu lassen, in dessen Schutz sie das Telefonat in Angriff zu nehmen wagt: Luego dijo en voz lenta, parecida a la de los doblajes de las películas: "Te he echado tanto de menos, tanto...". Volvió a mirar la hora, abrió la puerta con cuidado y salió al pasillo. Cruzó enfrente y empujó otra puerta. Era el despacho de su padre, un despacho de adorno, para ninguna cosa. Olía a puro apagado y estaban bajadas las persianas. Fue al teléfono y marcó un número. Tardaban en ponerse. Se echó la blusa para abajo. Se miró los hombros y el escote. - Diga. Escondió la cara contra el rincón de la pared: -Oiga, por favor. Don Manuel Torre. (EV, 47) Als sich Manolo Torre meldet, hängt Goyita den Telefonhörer ein: Sie bleibt an die sozialen Normvorgaben ihrer Gesellschaft gebunden, innerhalb derer das Ergreifen der Initiative durch Frauen kaum gedacht werden kann. Goyitas Inszenierung einer Filmsequenz ermöglichte jedoch zumindest den Versuch, psychosozial begründete Hemmschwellen zu überwinden. Dies gelingt in ähnlicher Weise in Nubosidad variable und Fragmentos de interior, wo sich weibliche Figuren ebenfalls über die mittels des Kinos erreichte Distanzierung von der Alltagswelt die Möglichkeit der Selbstüberwin-

80 dung und des aktiven Eingreifens in das Geschehen verschaffen (NV, 245; Fragmentos, 151). Doch trotz solcher gelegentlicher positiver Begleiterscheinungen fiir die weibliche Lebensgestaltung bleibt die imaginative Welterfassung bei Martin Gaite in den überwiegenden Fällen ein Rückzug in die Innerlichkeit, eine Gleichsetzung von Imagination und Literatur mit Evasion, aber auch - »no tengo más refugio que el de la escritura« (NV, 139) - mit einem Ort der Zuflucht (Cuarto, 56ff.) und ist daher in seiner Bedeutung als Weg der Befreiung des Individuums aus sozialer Restriktion natürlich auch problematisch. In Verbindung mit der franquistischen Gesellschaftsstruktur besitzt sie noch einen Aspekt der Subversivität; »las líneas generales se atenían a una dicotomía de sobra comprensible: quedarse, conformarse y aguantar era lo bueno; salir, escapar y fugarse era lo malo« (Cuarto, 125). Für die heutige Zeit aber ist die Abgleichung solcher Prozesse mit den Gegebenheiten der realen Umwelt, mit der sich das Individuum relationieren muß, unumgänglich. In Caperucita en Manhattan und El pastel del diablo42 wird die literarische Ausarbeitung dieser Evasionsprozesse ja schon auf den Erfahrungshorizont der kleinen Mädchen Sara und Sorpresa eingegrenzt, denen eine reflexive Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit erst in eingeschränktem Maße möglich ist: De pronto alzó los ojos al cielo y se dio cuenta de que estaba completamente sola en el mundo, sin más compañía que aquel motorcito invisible que fabricaba imágenes por dentro de su cabeza. Pero lo pensó con orgullo, y de aquella soledad le brotó un chorro de fuerza dolorosa y desconocida. (Pastel, 171) De lo que sí pudo darse cuenta Sara es de que la aventura ya la llevaba ella para siempre metida en el alma. Lo que ocurría en el exterior de Manhattan, al otro lado de la ventanilla, había dejado por completo de interesarle. (Caperucita, 192) In Nubosidad variable schließlich wird die Notwendigkeit der Relationierung der innenweltlichen Erfahrung mit der umgebenden Realität explizit eingefordert, »seguí echando cuentas de lo que ha pasado fuera de mí mientras llenaba cuadernos a lo largo de estos diecinueve días« (NV, 299). Vor allen Dingen aber läßt diese Art von imaginativer Identitätskonstitution auf die Bedeutung der Phantasie für die Lebensgestaltung der Figuren schließen. Und so verwundert es nicht, daß Literatur, Imagination und Schrift im Werk Martin Gaites wiederum mit der individuellen Lebenswirklichkeit in Verbindung gebracht werden. Die Literatur und der Zugang zu ihr erfahren bei Martin 42

Carmen Martin Gaite, El paste! del diablo, Barcelona 1985. Alle Seitenangaben entsprechen der Ausgabe Dos reíalos fantásticos, Barcelona 1986 (Lumen: Palabra en el tiempo 170), 79-172. Die im folgenden fiir El pastel del diablo verwendete Abkürzung lautet 'Pastel'.

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Gaite mit erstaunlicher Konsequenz räumliche Metaphorisierungen und werden so zu einem eigenständigen Bereich menschlicher Existenz hypostasiert. Mit den kindlichen Vorstellungen Saras von einer Buchhandlung mit dem bezeichnenden Namen 'Books Kingdom' als »país chiquito« (Caperucita, 25), wo sie sich zu leben wünscht, vollzieht sich etwa in Caperucita en Manhattan eine solche 'Verräumlichung der Literatur'. Und schon Retahilas beschreibt die ersten Leseerfahrungen unter Rückgriff auf ein räumliches Bild; »a veces en mis sueños este libro se convierte en una puerta de hierro que da a un jardín, lo tengo muchas veces el mismo sueño, sale como puerta, pero yo sé que es el libro aquél, intento empujarla y no puedo« (R, 30f.). Schließlich erfolgt in Nubosidad variable die Beschreibung des Imaginations- und Schreibvorgangs in einer räumlichen Begrifflichkeit. Porque ese territorio se revela y toma cuerpo en la escritura. Mejor dicho, es la escritura misma tal como va segregándose y echando corteza, plasmándose en los perfiles que la mirada descubre y trasiega en palabra; con ella engendro mi patria indiscutible, aunque sujeta a mudanza. Mi patria escabrosa y recóndita, siempre esperando por mí. Riachuelos por cuya corriente huyen los peces rojos del pretérito imperfecto, montañitas dentadas de gerundios, cuestas arriba flanqueadas por signos de admiración y puntos suspensivos, angostos desfiladeros donde se hila la oración compuesta, árboles frondosos de adjetivos o desnudos de ellos, praderas atisbadas en sueños y a las que sólo se llega por el puente inestable del condicional. (NV, 130, vgl. passim) Diese in den literarischen Texten vorgegebenen räumlichen Vorstellungen von Phantasie und Literatur finden ihre Entsprechung in einer autobiographischen Anekdote aus El cuento de nunca acabar, wo Martín Gaite ihr Interesse an sprachlichen Kunstwerken an einer Szene des Don Quijote festmacht. Die Passage »La entrada en el castillo« berichtet über den Eintritt Don Quijotes und Sancho Panzas in das herzogliche Schloß in Kapitel XXXI des Zweiten Teiles, das der achtjährigen Carmen von ihrer Hauslehrerin vorgelesen wurde. Das Kind fühlte das Bedürfiiis, sich selbst und nicht durch Vermittlung der Lehrerin mit dem Text auseinanderzusetzen und identifizierte das Schloß, von dem in Cervantes' Text die Rede ist, mit der Literatur schlechthin - eine Einschätzung, die sie bei einer späteren Lektüre durch die Tatsache bestätigt findet, daß Cervantes ftir das Schloß den Ausdruck »casa de placer« (Cuento, 178) verwendet: Esto que digo del castillo no es una metáfora que se me haya ocurrido ahora; se me ocurrió hace muchos años, cuando ni siquiera sabía yo lo que significaba la palabra metáfora, [...]. (Cuento, 174) Es muy aventurado declarar que desde aquel día sintiera yo la picadura de las

82 letras, pero sí puedo decir que identifiqué el castillo de los duques con el castillo inexpugnable de la literatura y que decidí tener paciencia y esperar. Porque si algún día llegaba a conquistar y habitar aquel recinto deleitoso, los caminos los tendría que descubrir yo y andarlos por mi propio pie, supe que las claves de doña Ángeles y del diccionario no valían para nada, (iCuento, 177) So erschließt sich Literatur in einem individuellen Prozeß, und sprachliche Betätigung garantiert Schutz in einem aus Schriften entstandenen »castillo de paredes de papel« (Cuarto, 56). Diese räumlichen Metaphorisierungen des persönlichen Verhältnisses zu Schrift, Imagination und Literatur schließen in einer intersubjektiven Erweiterung auch den Kommunikationsvorgang mit ein. In Retahilas etwa befinden sich beide Protagonisten in einem »castillo inexpugnable de palabras« (R, 233); ebenso wird in Nubosidad variable von einem gemeinsamen Eintritt der Protagonistinnen in einen »recinto« oder »jardín del cuento« (NV, 30, 31, 150, 216) gesprochen, und Sofia sieht sich mit ihrer Freundin in ein Szenario aus Emily Brontés Wuthering heights versetzt (NV, 14, 17). Die Verständigung mit den Mitmenschen bleibt bei Martin Gaite ein grundsätzliches Desiderat, wenn diese Relationierung auch durch eine Wechselbeziehung des »propio« - »ajeno« geprägt ist: Y la magia residía en el poder de reducir a exterior cuanto se prefería tener lejos, mientras cabía, por otra parte, volver propio lo que se prefería anexionar. Ahora nada estaba puesto lo suficientemente lejos como para poder saberlo ajeno, es decir, que se presentaba lo ajeno simultáneo, confundido y a la vez incomunicado con lo propio. (»Variaciones sobre un tema«, CC, 13) Diese Interdependenz weist wieder zurück auf die schon wiederholt festgestellte Dialektik von Innen- und Außenwelt, als deren Austragungsort bei Martin Gaite das Augen-Fenster-Bild ausgemacht wurde. Die von der Autorin gezeichneten Figuren nehmen die individuelle Vereinzelung deutlich wahr: »Es como si tuviera echado el cerrojo a la puerta por donde quieren entrar las palabras y los gestos de los demás a despertarme curiosidad, a darme un poco de calor« (NV, 87). Wenn sich Diego in Fragmentos de interior über zwischenmenschliche »relaciones por frotación, nunca por osmosis« (Fragmentos, 57) beklagt und Mariana in Nubosidad variable das Schwinden der Kindheit mit dem Verlust von »permeabilidad« gleichsetzt (NV, 57), so beziehen sich beide auf die Diskontinuität als eine existentielle Grunderfahrung und thematisieren überdies einmal mehr die dem gesellschaftlichen Zusammenleben inhärenten Verhärtungen.43 Analoge Hinweise auf die Forderung eines Auflösens erstarrter 43

Vgl. zur Diskontinuität als existentielle Grunderfahrung Georges Bataille, L'Érotisme, in: G.B., Oeuvres complètes, Bd. 10, Paris 1987 (' 1957), 7-270. Indem Mariana in Nubosidad variable explizit aus diesem Werk zitiert (NV. 108f. ist die weitgehend wörtliche Übernahme einer Passage aus L'Érotisme, 63f ), wird die Bataille-Rezep-

83 Strukturen ergeben sich aus den im Werk Martin Gaites etablierten räumlichen Dispositionen. 5.1.2.3. Ordnung - Unordnung; Orientierung - Desorientierung Die konkreten räumlichen Dispositionen werden im literarischen Verfahren wiederum mit sozialpsychologischen Sachverhalten rückgekoppelt. Schon in »El balneario« erwecken die unaufhörlich aus den Koffern quellenden Kleider der Protagonistin einen Eindruck der Unordnung, welcher - verstärkt durch die Tatsache, daß diese sich in einer unbekannten, nicht durch die Präsenz familiärer Objekte angeeigneten Umgebung befindet - ein Gefühl der Hilflosigkeit und der Verwirrung hervorruft: »Aquel desorden del cuarto contribuía a mantener mi tensión y mi inquietud, el terrible agobio de mi conciencia« (CC, 209). Die Protagonistin fühlt sich ihrer gewohnten Umgebung beraubt, im Traum erlebt sie eine »brecha[s] en la costumbre« (Cuarto, 76), die in krassem Gegensatz zu den 'geordneten Verhältnissen' im Badeort steht.Unordnung muß Matilde als angepaßte Bürgerin des reglementierten Franco-Staates verwirren und verunsichern. Andererseits schafft diese Unordnung Raum für Unvorhergesehenes, das sie aus der Alltagsroutine reißen könnte: »Me olvidé de lo que buscaba y de todo proyecto de orden, porque aquello me producía un inmenso placer« (CC, 206).44 Die Tragweite dieses Insistierens auf Zufälligkeit und Unordnung als »huellas de vida« (NV, 73) kann vielleicht nur verstehen, wer die eher spärlich möblierten, mit akkurat positionierten Dekorationsstücken ausgestatteten spanischen Interieurs kennt.45 Im Gegensatz zu einem übersteigerten Ordnungsbedürfiiis bietet ein in seiner Funktion nicht festgelegter Raum wie z.B. der »trastero de Encama« aus Nubosidad variable (oder auch das »cuarto de atrás«) aufgrund seiner »incondicionalidad que caracteriza a las almas generosas para albergar emergencias, cuitas, secretos y peregrinos de cualquier raza o procedencia« (NV, 276f.) die Möglichkeit der Improvisation. In El cuarto de atrás wird die Abneigung gegen eine allzu akribische Ordnung (»Y por qué no podía ser el sitio de los objetos aquél en que, a cada momento, aparecían?« Cuarto, 87) mit eindeutigem Bezug auf die franquistische Propaganda thematisiert: »Bajo el machaconeo de aquella propaganda ñoña y optimista de los años cuarenta, se perfiló mi desconfianza hacia los seres decididos y seguros, crecieron mis ansias de libertad y se afianzó la alianza con el desorden« (Cuarto, 96).46 tion Martin Gaites offensichtlich (s.u., 6., 174, Anm. 24). 44

Auf diese Möglichkeit des Einbrechens von Unvorhergesehenem in den Lebensalltag bezieht sich Martin Gaite in ihrem »Brechas en la costumbre« betitelten Vortrag über phantastische Literatur, den sie am 9.7.1990 im Rahmen der Sommeruniversität der Universidad Complutense de Madrid in El Escorial gehalten hat.

45

Vgl. z.B. die Beschreibung des »mirador« (EV, 16).

46

Vgl. Martin Gaitel987, Usos amorosos de la postguerra..., 118ff., wo die Autorin die Ordnungsrhetorik der franquistischen Propaganda analysiert. Eine detaillierte Untersuchung der räumlichen Disposition von Objekten in El cuarto de atrás findet sich bei Emma Martinell Gifre, »El cuarto de atrás: Un mundo de objetos«, in:

84 Mit der »enfermedad del orden« beschäftigte sich die Autorin außerdem schon 1958 in einem journalistischen Artikel,47 und überhaupt häufen sich in ihrem Werk die Anspielungen auf »orden« und »desorden«, »orden« und »caos«. Caperucita en Manhattan nimmt z.B. in aller Beiläufigkeit darauf Bezug, wenn das unaufgeräumte Schlafzimmer der sympathietragenden Großmutter mit der Putzwut ihrer Tochter konfrontiert wird. Bilder zufälliger räumlicher Koordinierung finden sich neben der wiederholten Bezugnahme auf unaufgeräumte Zimmer auch in kleinerem Maßstab seit Entre visillos immer wieder, etwa in der Beschreibung der willkürlich angeordneten Ausstellungsstücke eines Schaufensters (EV, 132), eines Nähkästchens (Cuarto, 18f.) oder auch in der Unordnung des »baúl de recuerdos« aus Retahilas (R, 231). In solchen Vergleichen wiederholt sich die schon in der Zeitbetrachtung konstatierte Abwendung von endgültigen Systematisierungsversuchen, was jedoch nicht heißen soll, daß der Versuch der Relationierung nicht immer neu unternommen wird; Ordnung und Chaos bilden bei Martin Gaite zwei komplementäre Kategorien, welche nicht als solche, sondern erst in ihrer Verabsolutierung problematisch sind. Auch das Verhältnis von Ordnung und Chaos bleibt ein sich wechselseitig bedingendes, wenn auch letzteres als eine Garantie für Authentizität im gesellschaftlichen Zusammenhang eine deutliche Aufwertung erfährt.48 Die räumliche Disposition von Objekten und die damit verbundene Familiarität gibt den Figuren zwar das Gefühl, sich in gewohnten Koordinaten bewegen zu können, doch ermöglicht erst die Auflösung dieser Koordinaten einen spielerischen, ungezwungenen Umgang mit der Welt, der die Alltagsroutine zu durchbrechen vermag. In diesem Sinne ist auch die positive Wertung der Labyrinthmotivik im Werk Martin Gaites zu sehen: »Los letreros nos orientan, nos ayudan a escapar de abismos y laberintos, pero queda siempre la nostalgia de la perdición que se cernía« (Cuarto, 18). Abwege und Umwege weisen auf eine zwar ungewissere, aber qualitativ letztlich höherbewertete Lebensführung hin: »Procura encontrar tu camino en el laberinto [...]. Quien no ama la vida, no lo encuentra. Pero tú la amas mucho« (Caperucita, 158). Der literarische Raum verweist also häufig auf Windungen und Irrungen, auf Ausflüge in die »Cerros de Úbeda« (Cuarto, 132; R, 222, 224), welche durchgehend als Metapher für ein meist positiv erfahrenes, Zufälle und Unvorhergesehenes integrierendes Abschweifen stehen; »revivo el antiguo placer por habitar pasadizos, recodos y desvanes, aquel gusto infantil por los escondites« (Cuarto, 19). Die räumliche Disposition steht auf diese Weise symbolhaft für eine Lebensführung, die zugunsten individueller Autono-

Revista de Literatura, 89. 1983, 143-153. 47

Carmen Martin Gaite, »La enfermedad del orden«, in: Martin Gaite 1982, La búsqueda..., (Erstveröffentlichung in Medicamento, Juli 1958).

48

Vgl. die Abschnitte »Caos y orden« bzw. »Orden y caos« in Cuento, 325 bzw. 366f.

147-152

85

mie Zufälligkeiten akzeptiert, Umwege als Bereicherung sieht und von a priori gesetzten Zielen Abstand nehmen kann. 5.1.3. Zusammenfassung Zeit und Raum erweisen sich im Werk Martin Gaites als affektiv und subjektiv erfahrene Elemente, welche die Lebenserfahrung grundlegend determinieren. Durch die Ausweitimg der Raum- und Zeitperzeption auf sozialhistorische und sozialpsychologische Phänomene entsteht ein direkter Bezug zum zeitgeschichtlichen Kontext. Darüber hinaus sind Zeit und Raum mit der individuellen psychologischen Verfassung der Figuren eng verknüpft, so daß sich eine Wechselwirkung zwischen der literarischen Ausgestaltung der Raum- und Zeitkategorien, ihren pragmatischen Bedeutungen und der individuellen Welterfahrung der literarischen Figuren ergibt. Die konkreten zeitlichen Rahmenbedingungen können in einer affektiven Beziehung des Individuums zur Zeit erweitert und von einer einschränkenden in eine bereichernde Relation umgewandelt werden, genau wie sich durch die räumliche Metaphorisierung von Imagination, aber auch von Erinnerung und zwischenmenschlicher Verständigung ein Ausgleich für die Unzulänglichkeiten des konkreten Lebensraumes ergibt. Martin Gaite faßt auch Immaterielles in die für die Welterfahrung grundlegenden Konstanten von Raum und Zeit und verweist so mit großer Plastizität auf die Tatsache, daß Leben weit mehr bedeutet, als sich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort zu befinden. In der Darstellung ihrer Konzeption von Raum und Zeit manifestiert sich nicht mehr und nicht weniger als die komplexe Suche nach einer authentischen und autonomen Welterfahrung, die das Individuum zu sich und zu seiner Umwelt in ein produktives Verhältnis setzt, einschließlich der Hindernisse und Irritationen, die eine solche Identitätssuche gerade für weibliche Figuren mit sich bringt. Daher wird die Problematisierung der Subjektautonomie aus der Tradition der ästhetischen Moderne in eine lebenspraktische Auseinandersetzung mit dem weiblichen Lebensalltag transferiert, wenn Martin Gaite etwa das Phänomen des »habitar el tiempo« mit positiv erlebter Einsamkeit in Verbindung bringt. Die Raum- und Zeitperspektiven entsprechen sich vor allem in bezug auf die Dichotomie 'Statik - Dynamik', die sie in Bewegung und zueinander ins Verhältnis setzt. Sowohl die Raum- als auch die Zeitkategorien sind frei von Systematisierung und Hierarchisierung, was sich räumlich durch die Dichotomie »orden - caos«, zeitlich durch Verfahren achronologischer Vergangenheitsaufarbeitung manifestiert. Fehlende Systematisierung und Hierarchisierung bedeuten gleichzeitig den Verzicht auf Finalität. Das Akzeptieren von Zufälligkeiten, von Außerplanmäßigem und auch von NichtErklärbarem bildet ein wichtiges Element der von Martin Gaite literarisch vermittelten Welterfahrung. In dieser Hinsicht wird vor allem den Frauen aufgrund der Tatsache,

86 daß der Lebensalltag im häuslichen Bereich häufig in weniger geordneten Bahnen verläuft als im Berufsleben, eine besondere Sensibilisierung attestiert. En el fondo la mayor diferencia entre el discurso masculino y el femenino estriba en que un hombre en un nivel de cultura y de inteligencia parecido al de la mujer con quien discute, no se resigna a no entenderlo todo. A base de una clasificación por temas que en su mismo empeño de imponerse dialécticamente pueda resultar artificial, la mujer en cambio desconfia muchas veces del entendimiento como norma.49 Auf diese Weise erklärt sich Martin Gaites Insistieren auf einer Dynamisierung räumlicher und zeitlicher Koordinaten im Sinne einer »repesca de momentos significativos o excepcionales en el seno de ese magma de lo cotidiano«,50 die auf Umwegen und Abwegen und durch die Füllung von Leerstellen zu einer immer neuen Ordnung fuhren soll: [S]e trata de rescatar junto con el tiempo ido que se desliza sin sentir un tiempo confuso, ahistórico, no histórico sino como extraño donde las fechas pueden bailar. Las mujeres en suma tendemos a evocar un tiempo donde aparentemente no ha pasado nada, dentro del cual es como si hubiéramos perecido sin darnos cuenta.51 Dies gilt nicht nur für die persönliche Zeitempfindung, sondern auch für die Geschichtsschreibung im allgemeinen; »la única novela histórica posible en nuestro tiempo es aquella que toma posesión del mundo interior«.52 In frühen Texten Martín Gaites findet sich diese im Verlauf ihres literarischen Schaffens ausgearbeitete Form der Welterfahrung an männlichen Figuren veranschaulicht. Mit der Zeit verlagert die Autorin die Darstellung solcher Wahrnehmungsformen jedoch in weibliche Figuren, so daß die Wahl einer männlichen Hauptfigur wohl in erster Linie ein Zugeständnis an einen Literaturkanon bedeuten mag, welcher die Möglichkeit der Subjektkonstitution noch stillschweigend auf Männer beschränkt, zumal die literarische Ausgestaltung der Zeit- und Raumerfahrung in den folgenden Werken immer stärker mit einer spezifisch weiblichen Lebenserfahrung rückgekoppelt wird.53

49

Carmen Martin Gaite, »La mujer...«, Vortrag 27.4.1990.

50 Ebd. 51 Ebd. 52

Ciplijauskaite, 130.

53 »A glance at almost any compendium of analyses of so-called 'major works of modern Spanish literature' reveals that those novels deemed 'most significant' in the eyes of literary critics and historians have been those which chronicle men's, rather than women's, lives.« Joan L. Brown, »The challenge of Martin Gaite's woman hero«, in: Manteiga u.a., 86-98, 86.

87 Achronologische und damit qualitativ-affektive Erinnerung, Analyse statt Chronik, konkrete räumliche Metaphorik fiir psychologische Sachverhalte und für den Imaginationsprozeß, Bildung imaginärer Freiräume aus konkreter räumlicher oder psychologischer Begrenzung heraus, das Verharren in authentisch gelebten Momenten auf der einen, ein ständiger Versuch der Relationierung von Individuum und Außenwelt auf der anderen Seite sowie die Ablehnung einschränkender Systeme sind Konstanten in der literarischen Umsetzung von Raum- und Zeitperspektiven im Werk Martin Gaites, die zum großen Teil schon seit ihren literarischen Anfängen auszumachen sind. Sie ergeben ein Netz von Bedeutungszusammenhängen, das sich von der individualpsychologischen Welterfassung über sozialpolitische Phänomene bis hin zum literarischen Schaffensprozeß erstreckt.

88

5.2. Erzählsituationen »La elección de la voz y el modo de esa voz - eso es, el tono - no surgen, como puede ocurrir con la acción, a veces del propio texto, ni se van imponiendo a través de la escritura, como también ocurre con algunos personajes, sino que vienen determinados por el autor desde fuera, desde antes de comenzar a escribir.«1 Durch diese bewußt getroffene Entscheidung zugunsten einer bestimmten Perspektive eröffnet sich für den oder die literarisch SchafFende(n) die Möglichkeit, die Distanz zu den dargestellten Figuren zu determinieren, sie selbst in der Ich-Form sprechen zu lassen oder eine am Geschehen stärker, schwächer oder auch gar nicht beteiligte Instanz für die narrative Vermittlung einzusetzen. Wird diese erzählerische Mittelbarkeit, die Stanzel als das grundlegende Charakteristikum erzählender Prosa betrachtet,2 als Gestaltungskriterium nicht genutzt, so liegen Formen des unmittelbaren Erzählens vor; die Figuren äußern sich dann in unvermittelt wiedergegebenen Sprechakten oder auch schreibend, etwa in Tagebüchern oder Briefen. Obwohl die Tendenz zur unmittelbaren Darstellung gerade in der Tradition des modernen Romans als Gegenreaktion auf die ausgeprägte auktoriale, Verbindlichkeit der Werte suggerierende Erzählperspektive des 19. Jahrhunderts starken Zuspruch fand, bietet die reflektierte Einfuhrung einer Erzählinstanz doch mannigfaltige Möglichkeiten. Gerade die von Riera erwähnte Tatsache, daß sich der Akt des Schreibens primär über die Ausgestaltung der erzählerischen Vermittlung vollzieht, läßt aus der Untersuchung der Erzählperspektiven wichtige Rückschlüsse für die Bedeutungskonstitution narrativer Texte erwarten. Die narrative Vermittlung des Erzählten gibt Aufschluß über die Adressatenorientierung eines Textes, denn die Erzählinstanz wendet sich über Kommentare, Beschreibungen, Erklärungen und zuweilen auch mittels direkter Ansprache an einen Rezipienten, der wiederum als ontologisch faßbare Figur oder als die abstrakte Instanz eines impliziten Lesers, oder auch in einer Doppelung in beiden Formen auftreten kann. Die Spannweite dieser im Text etablierten und von Pozuelo mit dem Begriff des »pacto narrativo«3 umschriebenen Kommunikationsbeziehungen ist bei Martin Gaite ausgesprochen groß und reicht von stark vermittelten und rezipientenorientierten Erzählformen bis zu Texten, in denen gerade die Abschwächung oder gar völlige Abwesenheit erzählerischer Mittelbarkeit ein grundlegendes Bedeutungskriterium darstellt.

1

Carme Riera, »Grandeza y miseria de la epístola«, in: Marina Mayoral (Hg), El oficio de narrar, Madrid 1990, 147-158, 154.

2

Vgl Stanzel 1985.

3

José María Pozuelo, La lengua literaria. Málaga 1983, 133.

89 5.2.1. Über die Souveränität der Erzählfiguren in retrospektiven Ich-Texten Erzähltexte in der Ich-Form zeichnen sich durch die Situierung der Erzählinstanz innerhalb der fiktiven Handlung aus. Die Ich-Erzähler sind am Handlungsverlauf in mehr oder weniger ausgeprägter Weise beteiligt; häufig haben sie eine existentielle Motivation für ihren Bericht, so daß ihre psychische Verfassung den Romaninhalt determiniert. In den Texten Martin Gaites findet sich eine große Bandbreite des Beteiligtseins der Ich-Instanz am Geschehen; die persönliche Perspektive solcher gleichsam als subjektive Filtereinheit der Erlebnissubstanz fungierenden Ich-Erzähler(innen) bildet dabei ein grundlegendes Element für die Bedeutungskonstitution der Texte, die häufig fiktive Autobiographien sind und innerhalb eines individuellen Bewußtseins evozierte Lebensgeschichten umfassen. Das Verhältnis zwischen erlebendem und erzählendem Ich wird strukturgebend; je weiter die Zeit des Erinnerten von der Gegenwartshandlung entfernt liegt, je stärker die sich erinnernde Person die Geschehnisse aus der zeitlichen Distanz heraus bewertet, desto größere Auswirkung hat das sogenannte 'Ich:Ich-Schema'4 auf die Darstellung des Erinnerangsprozesses - ein Sachverhalt übrigens, der in bezug auf das Werk Martin Gaites schon im Zusammenhang mit den von ihr formulierten Vorstellungen zum Funktionieren der menschlichen Erinnerung zur Sprache gekommen ist (s.o., 5.1., 65). Ritmo lento ist solch ein quasi-autobiographischer Ich-Roman, der aus der Dialektik des Ich:Ich-Schemas einen Großteil seines Bedeutungsgehalts bezieht. Tritt auch das erlebende Ich im Verlauf des Romans immer stärker hervor, so verschwindet die erzählende Instanz dennoch nie ganz. Vielmehr ist sie es, die den Hergang der Erinnerung leitet, die häufig eine Erinnerungspassage mit einer allgemeinen Erläuterung verbindet oder durch sie erst motiviert, wie z.B. zu Beginn des mit »Gabriela« betitelten Kapitels: Lo que más ama el hombre es mantener una cierta coherencia ante los demás; y así, el que otra persona nos tenga en sus manos, no depende en absoluto de que sea más inteligente que nosotros, ni siquiera de que se proponga ejercer semejante dominio o no, sino simplemente de que haya asistido a alguna rotura de esta coherencia nuestra. Digo estas cosas porque, [...]. (RL, 130) Es gibt Voraus- und Rückverweise, die dem vom Protagonisten angekündigten »remolino de recuerdos« (RL, 27) entgegenstehen:5 Die Erinnerung ist zwar achronologisch, doch wird sie in den meisten Episoden zeitlich fixiert, und ihr Hergang bleibt immer logisch nachvollziehbar. Der Erzähler äußert sich nicht nur durch Satzanfänge mit »recuerdo« oder »ahora«, er illustriert seine Erinnerungen auch mit Reflexionen 4

Vgl. Stanzet 1985, 271ff.

5

Beispiele für Vorausweisungen finden sich z. B. auf S. 50, 119, für Rückverweise auf S. 54, 91, 136, 218.

90 und an den impliziten Leser gerichteten Kommentaren, häufig mit unpersönlichem Subjekt (»De la infancia cree uno saberlo todo, como del trozo de calle muy conocido que se abarca a través de los cristales de una ventana.« RL, 59) oder in der ersten Person Plural (»¡La radioactividad! Ya tenemos un argumento más con que amueblar nuestro hueco pensamiento.« RL, 169), teils sogar in Klammerzusätzen: (Las contradictorias figuras que los demás reflejan de uno mismo, al darnos idea de nuestra multiplicidad, nos desalientan en el empeño de adobar una imagen única, servible para todos, y lloramos sobre los miles, desconcertantes fragmentos de nuestra imagen rota. Pero, sin embargo, de abandonar el vano empeño de pegarlos una y otra vez, no se deriva ningún fracaso, sino, por el contrario, la más generosa victoria a que un adulto puede aspirar: la de echar estos fragmentos al río, y aprender a vivir sin la guía de la imagen que con ellos se quería componer.) (RL, 150) Immer wieder wird die Kombination der autobiographischen Handlungskomponenten durch solche erläuternden Einschübe unterbrochen, so daß auch der Erzählrhythmus genau dem »ritmo lento« entspricht, welcher die Lebensweise des Protagonisten auf der Inhaltsebene kennzeichnet. Außerdem impliziert dieses ausdrücklich analytische Vorgehen eine Dämpfung des Eindrucks, das Dargestellte sei lediglich individuell, betreffe nur die psychologischen Probleme einer Einzelperson. Die Erzählhaltung trägt also dazu bei, scheinbar Subjektivem eine gesellschaftliche Relevanz zu verleihen, auf die der Protagonist zudem deutlich hinweist: »Mi descontento de entonces se había desplazado completamente de lo personal. Mis problemas me parecían nimios y absurdos y mi continuo malestar lo sentía ya como índice claro de algo que en el mundo no marchaba bien« (RL, 257). In diesem Roman, der ja vorgibt, nur die abnormen Vorstellungen eines 'Verrückten' zu beinhalten, kann die Ausgestaltung der Ich-Perspektive daher konkrete zensurpolitische Gründe haben. Trotz der analytischen Anlage des Textes, der keine kausal fortschreitende, lineare Handlung mehr produziert, bleibt der Protagonist aufmerksamer und fast objektiver Beobachter seiner selbst und seiner Mitmenschen. Gegen Ende wird der Text affektiver, Passagen in erlebter Rede (RL, 249) geben den Nebenfiguren größeres Gewicht, ein direkter Anruf an die ehemalige Verlobte des Protagonisten (RL, 275f.) führt aus dem Memoirentext hinaus. Doch insgesamt lebt der Roman von der Dominanz des erzählenden Ich, dessen Kommentare im übrigen mehr als einmal in journalistischen Texten der Autorin veröffentlichte Überlegungen aufgreifen.6 6

So entspricht etwa RL, 50, wo David Fuente seinen eigenen »ritmo lento« mit dem »ritmo apresurado de las demás personas« vergleicht, einer Aussage aus »Recetas contra la prisa«: »... hay que poner a salvo nuestra mente, en cuyo terreno hace la prisa sus verdaderos y más lamentables estragos, ya que puede llegar a sustituir al pensamiento« (in: Martín Gaite 1982, La búsqueda..., 99-105; Erstveröffentlichung in Medicamento, Dezember i960); eine der oben zitierten Stellen (RL. 150) deckt sich mit einer Passage aus »Personalidad y libertad«:

91 In der schon im Titel auf die Erinnerungsthematik anspielenden Erzählung »Ya ni me acuerdo« bestimmt ein solches dialektisches Verhältnis von Gegenwarts- und Erinnerungshandlung die Abgrenzung der Textsequenzen.7 Die Konfrontation von Vergangenem und Gegenwärtigem kontrastiert zwei Lebensweisen, wobei der Protagonist durch die jeweilige Verlagerung in die Situation des Erlebenden bzw. Erzählenden seine Wertmaßstäbe umkehren kann, wenn sich etwa herausstellt, daß die aus der Sicht des erlebenden Ich eher negativ dargestellte »tal Silvia« (CC, 74) zum Zeitpunkt des Erzählens die Freundin des Erzählers ist. Dieser zeichnet sich wiederum durch ein klares analytisches Vorgehen aus; er erläutert das Erinnerte durch erst später erfahrene Zusätze (CC, 86), kommentiert in der ersten Person Plural (CC, 87) und stellt auf diese Weise dem erinnerten Ereignis, bei dem es sich um ein ausgesprochen positiv, in zwischenmenschlicher Wärme erlebtes Zusammentreffen mit einer Jugendfreundin handelt, eine Kritik an seiner momentanen oberflächlichen Lebensweise gegenüber (CC, 77, 79, 80). So werden Vergangenheit und Gegenwart in ein Wechselverhältnis gestellt, in dem die Tatsache, daß das erinnerte Erlebnis authentischer erfahren wird als die Gegenwart, durch die erzählerische Vermittlung unterstützt wird. Die letzten Worte des »[y]a ni me acuerdo« (CC, 88) mit denen der Erzähler in der Gegenwartshandlung das Erinnerte vorgeblich negiert, bedeuten somit eine Entscheidung für die aktuelle Beziehung mit der oberflächlichen Silvia, womit die gegenwärtige Lebensweise aber gleichzeitig in ihrer offensichtlichen Unehrlichkeit entlarvt wird. Im Gegensatz zu einer Funktionalisierung des Ich:Ich-Schemas für die Bedeutungskonstitution, wie sie in Ritmo lento und »Ya ni me acuerdo« zum Ausdruck kommt, zeichnet sich der männliche Ich-Erzähler in Entre visillos eher durch eine äußerlich registrierende Position aus, die für eine in die Handlung involvierte Erzählstimme in der ersten Person atypisch genannt werden kann. Die Bewußtseinswiedergabe ist hier zweitrangig und hat keinesfalls eine verzerrende, subjektives Erleben implizierende Wirkung. Im Gegensatz zu David Fuente aus Ritmo lento verzichtet Pablo Klein fast völlig auf analytische Passagen. Er registriert die Verhältnisse in der Kleinstadt und kritisiert auf diese Weise indirekt aus der Perspektive eines »verfremdenden Außengesichtspunktes«.8 Zuweilen gibt er ein Erlebnis wieder, das sich in den Tagebüchern der jungen Natalia ebenfalls findet, so daß aus dieser Komplementarität eine »perspectiva múltiple« entsteht.9 Klein selbst erzählt jedoch äußerst nüchtern und »Pocas veces, cuando llegamos a conocer más o menos vagamente la imagen que de nosotros ha guardado un amigo, nos sentimos con la valentía necesaria para contrariarla y destruirla; sin embargo, solamente en la medida en que consiguiéramos despreocuparnos de esas imágenes estaríamos en el camino de realizar algún acto libre. Porque asi, dejándonos coaccionar por lo que los demás esperan de nosotros, y esperando, de acuerdo con ellos, una reacción previsible para cada ocasión, ocurre que esta reacción va siendo cada vez menos libre y más automática.« (Ebd., 107-111, 108f; Erstveröffentlichung in Medicamento, Juli 1961). 7

Vergangenheit: CC, 73-77, 81-87; Gegenwart: CC, 77-81, 87f.

8

Neuschäfer, 60.

9

Ciplijauskaité, 216.

92 kommentiert kaum einmal seine psychische Verfassung. Trotz seiner Außenseiterposition steht er mitten im Geschehen, da er - abgesehen von der Raffung der Ereignisse nicht explizit als Erzählender in Erscheinung tritt und auch über den Zeitpunkt des Erzählens keinerlei Angaben gemacht werden. Nur im letzten Kapitel scheint dann doch in Ansätzen ein erzählendes Ich hervor, das die bevorstehende Distanzierung durch die Abreise formal vorausnimmt: »Las clases de alemán, a pesar de ser mi única ocupación concreta durante el tiempo de mi estancia, las recuerdo como una música de fondo, como algo separado de la ciudad misma« (EV, 248, vgl. 250). Auch der Erzähler aus Entre visillos leitet also den Erzählvorgang an, obwohl die Anlage des Romans den Schwerpunkt noch nicht auf die retrospektive Bewertung, sondern auf eine weitestgehend neutral berichtende Übermittlung legt, welche jedoch dem in Entre visillos enthaltenen gesellschaftskritischen Potential gerade durch ihre vordergründige Neutralität besonderes Gewicht verleiht. Übrigens scheint Martin Gaite gerade diese Fähigkeit zur bestimmt leitenden Darstellung in ihren frühen Texten nur den männlichen Erzählstimmen zuzugestehen. Die weiblichen Ich-Erzählerinnen sind dort nämlich nicht nur zahlenmäßig unterlegen;10 ihr Verhalten kontrastiert auch stark mit der doch als autonom zu bezeichnenden Berichtsform der bisher untersuchten männlichen Erzählstimmen. Außer Entre visillos, wo es sicherlich kein Zufall ist, daß die Autorin bei der weiblichen Ich-Erzählstimme Natalias auf die unmittelbare Vermittlungsform des Tagebuchs ausweicht, erproben lediglich »Lo que queda enterrado« und »El balneario« die Ich-Perspektive mit einer weiblichen Hauptperson. Maria erinnert sich in »Lo que queda enterrado« an einen Sommer, in dem sie wegen einer nach zuvor erlittener Fehlgeburt erneuten Schwangerschaft unter starker psychischer Belastung stand. Bezeichnenderweise herrscht zu Beginn ihres Berichts (wie übrigens auch bei Matilde aus »El balneario«) die erste Person Plural deutlich vor, so daß die Erzählerin zunächst nur in Relation zu ihrem Ehemann in Erscheinung tritt: »La niña se había muerto en enero. Aquel mismo año, al empezar los calores, reñíamos mucho Lorenzo y yo, por los nervios, decíamos. Siempre estábamos hablando de nervios, de los míos sobre todo, y era un término tan 10 Dies gilt nicht nur in bezug auf die Romane, sondern auch für die kürzeren Erzähltexte der Autorin: Von den sechzehn Texten der Cuentos completos sind vier in der Ich-Perspektive verfaßt; von diesen Texten weisen drei männliche Erzähler auf. Zwölf Erzählungen sind in der dritten Person berichtet, hier wiederum findet sich achtmal eine weibliche, dreimal eine männliche Hauptfigur und einmal eine Frau und ein Mann als Protagonisten. »El balneario« ist insofern ein Sonderfall, als der Text aus einem ersten Teil in der Ich-Perspektive besteht, dem ein zweiter in der dritten Person gehaltener angeschlossen ist. Zu »Las ataduras« sei an dieser Stelle vermerkt, daß der wiedergegebene Erinnerungsvorgang ähnlich Ritmo lento angelegt ist und auch hier die Erinnerungsfähigkeit der Protagonistin mit zunehmender Nähe zur Erzählgegenwart abnimmt. Doch ergreift die Protagonistin Alina nicht selbst das Wort; im Gegensatz zum männlichen Erzähler in Ritmo lento wird ihr Erinnerungsvorgang durch eine Erzählstimme gestutzt: »A partir de la muerte del abuelo y de la marcha de Eloy, los recuerdos de Alina toman otra vertiente más cercana, y todos desembocan en Philippe. Es muy raro que estos recuerdos sean más confusos que los antiguos, pero ocurre asi« (CC, 121). Trotz Martin Gaites erklärtem Interesse an Frauenfiguren (vgl. den Prolog zu den Cuentos completos, 7ff.) manifestieren sich also in der Wahl der Erzählperspektive Zugeständnisse an eine Gesellschaftsordnung, in der Frauen nur eine sekundäre Position zukommt.

93 inconcreto que me excitaba más« (CC, 53). Im Verlauf des Textes macht sich auch das erzählende Ich bemerkbar, jedoch in sehr viel geringerem Maße als in den vorangegangenen Beispielen, etwa durch einen kurzen Hinweis auf Schwachstellen der Erinnerungen (CC, 53, 54) oder Ungewißheitsäußerungen (CC, 57, 65). Insgesamt weist Maria im Vergleich zu David aus Ritmo lento, Juanjo aus »Ya ni me acuerdo« oder auch Pablo aus Entre visillos eine wesentlich unsicherere Erzählhaltung auf, zumal sie am Ende der Kurzgeschichte wiederum ihrem Mann das Wort überläßt, der mit einem direkten Redebeitrag schließt. 5.2.2. Die Ich-Perspektive bei direktem subjektiven Erleben Die Ich-Erzählerin Matilde aus »El balneario« verzichtet völlig auf den Versuch der retrospektiven Aufarbeitung eines Erlebnisses aus ihrer Vergangenheit. Die Ich-Perspektive begründet sich in diesem Text durch ein unmittelbareres subjektives Erleben; der erste Teil von »El balneario«, der den Traum Matildes beinhaltet, konzentriert sich ganz auf das erlebende Ich. Dies erklärt sich aus der Tatsache, daß es sich ja nur angeblich um erinnertes Geschehen, wenn auch aus sehr geringer zeitlicher Distanz (»[h]emos llegado esta tarde«, CC, 187), in Wahrheit aber um ein unmittelbares Traumerlebnis handelt. Dieser Traum ist durchgängig im Imperfekt gehalten, eingerahmt durch den perfektiven Beginn und den im Präsens wiedergegebenen Augenblick kurz vor dem Aufwachen, der die Verbindung zur in Präsens und dritter Person dargestellten Handlung im zweiten Teil des Kurzromans herstellt. Das rekurrente Motiv des Bedürfnisses zu schreien (CC, 188, 223, 224), das mit dem Eindruck lähmender Stille kontrastiert (CC, 193, 205, 208, 215), sowie Andeutungen über die Unwirklichkeit bzw. Traumhaftigkeit des Erlebten (CC, 193, 195, 223, 224) unterstreichen diese Verbindung zusätzlich. Zur Unterstützung dieser Atmosphäre werden in »El balneario« darüber hinaus surrealistische Beschreibungen eingesetzt, und ähnliche surrealistische Anklänge lassen sich auch in dem im gleichen Jahr erschienenen Text »La mujer de cera« auffinden.11 Hier erlebt ein männlicher Protagonist einen Alptraum, wobei der Gebrauch des Imperfekts auf die Traumhaftigkeit des Berichteten hinzuweisen scheint. Allerdings ist die in »El balneario« auszumachende Ebene der Andeutungen, welche darauf verweist, daß es sich um einen Traum handeln könnte, in »La mujer de cera« nicht aufzufinden. Erzähl- und Handlungsgegenwart decken sich in diesem Text, die zeitliche Situierung lautet »hoy« (CC, 166), so daß die Möglichkeit einer retrospektiven Erinnerung ausgeschlossen werden kann. Die Struktur der Kurzgeschichte, die im Präsens ihren Anfang nimmt und in ihrem Verlauf plötzlich und unvermittelt zwischen Präsens und Imperfekt hin und her springt, wird auf diese Weise unschlüssig, 11

Carmen Martin Gaite, »La mujer de cera« (1954), in: CC, 165-186 (Erstveröffentlichung in Las ataduras, Barcelona 1960).

94 der narrative Prozeß hat einen eindeutigen Bruch.12 In »Un día de libertad« wird die Ich-Perspektive demgegenüber überzeugender zur Darstellung subjektiven Erlebens genutzt.13 Auch hier berichtet ein Ich-Erzähler im Präsens; seinen gegenwärtigen Eindrücken folgt die Erinnerung an den Vortag, an dem er seine Arbeitsstelle verloren hat, weil ihn die Rückbesinnung an ein Erlebnis seiner Kindheit so gefangen nahm, daß er auf eine Frage seines Vorgesetzten nicht angemessen reagierte. Das erzählende Ich ist in dieser Passage präsent, wichtiger ist m.E. jedoch die durch die Konfrontation bzw. Mischung der Erinnerung mit der Beschreibung des Verhaltens des Vorgesetzten stilistisch erzeugte Kontrastierung von Außenund Innenwelt, die dem Erleben eindeutig den Vorrang gibt: - ¡Pero está usted loco! - exclamó el jefe enfurecido, dando un golpe en la mesa -. ¿Qué rayos está usted poniendo? ¿Se puede saber lo que le pasa? Yo todavía no pensaba que iba a enfadarme. Creo que no había mudado de expresión. - Déjeme ahora, por favor - susurré apenas, con voz suplicante y un gesto de la mano, como queriendo alejarle. Me pareció bastante explicación. Llevo diez años en la casa y nunca he pedido un favor. Creo que tengo derecho a algunas consideraciones. Rápidamente traté de volver a anudar la escena de la culebra, no se me fuera a pasar de rosca ahora que ya casi la tenía, después de que había estado perdida años enteros. Perdida no sé dónde. Germán chilló: "¡¡ A mí la tribu!!", y ya estaban a su alrededor tres o cuatro con palos cuando yo salí... Segundo puñetazo atronador sobre la mesa. El jefe estaba rojo de cólera. Levanté la cabeza y esta vez nos quedamos mirándonos de verdad. (CC, 43) Die Gedanken des Erzählers kreisen in der Gegenwartshandlung um die Reaktion seiner Frau auf die Nachricht von seiner Entlassung; Brown sieht die Ehefrau in einer Art »desdoblamiento« als das personifizierte schlechte Gewissen des Protagonisten und spricht der Kurzgeschichte damit ein hohes Niveau der literarischen Gestaltung zu: »"J." 's absent wife, acting as a sort of Superego or conscience, is a precursor of the very sophisticated "reflexive 'you' " whereby "you" is synonymous with "I", a device used in recent novéis to transmit internal dialogue.«14 In einer Passage der Erzählung rechtfertigt der Protagonist das Geschehnis des Vortags vor einem Foto seiner abwesenden Frau in der zweiten Person (CC, 46f.), so daß die Anrede gerade nicht reflexiv 12

Vgl. »La mujer de cera«, CC, 173, 179, 185; aus diesen Ungereimtheiten erklärt sich auch Browns Bewertung von »La mujer de cera« als literarisch unausgereift und »sketchy«. Brown 1987, 86.

13

Carmen Martín Gaite, »Un día de libertad« (1953), in: CC, 37-52 (Erstveröffentlichung in der ersten Ausgabe von El balneario, Madrid 1954).

14

Brown 1987, 51.

95 angelegt ist, sondern - im Gegensatz zu Browns Einschätzung - sehr deutlich zwischen den beiden nicht-identischen Personen von Sender und Empfängerin differenziert. In einer Art 'Generalprobe1, in der die Ehefrau als konkret angesprochenes 'Du' fungiert, formuliert der Erzähler genau die Argumentation, nach der er gerne handeln, welche sie jedoch unmöglich akzeptieren würde. So entscheidet er sich letzlich für den Versuch, das Ereignis des Vortags ungeschehen zu machen und wie Juanjo aus »Ya ni me acuerdo« in einem unauthentischen, aber materiell abgesicherten Lebenszusammenhang zu verbleiben. Die anfangs eher nüchternen Betrachtungen wandeln sich gegen Ende der Kurzgeschichte in eine höchst emotionale, unvermittelte Darstellungsweise: Sí. Lo tengo que arreglar. Mañana, en seguida. Volver al cauce, al carril, al sueño. (¡Qué malestar, Dios mío!) (CC, 51) Sí, sí. Lo arreglaré. Volver al cauce, al sueño. ¿Por qué no habré ido hoy? Con tanto tiempo libre... Pero mañana mismo. A primera hora. Lo tengo que arreglar, Dios mío. Lo tengo que arreglar. (CC, 52) »Un día de libertad« setzt die Ich-Form zur Unterstützung der affektiven Ausdrucksweise des Protagonisten ein; der Text ist damit ausgesprochen subjektiv geprägt und erinnert in der Entwicklung vom rationalen Bericht zum emotionalen Ausruf an die Anlage von Ritmo lento. 5.2.3. Unmittelbare Erzählformen als Gewähr flir den direkten Zugang zu den Figuren Waren die bisherigen Ausführungen von der Art und Weise der Ausgestaltung der Erzählstimme in Ich-Texten bestimmt, so werden im folgenden solche Erzählformen untersucht, die auf eine narrative Vermittlung bewußt verzichten. Diese ist ohnehin stark eingeschränkt, wenn - wie es in vielen Texten Martin Gaites der Fall ist - die Handlung über weite Strecken in szenischer Darstellung wiedergegeben wird.15 Szenische Darstellung schließt jedoch die narrative Fassung des Dialogs immer ein,16 so daß ihr Fehlen den Erzähltext der dramatischen Darstellungsweise angleicht. Wenn nun eine Figur unvermittelt das Wort ergreift, so wird die Wiedergabe ihres Denkens und Fühlens auf die direkteste Art und Weise erfaßt. Durch die unmittelbare Vermittlung in Form von Tagebuchauszügen der weiblichen Erzählstimme Natalias, die dem Bericht Pablo Kleins in Entre visillos gegenüberstehen, erzielt die Autorin einen 15 Eine Analyse der von Martin Gaite in direkten Redebeiträgen verwendeten Umgangssprache bietet für Entre visillos Manuel Seco, »La lengua coloquial: Entre visillos, de Carmen Martín Gaite«, in: Emilio Alarcos (u.a., Hg ), El comentario de textos, Madrid 1973, 357-375. 16 Vgl. Stanzel 1985, 193.

96 erzählperspektivischen Kontrast, der m.E. für die Bedeutung des Textes mindestens ebenso relevant ist wie die häufig betonte Tatsache, daß sich auch Natalias Tagebuch noch durch ein relativ 'objektives' Vorgehen auszeichnet, das mit den Konventionen des »realismo social« in Verbindung zu bringen ist.17 Der Roman beginnt gleich mit einem Tagebuchauszug, versetzt den Leser also - ganz im Gegensatz zum distanzierenden Romanende - direkt und unvermittelt in medias res, mitten in das Bewußtsein Natalias hinein, in welchem all diejenigen Probleme reflektiert erscheinen, die sich aus den repressiven Lebensumständen in der Provinzstadt ergeben. Diese Unmittelbarkeit wird dann erst im zweiten Teil des Romans wieder aufgenommen. Aufgrund der zeitlichen Nähe von Erleben und Niederschrift stellt das Tagebuch eine Art der Erinnerung dar, die dem Erlebten zwar Wertungen und Kommentare beigibt, ohne dabei jedoch an Spontaneität und Unmittelbarkeit einbüßen zu müssen - was gleichzeitig auch wieder bedeutet, daß der Ich-Erzählerin die Fähigkeit zur analytischen, distanzierenden Darstellung abgesprochen wird.18 Im Vergleich hierzu zeichnen sich die Monologe Eulalias und Germáns aus Retahilas schon durch ein analytischeres Vorgehen bei der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit aus; doch ist auch dieser Memoirentext mit Ciplijauskaité weniger als Autobiographie denn als simultaner »autorretrato« im Sinne eines »examen de conciencia desde dentro« zu bewerten: »El autorretrato se escribe desde el presente y es una revelación continua, mientras que la autobiografía implica una visión panorámica reflexiva.«19 Auch hier spielt also die Unmittelbarkeit der Darstellung eine wichtige Rolle für die Gesamtbedeutung des Romans. Der Text bedient sich praktisch einer dramatischen Darstellungstechnik, die Martin Gaites Theaterstück A palo seco sehr nahekommt, und dies nicht nur in bezug auf die Unmittelbarkeit der Darstellung und die in beiden Texten ausführlich behandelte Thematik der Einsamkeit, sondern auch aufgrund der Tatsache, daß auch dieser Monolog, genau wie die alternierenden Redebeiträge aus Retahilas, stark adressatenbezogen ist.20 Wie Eulalia und Germán innerhalb ihrer Sprechakte immer wieder auf die Präsenz eines Gegenübers verweisen, so imaginiert Ricardo in A palo seco über weite Teile seines Monologs ein Gespräch mit seiner abwesenden Freundin (»Es que, Teresa, date cuenta de que llevo aquí metido una semana a palo seco, yo solo, ¡a palo seco!, tú serías incapaz ... Porque quiero, sí, pero sarna con gusto también pica, no lo sabes tú bien.« Palo, 7), wendet sich mit 17

Vgl. Brown 1976,13ff: »Three distinct objective points of view: Entre visillos« sowie Brown 1 9 8 7 , 6 6 f .

18

So war für das Schreiben von Frauen ja von jeher, wenn nicht die Lyrik als direkter 'Seelenerguß', so doch zumindest die Brief- und Tagebuchliteratur vorgesehen, deren Authentizität zwar Bewunderung entgegengebracht wurde, die aber auch gleichzeitig eine Reduktion weiblicher Kreativität auf die Wiedergabe des Spontanen und Unreflektierten bedeutete.

19

Ciplijauskaiti, 19.

20

Carmen Martin Gaite, A palo seco, Madrid 1985 (Biblioteca Nacional, 1985). Die im folgenden für A palo seco verwendete Abkürzung lautet 'Palo'.

97 einem »tú reflexivo« an sich selbst {Palo, 18f., 30) oder spricht zu einer Personifikation der Einsamkeit {Palo, 34ff.). In diesem Zusammenhang sind auch die von der Autorin im Verlauf ihres literarischen Schaffens immer wieder in die Texte eingefugten Briefe zu nennen (EV, 109f., »Ya ni me acuerdo«, CC, 79, »Las ataduras«, CC, 132, Fragmentos, 41f., NV), die es den Figuren ermöglichen, sich unmittelbar an den/die Angeschriebene^) zu wenden bzw. die Adressatenposition über zeitliche Distanz hinweg einzunehmen.21 Martin Gaite entscheidet sich meist für die Konstruktion einer konkreten (stattfindenden oder imaginierten) Kommunikationssituation mit zwei Partnern, um ein »tu« in den Text zu integrieren, so daß ihre immer wieder gestellte Forderung nach zwischenmenschlicher Kommunikation sowohl formal als auch inhaltlich in Erscheinung tritt. Dieses »tu« manifestiert sich etwa in Eulalias »confesión a grifo abierto« an die tote Schwägerin und Freundin Lucia in Retahilas (R, 140ff.), aber auch schon in der Anrede an die Ehefrau in »Un día de libertad« (CC, 46f.) oder in dem emotionsbeladenen Anruf an die Ex-Verlobte in Ritmo lento (RL, 275f.). Dabei erreicht von den Briefen, die Mariana León in Nubosidad variable an ihre Freundin Sofia Montalvo schreibt und deren Spontaneität sich im ausdrücklichen Verzicht auf nachträgliche Streichungen (NV, 28) manifestiert, nur der erste die Adressatin. Die folgenden Briefe bewahrt Mariana bei sich auf, um sie Sofia erst bei ihrem Wiedersehen zu überreichen. Schreiben ist also für Mariana zunächst ein »vicio solitario« (NV, 128), doch bleibt auch hier die Ansprechpartnerin permanent präsent und leitet die Identitätssuche ihrer Freundin gleichsam im Hintergrund an. Die Identitätskonstitution kann nur über die Relation zu der entfernten Adressatin gelingen, deren aufsatzartige Schriften das notwendige Komplement zu den Briefen Marianas bilden: Pero si quieres que te sea sincera, en este momento mi interés por tus nuevos "deberes" no nace del altruismo. Simplemente, me muero de ganas de saber cómo respondes a lo que yo te decía para recuperarlo, porque se me ha borrado, aunque sé que descorché mía botella de champán y que me sentía feliz. Mucho más que si te tuviera al lado, porque te estaba pensando a mi manera. Es decir, lo que necesito es que me devuelvas, reflejada en tus comentarios, la muestra de tierra que te envié. Lo espero como el resultado de una biopsia. (NV, 144) Innerhalb der ohne narrative Vermittlung angelegten Briefe bedient sich Mariana gleichwohl der verschiedensten erzählperspektivischen Ausformungen. So bildet etwa 21 Die Anrede über Briefe funktioniert in Fragmentos de interior durch das Lesen alter Briefe sogar über Jahrzehnte hinweg (Fragmentos, 41ff), und in El cuarto de atrás spricht die Erzählerin von Briefen, die sie vor Jahren an sich selbst geschrieben hatte (Cuarto, 23), und erzeugt auf diese Weise die für diesen Roman so charakteristische vielschichtige Ich-Perspektive (s.u., 98ff ).

98 die Spaltung in die schreibende Hauptperson und die - in der dritten und dem »tú reflexivo« der zweiten Person wiedergegebene - beruflich entfremdete »doctora Jekyll León« (NV, 315, passim) einen durchgehenden Verweis auf die Identitätskrise der Protagonistin. Insgesamt findet sich also schon ein reflexives Moment innerhalb der erzählperspektivisch als unmittelbar angelegten Texte, die der Schreiberin einen gewissen Grad an Autonomie verleihen, welcher ja auch in Retahilas zu beobachten war. Doch vor allen Dingen braucht die ans Zuhören gewohnte Psychiaterin einen »interlocutor«; diese Funktion wird in einer Passage zunächst in der Rollenumkehrung einer Patientin und schließlich einer Vielzahl möglicher Rezipienten attribuiert: Los hombres, Almudena, siempre han sido un pretexto para mí. ¿Me ves llorando ahora?, pues hace dos semanas lloraba igual por otro, y me parecía que aquello era el fin del mundo, pero sobre todo por eso, porque se me hundió el mundo al sentirme mandada retirar, que qué razón tuvo él al decirme que estaba de psiquiatra. Y por ahí ya salió a relucir la historia de Raimundo con menciones a Silvia, y hasta la de Guillermo, [...], y le confesé a Almudena que si me había sentido impulsada recientemente a novelar ese amor antiguo la causa había sido tu reaparición, Sofia, que me ha removido tantas aguas turbias y me ha puesto en el disparadero del strip-tease solitario. De tal manera que acabé habiéndole no sólo de ti y de las cartas que te escribo y no te mando, sino dirigiéndome también a ti cuando venía a cuento, y a Raimundo y a Silvia, y a Manolo, con lo cual cada vez se llenaba de más presencias fantasmales la terraza y mi monólogo tomaba un sesgo delirante, quizá una buena idea para pedir una beca de teatro al Centro de Nuevas Tendencias Escénicas; aunque puede que ya esté inventado esto del interlocutor múltiple. (NV, 187f.) Dieser Textausschnitt zeigt, wie die Textbeiträge Marianas trotz ihrer Anlage als unmittelbar wiedergegebene Briefe Reflexionen über die Möglichkeiten erzählerischer Perspektivierung einschließen. Nubosidad variable verknüpft durch ein metaliterarisches Vorgehen beider Protagonistinnen erzähltechnische Sachverhalte mit konkreten lebenspraktischen Situationen und läßt die Figuren auf diese Weise ein literarisches Verfahren für die Auseinandersetzung mit ihren existentiellen Krisen fiinktionalisieren. 5.2.4. Multiple Ich-Perspektiven in El cuarto de atrás und Nubosidad variable Mit El cuarto de atrás erlangt die Ich-Perspektive eine vorher bei Martin Gaite nicht aufzufindende Komplexität. Dort berichtet die Erzählerin im Präsens von ihrer nächtlichen Schlaflosigkeit, und sie kommentiert im Präsens die sich anschließende Unterhaltung mit dem unbekannten Besucher. »El yo, en vez de ser único y transparente, es

99 múltiple y tiene una densidad propia personal: soy quien recuerda, quien narra, quien es visto por los otros, quien se confunde con un personaje de novela leída en la niñez, quien actúa en función de esta fantasía mimètica, etc.«22 Zur Konstruktion dieses »sujeto omnímodo«23 nutzt die Autorin verschiedene Rekurse, etwa das historische Präsens in Erinnerungspassagen, das meist zu Beginn des Erinnerungsvorgangs auftritt und damit ein unmittelbares Hineinversetzen in die Vergangenheit suggeriert: Lejos, muy lejos, sí. Es verano, vamos de excursión en un autobús naranja, alguien ha venido contando la historia de doña Inés de Castro, prisionera en la Quinta del Mondego, el autobús se para, llegamos a Amarante, nos bajamos allí, hay muchos viñedos, [...]. (Cuarto, 43) "¿Pero no habéis oído la sirena?" Mi padre aparece en la puerta de su despacho, esforzándose por conservar un gesto sereno. "¿Dónde están las niñas?" Mi madre se apresura por el pasillo, nos llama. (Cuarto, 61) Die Erzählweise erscheint damit weniger als retrospektiv-analysierende Reflexion denn als assoziative Überlagerung verschiedener Zeitebenen: »Rispetto ai romanzi precedenti, il monologo interiore de El cuarto de atrás è meno "controllato" dalla coscienza; vi sono numerose sequenze ben costruite dal punto di vista logico, ma altre sono più frammentarie: in ogni caso, la rapida successione di immagini e la sovrapposizione di piani temporali sono dominanti rispetto alla riflessione.«24 Häufig ergibt sich aus dieser Erzählhaltung eine regelrechte Bewußtseinsspaltung; die Erzählerin versetzt sich in ihre Kindheit und spricht von der erwachsenen Carmen Martin Gaite der Erzählgegenwart in der dritten Person... Ahora el viento es casi un huracán. "Oye, qué divertido, qué jaleo - me grita ella al oído -, se ha creído que soy Esmeralda. ¿Y él es Alejandro, verdad?, nos lo hemos encontrado en carne y hueso." "No estés tan segura, espera a ver por dónde sale todo esto." "Da igual por donde salga, tonta, es divertidísimo." "No chilles tanto, nos van a oír." "Que no, ¿cómo nos van a oír con el aire que hace?, además ella ha dicho que es algo sorda." (Cuarto, 184, H.d.V.) ... oder sie verwendet umgekehrt die dritte Person zur Beschreibung des kleinen Mädchens, das sie einmal war: Ahora la niña provinciana que no logra dormirse me está mirando a la luz de la lamparita amarilla, [...]: ve este cuarto dibujado por Emilio Freixas sobre una página satinada de tonos ocres, la gran cama deshecha y la mujer en pi22 Blas Matamoro, »Carmen Martín Gaite: El viaje al cuarto de atrás«, in: Cuadernos Hispanoamericanos. 117/118(351), 1979, 581-605, 588. 23

Gonzalo Sobejano, »Ante la novela de los años setenta«, in: ínsula, 396/391, 1979, 1 u. 22. Vgl. Jiménez, 49.

24

Calvi, 134.

100 jama, leyendo una carta de amor sobre la alfombra, le brillan los ojos, idealiza mi malestar. La estoy viendo igual que ella me ve; (Cuarto, 23, H.d.V.) Darüber hinaus findet sich in El cuarto de atrás das »tú reflexivo« in Form einer fiktiven Unterhaltung mit einem jungen Mädchen, das sich schließlich als die Erzählerin in jungen Jahren herausstellt {Cuarto, 74f., 89f.). An dieser Stelle des Romans zeigt sich, wie deutlich die verschiedenen Varianten des 'Ich' in der Konstruktion des Romans ausdifferenziert sind: die Antwort auf die Frage der jugendlichen Carmen wird erst nach fünfzehn Seiten Bewußtseinsstrom artikuliert. Schließlich erfolgt noch die vom nächtlichen Besucher vollzogene Gleichsetzung der Erzählerin mit der Protagonistin ihres ersten Kurzromans »El balneario«: »Usted llega con su acompañante, se apoyan juntos contra la barandilla de aquel puente a mirar el río verde con el molino al fondo, ahi ya está contenido el germen de lo fantástico, y durante toda la primera parte consigue mantenerlo« (Cuarto, 49, H.d.V.).25 Die Grenzen von Fiktion und Realität werden auf diese Weise durchlässig. »Toda la novela es una clara demostración de la estrecha relación que existe entre la literatura y la vida: la literatura reflejando la vida y la vida integrando el mundo de la ficción.«26 Das 'Ich' erscheint als ein vielfaches, nicht mehr eindeutig festlegbares; »no somos un solo ser, sino muchos, [...] cada persona que nos ha visto o hablado alguna vez guarda una pieza del rompecabezas que nunca podremos contemplar entero« (Cuarto, 167). Mit der narrativen Fassung eines eigentlich Unmittelbarkeit implizierenden Gesprächs ergeben sich zusätzliche gestalterische Möglichkeiten, auf die Martin Gaite in Retahilas verzichtet hatte. El cuarto de atrás jedoch bezieht wieder ein Großteil seiner Bedeutung aus der Mittelbarkeit der Darstellung; die narrative Ausarbeitung des Dialogs erlaubt die Gedankenwiedergabe der Protagonistin, die dem stattfindenden Gespräch gleichsam eine zweite, nicht artikulierte Ebene hinzufugt: »Siempre hay un texto soflado, indeciso y fugaz, anterior al que de verdad se recita, barrido por él« (Cuarto, 40).27 Diese beiden Ebenen prägen auch den Verlauf der Unterhaltung mit dem »hombre de negro«. Der oder die aufmerksam Lesende wird immer wieder Inhalte erkennen, die nur im Bewußtsein der Protagonistin existieren und nicht artikuliert werden (z.B. die »parchis«-Episode, Cuarto, 106f). Schließlich weist die Erzählerin auch selbst darauf hin, daß sie artikulierte und gedachte Erinnerung nicht auseinander25

Vgl. auch Alsina. 328 ff., der seine These, El cuarto de atrás sei eine »relecture« von »El balneario«, über die Erzählperspektiven herleitet, wobei er den Übergang in die dritte Person im zweiten Teil von »El balneario« mit dem Ende von El cuarto de atrás vergleicht: »Dans les deux cas le narrateur en première personne du début devient objet de narration« (329).

26

Jiménez, 126.

27 Dies gilt sowohl fur die Unterhaltung mit dem »hombre de negro« als auch für das Telefongespräch mit der Unbekannten (Kap. V). Das Gespräch mit dem »hombre de negro« umfaßt drei der sieben Kapitel (II, IV, VI), das erste und dritte sind reine Bewußtseinswiedergabe, das fünfte enthält das Telefongespräch, das letzte die Ankunft der Tochter der Erzählerin.

101

zuhalten vermag (Cuarto, 118). Von nun an artikuliert sie ihre Gedanken in stärkerem Maße, zumal der Gesprächspartner unkonventionelle Antworten ausdrücklich zuläßt (Cuarto, 65; 69f ). Parallel zu der Art, wie in diesem Roman zwischen einer offiziellen und einer persönlichen Geschichtsauffassung unterschieden wird, zeichnet sich auch die Anlage des nächtlichen Gesprächs und damit sein formaler Aufbau durch eine 'offizielle' und eine 'inoffizielle' Version aus.28 In El cuarto de atrás wird das Phänomen nairativer Mittelbarkeit also nicht mehr primär dazu genutzt, das Wechselverhältnis zwischen Erleben und Erzählen darzustellen, wie es in den oben behandelten quasi-autobiographischen Texte geschehen ist. Die Erzählerin will ja gerade ein unmittelbares Hineinversetzen in die Vergangenheit erreichen und bedient sich daher einer mehrdimensionalen Ich-Perspektive, welche den gefestigten Standpunkt eines erzählenden Ich untergräbt. Eine in ähnlicher Weise mehrdimensionale Ich-Perspektive findet sich in den von Sofia Montalvo verfaßten »deberes« aus Nubosidad variable, in denen sie sowohl kurz zurückliegende Alltagserlebnisse als auch zeitlich weiter entfernte Erinnerungsfragmente niederschreibt. Ein Kapitel stellt wie in El cuarto de atrás die Parallelsetzung eines Gesprächs mit dem Bewußtseinsstrom der Erzählerin dar: »Sigo hablando por un lado y pensando por otro, como si viajara al mismo tiempo por dos vías paralelas, acrobacia que, por cierto, da mucho pie a la fantasía« (NV, 163). Doch erhalten in Nubosidad variable die Gedankenwiedergabe und das real stattfindende Gespräch eine nachträgliche literarische Umsetzung, deren Resultat eben diese »deberes« darstellen, die erst der Rezeption zugänglich sind. Sofia erlangt in ihren der Selbstfindung dienenden Schriften quasi den Status einer impliziten Autorin. Auf diese Weise schafft sie sich die Möglichkeit einer Dynamisierung der Ich-Perspektive, über welche sich schließlich eine Subjektkonstitution erzielen läßt. Anders als in El cuarto de atrás, wo der weibliche Erwachsenenalltag nicht thematisiert wird (weil er hinter der literarischen Professionalisierung der Erzählerin zurücktritt?), erfahrt Sofia diese Subjektkonstitution aus ihrem weiblichen Lebenszusammenhang heraus zunächst einmal äußerst problematisch: Por dos veces, dejando de revolver el cajón, me pregunté, sentada allí en medio de la alfombra: "¿Qué hago yo en este sitio? ¿Qué quiere decir 'yo'?" Y de verdad que todo me daba vueltas. Me empecé a asustar, porque la sensación de extrafleza se aceleró vertiginosamente, y me iba engordando por dentro del

28

Entsprechend vermerkt Rodríguez Martínez, daß es sich bei den im Bewußtsein abgehandelten Themen vorwiegend um Belange persönlicher Art wie Erinnerungen an Kindheit und Jugend handelt, während im Gespräch mit dem »hombre de negro« weniger intime Sachverhalte wie die Nachkriegsgeschichte oder Reflexionen über die literarische Tätigkeit der Erzählerin zur Sprache kommen. M a del Mar Rodríguez Martínez, El lenguaje del autodeseubrimiento en la narrativa de Mercé Rodoreda y Carmen Martin Gaite, Phil.Diss. University of Wisconsin, Madison 1988, 152.

102 cerebro como un tumor maligno que dañaba a la memoria, al entendimiento y a la voluntad. (NV, 113) So kann Sofia ihr Dasein als Hausfrau und Mutter nur in einer desorientierenden Unmittelbarkeit erinnern: La cocina era el pozo, y del fondo surgían como fantasmas movedizos tres rostros infantiles llamándome con voces de sirena, pidiéndome la merienda, tres siluetas confundidas en una que se entrelazaban y bailoteaban a mi alrededor [...], tirando por el aire cuadernos y cascaras de plátano. Mamá, mira Lorenzo lo que hace, ¿quién ha roto el tarro de mermelada? yo no he sido, oye, mírame el cuaderno, no le hagas caso, mamá, mírame, mira qué bien silbo, Daría cara de arpía, por favor, callaros, mira, Encarna se ha hecho sangre en un dedo, ven, mira-mira-mira. (NV, 41) Im Schreibvorgang ergibt sich die Gelegenheit, über diese problematische Ich-Setzung zu reflektieren. Sofia überwindet ihre Identitätsprobleme nicht zuletzt durch eine mit der literarischen Umsetzung ihrer Erfahrung möglich werdende Distanzierung, mittels der sie sich - ähnlich wie in El cuarto de atrás - in der Kindheit in der dritten Person inszeniert (113f.). Darüber hinaus gelingt es ihr über dieses Verfahren, sich in ihre Tochter bzw. ihre verstorbene Mutter hineinzuversetzen. El corazón había empezado a latirme más deprísa, igual que cuando estoy viendo una película y se avecina una escena de esas que permiten el desdoblamiento del espectador, que le brindan una identificación absoluta con el protagonista. No sólo sabía lo que iba a pasar, sino que lo estaba orquestando yo desde mi asiento, dependía de mí, yo era ella. [...] "Atrévete - me digo a mí misma - atrévete", y del desván de la memoria surge una combinación de siete cifras invulnerable a la destrucción. (NV, 38f„ H.d.V.) Me he estado paseando por el pasillo como si fuera ella, me he desdoblado en ella, acabo de acordarme, ¡es que era ella!, miraba esta casa y no la conocía, y luego... no sé, más cosas, muchas cosas. No me había pasado nunca eso con mamá, se salía de mí como si yo la pariera, de verdad, alucinante. Y pensaba con sus frases y revivían sus recuerdos. (NV, 381, H.d.V.)29 Auch hier liegt also ein »sujeto omnímodo« vor, wobei der Verweis auf die Heteronyme von Fernando Pessoa an einer Stelle über die Bedeutung dieser Dynamisierung für die Identitätskonstitution der schreibenden Figur Aufschluß gibt: 29 Vgl. 344-359, wo das Erlebnis der Identifikation mit der Mutter, das in obigem Zitat von der Erzählerin erläutert wird, kommentarlos in der ersten Person wiedergeben ist.

103 Es que tengo un alter ego que me manda escribir. Esquizofrenia, si quieres, pero controlada. Delegas en otro para que te cuente lo que te pasa, y ese otro, que también eres tú, lo mira todo desde fuera. Luego, cuando quieres recordar, se ha separado de ti y acaba existiendo. Fue lo que les pasó a Alvaro de Campos y Alberto Caeiro. (NV, 197) Im Verlauf des Romans gelingt es Sofia, sich von einer unsicheren, von den unkontrolliert eindringenden Einflüssen des Alltags und der »necesidad de justificarme ante otro de culpas que no recuerdo haber cometido« (NV, 12) bedrängten, verängstigten Ehefrau zu einer ihre Umgebung mit leiser Ironie beobachtenden und analysierenden Persönlichkeit zu entwickeln (NV, 78). Entsprechend tritt die erste Person im Eingangskapitel vor allem in Unsicherheitsäußerungen zutage (»según parece«, NV, 11; »creo«, NV, 12; »[d]ebe ser culpa mía«, NV, 15; »[a]l parecer«, NV, 16), um im Verlauf des Schreibvorgangs eine deutliche Modifikation zu erfahren: »Desde que me he puesto a escribir, mi vida ha dado un giro copemicano. Creí que me lo notaba yo sola por dentro, pero me debe salir a la cara« (NV, 71). Sofia reflektiert dabei bewußt über die Wahl der Erzählperspektive, die so eine konkrete Funktion im Prozeß ihrer in der Schrift vollzogenen Subjektkonstitution erhält. Tal vez si no me sintiera tan alterada, le confesaría a Soledad la razón por la cual era otra - y no sólo lo parecía - la mujer que vieron bajar de aquel tren que la traía a Brighton desde Londres. Pero es que este capítulo, si se metiera ahora, entraría en conflicto con los criterios cronológicos de Soledad. A ella le gusta más cosa por cosa. Aparte de que habría que ponerse a contarlo placenteramente y con mucho tiempo por delante. Y mejor escribirlo. Creo que resultaría bien en tercera persona. (NV, 174) Die Ich-Perspektive erfahrt in Nubosidad variable eine deutliche Dezentrierung; ihre Mehrdimensionalität manifestiert sich in einer im Leben der Protagonistin ausgesprochen bedeutenden Erinnerungsszene, in der sich die Autorin Sofia distanziert in der dritten Person inszeniert und zusätzlich mit einem »tú reflexivo« arbeitet: Es una foto fija como la que, al principio de algunas películas, congela la imagen de los actores, mientras aparece a la derecha su nombre de verdad junto al que les ha tocado en el reparto. La muchacha de rojo: Sofia Montalvo. Aún no sabemos lo que les va a pasar. Un cromo repetido que se cuela entre medias de mis sueños, que interrumpe también, cuando menos lo espero, algún quehacer, recado o argumento tedioso y me rapta en volandas de la sombra a la luz. Está usted en las nubes, señorita Montalvo. ¿En qué piensas, Sofía? Y yo ya en otro tiempo, en otro ámbito, dentro de la burbuja, sin entender por

104 dónde he vuelto a entrar en ella, con miedo a que el calor la haga estallar. Pero no, eso es postizo, miedo no. La chica de rojo no tenía miedo, y tú eres la chica de rojo. Estás parada en medio de la habitación desconocida, a unos quince pasos de la chimenea, y te has llevado el vaso de cartón a los labios. ¡Quieta! Concéntrate. La mirada no debe apartarse de los hombros del chico rubio, que aún no conoce tu existencia, igual que tú no sabes que de la curva de esos hombros es de donde brota la fuerza que te llama, ni sabes que has tomado un bebedizo, porque ¿quién desconfía de un vaso de cartón? Sonríes, has brindado por el fuego y te pesa el abrigo. Concéntrate en tu cuerpo, ya te puedes mover un poco, como si te miraras al espejo. ¡Acción! (NV, 245) Im Akt des Schreibens, der als solcher reflektiert und für die Identitätssuche funktionalisiert erscheint, finden die Erinnerungsbruchstücke ihre spezifische Anordnung: Por ejemplo, el fragmento que reflejaba la guarida de Encarna, Lorenzo y sus refugiados eventuales empezaba a quedar desenfocado, tapado por una nube. ¿Qué pasó antes de aquella mudanza? Y ya la luz arrancaba destellos de otro añico de espejo correspondiente a un estrato anterior de la historia. Tengo que atender a este flash back, lo tengo que pegar en el collage, aunque sea con saliva. La escena se desarrolla en un aeropuerto. (NV, 44f.) Diese Erinnerungsassoziationen materialisieren sich in einer Collage, mit deren Anfertigung Sofia zu Beginn des Kapitels »Se inician los ejercicios de collage« (HI) beschäftigt ist. Dort symbolisieren viele »añicos de espejo« aus Silberpapier unzählige Szenen aus ihrem Leben, die sie schreibend aufarbeitet. Die Erinnerung an Zurückliegendes vermischt sich mit Episoden aus dem Zeitraum, der dem Schreiben unmittelbar vorangegangen ist, und wird zusätzlich mit allgemeinen Reflexionen (»Viajamos con las nubes que se disgregan y oscurecen, cambiamos con ellas sin darnos cuenta, a tenor de su frágil dibujo condenado a la agonía antes de que nadie lo haya entendido.« NV, 112) und mit Kommentaren über den Schreibvorgang versetzt: »Queda [este tema, d.V.] pendiente para cuando cuente lo de Guillermo, si es que llego a contarlo, porque esta narración, o lo que sea, se está convirtiendo en un puro vericueto« (NV, 207). Die Schriften Sofias richten sich an ihre Jugendfreundin Mariana León, obgleich der überwiegende Teil von Sofias Texten nicht in der Briefform gehalten ist. Andernfalls würde Sofia gerade die Möglichkeiten, welche ihr durch die literarische Mittelbarkeit geöffnet werden, in weniger ausgeprägtem Maße nutzen können, denn Briefe stellen ja eine Form der unmittelbaren Wiedergabe dar. Mariana wird zuweilen in der zweiten Person angesprochen, meist jedoch bedarf es auch hier einer Distanzierung, da der Text nicht zuletzt eine Aufarbeitung der Umstände darstellt, durch welche sich die

105 beiden Freundinnen seinerzeit voneinander entfernt hatten. Die Auseinandersetzung mit diesem Thema ist Sofía wiederum nur aus der Distanz heraus möglich: Te aviso, eso sí, que voy a cambiar de estilo, ya que me has dado carta blanca para que elija libremente. El epistolar lo dejo en reserva, porque nunca se sabe si hará falta volver a echar mano de él para algún adorno, pero de momento no me sirve. (NV, 150) Esta carta, pues, ha dejado de serlo y pasará a engrosar mi cuaderno de deberes. Que todo en él - como verás algún día - va en plan de añicos de espejo. No hay mal que por bien no venga. La historia de Guillermo no puede quedar reflejada en versión única y de cuerpo entero, como una novela rosa perfectamente inteligible e inocua. Se merece otro tratamiento, que iré inventando, porque más que contarla lo que quiero es investigarla, proyectar la perplejidad que me producen sus fisuras, sus quiebros y sus trompe l'oeil. Usaré la técnica del collage y un cierto vaivén en la cronología. (NV, 152f.) Se inicia la pesquisa. Ahora apártate a escuchar, ¿te importa?, porque estoy hablando de ti con otra persona. (NV, 153) In all diesen Ausformungen erzählerischer Vermittlung bleibt Sofia Montalvo als schreibende Figur präsent, wenn sie auch bemüht ist, ihren Standpunkt über die Wahl der Erzählperspektive zu relativieren. So hat der Umgang mit der Schrift für sie eine ausdrücklich existentielle Motivation; ähnlich wie für Carmen aus El cuarto de atrás bildet das Schreiben auch für sie einen Modus der Identitätskonstitution. Der Unterschied zwischen den mehrdimensionalen Ich-Perspektiven in den beiden Texten besteht jedoch darin, daß Nubosidad variable die Revision eines eindimensionalen Subjektverständnisses als einen mit dem traditionell-weiblichen Lebensalltag zusammenhängenden und konfliktiv erfahrenen Prozeß darstellt, während das 'multiple Ich' in El cuarto de atrás mit gleichsam spielerischer Selbstverständlichkeit eingesetzt wird. 5.2.5. Eingreifen und Zurückweichen der Erzählinstanz in Er/Sie-Texten In der dritten Person gehaltene Erzählformen, die im Gegensatz zu den bisher besprochenen Texten nicht über eine in der Ich-Form in Erscheinung tretende Erzählerpersönlichkeit verfugen, vermitteln die Handlung über eine stärker oder schwächer ausgeprägte Erzählstimme, deren Wissensstand von demjenigen der an der Handlung beteiligten Figuren mehr oder weniger differiert. Die erzählerische Mittelbarkeit charakterisiert sich in solchen Texten durch die Quantität an Innensichtdarstellungen, die wiederum außenperspektivisch (Erzählerkommentar) oder innenperspektivisch (z.B. erlebte Rede, Bewußtseinsstrom) angelegt sein können. Stanzel faßt diesen Sach-

106 verhalt in die Opposition "Modus' (Erzähler-Reflektor).30 Wie alle Erzähltexte zeichnen sich auch Texte, deren Erzählinstanz nicht in die Handlung involviert ist, durch das Verhältnis von Erzählbericht und szenischer Darstellung aus, wobei gerade letztere das Erzählwerk von Martin Gaite in ganz besonderem Maße prägt. Erzähltexte mit verhältnismäßig viel direkten Redebeiträgen wie zum Beispiel Entre visillos, »La conciencia tranquila«31 oder »La tata«,32 die allesamt mit direkter Rede (bzw. der Transkription des Tagebuchs), also unter Umgehung erzählerischer Mittelbarkeit einsetzen, schränken die Beeinflussung des Lesers durch eine Erzählinstanz natürlich deutlich ein. Doch verzichtet Martin Gaite keineswegs zugunsten eines direkten Zugangs zum Denken und Fühlen ihrer Figuren auf die Möglichkeiten narrativer Vermittlung. Vielmehr nutzt sie gerade die Dialektik zwischen der deutlichen, außenperspektivischen Intervention der Erzählinstanz und ihrer verhalteneren Einflußnahme in personalisierten Passagen zur Bedeutungskonstitution ihrer Texte. Viele Erzählungen Martin Gaites zeichnen sich einerseits durch die Existenz einer klar vernehmbaren Erzählerstimme, die sich durch Beschreibungen, Kommentare, Erläuterungen, zeitweise sogar durch Analyse an den impliziten Leser wendet, andererseits jedoch durch die Verlagerung der Perspektive in das Bewußtsein der Protagonist(inn)en aus, so daß diese zu Reflektorfiguren werden. Ein illustratives Beispiel ist »La chica de abajo«, wo erzählerisch vermittelte, beschreibende Passagen (CC, 285) und erläuternde Kommentare (CC, 277, 278) mit Wahrnehmungen aus der Perspektive der Protagonistin kombiniert werden.33 So erscheint etwa die Schlußpassage dieser Kurzgeschichte in starker Personalisierung: Arreciaba un glorioso y encarnizado campaneo, inundando la calle, los tejados, metiéndose por todas las ventanas. Más, más. Se iba a llenar todo, se iba a colmar la plaza. Más, más - tin-tan, tin-tan -, que sonaran todas las campanas, que no se callaran nunca, que se destruyeran los muros, que se vinieran abajo los tabiques y los techos y la gente tuviera que escapar montada en barquitos de papel, que sólo se salvaran los que pueden meter sus riquezas en un saquito pequeño, que no quedara en pie cosa con cosa. Sonaban las campanas, sonaban hasta enloquecer: "Tin-tan, tin-tan, tintan....". (CC, 292f.)

30 Vgl. Stanze! 1985, 76, 84f„ 190ff. 31 Carmen Martín Gaite, »La conciencia tranquila« (1956), in: CC, 309-324 (Erstveröffentlichung 1958 in Destino, dann erschienen in Las ataduras, Barcelona 1960). 32 Carmen Martin Gaite, »La tata« (1958), in: CC, 253-263 (Erstveröffentlichung in Las ataduras, Barcelona 1960). 33 Carmen Martin Gaite, »La chica de abajo« (1953), in: CC, 274-293 (Erstveröffentlichung in der ersten Ausgabe von El balneario, Madrid 1954).

107 Auch »Los informes« ist stark perspektiviert;34 Carmen Martin Gaite flicht in dieser Erzählung unvermittelte Gedankenwiedergabe in den Erzählbericht ein. Dieser Rekurs nimmt die Leser/innen für die Protagonistin ein, welche auf eine unberechtigte Demütigung mit der Einforderung persönlicher Würde reagiert: Concha no entiende nada, pero a su flaqueza de hace unos instantes ha sucedido una energía desesperada y rabiosa. No se puede ir sin que le expliquen lo que sea. Este no es el trato que hay derecho a darle a una persona. Se queda de pie, sin moverse, en el centro de la habitación. (CC, 306)35 In »Los informes« wird die Personalisierung zudem durch die im Spanischen mögliche weibliche Form des unpersönlichen Subjekts »una« erkennbar, die in diesem Text zweimal erscheint (CC, 295).36 Martin Gaite erreicht mit solchen innenperspektivischen Innenweltdarstellungen eine eindeutige Sympathiesteuerung zugunsten ihrer sozial unterprivilegierten Protagonistinnen.37 Die Erzählhaltung wird häufig gänzlich personal, auf jeden Fall nähert sich die Erzählstimme immer der Figurensprache und dem Erfahrungshorizont der Protagonist(inn)en und ist daher von der traditionellen Arroganz extradiegetischer Erzähler weit entfernt. Die Innensichtdarstellung wird zuweilen auch in Nebenfiguren verlagert, welche die Hauptperson wertend beobachten, was der Darstellung zusätzliche Ausgewogenheit im Sinne einer »pluralidad de puntos de vista« verleiht (»La chica de abajo«, »Los informes«, »La conciencia tranquila«).38 Auch in »La trastienda de los ojos« gibt die Verwendung von Erzähler- und Reflektormodus Aufschluß über die Einstellung der Erzählinstanz gegenüber dem Protagonisten. Brown bezeichnet diesen als psychotisch, was jedoch im Zusammenhang mit dem Gesamtwerk der Autorin, in dem das in diesem Text behandelte Motiv der »espacios interiores« stark rekurriert, und vor allem im Vergleich mit der Wertung von 34

Carmen Martín Gaite, »Los informes« (1954), in: CC, 294-308 (Erstveröffentlichung in der ersten Ausgabe von El balneario, Madrid 1954).

35 Hausangestellte als Vertreterinnen einer sozial unterprivilegierten Gruppe werden im übrigen im Werk Martin Gaites durchgehend mit besonderer Aufmerksamkeit und Anteilnahme literarisch dargestellt. Vgl. u.a. die Erzählungen »La tata«, »La chica de abajo«, »Los informes«, die Figur der Juana in Retahilas, der Luisa in Fragmentos de interior sowie der Consuelo in Nubosidad variable. Ciplijauskaité beobachtet diese Vorliebe ftir Dienstpersonal auch bei anderen Autorinnen und wertet sie als ein Unterlaufen der bestehenden Hierarchien (207). 36 Die Verwendung des unpersönlichen Subjekts in der weiblichen Form wird in Nubosidad variable ausschließlich von der Haushälterin und im Zusammenhang mit frauenspezifischen Themen verwendet. Sie bedeutet im traditionellen Wertesystem noch heute alles andere als einen Schritt zur gleichberechtigten Bewertung weiblicher Lebenserfahrung, denn »una« steht in Kontexten der Hausarbeit oder auch weiblicher Sexualität, während für traditionell 'männliche' Bereiche wie etwa schriftstellerische Arbeit oder Allgemeingültigkeit beanspruchende Kommentare auch von der Erzählerin Sofia in Nubosidad variable die männliche Form verwendet wird. Vgl. NV, 71, 121, 126 im Gegensatz zu 11, 77. 37

Vgl. Stanze! 1985, 173f.

38

Vgl. Jiménez, 46: »Además, con esta pluralidad de puntos de vista, el lector puede tomar un papel activo, al tener la oportunidad de unir las piezas y de aportar su opinión.«

108 Ritmo lento m.E. problematisch ist.39 Für eine zumindest solidarische, wenn nicht affirmative Haltung der Erzählinstanz spricht die Tatsache, daß die Erzählperspektive in weiten Zügen personalisiert erscheint (CC, 248, 251), wenn der Leser auch einige außenperspektivische Hintergrundinformation erhält (CC, 249). Die Erfahrungen des Protagonisten werden durch dieses Eingreifen der narrativen Instanz keineswegs pauschal abqualifiziert, sondern an einer Stelle durch einen im Präsens und mit unpersönlichem Subjekt gehaltenen Kommentar an den impliziten Leser sogar noch unterstützt (CC, 252), so daß ihnen durch die erzählerische Vermittlung also durchaus eine Aufwertung zukommt. So erfährt der Kontrast von Außen- und Innensicht in »La trastienda de los ojos« eine klare Funktionalisierung für die Darstellung der Weltkonzeption des Protagonisten, seiner Sensibilisierung für die Entfremdungserscheinungen in der modernen Gesellschaft. In ähnlicher Weise bezieht auch »Tendrá que volver« seinen Bedeutungsgehalt aus der Gegenüberstellung der innenperspektivisch vermittelten Gedanken des kindlichen Protagonisten und der mit auktorialen Kommentaren versehenen Unterhaltung seiner Mutter mit einer Freundin.40 Die Innenwelt des positiv dargestellten Kindes wird so durch die Außenperspektive, welche die Erzählstimme für die Darstellung der durch banale Gesprächsbeiträge hervortretenden Frauen wählt, im Kontrast aufgewertet. »Tendrá que volver« endet - ähnlich »La chica de abajo« - in konsequenter unvermittelter Perspektivierung: Le zumban los oídos. Ya se escucha el galope de la fiebre: ¡qué calor otra vez! Vuelve el caballo blanco, desmelenado, vertiginosamente; se acerca, ya está aquí. ¡Hip! Se ha montado de un salto a la carrera, desde muy arriba, cuando pasaba justo por debajo. ¡Qué gusto! Ya lo tiene entre las piernas. Lo arrea con un látigo; hoy se van a estrellar. Aprisa. Adiós, adiós. Ahora ya no se ve nada, sólo rombos, fragmentos en lo rojo. "Adiós, Andrés, adiós. No vengas, que no estoy; me marcho de viaje. Ya vendrás cuando puedas; otro día." El aire le tapona los oídos. Hoy se van a estrellar. (CC, 273) Mit einer so ausgeprägt personalisierten Erzählweise scheinen die in der dritten Person gehaltenen Kapitel von Entre visillos auf den ersten Blick nichts gemein zu haben. Sie geben vielmehr den Anschein einer unbeteiligten, aus der Perspektive einer »objetiva cámara registradora«41 berichtenden Erzählhaltung mit deutlicher Dominanz der direkten Rede, wie sie im Spanien der fünfziger Jahre im Zuge des »realismo social« 39

Vgl. Brown 1987, 53.

40

Carmen Martín Gaite, »Tendrá que volver« (1958), in: CC, 264-273 (Erstveröffentlichung 1958 in Destino, dann erschienen in Las ataduras, Barcelona 1960).

41

Gonzalo Sobejano, Novela española de nuestro tiempo. En busca del pueblo perdido, Madrid 1975,495.

109 und vor allem auch als Reaktion auf den drohenden Rotstift der Zensoren vorherrschend war.42 Doch relativiert diesen Eindruck nicht nur die Verwendung der IchPerspektiven in einem beträchtlichen Teil der Kapitel, die um noch größerer Ausgewogenheit und 'Objektivität' willen vielleicht noch erklärbar wäre, zumal beide IchErzähler äußerst nüchtern berichten, sondern auch das Vorhandensein einer Vielzahl personaler Medien. Es sind dies ausnahmslos Frauen, so daß die Erzählstimme auch in diesem Roman ihre Sympathien deutlich verteilt und den Lesenden nahelegt, es ihr gleichzutun. Die Ich-Erzählerin Natalia bleibt über den gesamten Text hinweg das privilegierte personale Medium, es findet sich jedoch auch eindeutige Innenperspektive bei Goyita (EV, TRES) und Josefina (EV, 237), ausgeprägte Innensicht in Form von Traumvorstellung und Kindheitserinnerung bei Elvira (EV, 123f., 128) sowie erlebte Rede bei Julia: Julia buscó las gafas dentro del bolso. Lo del embalse era aburrido. Igual que otras veces: obreros trabajando y vagonetas, una máquina muy grande, los ministros en un puente. Luego cambiaba y salía el mar, unas regatas. Anda, si era Santander. ¿Sería del verano? ¿Estaría Miguel por allí? Piquío. ¡Qué maravilla si le viera! Buscaba con desazón el hueco más propicio entre las cabezas de los de delante. - ¿Qué te pasa? ¿No ves bien? - Sí, si que veo. Por allí, por Piquío la fue a buscar hace tres años, el primer día de citarse solos. Se fueron muy lejos, Dios sabe hasta dónde. A ningún chico le habría podido tolerar las cosas que él le dijo aquella mañana, que fue más larga y más corta que ninguna, y eso antes de ser novios todavía. ¡Dios, qué verano había sido, nunca habría otro igual! (EV, 117) Die Personalisierung tritt also durchweg bei Frauenfiguren auf, die unter den repressiven Weiblichkeitsvorstellungen des Franquismus zu leiden haben und dies auch teilweise bewußt wahrnehmen. Die Einschätzung, daß Entre visillos ein typisches Beispiel der zur Zeit seines Erscheinens vorherrschenden literarischen Technik des Behaviourismus sei, ist in der Forschung inzwischen weitgehend revidiert worden, wenn sich auch (relativ wenig) Passagen finden lassen, die diese Interpretation stützen. Doch sind es nicht sie, die dem Roman seine Bedeutung verleihen.43 Zu den teils 42 Es sind dies UNO, TRES, CINCO, SIETE, NUEVE, DIEZ, DOCE, CATORCE, DIECISIETE, also genau die Hälfte der Kapitel des Romans. 43

Vgl. etwa Calvi, 45: »Sarebbe forse più corretto dire che il narratore di Entre visillos tende a sfumarsi in una molteplicità di punti di vista; di volta in volta, ritrae la realtà attraverso gli occhi di questo o quel personaggio, alla cui intimità può comunque accedere.« Vgl. ferner zur personalisierten Erzahlperspektive in "behaviouristi sehen' Romanen Ursula Schmidt, Kritik am Bürgertum als Selbstreflexion. Untersuchungen zum Romanwerk Juan Garcia Hortelanos unter Berücksichtigung persönlichkeitstheoretischer Fragestellungen, Frankfurt/Main 1984, 135, Anm. 31.

110 personalen Innensichtdarstellungen gesellt sich eine Erzählinstanz, die zwar zurückhaltend bleibt, mitunter jedoch außerordentlich pointiert, sogar ironisch kommentiert. So etwa in der folgenden Szene, die sich durch eindeutige Parteinahme auszeichnet, wenn dort Soziabilität mit einem instrumentalisierten (Gesellschafts-)Spiel gleichgesetzt wird: Empezaron con el tema de las criadas y poco a poco se fueron acercando las de todos los grupos, como si trajeran leña a una hoguera común, como si todo lo anterior hubiera sido preámbulo. Cada cual decía, lo primero, el nombre de su propia criada, metiéndolo en una frase banal todavía, pero ya se regodeaban de antemano, igual que si empezaran a repartir las cartas para jugar a un juego excitante en el que siempre se va a ganar. La voz se les volvía altiva y sentenciosa. Las criadas se lavaban con sus jabones, se ponían sus combinaciones de seda natural. Las criadas... (EV, 245)44 So ergibt sich die erzähltechnische Besonderheit in Entre visillos gerade aus der Kombination von spontan wirkender, gleichsam unredigiert wiedergegebener szenischer Darstellung mit verschiedenen Verfahren narrativer Vermittlung, welche in ihrer Gesamtheit den Schwierigkeiten einer Identitätssuche vor allem weiblicher Figuren unter den im Roman spezifizierten Bedingungen einer repressiven Weiblichkeitsideologie Ausdruck verleihen. Fragmentos de interior arbeitet mit ähnlichen erzählperspektivischen Mitteln, wenn auch die Intervention der Erzählstimme hier zunimmt, wobei sich wiederum unterschiedliche Grade der innen- und außenperspektivischen Vermittlung ausmachen lassen. Wie in Entre visillos gibt es auch in Fragmentos de interior viele personale Medien, so daß auch in diesem Text die Verlagerung in verschiedene Bewußtseinszentren strukturgebend ist. Und wie im ersten Roman der Autorin findet sich auch in ihrem vierten eine privilegierte Reflektorfigur, nämlich die der jungen Luisa. Diese kommt aus Villalba nach Madrid und trifft dort als Dienstmädchen auf die Familie Alvar, deren Mitglieder sie nacheinander kennenlernt. So wird auch in Fragmentos de interior wie in El cuarto de atrás oder einer Vielzahl von Erzählungen Innen- und Außenwelt durch die Kombination von szenischer Darstellung und Bewußtseinswiedergabe kontrastiert. Doch obwohl erlebte Rede zur plastischen Darstellung {Fragmentos, 145) und ausführliche unmittelbare Bewußtseinsdarstellung zur Sympathiesteuerung {Fragmentos, 117ff.) ausgiebig eingesetzt werden, gibt es auch eine deutlich vernehmbare Erzählinstanz: Los transeúntes, a media tarde, circulan más despacio por la ciudad, han salido sin designio ni rumbo precisos, a buscarse algún estímulo, a hacer tiempo, 44

Vgl. RL, 219, wo der Ich-Erzähler in ähnlicher Weise die stereotyp ablaufenden Telefongespräche seiner Schwester referiert.

111 a tomar otro café, a mirar a las chicas que a su vez se miran en los escaparates, a comprar la prensa y demorarse un poco, después de pagarla, en la contemplación de tantos rostros y cuerpos de mujeres retratadas a todo color en la primera plana de las revistas, avasalladoras, procaces, irreales, idénticas. Apenas en una leve variación de criterio para ladear la cabeza, para subir un poco más la rodilla, para acentuar la inerte voluptuosidad de la sonrisa podrían diferenciarse realmente las unas de las otras porque el atavío no significa nada, es tan sólo el azar quien ha dispuesto que la rubia del flequillo eligiera la blusa a cuadros desabrochada y la morena de pelo afrocubano el blanco peplo griego o los gruesos collares sobre el pecho desnudo, otro día saldrán en la misma baraja los adornos dispuestos al revés, piernas, abalorios, rizos, atuendos y sonrisas se despliegan ante los ojos del transeúnte vespertino en indiferenciada amalgama, le saltan a la cara, avivan unos instantes su corazón aletargado en llamarada fugaz, despertándole inconexas sensaciones de ternura, de languidez, de deseo, recuerdos de baratas tragedias amorosas, de ensueños de adolescencia que va dejando atrás al caminar como si se desangrara, retazos de un mosaico que más tarde no podrá recomponer como tampoco será capaz de diferenciar ningún rostro aislado de ese racimo de efigies que le vuelven a asediar desde el quiosco de la esquina siguiente en ofrenda falaz de aventura, placer y variación, diosas profanas sonriendo desde su olimpo de papel, imponiendo modelos y actitudes a las mujeres de carne y hueso que han salido a la calle a mirarse indecisas y azoradas en la luna de los escaparates. (Fragmentos, 177f.) Eine ausgeprägtere auktoriale Intervention als die in diesem Textabschnitt zum Zweck einer Kritik der verdinglichenden gesellschaftlichen Festschreibung von Weiblichkeit eingesetzte ist wohl kaum mehr vorstellbar. Sie gibt der Gesellschaftskritik gerade dadurch besonderes Gewicht, daß diese nicht auf die individuelle Meinung einer der fiktiven Figuren reduziert erscheint. In ähnlich expliziter Form äußert sich die Erzählstimme auch in einigen mit dem Frauendasein befaßten Erzählungen. »Tarde de tedio« analysiert die Situation der dargestellten Hauptfigur und arbeitet ihre psychische Verfassung sprachlich aus, nicht ohne die Gedanken der - im übrigen mit der anonymen Betitelung »la mujer« bezeichneten - Protagonistin zu integrieren.45 »Variaciones sobre un tema« bedient sich der Erzählinstanz, um die Bewußtwerdung der - hier mit ihrem vollständigen Namen in Erscheinung tretenden - Protagonistin gleichsam anzuleiten. Wendungen wie »vino a comprender Andrea poco a poco« (CC, 13), »[p]ues de la misma manera« (CC, 17) »por fin estaba claro« (CC, 18) verdeutlichen die Prozeß45

Carmen Maitin Gaite, »Tarde de tedio« (1970), in: CC, 149-158 (Erstveröffentlichung in der ersten Ausgabe von La búsqueda de interlocutor y otras búsquedas, Madrid 1973, dann erschienen in der dritten Ausgabe von El balneario. Barcelona 1977).

112 hañigkeit dieser Identitätssuche. »Retirada« schließlich ist eine stark erzählerisch vermittelte Entmythologisierung der falangistischen Hymne »Cara al sol«, wobei die in dem Liedtext zum Ausdruck kommende nationale Glorifizierung mit der Alltäglichkeit des Hausfrauenlebens konfrontiert und damit diskreditiert wird.46 Die auktoriale Erzählstimme wahrt in diesen Texten eine - gleichwohl Anteil nehmende - Distanz zu ihren Figuren, als wolle sie erklären, was die Frauen selbst nur unbestimmt als »malestar indefinible« wahrnehmen, aber nicht auszudrücken vermögen.47 In »La oficina« widmet sich eine ausgeprägte Erzählinstanz der Darstellung des von zwischenmenschlicher Isolation geprägten Alltagslebens. Unter solcher Vereinsamung leiden in diesem Text, der den Berufsalltag und damit keinen spezifisch weiblichen Erfahrungsbereich thematisiert, sowohl die männliche als auch die weibliche Hauptfigur. Beide Protagonisten werden hier mit Vor- und Zunamen angesprochen - ein Verfahren der Distanzierung, das sich im zweiten Teil von »El balneario« wiederholt. Sowohl »El balneario« als auch »La oficina« nutzen diese erzähltechnische Distanzierung als Ausdruck einer insgesamt durchaus geschlechterübergreifend erfahrenen, das Individuum bedrängenden Atmosphäre existentieller Entfremdung und zwischenmenschlicher Kälte, welche eben die in den Titeln benannten Orte sozialen Zusammentreffens charakterisiert.48 Erzählerische Vermittlung erweist sich also in den Texten Martin Gaites als ein Rekurs der literarischen Ausarbeitung, der trotz aller Personalisierung seit ihren literarischen Anfängen immer wieder aufgegriffen wird. Dies fuhrt so weit, daß sich zuweilen sogar in frühen Texten in der dritten Person eine periphere Ich-Erzählstimme ohne Leiblichkeit mit beiläufig-lapidaren Äußerungen einschleicht: »- ¡[Y]a lo creo! -« (»El balneario«, CC, 239); »[a] ella ya lo creo que le gustaba« (RL, 284); »aun suponiendo, digo - y ya era suponer« (»Variaciones sobre un tema«, CC, 11); »no sé qué ligaduras« (»La trastienda de los ojos«, CC, 252). Diese Einwürfe in der ersten Person Singular sind sicherlich minimal, im Hinblick auf das Mitteilungsbedürfnis einer Erzählinstanz im Werk Carmen Martin Gaites aber dennoch mit Sicherheit - und zwar von Beginn ihres literarischen Schaffens an - symptomatisch.49 46 Carmen Martin Gaite, »Retirada« (1974), in: CC, 159-164 (Erstveröffentlichung in der dritten Ausgabe von El balneario, Barcelona 1977). 47 Vgl. zum »malestar indefinible« weiblicher Existenz den Prolog zu den Cuentos completos, 9, den Verweis auf das »mal indefinible« in NV, 324 sowie im historischen Zusammenhang Martin Gaite 1987, Desde..., 30ff. 48 Dieses Verfahren der Distanzierung über die Anrede der Figuren mit Vor- und Zunamen findet sich ebenso in den Epilogen von Ritmo lento und Nubosidad variable, allerdings hier durch die strukturelle Anlage der Romantexte bestimmt: In Ritmo lento handelt es sich um die Kontrastierung eines negativ dargestellten (in der eigentlichen Romanhandlung nicht erwähnten) Bankdirektors mit dem persönlichen Schicksal des Protagonisten, dessen Zeuge der Leser zuvor geworden ist; Nubosidad variable bedarf der Distanzierung, um die zwischenmenschliche Begegnung der beiden Protagonistinnen als gelungene Kommunikationssituation erscheinen zu lassen. 49 Retahilas ist in diesem Zusammenhang ein Sonderfall; der Roman weist eine Rahmenhandlung in der dritten Person auf, die stark auktorial geprägt ist, und zwar vor allem im »Preludio«. Es wurde mehrfach festgestellt, daß sich die Autorin hier des realistisch-naturalistischen Erzählmusters des 19. Jahrhunderts bedient. Der Schlüssel

113 Einige jüngere literarische Arbeiten Maitin Gaites folgen denn auch dem traditionellen narrativen Konzept des Märchens: meist lineare Erzählung in der dritten Person, starke Orientierung der allwissenden Erzählstimme am impliziten Leser. El castillo de las tres murallas ist in dieser Hinsicht sicherlich der Märchenform am nächsten (»[h]abía una vez, hace mucho tiempo«, Castillo, 11), wenn auch die Perspektivierung, die den Schwerpunkt einmal auf die Dorfbewohner (z.B. 21ff.), dann wieder auf die Hauptfiguren lenkt (z.B. 41 f f ) , der Geschichte ein gewisses Maß an Komplexität verleiht. Doch vor allem geben ihr die Kommentare im Präsens (»como lo que más nos hace creer en las cosas es que tengan nombre«, »porque siempre se distingue todo más claro desde lo alto, y especialmente cosas que se mueven«, Castillo, 27, 28) eine über die fiktive Handlung hinausreichende Ebene, welche die kommunikative Wirkung des Textes erhöht. El pastel del diablo ist ebenfalls durchgängig in der dritten Person gehalten, und die Eingangssequenz stellt - wie Jiménez treffend beobachtet - die Anlehnung an die Märchenform auch durch die thematische Verbindung zum Domröschenstoff her.50 Die Handlung orientiert sich hier stärker als im vorherigen Märchentext an der kleinen Protagonistin Sorpresa, wenn auch die Perspektive ihres Freundes Pizco nicht fehlt. Die Anlage des Textes folgt Sorpresa im zentralen Teil (Kap. 4-8), welcher - obwohl in der dritten Person erzählt - ein imaginäres Erlebnis der Protagonistin darstellt, das diese ihrem Freund berichtet. Dies verleiht dem »pacto narrativo« in diesem Text besondere Komplexität: Sorpresa und Pizco verkörpern als Sender und Empfanger eine erste Kommunikationsstufe, die durch den Rezeptionsvorgang eines impliziten Autor-Leser-Verhältnisses ergänzt wird: »Y con estos consuelos del marido, Remigia (que así se llamaba la madre de Sorpresa) se durmió. Pero él en cambio ya no podía conciliar el sueño, que es lo que nos pasa muchas veces cuando ahuyentamos la preocupación de otro, pagando el precio de que nos la contagie« (Pastel, 87f.). Die Situation des Geschichtenerzählens fungiert als eine Art Rahmenhandlung, die einmal mehr Imagination und Realität kontrastiert.51 Caperucita en Manhattan schließlich ist sicher ungleich vielschichtiger als Perraults Märchenvorlage, doch liegt auch hier eine traditionelle - wenn auch von der Zeitstruktur her relativ komplexe (s.u., 5.3., 128) - Erzählhaltung vor.52 Auch dieser Text ist hierzu findet sich wiederum im Text selbst: »Un resplandor rojizo daba cierto tinte irreal, de cuadro decimonónico. a aquel paraje« (R, 15). Der Unmittelbarkeit der Redebeiträge des Hauptteils wird auf diese Weise die starke Mittelbarkeit der Rahmenhandlung diametral entgegengesetzt. Doch erlangt die Erzählperspektive hier nicht als solche, sondern in ihrer Funktion als Indikator einer bestimmten Erzähltradition ihre Bedeutung und kann von daher im vorliegenden Zusammenhang vernachlässigt werden; s.u., 5.4., I57ff. 50

Vgl. Jiménez, 133.

51

Vgl. hierzu die Überlegungen von Jiménez, 50, 131ff.

52 Martin Gaite hat übrigens eine Auswahl von Perraults Märchen einschließlich einer Einfuhrung von Bruno Bettelheim Uber die Bedeutung von Märchen für den kindlichen Erfahrungshorizont ins Spanische übersetzt. Bruno Beitelheim presenta los cuentos de Perrault, übers, von Carmen Martin Gaite, Barcelona 1980.

114 stark auf den impliziten Rezipienten ausgerichtet, wenn die Erzählstimme auf schon Berichtetes Bezug nimmt (»Miss Lunatic había vuelto a tararear el viejo himno alsaciano que inició a la salida de la comisaría.« Caperucita, 127), direkte Redeäußerungen der Figuren erklärend kommentiert (»Tarta de fresa. Es su especialidad, ¿verdad, mujercita? Puede competir con las de El Dulce Lobo. [...] El Dulce Lobo era la pastelería más famosa de todo Manhattan.« Caperucita, 76f.), allgemeine Kommentare einfugt (»porque ya se sabe que los ricos sólo piensan en aumentar su riqueza, sacándole más rendimiento al dinero que ganan« Caperucita, 99) oder zu Beginn eine geographische Einführung gibt: »Se trata de una isla en forma de jamón con un pastel de espinacas en el centro que se llama Central Park« (Caperucita, 13). Die Erzählinstanz paßt sich in ihrer Ausdrucksform eindeutig einem kindlichen Erfahrungshorizont an, was auch die fortwährenden Übersetzungen englischer Ausdrücke ins Spanische erklärt (»La librería de viejo de Aurelio Roncali se llamaba Books Kingdom, o sea El Reino de los Libros.« Caperucita, 25). So verdeutlicht die Situierung der Erzählhandlung im Ausland, wie die Art und Weise der Inhaltsübermittlung auf den Rezeptionskontext abgestimmt ist, so daß auch hier die Betonung des Kommunikationsvorgangs an sich ein wichtiges Element der erzählperspektivischen Vermittlung darstellt. 5.2.6. Zusammenfassung Im Werk von Carmen Martin Gaite findet sich ein breites Spektrum erzählerischer Vermittlung, das immer zur Bedeutungskonstitution funktionalisiert wird und in Nubosidad variable sogar mit seinen Möglichkeiten zur Hilfestellung bei der Subjektkonstitution in die metaliterarische Romanhandlung integriert ist. Seit ihren schriftstellerischen Anfangen nutzt die Autorin die Ausgestaltung der Erzählsituation für die Konfrontation von Innen- und Außenwelt durch die Kombination von szenischer Darstellung mit Innenperspektiven. Der Zugang zur Innenwelt der Figuren erfolgt häufig über Verfahren der Personalisierung, so daß sich die Erzählinstanz des Reflektormodus bedient und an solchen Stellen zugunsten der direkten Innenweltdarstellung der Figuren gleichsam zur Auflösung kommt. Die Personalisierung ist häufig auf mehrere Romanfiguren verteilt, so daß eine multiple Perspektive entsteht, die den Lesenden einen möglichst differenzierten Eindruck vermitteln soll. Carmen Martin Gaite erreicht diesen Effekt nicht nur durch die vielen Reflektorfiguren, sondern auch durch die Kombination verschiedener Erzählperspektiven. Ein solches Vorgehen kommt dem Bedürfiiis entgegen, die Figuren zueinander in Beziehung zu setzen und durch die so erwirkte Vielfalt ein möglichst vorurteilsfreies Bild zu entwerfen, Verbindungen literarisch darzustellen, aber auch dem Leser Raum für eigene

115 Entscheidungen, »lugar a dudas« einzuräumen.53 Darüber hinaus kann so die Relativität menschlichen Seins, die Unmöglichkeit der Erstellung eines Gesamtbildes vermittelt werden. Dies äußert sich schon in der Kombination der Erzählperspektiven in Entre visillos und der Reflektormedien in Fragmentos de interior, wobei die Fragmentierung der Welterfahrung im letztgenannten Roman zudem inhaltlich thematisiert wird (Fragmentos, 9, 83, 86, 117, passim). In Nubosidad variable avanciert dieser Themenkomplex schließlich zum Leitmotiv der literarischen Ausarbeitung; zum einen bezieht er sich hier auf die konkrete literarische Kreativität und zollt Tribut an Natalia Ginzburg, die für das Motto des Romans verantwortlich zeichnet: Cuando he escrito novelas, siempre he tenido la sensación de encontrarme en las manos con añicos de espejo, y sin embargo conservaba la esperanza de acabar por recomponer el espejo entero. No lo logré nunca, y a medida que he seguido escribiendo, más se ha ido alejando la esperanza. Esta vez, ya desde el principio no esperaba nada. El espejo estaba roto y sabía que pegar los fragmentos era imposible. Que nunca iba a alcanzar el don de tener ante mí un espejo entero. (NV, o.S.) Zum anderen appliziert Sofia Montalvo dieses Motiv nicht nur auf ihren eigenen, collageartigen Schreibstil im besonderen (»Me prometo a mí misma seguir escribiendo, lo cual significa, como siempre, empezar a escribir por otro lado.« NV, 177), sondern auch auf ihren Lebenszusammenhang im allgemeinen, so daß literarische Ausarbeitung und weibliche Lebenserfahrung zur Deckung kommen.54 Und schon El cuarto de atrás verweist auf die Fragmentierung der Wahrnehmung mit dem Bild des »rompecabezas« {Cuarto, 167), das sich auf die Unmöglichkeit eindeutig festlegbarer Identität bezieht. El cuento de nunca acabar schließlich illustriert diese Zusammenhänge mit Hilfe der gleichermaßen auf die Erzähl- und die Lebenspraxis bezogenen »versiones simultáneas«: Novela de distintas aportaciones. Testigos sucesivos trayendo su versión para desbaratar la verdad - y para iluminarla, al mismo tiempo - con mentiras parciales. Es como cuando yo iba de pequeña a la Escuela de Bellas Artes de San Eloy y nos ponían a varios alumnos a dibujar el mismo pájaro, era una especie de gaviota despeluchada, con las patas sobre un soporte de madera. A mí me molestaba que viniera aquel don José a rectificar el resultado de mi visión a golpes expertos de carboncillo. Mi pájaro era distinto del de Mundi y del de María Eulalia, porque lo miraba desde otro sitio, desde la derecha de la estufa: era el mío. (Lo mismo que pasó aquella tarde en casa de Natacha, hablando de 53

»Lugar a dudas« ist der Titel des dreizehnten Kapitels des zweiten Teils von Et cuento de nunca acabar, 191193.

54

Vgl. zum Bild der »añicos de espejo« NV. 29, 33, 44f. (s.o., 104), 77, 152f„ 305.

116 B. y de las distintas circunstancias en que cada uno de nosotros lo había conocido: se aclaró entre todos el personaje.) Brazadas de material que no concuerdan al principio. Narración simultánea. (Cuento, 313)55 Wo so großer Wert auf den Ausdruck der Relativität der Wahrnehmung gelegt wird, dort kann auch die auktoriale Erzählstimme, die in einigen Texten der Autorin ja sehr deutlich zu vernehmen ist, nicht der Konstruktion eines allgemeingültigen, ungebrochenen und festlegbaren Weltmodells dienen, wie sie die auktoriale Erzählform in den Romanen traditioneller Prägung motiviert hatte. Entsprechend sind die vermittelnden Instanzen bei Martin Gaite nie arrogant und selten ironisch, vielmehr zeichnen sie sich durch eine eher teilnehmende, erklärende Haltung aus, welche durch die Annäherung von Erzähl- und Figurensprache formal unterstützt wird. Die Dominanz der Erzählstimme erklärt sich primär aus dem Bedürfiiis, Literatur im Sinne einer »búsqueda de interlocutor« als Kommunikationsvorgang zu betrachten; »se escribe y siempre se ha escrito desde una experimentada incomunicación y al encuentro de un oyente utópico«.56 Sowohl die unmittelbare Darstellung des Kommunikationsprozesses in konkreten, auf der Handlungsebene inszenierten Sprechakten oder Schriften als auch die Mittelbarkeit der neueren phantastischen Texte ist daher auf den gleichen Grundgedanken zurückzuführen, auf die Betonung der Wichtigkeit des zwischenmenschlichen Austauschs, wobei freilich zunächst ein »desdoblamiento«, eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst vorausgegangen sein muß. Y con esto de convertir el sufrimiento en palabra no me estoy refiriendo a encontrar un interlocutor para esa palabra, aunque eso sea, por supuesto, lo que se persigue a la postre, sino a la etapa previa de razonar a solas, de decir: "¡ya está bien!", encender un candil y ponerse a ordenar tanta sinrazón, a reflexionar sobre ella, reflexión tiene la misma raíz que reflejar, o sea que consiste en lograr ver el propio sufrimiento como reflejado enfrente, fuera de uno, separarse a mirarlo y entonces es cuando se cae en la cuenta de que el sufrimiento y la persona no forman un todo indisoluble, de que se es víctima de algo exterior al propio ser y posiblemente modifícable, capaz de elaboración o cuando menos de contemplación, y en ese punto de desdoblamiento empieza la alquimia, la fuente del discurrir, ahí tiene lugar la aurora de la palabra que apunta y clarea ya un poco aunque todavía no tengas a quien decírsela, y luego ya sí, cuando se ha logrado que madure y alumbre y caliente - que a veces pasan afios hasta ese mediodía - entonces lo ideal es que aparezca en carne y 55

Weitere Textbelege zur Relativität von Identität finden sich z.B. in Cuento, 213ff; in den journalistischen Arbeiten »Los malos espejos«, in: Martin Gaite 1982, La búsqueda..., 11-20 (Erstveröffentlichung in Triunfo, Juli 1972) und »Personalidad y libertad« (s.o., Anm. 6); RL, 130, 150; »Ya ni me acuerdo«, CC, 79.

56

Carmen Martin Gaite, »La búsqueda de interlocutor«, ebd., 21-34, 28 (Erstveröffentlichung in Revista de Occidente, September 1966).

117 hueso el receptor real de esa palabra, pero antes te has tenido que contar las cosas a ti mismo, contárselas a otro es un segundo estadio, el más agradable, ya lo sé, pero nunca se da sin mediar el primero, o bueno, puede darse, pero mal. (R, 188) Der Kommunikationsvorgang erscheint zuweilen innerhalb der literarischen Texte angelegt, während er in anderen Fällen - gleichsam in der Ansprache an den impliziten Leser - auf eine über die eigentliche Handlungsebene hinausragende Ebene des »pacto narrativo« ausgeweitet wird. Überdies läßt das Werk Martin Gaites das starke Bedürfiiis erkennen, Ideen nicht nur durch das Verhalten der Figuren zu exemplifizieren, sondern sie auch direkt zu übermitteln: Hierzu verwendet die Autorin klar diskursive Erzählformen, eine ausführlich reflektierende Ich-Perspektive sowie die kommentierende Anteilnahme einer Erzählstimme. Daß in diesen Fällen die Vorstellungen der realen Person Carmen Martin Gaite mit den in ihren Texten diskursiv übermittelten Inhalten in engem Zusammenhang stehen, bezeugt nicht nur die Wahl der Essayform in El cuento de nunca acabar, sondern auch der stark autobiographisch geprägte Roman El cuarto de atrás. Die Er/Sie-Texte unterscheiden sich überdies nicht grundsätzlich von denjenigen, die eine Ich-Perspektive aufweisen; alle zeichnen sich durch eine sehr ähnliche Kombinierung von szenischer Darstellung und Bewußtseinswiedergabe aus. Wenn die erzählenden Instanzen jedoch als Charaktere in die Handlung integriert sind, ist die IchPerspektive in den frühen Texten meist männlichen Erzählern vorbehalten, während die Autorin für Frauenfiguren die durch eine Erzählinstanz vermittelnde Darstellungsweise wählt. Hieraus läßt sich eine gewisse Problematisierung in bezug auf ihre Einschätzung der Möglichkeit weiblicher Selbstbestimmung ersehen, zumal die wenigen Texte mit weiblicher Ich-Perspektive den Figuren die Fähigkeit zur analytischwertenden Darstellung nicht zugestehen; dies wird durch das diesen Erzählerinnen häufig fehlende Selbstvertrauen bestätigt. Die Verwendung der dritten Person in den zentralen Kapiteln von El pastel del diablo, welche von der Protagonistin Erlebtes aus ihrer Perspektive berichten, das daher eigentlich in der ersten Person gehalten sein müßte, zeugt davon, daß die Inszenierung in der dritten Person andererseits auch eine Hilfestellung bei der weiblichen Identitätskonstitution bieten kann, was in Nubosidad variable dann auch explizit thematisiert wird. Erst in El cuarto de atrás und Nubosidad variable erfolgt durch erzählperspektivische Mehrdimensionalität eine komplexe weibliche Ich-Setzung. Die hier genutzten Möglichkeiten der Ich-Erzählform verdeutlichen eine Identitätskonstitution, die sich durch die Auflösung eines eindimensionalen Subjektverständnisses ergibt. Über die Analyse der erzählperspektivischen Anlage der Texte Martin Gaites läßt sich also

118

verfolgen, wie zunächst der Autor Martin Gaite über die Wahl einer gleichsam durch die schriftstellerische Professionalisierung bedingten 'asexuellen' Erzählstimme für weibliche Figuren oder expliziter männlicher Ich-Perspektiven in Erscheinung tritt und für Protagonistinnen, die sich in der ersten Person äußern, vornehmlich unmittelbare Erzählweisen einsetzt. Im Laufe der Zeit ergibt sich jedoch ein Abrücken von der Adaption des patriarchalischen Negierens eines weiblichen Subjektstatus, das schließlich in El cuarto de atrás und Nubosidad variable die Komplexität weiblicher Subjektkonstitution zur Darstellung kommen läßt.57 Die Wahl der Erzählperspektive - und die metaliterarischen Kommentare in Nubosidad variable beweisen dies - wird eindeutig auf die weibliche Lebenspraxis appliziert. Dennoch bleibt sie auch dort, wo auf die Instanz des 'männlichen Autors' nicht mehr zurückgegriffen wird,58 ein eminent literarisches Verfahren, das mit der für das weibliche Schreiben häufig als charakteristisch bezeichneten unreflektierten autobiographischen Erfahrungsliteratur nichts gemein hat. Aus der erzählperspektivischen Anlage des Werkes erschließt sich eine Sensibilisierung für die gesellschaftliche Situation der Frau, wenn die Autorin auch erst im Laufe der Jahre von patriarchalischen Vorgaben abzugehen imstande ist, dann aber mit explizit literarischem Engagement über die Problematik weiblicher Subjektkonstitution zu reflektieren vermag.

57 Daher widmen sich auch die auktorialen neueren Texte nicht mehr Fraueniiguren, sondern vornehmlich kindlichen Protagonistinnen! 58 Vgl. Weigel 1989,12 (s.o., 2.1., 22).

119

5.3. Erzählstrukturen Wenn im folgenden von 'Erzählstrukturen' die Rede ist, dann bezieht sich das im engen Sinn des Wortes auf den Gesamtaufbau der Texte, welcher sich durch die Ausdehnung der Texte in der Zeit und die Reihung oder Konfrontation von Erzählsegmenten ergibt, wobei letztere sowohl in handlungsrelevanten Aspekten als auch in der Kombination von Erzählperspektiven begründet liegen kann. So schließt dieses Kapitel an das vorhergehende an; ebenfalls wird auf die Analyse der Raum- und Zeitperzeption zurückzukommen sein, und zwar dann, wenn sich die in der Mikrostruktur ausgemachten Bedeutungsaspekte auch auf die makrostrukturelle Anlage der Erzähltexte Martin Gaites auswirken. Primär interessieren im vorliegenden Zusammenhang jedoch gerade diejenigen Bedeutungen, welche über die Makrostruktur der Erzähltexte komplementär zu den bisher erarbeiteten oder auch sie modifizierend ermittelt werden können. Zuerst ist die zeitliche Ausdehnung der Texte zu betrachten, denn sie macht die strukturelle Besonderheit erzählender Prosa aus; im Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit manifestiert sich narrative Breite.1 Moderne Romane tendieren zur Reduktion des äußeren zeitlichen Rahmens auf eine kurze Zeitspanne, um gleichzeitig in Bewußtseins- und Erinnerungsinhalten viele Jahre zu umfassen und die erlebten Ereignisse in ihrem simultanen Zusammenwirken darzustellen. Erzählzeit und erzählte Zeit stehen dann in einem Spannungsverhältnis: Der meßbare zeitliche Rahmen deckt sich einerseits mit der Erzählzeit, kann aber andererseits im Bewußtseinsinhalt auf äußerst weitgespannte Zeiträume ausgedehnt werden. Die Wiedergabe des Romangehalts in Form von Bewußtseinsdarstellungen erzeugt darüber hinaus chronologische Brüche, was die Kombination verschiedener zeitlicher Ebenen erlaubt, so daß ein Eindruck ästhetischer Simultaneität entstehen kann.2 Martin Gaite hat die Zeit einmal als den wahren Protagonisten eines jeden guten Romans bezeichnet: »El tiempo es, en el fondo, el único tema que da cuerpo a cualquier narración. Todas las buenas novelas tienen al tiempo por protagonista principal, y si no, piénsenlo.«3 Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Art des Verlaufs des »tiempo narrativo« und weniger auf der stringenten Anlage einer zur Auflösung kommenden Handlung. »El tiempo tiene que fluir siempre dentro del relato, tiene que dejar su herida, zarandear a las gentes que se mueven dentro de él, irlas transformando. [...] Las personas tienen un antes y un después, y eso es lo que hay que saber marcar en la 1

Vgl. Eberhard Lämmert, Bauformen des Erzählens, Stuttgart 1955, 32.

2

Vgl. zum Aspekt der Simultaneität Schramke, 13 lff.

3

Martin Gaite. zit. nach: Fernando Tola de Habich / Patricia Grieve, Los españoles y el "boom", Caracas 1971, 215-221, 219.

120 historia. Son su proceso, el de la historia misma que viven. No son, van siendo« (iCuento, 320). Dieses Insistieren auf Prozeßhaftigkeit wendet sich von der traditionellen Vorstellung ab, das Romanschaffen zur Erstellung eines in sich geschlossenen, Verbindlichkeit der Werte beanspruchenden und final ausgerichteten - Weltmodells zu funktionalisieren. Gerade die handlungsarmen Bewußtseinsdarstellungen moderner Romane erwuchsen ja aus einer Gegenreaktion; Welterfahrung wurde nun in ihrer Relativität vermittelt, es sollte der Gesamteindruck einer Fragmentierung der von offensichtlichen Sinnzusammenhängen nicht mehr gestützten Wahrnehmung zur Darstellung kommen. So sieht z.B. Eco in handlungsarmen und damit strukturell 'offenen' Romanen die Tatsache reflektiert, »daß die Welt ein Geflecht von Möglichkeiten ist und daß das Kunstwerk diesen Charakter der Welt wiedergeben soll«.4 Es versteht sich von selbst, daß diese Einschätzung keine a-priori-Qualifizierung jeglicher Erzähltexte mit reduziertem Handlungsgerüst sein kann; im folgenden wird sich zeigen, daß die strukturelle Anlage der Texte gerade im Werk Martin Gaites häufig Bedeutungsakzente setzt, die mit dem Konzept einer vorbehaltlos 'offenen' Welterfahrung schwer in Einklang zu bringen sind. 5.3.1. Handlung und Zeit Die Struktur der Erzähltexte Martin Gaites folgt häufig der eingangs erwähnten Methode der Reduktion des äußeren Handlungsrahmens auf einen sehr kurzen Zeitraum, so daß sich die Autorin auf diese Weise für das Vorherrschen der Bewußtseins- und Erinnerungsthematik in ihrem Werk entscheidet. Bei den aus wenigen Seiten bestehenden Kurzgeschichten könnte dies weniger ein Aspekt der Bedeutungskonstitution als ein aus den Bedingungen der Kurzform heraus erwachsener Rekurs sein. Doch auch in den Romanen Martin Gaites wird diese selbstauferlegte Einschränkung zum vorherrschenden Struktur- und Bedeutungsmerkmal und damit zu einer generellen Eigenart ihrer literarischen Realitätsperzeption. Immer steht dieses Verfahren in engem Bezug zu einem von der Autorin bevorzugten Themenkreis: Die strukturelle Anlage ihrer Texte symbolisiert die Suche nach Selbstverwirklichung in der von vergangenen Erfahrungen geprägten Gegenwart und den Rückzug in die Erinnerung oder auch in die freie Imagination. Erzählungen wie »Un dia de libertad« oder »Lo que queda enterrado«, die schon in den Titeln auf Freiräume von der Routine bzw. im Alltag verborgene Wünsche und Sehnsüchte anspielen, schaffen im zeitlichen Rahmen von nur einem Tag komplexe 4

Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt/Main 1977, 201 (vgl. 88; orig. Opera aperta, 1962). Natürlich handelt es sich hierbei um die Ausgestaltung der literarischen Form als Reaktion auf gesellschaftliche Realität und nicht um die grundsätzliche Offenheit der Interpretation eines literarischen Zeichens, die sich durch seinen denotativen und konnotativen Bedeutungsgehalt ergibt. Vgl. Eco, 57, wo er drei Intensitätsebenen von Offenheit etabliert, auch 66-89, wo er die Unterschiede zwischen 'eindeutigen und mehrdeutigen Botschaften' analysiert.

121 Bilder der psychischen Verfassung ihrer Protagonisten und schließen Erinnerungen und Träume ein. Im strukturellen Aufbau der Kurzromane wird dieses Vorgehen beibehalten: Das geträumte Abenteuer der »señorita Matilde« aus »El balneario« beschränkt sich auf den zeitlichen Rahmen einer Siesta. Im zweiten, realistischen Teil von »El balneario« wird Matilde von der Wirklichkeit eingeholt. »Se ha roto el eslabón« (CC, 245): Sie verschließt ihr Hotelzimmer, das zum Symbol des Ausbruchs wurde, und behält sich so die Möglichkeit vor, ihre im Traum vollzogene Distanzierung von Routine und Langeweile zu wiederholen.5 También a este balneario pueden llegar un día unos dedos desconocidos e invisibles que lo transformen, que lo vacíen de su contenido habitual. Son como ráfagas que pasan una vez, como mensajes indescifrables, como oscuras y fugaces amenazas - o promesas tal vez -. [...] Aunque no duren más que el tiempo de una siesta. (CC, 245)6 Die strukturelle Anlage der Ausbruchsphantasie in »El balneario« ist vergleichbar mit der Einbettung der Erinnerungspassage in das Geschehen von Martin Gaites zweitem Kurzroman »Las ataduras«. Hier reflektiert Alina ihre gesamte Lebensgeschichte während eines Morgens, den sie am Seineufer verbringt. Die Seine wird mit dem Miño, dem die Kindheit Alinas in Galicien prägenden Fluß in Beziehung gesetzt und stellt auf diese Weise das verbindende Glied, die »atadura« zwischen Vergangenheit und Gegenwart dar. Auch »Ya ni me acuerdo« ist nach dem Prinzip der Konfrontation von Erinnerung und Gegenwart in reduziertem zeitlichen Rahmen, hier an einem einzigen Nachmittag, konstruiert. Bei Ritmo lento ist die Dauer der Erzählzeit zwischen dem Empfang zweier Briefe angesiedelt (RL, 26, 263): den ersten erhält der Ich-Erzähler von seiner ehemaligen Verlobten, den zweiten von seinem Vater. Den ersten analysiert er nüchtern und teilnahmslos, der zweite versetzt ihn in höchste psychische Anspannung, die in eine Vorausdeutung des in der Rahmenhandlung dokumentierten tragischen Endes einmündet (RL, 280). Der zeitüche Rahmen erscheint in diesem Roman weniger stark komprimiert und nicht genau festgelegt, was sich nicht zuletzt aus der Darstellung der Entwicklung der psychischen Verfassung des Protagonisten ergibt. Dieser befindet sich seit Dezember in einem Sanatorium, wo er - einige Zeit später - seine Erinnerungen formuliert. Der Tod des Vaters ereignet sich im Frühjahr, so daß die Zeitspanne 5

Vgl. Gonzalo Sobejano, »Enlaces y desenlaces en las novelas de Carmen Martin Gaite«, in: Servodidio/Welles, 209-223, 211: »Cierra la puerta con llave no por miedo a ladrones, ni porque nunca haya de volver a ese cuarto, sino como quien cierra un sagrario para que nadie lo profane o la recámara de la intimidad (de la subconsciencia) para que nadie la viole.«

6

Vgl. zur Struktur von »El balneario« auch Joan L. Brown, »"El balneario" by Carmen Martin Gaite: Conceptual aesthetics and "l'étrange pur"«, in: Journal of Spanish Studies: Twenlieth Century, 6, 1978/79, 163-174. Brown zeigt hier, wie der Leser erst im Verlauf des Textes der Traumhaftigkeit des Erlebten gewahr wird, so daß Leben und Traum strukturell verknüpft werden.

122 des Erinnerungsvorgangs als sehr reduziert bezeichnet werden kann und der erzählten Zeit der gesamten Kindheit und Jugend des Protagonisten (geb. 1925, RL, 177), die bis vor die Bürgerkriegszeit zurückreicht, gegenübersteht. Ritmo lento ist außerdem derjenige Roman Martin Gaites, in dem die achronologische Anlage am stärksten hervortritt. Der Erzähler orientiert seinen Bericht nicht an zeitlichen Koordinaten, sondern an für seine Entwicklung signifikanten Personen und sieht im Lauf seines Berichts von Zeitangaben fast völlig ab.7 Spätere Texte wie Retahilas oder El cuarto de atrás betonen durch die deutlicheren Verweise auf den Verlauf einer Nacht das Moment zeitlicher Sukzession, wenn auch die Bewußtseinsdarstellung in jedem Fall achronologisch bleibt. Diese Achronologie ist nicht nur »uno de los rasgos estructurales más característicos de la novela actual«,8 sondern hat auch, wie bereits in Kapitel 5.1. ersichtlich wurde, im Hinblick auf die Qualität der Zeiterfahrung entscheidenden Einfluß auf die Gesamtbedeutung der Texte. In Verbindung mit der Analyse der Raum- und Zeitdimensionen wurde auch schon die achronologische Aufarbeitung der Vergangenheit in »Variaciones sobre un tema« erläutert (s.o., S. 65f.). Die gesamte Bewußtseinsthematik ist hier innerhalb eines Augenblicks der Unaufmerksamkeit der Protagonistin während ihrer Arbeit angelegt; daher beschränkt sich der zeitliche Rahmen der Erzählung auf einige Minuten, die in der reflexiven Anlage des Textes gedehnt und mit Erinnerungs- und Bewußtseinsmaterial so stark angefüllt werden, daß ästhetische Simultaneität bewirkt wird. Die Protagonistin Andrea bietet damit ein Beispiel des »habitar el tiempo«, das in der Zeitstruktur der Erzählung seine formale Entsprechung findet. Literatur und die musikalische Komposition nähern sich - der Titel »Variaciones sobre un tema« deutet darauf hin - einander an, das Prinzip der Simultaneität wird für die literarische Kreation nutzbar gemacht.9 Ahnliches geschieht in Retahilas, wo der musikalische Vergleich nicht nur in der Benennung des Prologs mit »Preludio« ersichtlich wird: »Lo que Proust llamaba forma del tiempo es la forma de la novela, y así ha de ser. [...] Así, en Retahilas: el tiempo es el tema y es la sustancia; el rollo se desenrolla, como en la pianola, suena la música y el continuo repercute en el oído del lector como el continuo musical en Vivaldi, fuerza unificadora del inacabable presente.«10

7

Einige Beispiele fui diesen Prozeß der fortschreitenden Verinnerlichung: 27f.: »Esta tarde se me ha armado un remolino de recuerdos y de pensamientos, y para que no me hagan sufrir, trato de fijarlos uno por uno«; 36: »No logro ordenar los recuerdos«; 79: »Vuelvo a confundir el tiempo«; 124: »Ya he caído en hablar de mis cosas y no me puedo parar«; 263: »Esta tarde se me cruza continuamente su imagen«; 273: »No me puedo controlar esta tarde«. Anspielungen auf die äußere Zeit ñnden sich erst wieder auf den Seiten 264 und 273.

8

Mariano Baquero Goyanes, Estructuras de la novela actual, Madrid 1989, 137.

9

Auch Baquero Goyanes sieht den Zusammenhang der musikalischen Form des Themas mit Variationen mit dem Aspekt literarischer Simultaneität. Vgl. ebd., 95.

10 Ricardo Gullón, »Retahila sobre Retahilas«, in: ServodidioAVelles, 73-91, 76.

123 Martin Gaite erreicht in Retahilas zudem durch die Artikulation der Bewußtseinsinhalte in den Redebeiträgen der beiden Protagonisten die wohl größtmögliche Übereinstimmung von Erzählzeit und erzählter Zeit, wogegen man bei anderen Texten wie etwa »Variaciones sobre un tema« - oder auch El cuarto de atrás in seiner Kombination von szenischer Darstellung und Bewußtseinswiedergabe - schon von zeitlicher Überdehnung sprechen müßte, denn der gedankliche Ablauf von Bewußtseinsinhalten erfolgt sicherlich schneller als das Lesen eines literarischen Textes, welcher diesen Mechanismus nachzuahmen bemüht ist. Gleiches ließe sich für die literarische Wiedergabe eines Traumes sagen: Auch in »El balneario« liegt also diese zeitliche Überdehnung und damit große narrative Breite vor.11 Retahilas integriert durch die orale Wiedergabe von Bewußtseinsinhalten einerseits den Aspekt der Spontaneität (der erste Redebeitrag beginnt z.B. völlig unvermittelt nach drei Auslassungspunkten), weist aber andererseits sehr wohl einen gewissen Grad der Elaborierung auf, der zurückdeutet auf die Ausfuhrungen der Protagonistin über den zwischenmenschlichen Austausch als einen zweiten Schritt der Identitätskonstitution, (s.o., 5.2., 116f.). So wird dem Text ein höheres Maß an Lesbarkeit verliehen, als dies die Darstellung unkontrolliert einfließender, völlig unkoordinierter Bewußtseinsinhalte vermögen würde. Die jeweils fünf alternierenden Monologe von Eulalia und Germán (zuzüglich eines sehr kurzen, zum Epilog überleitenden Beitrags »E.Seis«) erinnern an sorgfaltig strukturierte Briefe; »the completeness of each discourse, and the strictly altemating flow of the conversation, are more reminiscent of an exchange of composed letters than of an extemporaneous verbal interchange«.12 Über die Erzähldauer einer Nacht werden Geschichten und Geschichte verarbeitet, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Den Hauptteil des Romans bildet eine sukzessive, auf jegliche Art der Raffung gänzlich verzichtende Bestandsaufnahme, so daß die Erzählweise hier auch die Struktur determiniert. Diese Gestaltungstechnik rückt Retahilas in die Nähe des Dramas A palo seco, das zehn Jahre später die Vorliebe Martin Gaites für das gesprochene Wort als Mittel zur Selbstfindung erneut dokumentiert: »¡Donde esté la voz que se quiten los papeles!« {Palo, 42). Nubosidad variable greift demgegenüber wieder auf die - wenn auch vor allem in den Briefen Marianas vermeintlich unredigierte (NV, 28) - Schrift zurück. Die Briefe bzw. aufsatzartigen Kapitel Marianas und Sofías alternieren zwar genau wie die Redebeiträge in Retahilas, doch erlaubt gerade die Schriftlichkeit in diesem Roman eine komplexere literarische Verarbeitung der Zeitstruktur. Die erzählte Zeit umfaßt einen

11 Zum Motiv des Traumes bei Martin Gaite vgl. Julian Palley, »Dreams in two novels by Carmen Martin Gaite«, in: Servodidio/Welles, 107-116. 12 Brown 1987, 113. Vgl. zur Briefform Lämmert, 238f.: »Die Möglichkeit, Persönlichstes dem Gegenüber zu sagen und von ihm zu empfangen, macht den Reiz dieser Form aus und erhellt ihren Gesprächscharakter, während die Tagebuch-Form gleichermaßen eine Ableitung des Selbstgespräches oder der Rede an die Welt ist [...].«

124 Zeitraum von ca. drei Wochen, wobei sich durch die Konfrontation der Erzählsegmente zeitliche Verschiebungen ergeben. So liegt etwa Sofias Antwort auf den ersten und einzigen Brief, den sie von Mariana erhalten hat und der das neunte Kapitel des Romans umfaßt, etwa zeitgleich mit dem vierten Kapitel, also dem zweiten Brief Marianas, deren in Kapitel VI und VIII wiedergegebene Briefe schon zu einem fortgeschritteneren Zeitpunkt verfaßt wurden. Dieses Unterlaufen der zeitlichen Sukzession wird von Mariana zudem explizit thematisiert: Este viaje interrumpe, además, la posibilidad de recuperar una cierta sincronía entre lo que tú me vayas contando y lo que te cuento yo, porque cuando recibas esta carta, sabe Dios el sesgo que habrán tomado tus deberes, caso de que hayas tenido ganas de seguirlos. Se me ha olvidado decirle al portero que me mande el correo a Puerto Real. (NV, 57) Beide Frauen verfassen ihre Texte zeitlich und räumlich unabhängig voneinander, und genau dies ist im Rahmen ihrer Identitätssuche auch inhaltlich intendiert; »la única alternativa que nos cabe a estas alturas es la de perdernos cada una por su lado, sin andar soñando con que vamos a juntar nuestros respectivos perdederos, por mucha noticia que nos demos de ellos« (NV, 56f.). Erst als Sofia in Kapitel XV in ihrem »ajuste de cuentas con el tiempo« (NV, 298) einen Hinweis auf die Begegnung mit Mariana und den Austausch der Schriften gibt, leitet die Anlage des Textes mit steigender Intensität zum Zusammentreffen der Freundinnen hin. Obgleich sich dieses Wiedersehen also erst gegen Ende des Romans konkretisiert, wird die grundsätzliche Möglichkeit einer späteren Rezeption von Beginn an betont, denn hieraus ergibt sich die Notwendigkeit der räumlichen und zeitlichen Situierung und des detaillierten Erzählens (NV, 21, 234f.).13 Ahnlich wie in Retahilas bildet auch hier der dem Aneinanderreihen von Wörtern inhärente Zwang zur Sukzessivität in der Schrift die einzige Auflage für die Wiedergabe individueller Realitätsperzeption: ¡Qué raro es el tiempo de la escritura! Ese sí que manda y se impone como dueño absoluto. Sobre todo cuando ya dábamos por cancelados sus efluvios y vuelve a irrumpir tras una larga ausencia, dispuesto a arrebatarnos en su borrachera y poner patas arriba toda apariencia de simultaneidad, vendaval tiránico que nos alza en volandas y nos zarandea para llevarnos donde se le antoja. (NV, 278) Nubosidad variable lebt von der Kombination zweier Bewußtseinswiedergaben; doch werden Sofia und Mariana in gleichem Maße durch die Ereignisse beeinflußt, die innerhalb des dreiwöchigen Zeitraums stattfinden, in dem die Romanhandlung situiert 13 Die alternierenden Beiträge verklammern sich zudem durch Detailentsprechungen, wenn Mariana und Sofia unabhängig voneinander auf gemeinsame Sprachgewohnheiten ihrer Jugend zurückgreifen, zum Beispiel auf den Begriff des »relato a perdigonadas« (NV, 42, 56) oder des »copiomanuense« (NV, 232, 266).

125 ist. Diese finden Eingang in ihr Schreiben, werden dort mit Erinnerungspassagen kombiniert und motivieren letztlich die Entscheidung zu dem Zusammentreffen, das die Romanhandlung beschließt, so daß die Kombination von Außen- und Innenwelt in diesem Fall innerhalb der Romanhandlung vollzogen wird und die Figuren den reinen Rückzug in die »vivencias de irrealidad« (NV, 298) der Bewußtseinsdarstellung überwinden. Entre visillos und Fragmentos de inferior weiten demgegenüber nicht nur den zeitlichen Rahmen, sondern berichten auch über eine Vielzahl von Figuren, die mittels wenn auch eher schwach ausgeprägter - Handlungsstrukturen in Aktion und zueinander in Beziehung treten. In beiden Romanen wird die Konfrontation verschiedener Perspektiven zum zentralen Strukturelement. Die Handlungen vollziehen sich innerhalb einiger Monate bzw. eines Wochenendes und werden äußerlich durch die Dauer des Aufenthalts von Pablo bzw. Luisa zusammengehalten, denen der Leser in weiten Teilen der Romane folgt. Diese Perspektive ist es, die vor allem im Fall von Pablo Klein die Existenz der Figur im Romangeschehen begründet: Als Fremder hat er die Möglichkeit, von außen zu beobachten und Details zu registrieren, die ein in die Umgebung integrierter Betrachter übersehen würde. Wichtiger als der Aufbau und die Auflösung von Handlung erscheint denn auch sowohl in Entre visillos als auch in Fragmentos de interior die Reihung manchmal sogar simultaner Szenen, die einen bestimmten Schauplatz, eine bestimmte Person oder einen Problembereich fokussieren. Die Romane bestehen aus mehreren nebengeordneten Handlungssträngen, die meist zwischenmenschliche Probleme zum Ausdruck bringen, wenn auch den Geschichten Pablos bzw. Luisas gleichsam als strukturellen Fäden besonderes Gewicht zukommt. Entre visillos ist in zwei Teile zu elf bzw. sieben Kapiteln gegliedert, die durchlaufend numeriert sind. Der erste Teil umfaßt die Zeit ab Mitte September bis zu Beginn des Schuljahres, der zweite die folgenden Monate bis zu den Weihnachtsferien, wobei der erste Teil trotz der in ihm behandelten kürzeren Zeitspanne mehr Raum einnimmt. Dort gibt es ausgeprägte zeitliche Parallelverläufe, so daß sich der Effekt eines Querschnitts durch das Kleinstadtleben ergibt (die Kapitel TRES und CUATRO umfassen die gleiche Zeitspanne, in NUEVE und DIEZ kommt es zu zeitlicher Überschneidung). In DOS/TRES/CUATRO werden drei aufeinanderfolgende Tage ausfuhrlich wiedergegeben, die die Figuren im konkreten Lebenszusammenhang vorstellen, exponieren statt analysieren.14 Beide Teile sind als Abfolge von Szenen aufgebaut,

14 Vgl. zur Bedeutung solcher Tagereihen Lämmert, 76: »Die Tage bzw. Tagereihen, die eine Erzählung vergegenwärtigt, sind deshalb von besonderem Belang, weil in ihnen allein die Personen in konkreten Lebenssituationen vorgeführt werden können«.

126 die von einer »objetiva cámara registradora«15 übermittelt werden, »[s]e cultiva la "escena" en desmedro del desarrollo«.16 Im zweiten Teil werden die beiden IchErzähler konfrontiert, so daß aufgrund des Berichts gleicher Ereignisse durch beide Beteiligte die unterschiedliche Bedeutung ausgemacht werden kann, die die entsprechenden Geschehnisse für Pablo bzw. Natalia erlangen. Die 'Außenseiterperspektive' der beiden Figuren wurde im übrigen schon im ersten Teil des Romans durch die Parallelsetzung ihrer jeweiligen Erfahrungen im »Casino« hergeleitet (CINCO und OCHO). Insgesamt weist die Struktur des gesamten Romans auf seinen »documentary style«17 zurück, der kleine, alltägliche Krisensituationen vor allem aus den vielen Gesprächen heraus zur Darstellung bringt, die das Geschehen völlig distanzlos dokumentieren. Durch abrupte, gleichsam kinematographische Schnitte wird von der einen zur anderen Szenerie mittels »juxtaposition«,18 der willkürlichen Anordnung von Handlungsfragmenten, hinübergewechselt, so daß eine tranche de vie des provinziellen Alltags entsteht. Fragmentos de interior ist in seiner strukturellen Anlage dem Roman von 1958 sehr ähnlich. Verschiedene Bewußtseinszentren vermitteln wieder den Eindruck eines Querschnitts, der zudem in diesem Roman durch penibel dokumentierte zeitliche Überschneidungen gewährleistet ist.19 So umfassen Kapitel 1-5 einen Samstagabend aus der Perspektive Glorias, Diegos, Luisas, Jaimes und Agustinas, Kapitel 5-10 den Sonntag vorwiegend aus der Sicht Luisas, die sich in der neuen Umgebung zurechtfinden muß, Kapitel 11-15 den Montag, der stärker handlungsbeladen ist, und das letzte Kapitel schließlich den Morgen des Dienstag mit Luisas Abreise und der anschließenden Rückkehr nach Madrid. Fragmentos de interior reduziert sich im Gegensatz zu Entre visillos auf die Wiedergabe einer Tagereihe; doch erwirken auch hier die wechselnden Bewußtseinszentren, das Fehlen eines »integrating point of view«,20 den Eindruck einer zerrissenen Welterfahrung, die zudem inhaltlich über großzügig eingefugte Andeutungen über die Unübersichtlichkeit der Dinge unterstrichen wird.21 Diese Art der Realitätsperzeption wird wiederum schon innerhalb des Textes auf die schriftstellerische Tätigkeit bezogen, wenn etwa Diego über verschiedene Anfange seines geplanten Romans nicht hinauskommt: »Volvió a leerlo, le gustaba, como otros [folios, d.V.] que había ido seleccionando, pero se trataba de fragmentos aislados y lo 15 Sobejano 1975,494. 16 Matamoro, 590. 17 Brown 1987, 67. 18 Vgl. zu »juxtaposition« Sharon Spencer, Space, time and structure in the modern novel, New York 1971, 155159. 19 Das einzige Kapitel ohne genaue Zeitangaben ist das vierte, in dem bezeichnenderweise vornehmlich von der in einer Traumwelt lebenden Agustina die Rede ist. 20 Linda Chown, »Fragmentos de interior: Pieces and patterns«, in: Hispanófila, 91, 1987, 1-12, 7. 21

Vgl. z.B. Fragmentos, 9, 10, 20Í, 57f„ 75, 86, 117, 141, 180, 197, sowie Chown, 5.

127 difícil estaba en la vertebración de unos con otros, en la estructura« (Fragmentos, 135). Luisa weiß genausowenig, wie sie ihre Geschichte beginnen soll, als ihr einmal die Gelegenheit gegeben wird, sie zu erzählen (Fragmentos, 130); dementsprechend setzt die Struktur des Romans zu gleicher Zeit an unterschiedlichen Punkten an und erreicht damit einen Effekt der Komplexität, der gleichzeitig die Verwirrung und Desorientierung der in dieses komplexe Gefuge integrierten Figuren nicht auslöschen kann.22 Durch solche Rückgriffe und Parallelinszenierungen, wie sie in Fragmentos de interior und Entre visillos aufzufinden sind, wird es ermöglicht, die chronologische Ordnung zu unterlaufen und die Zeit zu verräumlichen. In einigen Erzählungen hat Martin Gaite die Kombination von Szenen zur Kontrastierung verschiedener Lebensweisen ebenfalls bereits verwendet, so etwa bei der szenisch aufgebauten Konfrontation von Gegenwart und Erinnerung in »Las ataduras« oder »Ya ni me acuerdo«, bei der Kombination von Schauplätzen und Lebensbereichen in »La conciencia tranquila«, einer Erzählung, die einen Arzt aus Madrid in das Elend der städtischen Randgebiete fuhrt, oder bei der Kontrastierung von oberflächlichem small talk und dem Bewußtseinsstrom des kranken Kindes in »Tendrá que volver«, wo die Szenenreihung eindrucksvoll zur Darstellung des Kontrastes von Außen- und Innenwelt genutzt wird (s.o., 5.2, 108). Andere Erzählungen bilden »a detailed scene rather than a complex plot«23 und geben Einblick in das eintönige Alltagsleben (»Tarde de tedio«, »Retirada«) oder die Situation sozial Unterprivilegierter (»Los informes«, »La tata«). Bei Texten, in denen eine Entwicklung zur Darstellung kommt, die das reine Übergehen von einem psychologischen Zustand in einen anderen nach dem Muster von Ritmo lento, »Un día de libertad« oder auch Nubosidad variable überschreitet, muß der zeitliche Rahmen stärker als bisher gedehnt werden. »La chica de abajo« ist ein Beispiel für eine solche ausgedehntere Zeitstruktur, welche hier der Dokumentation eines Reifeprozesses dient. Der Text ist typographisch untergliedert, wobei die ersten beiden Teile noch die zeitliche Einschränkung auf eine Nacht und einen Morgen beibehalten (CC, 274-283, 283-286). Der dritte und letzte Teil der Kurzgeschichte (CC, 286-293) umspannt schließlich Winter und Frühjahr und schafft so den zeitlichen Rahmen, der für den Reifeprozeß der Protagonistin erforderlich ist. »La oficina« bedient sich ebenfalls einer ausgedehnteren Zeitstruktur, wenn dieses Verfahren im all22 Nubosidad variable thematisiert die Unübersichtlichkeit der Realitätsperzeption ebenfalls sowohl in bezug auf die Lebenserfahrung als auch auf die literarische Kreativität: »Me pide perdón por sus continuas interrupciones y yo le digo que todo en esta vida es una pura interrupción, que no se afane tanto en separar las cosas unas de otras, porque todas bullen al mismo tiempo, por mucho empeño que pongamos en evitarlo, lo banal mezclado con lo grave, lo presente con lo pasado, lo necesario con lo azaroso, y que de entender algo es sólo así como se entiende, aceptando esa misma confusión como pista valedera. Por eso es tan difícil escribir una novela« (NV, 158). 23

Brown 1987, 57.

128 gemeinen auch in den frühen Texten Martin Gaites eher die Ausnahme bildet. In dieser Kurzgeschichte wird über einige Monate hinweg die Routine des Arbeitsalltags thematisiert, die nicht einmal der plötzliche Tod eines an dieser Gleichförmigkeit leidenden Individuums zu durchbrechen vermag. Erst in den 'phantastischen' Erzählungen der achtziger Jahre geht Carmen Martin Gaite dazu über, die gesamte Lebensgeschichte ihrer kindlichen Protagonistinnen in sukzessiv geraffter Form vorzutragen. El castillo de las tres murallas ist in dieser Hinsicht sicher der konventionellste Text, der die Geschichte Serenas sowie Geburt und Kindheit ihrer Tochter Altale bis zu deren Befreiung aus dem Schloß durch Amir berichtet. El pastel del diablo und Caperucita en Manhattan sind sich im Hinblick auf die Zeitstruktur sehr ähnlich. Beide erzählen in geraffter Form die Kindheit Sorpresas und Saras. Das zehnte Lebensjahr in El pastel del diablo bzw. der zehnte Geburtstag in Caperucita en Manhattan bilden einen Initialpunkt und bestimmen in beiden Fällen den Inhalt eines ganzen Kapitels (Kap. 3 bzw. 5). Im Anschluß hieran werden die Abenteuer der beiden Mädchen in großer Erzählbreite als narrativer Kern und als Symbol für ihre Selbstverwirklichung herausgestellt (Kap. 4-8 bzw. die gesamte »Segunda parte«). So steht die Darstellung der Entwicklung der Heldinnen jeweils im Dienst dieses außergewöhnlichen Erlebnisses, hier ändert sich ihre Zeitperzeption, sie leben 'in der Zeit'. Diese sukzessive, zur Auflösung der Handlung gelangende Anlage der Texte nähert sich wieder traditionellen Erzählformen an. Dabei waren solche Strukturen von den Vertretern der literarischen Moderne als obsolet erklärt worden, denn diese wollten ja gerade ihre Überzeugung zum Ausdruck bringen, daß die Welt als geschlossenes Sinngefiige nicht mehr darstellbar ist. Dieser Auffassung entspricht ein Text wie Fragmentes de interior, dessen fragmentarischer Aufbau schon aus der Analyse seiner Zeitstruktur deutlich wurde. In der fragmentarischen Form des Romans spiegelt sich das Fehlen jeglicher visueller, auch ethischer Orientierung im modernen Großstadtleben wider. In Entre visillos kann die aufgebrochene Struktur den konfliktiven Identitätsbildungsprozessen junger Mädchen im Nachkriegsspanien ausgezeichnet entsprechen. In ihr manifestiert sich eine Reaktion gegen das Korsett vorgegebener Norm- und Moralvorstellungen, gegen die unreflektierte Übernahme dessen, was Umberto Eco mit der 'guten Form' bezeichnet hat. 24 Die Offenheit, die formale Gebrochenheit eines Textes wie Entre visillos wird auf diese Weise zur Programmatik, zur Reaktion auf Einschränkung und Reglementierung der 'geordneten' Verhältnisse im Franquismus, 24

Vgl. dazu Eco, 152: »Soziale Krankheiten wie Konformismus, Heteronomie, Herdentrieb und Vermassung sind das Ergebnis einer passiven Übernahme von Verstehens- und Urteilsnormen, die mit der "guten Form" gleichgesetzt werden, sei es in der Moral oder der Politik, in den Ernährungsgewohnheiten oder der Mode, auf der Ebene des ästhetischen Geschmacks oder der pädagogischen Prinzipien.«

129 der zugunsten einer glatten Fassade alle existierenden sozialen Probleme negierte bzw. das spanische Bürgertum einer vermeintlich festgelegten Ordnung versicherte, die ihre Lebenssphäre von schädlichen Einflüssen freihielt. Von daher ist es nicht verwunderlich, daß diese Struktur dem Roman über lange Zeit eine Kritik seiner »cabos sueltos« und »intrigas secundarias«25 eingebracht hat. Eine solche Einschätzung läßt die Tatsache unbeachtet, daß diese aufgebrochene Struktur gerade der Orientierungslosigkeit der jungen Mädchen im Nachbürgerkriegsspanien ausgezeichnet entsprechen kann. Entre visillos erlangt über seine »estructura totalmente abierta«26 eine emanzipatorische Bedeutung, die spätere inhaltliche Ausführungen Martin Gaites über Ordnung und Orientierung vorwegnimmt (s.o., 5.1., 83ff.). Aus der strukturellen Anlage des Romans wird eine geradezu subversive Stellungnahme zu den gesellschaftlichen Verhältnissen im pragmatischen Kontext ersichtlich. Zudem bedeutet 'Offenheit' auf der semantischen Ebene bei Martin Gaite häufig eine positive Zukunftserwartung für die Protagonistinnen. So wirft die Schlußpassage von »La chica de abajo« ein ausgesprochen optimistisches Licht auf die Zukunft des jungen Mädchens, die mit den Kirchenglocken 'eingeläutet' wird (CC, 292f., s.o., 5.2., 106). Und auch in Entre visillos führt der Zug Pablo Klein und Natalias Schwester Julia aus der engen Atmosphäre der Provinzstadt hinaus. Natalia bleibt zwar zunächst zurück, doch ist es durchaus denkbar, daß sie ihrer Schwester eines Tages nachfolgen wird.27 In Fragmentos de inferior brachte der Aufenthalt in Madrid für Luisa eine bittere Desillusionierung. Ihre Rückkehr in »la ciudad que se tragaba y hacia anicos todas las cartas y las historias de amor» (Fragmentos, 202) am Ende des Romans impliziert für sie einen Neuanfang und die Aussicht auf ein selbstbestimmtes Leben unter völlig neuen Voraussetzungen, da sie ihren Lernprozeß zuvor abgeschlossen hat. Chown sieht daher in diesem Romanende eine »open-ended conclusion which plainly recommends openness and multiplicity as alternatives to polarized thinking«.28 Und auch Sara Allen beschließt in Caperucita en Manhattan die Romanhandlung im programmatischen »Happy end, pero sin cerrar« {Caperucita, 195) mit einem Sprung in die Freiheit. Doch ergibt sich hier eine Ambivalenz von offener Zukunftserwartung und in der Märchenform implizierter Geschlossenheit, auf die noch zurückzukommen ist.

25

Juan Carlos Curutchet, Introducción a la novela española de postguerra, Montevideo 1966, 122.

26 Jiménez, 113. 27

Vgl. dazu Neuschäfer. 60, der das optimistische Ende von Entre visillos mit der im Aufbau ähnlichen, aber negativ ausgerichteten Schlußsequenz von Antonio Bardems fast zeitgleichem Film Calle mayor (1956) vergleicht.

28

Chown, 4.

130 5.3.2. Strukturelle Eingrenzungen Die Bestandsaufnahme der erzählstrukturellen Gegebenheiten im Werk Martin Gaites zeigt weiterhin, daß der überwiegende Teil der Romane und Kurzgeschichten eine deutliche strukturelle Begrenzung in Form eines Erzählrahmens aufweist, welcher den eigentlichen Kerntext umschließt. Das erste Beispiel für die Verarbeitung einer Rahmenstruktur ist »Las ataduras«, wo sogar von einem 'doppelten' Rahmen gesprochen werden kann, da die Erinnerungshandlung von jeweils zwei Passagen eingebettet erscheint, die in konsequenter Parallelsetzung von Galicien nach Paris bzw. von Paris nach Galicien hin- und herschalten. Auf deutlichere Weise offenbart sich diese strukturelle Eingrenzung in Prolog bzw. »Preludio« und Epilog von Ritmo lento und Retahilas, wo die Rahmenstruktur zudem mit einem Perspektivwechsel einhergeht. In beiden Romanen erfahrt die Bewußtseinshandlung eine in der dritten Person gehaltene Einrahmung, durch die jeweils entscheidende Bedeutungsakzente gesetzt werden. Ritmo lento erteilt im vorwiegend in Außensicht gehaltenen Prolog die notwendigen Vorinformationen über Aufenthaltsort und Zustand des Protagonisten und fuhrt die zentralen thematischen Aspekte des Werkes ein. Der Epilog komplettiert die Geschichte des Protagonisten in sukzessiver Distanzierung zunächst aus der durch eine Erzählstimme ironisch abgewerteten Sicht einer Nebenperson, schließlich mittels der Wiedergabe eines Zeitungsartikels. Durch den Kontrast von Bewußtseinsstrom im Kerntext und größtmöglicher Distanzierung im Epilog erübrigt sich in der Zeitungspassage die auktoriale Hilfestellung. In rezeptionsästhetischer Perspektive suggeriert dies, daß der Leser über die psychologischen Hintergründe des im Epilog referierten Ereignisses besser informiert sei als die lediglich Tatsachen vermittelnde journalistische Information. Martin Gaite hatte bei diesem Roman ihre Zweifel über die definitive Schließung des Textes, in der zweiten Auflage (1969) erscheint Ritmo lento ohne Epilog. Seit der dritten Auflage ist dieser dem quasi-autobiographischen Teil jedoch wieder angefugt, was eine Entscheidung nicht nur für die Geschlossenheit des Textes, sondern auch für die Unterstreichung der sozialkritischen Komponente des Romans bedeutet: »AI decidirse finalmente por el texto cerrado, creo que quiere [Martín Gaite, d.V.] hacer hincapié en el objetivo del relato: la incomunicación total, la reclusión es lo que le espera al individuo que se atreva a desafiar el sistema.«29 Im übrigen erscheint schon der Bewußtseinsstrom durch das erste und letzte Kapitel (»Carta de Lucia« bzw. »Tiempo próximo«) eingerahmt, die jeweils einen Brief analysieren und zudem im Vergleich mit den übrigen - lediglich mit Eigennamen überschriebenen - Kapiteln durch einen stärkeren Bezug zur Erzählgegenwart geprägt sind. So wird auch innerhalb des Erinnerungsprozesses ein Eindruck der Geschlossenheit erweckt, der die Un29

Jiménez, 118.

131 fähigkeit des Protagonisten symbolisiert, sich aktiv mit der umgebenden Welt auseinanderzusetzen.30 Allein die Vorausdeutung auf einen »final trágico« (RL, 280) weist über diese geschlossene Struktur hinaus. Der aus »Preludio« und Epilog bestehende erzählerische Rahmen umschließt in Retahilas die alternierenden Monologe der Protagonisten. Die Personenrede verselbständigt sich hier zum »Stilmittel des äußeren Aufbaus«, um auf diese Weise »disparate Vorgänge dem Erzählfluß einzuverleiben, Fernabliegendes zu aktualisieren und gleichzeitig mit der Vorgangswiedergabe die Charakterzeichnung zu verbinden«.31 Der Leser folgt den Formulierungen Eulalias und Germáns, so daß innerhalb der Redebeiträge wie in vielen anderen Texten der Autorin der Entstehungsprozeß gleichzeitig das Resultat darstellt und die Textstruktur auf diese Weise determiniert: »El texto de la novela se refiere a menudo a su propia constitución como enlace dialogal.«32 Das Zusammenspiel von Redewiedergabe und Rahmenstruktur gibt dem Roman nicht nur ein Minimum an narrativer Gestaltung und fest definierte Anfangs- und Endpunkte, sondern determiniert auch entscheidend seine Gesamtaussage durch die Konfrontation der in direkter Rede formulierten Sachverhalte mit der aus der Sicht einer Nebenperson wiedergegebenen Konstellation des Epilogs (s.u., 5.4., 158). Der Tagesanbruch beschließt die außergewöhnliche Kommunikationssituation und rundet die Erzählstruktur auf diese Weise ab. Das Gespräch, das »castillo inexpugnable de palabras« (R, 233) erscheint als Idealsituation, als momentaner Zufluchtsort, der von der im Epilog wieder hereinbrechenden Realität jedoch unweigerlich eingeholt wird. Neben so ausgeprägten Rahmenkonstellationen, die sich in Ritmo lento und Retahilas schon allein durch den Perspektivwechsel vom eigentlichen Kerntext entfernen, finden sich stärker mit dem Handlungsverlauf verknüpfte Einbettungen. Diese sind meist nicht explizit als Prologe und Epiloge bezeichnet sondern erscheinen in die Kapitelaufgliederung integriert. In El cuarto de atrás rahmen das erste und letzte Kapitel (»El hombre descalzo« bzw. »La cajita dorada«) die eigentliche Gesprächssituation ein und bringen die zwischen Wachen und Schlaf, zwischen Wirklichkeit und Traum oszillierende Atmosphäre des Textes hervor. Das letzte Kapitel thematisiert zudem die Ungewißheit der Erzählerin, ob das Gespräch wirklich stattgefunden hat oder ob es den Inhalt eines Traumes darstellt. Wie in Retahilas wird also auch in El cuarto de atrás eine Abgrenzung benötigt, die das mit phantastischen Elementen angereicherte nächtliche Gespräch als Enklave, als einen vom Alltagsleben deutlich abgetrennten Bereich des »refugio« ausweist. 30

Vgl. dazu auch Calvi, 67, 80.

31 Lämmert, 209f. 32

Sobejano 1983, 219.

132 Ganz ähnliche Bedeutungsaspekte ergeben sich auch für El pastel del diablo und Caperucita en Manhattan. El pastel del diablo verfugt nämlich ebenfalls über eine Rahmenstruktur, wenn man das Leben Sorpresas bis zu ihrem Eintritt in die »Casa Grande« als Vorgeschichte betrachtet (Kap. 1-3). Der Besuch der »Casa Grande« bildet den Kern des Textes (Kap. 4-8), der sich im »Epílogo« als geistiges Konstrukt Sorpresas herausstellt und gleichzeitig in seiner Symbolhaftigkeit analysiert wird. Hier liegt also die schon in Retahilas beobachtete Zweistufigkeit in verdeckter Form vor, auch hier findet sich ein »pacto narrativo«, in dem die Handlung durch die Personenrede vermittelt erscheint. Der Aufbau von Caperucita en Manhattan entspricht demjenigen von El pastel del diablo mit Ausnahme der Tatsache, daß es hier keinen Epilog mehr gibt. Die Erzählstimme erhebt die Offenheit des Textes durch die Überschrift des letzten Kapitels »Happy end, pero sin cerrar« zur Programmatik. Der Imaginationsprozeß gelangt, und dies begründet den wichtigsten Unterschied zwischen Caperucita en Manhattan und El pastel del diablo, nicht mehr zur Auflösung. Beide Texte stehen in einem ähnlichen Verhältnis zueinander wie »El balneario« und El cuarto de atrás: In El cuarto de atrás wird auf metaliterarischer Ebene dem in diesem Roman aufrecht erhaltenen Zweifel in bezug auf die Wahrhaftigkeit der Geschehnisse gegenüber dem eindeutigen, analytischen zweiten Teil von »El balneario« der Vorzug gegeben (vgl. Cuarto, 53, 55). Wie sich El cuarto de atrás im Gegensatz zu »El balneario«, wo der zweite, realistische Teil das phantastische Erlebnis als Traum identifiziert, einer Auflösung der phantastischen Elemente bewußt enthält, wird auch das Abenteuer in Caperucita en Manhattan nicht mehr innerhalb des Textes als Fiktion entschlüsselt, wie dies noch in El pastel del diablo zu beobachten war. In der Wiederaufnahme und Modifikation der Struktur von El pastel del diablo im späteren Caperucita en Manhattan äußert sich die Dialektik zwischen der Suche nach festlegbarer Bedeutung und der Akzeptanz des Unerklärlichen, die zuvor schon das Verhältnis von »El balneario« und El cuarto de atrás bestimmte. 5.3.3. Exkurs: Romanstruktur und Realitätsbezug In diesem Zusammenhang gestattet Martin Gaites Rückgriff auf phantastische Elemente, Träume und die Märchentradition, der sich im Verlauf ihres literarischen Schaffens als herausragendes Charakteristikum ihres Erzählens erwiesen hat, Rückschlüsse auf die Beweggründe für die starke Tendenz zur Verwendung von Rahmenkonstruktionen in ihrem Werk. Durch die Tatsache, daß Texte mit phantastischen Elementen ein eigenes, von der Realität isoliertes Bezugssystem etablieren, wird auf der strukturellen Ebene narrative Geschlossenheit impliziert; »the closed structure is

133 perfectly suited to the erection of a weird or marvelous tale«. 33 Das Extrem solcher Geschlossenheit findet sich in der Märchenform: Die realen Koordinaten von Zeit und Raum sowie das Kriterium der Wahrscheinlichkeit werden außer Kraft gesetzt, und die Texte sind auf eine Auflösung der Handlung hin ausgerichtet. So hat z.B. die Vorausdeutung im ersten Kapitel von El pastel del diablo {Pastel, 87) verbindlichen Charakter und gliedert den Text fest in die Märchentradition ein. 34 Solche mit phantastischen Elementen arbeitenden Texte erscheinen funktionalisiert als »corrective to realism«, als eine »complementary vision of life«. 35 Der Rückzug in die Phantasie bedeutet eine Flucht vor fehlenden Orientierungspunkten im realen Leben. Im Werk Martin Gaites zeichnet sich nun eine vernunftkritische Linie ab, die diesem Sachverhalt sukzessiv stärker entspricht. Diese Entwicklung nimmt mit den surrealistischen Anklängen von »El balneario« oder auch der Erzählung »La mujer de cera« ihren Anfang. Sie setzt sich fort in der »advertencia preliminar« von Ritmo lento, wo der Roman als »no forzosamente verosímil« bezeichnet wird. Retahilas integriert das eindeutig mysteriöse Element der »Muerte a caballo« (R, 22-29, 228f.), das auch in diesem, eigentiich auf die Glaubhaftigkeit seiner Erzähler vertrauenden Roman nicht aufgelöst wird. El cuarto de atrás schließlich erhält sich bewußt seine Ambivalenz in bezug auf die reale Existenz des »hombre de negro«, und die »cuentos fantásticos« wie auch Caperucita en Manhattan akzeptieren das Unerklärliche, wie es die Märchenform j a ohnehin impliziert. Sogar Nubosidad variable berichtet in dem nach einem Gemälde Dalis benannten Kapitel »Persistencia de la memoria« ein traumartiges Erlebnis, das sich schon über den Titel dem Surrealismus verpflichtet zeigt. Die Auflösung dieses 'Traums' von Sofia bleibt ambivalent. Zum ersten weist sie sich - im Gegensatz zu allen anderen von ihr verantworteten Textpassagen - nicht als Verfasserin aus. Außerdem erfahrt sie im Verlauf dieser 'Vision' (Sofia hatte zuvor Marihuana geraucht) ein Detail aus dem Leben ihrer Mutter, das ihr im Anschluß - als sie es also schon weiß - von ihrer Tochter Encarna als 'Geheimnis' mitgeteilt wird. Innerhalb des Romantextes finden sich also keine eindeutigen Auskünfte über die Einstufimg dieser Passage als Traum, als Vision oder als nachträgliche Niederschrift. Diese Integration eines phantastischen Elements in die Realitätsperzeption der Figuren entspricht zunächst einmal den häufig formulierten Vorstellungen Martin Gaites von Literatur als einem Ort der Zuflucht, und gerade dieser Sachverhalt scheint in den meisten Texten geschlossene Strukturen zu erfordern. An dieser Stelle ist ein Blick auf Todorovs Introduction à la littérature fantastique aufschlußreich, auf welche in El cuarto de atrás ja mehrfach hingewiesen wird. 36 Todorov siedelt »le fantastique« in 33

Spencer, 26.

34

Vgl. dazu Lämmert, 181.

35

Vgl. Spencer, 47, sowie das gesamte Kapitel »Closed structures«, 25-49.

36 Vgl. Cuarto, 19, 20, 27, 128, 143, 160, 165, 205, 210.

134 einem Grenzbereich zwischen »le merveilleux« und »l'étrange« an. Er charakterisiert das Phantastische als die aufrechterhaltene Ungewißheit in bezug auf die Existenz einer rationalen Erklärung (»l'étrange«) oder die Akzeptanz übernatürlicher Ereignisse (»le merveilleux«).37 In dieser Hinsicht könnte ein Text wie El cuarto de atrás also als »fantastique« und damit auf der semantischen Ebene 'offen' bezeichnet werden: Die Zweifel der Protagonistin werden innerhalb des Textes nicht aufgelöst. Jedoch findet sich an einer Stelle eine in diesem Zusammenhang signifikante Bemerkung der Erzählerin: »Hay un punto en que la literatura de misterio franquea el umbral de lo maravilloso, y a partir de ahí, todo es posible y verosímil« (Cuarto, 166); so wird das Zweideutig-Phantastische doch wieder eindeutig-wunderbar und rückt damit in den Bereich der Geschlossenheit implizierenden Märchenstrukturen.38 Die rekurrente Verwendung von Rahmenstrukturen unterstreicht diese Notwendigkeit der Schließung in solchen Texten, so daß sich auf der formalen Ebene ein expliziter Gegenpol zum semantischen Kriterium der 'Offenheit' etabliert. Trotz aller Uneindeutigkeit erfordert die überwiegende Zahl der Texte Martin Gaites geradezu ein Verfahren der Abgrenzung, das die Distanz dieser außergewöhnlichen Ereignisse zur Alltagswelt zum Ausdruck bringt. Diese Beobachtungen zur strukturellen Geschlossenheit der literarischen Konkretionen Martin Gaites beziehen sich, darauf sei noch einmal deutlich hingewiesen, lediglich auf die durch rein textimmanente Kriterien etablierten Gegebenheiten und nicht auf die Auswirkungen solcher Texte auf den Leser. Jeder Imaginations- oder Erinnerungsprozeß erscheint fur sich ab- und eingeschlossen, sei es ins »cuarto de atrás«, ins »castillo inexpugnable de palabras«, in den »desván que tenemos detrás de la retina«, in die »Casa Grande« oder in eine »patria de palabras« (NV, 375). Dies sagt nichts über die Wiederholbarkeit solcher Vorgänge und über die Einflüsse auf die kreativen Fähigkeiten des Rezipienten aus. In der Suggestivkraft fur den Leser, die nach Carmen Martin Gaite übrigens ein wichtiges Qualitätskriterium von Literatur darstellt, können die behandelten Texte sehr wohl über sich hinausweisen, 'geöffnet' erscheinen.39

37

Vgl. Tzvetan Todorov, Introduction á la littérature fantastique, Paris 1970, 28ff.

38 Ein weiterer Beweis dieser für die Gesamtheit der Texte Martin Gaites geltenden These der Verbindung von 'phantastischer' Literatur und narrativer Geschlossenheit wäre die Publikation von El castillo de las tres murallas und El pastel del diablo als Dos relatos fantásticos (nicht: »maravillosos«!), da der erste Text wesentlich eindeutiger als der zweite der Märchentradition verpflichtet ist. El pastel del diablo enthält zwar das Märchenelement der Vorausdeutung, insgesamt werden jedoch keine Ereignisse thematisiert, die rational nicht erklärbar sind, da das Abenteuer Sorpresas als Erzählung identifiziert ist 39 Vgl. Cuento, 173f.: »La calidad de un texto, como la de un relato oral, se mide por su capacidad de sugerencia, es decir, por el texto paralelo capaz de engendrar en el lector u oyente.«

135 5.3.4. Kreisstrukturen und Prozeßhafligkeit Auch Kreisstrukturen rufen wiederum den Eindruck eines in sich geschlossenen Gebildes hervor. So endet etwa El cuarto de atrás mit der Eingangspassage des Romans; der Erinnerungsprozeß erweist sich so als abgeschlossen, der Vorhang des »cuarto de atrás« als zugezogen. Und tatsächlich geht es ja um eine abgegrenzte historische Epoche, die Martin Gaite in ihrer Darstellung des mit historischen Fakten und persönlichen Erfahrungen angereicherten Erinnerungsprozesses evoziert und für sich selbst beschließt. Das Theaterstück A palo seco verarbeitet auf ganz ähnliche Weise die Bewältigung einer Krise, wenn der Protagonist schlußendlich bemerkt, daß sein Monolog von Beginn an aufgezeichnet wurde und genau den Text über die Einsamkeit darstellt, den er sich zu schreiben nicht für fähig gehalten hatte. In der Schlußszene hört der Zuschauer die Aufnahme und sieht, wie Ricardo seinen Monolog transkribiert. Wie in El cuarto de atrás ist der Prozeß gleichzeitig das Ergebnis; »las cosas sólo valen mientras se están haciendo« (Cuarto, 129). Auch die »retahilas« sind in ihrer Spontaneität Prozeß und Ergebnis, Mittel und Inhalt der Darstellung, auch sie zeichnen sich durch kreisförmige Bewegungen aus, wenn die Sprecher nach langen Ausfuhrungen wieder auf den Ausgangspunkt ihrer Monologe zurückverweisen. Dies gilt für die einzelnen Sprechakte ebenso wie für die Gesamtheit der Monologe, die von Germán in seinem letzten Redebeitrag auf ihren Beginn zurückgeführt werden. Solche Kreise implizieren aber auch Bewegung, ein Ineinander-Übergehen von Anfang und Ende. Nubosidad variable, wo die Protagonistinnen im Epilog mit der Zusammenstellung genau desjenigen Textes befaßt sind, dessen Lektüre der Leser gerade beschließt, exemplifiziert einen solchen Kreislauf. Dies wird deutlich, als eine Nebenfigur im letzten Absatz auf einem Blatt, das der Wind weggeweht hatte, das erste Wort des Titels liest: »Estaba recién escrito y la tinta se había desteñido sobre una de las palabras en letra mayúscula. No eran más que dos. La primera, NUBOSIDAD, casi no se leía« (NV, 391). Das Ergebnis erscheint auf diese Weise, wie schon in El cuarto de atrás, im Lektüreprozeß vorweggenommen und verweist zudem auf ständigen Neubeginn. Kreisstrukturen untergraben die narrative Linearität, sie bewirken die Abwendung von sukzessiv-chronologischen Kompositionsprinzipien.40 Vor allen Dingen jedoch unterstreichen sie die Prozeßhaftigkeit der Texte und machen das Hinarbeiten auf ein Ziel, zum Beispiel auch in Form einer naiTativen Handlungsauf40

Vgl. Spencer, 188: »Circular motion does, indeed, embody a denial of the idea of progress from beginning to end and of the whole notion of development, upon which the traditional concept of structure in prose writing has depended for its ideal of good organization. Circular motion is, instead, an insistence, an intensity, a power directed at deepening and energizing, a power directed inward upon itself. Although circular motion does not provide the only pattern of movement that is found in architectonic fiction, it is perhaps the most common, its emphasis constituting a corrective to the much more usual linear pattern based upon points along a straight line.«

136 lösung, zweitrangig. In El cuento de nunca acabar manifestiert sich das Insistieren auf Prozeßhaftigkeit in besonders eminenter Weise; außerdem bietet die nicht-fiktive Textform der Autorin die Möglichkeit, eine diesmal wirklich vorbehaltlos offene Struktur zu erproben. Hier tritt sie selbst endgültig und definitiv als reale Person in Erscheinung und bietet gleich eingangs sieben Prologe an, so daß von vornherein von Festlegungen Abstand genommen wird. Den Prologen folgen neunzehn Kapitel, die »[a] campo través« (so der Titel dieses Teils) als »pieza[s] sueltafs]« (Cuento, 268) jeweils für sich abgeschlossen sind und Reflexionen vermitteln, die immer mit konkreten Erfahrungen und persönlichen Erinnerungen angereichert sind. Baquero Goyanes sieht in einer solchen 'episodischen' Struktur die Offenheit eines Textes gewährleistet, wobei er an dieser Stelle die Verbindung von Modernität und Offenheit in Frage stellt, da gerade die episodische Struktur als eine der ältesten Textformen überhaupt bezeichnet werden könne.41 Der sich anschließende Teil des Cuento de nunca acabar, »Ruptura de relaciones«, bildet mit den sieben Prologen eine Einheit, so daß innerhalb des Textes wiederum eine Rahmenstruktur verarbeitet wird. Das Interessante an diesem Rahmen ist die Tatsache, daß Martin Gaite hier Zeugnis ablegt über ihre Beziehung zum vorliegenden Text, die sich in erster Linie aus seiner Prozeßhaftigkeit und Unabgeschlossenheit ergibt; die Autorin sucht nach einem »tono adecuado a lo simultáneo de la narración con la vivencia que la promueve« (Cuento, 54). In »A campo través« treten die Kommentare zum Schaffensprozeß weitgehend hinter die philosophischen Betrachtungen zurück, sind jedoch nicht völlig ausgespart: »Volveré sobre esto [...], caso que llegue a dominar con algún concierto la marea de papeles a mano y a máquina que veo amontonarse desperdigados sobre mi mesa« (Cuento, 118). Für Subirats kommt in der Struktur von El cuento de nunca acabar eine der Bedeutungen des Textes zum Ausdruck: »[Carmen Martin Gaite, d.V.] nos muestra su estructura última [del orden narrativo, d.V.] como experiencia de la realidad que, de otro modo, en la narración acabada o en la construcción conceptual, ensayística, nos permanecería oculta«.42 In den Prologen und in »Ruptura de relaciones« wird der Verfassungszeitraum dokumentiert, der Entstehungsprozeß des Textes fixiert.43 Insgesamt häufen sich die Anspielungen auf die Inkohärenz, die Skizzen- und Fragmenthaftigkeit des Textes: Es ist die Rede von »retazos cuestionables, esbozos...« (Cuento, 28), von einer »condición irremediablemente fragmentaria« (Cuento, 19), einem »proyecto inconcluso« (Cuento, 263). In »Ruptura de relaciones« weist die Autorin auf die Notwendigkeit hin, ihre Arbeit abzubrechen; »la única solución estaba precisamente en abandonarlo, no en arrastrarlo cansinamente hacia un final postizo, hacia un descabello asesino dictado 41

Vgl. Baquero Goyanes, 37-42 (»Actualidad de la "estructura episódica"«), 190.

42 Eduardo Subirats, »La filosofía del conocimiento en Carmen Martín Gaite«, in: Libros, 17, 1983, 3f., 3. 43

Vgl. Cuento, 4, 13, 16, 17, 32, 54, 60, 64, 54, 126, 209.

137 por la rutina y por el odio« (Cuento, 269). Im Anschluß transkribiert der vierte und letzte Teil unter dem Titel »Rio revuelto« fragmentarische Notizen. Die fehlende thematische oder chronologische Anordnung fuhrt zu einer rigorosen Öffnung des gesamten Textes: »Hay cosas que sólo se entienden desde la ruptura; es cuando se atan cabos, cuando ya todo se da por perdido« (Cuento, 278). Das letzte Fragment aus »Rio revuelto« mit dem Titel »Re-anudar« impliziert jedoch einmal mehr ein ständiges Werden, die Suche nach und das Finden von Verbindungslinien aus dem Bruch, aus dem Zufall, aus der Unordnung heraus, so daß auch in diesem Text formale Gebrochenheit das Streben nach Kontinuität nicht negiert: »Hilo para tejer lo de antes con lo de ahora. Que no falte, que no se rompa, que podamos siempre seguir tirando de él. [...] Enganchemos con lo de antes, con lo de ayer. Ha habido una pausa, pero ya pasó, el corazón vuelve a latir« (Cuento, 377). Mit Nubosidad variable werden diese Überlegungen auch in einem fiktionalen Text aufgegriffen. Die beiden Protagonistinnen dieses Romans dokumentieren nicht nur ganz ähnlich wie in El cuento de nunca acabar ihren Schaffensprozeß (»Queda pendiente para cuando cuente lo de Guillermo, si es que llego a contarlo, porque esta narración, o lo que sea, se está convirtiendo en un puro vericueto.« NV, 207); die Zusammenfuhrung ihrer collageartigen Schriften impliziert ganz genauso ein »reanuda[r]« (NV, 339) dieser »cabos sueltos« (NV, 171), deren Kombination eine neue Sinnkonstitution bedeutet. 5.3.5. Zusammenfassung:

»Mientras dure la vida, sigamos con el cuento«**

Mit Ritmo lento, Retahilas und El cuarto de atrás finden sich im Werk Martín Gaites Bewußtseinsdarstellungen, die sich in ihrer Tendenz zu Achronologie und ästhetischer Simultaneität eindeutig auf die Tradition des modernen Romans berufen. Darüber hinaus gibt es Texte wie Entre visillos, Fragmentos de interior oder auch in gewisser Weise Nubosidad variable, deren strukturelle Anlage eine Fragmentierung von Welterfahrung impliziert. Und weiterhin finden sich sogar stark der Märchentradition verpflichtete Texte wie El castillo de las tres murallas, El pastel del diablo oder Caperucita en Manhattan, die in schönster Fabulierfreude auf sukzessive Handlungsabläufe zurückgreifen und weitgehend linear erzählen. Sei es in der Bewußtseinserforschung, sei es in linear erzählten Abenteuern, und auch trotz aller Fragmenthaftigkeit - die strukturelle Anlage der Texte Martin Gaites subsumiert sich dem Aspekt der Suche, »componente éste el más decisivo del género "novela"«.45 Das Erstellen von Sinnzusammenhängen bleibt ein grundsätzliches Desi44

Cuento. 377.

45

Baqucro Goyanes, 34; vgl. auch Michel Butor, »Le roman comme recherche«, in: M.B., Essais sur le roman, Paris 1960. 7-14.

138 derat und wird zusätzlich auf der Ebene der Mikrostruktur in der wiederkehrenden Metapher des »hilo« transportiert. Dieser verdichtet sich über die Tätigkeit des »bordar« {Cuento, 374f.) zu einem »tejido« (R, 195), einem Gewebe und damit also einem 'Text' im Wortsinn. Que tenemos perdido el hilo, ése era el estribillo fundamental; se emocionaba con haber descubierto esa verdad que le parecía tan básica, y cuando la conversación languidecía, repetía la palabra casi a secas: "Eso, Germán, el hilo, es eso, el hilo, en el hilo está todo, ¿no te parece?", como si tuviera miedo de que al dejar de pronunciarla se le escapara la posibilidad de agarrar realmente algún cabo de hilo fundamental para nuestras vidas; y yo: "Sí, claro, el hilo", recogiéndole la palabra y metiéndola en la frase siguiente mía, [...] y al final casi se materializó la tarea, y era exactamente igual, te lo aseguro, que estar agarrando entre los dos un hilo cada uno por el cabo que el otro le largaba "toma hilo, dame hilo", de verdad completamente así, era tejer. (R, 89f.)46 So erklärt sich auch der gelegentliche Rückgriff Martin Gaites auf handlungsreichere Erzählformen, die ja ganz allgemein zunächst einmal auf Sinnverknüpfung und verbindliche Wertsysteme verweisen. Allerdings sind dies immer mit phantastischen Elementen angereicherte Texte, so daß die mit solchen Handlungsstrukturen einhergehende Verbindlichkeit zumindest implizit relativiert wird. Wichtig ist, daß die Texte nie auf ein entfernt liegendes Ziel ausgerichtet sind, weder in bezug auf die Lebenserfahrung noch auf die strukturelle Anlage im Sinne einer stringenten Hinfuhrung auf die Handlungsauflösung. Vielmehr kommt dem Prozeß des Erzählens, dem Verlauf der Handlung die vorrangige Bedeutung zu. In El pastel del diablo liegt für die kleine Protagonistin Sorpresa der Reiz eines Abenteuers nicht in der Erlangung eines Zieles, sondern im Leben von Erfahrungen: »Los protagonistas del cuento se ponían en camino para salir en busca de algo que deseaban mucho o les deparaba el azar. Unas veces encontraban lo que iban buscando y otras no, daba igual. Lo importante era el viaje y las cosas nuevas que aprendían o veían al hacerlo« {Pastel, 101). Die eindeutig Prozeßhaftigkeit implizierenden Kreisstrukturen von El cuarto de atrás, A palo seco, Nubosidad variable oder auch Retahilas verweisen darauf, daß Finalität in diesen Suchbewegungen unwichtig ist, das Ergebnis wird im Erzählprozeß vorweggenommen.

46 Der »hilo« bildet ein Leitmotiv im Werk Martin Gaites, das in irgendeiner Form in nahezu jedem ihrer Texte aufgegriffen wird; in Nubosidad variable zudem mit einem augenzwinkernden Verweis auf die Tatsache, daß die Literaturwissenschaft dies hervorgehoben hat, wenn Mariana Uber die Kommentare eines amerikanischen Hispanisten schreibt: »El profesor americano dijo que "perder el hilo" y "coser sin hilo" eran expresiones muy interesantes. Sacó un cuadernito para apuntarlas y se sirvió otra copa« (NV, 137). Vgl. auch Kathleen Glenn, »Hilos, ataduras y ruinas en la novelística de Carmen Martín Gaite«, in: Janet Pérez (Hg.), Novelistas femeninas de la postguerra española, Madrid 1983, 33-45.

139 Zugleich verweist die häufige Verwendung geschlossener Strukturen in Form von Zirkularität oder auch Rahmenkompositionen auf die Tatsache, daß der im Werk Martin Gaites immer wieder thematisierte Rückzug in Erinnerung oder Imagination gerade in bezug auf die weibliche Identitätskonstitution - auch dazu fuhren kann, daß sich die Figuren buchstäblich im Kreis bewegen. Sie ziehen sich in realitätsferne Enklaven zurück, so daß strukturelle Geschlossenheit nicht zuletzt mit dem inhaltlich durch das Rekurrieren phantastischer Elemente aufscheinenden Aspekt der Realitätsverweigerung und der Überwindung alltäglicher Unzulänglichkeiten in Idealsituationen in Verbindung steht.

140

5.4. Intertextualität Verweise auf andere Werke erhöhen das Bedeutungspotential literarischer Texte und betonen vor allem, daß diese nicht in einem Vakuum entstehen, sondern sich vielmehr auf eine bestimmte Art und Weise in die Gesamtheit des bestehenden kulturellen Fundus einfügen. Als »Moment einer komplexeren Beziehung, die über die bloße Textgestalt hinausreicht«,1 bildet das Phänomen der Intertextualität daher einen weiteren bei der Textanalyse zu berücksichtigenden Aspekt literarischer Kreativität. Den folgenden Ausfuhrungen liegt ein auf die konkrete Textanalyse applizierbares Intertextualitätskonzept zugrunde, wie es etwa Schulte-Middelich umschreibt: Im Bereich literarischer Produktion werden intertextuelle Verfahren Rezipienten-bezogen funktionalisiert. Notwendige Voraussetzung sind Intentionalität einerseits und durch bewußt gesetzte Signale gewährleistete Erkennbarkeit der intertextuellen Verfahren andererseits; entscheidende Folge sind Mehrfachkodierungen, Zusatzstrukturierungen oder Sinnkomplexionen im Text. Wenn akzeptiert ist, daß Literatur letztlich Sinndeutung zu geben versucht und als Teil der Wirklichkeit auf eben diese Wirklichkeit prägend einwirken kann, dann geht es hier um die [...] Frage, wie Literatur im Einzelfall diese Wirklichkeitsmodellierung anstrebt: Intertextualität erscheint dann, jenseits aller philosophischen Implikationen, als ein spezifisch benennbares, konkret lokalisierbares und im Detail analysierbares Verfahren neben anderen.2 Intertextualität bezieht sich auf eine kommunikative Dimension literarischer Werke, welche in einen Dialog mit fremden Texten treten und dadurch semantische Kapazität gewinnen. Lachmann benennt vier Größen für die intertextuelle Bedeutungskonstitution: 1. einen Phänotext, in dem 2. ein Referenztext aufgerufen wird, der durch 3. ein Referenzsignal (eine Markierung) erkennbar ist, so daß 4. Intertextualität entsteht »als jene neue textuelle Qualität, die sich aus der durch das Referenzsignal garantierten, 1

Karlheinz Stierle, »Werk und Intertextualität«, in: K. S. / Rainer Warning (Hg ), Das Gespräch, München 1984, 139-150, 146.

2

Bernd Schulte-Middelich, »Funktionen intertextueller Textkonstitution«, in: Ulrich Broich / Manfred Pfister (Hg ), Intertextualität, Tübingen 1985, 197-242, 206. In der Diskussion um den Intertextualitätsbegriff treffen strukturalistische und postmoderne Positionen aufeinander, wobei erstere Intertextualität als Beschreibungskategorie funktionalisieren, letztere den Begriff demgegenüber in einer universalen Dimension des Zusammenspiels von Texten, Diskursen, literarischen Traditionen und Denkmodellen verstehen wollen. Dieses Intertextualitätskonzept geht zurück auf Michail Bachtins Vorstellungen von der 'Dialogizität' erzählender Prosa und auf die hieran anschließenden Überlegungen von Julia Kristeva. Vgl. dazu Stierle und Schulte-Middelich sowie Renate Lachmann, »Ebenen des Intertextualitätsbegriffs«, in: Stierle/Waming, 133-138; Manfred Pfister, »Konzepte der Intertextualität«, in: Broich/Pfister, 1-30. Zur Nutzbarmachung des erweiterten Intertextualitätskonzepts für die feministische Literaturwissenschaft vgl. Gisela Ecker, »"A Map for Re-reading": Intertextualität aus der Perspektive einer feministischen Literaturwissenschaft«, in: Broich/Pfister, 297-310.

141 implikativen Beziehung zwischen Phäno- und Referenztext ergibt«.3 Auch bei der Analyse der intertextuellen Bezüge im Werk Martin Gaites finden hauptsächlich Referenztexte Beachtung, die eindeutig markiert und für die Rezipienten identifizierbar sind. Ein so verstandener IntertextualitätsbegrifF schließt die Frage nach werkgenetischen Einflüssen also weitgehend aus. Nichtsdestotrotz bezieht er sich auf die produktionsästhetische Dimension der Werke; von seiten der Rezeption an die jeweiligen Romane und Erzählungen herangetragene Texte bleiben damit weitgehend unberücksichtigt. Martin Gaite nutzt die Möglichkeiten intertextueller Textbildungsverfahren im Verlauf ihrer literarischen Karriere mit zunehmender Intensität; es finden sich vornehmlich intertextuelle Bezüge zu Literatur und Kino, aber auch in Form von Liedtexten und Werken der bildenden Kunst. Obwohl Übersetzung und Adaptation durchaus auch Varianten intertextueller Textrelation darstellen, bleiben sie hier ausgespart; die Auswahl der von der Autorin bearbeiteten Werke gibt zwar Aufschluß über ihre literarischen Vorlieben, doch läßt die enge Anlehnung an die jeweiligen Referenztexte eine Analyse wenig sinnvoll erscheinen.4 5.4.1. Intertextualität und Figurencharakterisierung Intertextuelle Verweise dienen im Werk Martin Gaites der Skizzierung des kulturellen Horizonts und der Geisteshaltung ihrer fiktiven Gestalten; über die Integration von Autorennamen oder Einzelwerken ergibt sich damit schon auf der Figurenebene eine erste Stufe intertextuell vermittelter Bedeutungskonstitution. Diese Bezüge haben noch eine relativ geringe Referentialität,5 sie bestehen meist aus einfachen, auf die Gewohnheiten der Figuren anspielenden Nennungen, aus zur Beschreibung herangezogenen Vergleichen, Kommentaren oder Interpretationsansätzen. 3

Lachmann, 136.

4

Ein Vergleich von Martin Gaites Version des Dramas El marinero von Fernando Pessoa mit dem Original etwa weist keine maßgeblichen Abweichungen auf. Vgl. F. P., El marinero. Versión e introducción de Carmen Martin Gaite, Madrid 1990, sowie die wörtliche Übersetzung in der zweisprachigen Ausgabe F. P., El marinero. Drama estático en un cuadro, übers, von Angel Campos Pámpano, Valencia 1982. Auf jeden Fall kann aber davon ausgegangen werden, daß Martin Gaite ohnehin bei der Übernahme von Übersetzungen und Adaptationen immer Texte zu bevorzugen scheint, die in engem thematischen Bezug zu ihrem eigenen Werk stehen. Martin Gaite hat u.a. aus dem Italienischen Ignazio Silone, Italo Svevo, Primo Levi und Natalia Ginzburg, aus dem Portugiesischen Ramalho Ortigao / Efa de Queiroz, aus dem Französischen Gustave Flaubert, Charles Perrault und Rainer Maria Rilke sowie aus dem Englischen Virginia Woolf, William Carlos Williams und Emily Bronte übersetzt.

5

'Referentialität' ist eines der von Pfister etablierten qualitativen Kriterien der Intertextualität und bezieht sich auf den Grad der Auseinandersetzung mit dem Prätext. Weitere Kriterien sind Kommunikativität (Bewußtheit des intertextuellen Bezugs bei Autor und Leser), Autoreflexivität (Thematisierung der Intertextualität), Stmkturalität (syntagmatische Integration der Prätexte), Selektivität (Evokation eines Gesamttextes oder nur eines bestimmten Elementes) und Dialogizität (durch Intertextualität erzeugte semantische bzw. ideologische Spannung). Vgl. Pfister, 26ff.

142 So integriert schon Entre visillos Hinweise auf die existentialistischen Ambitionen der jugendlichen 'Boheme', die Schallplatten von Yves Montand (EV, 154, 159) und Juliette Gréco (EV, 155) hört, wobei sich diese Jugendlichen allerdings eher durch Oberflächlichkeit als durch gesellschaftliches Engagement auszeichnen. Ein beiläufiger Verweis auf das existentialistische Standardwerk La Nausée erscheint im Zusammenhang mit der Geringschätzung seiner Rezipientin Elvira, bei deren Gesprächspartner Pablo der Verweis auf den Roman, mit welchem sie ihre Intellektualität zu betonen versucht, keine nennenswerte Reaktion erzeugt. »Algo empezô a decir de "La nâusea", im libro de Jean Paul Sartre« (EV, 144), vermerkt er nur lapidar. Auch Ritmo lento nimmt Bezug auf den Existentialismus, allerdings ebenfalls ohne Insistenz und ohne Nennung literarischer Vertreter, es ist lediglich von der schwarzen Kleidung eines Teilnehmers eines Intellektuellenzirkels die Rede (RL, 162f.). Im pragmatischen Kontext der Nachkriegszeit stellte der Existentialismus mit seiner skeptizistischen Weltanschauung eine gesellschaftliche Bedrohung für das franquistische Regime dar.6 Hieraus läßt sich vielleicht erklären, warum sich Martin Gaite lediglich an die Benennung, nicht aber an die affirmative Behandlung der Thematik wagt. Dieses dem Existentialismus ablehnend gegenüberstehende gesellschaftliche Klima wird noch einmal in Nubosidad variable thematisiert, wenn Sofias konservative Mutter Sartre (»con lo poco que me gustô a mi siempre todo lo que llegaba de Francia y menos el existencialismo«, NV, 349) dort als »bizco y ateo y antipâtico« (NV, 349) abqualifiziert. Sofia kommentiert ihrerseits die 'Modeerscheinung' linksgerichteter Gesellschaftskritik in ihrer Jugend, die sich in den Namen Marx und Beauvoir konkretisiert, auf eine pejorativ-ironische Weise (NV, 243). Schon hier deutet sich an, daß ihrer - im übrigen sehr ausgeprägten - Beziehung zu Büchern eine eminent emotionale Motivation zuzuweisen ist und der Aspekt der Übermittlung gesellschaftskritischer Inhalte über Bücher keine nennenswerte Rolle spielt. Ungeachtet solcher Ambiguitäten in bezug auf die Bewertung von Lektüregewohnheiten werden diese doch immer wieder für die Figurencharakterisierung instrumentalisiert, wenn etwa Emilio in Entre visillos zur Demonstration seiner intellektuellen Ambitionen Unamuno, Kierkegaard und Dostoevskij bemüht (EV, 61, 102), die angepaßte Aurora in Ritmo lento Daphne Du Maurier - eine Autorin der im Nachkriegsspanien verbreiteten Evasionsliteratur - für einen Vergleich heranzieht (RL, 74)7 und die intellektuelle Studentin Gabriela im gleichen Roman vom experimentellen Theater John Priestleys spricht (RL, 104). Ebenso erwähnt die sozialkritisch engagierte Isabel aus Fragmentos de inferior ein Buch des Soziologen Veblen, allerdings ohne seinen Titel zu nennen {Fragmentos, 61),8 während die oberflächliche 6 7

Vgl. Martin Gaite 1987, Usos amorosos de la postguerra..., 215. Vgl. Carr/Fusi, 162.

8

Dem Gesamttenor des Romans würde der Titel The theory of the leisure class. An economic study of institutions. New York 1934, entsprechen.

143 und unkritische Gloria mit dem Yellow-Press-Produkt Hola (Fragmentos, 80) in Verbindung gebracht wird und Diego, Isabels Vater und Glorias Lebensgefährte, sich durch die Lektüre der konservativ-monarchistischen Tageszeitung ABC (Fragmentos, 140) charakterisiert. Gloria beruft sich zudem auf den bürgerlich-konservativen, nur oberflächlich kritisierenden und zur Zeit der Diktatur zur Vergnügung des Bürgertums häufig gespielten Theaterautor Jacinto Benavente, um das ihrer Meinung nach spießige Verhalten Diegos zu kritisieren (»[p]areces un marido de comedia de Benavente«, Fragmentos, 11, vgl. 60). Damit wird auf Figurenebene in aller Knappheit der Konflikt zwischen einer 'europäisch-progressiven' Lebensweise und dem Verhaftetsein in traditionell-konservativen Verhaltensformen thematisiert, welcher die Beziehung von Diego und Gloria maßgeblich prägt. Viele Figuren Martin Gaites ziehen literarische Werke zu Vergleichen heran und offenbaren auf diese Weise ihre bildungsbürgerliche Herkunft. Häufig werden diese intertextuellen Verweise ausgiebig diskutiert; die Figuren bringen dann über einen Kommentar oder Interpretationsansatz einen Aspekt ihrer Welterfahrung zum Ausdruck, so daß durch die Schaffung einer Metaebene ein höherer Grad an Referentialität erzeugt wird. Dies gilt etwa für die Kritik der jugendlichen Mariana in Nubosidad variable an der eskapistischen Tendenz eines Liedtextes der Beatles (NV, 214), für Germáns Einschätzung von Erich Segais Love story in Retahilas (R, 226) oder auch für Elviras Interpretation eines (im Roman abgedruckten) Jiménez-Zitats in Entre visillos, (EV, 136f.), die einerseits ihre Flucht ins Metaphysische andeutet, andererseits aber auch über die erotische Implikation der Lyrik Jiménez' auf die sexuelle Unterdrückung der Zeit zurückweist.9 Sehr zitierfreudig ist Eulalia aus Retahilas, die einen Vers aus Miguel Hernández' »Elegía« zur Erklärung ihrer Verfassung heranzieht (R, 143)10 oder ihre Gedankengänge während einer Aufführung von Valle-Incláns Luces de Bohemia (R, 39f.) formuliert, aber auch auf einer weitergehenden Ebene ein Großteil ihrer Persönlichkeitsbildung auf kulturelle Vorlagen zurückfuhrt. Zudem evoziert Eulalia in ihren Redebeiträgen die gesamte politische Redekultur im Spanien des 19. Jahrhunderts und kritisiert auf diese Weise ihre eigene »retórica castelariana« (R, 214), eine mitunter am Kommunikationsziel vorbeischießende Geschwätzigkeit. So wird über intertextuelle Verweise auch eine politische Diskursform im Romantext erörtert, die Eulalia in eine bildungsbürgerliche kulturelle Traditionslinie integriert.11 9

Es handelt sich um das 44. Gedicht aus dem Zyklus Eternidades (1916-1917).Vgl. zum erotischen Element bei Juan Ramón Jiménez Lily Litvak, Erotismo fin de siglo, Barcelona 1979.

10

Die »Elegía« ist das 29. Gedicht aus dem Zyklus El rayo que no cesa (1936). Die Zitate weisen übrigens zuweilen Ungenauigkeiten auf, welche hier jedoch unbeachtet bleiben, zumal sie der aberwiegend spontanen Zitierweise der Figuren entsprechen und für die Bedeutungskonstitution nicht relevant sind.

11

Vgl. zur Geschwätzigkeit als einer spezifisch spanischen Eigenheit Carmen Martin Gaite, »Tres siglos de quejas de los españoles sobre los españoles«, in: Martín Gaite 1982, La búsqueda..., 73-S8 (Erstveröffentlichung in Triunfo), wo sie auch die in Retahilas evozierten Diskussionsgewohnheiten des 19. Jahrhunderts erläutert. Emilio Castelar (1832-95) war ein konservativer Republikaner, der als großer parlamentarischer Redner in die Geschieh-

144 Im übrigen greift sie - wie auch Carmen in El cuarto de atrás und Sofia in Nubosidad variable - auf eine literarische Referenz zurück, wenn sie auf die existentielle Grunderfahrung zeitlichen Verrinnens zu sprechen kommt. Wo Eulalia den Romancero del conde Arnaldos (R, 135f.) benennt, verweist Carmen auf »Elogio« CXLI von Antonio Machado (s.o., 5.1., 61) und Sofia auf die zweite bzw. siebzehnte »Copla« von Jorge Manrique (NV, 145-147). Diese Spiegelung der Lebenserfahrung der drei Frauen im kulturellen Erbe deutet schon darauf hin, daß die 'großen' Themen immer in literarischer Mediatisierung erscheinen. In bezug auf das Zeitkonzept dient sie lediglich der Illustration und dem Verweis auf die über die Jahrhunderte immer wieder erfahrene existentielle Dimension dieses Sachverhalts. Aus der literarischen Mythifizierung von Lebenserfahrung können sich jedoch auch Konflikte ergeben, was sich im Zusammenhang mit der literarischen Konditionierung der Liebesthematik zeigen wird. An dieser Stelle ist zunächst einmal festzuhalten, daß die Kulturvermittlung über Bücher in den Texten Martin Gaites immer wieder als ein elementarer Bereich menschlicher Erfahrung hervorgehoben wird. So verweist etwa Eulalia in Retahilas wiederholt auf ihre Lektüren - oder auch einfach auf die Tatsache ihres ausgeprägten Bücherkonsums (R, 68ff.). Sehr frühe und sehr intensive Buchlektüre findet sich auch in Caperucita en Manhattan bei Sara Allen, die von einem Leben in der Buchhandlung »Books Kingdom« träumt (iCaperucita, 25f.), und bei Carmen in El cuarto de atrás: ¡Qué aglomeración de letreros, de fotografías, de cachivaches, de libros...!; libros que, para enredar más la cosa, guardan dentro fechas, papelitos, telegramas, dibujos, texto sobre texto: docenas de libros que podría abrir y volver a cerrar, y que luego quedarían descolocados, apilados unos sobre otros, proliferando como la mala yerba. (Cuarto, 16) Zusätzlich unterstrichen wird dieser Einfluß der Literatur auf das Leben der fiktiven Gestalten durch die Tatsache, daß Bücher auch immer wieder als Objekte, in ihrer physischen Beschaffenheit in Erscheinung treten. Der als »breviario« bezeichnete Band von Moretos El desdén con el desdén der Großmutter dient in Retahilas zur Illustration der Gegensätzlichkeit von Rationalität und Emotionalität (R, 203). Und der signierte Gedichtband von Antonio Machado »con aspecto de breviario« (RL, 100), den der Protagonist David in Ritmo lento von einem alten Lehrer geschenkt bekommt, ruft in diesem Text die von Antonio Machado verkörperte liberale Tradition auf und erweitert den gesamten Roman so um eine zusätzliche Bedeutungsebene (s.u., 155f.). In Nubosidad variable bildet Emily Brontés Roman Wuthering heights die wichtigste intertextuelle Referenz; er steht in seiner Gesamtheit für die rationale Realitätsperzeption ablehnende Haltung Sofias. Zu Beginn von Nubosidad variable erblickt te eingegangen ist.

145 Sofias Ehemann das Buch und kommentiert ihre Bronte-Lektüre mit der bezeichnenden Frage: »¿No comprendes [...] que seguir leyendo Cumbres borrascosas es quedarse enquistada?« (NV, 17). Wuthering heights findet also als konkretes, von Sofia immer wieder zur Hand genommenes Buch Eingang in Martin Gaites Folgetext. Zusätzlich bildet der Roman von Emily Bronté ein Verklammerungselement in der Beziehung zwischen Sofia und Mariana, welche nicht zuletzt über ihre gemeinsame Lektüreerfahrung wieder auflebt. Beide Frauen beziehen ihn immer wieder in ihre Texte ein (»Copiar para ti, Sofia, incorporados al jeroglífico general de nuestras vidas presentes y pasadas, trozos de esta novela que aún alumbra tus sueños, sería otro canal abierto entre tú y yo, tal como somos hoy, puente aéreo tendido entre nuestros recuerdos, miedos y decepciones [...].« NV, 316, vgl. 17, 28, 100, 109, 182f., 215, 228, 279, 315f., 326). Darüber hinaus berufen sich Sofia und Mariana unabhängig voneinander auf die Eingangspassage von Franz Kafkas Das Schloß (NV, 262, 283); Mariana verweist über ihren Kommentar zu den Anti-Helden aus den Werken Kafkas (»Para ellos, llegar no significa necesariamente llegar a alguna parte.« NV, 262) auf die Ziellosigkeit der modernen Lebenserfahrung. Ebenso lassen sich die von ihr aufgegriffenen Verse Fernando Pessoas (NV, 140) auf diesen Bedeutungsaspekt beziehen. Sie zitiert aus dem 28. Gedicht der Sammlung Poemas inconjuntos des Pessoa-Heteronyms Alberto Caeiro, welcher das Denken durch die Sinneswahrnehmung ersetzt sehen wollte, so daß Mariana mit dieser Referenz überdies ihr persönliches Schwanken zwischen rationaler Analyse und emotionaler Hingabe thematisiert. Später greift auch Sofia auf Pessoas Heteronyme zurück und erklärt über den Verweis auf die Identitätsspaltung des portugiesischen Dichters im intertextuellen Verfahren die Multiplizität ihrer eigenen Subjektkonstitution (NV, 197f.; s.o., 5.2., 102f.). Die Figurencharakterisierung über ihre Lektüregewohnheiten geht in Nubosidad variable so weit, daß der Roman Nada von Carmen Laforet, den Sofia und Mariana in ihrer Jugend gemeinsam gelesen hatten, als Metonymie für Sofias Person erfaßt wird. Mariana erinnert sich einmal an ihre Jugend in Barcelona, wo sie in der Calle Aribau dort ist die Romanhandlung von Laforets Roman situiert - über die gemeinsame Lektüreerfahrung die abwesende Freundin evoziert: Y en ese momento [...] me refugiaba en el recuerdo de nuestras primeras lecturas clandestinas, cuando a todos los jardines de cuento me introducías tú de la mano [...]. En una palabra, era a ti a quien echaba de menos, Aribau abajo, para contarte mis males, que venían de atrás; desde que había dejado de contártelos. Necesitaba oír tu opinión sobre casi todo. El recuerdo de nuestras cabezas juntas bajo la lámpara de mi cuarto con la novela de Carmen Laforet encima de la mesa es lo que había acarreado la añoranza de unos pasos nocturnos acompañando a los míos. [...] era a ti y no a Andrea a quien nece-

146 sitábamos encontrar. Me pareció deslumbrante aquella asociación de ideas. (NV, 216) Martín Gaites Figuren leben mit dem geschriebenen Wort, mit ihrem kulturellen Erbe; sie ziehen es zur Illustration ihrer Realitätsperzeption heran, und häufig bestimmt die Literatur die Koordinaten für ihre Identitätssuche. Zuweilen erfahren Bücher dabei eine regelrechte Personifizierung, die über die Art und Weise der Relationierung zwischen Lesestoff und Rezipient(in) Aufschluß gibt. Dies thematisiert die Autorin auch einmal in bezug auf ihre eigene Erfahrung, wenn sie in einem journalistischen Text Bücher zu sich sprechen läßt, welche sich ihr als Allheilmittel verweigern: »La culpa es tuya - dicen sin mirarme -, porque nos zarandeas y exiges unos favores que sólo concedemos graciosamente a quien no tiene los ojos nublados ni el alma en tormenta, a quien no le da igual Balzac que Conan Doyle o que Pavese o que Todorov.«12 In ihren fiktionalen Texten greift Martín Gaite immer wieder explizit auf Bildungsgut und Stofftraditionen zurück. So läßt sich über das Gesamtwerk hinweg eine bunte Mischung von Verweisen auf die kanonisierte klassische Literatur (Cervantes, Rojas, die Humanisten, das klassische Theater, die 98er Generation, auch Dante, Petrarca, Shakespeare) und auf die Kinder- und Jugendliteratur feststellen, wobei letztere über gehäuft zitierte Märchenstoffe von Perrault (Blaubart, Der kleine Däumeling, Rotkäppchen, Aschenputtel, Dornröschen), das ausgiebig verwendete Alice's adventures in wonderland {El cuarto de atrás ist Lewis Carroll gewidmet) und Elena Fortúns Ce//a-Geschichten bis zu Abenteuerliteratur wie Defoes Robinson Crusoe oder Stevensons Treasure island reichen.13 Se nos pasó la hora de la merienda, sin darnos cuenta, hablando de Peter Pan, de Sherezade y de muchos otros amigos comunes. Y fue como si aquel día los narradores de los árboles hubieran madrugado y se fueran descolgando de las

12 Carmen Martín Gaite, »Ponerse a leer«, in: Martín Gaite 1982, La búsqueda..., 193-195, 195 (Erstveröffentlichung in Diario 16, Januar 1977). Vgl. zur Personifizierung in diesen Zusammenhang auch die Vorstellungen Saras von in den Büchern lebenden Kobolden in Caperucita, 25f„ oder die von Sofias Tochter Encarna imaginierten Geschichten erzählenden kleinen Männer in NV, 28$. 13 Hier nur eine Auswahl an Belegen: Referenzen an Cervantes finden sich in Cuarto, 37f„ 66, lOOf., 125 und in Cuento (s.o., 5.1., 81f.); an die Celestina in Fragmentos, (s.u., 156f.), R, 226, NV, 247, Caperucita, 83, 151, 161; an die 98er Generation in Cuarto, 69 (Unamuno), in RL (s.o., 144, s.u., 156), Cuarto, 45ff. und NV, 101, 320 (A. Machado); an das klassische spanische Theater in R (203, Moreto; 54, autos sacramentales) und Cuarto (66, Entremeses); an Dante in R, 40, Caperucita, 127; an Shakespeare in RL, 42, 210 (Hamlet), R, 54, 111 (Macbeth) und NV (Romeo and Juliet, 247 sowie 377); an die Humanisten in Cuarto, 149 (Erasmus von Rotterdam) und Caperucita, 205 (Pico della Mirandola); an Alice's adventures in wonderland in CC, 284, Cuarto (Motto), Caperucita, 152t, 162, NV, 35f. , 290; an Märchenstoffe in Cuarto, 157, 167, Fragmentos, 99 (Blaubart), Caperucita, 123, NV, 32 (Aschenputtel), Cuarto, 105, 112, 116, passim, R, 89 (Der kleine Däumeling), NV, 23, 27, 148 (Dornröschen) und natürlich Caperucita in seiner Gesamtheit; an Robinson Crusoe in Cuarto, 179, 183, 189, 194, Caperucita, Iii., 36, NV, 84; an Treasure island in Caperucita, 154; an Elena Fortún im Motto des ersten Teils von Caperucita sowie in NV, 290, 355.

147 ramas para sentarse a nuestro alrededor a medida que los íbamos nombrando: Andersen, Lewis Carrol [s/'c], Stevenson, Collodi, Elena Fortún, Daniel Defoe, Perrault, Julio Verne, Salgari. (NV, 290) Darüber hinaus umfassen die intertextuellen Verweise auch triviale Genres wie Feuilletonromane (R, Cuarto) oder die im Nachkriegsspanien verbreitete Evasionsliteratur der »novela rosa« {Cuarto, NV) sowie folkloristische Musikformen des »mundo de la midcult de los años cincuenta [...], la ostra de la cultura oficial de masas«14 (Cuarto, NV, Palo). In der Kombination von Kinderliteratur und Populärkultur mit intellektuellem Bildungsgut (die sich übrigens auch in den Motti vieler Texte belegen läßt) liegt eine Besonderheit des Gesamtwerks begründet. Der bildungsbürgerliche Literaturkanon wird durchaus kritisch gesehen, wenn Eulalia in Retahilas behauptet, die Serienromane ihrer Kindheit seien »más que Dante o Faulkner« (R, 40) für sie gewesen oder Carmen in El cuarto de atrás eher ironisch auf die intellektuelle Pflichtlektüre' Joyce Bezug nimmt (Cuarto, 41). Obwohl nahezu alle Figuren Martin Gaites über einen ausgesprochen weiten Bildungshorizont verfugen, klingen doch immer wieder Vorbehalte gegenüber einem elitären Intellektualitätskonzept an. Diese Haltung liegt wohl in der über die Texte vermittelten Art der Interdependenz von Literatur und Welterfassung begründet, der sich die anschließenden Überlegungen zuwenden werden. 5.4.2. 'Literarische Menschen': Intertextualität und Persönlichkeitsbildung Das Leben mit Büchern bewirkt bei den Figuren Martin Gaites mitunter eine regelrechte Identifikation mit Romaninhalten und -figuren. Unter den Protagonist(inn)en finden sich immer wieder 'literarische Menschen1, die ihre Lektüreerfahrung auf die reale Lebenswirklichkeit projizieren, Intertextualität zu einer Art Realitätsperzeption umfunktionieren.15 So orientiert Eulalia in Retahilas ihre Ideale an der Literatur und weist auch diskursiv immer wieder auf die Relevanz ihrer Jugendlektüre für diese Selbstinszenierungen hin. Der für ihre Person - und auch für die Figur der Mariana in Nubosidad variable - charakteristische Konflikt zwischen Rationalität und Emotionalität, Intellekt und Gefühl findet seinen Ausdruck in zwei gegenläufigen literarischen Modellen. Die irreale, vor Sehnsucht sich verzehrende und eindeutig modernistischen Vorstellungen verpflichtete Adriana, Romanheldin eines Fortsetzungsromans, bildet das erste Identifikationsmodell für die achtjährige Eulalia, die sich in ihre Lektüre regelrecht hineinbegibt; »era tal el deseo de intrincarse por aquellos renglones apreta14

Matamoro. 600.

15

Der Begriff'literarischer Mensch' geht auf Bachtin zurück. 'Literarische Menschen' treten im Roman auf, wenn dort Realität und Literatur gegeneinander aufgewogen werden. Vgl. Michail Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, hg. von Rainer Gräbel, Frankflirt/Main 1977, 291.

148 dos, de viajar, de volar a su través que todo en torno desaparecía« (R, 32).16 Die imaginär erfahrenen Gefühle sind für sie auch nach ihren ersten realen Liebeserlebnissen ungleich intensiver: [D]e repente se ponía a respirar en mí otro ser de ficción que me marcaba y habitaba con sus derivaciones de vida y sufrimiento. Y así supe lo que es consumirse de esperanza, amar en la ausencia, recordar peligros y dulzuras recién vividos, palpitar acechando una vereda en sombras, apretar con vehemencia una carta de amor imaginaria, llorar desvíos injustificables; emociones precursoras de las que más tarde, al sustentarse sobre argumentos reales, no sólo conocía ya sino que las sentí más falaces, menos genuinas que las de esos veranos de la infancia cuando en cada anochecer venía a ser sustituida por la protagonista de la historia que estuviera leyendo; (R, 39) Später versucht Eulalia zu einem Alternativmodell überzugehen: »Del caos de novelas de mi infancia había trepado luego a otras lecturas y el veneno bebido en aquellas historias clandestinas lo había relegado a zonas subterráneas y malditas de las que renegaba con implacable ardor« (R, 147). Ihr neues literarisches Vorbild wird die rationale Marquise de Merteuil aus Laclos' Liaisons dangereuses\ Laclos pulverizaba el concepto de amor arraigado en Occidente, su heroína lo era por revolverse contra lo sublime, contra aquellos modelos ancestrales de conducta amorosa, al atreverse a demostrar que la única verdad del amor radicaba en su trampa; hice mi catecismo de aquel libro y de allí en adelante la señora Merteuil cínica, descreída, artífice de su propio destino, destronó a las mujeres de la raza de Adriana, palpitantes de amor, luchando entre deseo y raciocinio [...]. (R, 148)17 Doch letztlich mißlingt die Adaption dieses zweiten Modells; »aquellos cánones de pasión de los folletines seguían vigentes en cierta manera, por mucha madame de Merteuil que hubiera intentado venir a triturarlos« (R, 151). Auf dem Höhepunkt ihrer persönlichen Krise reiht sich Eulalia in eine ganze Heerschar fiktiver verlassener Frauen ein: [L]o peor era que cuanto más ridicula me veía, más ganas me entraban de echarle a él la culpa en plan de novela pasional; todo el veneno de esos folletines de los que tanto he renegado en la vida se me desbordaba de sus diques y 16 Eulalias Evokation von Adriana beinhaltet außerdem eine aus dem modernistischen Zusammenhang ableitbare erotische Komponente, und so sieht sie in der Lektüre während ihrer Sommerferien auch ihre »primera noción de pecado« (R, 33). Vgl. Litvak zum erotischen Aspekt in dieser literarischen Folie. 17 Aus diesen sich gegenseitig ausschließenden Konzepten läßt sich als Gesamtaussage von Retahilas eine Kritik binaristischer Modelle herausarbeiten. Vgl. Elizabeth Ordóñez, »Talking herself out: Articulating the quest for other texts in two narratives by Carmen Martin Gaite«, in: Ordóñez 1991, 77-100.

149 la marea vengativa venia a incrementarse con imágenes de películas y lecturas posteriores, una procesión de heroínas pálidas con los ojos llorosos y el corazón en ascuas escribiendo cartas que no han de recibir jamás contestación, esperando al amante que no viene, echándole en cara su perfidia, muchachas de los cancioneros galaico portugueses a las que el mar aisla en una roca [...], esposas engañadas del teatro clásico, Ana Karenina después de su caída, los rostros de Joan Fontaine y de Ingrid Bergman en secuencias sentimentales borrosas, la monja sor Mariana Alcoforado, todas se me agolpaban en el recuerdo prestándome su idioma exaltado y divino, tentándome con él. (R, 196f.)18 Die von Martín Gaite in Retahilas erstmals ausführlich behandelte Problematik intertextuell geleiteter Lebenserfahrung wird auch in den nachfolgenden Texten der Autorin immer wieder thematisiert. So erörtert El cuarto de atrás ähnlich wie Retahilas den Einfluß literarischer Vorgaben auf die persönliche Entwicklung der Protagonistin, »es muy importante el papel que jugaron las novelas rosa en la formación de las chicas de los años cuarenta« (Cuarto, 138). In diesem Text wird die Bedeutung der »novela rosa« samt ihres von staatlicher Seite geförderten Evasionscharakters in der Nachkriegszeit sowohl diskursiv aufgegriffen als auch über die Selbstinszenierungen der Erzählerin als Heldin einer solchen »novela rosa« integriert, wobei über den gesamten Verlauf des Textes eingestreute Vergleiche der Gesprächssituation der Erzählgegenwart mit der Handlungskonstellation einer »novela rosa« diese intertextuelle Relation unterstützen; »es difícil escapar a los esquemas literarios de la primera juventud, por mucho que más tarde se reniegue de ellos« (Cuarto, 141).19 Stärker als in Retahilas wird die Motivation einer solchen 'literarischen' Wirklichkeitserfahrung erläutert: »[L]o que importa es tener en cuenta los modelos literarios que influyen en las conductas, ¿no?, no tiene más que echar una mirada a la literatura universal, no encontrará una sola obra donde los grandes amores no se asienten sobre la carencia de satisfacciones reales« (Cuarto, 181). Offensichtlich tendieren die Figuren Martín Gaites immer dann zu einer solchen literarisch motivierten Verbrämung ihrer Erfahrungen, wenn es um die Liebe geht. Auch Nubosidad variable zeigt ganz deutlich, wie bei Sofia und Mariana 18 Martin Gaite sieht Übrigens Flauberts Roman Madame Bovary, den sie ins Spanische übersetzt hat, als Prototyp literarisch vermittelter Weiblichkeit, an der die Titelheldin letztlich scheitert. Auch Emma Bovary inszeniert sich als literarische Figur. Martin Gaite kommentiert: »Está dicho con toda claridad; no le interesaba el amante, sino la imagen que ella componia al tenerlo; su comportamiento se limitaba a acoplarse a modelos que había puesto en boga el romanticismo, al reconocerles a las mujeres su derecho a la pasión. Flaco servicio.« »De madame Bovary a Marilyn Monroe«, in: Martin Gaite 1982, La búsqueda..., 133-146, 140 (Erstveröffentlichung in Triunfó). Für Eulalia konstruiert Martin Gaite eine sehr ähnliche Art der literarischen Konditionierung von Weiblichkeit, deren Problematik diese Figur in aller Deutlichkeit thematisiert. 19 Verweise auf die »novela rosa« finden sich auf S. 38ff, 58, 64, 94, 114, 138, 140f.,143f., 158, 181f„ 183, 184, 190. Vgl. ferner zur Präsenz der »novela rosa« in F,¡ cuarto de atrás Isabel M. Roger, »Recreación critica de la novela rosa en El cuarto de atrás«, in: Romance Notes, 27, 1986/87, 121-126.

150

literarische Vorbilder aktiviert werden, sobald sie über ihre Liebesbeziehungen berichten. So bedient sich Sofia zur Beschreibung unerfüllter Liebessehnsucht Rubén Daríos Sonatina, wobei sie die Lyrik Darios einerseits wegen deren modernistischer Manieriertheit kritisiert, »[s]on demasiados cisnes y nenúfares y caballos con alas que hacia acá se encaminan« (NV, 206); andererseits jedoch gibt gerade der hohe Grad der Stilisierung dieses Gedichtes Aufschluß über die literarische Vorbelastung der später berichteten Liebeserfahrung (NV, 245ff.).20 Diese wird wie eine Szene aus einem Spielfilm beschrieben, was auf die von Martin Gaite unterstrichene Tatsache zurückzufuhren ist, daß nicht nur die Literatur, sondern auch die Kinematographie in bezug auf die Anlehnung an kulturell vorgegebene Verhaltensmodelle von großer Bedeutung ist.21 Darüber hinaus manifestiert sich die kulturelle Prägung dadurch, daß die Passage mit Anspielungen an Liebende aus der kanonisierten Literatur versetzt ist (NV, 244, 247). Mariana kritisiert zwar diesen »empacho de literatura« (NV, 160) ihrer Freundin: »Mariana opinaba que me estaba envenenando con tantas historias de amor literarias y que aquellas pistas falaces de las novelas y del cine me iban a despistar cuando intentara aplicarlas a mi propia historia« (NV, 247). Doch fallt auch sie zurück in durch die »novelas rosa« geprägte Frauenbilder. An einer Stelle beruft sie sich auf Carmen de Icaza, eine in der Nachkriegszeit sehr berühmte - und auch schon in El cuarto de atrás erwähnte (Cuarto, 94) - Autorin von »novelas rosa« (NV, 55)22 und bringt später in einem Bewußtseinsstrom ihre konfliktiven Beziehungen zum konventionellen Weiblichkeits- und Liebesdiskurs deutlich zum Ausdruck: Acerca de ese tema me consideraba incapaz de contestar nada a derechas, no tenía ni idea, ¿Raimundo?, ¿qué Raimundo?, suspenso, estaba en blanco. ¿Lloró usted hace días por causa de Raimundo?, ¿cuántos días?, Ercilla de apellido, algo recordará, ¿yacieron juntos?, ¿y con qué intenciones? Háblenos de las promesas que intercambió con él, de sus sueños de novia dispuesta a consagrar el resto de su vida al ser amado. Mariana León Jimeno, ¿os otorgáis como esposa a Raimundo Ercilla del Río, lo recibís como legítimo dueño y marido en la dicha y en la tribulación, en la salud y en la enfermedad, hasta que la muerte os separe? Esperad un momento, reverendo señor, no sé quién es Raimundo, no me acuerdo siquiera de su voz, dadme un plazo para pensarlo, para saber, al menos, si estoy soñando o no. ¿Qué te pasa, Mariana, cariño?, te has puesto pálida, supongo que se debe a la emoción; así terminan, te 20

Die Sonatina von Rubén Dario ist übrigens auch in El cuarto de atrás als intertextuelle Referenz eingearbeitet. Vgl. Cuarto, 64, dort in bezug auf die wiederum literarisch mediatisierte Vorstellung der Protagonistin vom Leben der Tochter Francos, Carmencita.

21 »El vehículo ñuidamental que ñja y pone en circulación tales modelos de conducta es la literatura, o al menos lo ha sido hasta la aparición del cine.« Martín Gaite 1987, Usos amorosos del dieciocho..., XV. 22

Vgl. zu Carmen de Icaza, Pérez 1988, 42f.

151 lo recuerdo, las novelas de amor con happy end ocultas en los repliegues de tu subconsciente, ¿y no era éste el final que ambicionabas? (NV, 325f.) So veranschaulichen die Texte Martín Gaites, wie die Liebeskonzepte ihrer Heldinnen kulturell vermittelt sind und wie sie sich mit den hieraus sich ergebenden Konsequenzen auseinandersetzen. »A la adolescente solitaria y soñadora los libros que más le gustan son los que cuentan historias de amor. Y a través de ellos reinventa un sentimiento que ensaya a tientas y que condicionará su comportamiento futuro cuando encuentre al amante de carne y hueso. Y eso es lo malo.« 23 Diese literarische Vereinnahmung kann den Blick auf die Wirklichkeit verstellen, was auch von Isabel in Fragmentos de interior deutlich kritisiert wird, wenn sie die Liebe als »mentira, literatura, veneno que esclaviza a las mujeres incapaces [...] de reaccionar a tiempo« (Fragmentos, 186) bezeichnet. Gerade die unzulängliche Erfahrung der Wirklichkeit ist es ja, die den Rückgriff auf den kulturellen Fundus beim überwiegenden Teil der weiblichen Figuren Martin Gaites motiviert. Doch kann erst die konstruktive Auseinandersetzung mit den vorgefundenen Modellen aus einer solchen literarischen Befangenheit herausfuhren. Eine solche Auseinandersetzung führen die kindlichen Heldinnen Sorpresa {Pastel) und Sara Allen (Caperucita) vor; beide begeben sich auf die Suche nach Selbstbestimmung in persönlicher Freiheit, indem sie literarische Vorgaben modifizieren, um ihrem restriktiven Kinderalltag zu entgehen. Sara Allen sieht in Robinson Crusoe, Alice's adventures in wonderland und Rotkäppchen eine geeignete Ausgangsposition (»la aventura principal era la de que fueran por el mundo ellos solos, sin una madre ni un padre que los llevaran cogidos de la mano, haciéndoles advertencias y prohibiéndoles cosas«, Caperucita, 22) wie auch Sorpresa literarische Helden bei ihrer Identitätssuche Hilfestellung bieten {Pastel, 101). Zunächst einmal setzt aber auch Sara alles für sie Außergewöhnliche, Interessante, Nicht-Alltägliche mit Romanstoffen gleich, bevor sie Romane überhaupt erst rezipiert hat: »Claro que Sara, por muy lista que fuera, no había leído todavía ninguna novela, pero cuando luego las leyó, se acordaba de cómo pensaba de chiquitita en la casa de Momingside y supo que había sido para ella una casa de novela« {Caperucita, 28). Eine solche Verklärung der Literatur weist immer direkt auf in der alltäglichen Lebenspraxis konstatierte Defizite zurück; im Alltagsleben unerfüllte »sed de protagonismo« {Cuento, 72) wird kompensiert durch die aktive Partizipationsmöglichkeit, welche in literarischen Vorlagen gewährleistet zu sein scheint. 24 »Las mujeres novele23

Martín Gaite, »La mujer...«, Vortrag 27.4.1990.

24

»La literatura, como contrapartida, siempre nos permitió participar, desde una especie de grato escondite, en las escenas representadas ante nuestros ojos fascinados y ansiosos, agarró con fuerza aquella mano implorante que tendíamos al vacío, nos asomó al proceso que transforma las conductas y urde las historias, nos enseñó por primera vez en la vida la trampa de esa vida y empezó a desvelamos porqué las personas son como son, sufren como

152 ras«, so der Titel eines Abschnitts aus El cuento de nunca acabar, übernehmen durch die Identifikation mit Romanhelden vor allen Dingen deren Fähigkeit, Erlebnisse zu vermitteln: [Los seres de ficción, d.V.] [n]os parecen excepcionales en la medida en que supieron analizar y contar lo que les estaba pasando, desde ahí es desde nos tienden la mano invitándonos a ser excepcionales nosotros también. "Tú puedes hacer lo mismo que yo - nos susurra el protagonista de la ficción -. Para vivir la vida como una novela, basta con que cuentes lo que te pasa o lo que desearías que te pasara. Si no tienes a quién contárselo, cuéntalo para ti; yo también estaba solo. {Cuento, 75) So bildet wieder die Erfahrung individueller Einsamkeit den Ausgangspunkt für den Zugriff auf die Literatur als Kompensationsmedium; sie motiviert Sorpresas Imagination vom Eintritt in die »Casa Grande« und fuhrt wieder zurück zu den imaginären Eskapaden und der Wirklichkeitserfahrung auch anderer Romanfiguren Carmen Martin Gaites, die immer geleitet sind von einschlägigen Lektüreerfahrungen: »Supondría por nuestra parte una ciega arrogancia atribuirnos la exclusiva paternidad de un relato cuyas riendas ellos [los modelos literarios, d.V.] nos ayudaron a llevar« (Cuento, 76f.). Dieser Rückgriff auf literarische Verhaltensvorgaben ist nun keineswegs ausschließlich weiblich besetzt, sondern reicht bekanntlich bis zu Cervantes' Don Quijote zurück; doch gewinnt er in bezug auf die weibliche Realitätsperzeption insofern besondere Brisanz, als Frauen über ihre Identifikation mit literarischen Vorgaben ja wiederum auf Modelle zurückgreifen, die zu einem großen Teil vom Patriarchat erst hervorgebracht worden sind. Auf jeden Fall scheint die Auflösung der Grenze zwischen Literatur und Realität, die - »somos seres tan alimentados de vida como de literatura«,25 - für die literarische Tätigkeit Martín Gaites in ihrer Gesamtheit charakteristisch ist, durch einen Mangel an weiblicher gesellschaftlicher Beteiligung hervorgerufen zu werden. So begründet sich dann auch die Tatsache, daß die Autorin diesen Aspekt schließlich doch explizit auf die weiblichen Lebensumstände zumindest bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts und auf die Motivation von Frauen zur literarischen Kreativität als Mittel der Kompensation bezieht. Ninguna mujer que decide coger la pluma ha dejado de sentir antes, casi siempre en la primera infancia, una cierta incapacidad para distinguir el mundo de los sueños del mundo de la realidad. [...] La futura inventora de vidas ajenas ha soñado mucho - de niña y también de adolescente -, porque en general, se ha sentido más oprimida que sus hermanos y que sus amigos, y ha tenido me-

sufren y mienten como mienten« (Cuento, 73). 25 Martín Gaite, »Brechas...«, Vortrag 9.7.1990.

153 nos ocasiones de aventura, por eso los suyos suelen ser unos sueños generalmente de fuga.26 Die Heldinnen Sara, Sorpresa, Carmen, Eulalia und Sofía zollen einer solchen literarisch motivierten Realitätsperzeption Tribut und sind in diesem Sinne zum Schreiben prädestiniert. Literatur kann für 'literarische Menschen' also eine Bereicherung sein, wobei der Aspekt des Scheiterns an der Realität wegen der Anlehnung an literarisch verzerrten Vorlagen, welches Figuren wie Emma Bovary oder Don Quijote prägt, in den Texten Martin Gaites immer wieder in seiner ganzen Problematik aufgegriffen wird. Jüngere Texte der Autorin exemplifizieren eine positivere Relationierung mit literarischen Modellen, die gleichwohl eher auf imaginäre denn real erlebte Abenteuer und auf den Erfahrungsbereich von Kindern eingeschränkt erscheint. Gerade die Folien, auf die Frauen zur Kompensation der Defizite ihrer Alltagserfahrung zurückgreifen, erweisen sich ja wiederum als ideologietragend, so daß erst die reflexive Auseinandersetzung mit diesen Vorgaben - und nicht allein der Verweis auf den reinen Sachverhalt literarischer Realitätsperzeption - einen tatsächlichen Fortschritt für die weibliche Subjektkonstitution bedeuten kann. 5.4.3. Intertextualität und Textstruktur Das Phänomen der Intertextualität beschränkt sich nicht auf die Figurenebene, sondern kann literarische Texte auch in ihrer Gesamtheit determinieren, wenn Gestaltungselemente von Einzeltexten (Einzeltextreferenz) oder literarischen Genres (Systemreferenz) übernommen werden und auf diese Weise handlungsstrukturelle Entsprechungen, aber auch Abweichungen entstehen.27 So ist etwa Entre visillos in einer erweiterten intertextuellen Lesart wiederum in eine Beziehung zur »novela rosa« als deijenigen Textsorte zu setzen, welche in der Nachkriegszeit überwiegend von Frauen verfaßt und rezipiert wurde. In dem als Nebentext zu Entre visillos lesbaren Kapitel aus Martin Gaites Essayband Desde la ventana »La chica rara« hat die Autorin diese Referenz thematisiert; ausgehend von Carmen Laforets Nada beschreibt sie eine Anzahl von Frauen verfaßter Romane, welche das in das happy end der Ehe mündende einschlägige narrative Muster der »novela rosa« dekonstruieren. Die Protagonistinnen dieser Romane der vierziger und fünfziger Jahre, denen auch Entre visillos zuzurechnen ist, lassen eine »chica rara« diese Desillusionierung erfahren; »la "chica rara" [...] empezaba a convivir con una idea inquietante, difícil de encajar y de la que cada cual se defendía como podía: la de que no existe el amor de novela

26

Martin Gaite, »La mujer...«, Vortrag 27.4.1990.

27

Vgl. zu Einzeltext- und Systemreferenz Ulrich Broich / Manfred Pfister / Ulrich Suerbaum, »Bezugsfelder der Intertextualität«, in: Broich/Pfister. 48-77.

154 rosa«.28 Entre visillos stellt in Natalia und Elvira tatsächlich solche »chicas raras« vor, und die Sequenz mit der verheirateten Josefina (EV, 235ff.) scheint eigens eingefugt zu sein, um das Eheleben negativ darstellen zu können, da im Romanablauf kein weiterer Handlungszusammenhang besteht. Daß die Systemreferenz der »novela rosa« zur Zeit des Erscheinens von Entre visillos zumindest vom weiblichen Lesepublikum sicherlich erfaßt wurde, läßt zusätzlich der Bezug auf einen Einzeltext vermuten, der aus Martín Gaites Usos amorosos de la postguerra española zu erschließen ist. Sie schreibt dort über die Träume eines jungen Mädchens: »Le diría, por ejemplo, "Te rapto para mí", como Felipe Arcea a Sol Alcántara en la novela Vestida de tul, literalmente devorada por las jovencitas de postguerra.«29 Es handelt sich hier um ein Zitat aus einem Roman von Carmen de Icaza, das in Entre visillos aufgerufen wird, als sich Manolo mit eben diesen Worten an Marisol wendet (EV, 71), und dessen Bedeutungsüberschuß also zur damaligen Zeit mit großer Wahrscheinlichkeit identifiziert werden konnte. El cuarto de atrás greift diese Thematik nochmals auf und nennt einschlägige Vertreter der Trivialliteratur über Marlitt, Elisabeth Mulder, Berta Ruck, Pérez y Pérez bis zur schon genannten Carmen de Icaza (Cuarto, 141).30 Die formulierten Zweifel an den happy ends dieser Texte werden hier aus der zeitlichen Distanz heraus von der Protagonistin - ohne Zweifel auch einer »chica rara« - thematisiert (»¿por qué tenían que acabar todas las novelas cuando se casa la gente?«, Cuarto, 92), so daß auch der spätere Roman der Autorin als Nebentext für die intertextuelle Bedeutungskonstitution von Entre visillos gelesen werden kann. Mit Entre visillos nimmt ein literarischer Text in seiner Gesamtheit Bezug auf das als Ideologieträger fimktionalisierte Genre der »novela rosa«, die Anlage des Romans bildet eine direkte Reaktion auf das literarisch vermittelte Weiblichkeitskonzept seiner Zeit. In »Retirada« ist die für die Kurzgeschichte sinnkonstituierende intertextuelle Referenz wesentlich deutlicher markiert. Hier wird nicht wie in Entre visillos ein systemreferentieller Bezug auf ein ganzes Textgenre etabliert; die Erzählung zieht für die Bedeutungskonstitution vielmehr eine Einzeltextreferenz heran, indem in ihrem Verlauf die falangistische Hymne »Cara al sol«, also ein offiziell affirmierter Text, dekonstruiert wird. Die kurze, aber komplexe Erzählung vergleicht den Heimweg einer Mutter mit ihren beiden Töchtern mit einer »retirada a cuarteles« (CC, 159), um die patriotisch-glorifizierende Frühlingsmetaphorik des Verses »volverá a reír la primavera« des

28

Carmen Martín Gaite, »La chica rara«, in: Martín Gaite 1987, Desde..., 87-111, 108, 109f. In diesem Zusammenhang gewinnt auch die Anspielung auf Nada in Cuarto (66) und NV (215Í, s.o., 145f.) zusätzlichen Bedeutungsgehalt.

29

Martin Gaite 1987, Usos amorosos de la postguerra...,

30

Martín Gaite nennt Icazas Roman Cristina Guzmán, profesora de idiomas, der weit verbreitet war und in viele Sprachen übersetzt wurde. Zu Carmen de Icaza s. Anm. 22, zur ebenfalls systemkonformen Elisabeth Mulder vgl. Pérez 1988, 52ff.

141.

155 »Cara al sol« (»"impasible el ademán", bajo el sol de primavera, calle abajo, cara al sol, sí, hasta música de himno se le podía poner al comienzo marcial del desfile que inauguró la tarde«, CC, 160) mit dem eintönigen weiblichen Lebensalltag in Verbindung zu bringen und auf diese Weise zu entmythifizieren: La primavera era una palabra sobada, un nombre con pe lo mismo que patata, que portal, lo mismo que peseta y que perdón señora, un nombre como esos, que nada tenía que ver con la ninfa coronada de flores del cuadro de Boticelli [Í/C]; la moral falla a veces, mejor reconocerlo y confesar que la tentación de herejía venía incubándose en su sangre casi desde que entraron en el parque y el ejército se desmandó campando por sus fueros y respetos, desde que vio a los otros jefes cotilleando al sol inmersos en la rutina de sus retaguardias, desde aquel mismo momento le empezó a bullir el prurito de la retirada, aun cuando consiguiera todavía mantenerlo a raya bajo el imperio del himno, a base de echarle leña a aquel fuego retórico que la convertía a ella en un capitán distinto de los demás, esforzado, amante del riesgo, inasequible al desaliento, engañosas con-signas, bien a la vista estaba ahora que la retirada era patente, de inasequible nada, un puro desaliento era este capitán. (CC, 161) Das intertextuelle Spiel durchzieht den gesamten Text und findet mit der Pförtnerin, deren Name 'Victoria' den Siegesgedanken ironisiert, seinen Abschluß: »Victoria caradezanahoria ha tenido apenas tiempo de acariciarles al pasar la cabeza, pero ha sido bastante, bajo el espaldarazo de la victoria van« (CC, 164). Diese letzte Bemerkung bringt neben dem Aspekt des siegreichen Heeres durch das Streicheln der Kinder zusätzlich »sensiblerías patrioteras« (CC, 160) ins Spiel, die zuvor abschätzig kommentiert worden waren. Die Konfrontation männlicher Siegeseuphorie mit dem weiblichen Lebensalltag zeigt sehr klar, daß Frauen im ideologischen Raster der franquistischen Gesellschaftsordnung nur eine inferiore Stellung zukam. So etabliert »Retirada« ein komplexes Spannungsverhältnis zwischen Prä- und Folgetext und gibt ein prägnantes Beispiel für die gesellschaftliche Relevanz intertextueller Textbildungsverfahren.31 In Ritmo lento wird der Prozeß umgekehrt: Intertextualität bedeutet hier nicht die Dekonstruktion eines regimekonformen, sondern die Integration eines in seiner Gesamtaussage regimekritischen Textes. Der Roman etabliert ein komplexes Netz intertextueller Bezüge durch das Motto aus Machados Juan de Mairena,32 durch die im Text 31

Auch in El cuarto de atrás findet sich übrigens ein Verweis auf das »Cara al sol« (Cuarto, 58), welches die nationalistische Stimmung des Nachkriegsspanien zum Ausdruck bringt.

32

Martin Gaite zitiert etwas ungenau: »Pensar es deambular de calle en calle, de calleja en callejón, hasta dar con un callejón sin salida«: das Original lautet: »Pensar es deambular de calle en calleja, de calleja en callejón, hasta dar en un callejón sin salida«. Das Zitat steht - wie der ganze Juan de Mairena - in einem pädagogischen Kontext. Antonio Machado, Juan de Kíairena. Sentencias, donaires, apuntes y recuerdos de un profesor apócrifo.

156 verstreuten Aufgriffe der »callejón sin salida«-Thematik (RL, 203, 275), durch die Juan de Mairena-Lektiire des Protagonisten (RL, 99), durch das Geschenk des schon erwähnten signierten Gedichtbands Antonio Machados (RL, 100) und über weitere im inneren Kommunikationssystem verankerte Aspekte wie den Aufenthalt des Protagonisten in der Machado-Stadt Soria oder die Erziehungsthematik. Zatlin hat zudem hierüber hinausreichende Entsprechungen zur Generation von 1898, namentlich zu Texten von Baroja und Unamuno, festgestellt.33 Überdies entspricht die Anlage des gesamten Romans derjenigen einschlägiger Werke der 98er-Generation in weiten Zügen, so daß das intertextuelle Verfahren nicht nur durch das Motto weit über die Figurenebene hinaus strukturell integriert erscheint.34 Carmen Martin Gaite läßt auf diese Weise die Werte einer liberalen Tradition angesichts der zensurpolitischen Anforderungen der Zeit gleichsam 'durch eine Hintertür' Eingang in ihren Text finden. Indem sie hierfür Machados Juan de Mairena heranzieht, entscheidet sie sich für eine klare gesellschaftspolitische Stellungnahme, die auch dreißig Jahre nach Erscheinen des Romans noch Aktualität besitzt, wurden doch gerade die demokratischen Ideale des apokryphen Lehrers Juan de Mairena in jüngster Zeit als Ausdruck exemplarischen liberalen Denkens hervorgehoben.35 Auch die Bedeutung von Fragmentos de interior konstituiert sich nicht zuletzt über ein intertextuelles Vorgehen, für das allerdings weniger als für die obengenannten Texte eine konkrete Motivation durch die Zeitumstände hergeleitet werden kann. Vielmehr thematisiert der Roman wiederum - nun auf Strukturebene - die literarische Mediatisierung des Liebeskonzeptes, wie sie schon bei einer Vielzahl von Frauencharakteren festgestellt wurde. Der Roman nimmt Bezug auf den klassischen Literaturkanon, indem er zunächst im inneren Kommunikationssystem einen Vergleich zu Fernando de Rojas' La Celestina aufnimmt. So bezeichnet Jaime Luisa einmal als 'Melibea' (Fragmentos, 94), erklärt ihr diese Referenz etwas später mit der Charakterisierung 1936, hg. von José Maria Valverde, Madrid 1971, 116. 33

Vgl. Phyllis Zatlin Boring, »Carmen Martin Gaite and the Generation of 1898«, in: Romance Notes, 20, 1979/80, 293-297. Zatlin weist allerdings darauf hin, daß diese Aber die im Text markierten Referenzen hinausgehenden intertextuellen Bezüge von Martin Gaite nicht bewußt intendiert sind.

34

»Das thematische Zentrum des 98er Romans bildet die Darstellung einer Persönlichkeit, bisweilen deren Entwicklung, die im Bewußtwerden einer tragischen Wirklichkeit besteht; diese Persönlichkeit ist im allgemeinen ein Ausnahmecharakter, häufig zwischen Willensstärke und Willensschwäche schwankend, bisweilen auch neurotisch; die Darstellung konzentriert sich auf diesen Helden, die Handlung ist ereignisarm und besteht im wesentlichen in exemplarischen Diskussionen; Beschreibungen der äußeren Welt, des Aussehens der Personen etc. werden kaum gegeben.« Winfried Kreutzer, Grundzüge der spanischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Darmstadt 1982, 100. Diese Parallele geht natürlich - wie auch die Beobachtungen Zatlins - über markierte intertextuelle Referenzen hinaus, sie wird hier aber ausnahmsweise erwähnt, da sie die in Ritmo lento Uber den Bezug zu Antonio Machado mehrfach aufgerufenen Entsprechungen zur 98er Generation vertiefen.

35

Vgl. Neuschäfers Ausfuhrungen über »Juan de Mairena und die Utopie einer spanischen Demokratie«, 275-291: »Seine [Machados, d.V ] nicht weniger bedeutende Prosa, allem voran die Sentenzensammlung des Juan de Mairena, ist auch in Spanien selbst erst unlängst und zwar gerade bei der. Suche nach Möglichkeiten einer historischen Fundierung der demokratischen Legitimation, neu entdeckt worden« (276f ).

157 Melibeas als »[l]a enamorada más grande de todos los tiempos« (Fragmentos, 129) und wiederholt diese Anrede noch einige Male (Fragmentos, 131, 132). Luisa hatte sie schon vorher intuitiv als »nombre de princesa« {Fragmentos, 100) gewertet (wobei allerdings die Tatsache, daß Luisa als Tochter eines Lehrers nicht fähig ist, die Referenz zu identifizieren, in der Anlage des Romans eine Schwachstelle darstellt).36 Luisas Desillusionierungsprozeß vollzieht sich am Ende des Romans über die Ablehnung der literarischen Vorstellung von der Märchenprinzessin, so daß die intertextuelle Referenz in die Textstruktur integriert erscheint. Das tragische Liebeskonzept der Celestina, in dem Melibea ihrem Geliebten in den Tod folgt, wird von Luisa mit einem dreimal wiederholten »princesa de mierda« (Fragmentos, 192, 193) aufgegeben und bietet ihr (im Gegensatz zu Agustina, die tatsächlich aus Liebeskummer Selbstmord begeht) keine Alternative. Indem dieser Bedeutungskomplex durch die Integration einer langen auktorialen Passage mit den Weiblichkeitsmodellen der Boulevardpresse in Verbindung gebracht wird (s.o., 5.2., llOf., Fragmentos, 191f.), erfährt die rein klassische Referenz eine zusätzliche Aktualisierung, so daß auch hier eine Kritik an der Ideologisierung von Weiblichkeit in den Romantext Eingang findet. Mit Retahilas wird eine neue Qualitätsstufe intertextueller Textorganisation erreicht; der Roman etabliert ein ganzes Netz intertextueller Verweise, das sich sowohl auf die Gesprächs- als auch auf die Rahmenhandlung erstreckt. In der Rahmenhandlung ergeben sich Reminiszenzen an Emilia Pardo Bazáns Los pazos de Ulloa (1886) sowie Oscar Wildes The picture of Dorian Gray (1891). Referenzsignale für den Roman Pardo Bazáns finden sich in der Imitation des traditionell-auktorialen Erzählstils des 19. Jahrhunderts, in der Handlungskonstellation (beide Romane beginnen mit der Ankunft eines jungen Mannes in einem galicischen Herrensitz, enden mit einer Verwechslung zweier Generationen), in der lokalen Situierung und in Details der Wortwahl.37 Der intertextuelle Bezug zu The picture of Dorian Gray wird im inneren Kommunikationssystem des Textes durch Eulalia angeführt, welche die Hausangestellte Juana als ihr alter ego betrachtet, auf dessen Kosten sie ihr bisher unbeschwertes Leben geführt habe: [Y] yo no podía decir nada, estaba como una estatua de sal con la angustia de que iba a aparecer Juana, de que me la iba a echar a la cara después de veinte años, tenía el corazón en la boca mirando las escaleras, una fascinación pare36 Die Melibea der Celestina ist zwar keine Prinzessin, sondern eine Bürgertochter, die jedoch ihrem Geliebten Calisto aufgrund ihrer Abstammung als unerreichbar erscheint, so daß Luisa mit ihrer intuitiven Einschätzung so falsch nicht liegt. 37

Vgl. die Antworten, auf die Frage der Reisenden nach dem Weg: Pardo Bazán: »La carrerita de un can.. .« (Los Pazos de Ulloa, hg. von Marina Mayoral, Madrid 1986, 130), und die 'übersetzte' Version Martin Gaites: »La carrera de un perro« (R, 13). Vgl. zur intertextuellen Relation zu Pardo Bazán außerdem Kathleen Glenn, »La posibilidad de diálogo: Retahilas de Carmen Martin Gaite«, in: Explicación de Textos Literarios, 16(2), 1987/88, 85-92, 9 lf.

158 cida a la que sentía Donan Gray cuando se encerraba a solas en el desván de su casa para destapar aquel retrato maléfico donde se consumaba su real envejecer. (R, 102) Ya lo creo que anoche era como deslizarse furtivamente a escudriñar los surcos del retrato que el radiante, el indemne Donan Gray ocultaba a los ojos de todos sus amigos en aquella buhardilla polvorienta, idéntico placer clandestino y morboso. Yo todos estos afios he sentido literalmente que aquí, en este escondite perdido del mundo, el rostro de Juana y su cuerpo pagaban tributo por la belleza y juventud que los míos iban conservando a base de cuidados, de gimnasia y dinero, un tributo que me envilecía y del que era consciente a mi pesar muchas noches cuando me miraba al espejo después de darme los cosméticos; y otras, cuando alguien que acababa de conocerme me calculaba diez o quince años menos de los que tengo, sentía casi indefectiblemente un trallazo angustioso y al tiempo placentero, una especie de gratitud canalla hacia aquel otro yo que recibía los dardos de mi putrefacción, que pagaba los gastos de mi edad verdadera. "Menos mal que no conocen a Juana - pensaba menos mal que no la han visto", exactamente como Dorian Gray; (R, 107) Im Epilog des Romans erscheint diese Textfolie in die Handlungsstruktur integriert, denn wie bei Dorian Gray zeigen sich auch bei Eulalia am Ende des Textes ihre gealterten Gesichtszüge: »la mujer [...] levantó hacia Juana un rostro súbitamente descompuesto y plagado de surcos que [...] mostraba a la luz cruda de la lámpara su verdadera edad: cuarenta y cinco años« (R, 233f ). Interessant ist in diesem Zusammenhang der Aufruf zweier Texte des späten 19. Jahrhunderts, die dem spanischen Kontext der Restauration bzw. dem britischen des endenden viktorianischen Zeitalters entnommen sind; sie verweisen damit auf eine »moral burguesa«38 bzw. eine dekadente Adelsschicht und thematisieren beide moralischen Verfall und gesellschaftlich unproduktive Verhaltensweisen, die ja auch im Kontext von Martin Gaites Folgetext noch aufgegriffen werden. Retahilas manifestiert durch intertextuelle Bezüge seine Literaturhaftigkeit, welche in den Redebeiträgen der Protagonisten ja zunächst zurückgenommen erscheint, und schafft auf diese Weise einmal mehr eine Verbindung zwischen Literatur und Realität.39 Realitätsnähe wird in Retahilas als Kriterium außer 38 So Martin Gaite in einem Prolog zur spanischen Übersetzung El retrato de Dorian Gray, übers, von Julio Gómez de la Serna, Madrid 1970, 5, in der sie sich außer einem kurzen Verweis auf »voces deseosas de poner en tela de juicio el conformismo Victoriano« (ebd.) überwiegend auf biographische Informationen zu Oscar Wilde beschränkt. 39

»Estas relaciones intertextuales, que se presentan en varios planos, afirman el doble interés de Retahilas como narración de una historia y crítica de la narración. La fábula no se nutre de la vida tanto como de la ficción. El juego entre vida e invención va más allá de la parte conversacional de la novela y de las reflexiones de los hablantes; lo que parece más "real", el marco realista de prólogo y epílogo, manifiesta su literaturidad.« Luanne Buchanan, »La novela como canto a la palabra«, in: ínsula, 396/397, 1979, 13.

159 Kraft gesetzt: »La autora está jugando al pastiche, adaptando su propio discurso a una peculiar realidad referente, ya contaminada de connotaciones artísticas específicas«.40 Der intertextuelle Gehalt des Romans etabliert eine Verbindung zwischen der in den Redebeiträgen erfaßten menschlichen Erfahrung und dem in Prolog und Epilog alludierten kulturellen Erbe. Einen ähnlich hohen Grad an intertextueller Strukturalität weist auch Caperucita en Manhattan auf, wo ebenfalls intertextuelle Referenzen auf der Figurenebene mit der strukturellen Anlage des Textes verknüpft werden. Der Bezug zu Perraults Märchen vom Rotkäppchen ist hier schon im Titel angelegt, so daß der Text von Beginn an intertextuell markiert erscheint. Im ersten Teil des Romans wird von Sara Allens Rotkäppchenlektüre berichtet (Caperucita, 22), von der Gewohnheit, der Großmutter samstags Erdbeertorte in einem mit einem gewürfelten Küchentuch bedeckten Körbchen zu bringen (Caperucita, 18, 47), vom roten Kapuzenmantel Saras (Caperucita, 47) - und vom Tod eines Onkels, der es Sara ermöglicht, ihre zwar nicht kranke, aber geistig schon etwas verwirrte Großmutter allein besuchen zu können. Dieser erste Teil thematisiert zudem Saras Lektüreerfahrungen; in diesem Zusammenhang wird davon berichtet, daß das Ende von Perraults Rotkäppchenversion bei ihr eine Abwandlung erfährt, die sich aus ihrer Überzeugung ergibt, daß der Wolf des Märchens gar nicht so böse sei (Caperucita, 23). So deutet sich schon ein Bruch der isotopen Reihe des Rotkäppchenstoffes an, der im Verlauf des zweiten Teils »La aventura« dann auch vollzogen wird.41 »La aventura« kombiniert die Struktur der eigentlichen Rotkäppchenhandlung mit einem zweiten Handlungsstrang, der Saras Zusammentreffen mit Miss Lunatic, einer als Bettlerin auftretenden guten Fee, beinhaltet. Der Vergleich mit Rotkäppchen wird von Miss Lunatic formuliert: Miss Lunatic se detuvo a mirarla y en seguida comprendió por qué le había emocionado tanto aquella inesperada visión. Le recordaba muchísimo a la Caperucita Roja dibujada en una edición de cuentos de Perrault que ella le había regalado a su hijo, cuando era pequeño. (Caperucita, 120) Im elften Kapitel »Caperucita en Central Park« treffen sich die Handlungsmuster des Märchenstoffes und des Folgetextes. Sara-Caperucita trifft auf Mr. Woolf, der verrückt ist nach dem Erdbeertortenrezept, das bei der Großmutter aufbewahrt wird. So ist es ihm gerade recht, daß sich Sara eine Rundfahrt durch Manhattan in einer seiner

40

Dario Villanueva, »Retahilas (1974), de Carmen Martin Gaite: El placer de la palabra«, in: D.V., Estructura y liempo reducido en la novela, Valencia 1977, 317-320, 320.

41

Vgl. hierzu Monika Lindner, »Integrationsformen der Intertextualität«, in: Broich/Pfister, 116-134. Lindner spricht in Anlehnung an Lachmann von einer anagrammatischen Relation. Durch »die Übernahme von Elementen aus dem Handlungssubstrat und dem Figurenarsenal des Prätextes« wird eine »isotope Reihe« gebildet, die an einer bestimmten Stelle einen Bmch erfährt und auf diese Weise mit dem Prätext in Dialog tritt (122).

160 Luxuslimousinen wünscht, da sich so für ihn - genau wie in der Vorlage - die Gelegenheit ergibt, vor Sara bei der Großmutter anzukommen. Der isotope Bruch vollzieht sich durch die Umwertung des bösen Wolfes zu einem mitleidbedürftigen alten Mann, von dem keinerlei Gefahr ausgeht. (Dieser Bruch ist übrigens in bezug auf die Perraultsche Fassung bedeutender als auf die im deutschen Sprachraum überwiegend bekannte Version der Brüder Grimm: Bei Perrault klettern weder Rotkäppchen noch die Großmutter aus dem aufgeschnittenen Wolfsbauch.) Caperucita en Manhattan wird auf diese Weise zu einem Plädoyer gegen die manichäistische Tendenz der Märchentradition. Während im Märchen die Guten belohnt und die Bösen bestraft werden, stellt Caperucita en Manhattan die Bewertungskriterien 'gut' und 'böse' grundsätzlich in Frage.42 Der Text kritisiert überdies auf der systemreferentiellen Ebene das pädagogische Element der Drohung, wie es von Perrault, der seinen Märchen eine mahnende Moral anfügte, bis zu den Brüdern Grimm als für die Märchengattung konstitutiv anzusehen ist. So wird der Rotkäppchenstoff von seiner moralisierenden, die elterliche Autorität bestätigenden Basis gelöst; bei Sara Allen bewirkt er vielmehr eine Freisetzung kreativen Potentials, in der Auseinandersetzung mit der literarischen Vorlage verschafft sie sich persönliche Autonomie.43 5.4.4. Intertextualität

undMetaliteratur

Bisher wurde deutlich, wie intertextuelle Verfahren nicht nur Interdependenzen zwischen literarischen Texten schaffen, sondern wie auch ganz allgemein die menschliche Lebenserfahrung in einer Wechselbeziehung zu kulturellen Vorgaben steht. Indem nun dieser Sachverhalt - wie es bei Martin Gaite immer wieder geschieht - thematisiert wird, erhält der literarische Text eine metafiktionale Ebene. Literatur und das Sprechen über Literatur stehen in gegenseitiger Abhängigkeit. Darüber hinaus umfaßt ein metaliterarischer Text häufig auch ein Reflektieren über sein eigenes Entstehen im besonderen und die Thematisierung des literarischen Schaffensprozesses im allgemeinen. Und dies nicht erst in postmodernen Zeiten, sondern spätestens seit die Vertreter der literarischen Moderne begonnen haben, über die Grenzen der Wirklichkeitsvermittlung im Roman nachzudenken und sich so verpflichtet sahen, die Grundvoraussetzungen

42

Vgl. Hans Ritz, Die Geschichte vom Rotkäppchen, Bad Homburg 1981: »Der gar nicht so böse Wolf erfährt noch in vielen anderen Variationen seine Rehabilitierung, und der einfältige Dualismus von Gut und Böse, Schwarz und Weiß wird auf vielfältige Weise der Lächerlichkeit zum Fraß vorgeworfen« (67). Problematisch wird diese Umwertung allerdings, wenn Saras Großmutter an einer Stelle einen Massenmörder als »buen mozo« bezeichnet (Caperucita, 57).

43

Vgl. Ritz, 59f.: »Ein autonomer Mensch ist man nicht dann geworden, wenn man Rotkäppchens Beispiel folgt und mit den alten Ammenmärchen die Milch der traditionellen Denkart in sich aufsaugt, sondern durch Erfindung persönlicher Versionen und Interpretationen.«

161 der Romanentstehung innerhalb des fiktionalen Textes selbst zu diskutieren.44 Dieser Linie der Reflexion narrativer Grundprinzipien sind die metaliterarischen Kommentare aus Ritmo lento zuzuordnen. Der Protagonist stellt dort die achronologische Form seines Berichts der eher traditionellen Variante einer »novela con argumento« gegenüber, wobei letztere als unzureichende Form der Wiedergabe persönlichen Erlebens betrachtet wird, so daß Romanform und Lebenserfahrung wiederum eine wechselseitige Applikation erfahren: Si algún escritor sintiera el capricho de querer tomar un determinado período de mi vida para novelarlo, yo creo que, sin dudar, escogería éste, el más rico en acontecimientos destacados. Porque, efectivamente, mi vida vino a convertirse, al fin, en algo parecido a una novela con argumento. Pero yo, en cambio, es como si hubiera perdido las riendas de ella, y sólo soy capaz de referirme a los episodios que componen este argumento, enumerándolos uno por uno cronológicamente, igual que si recitara de memoria el programa de una lección sin haber estudiado la lección misma. (RL, 269) Ahnlich verfahrt »Variaciones sobre un tema«, hier setzt die Protagonistin ihre qualitative Zeiterfahrung der rein quantitativen Reproduktion eines »mediocre y ordenado cronista« (CC, 18) gegenüber. Auch Retahilas integriert eine metaliterarische Ebene, die sich etwa aus den Reflexionen Eulalias über die assoziative Verbalisierung von Bewußtseinsinhalten (R, 98ff.) oder auch aus Germáns Kommentar über »ese desdoblamiento que ahora andan explotando tanto en literatura« (R, 157) ergibt. Fragmentos de interior läßt einen der Protagonisten als Schriftsteller mit kreativer Blokkade in Erscheinung treten, die ihn nicht über Romananfänge hinausgelangen läßt (s.o., 5.3., 126f.). In diesem Roman wird erstmals auch der Literaturbetrieb als pragmatischer Kontext thematisiert, der ganz bestimmte Anforderungen an die Literaten heranträgt: »Cuarenta y cinco años no es mala edad para sacar una primera novela, puede tener incluso mayor garantía de madurez. El mercado editorial estaba plagado de obras miméticas y sin contenido elaboradas a toda prisa« (Fragmentos, 64). Die Kommentare von Sara und Sorpresa über narrative Strukturen können ebenfalls als metaliterarische Aspekte benannt werden, die Martin Gaites Rückkehr zu herkömmlichen Erzählformen begleiten und damit verdeutlichen, daß die in ihren Werken zum Ausdruck kommende Auffassung der Interdependenz von Literatur und Realität eine grundsätzliche, sowohl traditionelle als auch moderne Formen literarischer Welterfassung umgreifende Relevanz besitzt. In Nubosidad variable setzen sich beide Protagonistinnen mit Aspekten des Romanschaffens auseinander und beziehen die Schwierigkeiten bei der Strukturierung eines literarischen Textes explizit auf die Komplexität der Lebenserfahrung (NV, 158, 287ff., 383f.). Mariana erdenkt zudem in einem 44

Vgl. Schramke, 139ff.

162 Kapitel ein Romanprojekt (NV, 227ÍF., 260ff.), dem sie gegenüber ihrem Vorhaben einer theoretischen Abhandlung den Vorzug gibt - wieder einmal geleitet von der Evokation ihrer Freundin Sofia, die ja die Fiktion als Gegenpol zur realen Alltagserfahrung betrachtet (»Me pareció verte sonreír satisfecha: »Claro, mujer, nada de teorías. Un libro con portada de novela rosa dibujada por Penagos. El ensayo ése sobre el erotismo te está aburriendo, huele a puchero de enfermo, reconócelo.« NV, 227). Da beide Frauen in diesem Roman als Schreibende präsent sind, gelingt es ihnen mühelos, metaliterarische Aspekte in ihre Überlegungen einfließen zu lassen. So kommentieren sie die Anlage des Textes, der am Romanende als Gegenstand ihres zwischenmenschlichen Austausches identifizierbar wird Puede ser un intercambio precioso éste de tus cuadernos y mis cartas, ¿no te parece? Porque además, ahora que lo pienso, seguro que hablamos de las mismas cosas en más de una ocasión y con un tratamiento diferente. No sé si verías Rashomon, aquella película japonesa que contaba la misma historia desde el punto de vista de tres testigos, interesantísimo este asunto de las versiones múltiples. Y me pongo a pensar que igual entre lo que traigas tú y lo que tengo yo salía una novela estupenda a poco que la ordenáramos, o incluso sin ordenar. (NV, 339) In ähnlicher Weise hatten schon A palo seco und vor allem El cuarto de atrás den Schaffensprozeß zur Basis der Romanhandlung erhoben. Der Protagonist des Theaterstücks formuliert seine Kritik an einem vorliegenden Textfragment und fugt dem Text auf diese Weise eine metaliterarische Analyseebene an (Palo, 13ff., 21f., 33). Auch El cuarto de atrás stellt den Prozeß seiner eigenen Kreation in den Vordergrund, weshalb der Roman von Spires als »self-referential novel« und damit als Vertreter eines als Unterkategorie von Metaliteratur betrachteten Romantyps bezeichnet wurde. 45 In El cuarto de atrás vergrößert sich im Verlauf des nächtlichen Gesprächs ein Blätterstapel, dessen Text sich schließlich als derjenige des vorliegenden Romans herausstellt. Mit der Integration einer literaturtheoretischen Ebene in Form der Diskussion von Todorovs Introduction ä la littérature fantastique ergibt sich die Erweiterung des Memoirentextes um ein phantastisches Element. Indem diese Diskussion auch frühere Texte der Autorin (vornehmlich »El balneario«) aufgreift, werden ihr Schwanken zwischen Realismus und einem integrativen Literaturkonzept sowie ihre Vorstellung vom Schreiben als »refugio« zu maßgeblichen thematischen Konstanten des Romans. Spires sieht in El cuarto de atrás die Möglichkeiten eines »freeing language from the illusion that it is what it represents« 46 betont und etabliert einen Bezug zur Repression unter dem Franquismus, welche in einem solchen dynamischen 45

Vgl. Robert Spires, »Intertextuality in El cuarto de atrás«, in: ServodidioAVelles, 139-148, 139.

46

Ebd., 145.

163 »network of interconnecting texts«47 auf einer - jeglicher Einschränkung entsagenden und nur als Text faßbaren - diskursiven Aktionsebene überwunden werde. El cuarto de atrás ist, wie Spires betont, ein Spiel mit den unendlichen Möglichkeiten des sprachlichen Ausdrucks. Doch wird das wundersame Entstehen des Romantextes lediglich konstatiert; dem Roman scheint der Verweis auf die 'phantastischen' Begleitumstände seiner Produktion zu genügen, so daß eine explizite Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen des literarischen Schaffens, wie sie andere Texte der Autorin leisten, m.E. hier weitgehend ausgeschlossen bleibt. Intertextualität und Metaliteratur werden als Phänomene in El cuarto de atrás zwar benannt, doch sind sie nicht primär sinnkonstituierend, da der Roman letztlich auf der Ebene eines Gesprächs über Literatur verbleibt, das der Klärung seines Entstehungsprozesses insgesamt wenig zuträglich ist. 5.4.5. Zusammenfassung Das Werk Martin Gaites läßt eine zunehmende Häufigkeit und Intensität intertextueller Verfahrensweisen erkennen. Die intertextuelle Sinnkonstitution entsteht zunächst einmal durch die einfache Nennung von Autoren oder Werktiteln und reicht bis zur strukturellen Einbindung in den Folgetext, und zwar wiederum mit deutlicher Intensivierung in diachronischer Sicht. Sie stellt die Imagination als wichtigen Bereich menschlicher Existenz heraus, wozu der traditionelle Bildungskanon und die Populärkultur ebenso herangezogen werden wie die Kinder- und Jugendliteratur. Literatur erscheint als Reservoir kultureller Erfahrung von immenser persönlichkeitsbildender Kapazität. Martin Gaite thematisiert damit die Spezifik weiblicher literarisch geprägter Realitätsperzeption, doch situiert sich diese Art der Wahrnehmung auch in einer allgemeineren Tradition der Diskussion über die Kompensation einer als unzulänglich erfahrenen Wirklichkeit durch die Identifikation mit literarischen Vorlagen. Intertextualität wird damit in den konkreten Lebenszusammenhang integriert, so daß die Imagination als ein wichtiger Teilbereich menschlicher Existenz eine Aufwertung erfahrt. So ergeben sich etwa aus der an literarischen Vorlagen geleiteten Identitätskonstitution in El pastel del diablo oder Caperucita en Manhattan konkrete lebenspraktische Alternativen für die Heldinnen, genau wie die Frauenfiguren Martin Gaites immer wieder über die Literaturhaftigkeit ihrer Welterfahrung reflektieren und so zumindest über die Problematik ihrer Subjektkonstitution Aufschluß gewinnen. Aufgrund dieser Wechselwirkung zwischen Literatur und Leben, die in den jüngeren literarischen Texten Martin Gaites nahezu alle Protagonisten charakterisiert, erübrigt sich auch die Frage nach dem Realitätsbezug intertextueller Textbildungsverfahren.48 47

Ebd., 147.

48

Renate Lachmann spricht etwa von »Texte[n| mit gebrochener Mimesis, mit einem ins Schleudern geratenen Sitz im Leben«. R.L., »Intertextualität als Sinnkonstitution«, in: Poetica, 15(1-2), 1983,66-107, 81.

164 Die intertextuellen Referenzen in den Texten Martin Gaites schwächen den lebensweltlichen Bezug keineswegs ab, sondern verweisen umgekehrt gerade auf die literarische Konditionierung der Realitätsperzeption, auf die Thematik der Realität des Imaginierten und des Imaginären menschlicher Wirklichkeitserfahrung. Wenn Identitätsbildung als solche grundsätzlich kulturell konditioniert ist, dann kann dem literarischen Text nicht vorgeworfen werden, daß er diesen Sachverhalt für die Subjektkonstitution seiner Figuren instrumentalisiert. Freilich steht hinter einem solchen Vorgehen ein egalitäres Literaturkonzept, für das die herkömmliche Unterscheidung zwischen hoher und niederer Literatur keine Rolle mehr spielt, was aus der Gesamtheit der intertextuellen Verweise im literarischen Gesamtwerk Martin Gaites auch klar hervorgeht. Genauso wie die intertextuell geleitete Persönlichkeitsbildung bedeutet nun auch die strukturelle Einbindung literarischer Referenztexte auf der Ebene der Textproduktion eine Auseinandersetzung mit den in den Vorlagen konstituierten Weltmodellen. Intertextuelles Verweisen impliziert eine Bezugnahme auf die Art und Weise der Wirklichkeitsmodellierung der aufgerufenen Texte; »durch die Verbindung mit dem Koordinatensystem des Folgetextes wird der Bezug auf Wirklichkeit eher komplexer und tiefer«.49 So generiert sich aus den gesellschaftspolitischen Stellungnahmen des Juan de Mairena in Ritmo lento, aus der Dekonstruktion des »Cara al sol« in »Retirada«, aus der Allusion an die Erzähltradition des 19. Jahrhunderts in Retahilas oder auch aus der Auseinandersetzung mit dem Rotkäppchenstoff in Caperucita en Manhattan über die Verarbeitung der Referenzen in den Folgetexten neuer Sinn. Darüber hinaus bestätigt sich im metaliterarischen Vorgehen die schon beobachtete Gleichsetzung von Lebenserfahrung und literarischer Praxis. Damit wird das Gestaltungsprinzip der Intertextualität bei Martin Gaite auf den lebensweltlichen Zusammenhang appliziert; die Autorin negiert durch ihr intertextuelles Vorgehen die Existenz einer Grenze zwischen Literatur und Leben: »Si bien se mira, todo es narración« (Cuento, 143).

49

Schul te-Middelich, 207.

165

6. Perspektiven weiblicher Differenz

6.1. Zur weiblichen Subjektsetzung Im Gesamtwerk Martin Gaites manifestiert sich zunächst einmal das allgemeine Bestreben, die Situierung des Individuums in der Gesellschaft und seine Konzeption von Realität literarisch darzustellen; darüber hinausgehend bietet die Autorin von Beginn ihres literarischen Schaffens an eine komplexe Auseinandersetzung mit der besonderen Problematik weiblicher Subjektkonstitution und Identitätssuche. Der literarische Blick aus dem Fenster ist also ein sehr konkreter, bei dem der gesellschaftliche Zusammenhang grundsätzlich präsent bleibt und sich - wie etwa aus der Analyse der Raum- und Zeitperzeption ersichtlich wurde - auf die Welterfahrung der Charaktere in entscheidender Weise auswirkt.1 Obgleich die Texte Martin Gaites einerseits immer wieder Beispiele weiblicher Identitätsbildung bieten, geht aus ihrer Schreibweise andererseits auch deutlich hervor, daß die Autorin bei der literarischen Produktion selbst eben dieser Subjektproblematik ausgesetzt ist. Gerade im Hinblick auf die Subjektsetzung reproduziert sie zuweilen auch die patriarchalischen Positionen, etwa wenn sie in ihrem Frühwerk durch die Wahl der erzählperspektivischen Techniken die Möglichkeit autonomer Setzung bei den Frauenfiguren weitgehend ausspart. Dabei spielt auch die spezifische gesellschaftliche Situation in Spanien eine bedeutende Rolle, denn während sich die hochindustrialisierten Länder in der Mitte dieses Jahrhunderts bereits seit einigen Jahrzehnten in einer Phase befanden, in der auch die männliche Subjektautonomie deutlich in Frage gestellt wurde, vollzog sich für Spanien gerade erst der Eintritt in die Moderne, versuchte sich hier das bürgerliche Subjekt also durchaus noch zu konstituieren.2 Daß sich dieser Prozeß wiederum über eine Reduzierung auf den männlich-bürgerlichen Subjektstatus, also auf Kosten der Frauen zu vollziehen drohte, geht aus den zu dieser Zeit entstandenen Texten Martin Gaites 1

Den Zusammenhang der Fensterperspektive mit der Konkretheit vieler Texte von Frauen hat Martin Gaite selbst als »una localización más precisa y concreta que nunca olvida sus propios limites, sus puntos cardinales« umschrieben. Martín Gaite 1987, Desde..., 36.

2

Vgl. zur Problematisiening der Subjektideologie neben Adorno/Horkheimer den Abschnitt »Zur Kritik der Vernunft und ihres Subjekts«, in: Albrecht Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vemunßkritik nach Adorno, Frankfurt/Main 1985, 48-114, 70-84.

166

klar hervor. Schon »El balneario« verweist auf die gesellschaftliche Minderwertigkeit der ledigen Señorita Matilde, deren Rückzug in die Welt des Traums aporetisch bleiben muß, weil sich der »solterona« im Rahmen der franquistischen Familienideologie noch nicht einmal eine sekundäre gesellschaftliche Funktion zuweisen läßt. Texte wie Entre visillos und Ritmo lento nehmen dann schon nicht mehr nur auf die franquistische Gesellschaftsordnimg im allgemeinen, sondern auf die kapitalistische Entwicklung Spaniens im besonderen und die ihr inhärente Tendenz Bezug, die Frauenrolle auf den Objektstatus festzuschreiben. Dieser Sachverhalt schlägt sich in beiden Romanen nieder, wobei etwa die Identitätssuche der jungen Natalia aber auch schon eine Reaktion auf diese Einschränkung bedeutet. Darüber hinaus weist Ritmo lento bereits eine generelle Problematisierung der Subjektideologie auf, da sich der männliche Held angesichts der Erfahrung gesellschaftlicher Entfremdung vollkommen in seine Innerlichkeit zurückzieht, wie dies als Reaktion auf die subjektiven Defizite der hochentwickelten Gesellschaft bei vielen Helden der ästhetischen Moderne zu beobachten ist.3 Auch in bezug auf Ritmo lento ist der literarische Ort Martin Gaites ein doppelter: Zunächst trägt der Text durch die Wahl eines männlichen Protagonisten der Tatsache Rechnung, daß nur ein Mann seinen Subjektstatus problematisch erfahren kann, da den Frauen die autonome Setzung ja von vornherein verwehrt ist; insofern bedeutet die Anlage des Romans also ein Zugeständnis an den patriarchalischen Subjektmythos. Auf inhaltlicher Ebene übt der Held jedoch scharfe Kritik an der Objekthaftigkeit von Frauen, wenn er etwa seinem Freund Bernardo, einem typischen Vertreter der in Spanien gerade in der Entstehung begriffenen bürgerlichen Mittelschicht, Frauenfeindlichkeit vorwirft: »[Lucía, d.V.] [n]o es ningún par de zapatos. Es una persona o podría llegarlo a ser. Y si hablas de ella como de un objeto que se puede pasar de uno a otro, le quitas toda categoría de persona« (RL, 165). So verfahrt Ritmo lento gleichsam doppelgleisig und transportiert unter der Oberfläche einer den patriarchalischen Kanon bestätigenden Schreibweise eine zumindest inhaltlich vermittelte Differenzierung aus weiblicher Sicht. Indem die grundsätzliche Problematik weiblicher Subjektkonstitution in ihre Texte Eingang findet, wird die Infragestellung der Subjektautonomie durch die Entwicklungen der modernen Gesellschaft, welche ja von den Vertretern der literarischen Moderne mit dem Rückzug in die Innerlichkeit beantwortet worden war, bei Martin Gaite um eine Dimension der weiblichen Differenz erweitert. Seit Retahilas umfaßt dies auch Möglichkeiten positiver Alternativen für die weibliche Existenz, wenn sich etwa die Bewußtseinserfahrung des »habitar el tiempo« aus der im spanischen Kontext 3

Maitin Gaite verweist im übrigen auf die Tatsache, daß gerade in Ritmo lento der Einfluß von den in Spanien mit Verspätung rezipierten Texten der literarischen Moderne, vor allem von Italo Svevos La coscienza di Zeno (1923) zum Ausdruck kommt. Vgl. den Prolog zu Ritmo lento sowie zur verspäteten Rezeption der modernen ausländischen Literatur C.M.G., »Un aviso: ha muerto Ignacio Aldecoa«, in: Martin Gaite 1982, La búsqueda..., 35-51,45f. (Erstveröffentlichung in La Estafeta Literaria, November 1969).

167 für Frauen in besonderem Maße relevanten Thematik der Einsamkeit erschließt.4 Gerade im Hinblick auf die weibliche Erfahrung erweist sich das neuzeitliche, den (männlichen) Menschen als Mittelpunkt der Welt begreifende Subjektverständnis erst recht als eine ideologische Reduktion, denn dieses Subjekt hatte sich ja nicht zuletzt über seine Relationierung zu einer objekthaft begriffenen Weiblichkeit legitimiert. Die im Verlauf der Angleichung Spaniens an die kapitalistische Gesellschaftsform entstandenen Texte Martin Gaites weisen eine klare Bewußtheit dieser Ideologisierung auf. Als Reaktion auf die Problematik der weiblichen Subjektsetzung findet sich im Werk der Autorin eine dezentrierende Dynamisierung von Subjektivität, und nicht etwa die Forderung nach der grundsätzlichen Negierung jeglichen Subjektstatus'. Aus der Perspektive weiblicher Differenz erfolgt die Distanzierung von einem Subjekt, das von einem gesicherten Standpunkt aus nurmehr damit beschäftigt ist, seine Restriktion zu beklagen. Diese nun in Bewegung geratene Weiblichkeit tritt deshalb in späteren Texten in der Verwendung multipler Ich-Perspektiven zutage, in welchen eine Mehrdimensionalität des Subjekts zum Ausdruck kommt, welches sich in ständiger Relationierung zu sich selbst und zu seinen Mitmenschen erfahrt. Martin Gaite erteilt damit einem eindimensionalen, auf die Existenz konkreter Herrschaftsstrukturen verweisenden Subjektverständnis eine klare Absage. In dieser Hinsicht verweist die erzählperspektivische Anlage von Texten wie El cuarto de atrás oder Nubosidad variable auf den Versuch, die Praktikabilität einer solchen alternativen Subjektkonstitution zu erproben. Dabei bleiben bei aller Dynamisierung des Subjekts Identität und Sinn grundlegende Kategorien. Aller Erfahrung der Relativität ihrer individuellen Existenz zum Trotz zeigen sich die Figuren in den Texten Martin Gaites immer wieder von einem Bedürfnis des »encontrarle sentido a lo que hago« (R, 76) geprägt: »He llegado a no verle a la vida más sentido que el de indagar su sentido, aun a sabiendas de que ninguna pista lleva a aclarar nada, fallando en la pesquisa una vez detrás de otra« (NV, 129). Obwohl die Welt auch in den Texten Martin Gaites allenfalls als eine fragmentierte erfahren werden kann, verweisen die Texte letztendlich doch auf die Zielsetzung der Sinnkonstitution. Dies geschieht wiederum vornehmlich mit einer aus dem weiblichen Erfahrungsbereich entlehnten und sehr konkreten Metaphorik des »hilo«, »tejer«, »coser«, »reanudar«. Außerdem findet sich an einer Stelle in Retahilas sogar der eindeutig auf den religiösen Diskurs bezogene Begriff des »re-ligare« (R, 92).5 So 4

Die Tatsache, daß gerade die Einsamkeitsthematik in A palo seco wiederum von einem Mann reflektiert wird, kann eventuell damit zusammenhängen, daß die Autorin in das stärker als die Romanproduktion männlich dominierte Medium Theater Eingang finden will und sich aus diesem Grund zu einem solchen Zugeständnis bereitfindet.

5

Vgl. folgende Formulierung in der Preisrede Martin Gaites bei der Verleihung des »Premio Castillo y León«: »Corre el dinero de las celebraciones, pero de poco sirve si no se transmite a través de ellas el sentimiento religioso de (re-anudación) que las originó, si se ha perdido la saludable costumbre de re-lacionar, de enhebrar el

168 verdeutlicht sich das Bestreben, aus den Bruchstücken der Realitätserfahrung ein Ganzes zusammenzufügen: »- ¡Tendrás cara de exigirme un antes y un después, mamá, con todos estos cachitos por el aire y por el suelo! Retales más bien, ¿no te parece?, hilos, botones, imperdibles y carretes vacíos, "trampantojos de costura", como diría la yaya, porque todo es coser« (NV, 384). Die für das postmoderne Denken zentrale Erfahrung von Pluralität wird im Werk Martin Gaites zwar grundsätzlich akzeptiert, doch implizieren ihre Uterarischen Stellungnahmen immer auch das Aufrechterhalten eines Ganzheitswunsches, welcher die postmoderne Überzeugung von der Irreduzibilität dieser pluralistischen Welterfahrung deutlich relativiert und die literarische Produktion Martin Gaites in einem Spannungsfeld zwischen Moderne und Postmoderne situiert.6

6.2. Zu Sprache und Kommunikation In den Texten Martin Gaites manifestiert sich konstant die Forderung des intersubjektiven Austauschs als einer Möglichkeit der Überschreitung subjektiver Vereinzelung im Kommunikationsakt. 1966 bezeichnet die Autorin selbst in dem programmatischen Aufsatz »La búsqueda de interlocutor« ihre gesamte literarische Aktivität als eine solche Suche nach einem Gesprächspartner und damit als Kompensation für nicht in ausreichendem Maße vorhandene reale Kommunikationssituationen.7 Innerhalb ihrer Texte wird immer wieder ein intersubjektiver Austausch konstruiert, und selbst im Hinblick auf die erzählperspektivische Anlage erklärt sich ihr Rückgriff auf traditionell-auktoriale Erzählhaltungen aus dem Bedürfnis, die kommunikative Ausrichtung der Texte zu betonen, wie es Traba als einen differenzierenden Aspekt weiblicher Literatur herausgestellt hatte (s.o., 3., 28). So wird nicht nur ein solidarisches Verhältnis zwischen Sender und Rezipient im Sinne eines »reaffirming the pact between reader and writer«8 erzeugt; die zusätzlich zu Formen des unmittelbaren Erzählens und der Innensicht immer wieder eingesetzte auktoriale Erzählhaltung ist darüber hinaus ayer con el boy. Olvidado este motivo, es decir, rotos los lazos que mantenían unidos a los celebrantes, el acto se profana, se vacia de sentido re-ligioso, con-memorativo. Y, por supuesto, de calor humano.« C.M.G., »Las glorias y las memorias«, in: Diario 16, 30.4.1992. 6

Gerade die Aspekte der Einheit und der Vielheit bilden eines der grundlegenden Unterscheidungskriterien zwischen modernem und postmodemem Denken: »Das postmoderne Denken [...] hat sich gerade von dieser Einheits- und Ganzbeitsokkupation befreit. Es bejaht den Übergang in die Pluralität und bewertet ihn positiv. [...] Wenn etwas die Postmodeme von Prämoderne und Moderne unterscheidet, dann ihre von Grund auf andere Vision: die Utopie von Vielheit als Glücksgestalt. - Woraus man nebenbei ersehen kann, daß es in der Postmodeme nicht so sehr um neue Inhalte als vielmehr um eine andere Grundeinstellung geht. Das Bewertungsraster hat sich geändert Der Wechsel von der Einheitssehnsucht zum Vielheitsplädoyer ist die einschneidendste dieser Veränderungen.« Wolfgang Welsch, »Die Geburt der postmodemen Philosophie aus dem Geist der modernen Kunst«, in: W.W., Ästhetisches Denken, Stuttgart 1990, 79-113, 94 vgl. auch Wellmer, 55.

7

Martin Gaite 1982, La búsqueda..., 21-34 (Erstveröffentlichung in Revista de Occidente, September 1966).

8

So der Titel eines neueren Aufsatzes von Brown über das Werk Martin Gaites, in: Brown 1991, 72-92.

169 ein probates Mittel zur Darstellung konkreter, die gesellschaftliche Realität explizit kritisierender und damit auch Verbindlichkeit beanspruchender Sachverhalte, die bezeichnenderweise vornehmlich dann aufgegriffen wird, wenn in den Texten die gesellschaftliche Konditionierung von Weiblichkeit zur Sprache kommt. Über die im Werk Martin Gaites auf verschiedenen Ebenen erfolgende Betonung der Bedeutung des Kommunikationsaktes ergibt sich ein Intersubjektivitätskonzept, welches Parallelen zu der Vorstellung von einer an verständigungs- statt erfolgsorientierter gesellschaftlicher Praxis ausgerichteten 'kommunikativen Rationalität' aufweist, wie sie im deutschen Sprachraum von Jürgen Habermas angeregt wurde.9 Habermas sieht die Kommunikation als konstitutives Charakteristikum der menschlichen Gesellschaft und greift die im modernen Diskurs problematisierte Subjektsetzung auf diese Weise durch das Betonen der zwischenmenschlichen Interaktionsebene wieder auf. Er macht das Konzept der 'kommunikativen Rationalität' für die Weiterfuhrung des 'unvollendeten Projekts der Moderne' geltend, nachdem sich die aus der Aufklärung hergeleitete Zielsetzung der Naturbeherrschung als unzulänglich erwiesen habe.10 Unter Berücksichtigung der besonderen Stellung der Frau im Prozeß der europäischen Aufklärung verwundert es nicht, daß auch Habermas selbst an einer Stelle beiläufig erwähnt: »Im übrigen verfugen die Frauen aus dem geschlechtlichen Erbe der historischen Arbeitsteilung, der sie in der bürgerlichen Kleinfamilie unterworfen waren, über Kontrasttugenden, über ein zur Männerwelt komplementäres [...] Wertregister.«11 Der Vorschlag, die Subjektphilosophie um eine sprachphilosophische Dimension zu erweitern,12 bildet jedoch im Hinblick auf die weibliche Subjektsetzung keine zu formulierende Programmatik, sondern eher eine Konsequenz aus der Tatsache, daß weibliche Subjekte im historischen Prozeß ihren Weg erst finden müssen. Entsprechend wird das Recht der Frau auf gesellschaftliche Partizipation in den Texten Martin Gaites also weniger von einem Olymp der Subjektautonomie aus gefordert, sondern die herrschaftsfreie intersubjektive Relationierung bildet umgekehrt allererst die Voraussetzung für die Konstitution eines weiblichen Subjekts. In diesem Zusammenhang spielt die Sprache eine entscheidende Rolle, und zwar nicht nur als primäres Instrument des intersubjektiven Austauschs, sondern auch im

9

Vgl. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt/Main, 1981: »Für diese [die kommunikative Rationalität, d.V.| ist nicht die Beziehung zu etwas in der objektiven Welt, das vorgestellt und manipuliert werden kann, paradigmatisch, sondern die intersubjektive Beziehung, die sprach- und handlungsfähige Subjekte aufnehmen, wenn sie sich miteinander über etwas verständigen «, Bd. 1, 525.

10

Vgl. Jürgen Habermas. »Die Moderne - ein unvollendetes Projekt«, in: J H.: Kleine politische Schriften, Frankfurt/Main 1981, 444-464 (Rede zur Verleihung des Theoder-W.-Adorno-Preises der Stadt Frankfurt am Main, 1980).

11

Habermas 1981, Theorie ... Bd. 2, 579.

12

Vgl zu Habermas' Darlegung des Paradigmenwechsels von der Subjekt- zur Sprachphilosophie J H., Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/Main 1985.

170 Hinblick auf die durch Sprache sich vollziehende individuelle Welterfassung.13 Schon Natalia in Entre visillos setzte sich ja schreibend mit ihrer Situation in der Gesellschaft auseinander und funktionalisierte auf diese Weise die Sprache für ihre Identitätssuche, wie dies auch im Rahmen der schriftstellerischen Tätigkeit von Sofia Montalvo in Nubosidad variable geschieht. Im gesamtgesellschaftlichen Kontext impliziert dies eine etwas einseitige Überbewertung der Funktion von Sprache und Literatur, zumal Martin Gaite die Frage nach der restriktiven Funktion von Sprache als herrschaftsstabilisierende patriarchalische Prägung, in der sie gerade in der theoretischen Auseinandersetzung mit den Grundvoraussetzungen weiblichen Schreibens kritisiert wurde, weitgehend ausschließt. Ihre Figuren schaffen sich Ebenen des intersubjektiven Einverständnisses über die Verwendung eines »lenguaje común« (R, 195) oder eines »léxico familiar« (NV, 18), 14 und der inviduelle Sprachgebrauch verweist auf die Kapazität von Sprache zur Welterfassung, wenn etwa Sara Allen in Caperucita en Manhattan eigene Wörter, »farfanias« (Caperucita, 32), erfindet oder wenn sich das Kind Sofia in Nubosidad variable das nicht erlernte, sondern aus der Bedeutung »amigo de las palabras« selbständig zusammengestellte Wort »filólogo« als kleines Männchen vorstellt, das mit einem Schmetterlingsnetz Wörter fangt (NV, 114). Aufgrund solcher konkreter Verfahren der Materialisierung, wie sie z.B. auch in der Analyse der Raum-Zeit-Dimensionen ermittelt werden konnten, wird die Sprache als ein grundlegender Bestandteil menschlichen Seins bestätigt: »Porque las letras y los dibujos eran hermanos de padre y madre: el padre el lápiz afilado y la madre la imaginación« (Caperucita, 32). Darüber hinaus bietet die Forderung nach einem über die rein private Ebene hinausreichenden intersubjektiven Austausch und nach aufklärender Wissensvermittlung, wie sie vor allem in den frühen Texten der Autorin zum Ausdruck kommt, im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Repression unter dem Franquismus durchaus auch eine auf der Sprache basierende gesellschaftliche Alternative. Die Kommunikationsforderungen und das Verweisen auf die liberale Tradition in Ritmo lento reagieren im 13 Vgl. die folgenden Áuflerungen zur Bedeutung von Sprache aus drei unterschiedlichen Schaffensperioden: »|L]a cosa más sería que le puede pasar a un hombre es morirse. Hablar es el único consuelo. Estaría hablando todo el día, si tuviera quien me escuchara. Mientras hablo, estoy todavía vivo, y le dejo algo a los demás (»Las ataduras«, CC, 115); »Vivir es disponer de la palabra, recuperarla, cuando se detiene su curso se interrumpe la vida y se instala la muerte; y claro que más de media vida se la pasa uno muerto por volverle la espalda a la palabra, pero por lo menos ya es bastante saberlo, no te creas que es poco. Yo en mis ratos de muerte, que son muchos, de obsesión, de ceguera, cuando soy una pescadilla mordiéndose la propia cola, recurro a ese último consuelo de pensar que lo sé, que desde el pozo de oscuridad en que he caído tengo un punto de referencia por haber conocido lo claro y saber cómo es, me acuerdo de que existe la palabra, me digo: "la solución está en ella"«(R, 187); »Para ordenar el caos, ya el mismísimo Ser Supremo no encontró más recurso, según esta narración inmemorial, que el de apelar a la palabra, madrina infalible del milagro que se operó a lo largo de siete días« (Cuento, 258). 14 Den Ausdruck des »léxico familiar« übemimmt Martín Gaite von Natalia Ginzburg. In El cuento de nunca acabar spricht sie von ihrer Añinitat zu der italienischen Autorin: »Coincidimos a veces, eso sí; somos amigas, aunque no nos conozcamos, y nuestras manos pueden rozarse, porque escogemos por la misma zona de las muchas donde se cria material de cuento« (Cuento, 304).

171 konkreten gesellschaftlichen Kontext auf die Atmosphäre der »incomunicación« im Sinne der in den Nachkriegsjahren inexistenten Dialogbereitschaft.15 Im zwischenmenschlichen gesellschaftlichen Zusammenhang kritisiert dieses Insistieren auf die Notwendigkeit von Kommunikation zudem den im Nachkriegsspanien in besonders ausgeprägter Weise reglementierten und jeglicher Verständigungsmöglichkeit beraubten zwischengeschlechtlichen Diskurs.16 So zeigt sich bei Martin Gaite einerseits ein rigoroses Kommunikationskonzept, andererseits aber auch eine Betonung des Zusammenhangs von Sprache und individueller Welterfahrung bzw. privatem zwischenmenschlichem Einverständnis. Ausschlaggebend für die Bedeutung von Sprache und Kommunikation in ihrem Werk ist aber vor allen Dingen, daß meist sehr konkrete, häufig eindeutig orale Kommunikationssituationen erstellt werden. Die Beschäftigung mit Sprache mag daher zwar zuweilen eher eine individuelle als eine in gesellschaftlicher Hinsicht produktive sein; doch bleibt sie immer konkret, und die sprachphilosophischen Elemente implizieren bei Martin Gaite keinesfalls die Vorstellung von einer auf der Schrift basierenden, permanent sinnverschiebenden und aus dem originären Kontext gelösten übergreifenden Textualität, wie sie etwa die Dekonstruktionsphilosophie Jacques Derridas charakterisiert. Sprache und Lebenserfahrung sind immer fest miteinander verknüpft, so daß das Werk auch in dieser Hinsicht dem konkreten gesellschaftlichen Kontext insgesamt verhaftet bleibt.

6.3. Zur Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe Die schreibenden und imaginierenden Frauenfiguren Martin Gaites schöpfen allesamt aus ihrem kulturellen Fundus, der wiederum ihre Identitätskonstitution stark beeinflußt. Hier manifestiert sich zunächst einmal der bildungsbürgerliche Kontext, dem sowohl die Autorin als auch ihre Figuren zugehörig sind. Zuweilen bietet die Auseinandersetzung mit solchen Diskursmustern überdies konkrete gesellschaftliche Stellungnahmen, etwa bei der Dekonstruktion des offiziösen Weiblichkeitsdiskurses der »novela rosa« in Entre visillos, der Aufdeckung der repressiven Funktion traditioneller Märchen in Caperucita en Manhattan oder der Kritik der glorifizierenden Ver15

Gerade die in Ritmo lento evozierte Peridode der liberalen Zweiten Republik zeichnete sich darüber hinaus durch ein antiautoritäres Erziehungskonzept aus, das in einer breit angelegten Volksbildungsbewegung seinen Niederschlag fand. An den in großem Ausmaß durchgefühlten Bildungskampagnen waren auch Frauen in beträchtlichem Maße beteiligt, so daß Uber diese Referenz nicht nur der Aspekt der aufklärenden Wissensvermittlung, sondern auch implizit die Partizipation von Frauen an der gesellschaftlichen Praxis eingefordert wird. Gerade die Thematik der Erziehung in der Zweiten Republik findet auch in den Romanen weiterer Autorinnen ihre literarische Verarbeitung, etwa bei Dolores Medio (Diario de una maestra. 1962) und Josefina R. Aldecoa (Historia de una maestra. 1990).

16

Diese Zusammenhänge beschreibt Martin Gaite in den Usos amorosos de la postguerra

española.

172 einseitigung der Falange-Hymne »Cara al sol« in »Retirada«. Insgesamt zeichnen sich die kulturellen Referenzen im Werk Martin Gaites vor allem dadurch aus, daß sie sowohl kanonisierte literarische Texte als auch populäre Genres und Stoffe umfassen. Dies bedeutet nicht nur eine Aufwertung letzterer und damit die Gleich-Gültigkeit von Elite- und Massenkultur, wie sie auch in der Postmoderne vor allem amerikanischer Prägung gefordert wurde, 17 sondern betont vor allen Dingen ein Phänomen der Realitätsperzeption, das Mainer mit dem Begriff der »psicosociologia de la lectura« umschreibt, womit der Lektüre wiederum eine konkrete gesellschaftliche Funktion zukommt.18 Die Texte Martin Gaites vermitteln die Vorstellung von einer Wirklichkeitserfahrung, die sowohl reale Umstände als auch imaginative Elemente integriert. Sie betonen den 'Fiktionscharakter' von Wirklichkeit, wie er im übrigen auch im Zusammenhang mit dem Ästhetisierungstrend postmoderner Kulturkonzepte angeführt wird.19 'Realität' kann dieser Denkweise zufolge nur als subjektiv geprägte wahrgenommen werden und schließt daher immer eine imaginative Ebene ein. Obwohl diese Übertragung von in der Literatur vorgefundenen Verhaltensformen auf den realen Lebenszusammenhang bei Martin Gaite deutlich benannt und auch kritisiert wird, ergibt sich aus ihren Texten keine klare Stellungnahme zu diesem Phänomen. Gerade in bezug auf die »imaginierte Weiblichkeit«20 sind die vorgegebenen Modelle ja erst einmal auf ihre Ideologieträchtigkeit hin zu überprüfen; die Texte Martin Gaites jedoch reproduzieren vor allem bei Themen 'universaler' Reichweite wie der Liebeserfahrung zuweilen auch deren Mythifizierung. Die Abhängigkeit der individuellen Wahrnehmung von regressiven vorgegebenen Diskursmodellen impliziert dann durchaus noch eine Qualitätszunahme des Erlebten sogar bei Frauenfiguren, die sich auf der anderen Seite sehr wohl der hieraus erwachsenden Konsequenzen bewußt sind. So zeigt sich, daß der Aufhebung der Grenzen zwischen Literatur und Leben, zwischen Phantasie und Realität keineswegs ein ausschließlich befreiender Charakter zukommt. Inwieweit dies der Fall ist, hängt natürlich primär von der Art der aufgefundenen Konzepte ab; daher ergibt sich im Hinblick auf das hier implizierte egalitäre Litera17

Vgl. Huyssen, 17ff.

18

José Carlos Mainer, Historia, literatura, sociedad, Madrid 1988, 139. Vgl. 150Cf. : »[L]as revoluciones no las hacen los libros, pero se han soñado en ellos; la notoriedad no se conquista con la pluma en ristre, pero sí algunas formas de victoria sobre la incoherencia y la marginación; por leer un libro ajeno nadie aprende a vivir (ni siquiera a escribir buen castellano), pero sí ejercita la libertad de la imaginación. Y esos son, al fin, los temas básicos de cualquier reflexión sobre la literatura en su relación con la sociedad. Ahí apuntan los supuestos de una "defensa de la literatura", si es que la amenazan ahora los hermenéuticas que la reducen a un mecanismo bien lubrificado de efectos estéticos, al soporte de una copiosa anotación erudita, o al pretexto de una renuncia previa a toda interpretación...«

19

Vgl. Wolfgang Welsch / Christine Preis, »Die neue Prominenz des Ästhetischen«, in der Einleitung zu dem von ihnen herausgegebenen Band Ästhetik im Widerstreit. Interventionen zum Werk von Jean-François Lyotard, Weinheim 1991, 1-8.

20

Vgl. Silvia Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit, Frankfurt/Main 1979.

173 turkonzept das Problem, daß auch regressive Strukturen eines populären Genres wie der »novela rosa« eine implizite Aufwertung erfahren können, wie es sich im Werk Martin Gaites einerseits auch zuweilen abzeichnet. Das Verdienst dieses Werkes liegt andererseits darin, daß es eine Sensibilisierung für die Vorbedingungen jeglicher Identitätsbildung leistet: »Die Frage, wie Codes, Texte, Bilder und andere kulturelle Artefakte Subjektivität konstituieren (statt widerspiegeln), wird [...] als eine immer schon historische gestellt und vermeidet so die vom Poststrukturalismus mit Recht kritisierte Subjektmetaphysik.«21 Bei aller Betonung der Konditionierung von Identität manifestiert sich also auch in der Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe, daß die weibliche Subjektkonstitution im Werk Martin Gaites als Postulat grundsätzlich anerkannt bleibt. Ihre Texte werden dabei selbst zum Austragungsort für diesen konfliktiven und nicht immer gelingenden Prozeß.

6.4. Zur Vernunftkritik Eine solche Forderung der Aufhebung von Grenzen zwischen den materiellen und ideellen Bedingungen der Existenz verweist darüber hinaus auf die Tatsache, daß das Vemunftprimat der bürgerlichen Aufklärungsbewegung angesichts der Entwicklungen im zwanzigsten Jahrhundert nicht länger Ausschließlichkeit beanspruchen kann. Dieses wiederum für das postmoderne Denken zentrale Bewußtsein vom »Tod der Vernunft«22 ergibt sich aus der Einsicht, daß die ursprünglich als ein primäres Ziel der Aufklärung gehandelte Naturbeherrschung keineswegs automatisch auch den humanistischen Fortschritt garantiert. Martin Gaites Skepsis in bezug auf diesen »modo de conocimiento analitico-referencial«23 steht zudem im Zusammenhang mit der Unübersichtlichkeit der weiblichen Lebenserfahrung und verweist damit auf die Tatsache, daß gerade die Frauen von der Dialektik der Aufklärung in besonderem Maße betroffen sind. Indem ihr Tätigkeitsbereich auf die Reproduktion und damit auf die Natur reduziert wurde, blieb ihnen im binären Schema der hierzu oppositäre Sektor der Vernunft zunächst einmal vorenthalten. Das macht die Perspektive weiblicher Differenz für die Vemunftkritik der Postmodeme so attraktiv: Aus der Position der Marginalisierung heraus kann die Unzulänglichkeit eines nicht problematisierten Glaubens an die Naturbeherrschung ersichtlich werden. So findet sich auch bei Martin Gaite eine deutliche Ablehnung der Dichotomie von »razón« und »misterio«: »¡Qué empeño en desbrozar al mundo de su magia y de su sinrazón, de disecarlo todo!, y yo, cuánto he pecado por ese registro. [...] cuántos 21

Huyssen, 38.

22

Vgl. Wellmer, 48.

23

Gonzalo Navajas. Teoría y práctica de la novela española posmodema,

Barcelona 1987, 16, passim.

174 libros, proyectos, cursillos, conferencias, palabras y palabras para erigir un dique contra lo misterioso y en general qué claro lo veíamos todo: [...] Y es que no puede ser, cierto tipo de arcanos no aguantan un criterio de sumas y de restas« (R, 19). Das binaristische Denken wird durch die Relativierung des Vernunftprimats konterkariert; »cosas raras pasan a cada momento. El error está en que nos empeñamos en aplicarles la ley de la gravitación universal, o la ley del reloj, o cualquier otra ley de las cuales acatamos habitualmente sin discusión; se nos hace duro admitir que tengan ellas su propia ley« (Cuarto, 103). Über diese insgesamt doch sehr allgemein gehaltene Kritik an einer Verabsolutierung der Vernunft hinaus gibt es aber auch eindeutige Stellungnahmen zu einem in den kapitalistischen Gesellschaften vereinseitigten, zweckrationalistischen Vernunftkonzept. Erzählungen wie »La oficina« oder »Un día de libertad« verarbeiten die Entfremdung im Arbeitsleben, und in Ritmo lento manifestiert sich erstmals eine explizite Kritik in der Verweigerungshaltung David Fuentes, der die Tauschwertideologie in seiner Bewertung des Geldes als »mayor fuente de males conocida« (RL, 168) kritisiert. Dreißig Jahre später, im Spanien der Angleichung an den europäischen Standard, charakterisiert Sofia Montalvo in Nubosidad variable ihren Mann, für den die Orientierung am materiellen Wohlstand zur Ersatzreligion geworden ist (NV, 18), als »una especie de pared que no deja resquicios para que se cuele ningún problema de los que no se pueden zanjar a base de dinero« (NV, 14).24 Diese wenigen Beispiele zeigen, daß die Vernunftkritik Martin Gaites keineswegs auf einer allgemein-spekulativen Ebene verbleibt, sondern deutlich auf die gesellschaftliche Konstellation der modernen Industriegesellschaft zurückgeführt wird. Überdies erklärt sich aus dieser Kritik am Zweckrationalismus der modernen Gesellschaften die in ihrem Werk wiederholt zum Ausdruck kommende Forderung eines Verzichts auf festgelegte Finalität. In diesem Zusammenhang wird wiederum ein weibliches Wertregister reaktiviert, da aus dem traditionellen, nicht auf Produktion sondern auf Reproduktion und damit auf Zirkularität ausgerichteten weiblichen Lebenszusammenhang heraus solche Konzepte von Kreisförmigkeit und Prozeßhaftigkeit im Gegensatz zu einem einseitigen, auf kurzfristigen Erfolg angelegten Finalitätsstreben geltend gemacht werden können. Dabei soll die historische Determiniertheit von Weiblichkeit jedoch nicht mit Konstanten weiblichen Seins rückgekoppelt, sondern vielmehr lediglich darauf verwiesen werden, daß aus der Aufwertung traditionell-weiblicher Erfahrungen gesellschaftliche 24

Maitin Gaites Vernunftkritik zeigt sich zudem Georges Bataille verpflichtet, der dem für ihn in der effizienten Arbeit verkörperten Zweckrationalismus ein Konzept der »unproduktiven Verausgabung« gegenüberstellt. Bataille wird explizit im vernunftkritischen Motto von El cuarto de atrás evoziert, und in Nubosidad variable zitiert Mariana nahezu wörtlich aus seinem Werk L'Érotisme (s.o., 5.1., 82f., Anm. 43). In der Erotik sieht Bataille die Möglichkeit der »transgression«, der Überwindung der die Alltagserfahrung des entfremdeten Menschen prägenden Diskontinuität, so daß er ähnlich wie Martin Gaite eine Wechselbeziehung zwischen gesellschaftlicher Realität und individueller Vereinzelung sieht. Vgl. außerdem G.B.: La pari maudite, in: G.B., Oeuvres completes, Bd. 7, Paris 1976, 17-135.

175 Alternativen abgeleitet werden können. Als emanzipatorisch kann ein solches Verfahren also nur gelten, wenn Weiblichkeit nicht im Zirkelschluß in ihrer Festschreibung als ein Anderes der Vernunft bestätigt wird, sondern umgekehrt weibliche Differenz eine konkrete Funktionszuweisung im gesellschaftlichen Zusammenhang erhält.

6.5. Zum Status der Kunst Im Hinblick auf diese Rückverbindung von weiblicher Differenz und gesellschaftlicher Praxis ist das Werk Martin Gaites keineswegs frei von Widersprüchen. Besonders klar läßt sich dies an der Tatsache verdeutlichen, daß ihre Literatur in weiten Zügen einem hermetischen Konzept ästhetischer Kompensation verpflichtet bleibt.25 Bürger hat gezeigt, wie der Autonomiestatus dieser bürgerlichen 'Institution Kunst' als Gegenreaktion auf die emanzipatorische Funktion der aufklärerischen 'Institution Kunst' entstanden ist und bis in die ästhetische Moderne hinein eine autonome Sphäre des Gegengewichts zu Rationalisierung und Entfremdung bietet: »Einerseits wird sie [die Kunst, d.V.] mit dem Anspruch belastet, Alternative zur wirklichen Welt zu sein, was sie nur kann, wenn sie dieser als das ganz andere entgegengesetzt ist, andererseits ist sie gerade dadurch in Gefahr, zum "leeren Spiel" zu werden. Anders formuliert: der Gegensatz zur Lebenspraxis ist Bedingung dafür, daß die Kunst ihre kritische Funktion zu erfüllen vermag, und verhindert zugleich, daß ihre Kritik praktisch folgenreich werden kann.«26 In diesem Sinne wird die Literatur auch noch bei Martin Gaite zu einem der Alltagserfahrung entgegengesetzten Raum idyllischer Kompensation stilisiert und die weibliche Subjektkonstitution auf diese Weise in realitätsferne Enklaven verlagert. Weibliche Autonomie - so läßt sich schließen - bleibt damit weitgehend auf den seinerseits autonomen Bereich eines kompensatorischen Kunstkonzepts beschränkt. Gerade El cuarto de atrás unterstreicht die Verbundenheit mit einer als autonom begriffenen, »einen Freiraum innerhalb der Gesellschaft vindizierenden]«27 Kunst durch die Tatsache, daß der literarische Schaffensprozeß geradezu mythifiziert wird, indem der Romantext im Verlauf der Erzählzeit quasi von selbst entsteht. Denn in ihrer Funktion als Gegenreaktion zu einem der Zweckrationalität unterworfenen Modernisierungsprozeß darf Kunst ja gerade nicht als Arbeit, sondern lediglich als ein 23

Dies gilt gerade für die Literatur der ästhetischen Moderne in ihrer Gesamtheit in besonders ausgeprägter Weise: »The recoil of the individual from a hostile world into private codes gave rise to a particular artistic vision expressed in hermetic images and new forms of technique and is the predominant feature of the modern movement.« Gerhard Hoffmann / Alfred Hornung / Rüdiger Kunow, »'Modern', 'postmodern' and 'contemporary' as criteria for the analysis of 20th century literature«, in: Amerikastudien, 22, 1977(1), 19-46, 21.

26

Peter Bürger, »Institution Kunst als literatursoziologische Kategorie«, in: P.B., Vermittlung - Rezeption - Funktion. Ästhetische Theorie und Methodologie der Literaturwissenschaft, Frankfurt/Main 1979, 173-199, 179.

27

Peter Bürger, »Institution Literatur und Modernisierungsprozeß«, in: P.B. (Hg ), Zum Funktionswandel ratur, Frankfiirt/Main 1983, 9-32, 20.

der Lite-

176 Ort der harmonischen Selbstverwirklichung stehen; »der unter den Bedingungen bürgerlich autonomer Kunstvorstellungen produzierende Künstler« ist genötigt, »die Spuren der Arbeit am Werk zu verdecken; dieses soll als Naturprodukt erscheinen, da es nur so Gegenbild zum herrschenden Prinzip der Zweckrationalität zu sein vermag.«28 So offenbart ausgerechnet El cuarto de aträs und damit deijenige Roman, der aufgrund seiner populärkulturellen Elemente, seiner Genre-übergreifenden Anlage, seiner metaliterarischen Aspekte und seiner Vernunftskepsis von der Literaturwissenschaft immer wieder als Paradebeispiel postmoderner Romanpraxis herausgestellt worden ist, deutlicher als jeder andere Text Martin Gaites eine starke Abhängigkeit von einem ganz und gar nicht postmodernen Konzept künstlerischer Autonomie.29 Weibliche Differenz zeigt sich also im Erzählwerk Martin Gaites hinsichtlich des Status der Kunstproduktion gerade auch in diesem Widerspruch zwischen dem Aufzeigen aus konkreten gesellschaftlichen Bedingungen heraus entstandener Unzulänglichkeiten weiblicher Existenz einerseits und dem Rückzug in eine herrschaftsfreie Sphäre als Reaktion auf diese Erfahrungen andererseits. Damit wird der Ausschluß der Frau aus der gesellschaftlichen Praxis im Umkehrschluß bestätigt, obwohl viele Texte Martin Gaites deutlich auf die gesellschaftlichen Defizite in bezug auf die weibliche Existenz verweisen. 30 In dieser Brüchigkeit zwischen der Kritik der gesellschaftlichen Marginalisierung von Weiblichkeit einerseits und dem Rückzug in herrschaftsfreie Enklaven andererseits manifestiert sich einmal mehr der doppelte Ort Carmen Martin Gaites. Aus ihrer Situation einer Frau, welche die gesellschaftliche Realität als unbe28

Bürger 1979, 188.

29

Huyssen sieht im übrigen die Aufhebung bzw. Beibehaltung des Autonomiecharakters der Kunst als ein Unterscheidungskriterium zwischen amerikanischer Postmoderne und französischem Poststnjkturalismus. Die Postmoderae sei als Gegenreaktion gegen die gesellschaftliche Vereinnahmung der ästhetischen Moderne entstanden, während der Poststrukturalismus in weiten Zügen eine radikalisierende Weiterfuhmng ihrer Prinzipien darstelle: »Leben und Wirklichkeit, Gesellschaft und Geschichte werden wie schon in anderer Weise im Ästhetizismus aus dem Diskurs der Kunst und ihrer Rezeption verbannt. Der Poststrukturalismus konstruiert dabei eine neue Autonomie der Kunst und der Kritik auf Grund einer quasi-metaphysischen Theorie von Textualität, die aber letztlich in entscheidenden Komponenten vom l'art pour l'art des Modernismus bzw. von den Praktiken der historischen Avantgarde [...] kaum zu unterscheiden ist.« Huyssen, 32. Huyssen zieht als Beispiel Roland Barthes heran, dessen Le plaisir du texte (1973) er als einen Rückfall in ein hedonistisches, in der Tradition der literarischen Moderne stehendes Literaturkonzept bewertet, das darüber hinaus die Trennung von Elite- und Massenkultur erneut festschreibe. Wenn also Martin Gaite in Nubosidad variable die Figur der Mariana auf Le plaisir du texte verweisen läßt (NV, 59), so ist dies ein Beleg dafür, daß auch in diesem Text das Konzept autonomer Kunst noch eine Rolle spielt.

30

Diese Ambivalenz findet sich auch in bezug auf die Anlage der Figuren bestätigt. Das prägnanteste Beispiel ist wohl Eulalia aus Retahilas, die einerseits ihre Situation klar analysiert, andererseits vom Ergreifen konkreter Maßnahmen jedoch absieht: »[...] Eulalia seems close to achieving existential authenticity. Whether this will include liberation in the feminist sense is less clear; to date, she has been unconventional, spoiled, and self-indulgent, or lonely, neurotic and self-pitying by turns, always with plenty of money and a minimum of responsibilities, having a good deal of what is often called freedom with no need either to confront the establishment openly or take a stand with respect of her own life.« Janet Pérez, »Portraits of the femme seule by Laforet, Matute, Soriano, Martin Gaite, Galvarriato, Quiroga, and Medio«, in: Robert C. Manteiga / Carolyn Galerstein / Kathleen Mc Neraey (Hg ), Feminine concerns in contemporary Spanish fiction by women, Potomac, Maryland 1988, 5477, 68.

177 friedigend wahrnimmt, setzt sie sich in ihren Texten mit dieser Realität auseinander, macht aber gleichzeitig Zugeständnisse an die Herrschaftsverhältnisse, denen sie als im literarischen Betrieb akkommodierte Schriftstellerin unterliegt.

178

7. Schlußwort: Carmen Martín Gaite im Spiegel der Literaturkritik Aus der spezifischen Situation Martin Gaites als Frau und aus den sich hieraus ergebenden Perspektiven weiblicher Differenz, wie sie vorangehend erläutert wurden, erklären sich auch die ausgesprochen widersprüchlichen Reaktionen des Literaturbetriebs auf die literarische Produktion der Autorin, und zwar nicht nur in bezug auf die von Durán konstatierte Entwicklung vom »silencio crítico« zur »gloria literaria«.1 Bei Erscheinen von Entre visillos wurde nicht nur der angeblich literarisch defizitäre »desorden«, die »confusión« in der Anlage des Textes kritisiert, sondern auch seine sprachliche Ebene von »frases que no son sino pedradas contra el cristal del idioma«,2 die Flachheit der männlichen Charaktere,3 eine vorgeblich unzulässige Verkürzung der Funktion des Romanschaffens auf die Wiedergabe unbefriedigender gesellschaftlicher Realität und der zu offensichtliche Zusammenhang mit autobiographischen Erfahrungen.4 Ungeachtet der hohen Auszeichnung dieses Romans mit dem »Premio Eugenio Nadal« vermitteln die Rezensionen die Überzeugung, daß der Text den Anforderungen 'hoher Literatur' nicht entsprechen könne, so daß das Zielpublikum kurzerhand als ein weibliches spezifiziert und dem Roman damit eine weitergehende Bedeutung abgesprochen wurde: »La novela de Carmen Martin Gaite tendrá éxito entre los "guayabos" y eso. [...] En otros sectores, sobre todo, en el público masculino, la novela no va a ser muy bien acogida.«5 Die Literaturkritik begegnete also schon Entre visillos mit ausgeprägtem Unbehagen, und auch der folgende Roman Ritmo lento, obwohl Finalist des »Premio Biblioteca Breve«, einer vornehmlich experimentellen Texten vorbehaltenen Auszeichnung, fand nur geringe Beachtung;6 und das, obwohl gerade dieser Text im nachhinein als 1

Manuel Durán, »Carmen Martin Gaite, Retahilas, El cuarto de atrás y el diálogo sin fin«, in: Revista Iberoamericana, 47, 1981, 116-117, 233-240, 233. Durán vermerkt entsprechend, daß bei Erscheinen von El balneario nur eine einzige Rezension erschienen sei.

2

Murciano, Carlos, »Tras la lectura de Entre visillos: notas e impresiones«, Punta Europa, 29(3), 1958, 113f.. 113; Melchor Fernández Almagro, »Entre visillos, por Carmen Martín Gaite«, in: ABC, 8.3.1958.

3

Fernández Almagro 1958.

4

José M a Alfaro, »Martin Gaite, Carmen: Entre visillos«, in: ínsula, 138-139, 1958, 13.

5

Murciano, 114.

6

Vgl. den Prolog zur dritten Ausgabe (Barcelona 1974): »La primera edición de "Ritmo lento" (Seix y Barral, 1963) no sólo no se agotó sino que pasó absolutamente sin pena ni gloria.«

179 ein früher Versuch der literarischen Erneuerung in Reaktion auf den »realismo social« der funfeiger Jahre herausgestellt worden ist.7 Bezeichnenderweise findet der mit einem männlichen Helden ausgestattete Roman jedoch zumindest bei einem Rezensenten ein positives Echo aufgrund der angeblich 'universalen' Reichweite der dargestellten individuellen Probleme. David Fuente sei nicht weniger als ein »personaje intemporal«: »Vive a contrapelo de nuestro tiempo, pero igual le hubiese ocurrido en cualquier otro«.8 Von höherer Qualität als die vorausgehenden Titel der Autorin sei Ritmo lento eine »sorprendente novela« - überraschend aus der Sicht der etablierten Literaturkritik wohl deshalb, weil dem Rezensenten solch universale Stellungnahmen von Seiten einer Frau befremdlich erscheinen müssen. Die Vermutung liegt also nahe, daß das Desinteresse der Literaturkritik an diesem Roman in Martin Gaites Versuch begründet liegt, sich mit diesem Buch nach dem 'Frauenroman1 Entre visillos nun in patriarchalisch geprägtes Teirain vorzuwagen; so offenbart sich ein indirektes Bestreben, der Autorin eben diesen Zutritt zu verwehren. Anläßlich einer Neuauflage im Jahre 1975 thematisiert Martínez Ruiz die dem Text entgegengebrachte »manifiesta desatención del ambiente«; das Interessante hierbei ist, daß er die Stärke des Romans nun, ganz im Gegensatz zu der Sicht Fernández Almagros, in der Darstellung der »imposibilidad de realizar la vida en un horizonte temporal e histórico, que determina las opciones del triunfo o del fracaso«, kurz in seiner zeitgeschichtlichen Dimension sieht.9 In diesem Zusammenhang spielt die Tatsache eine wichtige Rolle, daß zum Erscheinungszeitpunkt dieser Rezension schon Martin Gaites dritter Roman Retahilas erschienen war, welcher von der Kritik ausgesprochen positiv aufgenommen wurde und Anlaß gegeben hatte, auf die Vernachlässigung Martin Gaites im literarischen Klima der Nachkriegszeit hinzuweisen.10 Dabei hat sich als eine Konstante in den literaturkritischen Beobachtungen herausgestellt, daß es Martin Gaite in diesem Roman gelungen sei, ein Panorama des sozialen Zeitgeistes zu geben: »Carmen Martin Gaite, a través de sus personajes, las aborda y sitúa en su ámbito específico, en el amplio y comprensivo campo de "lo condicionado", de lo que se ha podido llamar con 7

Vgl. zur Bedeutung von Ritmo lento im Kontext der Krise des »realismo social« Joan L. Brown, »Tiempo de silencio and Ritmo lento: Pioneers of the new social novel in Spain«, in: Hispanic Review, 50, 1982, 61-73.

8

Melchor Fernández Almagro, »Ritmo lento, por Carmen Martin Gaite«, in: ABC, 1.6.1963. Da diese Rezension in einem konservativen Medium erschien, ist nicht anzunehmen, daß die Betonung der universalen Problematik des Textes angesichts drohender Zensurmaßnahmen von seinem konkreten gesellschaftskritischen Gehalt ablenken soll. Insgesamt wurde Martin Gaite von der Zensur weitgehend verschont, wie sie auch selbst in einem Interview mit Antonio Beneyto betont. A.B., »La necesidad de comunicación en Carmen Martin Gaite«, in: A.B., Censura y política en los escritores españoles. Barcelona 1975, 262-268, 264f. Neuschäfer hat die Zensurdokumente zu Entre visillos eingesehen und bringt das Desinteresse seitens der Zensoren damit in Verbindung, daß Maitin Gaite lange Zeit allgemein unterschätzt worden sei (vgl. 300).

9

Florencio Martínez Ruiz, »El despegue del realismo, via Carmen Martín Gaite«, in: La Estafeta Literaria, 579, 1976, 2332-2333.

10 Vgl. José Domingo, »Clasicismo y experimentación: Carmen Martín Gaite y Beatriz de Moura«, in: ínsula, 337, 1976, 13.

180 acierto el tejido social de las "comodidades limitadoras y de las seguridades opresivas de la vida civil"«.11 Retahilas sei »de una incisiva cavilación, como si se hubiera buscado que no quedasen fuera ninguno de los gérmenes de opacamiento y disolución que acometen la sociedad en que vivimos«.12 Nahezu alle Kommentare zu Retahilas verweisen auf die literarische Verarbeitung der im konkreten zeithistorischen Kontext situierten Lebenserfahrung, welche den sprachphilosophischen Gehalt des Romans ergänzen, und sehen den Text - nicht zuletzt wegen seiner Interdependenz von Form und Inhalt - als einen Ausdruck der literarischen Eigenständigkeit Carmen Martin Gaites, deren Position im literarischen Kanon nun eine deutliche Aufwertung erfahrt.13 Der von der Kritik respektvoll, aber unspektakulär aufgenommene Roman Fragmentos de interior,14 den auch Martin Gaite selbst als »algo como una novela por entregas« bezeichnet,15 kann demgegenüber durchaus eine Anpassung an den nach dem Tod des Diktators aufgekommenen Boom des literarischen Markts bedeuten. Zwei Jahre darauf erhielt die Autorin für El cuarto de atrás den mit einer Million Peseten dotierten »Premio Nacional de Literatura«. Der Roman hatte durchweg positive, meist sehr affektiv geprägte Kritiken;16 Carmen Martin Gaite und ihr neues Werk bildeten die literarische Sensation des von der Verabschiedung der demokratischen Verfassung geprägten und daher mit der Aufarbeitung der Vergangenheit in besonderem Maße befaßten Jahres 1978. Der Doppelcharakter des Romans als gleichzeitig phantastischer und historisch-autobiographischer wurde einvernehmlich als Innovation hervorgehoben - und im nachhinein vielleicht auch überbewertet: »While at least one American reviewer has raised the question of whether the book's design may be "a container more wondrous than its contents," this controversy has been absent from the Spanish

11 Gustavo Fabra Barreiro, »Retahilas: El habla de la escritura», in: Informaciones de las Artes y las Letras, Suplemento 311, 27.6.1974, If. 12 José M a Alfaro, »Retahilas de Carmen Martín Gaite«, in: ABC, 8.8.1974. 13 Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Reaktion Josep M a Castellets auf eine vorangegangene Rezension Pere Gimferrers, welcher die philosophischen Themen der Erkenntnis und der Identität gegenüber der zeithistorischen Motivation des Romans als vorherrschend betrachtete: »Por el contrario, creo que las fugaces referencias históricas son fundamentales para extraer una consecuencia que sobrepasa el marco de la problemática individual de los protagonistas.« J.M.C., »La «rentrée» de Carmen Martín Gaite«, in: Triunfo, 621, 24.8.1974, 45í; vgl. Pere Gimferrer, »La nueva novela de Carmen Martín Gaite«, in: Destino, 1922, 3.8.1974, 29. In der literaturwissenschañlichen Auseinandersetzung mit dem Werk Martín Gaites wird die mit Retahilas erlangte Eigenständigkeit vor allem von Héctor Medina unterstrichen. Vgl. H.M., La novelística de Carmen Martin Gaite: Búsqueda de una voz, Phil. Diss. Brown University 1985. 14 Vgl. z.B. José M a Guelbenzu, »La educación sentimental de Carmen Martin Gaite«, in: El Pais, 20.6.1976. 15 Celia Fernández, »Entrevista con Carmen Martín Gaite«, in: Anales de la Narrativa Española Contemporánea, 4, 1979, 165-172, 169f. 16 Vgl. z.B. Pedro Altares, »El escondite inglés«, in: El País, 16.7.1978. Vgl. auch Brown 1987, 164: »The Prize, and the novel itself, were seen as the culmination of an entire career. At last, two decades after her avant-garde novella "The Spa" was hailed by connoisseurs but overlooked by general readers, the Spanish public was recognizing the author who quietly and steadily - and with no self-serving fanfare - had been enriching the literature of their country.«

181 press«.17 Der autobiographische Gehalt des Textes gab offenbar nicht länger Anlaß zur Kritik,18 zumal es sich ja nicht mehr um die banale, aus biographischen Erfahrungen hervorgegangene Darstellung der Schicksale irgendwelcher junger Mädchen handelte, wie sie bei Entre visillos moniert worden war, sondern um die Erinnerungen einer inzwischen zu erheblicher Professionalisierung gelangten Schriftstellerin. Mit den folgenden phantastischen Arbeiten verbleibt Martin Gaite auf der mit El cuarto de atrás eingeschlagenen und durch den Erfolg des Romans bestätigten Linie; die Texte entsprechen dem postmodernen Tenor der Unterstreichung des Fiktionscharakters von Wirklichkeit, so daß die Autorin auch hier auf gesellschaftspolitische Implikationen verzichtet und ihrem von Longares in zutreffender Weise konstatierten »olfato de adaptar su literatura a los tiempos« vertraut.19 Dies erklärt sich nicht zuletzt aus der Tatsache, daß die Literatur im Spanien der achtziger Jahre als ein durchaus einträglicher marktwirtschaftlicher Sektor entdeckt worden ist, womit sich sowohl literarische Newcomer als auch Schriftsteller/innen früherer Generationen zu arrangieren wußten. Dabei verstellte die Tendenz einer allzu undistanzierten »identificación simple de los bienes culturales con los bienes de la industria cultural«20 zuweilen den Blick auf die literarisch vermittelten Gehalte: »No parece gratuita, por tanto, la sospecha de que la libertad de tendencias sea, en realidad, la hegemonía de una sola tendencia marcada por la asunción de una literatura caracterizada por la representación de un mundo superficial, light, que nada pone en entredicho, aunque haya hecho de la duda su refugio privilegiado. Eso explicaría la paradójica impresión de que la renombrada cantidad deviene en la práctica una pobre cualidad.«21 Angesichts dieser Entwicklung kann ein auf den Zusammenhang von Literatur und Gesellschaft so bedachter Literaturwissenschaftler wie Santos Sanz Villanueva nicht umhin, die Berufung auf eine »última y extremada instancia, la de la irracionalidad«, wie er sie in Martín Gaites Caperucita en Manhattan konstatiert, zu problematisieren; er verweist auf die »duras consecuencias ideológicas que lleva aparejado semejante planteamiento«22 welche ja überdies aus weiblicher Perspektive einer regelrechten Selbstverleugnung gleichkommen und mit den der Autorin nicht zufällig, auch von der Literaturkritik bezeichnenderweise immer wieder attestierten gesellschaftskritischen Ambitionen in keinem Verhältnis stehen. Aus Nubosidad variable geht der »compromiso social« wieder deutlicher hervor, was dem Roman keineswegs nur positive Reaktionen einbringt, denn »[p]ara el gusto 17

Brown 1987, 164f. Browns Zitat ist aus der Rezension von John W. Kronik, in: The Modern Language 63, Nr. 7. 1979. 394.

Journal,

18

Vgl. z.B. Manuel Cerezales, »El cuarto de atrás de Carmen Martin Gaite«, in: ABC, 20.6.1978.

19

Vgl. z.B. Manuel Longares. »Para mayores, sin reparos«, in: El Sol, 23.11.1990.

20

Constantino Bértolo, »Introducción a la narrativa española actual«, in: Revista de Occidente, 98/99, 1989, 28-60, 55.

21

Bértolo, 58.

22

Santos Sanz Villanueva, »A favor de lo inexplicable«, in: Diario 16, 13.12.1990.

182 posmoderno, ésta ha de ser una novela a la antigua usanza«.23 Erneut betont die Kritik den »contexto histórico muy determinado«, die »dimensión testimonial y critica« des Romans,24 welcher die Problematik der »condición femenina« im konkreten historischen Kontext aufarbeite.25 Darin liegt wohl auch die Tatsache begründet, daß einige Rezensenten Nubosidad variable als den Prototyp einer - wenn auch, so die Kritiker, in der Theoriebildung noch immer nicht spezifizierten - »literatura femenina« im positiven Sinn bezeichnen.26 So liegt die Vermutung nah, daß gerade die Etablierung von Perspektiven weiblicher Differenz eine Situierung der Literatur im konkreten gesellschaftlichen Zusammenhang erfordert. Doch zeigen auch noch die Reaktionen auf Nubosidad variable in ihrer Gesamtheit, daß die Literaturkritik ihre Vorbehalte gegenüber der literarischen Produktion von Frauen beibehält, wenn etwa die männlichen Figuren als stereotyp gewertet27 oder - wie ehedem bei Entre visillos - die »excesos de elocuencia« des Textes kritisiert werden: »Que esa elocuencia, y que su respectiva locuacidad, aparezcan como inequívocamente femeninas quizá constituya para alguien un aliciente, pero no atenúa su desproporción«.28 Ärgerlich an einer solchen These ist weniger die negative Wertung als der Umstand, daß die weibliche Identität der Autorin hier wiederum mit der vom Rezensenten konstatierten literarischen Insuffizienz ihres Textes in Verbindung gebracht wird. Dies um so mehr, da diese Einschätzung gerade der spezifischen Situation Martin Gaites in keiner Weise gerecht wird, die ja als Schriftstellerin und Frau quasi eine Doppelexistenz fuhrt: Einerseits - nicht zuletzt wegen ihrer freien Berufstätigkeit - dem weiblich-häuslichen Lebenszusammenhang noch verhaftet, andererseits aufgrund ihres doch weithin anerkannten literarischen Prestiges ein aktiv partizipierendes Mitglied der Gesellschaft, vermittelt sie zwischen den in Nubosidad variable als Gegensatz konstruierten Positionen Sofias und Marianas. Daher betont Sanz Villanueva - jenseits aller biographischen Detailspekulationen - m.E. ganz zu Recht, daß sich eventuelle autobiographische Entsprechungen weder in dem gesellschaftlich extrovertierten Standpunkt der Mariana noch in dem introspektiven der Sofia konkretisieren, sondern bestenfalls als eine Synthese aus beiden zu begreifen sind.29 Der literarische Ort Martin Gaites integriert die Konkretheit und Begrenztheit des Blicks aus dem Fenster, aber auch die 23

Santos Sanz Villanueva, »La soledad femenina«, in: Diario 16, 2.4.1992.

24 Sanz Villanueva 1992. 25 Rafael Conté, »Nubosidad variable«, in: ABC, 10.4.1992. Vgl. außerdem Pilar de la Puente Samaniego, »Concierto a dos voces«, in: La Gacela, 7.5.1992. 26 Fernando Valls, »Como liebre en el erial«, in: La Vanguardia, 23.4.1992 sowie Conté 1992. Ein weiteres aufschlußreiches Detail bildet in diesem Zusammenhang die Verleihung des Literaturpreises der Frauenzeitschrift Elle an Carmen Martin Gaite. 27

Vgl. Conte 1992; Carlos Galán, »Una de las mejores novelas del 92«, in: Alerta, 24.4.1992; Ignacio Echevarría, »Confidencias al borde de la crisis«, in: El País, 11.4.1992.

28 29

Echevarría. Sanz Villanueva 1992.

183 'Außenperspektive' einer an der gesellschaftlichen Praxis aktiv teilnehmenden Persönlichkeit. Diese Außenperspektive bleibt noch nach mehr als vier Jahrzehnten literarischer Tätigkeit eine bewegliche, die immer wieder literarisch vermitteltes soziales Engagement mit gesellschaftlicher Kompromißbereitschaft kombiniert. Auch aus der Art des Umgangs des Literaturbetriebs mit der literarischen Produktion Martin Gaites geht also deutlich hervor, wie sich weibliche Differenz aus eben dieser Ambivalenz erschließt.

184

8. Werkverzeichnis Das Verzeichnis des Werks von Carmen Martin Gaite fuhrt an erster Stelle die Originalausgaben an; zusätzlich wurden Ausgaben aufgenommen, die inhaltlich verändert wurden oder unter einem anderen Titel erschienen sind; die jeweils letzten Angaben von Ort und Erscheinungsdatum beziehen sich auf die benutzte Ausgabe. EL BALNEARIO. Madrid 1955. (»Premio Café Gijon«, 1954. Die erste Ausgabe enthielt »El balneario« sowie »Los informes«, »Un día de libertad« und »La chica de abajo«. In der zweiten Ausgabe [Madrid 1968] erschienen außerdem »La oficina«, »La trastienda de los ojos«, »Ya ni me acuerdo« und »Variaciones sobre un tema«, in der dritten [Barcelonal977] »Tarde de tedio« und »Retirada«. Alle Texte finden sich in der Gesamtausgabe Cuentos completos [Madrid 1978].) ENTRE VISILLOS. Barcelona 1958. (»Premio Eugenio Nadal«, 1957; Barcelona 1975.) LAS ATADURAS. Barcelona 1960. (Enthält »Las ataduras«, »Tendrá que volver«, »Un alto en el camino«, »La tata«, »Lo que queda enterrado«, »La conciencia tranquila« sowie »La mujer de cera«. Alle Texte finden sich in der Gesamtausgabe Cuentos completos [Madrid 1978].) RITMO LENTO. Barcelona 1963. (Finalist des »Premio Biblioteca Breve«, 1962. In der zweiten Ausgabe [Barcelona 1969] erscheint der Text ohne Epilog, welcher ihm jedoch seit der dritten Ausgabe [Barcelona 1974] wieder angefugt ist.) EL PROCESO DE MACANAZ. HISTORIA DE UN EMPAPELAMIENTO. Madrid 1969. (Die zweite Ausgabe [Madrid 1974] trug den Titel Macanaz, otro paciente de la Inquisición, die dritte [Barcelona 1982] einfach Macanaz, die vierte [Barcelona 1988] den der ersten.) USOS AMOROSOS DEL DIECIOCHO EN ESPAÑA. Madrid 1972. (Phil.Diss. Universidad Complutense, Madrid, unter dem Titel Lenguaje y estilo amorosos en los textos del siglo XVIII español; Barcelona 1987.) LA BÚSQUEDA DE INTERLOCUTOR Y OTRAS BÚSQUEDAS. Madrid 1973. (Enthält journalistische Arbeiten sowie die Erzählung »Tarde de tedio«; in der zweiten Ausgabe [Barcelona 1982] erscheinen sieben weitere journalistische Texte, die Erzählung aber nicht mehr [dafür in den Cuentos completos, Madrid 1978].) RETAHILAS. Barcelona 1974. (Barcelona 1979.) FRAGMENTOS DE INTERIOR. Barcelona 1976. (Barcelona 1980.) A RACHAS. Madrid 1976. (Lyrik; die dritte Auflage [Madrid 1986] ist eine erweiterte.) EL CONDE DE GUADALHORCE. SU ÉPOCA Y SU LABOR. Madrid 1977. CUENTOS COMPLETOS. Madrid 1978. EL CUARTO DE ATRÁS. Barcelona 1978. (»Premio Nacional de Literatura«, 1978; Barcelona 1981.) EL CASTILLO DE LAS TRES MURALLAS. Barcelona 1981. (Enthalten in Dos relatos fantásticos, Barcelona 1986.)

185 EL CUENTO DE NUNCA ACABAR. APUNTES SOBRE EL AMOR, LA NARRACIÓN Y LA MENTIRA. Madrid 1983. (Barcelona 1985.) A PALO SECO. Madrid 1985. (Drama; Biblioteca Nacional, 1985; Uraufführung 11.12.1988, Centro Cultural de la Villa, Madrid.) EL PASTEL DEL DIABLO. Barcelona 1985. (Enthalten in Dos relatos fantásticos, Barcelona 1986.) DOS RELATOS FANTÁSTICOS. Barcelona 1986. DESDE LA VENTANA. ENFOQUE FEMENINO DE LA LITERATURA ESPAÑOLA. Madrid 1987. USOS AMOROSOS DE LA POSTGUERRA ESPAÑOLA. Barcelona 1987. (»Premio Anagrama de Ensayo«, 1987.) CAPERUCITA EN MANHATTAN. Madrid 1990. NUBOSIDAD VARIABLE. Barcelona 1992. (»Premio Elle«, 1992.) AGUA PASADA (ARTÍCULOS, PRÓLOGOS Y DISCURSOS). Barcelona 1993. LA REINA DE LAS NIEVES. Barcelona 1994. Zusätzlich zitierte Quellen: »La mujer y la literatura«. Unveröff. Transkript eines am 27.4.1990 im Rahmen eines Wochenendseminars über das Werk Martin Gaites an der Universität Göttingen gehaltenen Vortrags. »Brechas en la costumbre«. Unveröff. Manuskript eines am 9.7.1990 im Rahmen der Sommeruniversität der Universidad Complutense de Madrid in El Escorial gehaltenen Vortrags. »Las glorias y las memorias«. Diario 16, 30.4.1992. (Preisrede zur Verleihung des »Premio Castilla y León de las Letras«.)

186

9. Bibliographie Die Bibliographie nennt über die in der vorliegenden Untersuchung erwähnten und zitierten Titel hinaus sämtliche Arbeiten, die zum Werk Martin Gaites ermittelt und eingesehen werden konnten. Rezensionen und Interviews sind als solche kenntlich gemacht CR' = Rezension; T = Interview). Kommentierte Bibliographien zu Martin Gaite finden sich bei Brown 1987 und Roger 1988. Alberdi, Inés: La educación de la mujer en España. Concha Borreguero / Elena Catena / Consuelo de la Gándara / María Salas (Hg ): La mujer española: de la tradición a la modernidad (19601980). Madrid 1986, 71-80. Alemany Bay, Carmen: La novelística de Carmen Martin Gaite: aproximación crítica. Salamanca 1990. Alfaro, José Ma: Martín Gaite, Carmen: Entre visillos. ínsula, 138/139, 1958, 13. (R) : Retahilas. De Carmen Martín Gaite. ABC, 8.8.1974. (R) Alonso Tejada, Luis: La represión sexual en la España de Franco. Barcelona 1977. Alsina, Jean / Claude Chauchadis / Michèle Ramond: Approches d'une autobiographie féminine: El cuarto de atrás de Carmen Martin Gaite. L'Autobiographie en Espagne. Actes du 2ème colloque international de La Baume-Les-Aix. Aix en Provence 1982, 323-352. Altares, Guillermo: Entrevista: Carmen Martín Gaite. El Urogallo, 76/77, 1992, 14-20. (I) Altares, Pedro: El escondite inglés. El Pais, 16.7.1978. (R Cuarto) Aranguren, José Luis: La nueva sociedad española. Cuadernos para el Diálogo, März 1964, 48. Asunción, Jorge: Un drama estático: Carmen Martín Gaite adapta El marinero, única obra para teatro de Pessoa. El Pais, 27.4.1990 (R/I) Bachelard, Gaston: La poétique de l'espace. Paris 1957. Bachtin, Michail: Die Ästhetik des Wortes. Hg. von Rainer Griibel. Frankfürt/Main 1977. Baquero Goyanes, Mariano: Estructuras de la novela actual. Madrid 1989. Barthes, Roland: La mort de l'auteur. R.B.: Essais critiques. Bd. 4: Le bruissement de la langue. Paris 1984, 61-67. : Le plaisir du texte. Paris 1973. Bataille, Georges: L'Érotisme. G.B.: Oeuvres complètes. Bd. 10. Paris 1987, 7-270. Bellver, Catherine G.: Martin Gaite, Carmen. El cuarto de atrás. Hispanófila, 86, 1986, 75-76. (R Cuarto) : War as rite of passage in El cuarto de atrás. Letras Femeninas, 12(1-2), 1986, 69-77. Beneyto, Antonio: La necesidad de comunicación en Carmen Martin Gaite. A.B. : Censura y política en los escritores españoles. Barcelona 1975, 262-268. (I) Bermejo, José M': Carmen Martín Gaite: Una crónica de la soledad. Cuadernos Hispanoamericanos, 350, 1979, 437-439. (R CC) Bernáldez, José Ma: La mirada literaria de Carmen Martín Gaite. El País, 15 .4.1979. (R CC)

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198

10. Register A palo seco 96f„ 123, 135, 138, 147, 162, 167 A rachas 61 ataduras, Las 75,92,97, 121, 127, 130, 170 aviso: Ha muerto Ignacio Aldecoa, Un 166 balneario, El 54, 71f„ 78, 83, 92, 93, 100, 112, 121, 123, 132, 133, 166 Brechas en la costumbre 83, 152 búsqueda de interlocutor, La 116,168 Caperucita en Manhattan 75, 80, 81, 84, 113f„ 128, 129, 132, 133, 137,144, 146, 151, 153, 159f„ 161, 163, 164, 170, 171, 181 castillo de las tres murallas, El 78,113, 128, 134, 137 chica de abajo, La 106, 107, 108, 127, 129 conciencia tranquila, La 106,107,127 cuarto de atrás, El 36f„ 38, 39,40,46, 54, 55, 59, 60, 61, 63, 64, 67ff„ 71, 73, 75, 78, 80, 82, 83, 84, 97, 98ff„ 102, 105, 110, 115, 117, 118, 122, 123, 131, 132, 133, 134, 135, 137, 138, 144, 146, 147, 149, 150, 153,154, 155, 162f„ 167, 174,175f„ 180f. cuento de nunca acabar, El 61f., 65, 70f., 81f„ , 84,115f„ 117, 119f., 134, 136f„ 138, 146, 151f„ 164, 170 De madame Bovary a Marilyn Monroe 149 Desde la ventana 30,77, 112, 153f., 165 día de libertad, Un 63, 94f„ 97, 120, 127, 174 enfermedad del orden, La 84 Entre visillos 40, 41, 42,44, 53, 55, 56f„ 72, 79, 83, 84, 91f„ 93, 95f„ 97, 106, 108ff„ 115,125f., 127, 128f., 137,142, 143, 153f., 166, 170, 171, 178, 179, 181 Fragmentos de interior 46,48, 53, 64, 73, 75, 80, 82, 97, 107, 110f„ 115,125, 126f., 128, 129, 137, 142f„ 146, 151, 156f„ 161, 180

glorias y las memorias, Las 168 influencia de la publicidad en las mujeres, La 57 informes, Los 107, 127 Lo que queda enterrado 63, 72, 92f., 120 malos espejos, Los 116 mujer de cera, La 93f., 133 mujer y la literatura, La 77, 86, 151 Nubosidad variable 44, 47,49, 50f., 53, 56, 60, 61, 62, 63, 64, 67, 69f„ 71, 73, 74, 75f„ 77, 78, 79, 80, 81, 82, 83,97f„ lOlff., 107, 112, 114, 115, 117, 118, 123ff„ 127, 133, 134, 135, 137, 138, 142, 143, 144, 145f., 147, 150f„ 153, 161f„ 167, 168, 170, 174, 176, 181f. oficina, La 76, 79, 112, 127f„ 174 pastel del diablo, El 80, 113, 117, 128, 132, 133, 134, 137, 138, 151, 153, 161, 163 Personalidad y libertad 90f„ 116 Ponerse a leer 146 Recetas contra la prisa 58, 90 Retahilas 37f„ 41,44, 47,49, 53f„ 57f„ 60f„ 62f„ 65, 66, 67, 73, 74, 81, 82, 84, 96f„ 98, 100, 107, 112f., 116f„ 122f„ 124, 130, 131, 132, 133, 137, 138, 143f„ 147ff„ 153, 157ff., 161, 164, 166f„ 170, 173f„ 176, 179f. Retirada 112,127, 154f„ 164, 171f. Ritmo lento 37, 38f„ 40, 44,45, 46, 54f„ 57, 58, 59, 63, 64, 65, 72, 73f„ 76, 77, 89f„ 91,92,95,97, 108, 110, 112, 121f„ 127, 130f„ 133,137, 142, 144, 155f„ 161, 164, 166, 170f„ 174, 178f. Tarde de tedio 111,127 tata, La 106, 107, 127 Tendrá que volver 108,127 trastienda de los ojos, La 76, 77, 107f., 112 Tres siglos de quejas de los españoles sobre los españoles 143

199 Usos amorosos de la postguerra española 37, 39, 83, 154, 171 Usos amorosos del dieciocho en España 62, 150 Variaciones sobre un tema 43, 60, 63, 65f., 82, 11 lf. Ya ni me acuerdo 53, 63,91, 93, 97, 121, 127